Michael Hißmann (1752-1784): Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung 9783050063355, 9783050056784

Michael Hißmann gehört zu den großen Unbekannten der deutschsprachigen Spätaufklärung in den 1770er und 1780er Jahren. D

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Michael Hißmann (1752-1784): Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung
 9783050063355, 9783050056784

Table of contents :
[00] Frontispiz
[00b] Vakat nach Frontizspiz
[01]-Inhaltsverzeichnis-Hißmann-Oliver+Udo_08102012
[02]-Zwischenblatt Einleitung
[03]-Einleitung-Hissmann--Oliver+Udo_08102012
[04]-Zwischenblatt METAPHYSIK, PSYCHOLOGIE UND ERKENNTNISTHEORIE
[05]-Thiel-Hissmann-Oliver+Udo_08102012
[05b]-Zwischenblatt nach Thiel
[06]-Rumore-Hissmann-Oliver+Udo_08102012
[07]-Wunderlich-Hissmann-Oliver+Udo_08102012
[08]-Hahmann-Hissmann-Oliver+Udo_09102012
[09]-Schmeisser-Hissmann-Oliver+Udo_08102012
[10]-Zwischenblatt NATURRECHT UND POPULARPHILOSOPHIE
[11]-Huening-Hissmann-Oliver+Udo_08102012
[11b] Zwischenblatt nach Hüning
[12]-Mulsow-Hissmann-Verlag-Oliver+Udo_08102012
[13]-Roth-Hissmann-Oliver+Udo_08102012
[14]-Zwischenblatt GESCHICHTE, SPRACHE UND LITERATUR
[15]-Grunert-Hissmann-Oliver+Udo_08102012
[16]-Klemme-Hissmann-Oliver+Udo_08102012
[16b] - Zwischenblatt nach Klemme
[17]-Nowitzki-Hissmann-Oliver+Udo_08102012
[17b] - Zwischenblatt nach Nowitzki
[18]-Stiening-Hissmann-Oliver+Udo_08102012
[20] - Zeittafel
[20b] - Zwischenblatt nach Zeittafel
[21] - Bibliographie
[22]- Personenregister

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Heiner F. Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich (Hg.)

Michael Hißmann (1752–1784) Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung

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Werkprofile Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts

Herausgegeben von Frank Grunert und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat: Wiep van Bunge, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow, Merio Scattola und John Zammito

Band 2

Diese Reihe versammelt textnahe Interpretationen von umfassenden Werkkomplexen einzelner Philosophen, Wissenschaftler und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Fokus stehen Werke von Autoren, die in den Diskussionen ihrer Zeit als Anreger von Innovationen oder als Hersteller von Synthesen eine gewichtige Rolle spielten, ohne dass die Forschung deren Bedeutung bislang hinreichend wahrgenommen hätte. Bei den in den Bänden der Reihe publizierten Analysen geht es um eine genaue Rekonstruktion der internen Strukturen eines Œuvres und der Diskussion seiner theoretischen Leistungen im Kontext des jeweiligen zeitgenössischen Problemhorizontes. In der doppelten Perspektive eines internen wie externen Blicks werden neue sachliche Einzelheiten ebenso aufgedeckt wie die Genese und die Produktivität von Theoriezusammenhängen, wodurch neue Grundlagen für die Erschließung der intellektuellen Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts entstehen.

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Heiner F. Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich (Hg.)

Michael Hißmann (1752–1784) Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung

Akademie Verlag

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Abbildung auf S. 5: Schattenriss-Porträt von Michael Hißmann; in: Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig, Winterthur 1777, XII. Abschn., IV. Frg., Nr. 3, S. 336.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2013 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe. www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour unter Verwendung eines Kupferstichs von B. Picartin aus dem   Jahre 1728, in: Richard Cumberland: Traité Philosophique des Loix Naturelles. Traduit du Latin par   Monsieur Barbeyrac. Amsterdam 1747 Satz: Oliver Bach, München Druck: Concept Medienhaus, Berlin Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

ISBN 978-3-05-005678-4 E-Book: ISBN 978-3-05-006335-5

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Michael Hißmann (1752–1784)

Inhaltsverzeichnis HEINER F. KLEMME, GIDEON STIENING, FALK WUNDERLICH Einleitung: Michael Hißmann: und der Materialismus in der deutschen Aufklärung .

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I. METAPHYSIK, PSYCHOLOGIE UND ERKENNTNISTHEORIE UDO THIEL Hißmann und der Materialismus

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PAULA RUMORE Im Kampf gegen die Metaphysik. Michael Hißmanns Verständnis der Philosophie

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FALK WUNDERLICH Assoziation der Ideen und denkende Materie Zum Verhältnis von Assoziationstheorie und Materialismus bei Michael Hißmann, David Hartley und Joseph Priestley . .

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ANDREE HAHMANN Hißmanns Versuch über die Wahrnehmung

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MARTIN SCHMEISSER »Der eigentliche Materialist […] weiß von keiner unkörperlichen gehirnbewegenden Kraft.« Michael Hißmann und die Psychologie Charles Bonnets

II. NATURRECHT UND POPULARPHILOSOPHIE DIETER HÜNING »Eine fruchtbare philosophische Fiktion.« Michael Hißmanns Beitrag zur Anthropologisierung des Naturzustandes MARTIN MULSOW Michael Hißmann und Christoph Meiners über die eleusinischen Mysterien . . .

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UDO ROTH »Lesen mag es die ganze schöne Welt.« Michael Hißmanns Beitrag zur Popularphilosophie

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Inhaltsverzeichnis

III. GESCHICHTE, SPRACHE UND LITERATUR FRANK GRUNERT Philosophie und Geschichte. Michael Hißmann als Philosophiehistoriker

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HEINER F. KLEMME »Die wahre Geschichte ist die Grundfeste von der wahren Philosophie.« Michael Hißmann und die Philosophie der Geschichte . . . . .

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HANS-PETER NOWITZKI Die Mechanik der Sprache. Hißmanns physiologische Sprachphilosophie und ihre anthropologischen Voraussetzungen . . . . . . . .

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GIDEON STIENING »Die Nerven deines Schönheitsgefühls.« Hißmann als Materialistischer Ästhetiker und Theoretiker des Sturm und Dang?

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IV. ANHANG Zeittafel .

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Bibliographie .

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Personenregister .

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EINLEITUNG

HEINER F. KLEMME, GIDEON STIENING, FALK WUNDERLICH

Einleitung: Michael Hißmann und der Materialismus in der deutschen Aufklärung

»Die Geschichte des philosophischen Materialismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts bleibt noch zu schreiben.«1 Diese Feststellung von Edgar Mass aus den 1990er Jahren dürfte auch heute noch weitgehend unverändert Gültigkeit beanspruchen. Entsprechend ist der Göttinger Philosoph Michael Hißmann (1752–1784) außerhalb engerer Fachkreise in der Gegenwart bislang unbekannt geblieben, obwohl er als konsequenter Materialist eine im deutschen Sprachraum durchaus ungewöhnliche, wenn auch durchaus nicht isolierte Position einnimmt.2 Der vorliegende Band soll zeigen, dass Hißmann mehr Aufmerksamkeit verdient, und er beabsichtigt damit zugleich, einen Beitrag zur ungeschriebenen Geschichte des Materialismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts zu leisten. Der neuzeitliche Materialismus war, anders als es seine relative Vernachlässigung in der gegenwärtigen Forschung vermuten ließe, keineswegs ein Randthema der damaligen philosophischen Debatte.3 Vielmehr gibt es kaum eine andere philosophische Strömung, die mehr und 1 2

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Edgar Mass: Französische Materialisten und deutsche ›Freygeisterei‹ (1746 bis 1753). In: Werner Schneiders (Hg.): Aufklärung als Mission. Marburg 1993, S. 129–156, hier 129. Zu den weiteren deutschen Materialisten zählt zunächst vor allem Hißmanns akademischer Lehrer und Vertrauter Christoph Meiners (1747–1810), der spätestens seit dem Grundriß der Seelenlehre (Lemgo 1786) jedoch zum Substanzdualismus zurückkehrt. Aus der Zeit der Spätaufklärung sind Karl von Knoblauch (1756–1794), Christian Gottlieb Selle (1748–1800), Johann Gottlieb Carl Spazier (1761– 1805), Johann August von Einsiedel (1754–1837) und auch August Wilhelm Hupel (1737–1819) hervorzuheben. Daneben gibt es bereits im 17. und frühen 18. Jahrhundert eine teils klandestine materialistische Tradition in Deutschland, für die Autoren wie Theodor Ludwig Lau (1670–1740), Friedrich Wilhelm Stosch (1648–1704), Gabriel Wagner (1660–1717) oder Urban Gottfried Bucher (geb. 1679) stehen. Die Forschungsliteratur zum Materialismus der Neuzeit ist bei weitem nicht so umfangreich wie die zu konkurrierenden philosophischen Strömungen und konzentriert sich vor allem auf England und Frankreich, vgl. grundlegend John Yolton: Thinking Matter. Minneapolis 1983; ders.: Locke and French Materialism. Oxford 1991; Ann Thomson: Bodies of Thought. Oxford 2008; Olivier Bloch (Hg.): Le matérialisme du XVIII siècle et la littérature clandestine. Paris 1982; ders. (Hg.): Le Matérialisme des Lumiéres (Dix-huitième siècle 24 [1992]); Catherine Wilson: Epicureanism at the Origins of Modernity. Oxford 2008; David Berman: Die Debatte über die Seele. In Jean-Pierre Schobinger (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. England. Basel 1988, S. 759–781; John P. Wright: Die Debatte über die Seele. In: Helmut Holzhey und Vilem Mudroch (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Großbritannien und Nordamerika. Basel 2004, S. 249–269;

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Heiner F. Klemme, Gideon Stiening, Falk Wunderlich

heftigere Gegenreaktionen ausgelöst hat. Dies liegt einerseits daran, dass der Materialismus oft umstandslos als Form des Atheismus (oder diesem zugerechneter deistischer, pantheistischer oder sozinianischer Spielarten religiöser Dissidenz) verstanden wurde, wenngleich es sich dabei, wie auch in dem vorliegenden Band zu sehen sein wird, keineswegs um eine notwendige Verbindung handelt. Andererseits war der mit ihm scheinbar ebenso natürlich verbundene Determinismus für viele unakzeptabel. Tatsächlich fand er nicht viele erklärte Anhänger, doch umso mehr Kritiker. Auch in der deutschen Philosophie gehörten Widerlegungen des Materialismus zum Standard, wie schon an den zahlreichen, allein diesem Thema gewidmeten Monographien zu ersehen ist.4 Besonders erwähnenswert ist hier die über fünfhundert Seiten starke Gesamtdarstellung von Justus Christian Hennings (1731–1815), die unter dem Titel Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere die Argumente für und wider den Materialismus breit diskutiert.5 Die erste große Welle der neuzeitlichen Materialismus-Debatte nimmt ihren Ausgang in England, mit den Reaktionen auf Thomas Hobbes und insbesondere auf John Lockes Vorschlag, dass Gott der Materie die Fähigkeit zu denken verliehen haben könnte.6 Doch der neuzeitliche Materialismus ist alles andere als eine einheitliche Denkrichtung.7 Bereits Hobbes und Locke stehen für zwei deutlich verschiedene Materialismus-Verständnisse, deren Unterschied auch für die Debatte in Deutschland bedeutsam ist. So kann ein Materialist (1) mit Hobbes und vielen französischen Materialisten die Existenz immaterieller Substanzen überhaupt bestreiten. Dieser Auffassung zufolge existieren in der Welt nur körperliche Dinge. Dann ist der Materialismus gleichbedeutend nicht nur mit der Leugnung immaterieller Seelensubstanzen, sondern auch der Existenz Gottes (jedenfalls entsprechend den meisten üblichen Vorstellungen, denen zufolge Gott ein immaterielles Wesen ist).8 In diesem Sinne legt auch Justus Christian Hennings die Grundüberlegung des Materialismus in der zweiten Auflage von Walchs weit verbreitetem

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Günther Mensching u.a.: Der Materialismus und die Natur des Menschen. In: Helmut Holzhey und Johannes Rohbeck (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Frankreich. Basel 2008, S. 471–614; Liam P. Dempsey: Thinking-Matter Then and Now: The Evolution of Mind-Body Dualism. In: History of Philosophy Quarterly 26 (2009), p. 43–61. Z.B. Georg Friedrich Meier: M. Georg Friedrich Meiers Beweiß: daß keine Materie dencken könne. Halle 1742; Moses Mendelssohn: Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele. Berlin 1767 (= Gesammelte Schriften. Hg. von Fritz Bamberger. Stuttgart-Bad Cannstatt 1971ff., Bd. 3.1, S. 5–128; Johann Georg Sulzer: Gedanken über einige Eigenschaften der Seele, in sofern sie mit den Eigenschaften der Materie eine Ähnlichkeit haben, zur Prüfung des Systems des Materialismus. In: Johann George Sulzers vermischte philosophische Schriften. Hg. von Christian Friedrich Blankenburg. Leipzig 1773, Bd. 1, S. 348–376. Justus Christian Hennings: Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere. Halle 1774. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Hg. von Peter H. Nidditch. Oxford 1975, p. 541. Zu den unmittelbaren Reaktionen auf Locke vgl. Berman: Die Debatte über die Seele (s. Anm. 3), S. 768–772. Dies arbeiten z.B. Mensching (Der Materialismus und die Natur des Menschen [s. Anm. 3]) und Thomson (Bodies of Thought [s. Anm. 3]) eindrücklich heraus. Der Status von Hobbes’ vermeintlichem oder tatsächlichem Atheismus ist in der Forschung umstritten. Während beispielsweise Daniel Garber Hobbes als Atheisten versteht (Daniel Garber: Soul and mind: Life and thought in the seventeenth century. In: Daniel Garber, Michael Ayers (ed.): The Cambridge History of Seventeenth Century Philosophy. Cambridge 1998, vol. 1, p. 759–795, hier p. 774f.), versucht Stewart Duncan dagegen zu zeigen, dass dies nicht für den Hobbes der frühen 1640er Jahre gilt (z.B. in den Einwänden gegen Descartes; Stewart Duncan: Hobbes's Materialism in the Early 1640s. In: British Journal for the History of Philosophy 13 (2005), p. 437–448).

Einleitung

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Philosophischen Lexicon aus: »Es zeigt dieses überhaupt einen Irrthum, oder falschen Begriff an, den man in Ansehung der Materie hat, welches auf verschiedene Art geschehen kan. Denn man nennet dasjenige einen Materialismum, wenn man die geistliche Substanzen leugnet und keine andere, als köperliche zulassen will.«9 Doch es muss beachtet werden, dass (2) andere Materialisten sich nur auf den weit weniger anspruchsvollen Vorschlag Lockes beziehen, wonach Denken und Bewusstsein auch ohne Bezugnahme auf immaterielle Substrate erklärt werden können, Materie also denken kann, ohne dass damit die Existenz immaterieller Entitäten anderweitig auch nur tangiert würde. Diese Variante des Materialismus ist gegenüber religiösen Prämissen vollständig neutral und wird von Locke ursprünglich in Gestalt der »superaddition« gerade theistisch interpretiert – Locke zufolge besitzt Materie nicht von sich aus die Fähigkeit zu denken, sondern kann sie nur durch einen zusätzlichen Eingriff Gottes verliehen bekommen.10 Sie schließt ausdrücklich nicht aus, dass es immaterielle Substanzen geben könnte, sondern bestreitet nur die Immaterialität der menschlichen Seele.11 Diese beiden Varianten sind nicht immer leicht auseinander zu halten, da die Erklärung mentaler Funktionen und damit die Frage, ob Materie denken kann, für beide von zentraler Bedeutung ist. Lockes Vorschlag bildet damit für die materialistischen Theorien der Zeit grundsätzlich den Ausgangspunkt, und ihre Unterschiede ergeben sich daraus, ob und wie weit sie über die Thinking-Matter-Frage hinausgehen. Dies gilt namentlich auch für den zumeist atheistischen französischen Materialismus, der einerseits auf Locke, andererseits auf klandestine religionskritische Traditionen zurückgeht.12 In Relation zu der Bedeutung, die die Auseinandersetzungen um den Materialismus im 17. und 18. Jahrhundert besaßen, ist die Forschungslage nach wie vor als unzureichend zu bezeichnen, namentlich hinsichtlich der Diskussion in Deutschland.13 Hier sind vor allem die Arbeiten von Martin Mulsow und Winfried Schröder zum deutschen Frühmaterialismus zu erwähnen, die sich jedoch weniger auf den Materialismus als solchen konzentrieren, als eher die Aspekte der Radikalaufklärung und Religionskritik in den Mittelpunkt stellen.14 Eine gewisse 9 10 11 12 13

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Johann Georg Walch, Justus Christian Hennings: Philosophisches Lexicon [...] Mit vielen neuen Zusätzen und Artikeln vermehret, und bis auf gegenwärtige Zeiten fortgesetzet. Leipzig 41775, Bd. II, S. 62. Locke: Essay (s. Anm. 6), p. 541 spricht ausdrücklich davon, dass die Verleihung der Denkfähigkeit auf einen willentlichen Akt Gottes zurückgeführt werden kann. Dies wird auch von einigen zeitgenössischen Materialismus-Kritikern wie Meier (Beweiss, [s. Anm. 4]) und Sulzer (Gedanken, [s. Anm. 4]) gesehen Vgl. Mensching: Der Materialismus und die Natur des Menschen (s. Anm. 3); Yolton: Locke and French Materialism (s. Anm. 3); Bloch: Le matérialisme du XVIII siècle et la littérature clandestine (s. Anm. 3). Siehe die in Anm. 3 erwähnte Literatur. So gibt es wenig spezialisierte Forschung zu Priestley und auch keine kritische Werkausgabe. Während gerade der philosophisch eher unbefriedigende La Mettrie sich vergleichsweise großer Aufmerksamkeit erfreut, werden Helvétius und d’Holbach weitgehend nur als Religionskritiker wahrgenommen, und kritische Ausgaben sind gerade erst begonnen worden; zu einigen Ansätzen zu Helvétius und d’Holbach vgl. Sophie Audidière (Hg.): Matérialistes français du XVIIIe siècle. Paris 2006. Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998; Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Hamburg 2002; vgl. zum Materialismus im engeren Sinne: ders.: Säkularisierung der Seelenlehre? Biblizismus und Materialismus in Urban Gottfried Buchers Brief-Wechsel vom Wesen der Seele (1713). In: Lutz Danneberg et al. (Hg.): Säkularisie-

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Würdigung erhielten die deutschen Materialisten auch in der DDR-Forschung, ohne dass diese Ansätze vor allem aus den 1960er Jahren in der Folgezeit weiterverfolgt worden wären. Sie sind auch durch ideologische Überformung problematisch.15

Grundzüge von Michael Hißmanns intellektueller Biographie Hißmanns durch seinen frühen Tod bedingte kurze Schaffensphase fällt in eine Zeit gravierender Veränderungen in der philosophischen Landschaft der deutschen Spätaufklärung. Der Wolffianismus hatte seine Vormachtstellung eingebüßt, und besonders um die Mitte der 1770er Jahre gewann der britische Empirismus an Beachtung. Auch die folgende Zäsur, die durch das Erscheinen der ersten Auflage von Kants Kritik der reinen Vernunft 1781 markiert wird, hat Hißmann noch erlebt, wenn auch publizistisch nicht mehr begleitet. Unter den deutschen Materialisten nimmt Hißmann seinerseits eine Sonderstellung ein, die zum einen darauf gründet, dass er ein eindeutig und konsequent formuliertes materialistisches Programm verfolgt und dies nicht nur auf die philosophische Psychologie bezieht, sondern auf alle Teildisziplinen der Philosophie auszudehnen bestrebt ist.16 Seine Schriften zirkulierten nicht im geheimen, sondern erschienen in etablierten Verlagen, teils unter seinem vollen Namen. Im Unterschied zu den mehr thetischen Versuchen aus dem literarischen Untergrund des frühen 18. Jahrhunderts, aber auch im Vergleich zu kanonischen Figuren wie La Mettrie bemüht sich Hißmann um zusammenhängende und stringente Argumentation. Will man Hißmanns Materialismus charakterisieren, so ist zunächst die konsequente Rückbindung an die Erfahrung kennzeichnend. Dies hat zur Folge, dass die Seelenlehre gerade keine Domäne der Metaphysik sein soll, denn einerseits lasse sich das Wesen der Seele eben nicht aufgrund von Spekulation und begrifflicher Analyse bestimmen, andererseits verfügten wir auch in der Erfahrung über keinen unmittelbaren Zugang zum Wesen des Geistes: »Alle Beweise für die Möglichkeit immaterieller geistiger Wesen reichen nicht zu, so wenig auf der andern Seite das Gegentheil bewiesen werden kan, weil wir keine Erfahrungsvorstellung von einem Geiste haben.«17 Mit der gebotenen metaphysischen Zurückhaltung lassen sich dennoch Indizien ge-

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rung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit. Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus. Berlin 2002, Bd. 2, S. 145–173. Etwa wenn Otto Finger einen »weltanschaulichen Parteienkampf« zwischen Hißmann und Mendelssohn konstruiert, vgl. Otto Finger: Von der Materialität der Seele. Berlin 1961, S. 86. Vgl. zu dieser Richtung weiter Gottfried Stiehler (Hg.): Beiträge zur Geschichte des vormarxistischen Materialismus. Berlin 1961; Arsenij Gulyga: Der deutsche Materialismus am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Berlin 1966. Während sich Hißmanns akademischer Lehrer Meiners vom Materialismus abwendet (s. Anm. 2), beschäftigen sich andere Vertreter des deutschen Materialismus nicht durchgängig mit philosophischen Fragen. So war Christian Gottlieb Selle in erster Linie Mediziner, August Wilhelm Hupel wandte sich nach seinen anonym erschienenen Anmerkungen und Zweifel über die gewöhnlichen Lehrsätze vom Wesen der menschlichen und der thierischen Seele (Riga 1774) sprachgeschichtlichen Forschungen zu. Karl von Knoblauch war in erster Linie mit nationalökonomischen Fragen und der Wunder-Problematik befasst. Michael Hißmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt und Leipzig 1777, S. 262.

Einleitung

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winnen, die im Sinne der Lockeschen Thinking-Matter-Hypothese auszulegen sind, wie etwa beobachtbare Korrelationen zwischen körperlichem Zustand und mentalen Fähigkeiten. So kann Hißmann dem Materialismus einen erfahrungsbasierten Vorrang einräumen: »Nach der Erfahrung, auf die ich mich stütze, glaube ich daher annehmen zu müssen, daß unserm Gehirn die Kraft zu denken zugeschrieben werden müsse.«18 Mit dieser metaphysischen Zurückhaltung ist Hißmann im Kontext des Materialismus keineswegs isoliert, sondern erweist sich vielmehr als dessen typischer Vertreter. Besonders groß scheint die Nähe zu Joseph Priestley zu sein, der den wahrscheinlich anspruchsvollsten materialistischen Ansatz des 18. Jahrhunderts vorgelegt hat. Auch Priestley argumentiert, dass das Wesen des Selbst unserem Verständnis noch grundsätzlich entzogen sei. Der Materialismus bezieht seinen Erklärungsvorteil für Priestley zunächst vor allem aus der Unplausibilität der dualistischen Annahme zweier vollständig heterogener Substanzarten, die zugleich zusammenwirken sollen. Angesichts dieser Schwierigkeit hält Priestley den Materialismus für die einfachere Erklärung und konstatiert, in Hißmanns Übersetzung: »Ich glaube vielmehr, der Mensch sey aus einförmigen Theilen zusammengesetzt.«19 Die Erfahrung zeigt uns zudem Abhängigkeiten zwischen Mentalem und Materiellem, so dass trotz unserer generellen Unkenntnis von Substanzen und Kräften die materialistische Erklärung höhere Plausibilität besitzt.20 Priestleys Materialismus ist in einer weiteren Hinsicht bemerkenswert: entgegen allen gängigen Vorurteilen ist er keineswegs atheistisch, Priestley erklärt sich vielmehr für den Unitarismus21 und vertritt eine mortalistische Auferstehungslehre als die wahre christliche Doktrin.22 In einem Brief an Johann Filtsch (1753–1836), einen seiner engsten Vertrauten, macht Hißmann deutlich, dass er sich sowohl Priestleys Philosophie im allgemeinen, als auch an seinem Unitarismus bzw. Sozinianismus im besonderen zum Vorbild nimmt: Ich habe eben sein [Priestleys, d. Hrsg.] Werk vor mir, worin er die Materialität der menschlichen Seele beweiset: Disquisitions on Matter and Spirit. London. 1777. [...] Mich freut’s, mit einem solchen Manne auf einem Wege zu wandeln. Er geht unendlich weiter als ich; denn er läßt sich auch auf die Untersuchung der Natur Gottes ein; ist aber überall ein warmer Verehrer der Religion, nur, wie jeder vernünftige Christ, Socinianer.23

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Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 17), S. 252. Psychologische Versuche von Joseph Priestley. Aus dem Englischen. In: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte 1 (1778), S. 8–60, hier S. 27. Vgl. v.a. Joseph Priestley: Hartley’s theory of the human mind, on the principle of the association of ideas; with essays relating to the subject of it. London 1775; ders.: Disquisitions relating to matter and spirit. London 1777; ders.: A free discussion of the doctrine of materialism, and philosophical Necessity, in a correspondence between Dr. Price, and Dr. Priestley. London 1778. Er dokumentiert dies auch dadurch, dass er als Prediger in unitarischen Kirchen tätig ist; vgl. Robert E. Schofield: The Enlightened Joseph Priestley. A Study of His Life and Work from 1773 to 1804. University Park 1997, pp. 317–401. Priestley (Disquisitions [s. Anm. 20], pp. 41–52, 241–347) diskutiert die theologischen Vorzüge des Materialismus. Vgl. zur Verträglichkeit von Christentum und Materialismus besonders ders.: Letters to a Philosophical Unbeliever. Birmingham 1780, sowie dazu Schofield: The Enlightened Joseph Priestley (s. Anm. 21), pp. 411–412. Zitiert nach Georg Adolf Schuller: Briefe aus vergangenen Tagen. I. Hißmann an seinen Freund Johann Filtsch. In: Kirchliche Blätter aus der evangelischen Landeskirche A. B. in den siebenbürgischen Landesteilen Ungarns 6 (1914), S. 138–140 u. S. 146–148, hier S. 146.

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Wie war es möglich, dass ein Vertreter derart unorthodoxer philosophischer Positionen an einer deutschen Universität Fuß fassen konnte? Zur Beantwortung dieser Frage ist zum einen zu beachten, dass Hißmann zwar in der Tat vom Wolffianismus und der üblichen substanzdualistischen Metaphysik abweicht, sich aber in Fragen der Religion zumindest zurückhält oder aber seine Auffassungen offensiv als mit dem Christentum gut verträglich darstellt. Zum anderen lagen an der erst 1737 eröffneten Göttinger Georgia Augusta Bedingungen vor, die eine Philosophie außerhalb des zeitgenössischen Mainstrams deutlich begünstigten.24 Die Neugründung einer Universität in Göttingen fiel in die Zeit, in der Kurhannover durch die Personalunion mit der englischen Krone einen erheblichen Bedeutungszuwachs erfuhr. Die Georgia Augusta unterschied sich von anderen deutschen Universitäten durch einige organisatorische Besonderheiten. So wurde die hauptsächliche Entscheidungsgewalt außerhalb der Universität angesiedelt, bei den Kuratoren und dem Hannoveraner Ministerium, um lähmende universitätsinterne Streitigkeiten wie etwa in Halle zu vermeiden.25 Ebenso schrieb bereits das kaiserliche Gründungsprivileg die Freiheit der Lehre in bis dato beispiellosem Umfang fest.26 Dies äußerte sich etwa darin, dass keine inhaltlichen Vorgaben hinsichtlich der zu verwendenden Lehrbücher gemacht wurden, und insbesondere die theologische Fakultät kein Zensurprivileg gegenüber den anderen zugesprochen bekam. Der erste Kurator der Universität, Gerlach Adolph von Münchhausen (1688–1770), zeigte sich zudem gegenüber der im protestantischen Deutschland vorherrschenden wolffianischen Philosophie außerordentlich reserviert. Er fürchtete, dass man »die tempora Scholasticorum wieder erleben werde, wann die Wolffianer auf denen Academien die Oberhand behalten«,27 und war dementsprechend an der Berufung von Gelehrten interessiert, die außerhalb dieses Mainstreams standen. Dies ist deutlich an der Berufung Johann Georg Heinrich Feders (1740–1821) zu sehen. Feder ist kein Materialist, aber auch kein Wolffianer; seine philosophische Position lässt sich am besten als eklektischer Empirismus charakterisieren. Feder wird zum wichtigsten akademischen Lehrer und Förderer von Meiners, dem ersten Göttinger Materialisten, und dieser etwas später wiederum Lehrer von Hißmann. So waren in Göttingen Bedingungen gegeben, die moderat-dissidente Auffassungen förderten, zu denen letztlich auch Hißmanns Materialismus gezählt werden kann. Denn wie im oben zitierten Brief an Filtsch deutlich wird, hielt auch er sich aus dem Zentrum der religiösen Kontroversen fern und achtete in gewissem Rahmen auf die theologische Verträglichkeit seiner Philosophie.

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Zur Etablierung materialistischer Philosophie in Göttingen vgl. ausführlicher Falk Wunderlich: Empirismus und Materialismus an der Göttinger Georgia Augusta – Radikalaufklärung im Hörsaal? In: Aufklärung 24, [i. D.]. In Halle verlangten die Statuten beispielsweise, dass Streitgespräche initiiert wurden, wenn der Verdacht auf Abweichungen von der protestantische Lehre bestand. Dies bildete die Grundlage für die Vertreibung Wolffs 1723, vgl. Anne Saada: Die Universität Göttingen. Traditionen und Innovationen gelehrter Praktiken: In: Hans Erich Bödeker, Philippe Büttgen u. Michel Espagne (Hg.): Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800. Göttingen 2008, S. 23–46, hier S. 29–30. Der Text des Privilegiums Kaiser Karls VI. ist nachgedruckt in Emil Rössler: Die Gründung der Universität Göttingen. Eine Sammlung bisher ungedruckter Entwürfe, Berichte und Briefe. Göttingen 1855, S. 41–49. Nachträgliches Votum Münchhausens, zitiert nach Rössler: Die Gründung, S. 36–37.

Einleitung

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Hißmanns Bildungsweg und seine akademische Laufbahn lassen sich aufgrund einiger Quellen durchaus rekonstruieren.28 Er wird am 25. September 1752 in Hermannstadt (heute Sibiu) als einziges Kind einer wohlhabenden Bäckerfamilie geboren, die ihn auch während seiner späteren Laufbahn finanziell unterstützt. Seine Geburtstadt lag im damaligen Fürstentum Siebenbürgen, das seit 1690 zu Österreich (vorher zu Ungarn) gehörte. Hißmann besucht das evangelische Gymnasium in Hermannstadt und legt nach Abschluss desselben das Konsistorialexamen ab, wozu in Siebenbürgen alle protestantischen Studenten verpflichtet waren, die im Ausland studieren wollten. Er verlässt Hermannstadt am 19. März 1773, um in Erlangen ein Studium der Theologie aufzunehmen. In Erlangen besucht er daneben Vorlesungen in Philosophie und Mathematik und hört, bei bei Simon Gabriel Suckow (1721–1786), Physik. Ein Jahr später zieht Hißmann bereits weiter nach Göttingen und immatrikuliert sich dort am 19. April 1774, zunächst wieder für Theologie.29 Er hört Vorlesungen bei Gotthilf Traugott Zachariae (1729– 1777), Christian Wilhelm Franz Walch (1726–1784)30, Gottfried Leß (1736–1797), Johann Peter Miller (1725–1789) und Johann David Michaelis (1717–1791). Unzufrieden mit seinem Studienfach wechselt er jedoch bald zur Philosophie. In einem Brief an Filtsch vom 10. Februar 1777 äußert er sich zu den Gründen für diesen Wechsel: Ich hätte immer verlohren, wenn ich Theolog geblieben wäre. Aber so warf ich mich bei Zeiten auf ein anderes Fach, und fand gleich, daß für mich hier etwas zu thun war. Für die Theologie war ich ganz stumpf. Ich fing also die Philosophie recht herzlich zu lieben an. [...] Ich habe Theologie fleißig studirt, und am Ende nichts gelernt. Meine philosophischen Arbeiten, die man aus tausend Ursachen in Siebenbürgen verachten wird, finden bey Kennern in Deutschland Beyfall.31

Zu seinen wichtigsten Lehrern in der Philosophie werden Abraham Gotthelf Kästner (1719– 1800), Johann Georg Feder und Christoph Meiners; besonders mit den beiden letzteren freundet er sich an. Er hört außerdem Physik bei Samuel Christian Hollmann (1696–1787), Naturgeschichte bei Johann Christian Polycarp Erxleben (1744–1777), alte Literatur und Kunst bei Christian Gottlob Heyne (1729–1812), Geschichte bei Johann Christoph Gatterer (1727–1799) und Johann Stephan Pütter (1725–1807), außerdem bei dem Botaniker und Mediziner Johan Andreas Murray (1740–1791).32 Hißmann lernt Französisch, Italienisch und Englisch. Unter seinen Kommilitonen verbinden ihn Freundschaften mit Ernst Adolf Weber (1751–1781, spä28

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Die wesentlichen gedruckten Quellen zu Hißmanns Biographie sind Johann Karl Schuller: Magister Hißmann in Göttingen. Ein Beitrag zur siebenbürgisch-sächsichen Gelehrtengeschichte. In: Archiv des Vereins für siebenbürgische Landeskunde 6 (1863), S. 201–230, Johann Filtsch: Michael Hißmann. In Siebenbürgische Provinzialblätter 1 (1804/05), S. 88–104 sowie der bei Schuller: Briefe aus vergangenen Tagen (s. Anm. 23), nachgedruckte Brief Hißmanns an Filtsch; vgl. hierzu vorläufig zusammenfassend Falk Wunderlich: Art. Hißmann. In: Manfred Kuehn, Heiner F. Klemme (ed.): Dictionary of Eighteenth-century German Philosphers. London, New York 2010, vol. 2, pp. 79–86. Götz von Selle: Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen, 1734–1837. Hildesheim, Leipzig 1937, S. 208. Sohn von Johann Georg Walch (1693–1775), Verfasser der ersten Auflage des Philosophischen Lexicons (s. Anm. 9). Zitiert nach Schuller: Magister Hißmann (s. Anm. 28), 204. Zu Hißmanns akademischen Lehrern vgl. besonders Filtsch: Hißmann (s. Anm. 28), S. 90–91; Filtsch erwähnt außerdem noch einen Mathematiker namens Meister, der nicht sich jedoch nicht identifizieren ließ. Möglicherweise liegt eine Verwechslung mit dem Göttinger Juristen Christian Friedrich Georg Meister (1718–1782) vor.

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ter Professor der Theologie in Jena), Christian Friedrich Helwing (1725–1781, später Buchhändler und Bürgermeister von Lemgo), Johann August von Einsiedel (1754–1837, materialistischer Philosoph),33 Justus Christian Loder (1753–1832, Mediziner, später Professor in Jena, Halle und Königsberg, Leibarzt Zar Alexanders I.), Georg Hermann Richerz (1756–1791, Zweiter Universitätsprediger in Göttingen) und Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1751– 1820, später preußischer Diplomat und Minister). Bereits zwei Jahre nach seiner Immatrikulation wird der nun dreiundzwanzigjährige auf Betreiben Kästners in die Königliche deutsche Gesellschaft aufgenommen und tritt dort am 24. Februar 1776 mit einer Rede vom Flor Siebenbürgens unter Theresien und Joseph an.34 Wenige Monate später, am 24. Mai 1776, findet seine Disputation zur Würde eines Doktors statt, er verteidigt dort die Schrift De infinito. Dissertatio metaphysica prima, pro gradu Doctoris Philosophiae.35 Unmittelbar anschließend beginnt er seine Lehrtätigkeit in Göttingen. Hißmann arbeitet rastlos und gönnt sich sehr wenig Ruhe, was seiner Gesundheit abträglich zu sein scheint.36 Erste gesundheitliche Probleme führen zu einem Kuraufenthalt in Hofgeismar von September bis Oktober 1776. Im Frühsommer 1778 reist er in Begleitung des Freiherrn Joseph von Podmanitzky (1756–1823), der von 1776 bis 1779 in Göttingen studierte, nach Leipzig und Berlin, wo er zahlreiche wichtige Bekanntschaften schließt, wie mit Johann Bernhard Merian (1723–1807, Sekretär der Berliner Akademie der Wissenschaften) und Wilhelm Abraham Teller (1734–1804). Mit Karl Franz von Irwing (1728–1801), Oberkonsistorialrat und Mitglied der Berliner Mittwochsgesellschaft, ist er seitdem freundschaftlich verbunden, was sich auch in einer umfangreichen Korrespondenz ausdrückt. Während seines Aufenthalts in Berlin wird Hißmann auf Befehl des Ministers Karl von Zedlitz (1731–1793) durch Wilhelm Abraham Teller die Nachfolge der renommierten Professur Georg Friedrich Meiers (1718–1777) in Halle angetragen.37 Für diesen Lehrstuhl, den schließlich Johann August Eberhard (1739–1809) erhielt, waren u.a. Christian Jakob Kraus (1753–1807), Ernst Platner (1744–1818) und Johann Nicolaus Tetens (1736–1807) im Gespräch gewesen – sowie Immanuel Kant.38 Hißmann un33 34

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Vgl. August von Einsiedel: Ideen. Eingeleitet, mit Anmerkungen versehen und nach J.G. Herders Abschriften in Auswahl herausgegeben. Hg. von Wilhelm Dobbek. Berlin 1957. Michael Hißmann: Rede vom Flor Siebenbürgens unter Theresien und Joseph. In der königlichen deutschen Gesellschaft zu Göttingen bei der Aufnahme in dieselbe abgelesen von Michael Hißmann aus Göttingen. Göttingen 1776. Michael Hißmann: De infinito. Dissertatio metaphysica prima. Göttingen 1776. Schuller: Magister Hißmann (s. Anm. 28), S. 7 behauptet, Hißmann habe kein Doktorat besessen, wie aus der nachgelassenen Korrespondenz hervorgehe. Dagegen spricht aber sowohl die Aussage von Filtsch als auch eben der Titel von De infinito, in dem klarerweise vom Zweck »pro gradis doctorae philosophiae« die Rede ist. Filtsch: Hißmann (s. Anm. 28), S. 92, bemerkt dazu: »[...] selten ging dieser rastlose junge Mann vor 11 oder 12 Uhr von seinen Büchern und dem Schreibpulte zu Bette und war gewöhnlich Morgens um 4. Uhr, ohne Unterschied der Jahreszeit, schon wieder mit gespannter Anstrengung über seinen Arbeiten. Dieses ununterbrochene, offenbare Uebermaaß im Studiren machte natürlich, daß schon im Jahre 1776. seine Gesundheit zu wanken anfing.« Aus Hißmanns Brief an Filtsch vom 13. Dezember 1778 (vgl. Schuller: Briefe aus vergangenen Tagen [s. Anm. 23, S. 139]) lässt sich entnehmen, dass er Zedlitz auch persönlich begegnet ist; außerdem erwähnt er Spalding, Teller, Nicolai, Jerusalem, Ebert und Platner im Zusammenhang der Reise nach Leipzig und Berlin. Vgl. dazu Alexei N. Krouglov: Erste oder zweite Wahl? Kant und die Suche nach einem Nachfolger für Meier in Halle (1777/78) In: Christoph Böhr, Heinrich P. Delfosse (Hg.): Facetten der Kantforschung. Stuttgart-Bad

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ternimmt weitere, kürzere Reisen nach Hannover, Rinteln, Bad Pyrmont und Lemgo sowie nach Münster in Begleitung von Dohm, wo er mit Franz Friedrich Wilhelm Freiherr von Fürstenberg (1729–1810) und der Fürstin Amalie von Gallitzin (1748–1806), zwei wichtigen Vertretern der ›katholischen Aufklärung‹ zusammentrifft.39 Während Christian Garves (1742–1798) zweimonatigem Aufenthalt in Göttingen 1781 freundet er sich auch mit diesem an, beherbergt ihn und bleibt ihm in lebhafter Korrespondenz verbunden. In die Jahre 1777 und 1778 fällt auch die Publikation seiner wohl einflussreichsten Schriften, die sich vor allem mit der philosophischen Psychologie befassen: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen, nebst einem Anhang vom Unterschied unter associirten und zusammengesezten Begriffen, und den Ideenreyhen (Göttingen 1776) und Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik (Frankfurt a. M., Leipzig 1777), sowie die popularphilosophischen Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser (Gotha 1778). Hißmann ist nach 1780 auch für weitere Lehrstühle in der Auswahl, ohne dass sich eine dieser Möglichkeiten realisiert. 1780 ist er in Kiel im Gespräch, wie aus einem Brief von Ernst Adolf Weber hervorgeht. Weber schreibt: »Nun gebe der Himmel, daß nur etwas von Kiel kömmt, denn das muß der Sache Ausschlag geben, und allenfalls wüßte ich freylich nicht, warum Sie nicht nach Kiel gehen wollten, um daselbst kurze Zeit zu bleiben, und dann mit Prunk wieder nach Göttingen gehohlt zu werden.«40 Im Sommer 1782 wird Hißmann wegen einer Professur für Naturrecht und politische Wissenschaften in Helmstedt angefragt. Zu einem Ruf kommt es anscheinend deshalb nicht, weil die zuständigen Stellen in Braunschweig der irrigen Annahme sind, Naturrecht werde in Helmstedt noch nicht gelehrt. Tatsächlich war es aber jahrelang durch Johann Karl Christoph Ferber (1739–1786) vertreten. Zuvor jedoch erfolgt im Mai 1782 die lang erwartete Ernennung zum außerordentlichen Professor in Göttingen durch König Georg III. von England (zugleich Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg). Dass auch hier Schwierigkeiten vorausgingen, macht ein Brief von Christian Konrad Wilhelm von Dohm vom 21. Dezember deutlich: »Ihre Lage, geliebter Hißmann, thut mir herzlich leyd, ich habe es Ihnen immer gesagt, daß Ihre Anhänglichkeit an Göttingen Ihr Glück verderbe. Ihre Klagen über die nie erfüllten Versprechen sind ganz gerecht.«41 Hinsichtlich der Frage, ob diese Professur besoldet war, gibt es widersprüchliche Angaben. Hißmanns Vertrauter Filtsch spricht von »einem jährlichen Gehalte«,42 und auch das 1784 erfolge Gegenangebot zu Hißmanns Ruf nach Pest lässt sich so auslegen, insofern ihm dort eine jährliche Zulage von 200 Gulden offeriert wird. Schuller hingegen geht davon aus, dass die Stellung unbesoldet blieb und belegt dies mit einem Brief des Hannoveraner Ministerialbeamten Georg Friedrich Brandes (1709–1791) vom

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Cannstatt 2011, S. 87–96, der Hißmann jedoch nicht erwähnt. Hißmann selbst spricht von dieser Angelegenheit in seinem Brief an Filtsch vom 13. Dezember 1778 (vgl. Schuller: Briefe aus vergangenen Tagen [s. Anm. 23], S. 139) und äußert dort die Auffassung, dass Eberhard, der schon in preußischen Diensten stand, letztlich aus finanziellen Gründen vorgezogen wurde. Zu Fürstin Gallitzin vgl. auch den Beitrag von Udo Roth in diesem Band. Zitiert nach Schuller: Magister Hißmann (s. Anm. 28), S. 209. Zitiert ebd, S. 210; es scheint jedoch eine offene Frage zu sein, ob diese Schwierigkeiten mit Hißmanns Materialismus zu tun hatten oder nicht andere, z.B. persönliche oder ganz externe Gründe vorlagen. Filtsch: Michael Hißmann (s. Anm. 28), S. 94.

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7. Juni 1782, der zu dieser Zeit faktisch die Universität leitet. Aus diesem Brief geht zumindest hervor, dass die Stelle zu Beginn mit keinem Salär versehen war: Gleichwie indessen schon so früh auf die Bewilligung einer Besoldung von Sr. k. Majestät nicht wohl zu denken steht, so kann auch diesfalls nicht auf dasjenige, was in andern Fakultäten, als anjetzt durch den Tod des Herrn Meister losfällt, gegriffen werden [...] Ich muß mir also bis zu anderer Zeit und Gelegenheit vorbehalten, die Hochachtung näher zu beweisen.43

Im März 1784 erkrankt Hißmann schwer an einem Bluthusten, der sich im Laufe des Jahres zur Tuberkulose entwickelt. Im selben Jahr beauftragt Kaiser Joseph II (1741–1790) Gottfried von Swieten (1734–1803), Hißmann einen vakanten Lehrstuhl der Philosophie an der Universität zu Pest (heute Teil von Budapest) anzutragen, was dieser mit Brief vom 1. oder 14. Juli 1784 ausführt. Hißmann wird ein jährliches Gehalt von 1200 Gulden angeboten; die Tatsache, dass er dieses noch hochzuverhandeln versucht, kann als weiteres Indiz dafür gewertet werden, dass er in Göttingen nicht ohne jede Bezahlung geblieben war.44 Das bevorstehende Angebot aus Pest war anscheinend schon vorher in Hannover bekannt geworden. In einem Brief vom 3. Mai 1784 (vermutlich von Kurator von dem Bussche) erhält Hißmann das Angebot, als Professor Ordinarius mit einer jährlichen Zulage von 200 Gulden in Göttingen zu bleiben. Hißmann entscheidet sich jedoch für Pest und nimmt den Ruf am 1. August 1784 an. Doch er kommt nicht mehr dazu, diese Position anzutreten. Hißmann stirbt am 14. August 1784 in Göttingen an den Folgen der Tuberkulose.

Hißmanns Nachlass Hißmanns umfangreicher Nachlass verbleibt nicht in Göttingen, sondern wird an seinen Siebenbürger Freund Johann Filtsch übertragen, der zwischen 1775 und 1777 gemeinsam mit Hißmann in Erlangen und Göttingen studiert hatte und inzwischen Pfarrer in Herrmannstadt geworden war.45 Zusammen mit dem Nachlass von Filtsch gelangte er in die Sammlung des Brukenthalschen Museums, die sich heute im Rumänischen Nationalarchiv in Sibiu befindet. Von wenigen Ausnahmen abgesehen wurde Hißmanns Nachlass in der bisherigen Forschung noch kaum ausgewertet.46 Neben zahlreichen Manuskripten enthält er einen umfangreichen Briefwechsel. Dieser Briefwechsel könnte die Rekonstruktion eines ganzen Gelehrtennetzwerkes der Spätaufklärung ermöglichen, selbst wenn er nur einen vergleichsweise kurzen Zeitraum umfasst (1776–1784).

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Zitiert nach Schuller: Magister Hißmann (s. Anm. 28), S. 207. Vgl. ebd., S. 226. Filtsch selbst ist keine ganz unwichtige Figur der Siebenbürgischen Lokalgeschichte gewesen. Er tat sich insbesondere als Historiker hervor und eröffnete schließlich das heute noch bestehende Brukenthalsche Museum. Zu Filtsch vgl. Rückblick auf das Leben des Johann Filtsch, Hermannstädter evangel. Stadtpfarrers und Capitels Prodechanten, mitgetheilt von dessen ältestem Sohne Johann Filtsch, Pf. in Schellenberg, Hermannstadt 1837. Die Kant-Forschungsstelle der Johannes Gutenberg-Universität Mainz konnte vor kurzem Reproduktionen des gesamten Nachlasses erwerben.

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Bei den Manuskripten des Nachlasses handelt es sich teils um Vorarbeiten zu Vorlesungen und Entwürfe wie zur Anthropologie, zum Naturrecht und zu religionsgeschichtlichen Fragen, die Hißmann anscheinend start beschäftigt haben. Bemerkenswert ist die umfangreiche Mitschrift einer Vorlesung von Christoph Meiners über Psychologie, die dieser nach seinem Kurzen Abriß der Psychologie gehalten hat.47 Die mit großem Abstand umfangreichste Korrespondenz führte Hißmann mit Dohm und Filtsch. Unter Filtschs eigenen Papieren befinden sich auch einige Briefe aus Hißmanns Feder an ihn. Auch etliche Briefe von Garve und Irwing sind erhalten, sowie von den bereits erwähnten Studienfreunden Weber, Helwing und Loder. Vertreten sind daneben auch der Orientalist Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827), der 1775 Professor in Jena wurde und 1788 nach Göttingen zurückkehrte, sowie Merian, Reichsfreiherr Samuel von Brukenthal (1721–1803, Gouverneur von Siebenbürgen), die bereits erwähnte Fürstin Gallitzin und Jakob Mauvillon (1743–1794).

Die Beiträge des Bandes Hißmanns Schaffen erstreckt sich nicht nur auf die klassischen Themenlagen, die sich aus der Thinking-Matter-Debatte und dem Empirismus ergeben. Der Göttinger Philosoph versucht in der kurzen Zeitspanne seiner literarischen Produktivität vielmehr, ganz im Sinne der von seinem Lehrer Meiners programmatisch geforderten Revision der Philosophie, weitere philosophische Teildisziplinen und Debattenfelder materialistisch umzugestalten. Die Beiträge dieses Bandes sollen die Bandbreite dieser Bemühungen abbilden und betreten dabei zum Teil Neuland. Die erste Sektion ist den klassischen Themen aus Metaphysik, philosophischer Psychologie und Erkenntnistheorie gewidmet, die in Hißmanns Hauptwerken aus den 1770er Jahren im Mittelpunkt stehen. Udo Thiel unternimmt eine detaillierte Einordnung Hißmanns in die Materialismus-Debatten sowohl der Neuzeit als auch der Gegenwart und nimmt dabei auch die argumentative Fundierung seines Materialismus sowie sein Verhältnis zur Religion in den Blick. Paola Rumore beschäftigt sich mit Hißmanns Philosophieverständnis, das von seiner Metaphysik-Kritik und der aufklärerischen Forderung des Selbstdenkens bestimmt ist. Falk Wunderlichs Beitrag behandelt die Theorien über Ideenassoziation, dem Hißmann eine eigene Monographie gewidmet hat, und ihren Kontext im zeitgenössischen Materialismus. Andree Hahmann untersucht mit dem Problem der Wahrnehmung eines der Kernthemen empiristischer Erkenntnistheorien, zu dem Hißmann eine materialistische Erklärung versuchte. Martin Schmeisser exploriert die Möglichkeit, Hißmann stärker an den französischen als an den britischen Materialismus anzubinden und untersucht, ob dessen Bekenntnis zur Unsterblichkeit der Seele vor allem wissenschaftspolitisch motiviert sein könnte. Die zweite Sektion enthält Beiträge zu Hißmanns naturrechtlichen und religionsgeschichtlichen Arbeiten sowie zu Hißmanns Verhältnis zur »Popularphilosophie«. Dieter Hüning beschäftigt sich mit Hißmanns Publikationen zum Naturzustand und zu Genesis sowie Geltung des Naturrechts. Martin Mulsow bettet Hißmanns Ausführungen zu den »eleusinischen Ge47

Christoph Meiners: Kurzer Abriß der Psychologie. Göttingen 1773.

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heimnissen« in die politische Theologie der Zeit ein. Und Udo Roth untersucht Hißmanns Verständnis von Popularphilosophie, das nicht seine Philosophie insgesamt, wohl aber den spezifischen Ansatz der Briefe über Gegenstände der Philosophie kennzeichnet. Die Beiträge der dritten Sektion nehmen zunächst Hißmanns Überlegungen zur Geschichtsphilosophie sowie zur Methodik der Philosophiegeschichtsschreibung in den Blick, gefolgt von Beiträgen zu Sprachtheorie und Ästhetik. Heiner F. Klemme beleuchtet die Ansätze zu einer Geschichtsphilosophie, die Hißmann in der Anleitung zur Kenntniß erarbeitet hat. Frank Grunert untersucht Hißmanns Arbeiten zur Philosophiegeschichte und ihrer Methodologie. Hans-Peter Nowitzki widmet sich mit Hißmanns Beiträgen über den Ursprung der Sprachen einer zentralen Debatte der Aufklärungsphilosophie, ebenso wie Hißmanns physiologischer Sprachtheorie. Gideon Stiening untersucht die Auswirkungen der materialistischen Psychologie Hißmanns auf dessen Ausführungen zu einer Theorie ästhetischer Erfahrung und geht möglichen Verbindungen dieser Konzeption zum Sturm und Drang nach. Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die im Februar 2011 in Mainz im Erbacher Hof (Akademie des Bistums Mainz) stattfand. Die Tagung wurde ermöglicht durch eine finanzielle Unterstützung der Kant-Forschungsstelle am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Unser Dank gilt dem Erbacher Hof und insbesondere seinem Leiter, Herrn Prof. Dr. Peter Reifenberg. Für umfangreiche organisatorische Unterstützung während der Tagung sowie bei der Herstellung des Bandes danken die Herausgeber Antonino Falduto, Gabriel Rivero (beide Mainz) und Oliver Bach (München).

I. METAPHYSIK, PSYCHOLOGIE UND ERKENNTNISTHEORIE

UDO THIEL

Hißmann und der Materialismus

Michael Hißmann gehört zu der vergleichsweise kleinen Gruppe deutscher Philosophen des 18. Jahrhunderts, die sich in ihren Publikationen ausdrücklich zum Materialismus bekennen. Ganz abgesehen davon, dass es unterschiedliche Versionen der materialistischen Position gibt, hat das, was jeweils ›Materialismus‹ oder heute ›Physikalismus‹ heißt, mehrere Aspekte und lässt sich nicht auf eine These reduzieren.1 In diesem Beitrag geht es um ein wesentliches Lehrstück, das auch für Hißmann zentral ist: die Lehre von der Materialität der menschlichen Seele oder des menschlichen Geistes. Es gilt, erstens, Hißmanns Beitrag im Kontext des 18. Jahrhunderts zu erläutern, und, zweitens, seine Argumente, mit denen er seine Position zu begründen sucht, zu analysieren und kritisch zu würdigen.

1. Hißmann im Kontext Im 18. Jahrhundert gab es bekanntlich mehrere Debatten zur materialistischen Auffassung vom menschlichen Geist oder von der Seele. Diese Auffassung wurde oft unter dem Titel der ›denkenden Materie‹ abgehandelt und erhielt ab etwa der Jahrhundertmitte zumindest stillschweigende Unterstützung durch die verstärkt auftretenden Versuche, die Wirkungen des menschlichen Geistes allein auf Grundlage einer (freilich sehr spekulativ verfahrenden) Physiologie zu erklären, und durch die Entwicklung eines neuen Materiebegriffs, demgemäß die Materie nicht länger als wesentlich passiv und durch Trägheit zu charakterisieren ist, sondern als etwas, das selbst aktive Kräfte enthält.2 Besonders einflussreich waren in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Denkern wie Charles Bonnet und David Hartley. Zwar distanzieren sich beide ausdrücklich vom Materialismus, aber ihre Erklärungsweisen mentaler Phänomene tendieren trotz 1

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Vgl. hierzu beispielsweise Kurt Bayertz: Was ist moderner Materialismus? In: Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 1: Der Materialismus-Streit. Hamburg 2007, S. 50–70. Vgl. John W. Yolton: Thinking Matter. Materialism in Eighteenth-Century Britain. Minneapolis 1983, pp. 90–106, 153–189. Yolton weist zudem darauf hin, dass der Einfluss von »Locke’s suggestion«, wonach der Begriff einer denkenden Materie widerspruchsfrei gedacht werden könne, für die Entwicklung des Materialismus im 18. Jahrhundert von zentraler Bedeutung gewesen sei (pp. 14–28).

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aller Beschwörungen einer immateriellen Seele deutlich zur materialistischen Position.3 Denn Hartleys Darstellung der Entstehung von Empfindungen, Ideen und Bewegungen bedient sich ausschließlich seiner physiologischen Psychologie und macht dadurch die Annahme einer immateriellen Seele de facto überflüssig.4 Dies ist genau jener Aspekt der Hartleyschen Lehre, an den seine materialistisch denkenden Nachfolger anknüpfen. Joseph Priestley, zweifellos einer der wichtigsten materialistischen Denker des 18. Jahrhunderts, beruft sich denn auch ausdrücklich auf Hartleys Theorie, der er eine begründende Funktion für seine eigene materialistische Theorie des Geistes zuspricht.5 Dies ergibt sich bereits aus seiner gekürzten Fassung von Hartleys Observations on Man, die er 1775 in London unter dem Titel Hartley’s Theory of the Human Mind veröffentlichte. Priestley fügt dieser Edition drei einführende Abhandlungen hinzu, in denen es vor allem um Hartleys Vibrationstheorie, die Assoziationslehre und das Problem der komplexen und abstrakten Ideen geht und in denen er die materialistischen Tendenzen bei Hartley betont. In den Diskussionen der Folgezeit wird Hartleys Assoziationslehre meist mit Priestleys Materialismus in Verbindung gebracht, was sicher nicht in Hartleys Sinn gewesen wäre. Im deutschsprachigen Raum rezipiert Albrecht von Haller schon früh Hartleys Theorie,6 doch ihre Breitenwirkung setzte erst in den 1770er Jahren ein. In den Jahren 1772/3 erschien bereits eine deutsche Übersetzung von Hartleys Observations mit kritischen Anmerkungen von Hermann Andreas Pistorius, die aber nur den zweiten, weitgehend theologischen Teil enthält und lediglich eine kurze Zusammenfassung des ersten, theoretischen Teils bietet. Die Tatsache, dass Hartleys Theorie dennoch in der deutschen empirischen Psychologie der 1770er Jahre gegenwärtig war, ist einer deutschen Übersetzung der Essays zu verdanken, die Priestley seiner Hartley-Edition vorangestellt hatte. Diese Übersetzung wurde von Michael Hißmann im ersten Band als erste Abhandlung seines Magazins für die Philosophie und ihre Geschichte publiziert.7 Damit lag, dank Hißmann, dem deutschen Publikum eine konzise, materialistisch interpretierte Version von Hartleys Theorie des Geistes vor, die auch eingehend rezipiert wurde. Des Weiteren orientiert sich Hißmanns eigene materialistische Position stark an Priestley, wie wir sehen werden. Als äußeres Indiz für Hißmanns Priestley-tum lässt sich angeben, dass er den drei Abhandlungen Priestleys in seiner Übersetzung denselben Titel gibt wie seinem eige-

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David Hartley: Observations on Man, His Frame, His Duty, and His Expectations (1749), zitiert nach der 6. Auflage. London 1834; Charles Bonnet: Essai analytique sur les facultés de l’ame. Kopenhagen 1760. Vgl. beispielsweise die Darstellung von Hartley in Udo Thiel: Erkenntnistheorie und Psychologie im Gefolge Lockes. In Helmuth Holzhey (Hg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. 18. Jahrhundert. England Nordamerika. Basel 2004, S. 403–410. Priestleys wichtigstes Werk zum Materialismus ist Disquisitions relating to Matter and Spirit, London 1777. Er beruft sich explizit auf Hartley in seiner Kritik an Thomas Reid und der Philosophie des Common Sense. Vgl. Priestley: An Examination of Dr. Reid’s Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense, Dr. Beattie’s Essay on the Nature and Immutability of Truth, and Dr. Oswald’s Appeal to Common Sense in Behalf of Religion. London 1774, pp. xi–xiii. Vgl. Albrecht von Hallers Rezension von Hartleys Observations on Man. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen (1750), S. 212–213, 232–233. Michael Hißmann (Hg.): Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte, Bd. 1, Göttingen und Lemgo 1778, S. 7–60. Im Original erschienen diese Essays unter dem Titel Introductory Essays. Vgl. Joseph Priestley (ed.): Hartley’s Theory of the Human Mind. London 1775, pp. ix–li.

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nen Hauptwerk: Psychologische Versuche.8 Hißmann fordert im Sinne seines Göttinger Kollegen Christoph Meiners eine Revision der Philosophie, so der Titel von Meiners’ Werk von 1772. Gemäß dem Projekt einer solchen Revision hat sich die Philosophie auf eine empirische Psychologie zu gründen, und diese ist wiederum auf eine materialistische, das heißt rein physiologische Grundlage zu stellen.

2. Hißmann und Materialismen – Methodisch, Metaphysisch, Identitätstheoretisch, Eliminativ? Der Materialismus ist hier sowohl als eine metaphysische als auch als eine methodologische Position zu verstehen.9 Denn dieser besagt erstens, dass es keine immateriellen Entitäten gibt; alles, was existiert, ist materiell. Hieraus ergibt sich zweitens, dass alles, was existiert, einer bestimmten Untersuchungsmethode unterworfen werden kann, nämlich der empirischen Methode von Beobachtung und Experiment, das heißt der Naturwissenschaften, und im Falle der menschlichen Seele oder des Geistes, der physiologischen Psychologie. Ganz ähnlich sieht übrigens die Sachlage im späten 20. und im 21. Jahrhundert aus. Paul Churchland etwa spricht in seinem einflussreichen Werk Matter and Consciousness durchaus von einem ontologischen Problem, andererseits aber auch von semantischen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Problemen.10 Das heißt, es wäre falsch, einen Gegensatz zwischen dem Materialismus des 18. Jahrhunderts und dem Materialismus oder Physikalismus der Gegenwart dadurch zu konstruieren, dass man dem einen eine reine methodische Ausrichtung zuspricht, dem anderen eine bloß substanzmetaphysische. Beide Aspekte sind relevant, sowohl heute als auch im 18. Jahrhundert. So schreibt Hißmann in den Psychologischen Versuchen: »Ist die menschliche Seele Materie [metaphysische These]: so müssen wir nothwendig eine neue Psychologie haben, die nur der physiologische und anatomische Psycholog schreiben kann« [methodologische These].11 Immer wieder betont Hißmann methodische Aspekte, insbesondere die Bedeutung von »Beobachtungen und Erfahrungen«. Zu den Vorgängern auf diesem methodischen Weg zählt er außer Priestley und Hartley auch Condillac, Helvétius, Bonnet, Search (i. e. Abraham Tucker), Robinet und Lossius. Dagegen sei die »Monadologie« ein »metaphysischer Traum«, und, so frohlockt Hißmann, »demonstrativische Pedanterie« sei mehr und mehr »aus dem aufgeklärten Europa 8 9

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Michael Hißmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt und Leipzig 1777. Eine zweite Auflage erschien postum 1788. Auf die Unterscheidung zwischen methodischem und metaphysischem Materialismus macht Michael Pauen aufmerksam. Michael Pauen: Vom Streit über die Seelenfrage bis zur Erklärungslücke. Wissenschaftlicher Materialismus und die Philosophie der Naturforscher im Vergleich mit dem Physikalismus der Gegenwart. In: Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke (Hg.): Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Band 1: Der Materialismus-Streit. Hamburg 2007, S. 102–125. Vgl. auch Falk Wunderlich, der auf Pauen verweist: Johann Georg Sulzers Widerlegung des Materialismus und die Materietheorien der Zeit. In: Frank Grunert und Gideon Stiening (Hg.), Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Wolff und Hume, Berlin 2011, S. 37–55, hier S. 39. Paul M. Churchland: Matter and Consciousness. A Contemporary Introduction to the Philosophy of Mind, Revised Edition, Cambridge, Mass. 1988.

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verbannet worden«.12 Vielmehr gelte: »Nun samlet man Fakta, man giebt auf ihre Folgen Acht […] man hat Fakta, man hat Erklärungen«.13 Die neue Methode verlangt nach Hißmann auch die Schaffung eines neuen Typs von Wissenschaftler, der Naturwissenschaft mit Philosophie verbindet: Die Sammlung dieser Thatsachen; behutsame Folgerungen aus denselben würden alles bisherige psychologische Gewäsche an Vorzügen und Brauchbarkeit unendlich überwiegen: denn sie würden den offenbaren, seltenen Vorzug der Gründlichkeit haben. Aber der Philosoph müste Arzt, und der Arzt Philosoph seyn; und folglich eine neue Art von Kreaturen entstehen.14

Es müssten mit der Seele auch Experimente gemacht werden, so sagt Hißmann, insbesondere Krankheitszustände müssen ausgenutzt werden, daher auch die Betonung des Arztes. »Physiolog und Anatom müsse man werden, um Psycholog zu seyn.«15 Wenn relevante Krankheitszustände nicht vorliegen, sollte man den Körper durchaus in einen außerordentlichen Zustand versetzen, »um an der Seele Experimente zu machen«. Dies schlagen jedenfalls: »verständigere Psychologen« vor, und sie tun dies laut Hißmann »mit Recht«.16 Es stellt sich jedoch die Frage, was für eine Art von materialistischer Theorie des Geistes Hißmann vertritt. Wie eingangs angedeutet unterscheidet man heute zwischen mehreren Versionen des Materialismus oder Physikalismus. Hier seien zwei Beispiele aus dem späten 20. Jahrhundert wenigstens erwähnt, die auch weiterhin diskutiert werden: die Identitätstheorie, die vor allem durch David Armstrong in den 1970er Jahren Furore machte,17 und – noch radikaler – der eliminative Materialismus, wonach man Wünsche, Hoffnungen, Gefühle und so weiter nicht mit Gehirnzuständen als identisch bezeichnen sollte, sondern vielmehr gilt, dass es diese Wünsche, Hoffnungen etc. gar nicht gibt. Dass es sie gebe, sei genauso eine Illusion wie es früher der Glaube an Hexen gewesen sei. Es gebe nur die neuronalen Zustände, unser Alltagsverständnis sei nichts als folk psychology, die es zu überwinden gelte.18 Für einen von diesen beiden Positionen zu unterscheidenden nicht-reduktiven Materialismus dagegen hängen geistige Phänomene zwar von der Materie ab, sind aber nicht vollständig auf diese reduzierbar und haben damit eine gewisse Eigenständigkeit. Hißmann kannte diese Unterschiede nicht, und es ist wohl müßig zu versuchen, ihn auf eine der modernen Versionen festlegen zu wollen. Jedenfalls scheint er keinen Eliminativismus zu vertreten, da er an dem Alltagsverständnis von mentalen Zuständen durchaus festhält. Biswei11 12 13 14 15 16 17 18

Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 11. Ebd., S. 250 (die letzten beiden Zitate). Ebd., S. 251. Ebd., S. 21f. Ebd. S. 250. Ebd. David Armstrong: A Materialist Theory of the Mind. London 1968. Churchland verteidigt den eliminativen Materialismus in Matter and Consciousness (s. Anm. 10, p. 48): »The bald statement of eliminative materialism is that the familiar mental states do not really exist.« Zu argumentieren, dass »introspection reveals directly the existence of pains, beliefs, desires, fears and so forth«, bedeutet nur, dass man »makes the same mistake that an ancient or medieval person would be making if he insisted that he could just see with his own eyes that the heavens form a turning sphere, or that witches exist« (p. 47). Vgl. auch in deutscher Sprache Paul M. Churchland: Die Seelenmaschine. Eine philosophische Reise ins Gehirn. Heidelberg 1997.

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len scheint er das Verhältnis von Mentalem zum Materiellen als ein Abhängigkeitsverhältnis zu verstehen, ohne allerdings die Natur dieser Abhängigkeit zu erläutern. So heißt es beispielsweise einmal, es gelte, dass »die Bezeichnung der Gedanken, sowie die Gedanken selbst […] von der Disposition des Gehirns abhangen«.19 Diese Formulierung deutet darauf hin, dass mentale Zustände für ihn nicht als identisch mit Gehirnzuständen anzusehen sind. An anderer Stelle heißt es dagegen: »Man kann […] den Ausdruck, Seele, und Seelenkräfte immer beybehalten, wenn man unter letztern nichts als Anspannungen der Gehirnorganen, der intellektuellen Fibern versteht, deren verschiedene Modifikationen und Dispositionen verschiedene Begriffe und Ideen sind.«20 Hier scheint eine Identität von mentalem Zustand und Gehirnzustand behauptet zu werden. Mentale Phänomene sind hiernach einfach als eine bestimmte Art von physischen Phänomenen aufzufassen. Da Hißmann selbst aber nicht zwischen mehreren Materialismen unterscheidet, fragt es sich jedoch, wie wörtlich diese Formulierungen zu nehmen sind. Aus heutiger Sicht mag es jedenfalls als ein Manko angesehen werden, dass Hißmann das Verhältnis von physischer Basis zum Mentalen nicht präzisiert und nicht mehrere Möglichkeiten auf materialistischer Grundlage voneinander unterscheidet, um sich dann für die eine oder andere Version auszusprechen. Aber aus Hißmanns Perspektive sind solche Feinheiten ohnehin nicht wesentlich. Ihm geht es vor allem darum, die traditionelle Lehre von einer immateriellen Seelensubstanz zurückzuweisen und methodisch für eine empirische und physiologische Psychologie als angemessene Herangehensweise beim Studium unserer Seele zu argumentieren. Darüber hinaus gesteht Hißmann zu, dass seine materialistische Rhetorik durchaus über das hinausgeht, was er mit seinen Argumenten beweisen kann. Es geht ihm letztlich auch gar nicht um einen Beweis, eine Demonstration der Materialität der Seele, sondern nur darum, diese Position als sehr wahrscheinlich auszuweisen. So betont Hißmann: »Wenn einige Stellen in meiner Schrift etwas affirmatif scheinen sollten«, so gilt doch, »dass ich nemlich auf keine Demonstration ausgehe, sondern blos das mehr Wahrscheinliche gegen das Unwahrscheinliche abzuwiegen suche«.21 Auch in dieser Hinsicht besteht eine Ähnlichkeit zu Priestley. Denn obwohl Priestley mit Nachdruck dafür plädiert, dass der Sitz des Denkens das Gehirn sei, sucht er diese These nicht zu beweisen, sondern argumentiert lediglich für ihre Wahrscheinlichkeit. Sein Argument besteht kurz gesagt darin, dass, soweit wir es eben beurteilen könnten, das Denkvermögen und ein bestimmter Zustand des Gehirns immer zusammen vorkommen und einander entsprechen, und dass wir Vermögen und Eigenschaften immer auf Grund solcher Entsprechungsverhältnisses einer Entität (Substanz) zuschreiben.22

19 20 21 22

Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 16f.; Hervorhebung von mir. Ebd., S. 252; die letzten beiden Hervorhebungen von mir. Ebd., S. 18. »As far as we can judge, the faculty of thinking, and a certain state of the brain, always accompany and correspond to one another; which is the very reason why we believe that any property is inherent in any substance whatsoever.« (Priestley: Disquisitions [s. Anm. 5], p. 27).

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3. Hißmanns Materialismus und die Religion In einer Hinsicht unterscheidet sich Hißmann ganz deutlich vom Materialismus der Gegenwart und auch von anderen Materialisten seiner Zeit. Denn er hält seinen Materialismus für vereinbar mit der Religion und insbesondere mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und einem Leben nach dem Tode. Hierin folgt er wiederum Priestley. Priestley hält Materialismus und christlichen Glauben nicht nur für vereinbar, sondern er behauptet sogar, dass das wahre Christentum materialistisch sei. Der Gedanke einer den Körper überlebenden immateriellen Seele sei dem Christentum ursprünglich ganz fremd gewesen und erst später aus der orientalischen und griechischen Philosophie in das christliche Denken eingeführt worden.23 Der Gedanke einer Vereinbarkeit von Materialität und Unsterblichkeit der Seele war natürlich nicht neu. In Bezug auf neuzeitliches Denken hätte sich Hißmann beispielsweise auf Locke berufen können, den er oft in anderen Zusammenhängen preist. Denn Locke argumentierte, dass die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode ganz unabhängig von Beweisen für die Immaterialität der Seele sei.24 Locke sprach sich zwar nicht für den Materialismus aus, er macht diesen aber mit der Unsterblichkeitslehre kompatibel. Dementsprechend sagt Hißmann, man habe fälschlicherweise gelernt, die Hoffnung auf Unsterblichkeit nur auf »die erdichtete, oder wenigstens zweifelhafte Immaterialität der Seele zu bauen«.25 Die Religion, die Hißmann deutlich von der theologischen Dogmatik unterscheiden will, bedürfe des Lehrstücks von der einfachen und unsterblichen Seele gar nicht. Die »Hoffnung auf Unsterblichkeit« werde »nicht erschüttert« durch Zweifel an der Einfachheit der Seele.26 Daher kann Hißmann deklarieren: »Ich glaube an die Unsterblichkeit meiner Seele, und ich glaube eben so zuversichtlich an ihre Materialität.«27 In explizitem Anschluss an Hume argumentiert Hißmann allerdings auch gegen die übliche Einstellung, wonach bei Untersuchungen über das Wesen der Seele stets zu fragen ist, ob das Ergebnis mit Unsterblichkeit und Moral übereinstimme. »Nie darf man eine Lehre wegwerfen, die die tägliche Erfahrung lehrt, wenn sie gleich wegen der Vorurteile, die unsern Verstand benebeln, schwer zu verdauen wäre«.28 Er beklagt, dass das Problem metaphysischer Untersu23

24

25 26 27 28

Priestley: Disquisitions (s. Anm. 5), S. 155–156. Vgl. zu Priestely und anderen Versuchen, materialistische Metaphysik mit der Lehre vom Leben nach dem Tode zu vereinbaren Udo Thiel: Religion and Materialist Metaphysics. Some Aspects of the Debate about the Resurrection of the Body in Eighteenth-Century Britain. In: Ruth Savage (Ed.): Philosophy and Religion in Enlightenment Britain. New Case Studies. Oxford 2012, pp. 90–111. Priestley’s Schüler Thomas Cooper publizierte eine Abhandlung mit dem Titel The Scripture Doctrine of Materialism. Philadelphia 1823. John Locke: An Essay concerning Human Understanding. Ed. by Peter H. Nidditch. Oxford 1975, IV.iii.6 (p. 542): »All the great Ends of Morality and Religion, are well enough secured, without philosophical Proofs of the Soul’s Immateriality.« Auch David Hartley spielt die Verbindung von Immaterialität und Unsterblichkeit herunter: »It is most worthy of notice, that the immateriality of the soul has little or no connexion with its immortality.« (Hartley: Observations on Man [s. Anm. 3], p. 321). Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 252f. Ebd., S. 253. Ebd., S. 13. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 257f.). Hißmann lobt Humes »Scharfsinn« in diesem Zusammenhang und zitiert anerkennend aus Abschnitt VIII der Enquiry concerning Human Understanding (S. 258). Vgl. David Hume: Enquiries concerning Human Understanding and concerning the Principles of Morals. Ed. by Lewis A. Selby-Bigge a. Peter H. Nidditch. Oxford 1975: »There is no method of reasoning

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chungen in der Vergangenheit gerade darin bestand, dass die Frage nach dem Wesen der Seele mit der Frage nach Leben nach dem Tode verknüpft wurde. Aus dieser Verknüpfung ergab sich, dass die Untersuchungen über die Seele »partheyisch« wurden. »Man muste den Theologen […] gefallen«.29 Dank dieser Parteilichkeit habe sich das Lehrstück von der Einfachheit und Immaterialität der Seele überhaupt durchsetzen können. Hißmann sieht sich dagegen nicht mehr gezwungen, den Theologen zu gefallen, und preist den neuen »Geist der Verträglichkeit«, den Geist der »Friedfertigkeit und Duldung«, der »fast im ganzen aufgeklärten Europa« herrsche.30 Hißmanns Strategie in Bezug auf die Religion ist demnach zweigleisig: Einerseits argumentiert er, dass die Bewertung der materialistischen Position sich nur auf philosophischer Argumentation zu gründen habe, nicht auf von der Philosophie unabhängige, angebliche Folgen dieser Position für die Religion. Andererseits argumentiert er, dass es solche negativen Folgen für die Religion gar nicht gebe, dass also selbst dann, wenn man die Folgen für die Religion in Betracht zöge, der Materialismus unproblematisch sei. Aber wie kann der Gedanke von einem Leben nach dem Tode auf materialistischer Grundlage plausibel gemacht werden? Die meisten Materialisten argumentieren ähnlich wie Priestley, indem sie die Auferstehung des Leibes als Garant für ein zukünftiges Leben betrachten. Und diese wird auf unterschiedliche Weise als plausibel angesehen. Priestley beispielsweise verweist auf die Keim-Theorie von Charles Bonnet, die er ebenso wie Hartleys physiologische Psychologie für seine Zwecke fruchtbar zu machen sucht.31 Bonnets Theorie besagt, dass jeder Körper aus bestimmten unzerstörbaren »Keimen« bestehe, die für ihn wesentlich seien und die bei allen Veränderungen des Körpers beharren. So sind auch dem menschlichen Leib solche unzerstörbare Keime zuzuschreiben. Diese haben u. a. die Funktion, die Identität des physischen Selbst bei der Auferstehung des Leibes zu garantieren. Durch Bonnets Keim-Theorie wird die Auferstehung als Wirkung von Naturgesetzen erklärbar und ist kein übernatürliches Mysterium mehr.32 Auch Hißmann knüpft an Bonnets Keim-Theorie an, um ein Weiterleben nach dem Tode ohne Berufung auf eine Immaterialität der Seele plausibel zu machen. Es ist ein ganz unbewiesener Satz, dass die materielle Seele zu gleicher Zeit mit verwesen müsse, wenn der grobe Körper zerfällt, weil nicht eine jede Materie nothwendig zerstörbar ist. Bonnets Keime haben sich von Anbegin der Schöpfung in dem Gewühl der Natur herumtreiben lassen, ohne zerstört zu werden, und die Keime, die sich am Ende der Tage entwickeln werden, haben der Zerstückung durch lange Jahrtausende widerstanden. Es giebt sehr feste Körper, die beynahe durch kein Mittel getrennt werden können.33

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more common, and yet none more blameable, than, in philosophical disputes, to endeavour the refutation of any hypothesis, by a pretence of its dangerous consequences to religion and morality. When any opinion leads to absurdities, it is certainly false; but it is not certain that an opinion is false, because it is of dangerous consequence« (p. 96). Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 15. Ebd., S. 14. Priestley: Disquisitions (s. Anm. 5), p. 161. Bonnet: Essai analytique (s. Anm. 3), § 743; Bonnet: La Palingénésie philosophique, ou Idées sur l’état passé et sur l’état futur des êtres vivans. 2 Bde. Genf 1769, vol. 1, pp. 311f. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 254f.

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Hißmanns Formulierung ist allerdings sehr vorsichtig, denn er verweist lediglich darauf, dass die These von der Vergänglichkeit einer materiellen Seele »unbewiesen« sei. Überdies scheint er sich des spekulativen Charakters von Bonnets Keim-Theorie durchaus bewusst zu sein. Letztlich beruft sich Hißmann denn auch auf die Tradition, nach der die Unsterblichkeit von der Gnade Gottes abhänge und nicht davon, worin das Wesen der Seele bestehe: »Mit eben derselben Kraft, mit welcher Gott eine einfache Monade erhält, kann er eine materielle Substanz ewig leben lassen. Immer kömt es einzig und allein auf seinen gnädigen Willen an, ob er jene in Ewigkeit nicht vernichten und diese durch seine Allmacht ewig unterstützen und beleben werde.«34 Hißmann hat mit seiner Argumentation also keine genuin materialistische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele begründet, sondern wie schon Locke, Materialität und Unsterblichkeit als miteinander vereinbar gedacht. Wie erwähnt geht es Hißmann nicht um feine Unterschiede zwischen mehreren Versionen des Materialismus, nicht einmal um einen Beweis für die Materialität der Seele, sondern um die Zurückweisung der traditionellen Lehre von einer immateriellen Seele und darum, die These von der Materialität der Seele als sehr wahrscheinlich nachzuweisen. Was sind nun Hißmanns Argumente, mit denen er versucht, sein Ziel zu erreichen?

4. Hißmanns Argumentationsstrategien Hißmann verfolgt zwei Argumentationsstrategien, ohne diese freilich explizit zu machen. Er versucht, erstens, den Leser von der negativen These zu überzeugen, dass die Seele kein einfaches, immaterielles Wesen sein könne. Zweitens versucht Hißmann, den Materialismus dadurch wahrscheinlich zu machen, dass er Einwände gegen die materialistische Auffassung zu entkräften sucht. Dabei werden einige Argumente von ihm durchaus doppelt für beide Strategien eingesetzt: Er versucht beispielsweise, Einwände gegen den Materialismus zu entkräften, indem er aufzeigt, dass sie auf die immaterialistische Position selbst zutreffen und also diese jedenfalls nicht plausibler machen als die materialistische Auffassung.

4.1. Einwände gegen die Lehre von der Immaterialität der Seele Was diese erste Strategie betrifft, verweist Hißmann (a) auf von ihm behauptete Erfahrungstatsachen, die einen engen Zusammenhang von Seele und Körper nahe legen, und (b) auf immanente Probleme der immaterialistischen Position. Zu den von Hißmann aufgeführten Erfahrungstatsachen gehören beispielsweise: i. »Sensibilität und Bewusstsein, Gedächtnis und Einbildungskraft, Verstand und Vernunft« hängen »nach allen Erfahrungen lediglich von gewissen inneren Theilen unseres Körpers« ab.

34

Ebd., S. 255.

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ii. »Die Stärke und Schwäche aller dieser Kräfte« nehmen zu und ab »mit der Stärke des inneren und des äußeren Mechanismus, mit der glücklichen oder unglücklichen Constitution der festen und flüssigen Theile unseres Körpers«. iii. »Mit der Zerrüttung des Gehirns durch Krankheiten, Alter und Medikamente« ist »der Verlust aller Seelenfähigkeiten unzertrennlich verbunden«.35 Hißmann meint, mit Hinweis auf solche und ähnliche Zusammenhänge zeigen zu können, dass »keine einzige Erfahrung auf ein einfaches Wesen führt, das vom Gehirn wesentlich verschieden, das das Behältniß aller Empfindungen und Vorstellungen, die der ganze Mensch hat, und der uneingeschränkte Besitzer und Beherrscher aller dieser Reichthümer wäre, die nur Menschen in einer solchen Fülle besitzen.«36 Da also die Erfahrung eine immaterielle Seele nicht nahe lege, schließt Hißmann: So kömt mir kein Gedanke, der je von einem Menschen gedacht worden, sonderbarer und unbegreiflicher vor, als der Gedanke von einem einfachen, im Menschen wohnenden Wesen, und die willkührliche Umschaffung des Gehirns in ein einfaches Wesen.37

Genauso wenig, wie man auf den Gedanken komme, Gehör, Geruch, Gesicht, Geschmack etc. für Kräfte eines einfachen Wesens zu halten, so wenig hätte man auf den Gedanken verfallen sollen, »Sensibilität, Bewusstsein, Gedächtnis, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft zu Kräften eines einfachen Wesens zu machen«.38 Dieser Gedanke von der Seele als eines einfachen Wesens sei eine »unwahrscheinliche Fiktion«. Es ist eine Fiktion, die »alle Erfahrungen wider, und keine einzige für sich hat«.39 Hißmann berücksichtigt freilich nicht die Tatsache, dass ein Zusammenhang von materiellem Körper und seelischen Kräften von Vertretern der immaterialistischen Auffassung von der Seele (die er abfällig »Simplinisten« nennt)40, gar nicht geleugnet wird (Descartes) und auch gar nicht geleugnet werden muss. Hißmann benötigt für seine Argumentation also mehr als den Verweis auf die erwähnten Zusammenhänge und wendet sich vielleicht auch aus diesem Grund (b) den immanenten Problemen der immaterialistischen Position zu. Hier verweist er (i) auf die bekannten Fragen, die der Substanzdualismus (der eine einfache, immaterielle Seele annimmt) aufwirft. Die »Simplinisten« könnten weder erklären, wie zwei Substanzen ganz heterogener Art (Körper und Seele) interagieren können, noch wie eine immaterielle Seelensubstanz überhaupt individuiert werde. Wo bleibt z. E. der schöne, einförmige Plan der Schöpfung? Welch ein Sprung von Körper auf Geist, vom Zusammengesezten aufs Einfache? Welche ungefüllte Lücke? Wie reisst die Kette ab? Wie unwahrscheinlich, dass der Mensch aus zween so ganz heterogenen Haupttheilen zusammengesetzt seyn sollte? Wie kann eine Monade an Materie angeklebt seyn, so wie die einfache Seele am äußersten Ende nothwendig mit körperlichen Partikeln zusammenhangen muss? Wodurch kann eine Seele von andern

35 36 37 38 39 40

Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 248 (alle drei Zitate). Ebd. Ebd., S. 248f. Ebd., S. 249. Ebd. Ebd., S. 250.

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Udo Thiel unterschieden seyn? Wie kann ein Geist im Körper einen Raum ausfüllen, ohne ausgedehnt zu seyn? Und was heist einfach? – Verneinung, Nichts.41

Des Weiteren betont er (ii) nochmals die Tatsache, dass Fälle von »Schwächung und Verlust der Seelenkräfte« durch die Erfahrung mannigfach erwiesen seien und dass diese Tatsache »unmöglich« wäre, wenn die Seelenkräfte »Eigentum eines einfachen Wesens« wären, »das keine Theile einbüßen kann«.42 Überdies sei (iii) unerklärbar, wie eine einfache, immaterielle Seele überhaupt empfinden könne. Denn es sei unbegreiflich, »wie ein einfaches Wesen diese Seelenkräfte in sich schliessen, und wie es eine so ungeheure Menge von Ideen verschlingen und wiederum ausspeyen könne«.43 Schließlich (iv). stellt Hißmann in Frage, ob wir überhaupt etwas über die Kräfte und die Natur einfacher Wesen erkennen können: Keiner von unsern äußern oder innern Sinnen macht uns mit ihnen bekannt… Macht man die Seele gar zu einem einfachen geistigen Wesen: so ist bisher weder ein bestimter Begriff von einer geistigen Substanz gegeben, noch aber die Möglichkeit solcher Wesen bewiesen worden.44

Dies kann als ein erkenntniskritisches Argument bezeichnet werden. Der Begriff von einem Geist, so Hißmann, ist »ganz negativ«; es ist »weder ein Erfahrungsbegriff, noch eine Vorstellung«, »die leicht nach der Analogie verständlich werden könnte«.45 Und selbst wenn wir einen positiven Begriff von einem Geist hätten, sei es noch ein weiter Weg »von der Erklärung der Ingredienzien zum Begriff eines Geistes« zu »dem Satz, dass dergleichen Naturen wirklich oder auch nur möglich seyn«.46 Für Hißmann ist dieser Weg noch von niemandem mit Erfolg zu Ende geführt worden.

4.2. Entkräftung von Einwänden gegen den Materialismus Vier Einwände gegen den Materialismus stehen im Zentrum von Hißmanns Diskussion. Dabei sollen die von Hißmann kritisierten Argumente genaugenommen nicht ausschließlich Probleme der materialistischen Position aufzeigen, sondern gleichzeitig positiv für die immaterialistische Auffassung sprechen. Dementsprechend richten sich Hißmanns Gegenargumente auf beide Aspekte dieser Einwände. Das (i) bereits eingangs erwähnte und von Immaterialisten immer wieder vorgebrachte Argument, dass die Materie wesentlich passiv, »träg und untätig«, sei und ihr daher keine Denk-

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Ebd., S. 277f. Hißmann verweist hier auf eine Stelle in der Schrift von August W. Hupel: Anmerkungen und Zweifel über die gewöhnlichen Lehrsätze vom Wesen der menschlichen und thierischen Seele. Riga 1774, S. 265. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 249. Ebd., S. 259. Ebd., S. 260. Ebd. Ebd., S. 262.

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und andere seelischen Tätigkeiten zugesprochen werden könnten,47 versucht Hißmann auf zwei Weisen zu entkräften.48 Zunächst behauptet Hißmann, dass es weder bewiesen sei, »dass Denkungsvermögen Thätigkeit sey«, noch, »dass die Materie blos leidend sey«.49 Wie Priestley verweist Hißmann auf die Tatsache, dass es allgemein üblich ist, der Materie gewisse Aktivitäten und Kräfte zu diesen zuzuschreiben: Sind Sturmwinde, und Magnetismus, und Elektricismus, und Attraktion, und Gift, und Schiesspulver, und Medikamente bloßes Leiden? Und wenn es bloßes Leiden ist: ist denn alle Materie bloß leidend? Muss nicht eine jede Materie nach ihrer Bestimmung mancherley Kräfte haben?50

Hißmann weist also erstens unter Berufung auf Erfahrungstatsachen die These von der wesentlichen Passivität der Materie als unwahrscheinlich zurück. Da wir ihr andere Kräfte zuschreiben, gebe es keinen Grund, der Materie die Denkfähigkeit prinzipiell abzuschreiben. Zweitens verwendet Hißmann wieder ein erkenntniskritisches Argument. Denn mit ihrer These nehmen die »Simplinisten« einfach an, dass das Wesen oder, mit Locke gesprochen, die reale Essenz der Materie erkennbar sei und dass man auch wisse, worin diese reale Essenz bestehe.51 Ein solches Wissen sei aber der menschlichen Erkenntnisfähigkeit gar nicht zugänglich. Der immaterialistische Einwand ist also für Hißmann schon aus dem Grund nicht überzeugend, dass er sich eine Kenntnis der Körperwelt, und der Bestandtheile der Materie anmasst, die Menschenkinder nicht haben können. Wer kennt die Oberfläche genau? Wer kennt die Kräfte des sichtbaren Körperlichen? Und doch sezt man im Beweis voraus, dass wir sogar von den unsichtbaren, einfachen Bestandtheilen der Materie die genaueste Kenntnis besitzen, und von ihren Kräften die die pünktlichste Rechenschaft zu geben im Stande seyn.52

Hißmann stellt also keineswegs eine positive Gegenbehauptung über die Materie auf, sondern argumentiert lediglich erstens, dass die Materie, soweit wir sie durch Erfahrung und Beobachtung kennen, Denkfähigkeit jedenfalls nicht ausschließe, und zweitens, dass es unsere prinzipielle Unkenntnis ihres inneren Wesens nicht erlaube, ihr die Denkfähigkeit einfach abzusprechen. Letzteres Argument setzt offensichtlich voraus, dass der Begriff einer denkenden Materie keinen Widerspruch enthalte – eine Position, die an John Locke erinnert, der – wie erwähnt – selbst kein Materialist war.53 Hißmann macht recht kurzen Prozess mit dem Einwand (ii), wonach der Materialismus die kognitiven Tätigkeiten der Seele nicht erklären könne. Hiernach sei es »ganz unbegreiflich«, »wie ein zusammengesetztes Wesen empfinden, wie es Empfindungen in allgemeine Begriffe verwandeln, wie es sie aufbewahren und wieder hervorrufen, wie es sie in Urtheile und Schlüsse 47 48 49 50 51

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Ebd., S. 271. Hißmann erwähnt auf S. 271 seiner Psychologische Versuche (s. Anm. 8) Francis Hutcheson und Johann Georg Sulzer als Vertreter der Auffassung, dass Materie »träg und untätig« sei. Ebd., S. 271. Ebd. Hißmann (ebd., S. 273–277) bezieht sich hierbei kritisch auf Moses Mendelssohns Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen, Berlin und Stettin 1767, (2. Gespräch), und positiv auf Hupels Argumente gegen Mendelssohn in Anmerkungen und Zweifel (s. Anm. 41). Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 275f. Vgl. Locke: Essay (s. Anm. 24), III.vi.4.

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zusammenketten könne«.54 Hißmann gesteht zwar zu, dass die Fähigkeit der Bildung allgemeiner Begriffe nicht leicht »aus dem Mechanismus der Werkzeuge unsrer Empfindung erklärbar zu seyn«55 scheine, aber für unmöglich sei eine solche Erklärung keineswegs zu erachten. Darüber hinaus und grundsätzlicher argumentiert Hißmann erstens, dass selbst, wenn man die Unbegreiflichkeit zugestehe, daraus nicht folge, dass die Seele nicht materiell sein könne. Denn man dürfe »aus der Unbegreiflichkeit gar nicht auf das Nichtdaseyn schliessen«.56 Zweitens falle der Vorwurf auf die immaterialistische Position, und zwar in verschärfter Form, zurück. Denn diese Position könne die Tätigkeiten der Seele ebenso wenig erklären und habe außerdem mit dem bereits erwähnten Problem der Interaktion zweier wesentlich verschiedener Substanzarten zu kämpfen. Daher gilt: »Der Vorwurf der Unbegreiflichkeit trift die entgegengesetzte Hypothese des Materialismus gewiss nicht in einem so hohen Grade.«57 Bemerkenswert ist hier die oben erwähnte Betonung des hypothetischen Charakters der materialistischen Position. Bei Materialismus und Immaterialismus handelt es sich für Hißmann um Hypothesen, die nicht nur in Bezug auf die Erfahrungsgrundlage gewürdigt werden müssen, sondern auch vor allem danach zu bewerten sind, ob und wie sie die kognitive Tätigkeiten des menschlichen Geistes erklären können. »Die alte Hypothese des Materialismus« schneidet jedenfalls besser ab als die der »Simplinisten.« Die letzten zwei wichtigsten Einwände gegen den Materialismus beziehen sich auf die Philosophie des Geistes. Hißmann widmet sich (iii) der oft erhobenen These, der Materialismus sei mit der offensichtlichen Einheit des Bewusstseins nicht vereinbar. Wäre die Seele materiell, so wurde argumentiert, dann hätte die Seele nicht nur kein Bewusstsein ihrer selbst als eines einheitlichen Wesens, sondern könnte auch gar kein einheitliches Wesen sein (wie es aber tatsächlich der Fall sei). Vielmehr müsste man mit dem Materialismus annehmen, dass jedes einzelne materielle Teilchen, aus dem die Seele sich zusammensetzt, für sich besteht und ein eigenes Bewusstsein habe. Denn andernfalls könnte auch aus ihrer Zusammensetzung nicht ein Ganzes entstehen, das des Denkens und des Bewusstseins fähig wäre. Wenn aber jedes Materieteilchen für sich gesondert bewusst wäre, hätten wir es mit einer Vielheit von bewussten Entitäten zu tun, und nicht mit einer Einheit. Es sei aber offensichtlich, dass wir die Seele als ein einheitliches Wesen wahrnehmen und dass sie ein einheitliches Wesen sein müsse, um ihre Tätigkeiten ausüben zu können. Kurz, die Seele könne nicht materiell sein, weil sie dann kein einheitliches Wesen wäre und auch kein einheitliches Bewusstsein produzieren könnte. Diese Kritik der Immaterialisten kann sich darauf berufen, dass auch Materialisten die Einheit der Seele und des Bewusstseins nicht leugnen. Und in der Tat, Priestley und mit ihm Hißmann sehen die Seele oder den menschlichen Geist als ein einheitliches Wesen an, sie sprechen auch von dem Bewusstsein der Einheit. Allerdings argumentieren sie, und dies sicherlich zu Recht, dass dies ganz und gar nicht unvereinbar ist mit der These, dass die Seele ein materielles Wesen sei. Einheit und Materialität, so argumentieren sie, stellen keinen Widerspruch dar. Die Prämisse der Immaterialisten, dass aus

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Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 259. Ebd., S. 265. Ebd., S. 267. Ebd., S. 268.

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unbewussten Materieteilchen kein einheitlich bewusstes Ganzes entstehen könne, sei nicht überzeugend: Ist denn der Satz so ganz unzweifelhaft, dass aus unbelebten Theilen kein belebtes Ganze, aus undenkenden Theilen kein denkendes Ganze zusammengesezt werden könne? Warum kann aus unharmonischen Theilen kein harmonisches Ganzes werden? Zugegeben, dass einzelne Seelenpartikeln das, was man Vorstellungsvermögen nennt, nicht haben, kann es ihr konzentrirter Zusammenfluss nicht haben?58

Es sei vielmehr gerade die Organisation unbewusster materieller Teilchen, die sich zu einem einheitlichen denkenden Wesen fügt. Was für eine Art von Organisation dafür erforderlich sei, entziehe sich zwar unserer Kenntnis, aber es gebe keine guten Gründe, die Möglichkeit einer solchen Organisation nicht anzunehmen.59 Jedenfalls sei die Einheit der Seele und das Bewusstsein dieser Einheit keineswegs durch die Materialität der Seele bedroht. Die Frage nach dem Einheitsbewusstsein führt auf den letzten hier zu betrachtende Einwand, den Hißmann zu entkräften sucht (iv). Hiernach gibt es ein unmittelbares inneres Gefühl, das uns der Einfachheit und damit der Immaterialität der Seele versichere. Träfe dies zu, dann wäre Hißmanns eigener Forderung nach Erfahrungsbegründung entsprochen und seine Behauptung, die Idee von einer immateriellen Seele sei eine solche, die »keine einzige [Erfahrung] für sich hat«,60 widerlegt. Hißmann schreibt diese Position Charles Bonnet zu. Denn für Bonnet gelte, dass Denken und Gedanken »zufolge eines innern Gefühls etwas ganz einfaches und untheilbares seyn«, das nur in einem einfachen Subjekt vorkommen könne.61 Hißmann argumentiert nun erstens, dass es diese angebliche unmittelbare Erfahrung von Einfachheit gar nicht gebe und dass die Philosophen, die sich für ihre Lehre auf ein solches unmittelbares Einfachheitsgefühl berufen, von ihrem Vorurteil über die Existenz einer einfachen Seele beeinflusst seien. Dies ist mit Hißmanns Hinweis gemeint, dass auch einige empiristisch ausgerichtete Denker, die sich auf innere Gefühle und Beobachtung berufen, von Vorurteilen beeinflusst seien. Sie finden über das Wesen der Seele heraus, was sie finden wollten. »Und so fand man mehrenteils, was man wirklich nicht fand.«62 Dass ein jeder das erwähnte Einfachheitsgefühl habe, ist für Hißmann eine bloße Behauptung, die durch die unsere tatsächliche innere Erfahrung nicht gestützt werden könne. Hißmann scheint zweitens zu argumentieren, dass ein inneres Gefühl, welchen Inhalts auch immer, gar nichts über das Wesen der Seele aussagen könne: Dass das Gefühl für ein einfaches Wesen zeuge, welches das Substratum des Bewusstseyns sey, ist, da die Sache ein Gefühl betrifft, wo nicht eine gar falsche, doch eine sehr zweifelhafte Voraussetzung.63

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Ebd., S. 276. Ebd., S. 270. Priestley’s Argumentation ist expliziter formuliert als Hißmanns: »Surely there may be a separate unity of the whole nervous system, as well as of one atom; and if the perception that we call consciousness, or that of any other complex idea, necessarily consists in, or depends upon, a very complex vibration, it cannot possibly belong to a single atom, but must belong to a vibrating system, of some extent« (Priestley: Disquisitions [s. Anm. 5], p. 87). Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 249. Ebd., S. 272. Ebd., S. 247. Ebd., S. 272f.

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Dieser Gedanke entspricht Priestleys Argumentation, die ausführlicher als Hißmanns ist, auf die sich dieser hier aber nicht explizit bezieht. Das Wesen des denkenden Subjekts, argumentiert Priestley, könne nicht durch das innere Bewusstsein und ein inneres Gefühl erkannt werden. Das Bewusstsein sei ein »internal feeling«, durch welches wir von dem wissen, »what passes within our own minds«, also Gedanken und Gefühle.64 Unsere Überzeugungen von dem Wesen des Subjekts dieser Gedanken und Gefühle seien aus dem, was unmittelbar im Bewusstsein gegeben ist, erschlossen, und nicht durch innere Gefühle selbst zugänglich.65 Drittens argumentiert Hißmann in Erweiterung des zweiten Arguments, dass selbst dann, wenn es ein Gefühl der Einfachheit gäbe, daraus nicht folge, dass das ihm zugrunde liegende Subjekt in einem metaphysischen Sinne ein einfaches Wesen sein müsse. Die Einfachheit des Bewusstseins, wenn wir diese einmal annehmen, könne durchaus aus einem zusammengesetzten, also materiellen Wesen hervorgehen. Wenn aber auch das Bewustseyn wirklich etwas untheilbares wäre: so muss das Principium des Bewusstseyns deswegen nicht auch ein untheilbares Wesen seyn. Dieses kann zusammengesezt seyn, und demungeachtet ungetheilte, einfache Empfindungen und Gedanken haben, wenn anders diese unverständlichen Worte etwas bedeuten sollen.66

Es sei durchaus möglich, argumentiert Hißmann, dass »viele Gehirnfibern […] zur Erzeugung eines einfachen Gedankens zusammenwirken«.67 Jedenfalls spreche nichts gegen diese Möglichkeit. Auch hier stimmen Hißmann und Priestley überein. Allerdings konzediert Priestley anders als Hißmann, dass es über das Bewusstsein von Gedanken und Handlungen hinaus auch ein Gefühl der Einheit gebe, doch dieses könne, so sagt Priestley dann genau wie Hißmann, aus einer zusammengesetzten Entität hervorgehen. Er unterscheidet also die These von der Einheit des Bewusstseins von der Einfachheitsthese in Bezug auf das denkende Subjekt. Aus jener Einheit sei nicht auf die Einfachheit des Ich oder die Immaterialität der Seele zu schließen. Das Einheitsgefühl erlaube es durchaus, dass das Subjekt ein materielles Wesen sein könne. Was aus diesem Einheitsgefühl geschlossen werden könne, sei nur dies, dass man nur eine Person, ein empfindendes und denkendes Wesen sei und nicht zwei Personen oder zwei empfindende Wesen.68 Zwar könne in der Tat ein empfindendes Wesen nicht in zwei empfindende Wesen aufgeteilt werden, da eine solche Teilung das eine »system of intelligence which we call the soul of man« 64

65

66 67 68

Joseph Priestley: Illustrations of Some Particulars in the Disquisitions on Matter and Spirit. In: A Free Discussion of the Doctrines of Materialism, and Philosophical Necessity, in a Correspondence between Dr. Price and Dr. Priestley. London 1778, pp. 229–320, hier p. 280. »What we feel, and what we do we may be said to know by intuition; but what we are we know only by deduction, or inference from intuitive observations« (Priestley: Illustrations [s. Anm. 64], p. 283). Schon Hartley hatte das Argument in Frage gestellt, nach dem die Immaterialität der Seele sich aus der Einheit des Bewusstseins ergebe. Aber Hartley stellte anders als Priestley sogar in Frage, ob der Ausdruck »Einheit des Bewusstseins« überhaupt einen bestimmbaren Sinn ergebe. Hartley: Observations on Man (s. Anm. 3), p. 321: »It is difficult to know what is meant by the unity of consciousness.« Zu Hartleys allerdings sehr knapper Diskussion dieses Themas vgl. Richard C. Allen: David Hartley on Human Nature. Albany, NY 1999, pp. 380–81. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 273. Ebd., S. 273. Priestley sagt, es gebe »a feeling or perception of the unity of my nature or being; but all that can be inferred from this is, that I am only one person, one sentient and thinking being, and not two persons, or two sentient or thinking beings« (Priestley: Disquisitions [s. Anm. 5], p. 86).

Hißmann und der Materialismus

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zerstören würde, aber natürlich könne die Seele des Menschen so geteilt oder aufgelöst werden »as to become no system of intelligence at all«.69 Hißmann lehnt, wie erwähnt, im Gegensatz zu Priestley den Gedanken eines Gefühls der synchronischen Einheit des Subjekts ab, nicht zuletzt, weil er befürchtet (aber unbegründeter Weise), damit den Immaterialisten ein zu großes Zugeständnis zu machen.70 In einem anderen Sinne spricht aber auch Hißmann von einem Einheitsgefühl, nämlich von dem Gefühl der diachronen Einheit oder der Einheit der Person. »Das Gefühl der Einheit seiner Person« kann niemandem »abgesprochen werden«.71 Dies bedeutet aber nur, dass ich mich durch meine Erinnerungsfähigkeit auf vergangene Handlungen und Gedanken beziehe und diese mir jetzt selbst zuschreiben kann. Für dieses Einheitsgefühl ist also eine Synthesis von gegenwärtiger und vergangener Erfahrung erfordert. Damit ist aber nichts zugestanden in Bezug auf das metaphysische Wesen des Ich. Hißmann weist allerdings die Behauptung zurück, dass wir nicht nur ein Gefühl der diachronen Einheit hätten, sondern auch ein solches der numerischen Identität über die Zeit hinweg. Dieses sei mit der Veränderbarkeit des Ich nicht vereinbar und sogar »physisch unmöglich«.72 Auch hier dürfte als Motiv im Hintergrund stehen, dass man mit dem Zugeständnis eines Gefühls numerischer Identität (die keine Veränderung gestatte) dem Immaterialismus ein (nicht erforderliches) Zugeständnis machen würde.

5. Materialistische Metaphysik und Subjektivität Wir haben bereits betont, dass es Hißmann trotz seiner teilweise radikal anmutenden Rhetorik nicht um einen Beweis der Materialität der Seele geht, sondern nur darum, diese wahrscheinlich zu machen. Aber auch bei diesem recht bescheidenen Ziel bleiben noch einige Fragen offen. Auf einige Probleme ist schon bei der Analyse von Hißmanns Vorgehen und Argumentation hingewiesen worden. Dazu gehört beispielsweise die Tatsache, dass Hißmann vage bleibt, wenn es darum geht, das Verhältnis von physischer Basis und mentalen Zuständen zu bestimmen. Dies ist verknüpft mit der Frage nach dem Subjektbegriff. Wie wird von Hißmann das Subjekt des Denkens und Empfindens bestimmt? Auch hier scheint seine Position nicht eindeutig bestimmbar zu sein. Einerseits betont er bisweilen streng materialistisch, dass »unsere Nerven, eine sichtbare körperliche Substanz, empfinden«,73 dass also die Nerven selbst Subjekt der Empfindung seien. Aber Hißmann ergänzt sogleich: »[U]nd wenn sie mit einem andern körperlichen Teil des Menschen zusammenhangen: so sind wir uns der Empfindung bewust«.74 Wer ist hier das Subjekt dieses Bewusstseins? Die »Nerven« scheint Hißmann selbst mit seiner Formulierung als Kandidaten auszuschließen. An anderen Stellen suggeriert Hißmann, dass der »ganze Mensch« als das Subjekt des Denkens und Empfindens anzusehen sei, beispielsweise 69 70 71 72 73 74

Priestley: Disquisitions (s. Anm. 5), p. 87. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 156f. Vgl. hierzu Udo Thiel: Varieties of Inner Sense. Two Pre-Kantian Theories. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), pp. 58–79, hier pp. 74f. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 151. Ebd. S. 148. Vgl. Thiel: Varieties of Inner Sense (s. Anm. 70), S. 76. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 8), S. 263. Ebd.

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wenn er von »Empfindungen und Vorstellungen« spricht, »die der ganze Mensch hat«,75 aber dies wird nicht weiter erläutert oder ausgeführt. Auf den Personbegriff ist schon hingewiesen worden. Wir sahen, dass es dabei um die diachrone Einheit (nicht numerische Identität) des Subjekts geht. Auch diese versucht Hißmann bisweilen materialistisch zu deuten: Person oder Ich sind weiter nichts, als diejenigen Organen in uns, die neue Eindrücke, Vorstellungen und Handlungen mit den ehemaligen, die diesen neuen ihre Auferstehung zu verdanken haben, vergleichen, und sich dadurch ihrer vormaligen Existenz bewußt sind. Daher sind wir auch nicht dieselben Personen, die wir vorher waren.76

Hier wird das Ich oder die Person mit den »Organen« identifiziert, die Vergleichungshandlungen vornehmen und sich dadurch ihrer vergangenen Existenz bewusst werden, also Subjekt des Bewusstseins sein sollen. Andererseits wird die Personalität oder die personale Einheit von Hißmann auch ganz unabhängig von der materiellen Basis mentaler Akte beschrieben: Wir haben das Gefühl der Personalität, sagt Hißmann, »wenn wir nicht blos fühlen, daß wir jezt sind, sondern auch, daß wir ehedem in den vorigen Zeitpunkten unsers Lebens existirten«.77 Es wird deutlich, dass die materialistische Metaphysik zum Verständnis dessen, was Person bzw. personale Einheit ist, gar nicht erforderlich ist und auch gar nichts dazu beiträgt. Es ist uns unmittelbar durch ein Bewusstsein oder ein Gefühl gewahr: Wir fühlen die Einheit [...] unsrer Person immer, wenn wir während eines gewissen Zeitraums unsers Lebens uns gewisser Empfindungen, Vorstellungen und Handlungen bewust sind, und dabey uns bewust sind, daß wir die Eindrücke empfunden, die Vorstellungen gehabt, und die Handlungen ausgeübt haben.78

Diese Hinweise verweisen auf ein Problem, das Hißmanns Projekt im Ganzen betrifft. Hißmann sagt zu Beginn seiner Psychologischen Versuche, man könne die ersten vier Versuche akzeptieren, ohne den materialistischen Schluss im 5. Versuch zu ziehen.79 Und in der Tat handelt es sich etwa im dritten Versuch über den inneren Sinn bei aller rhetorischen Berufung auf materielle Grundlagen hauptsächlich um begriffliche Analysen (was ist »Selbstbewusstsein«? Was ist »Personalität?« usw.), für deren Behandlung die Frage danach, ob die Seele materiell ist oder nicht, offen gelassen werden kann. Hißmann weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die physische Basis des inneren Sinns uns ohnehin unbekannt sei: Uns ist eine genaue Kenntnis der Organen des inneren Sinnes gänzlich versagt […]. Wir kennen die Art gar nicht, wie auf diese inneren Organen von innen Impressionen geschehen, deren Erschütterungen wir unsere inneren Gefühle und Empfindungen zu danken haben.80

Also, so könnte man hinzufügen, kann man sich auf diese unbekannten »Organen« auch nicht als Erklärungsgrundlage beziehen. Hißmann unterminiert letztlich seine eigene zentrale These, man müsse als Philosoph (oder »Psycholog«) notwendig »Physiolog und Anatom« sein,81 da die 75 76 77 78 79 80 81

Ebd., S. 248. Ebd., S. 148f. Ebd., S. 145. Ebd., S. 151. Ebd., S. 12f. Ebd., S. 104f. Ebd., S. 11.

Hißmann und der Materialismus

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Untersuchung sich auf den Geist oder die Seele als materielles Wesen beziehen müsse. Die Hauptteile seiner Versuche sind gar nicht an eine materialistische Lehre vom Wesen der Seele gebunden. Kurz, wesentliche Aspekte von Hißmanns eigener Philosophie des Geistes unterlaufen seinen offiziell deklarierten Materialismus.

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Im Kampf gegen die Metaphysik Michael Hißmanns Verständnis der Philosophie

1. Selbstdenken und eklektische Philosophie: der Leitspruch einer Epoche »Unstreitig war Hißmann Selbstdenker in hohem Grade und ein entschiedener Gegner alles blinden Nachbetens in der Philosophie«.1 Mit diesen Worten umriss der langjährige Freund und erste Biograf Hißmanns, Karl Filtsch, sehr knapp und scharf das Profil seines Freundes. Insbesondere hebt er dessen natürlichen Hang zur Bekämpfung jeder Form von unselbständiger Schulphilosophie hervor, zugunsten der freien, kritischen Ausübung der eigenen Vernunft. Kurz gesagt: des Selbstdenkens. Diese Einstellung zur Philosophie, auf die Hißmann in seinen Schriften beharrlich zurückkommt, hat tiefe Wurzeln. Sie ist sozusagen der Leitspruch einer Epoche, das Banner, unter dem die deutsche Philosophie den Übergang von der rationalistischen Scholastik zum Zeitalter der Aufklärung vollzog. In der berühmten Formulierung Kants bedeutet die Aufklärung die unbestrittene Durchsetzung der Eigenständigkeit des Denkens, Fähigkeit und Mut jedes Menschen, sich der eigenen Vernunft zu bedienen. Das Selbstdenken als Zeichen der Reife des Menschen wurde zur programmatischen Idee der Aufklärung erhoben.2 Obwohl diese kantische Überlegung in Christian Wolffs Unterscheidung zwischen historischen und philosophischen Erkenntnissen wurzelt,3 nahm die Diskussion über das Selbstden1 2

3

Johann Filtsch: Michael Hißmann. In: Siebenbürgische Provinzialblätter, I (1804–05), S. 88–104, hier S. 97. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, Bd. VII, S. 33–42, hier S. 35. (Im Folgenden: AA, Band, Seite) Vgl. Norbert Hinske: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie. In: Raffaele Ciafardone, Norbert Hinske, Rainer Specht (Hg.): Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Stuttgart 1990, S. 407–458, hier S. 416–424. Christian Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere / Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen (1728). Historisch-kritische Ausgabe hg. von Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, § 6: »Cognitio rationis eorum, quae sunt, vel fiunt, philosophica dicitur.« Die philosophische Erkenntnis verstand Wolff als die eigene Einsicht in die Gründe dessen, was ist oder geschieht; er behauptet deswegen, es gebe einen substantiellen Unterschied zwischen Philosophie und Geschichte der Philosophie, wo die letzte keine philosophische, sondern eine historische Erkenntnis ist, ebd., § 50.

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ken in der deutschen Philosophie der letzten dreißig Jahre des 18. Jahrhunderts eine klare Frontstellung gegen Wolff und seine Schule Gestalt an. Dank des antidogmatischen Geistes der Göttinger Alma mater, an der Hißmann nach der relativ kurzen Zeit in Erlangen seine intellektuelle Ausbildung durchlief, wurde die Dringlichkeit des Themas deutlich wahrgenommen. So hatte sich ab Ende der 60er Jahre an der jungen Georg-August-Universität eine immer radikalere Opposition gegen die institutionalisierte Philosophie herauszubilden begonnen. Teilweise griff sie Thomasius’ Ideal der philosophia aulica auf, setzte es jedoch weitaus schärfer der Schulphilosophie entgegen, über die sich mittlerweile ein ganz und gar negatives Urteil durchgesetzt hatte. Schritt für Schritt hatte Christian Thomasius den Entwurf zu einer ›Philosophie für alle‹ in offenem Gegensatz zur philosophia sectaria erarbeitet, die in den Fesseln der aristotelischen und lutherischen Orthodoxie gefangen und nur für die universitären Lesesäle geeignet war.4 Doch schon zu Beginn des Jahrhunderts hatte sich Johann Franz Budde dafür eingesetzt, der so genannten ›Schulphilosophie‹ eine gewisse Würde zurückzugeben. Budde, der die zu jener Zeit viel diskutierte Unterscheidung zwischen »Welt- und Schulgelahrtheit« analysierte, fasste erstere als Gesamtheit der gegründeten und wahren Erkenntnisse auf, die den Menschen zur Erreichung der irdischen und himmlischen Glückseligkeit führen konnten, und letztere als eine Art ›Professionalisierung‹ des Wissens. Diese betraf Methoden und Verfahren, mit denen jene Erkenntnisse in den Schulen gesucht, vertieft, gelehrt und verteidigt wurden. Obwohl Budde am Primat der Weltgelehrsamkeit festhielt, war er also dennoch bereit, der Schulphilosophie einen spezifischen Nutzen zuzuerkennen.5 In den Jahren der Frühaufklärung, in denen die Debatte über das Selbstverständnis der Philosophie und ihre Bestimmung an Dringlichkeit gewann, kam dieser Polemik eine erstrangige Bedeutung zu. Wolffs Stellungnahme zugunsten einer philosophia ad usum scientiarum atque vitae apta kann als reifer Versuch einer Versöhnung der wissenschaftlich-spekulativen Dimension der Erkenntnisse mit dem praktisch-weltlichen Interesse verstanden werden. Doch schon in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertmitte erlangte der Streit erneut große Aktualität. Die ausufernde Verbreitung von Handbüchern und Kompendien der wolffschen Philosophie, die flächendeckend und nahezu hegemonial in den deutschen Universitäten und Akademien Einzug hielten, hatte den Geist seiner Philosophie wesentlich verfälscht und sie in die Starrheiten einer Scholastik im schlechten Sinn des Wortes verstrickt. Die abstrakten Inhalte, die terminologische und begriffliche Spitzfindigkeit, die Anpassung der Erkenntnisse an das deduktive Verfahren und das Joch des pruritus demonstrandi hatten jeglichen Kontakt zum Menschen mit seiner weltlichen Dimension und Lebenspraxis verloren. Nachdem man sich vom Menschen und seinen eigentlichen Interessen verabschiedet hatte, wurde die Philosophie erneut zu einer theoretischen Übung als Selbstzweck, die sich in den unfruchtbaren Höhen der doktrinären Streitigkei4

5

Was den allmählichen Übergang von der philosophia aulica (Hofphilosophie) – eine Philosophie, die für die politische Klasse der Zeit geeignet sein sollte – zu einer ›Philosophie für alle‹ – eine Philosophie für »alle Stände und Geschlächte« – angeht, vgl. Werner Schneiders: Nicht plump, nicht säuisch, nicht sauertöpfisch. Zu Thomasius’ Idee einer Philosophie für alle. In: Martin Fontius, Werner Schneiders (Hg.): Die Philosophie und die Belles-Lettres. Berlin 1997, S. 11–20. Vgl. Johann Franz Budde: Philosophisches Discurs von dem Unterschied der Welt- und Schul-Gelahrtheit. Vorrede zu: Martin Musig: Licht der Weisheit, in denen nöthigsten Stücken der wahren Gelehrsamkeit, zur Erkänntniß menschlicher und göttlicher Dinge, nach Anleitung der philosophischen und theologischen Grund-Sätze. Leipzig 1709, §§ III–IV, XXIII.

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ten abschirmte. Die »cognitive crisis of the enlightenment«,6 die Deutschland nach Wolffs Tod (1754) traf – der die Bühne der deutschen Philosophie rund dreißig Jahre lang fast unangefochten beherrscht hatte – musste sich daher mit einem Bild der Philosophie auseinandersetzen, das sich von den Verkündungen ihres Erfinders weit entfernt hatte. So pflegte man gegen Wolffs Philosophie, die zu einem Symbol des dogmatischen Sektierertums geworden war, den berühmten Sinnspruch Senecas anzuführen, wonach die Philosophie sich an einem bestimmten Punkt zu ihrem größten Schaden von der Welt abgekehrt und der Schule zugewandt hatte. »Die Weltweisheit habe sich nun aus der Sphäre des Lebens in die Sphäre der Katheder versetzt«, schrieb Hißmann seiner eifrigen Briefpartnerin im ersten seiner Briefe über Gegenstände der Philosophie und griff dabei wortgetreu eine Stelle aus den Fragmenten über die Neue Deutsche Litteratur auf, die sein Freund und Lehrer Johann Georg Heinrich Feder am Anfang seiner Logik und Metaphysik angeführt hatte.7 Feder, der 1768 aus dem Coburger Casimirianum nach Göttingen gekommen war, hatte erheblich zur Formulierung des – wenngleich inoffiziellen – Programms der so genannten Popularphilosophie beigetragen, die den Göttinger Kreis gegen Ende des Jahrhunderts prägte. In Feders Sicht musste die Philosophie zum Menschen zurückkehren, in ihm ihren herausragenden Gegenstand finden und ihn zum Hauptmaßstab für die Festlegung ihrer Interessenfelder machen. Die Philosophie musste sich erneut als Weltweisheit verstehen, aus den Lesesälen herausfinden und sich der Welt zuwenden, sie musste eine den meisten verständliche Sprache sprechen und nach Form und Inhalt einem gesunden Menschenverstand zugänglich sein. Gegen das von der wolffschen Scholastik und ihrer dogmatischen Haltung verkörperte philosophische Sektierertum hatte die Göttinger Spätaufklärung aus den klassischen Quellen und der fortlebenden thomasiusschen Tradition den Begriff der eklektischen Philosophie aufgenommen. Die Eklektik genoss in jenen Jahren noch beträchtliches Ansehen, das ihr erhalten blieb, bis sie gegen Ende des Jahrhunderts von Reinhold und Fichte, später von Hegel, unwiderruflich verurteilt wurde.8 Bevor die philosophia eclectica zum Eklektismus verkam und letztlich dem Synkretismus 6

7

8

Den Ausdruck zitiert Manfred Kuehn: Scottish Common Sense in Germany, 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy. Kingston, Montreal 1987, S. 36. Kuehn bezieht sich auf Leonard P. Wessell: G.E. Lessing’s Theology. A Reinterpretation: A Study in the Problematic Nature of the Enlightenment. The Hague 1977. Michael Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser. Gotha 1778, Erster Brief, S. 9. Johann Georg Heinrich Feder: Logik und Metaphysik. Hanau, Leipzig 41775. Die Adressatin von Hißmanns ersten fünf Briefen ist eine nicht näher bestimmte »Madame C**«. Johann Karl Schuller behauptete, – als er Hißmanns Lebensbeschreibung auf Grund seiner von Johann Filtsch aufbewahrten Korrespondenz verfasste – dass die Briefe den Gegenstand einer Dankungsschrift der Fürstin Gallizin (vom 18. September 1780) sein sollten (vgl. Johann Karl Schuller: Magister Hißmann in Göttingen. Ein Beitrag zur siebenbürgisch-sächsischen Gelehrtengeschichte. Kronstadt 1863, S. 9, Anm.). Vgl. Fichtes strenges Urteil über den Eklektizismus in der Einleitung in die polemische Schrift gegen Friedrich Nicolai: »Nehmlich ich scheue mich nicht zu gestehen, daß seitdem ich die mich umgebende Welt kenne und selbst eine Meinung habe, nichts mir verhaßter und verächtlicher gewesen ist, als die elende Behandlung der Wissenschaften, da man allerlei Fakta und Meinungen, wie sie uns unter die Hände kommen, zusammenrafft, ohne irgend einen Zusammenhang oder einen Zweck, außer dem, sie zusammenzuraffen und über sie hin und her zu schwatzen; da man über alles für und wider disputirt, ohne sich für irgend etwas zu interessiren, oder es ergründen oder auch nur zu wollen; und in allen menschlichen Kenntnissen nichts erblickt, als den Stoff für ein müßiges Geplauder, dessen Haupterforderniß dies ist, daß es eben so verständlich sei am Putztische, als auf dem Katheder; jene schaale

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gleichgesetzt wurde – einer zusammengeflickten und stümperhaften Wissensform, die sich in keine höhere Perspektive einbetten ließ9 –, hatte sie als höchstes Ergebnis der Vernunftausübung gegolten. Da sie stets unabhängig war von den verschiedenen philosophischen Schulen, konnte sie das Wahrste und Beste, das sich in den unterschiedlichen Philosophien auffinden ließ, anhand von Prinzipien auswählen und in einer einheitlichen Perspektive in Übereinstimmung bringen. Aus diesem Grund hatte die Eklektik eine grundlegende Voraussetzung im Freidenken. Schon seit der Manductio ad stoicam philosophiam von Justus Lipsius (1604), die in der Forschung gemeinhin als locus modernus der eklektischen Philosophie bezeichnet wird, galt die Freiheit zu philosophieren (libertas philosophandi) als Grundprinzip jener Ausübung der Philosophie.10 Genau dieses Wissensmodell muss Johann Georg Walch im Sinn gehabt haben, als er Christian Thomasius im Anhang zur Zweitauflage seines berühmten Philosophischen Lexicons (1740) »de[n] erste[n] Eclectische[n] Philosophus in Deutschland« nannte.11 Dieser hatte nämlich dem Bedürfnis entsprochen, die doctrina ratiocinandi et morum vom Sektierertum der Schulphilosophie zu befreien – der aristotelischen, cartesianischen und jeglicher anderen Richtung –, und das Ideal einer Philosophie vorgebracht, die aufgrund einer rationalen Auswahl die besten Aspekte der verschiedenen philosophischen Auffassungen zu sammeln vermochte: Voco autem Eclecticam Philosophiam – schrieb Thomasius, fast wörtlich die Anfangsseiten von Johann Christoph Sturms De philosophia sectaria et electiva aufgreifend – quae jubet non dependere ab ore unius, aut in unius magistri verba jurare, sed ex ore scriptisque doctorum quorumcunque, quicquid veri bonique, non docentis auctoritate, sed argumentorum pondere convictus quis cognoverit, in horrea sua colligere, adeoque de suo subinde addere, et ita suis potius oculis quam alienis videre.12

Der eklektische Philosoph steht im Gegensatz zum sektiererischen: Dies war der Gedanke, den Thomasius 1688 in seiner Introductio ad philosophiam aulicam vortrug und den Denis Diderot 1755

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Wisserei und Stümperei, Eklekticismus genannt, die ehemals beinahe allgemein waren, und auch gegenwärtig noch sehr häufig angetroffen werden.« (Johann Gottlieb Fichte: Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinungen. Ein Beitrag zur Literargeschichte des vergangenen und zur Pädagogik des angehenden Jahrhunderts (1801). In: J.G. Fichte – Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hg. von Reiner Lauth et al., Bd. I/7: Werke 1800–1801, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, S. 370. Vgl. hierzu Bruno Bianco: Fede e sapere. La parabola dell’»Aufklärung« tra pietismo e idealismo. Napoli 1992, S. 131, Anm. 137. Über das Thema im Allgemeinen vgl. das Standardwerk von Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. So sachgemäß Wilhelm Traugott Krug: Über die verschiedenen Methoden des Philosophierens und die verschiedenen Systeme der Philosophie in Rücksicht ihrer allgemeinen Gültigkeit. Meißen 1802 (ND Bruxelles 1968), S. 23; ders.: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte. Nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft. Leipzig 21832 (ND Bruxelles 1970), Bd. 1, ad voc. »Eklekticismus«. Donald R. Kelley: Eclecticism and the History of Ideas. In: Journal of the History of Ideas, LXII (2001), pp. 577–592; hier p. 581. Johann Georg Walch: Anhang zum Philosophischen Lexico, worinnen die Leben der berühmtesten Philosophen nach Alphabetischer Ordnung enthalten. In: ders.: Philosophisches Lexicon. Leipzig 1740 (1726, ND der vierten Auflage von 1775: Hildesheim 1968), S. 163. Über Thomasius und die Eklektik vgl. die ausführliche Untersuchung von Albrecht: Eklektik (s. Anm. 8), S. 398–416. Christian Thomasius: Introductio ad philosophiam aulicam, seu lineae primae libri de prudentia cogitandi et ratiocinandi, ubi ostenditur media inter praejudicia Cartesianorum & ineptias Peripateticorum, veritatem inveniendi via. Leipzig 1688 (ND Hildesheim 1993), § 90. Vgl. auch Johann Christoph Sturm: De philosophia sectaria et electiva. Altdorf 1679, S. 2.

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in dem für die Encyclopedie verfassten Artikel »Éclectisme« unterschrieb. Die eklektische Philosophie ist die Philosophie der gesunden Geister, die nach den Ruhmesblättern der Antike in Vergessenheit geriet, bis zur Wiederentdeckung von »la prérogative la plus belle de l’humanité, la liberté de penser par soi-même«.13 Dieses Freidenken hatte nichts mit der allgemeinen Freiheit zu tun, das zu denken oder zu behaupten, was mehr beliebt, sondern bedeutete Selbstdenken, also die Freiheit, allein der Vernunft und dem Beweis der Erfahrung Autorität zuzuerkennen. Sehr klar bringt Christoph Meiners dies in einer Schrift zum Ausdruck, die Hißmann gut kannte: »Das freie Denken [...] besteht vorzüglich in der Unabhängigkeit von dem Interesse oder Zwange, gewisse Meinungen als heilig und unwidersprechlich zu glauben«.14 Zusammen mit dem Begriff der Mündigkeit, der sich unmittelbar auf Kants aufklärerisches Ideal bezieht, durchziehen Eklektik und Selbstdenken in unterschiedlicher Verbindung den gesamten Verlauf der deutschen Aufklärung: »Die drei Begriffe in ihrer Substanz«, schreibt Norbert Hinske, »artikulieren ein und dasselbe Programm: die Idee eines freien und eigenständigen Denkens, das sich aus der Bindung an eine einzelne Autorität [...] gelöst hat und aus einiger Einsicht nach Erkenntnis sucht«.15 Die philosophia eclectica als Charakteristik der Frühaufklärung, das aus der hochaufklärerischen Idee der cognitio philosophica als eigene Einsicht in die Gründe der Tatsachen hervorgegangene Selbstdenken und die Mündigkeit der Vernunft als Unterscheidungsmerkmal des aufgeklärten Zeitalters, zu dem die Spätaufklärung hinstrebt, blicken auf ein vollkommen modernes Wahrheitsideal. Die Wahrheit wird nicht mehr als alleiniges Erbe einer Gruppe, einer Schule oder eines Teils der Menschheit aufgefasst, sondern als kollektives Ziel, das es gemeinsam anzustreben gilt. Kants Überlegungen zum Pluralismus – als Gegenmaßnahme gegen die Gefahr des logischen Egoismus, die in Wahrheit bereits von dem modernsten der Wolffianer, Georg Friedrich Meier, erkannt wurde – sind zutiefst in dieser typisch aufklärerischen Reflexion verwurzelt.16 Die Opposition gegen den sektiererischen Dogmatismus und die Forderung nach einer eklektischen Philosophie, die von der Eigenständigkeit des Denkens zeugt, beseelt in der deutschen Philosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Programm einer Reform der Philosophie im Sinne ihrer ›Verweltlichung‹, die in der Göttinger Georg-August-Universität eines ihrer wichtigsten Ausstrahlungszentren fand. Obwohl zu den Desiderata dieses Programms eine unverhohlene Abneigung gegen jede Form der sektiererischen und dogmatischen Institutionalisierung der Erkenntnis zählte, zugunsten eines Eklektismus mit skeptischen Zü13

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Denis Diderot: Eclectisme. In: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. V, Paris 1755, S. 283. Vgl. auch Thomasius: Introductio ad philosophiam aulicam (s. Anm. 12), § 96; dazu Werner Schneiders: Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne. In: Studia Leibnitiana, XV (1983), S. 2–18, spez. S. 11: »Die philosophia sectaria taugt nur für die Schule, der Hof benötigt eine neue philosophia eclectica.« [Christoph Meiners] Revision der Philosophie. Erster Theil. Göttingen und Gotha 1772, S. 117. Norbert Hinske: Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit – drei verschiedene Formulierungen einer und derselben Programmidee. In: Aufklärung 1 (1986), S. 5. Vgl. Norbert Hinske: Kant als Herausforderung an die Gegenwart. München 1980, S. 35–43; ders.: Wer sind die Erben der Aufklärung. In: Luigi Cataldi Madonna, Paola Rumore (Hg.): Kant und die Aufklärung. Hildesheim 2011, S. 9–20, spez. S. 13–18. Über die frühen Leistungen Meiers in der Richtung einer ›Popularphilosophie‹, vgl. Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 37–51.

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gen, erlangte es hier den fast offiziellen Charakter einer »Weltphilosophie vom Katheder«.17 Erst mit Feder, dann entschieden nachdrücklicher mit Christoph Meiners, konkretisierte sich diese Reform der Philosophie in der Forderung nach einem Neudurchdenken von Natur und Funktion der Metaphysik als einem wesentlichen Teil der Philosophie. An der Diskussion über Status und Legitimität der Metaphysik, die in jenen Jahren die Gedanken eines Kant und eines Tetens beschäftigte, waren die wichtigsten Gesprächspartner des jungen Hißmann unmittelbar beteiligt. Dieser ging schließlich so weit, die notwendige Vernichtung der Metaphysik zu behaupten, um einer Philosophie Raum zu geben, die den Hauptinteressen der Menschheit Rechnung tragen kann.

2. Selbstdenken und Kritik am Dogmatismus Das Motiv der Abneigung gegen jede Form von Dogmatismus und Untertänigkeit in der Philosophie kehrt in der reichen Produktion der hißmannschen Schriften beharrlich wieder, die in einem Zeitraum weniger Jahre entstanden. Seine Produktion begann nämlich 1776 mit der Veröffentlichung von De infinito und der erfolgreichen Geschichte der Lehre von der Association der Ideen und endete nur sieben Jahre später mit dem Versuch über das Leben des Freyherrn von Leibniz (1783), das ein Jahr vor dem frühzeitigen Tod des Philosophen erschien. Schon in den Psychologischen Versuchen von 1777, die fraglos Hißmanns theoretisches Hauptwerk darstellen, nahm die Kritik am Dogmatismus besonders scharfe Töne an. Es handelt sich um einen der seltenen Texte der deutschen Philosophie jener Jahre, in denen man einer ausdrücklichen und fundierten Zustimmung zum psychologischen Materialismus begegnet. Die Entscheidung zur anonymen Veröffentlichung des Textes bot Hißmann offensichtlich Gelegenheit für eine tief reichende Auseinandersetzung mit Funktion und Möglichkeiten der Philosophie seiner Zeit. In der Tat präsentierte das Werk Inhalte, die in offenem Gegensatz zu den beiden großen Verkörperungen des Dogmatismus der Zeit standen: dem theologischen und dem philosophischen Dogmatismus, der de facto das Antlitz des wolffschen Systems besaß. Schon auf den Seiten der an Christian Wilhelm Dohm gerichteten Widmung benutzt Hißmann sehr starke Ausdrücke: Die »seichten Nachbeter« können sich ohne Weiteres der Lektüre des Werks enthoben fühlen, da die abweichende Meinung im Verhältnis zum auswendig gelernten System »ohnmöglich ihrem schadhaften Gehirn eingekeilt werden« kann.18 Wie Hißmann von

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Walther Ch. Zimmerli: »Schwere Rüstung« des Dogmatismus und »anwendbare Eklektik«. J.G.H. Feder und die Gottinger Philosophie im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Studia Leibnitiana, XV (1983), S. 58–71, hier S. 58: »Nun gibt es aber eine deutsche Universität, die sich in jener Zeit von allen anderen dadurch unterscheiden läßt, daß sie der Gründungsabsicht und dem Selbstverständnis ihrer Mitglieder nach eine Philosophie eben dieser revidierten Aufklärung war: die Universität Göttingen. Es ergibt sich mithin die Frage nach der Art von Philosophie, die im Kontext der ›Verweltlichung‹ von Philosophie an dieser Universität gelehrt wurde, die Frage also nach einer ›Weltphilosophie vom Katheder‹«. Über den anti-spekulativen Widerstand der Georgia Augusta vgl. insbesondere Luigi Marino: Praeceptores Germaniae. Gottingen 1770–1820. Göttingen 1995, Kap. II., S. 153–245, zu Hißmann ebd., S. 252f. Michael Hißmann: Psychologische Versuche. Ein Beitrag zur esoterischen Logik. Hannover, Göttingen 21788 (erste, anonym erschienene Ausgabe: 1777), S. 5* (nicht paginiert).

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seinen Lehrern gelernt hatte, die auch darin zeigten, dass sie das englische Vorbild rezipiert hatten, ist es zugleich Recht und Pflicht jedes Philosophen, sich von den vorgefertigten Systemen abzuwenden und freimütig dem eigenen Denken Ausdruck zu geben: »Fast im ganzen aufgeklärte Europa [...] hat jedermann das Recht, seine Meinung frey heraus zu sagen, und Denken ist nicht mehr Verbrechen«.19 Etliche Jahrzehnte später rühmte ein anderer Besucher der Georg-August-Universität, Heinrich Heine, vor den Franzosen den Moment, da dank Luther und vor der französischen Invasion »das Denken« in Deutschland »ward ein Recht und die Befugnisse der Vernunft wurden legitim«.20 Das Recht, zu denken und sich dabei allein an die Autorität der Vernunft gebunden zu fühlen, bildet die Grundlage der bereits erwähnten Schrift von Christoph Meiners, der Revision der Philosophie, die 1772, zwei Jahre vor Hißmanns Ankunft in Göttingen, publiziert wurde und ebenfalls anonym erschien. In diesem Werk, das – wie zu zeigen sein wird – eine wichtige Inspirationsquelle für Hißmanns Reform der Philosophie bildete, setzte Meiners die »aufgeklärte[n] Jahrhunderte Griechenlandes« dem Obskurantismus späterer Epochen entgegen, in denen die Geister vom Joch des Glaubens und der scholastischen und theologischen Despotie erdrückt waren.21 Dieser Freiheit lag eine wohltuende »Disharmonie«22 zwischen Philosophie und Religion zugrunde, die im Gegensatz zueinander stehen konnten, ohne dem Individuum oder der Gemeinschaft irgendeinen Schaden zuzufügen. Nach Meiners’ Rekonstruktion kam der Religion zu jener Zeit nicht die verderbliche Aufgabe einer Erzieherin des Volkes zu, die sie in jüngerer Zeit übernahm, sondern war einfach ein »politisches Institut, das das Volk bändigen, aber nicht bessern sollte«.23 Da die Religion keine Lehrerin des Volkes war, konnte sie sowohl mit den Waffen der philosophischen Vernunft als auch mit denen der Ironie in Frage gestellt werden. Die Unterwerfung unter die Sitten und Gesetze des Landes war sozusagen unabhängig von der rationalen Kritik, welche die Philosophie ausübte.24 Dagegen wurde die Religion in den anschließenden unaufgeklärten Epochen – in die Meiners auch seine Gegenwart einschließt – zum Vormund des Volkes, zur Leitschnur der Bestimmung und moralischen Vollendung des Menschen und folglich zum Vorbild, an dem alle anderen Wissenschaften sich ausrichten mussten. Die ungesunde moderne Vermischung von Philosophie und Religion, die im Übrigen der Religion selbst zum Schaden gereichte,25 setzte der Eigenständigkeit des Denkens freilich eine innere Grenze, denn sie zwang den Philosophen, Meinungen und Überzeugungen, die im Widerspruch zu den Geboten der Vernunft und Erfahrung, den einzigen Prüfsteinen seiner Reflexion, standen, zu übernehmen oder zumindest nicht zu bekämpfen. 19 20 21 22

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Ebd., S. 14 [Vorbericht]. Vgl. auch ders.: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), zweiter Brief, S. 18. Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834, 21852). In: ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. München 1971ff., Bd. III, S. 541. [Meiners] Revision der Philosophie (s. Anm. 14), S. 38. Ebd., S. 19; vgl. auch S. 107: »Sie sahen Philosophie und Theologie als zweyen von einander unabhängige Dinge an, die sich gerade entgegen gesetzt seyn konnten, ohne Schaden und Verwirrung hervorzubringen.« Ebd., S. 18; vgl. auch S. 108: »Die Griechen und Römer betrachteten ihre Religion als ein politisches Institut, das wohl zur Bezähmung, aber nicht zur Besserung und zu Unterricht des gemeinen Mannes bestimmt sey.« Vgl. ebd., S. 110.

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Die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts war zutiefst von den schwer wiegenden Vorfällen gezeichnet, die die Schädlichkeit des erzwungenen ›Einklangs‹ zwischen ratio und fides bewiesen. Damals wie heute war die von Friedrich Wilhelm I. angeordnete Entfernung Wolffs aus Halle in Folge der Atheismus-Vorwürfe seitens der pietistischen Theologen (1723) ein exemplarischer Fall. Das Thema gewann im Göttingen der zweiten Jahrhunderthälfte besondere Aktualität, weil sich die neuen Tendenzen der sensualistisch-empiristischen britischen und französischsprachigen Philosophie, die an jener Universität eines der wichtigsten Verbreitungszentren auf deutschem Boden hatten, schwer mit dem philosophischen Rationalismus, vor allem aber mit den Inhalten der Religion vereinbaren ließen. Es erübrigt sich, die gewaltige Menge von Übersetzungen empiristischer und sensualistischer Autoren aufzuführen, die in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts aus den Göttinger Kreisen hervorgingen. Selbst das »Magazin für Philosophie und ihre Geschichte«, das Hißmann ab 1778 herausgab, war wesentlich ein Verbreitungsorgan dieser neuen wissenschaftlichen Philosophie.26 Die Idee, die Weltweisheit durch die physiologischen Erkenntnisse der neuen Philosophie zu ergänzen, sollte dem Zweck dienen, ihr ein wissenschaftliches Fundament zu verschaffen und ihr Abdriften in den Idealismus zu bremsen, zu dem Wolffs Deduktivismus – einer kurzsichtigen, aber weit verbreiteten Sicht zufolge27 – geführt hatte. Doch diese Form der ›Naturalisierung‹ des Menschen und ihre mehr oder weniger ausdrücklich materialistischen Folgen gerieten in den meisten Fällen in den Verdacht, die Grundlagen der Moral und die Dogmen der Religion zunichte machen zu wollen. Auch Hißmann schützte sich bei aller Kühnheit in der Vorstellung seiner Positionen zum einen durch das Anonymat, zum anderen durch den Rückgriff auf Argumente, derer man sich schon dreißig Jahre zuvor bedient hatte, um die verderblichen Folgen des Materialismus in Abrede zu stellen.28 Er bekannte sich als offener Verfechter der ›wohltuenden Disharmonie‹ zwischen Vernunft und Glauben, die sein Lehrer Meiners ihm überliefert hatte. Dabei stützte er sich auf eine denkwürdige Stelle aus David Humes Enquiry concerning human understanding (1748):

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Ebd., S. 114–116. Neben der Übersetzung von Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines (Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntniß. Leipzig 1780) veröffentlichte Hißmann in seinem Magazin u.a. die deutsche Übersetzung von Joseph Priestleys Psychologischen Versuchen (I [1778], S. 9–60), von Schriften Johann Bernhard Merians sowie von Johann Georg Sulzers Über die Unsterblichkeit der Seele, in so fern sie physisch betrachtet wird (IV [1781], S. 7–106). Vgl. Udo Thiel: Between Wolff and Kant: Merian's Theory of Apperception. In: Journal of the History of Philosophy, XXXIV (1996), pp. 213–232 und Falk Wunderlich: Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts. Berlin 2005, S. 96–127. Der so genannten connubium rationis et experientiae bei Wolff wird bei Hißmann deutlich vernachlässigt. Das heutige Wolff-Bild hat sich mit Gründen geändert, in so weit man sich bereit erklärt hat, die wichtige Rolle der Erfahrung in seinem rationalistischen System anzuerkennen. Vgl. u.a. Hans Werner Arndt: Rationalismus und Empirismus in der Erkenntnislehre Christian Wolffs. In: Werner Schneiders (Hg.): Christian Wolff (1679–1754). Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 1986, S. 31– 47, und Luigi Cataldi Madonna: Christian Wolff und das System des klassischen Rationalismus. Hildesheim 2001. Eine materialistische Auffassung der Seele kann zugleich mit dem Glaube an ihre Unsterblichkeit bestehen, weil die Sterblichkeit eines endlichen Wesens nur von Gott abhängt. Schon in den vierziger Jahren hatte Meier diese These vertreten; vgl. Georg Friedrich Meier: Gedancken von dem Zustande der Seele nach dem Tode. Halle 21749 (1746, 31762), §§ 32–35; ders.: Metaphysik, Dritter Theil: Die Psychologie. Halle 21765 (ND Hildesheim 2007), § 750.

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There is no method of reasoning more common, and yet none more blameable, than in philosophical debates, to endavour the refutation of any hypotesis, by a pretence of its dangerous consequences to religion and morality. When an opinion leads into absurdities, it is certainly false, but it is not certain, that an opinion is false, because of its dangerous consequences. Such topics, therefore, ought entirely to be farborne; as serving nothing to the discovery of truth, but only to make the person of an antagonist odious.29

Dem Dogmatismus anzuhängen ist nicht nur an sich schädlich, sondern führt auch zur fortschreitenden Entfernung von der Ausübung des Selbstdenkens. Der Dogmatismus wird eine zweite Natur, die die eigentlich menschliche substituiert. »Der Dogmatismus [...] war mir immer lächerlich, seit dem ich denken lernte«, schreibt Hißmann auf den ersten Seiten seiner Psychologischen Versuche. Entsprechend bietet er dem Leser kein starres, abgeschlossenes System, sondern eine Reihe von Materialien, die er aus einer vernunftgeleiteten Betrachtung der Erfahrung bezieht. Man muss lehren zu denken: »Wer macht seinem Leser nicht das Vergnügen, ihn mit denken zu lassen?«30 Auch die Notwendigkeit, das Publikum zum Selbstdenken zu erziehen, hatte Hißmann von Meiners übernommen, der einen erheblichen Teil seines Reformprojekts der Philosophie der Frage gewidmet hatte, auf welche Weise sich dieses eigenständige Denken lehren lasse. Das Selbstdenken ist die eigentliche Methode (Lehr-Art) der Philosophie. Durch eine bestimmte Art des Vortrags muss die Hörerschaft dazu erzogen werden, die von jedem Denker geforderte eklektische Haltung einzunehmen. »Die ganze Welt verlangt jetzo von einem Philosophen, daß er ein Eklektiker sey, d. i. daß er, wie man sich ausdrückt, selbst denke«.31 Das Selbstdenken ist ein »glücklicher Mittelweg« zwischen der skeptischen und der eklektischen Philosophie, es ist der Punkt, an dem der Praxis des Zweifels eine konstruktive Grenze gesetzt und ein Prinzip aufgestellt wird, das die synkretistischen Auswüchse des sich selbst überlassenen Eklektismus eindämmt. Durch das Selbstdenken wird der Philosoph »vernünftiger Zweifler«. Ohne dogmatischen Stolz und ohne skeptische Entwertung fährt er in seinen Untersuchungen fort; auch den paradoxesten Feststellungen gegenüber verhält er sich mit Gleichmut (was man damals als »Gleichgültigkeit« zu bezeichnen pflegte).32 »Philosophie«, schließt Meiners, »kann eigentlich nicht gelehret werden: Veranlassungen, Data, und Hülfsmittel sind es, wodurch man dem künftigen Philosophen das Selbstdenken erleichtern kann«.33 Auch in dieser Hinsicht wird Hißmann einen ähnlichen Weg gehen wie sein Lehrer, indem er zu der Überzeugung gelangt, dass das Leben die wahre Schule des Selbstdenkens sei. Dafür ist Leibniz das exemplarische Vorbild, und die ganze Biografie, die Hißmann ihm widmete, zielte darauf ab, zu zeigen, auf welche Weise der Eklektismus seiner Bildung und die Vielfalt seiner Lebenserfahrungen dazu beitrugen, ihn zu dem Genie zu machen, das er war.

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Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 18), S. 258, Anm. Siehe auch [Meiners]: Revision der Philosophie (s. Anm. 16), S. 104, Anm. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 18), Vorbericht, S. 18–19. [Meiners]: Revision der Philosophie (s. Anm. 14), S. 60. Ebd., S. 69–70. Der wahre Philosoph muss ein Selbstdenker sein, ein denkender Forscher, der »bis zu den ersten Quellen unserer Erkenntniss hinaufsteigt, und nach ihrer Entdeckung [...] jeder Wissenschaft ihr gehöriges Maaß von Zuverläßigkeit austheilt.« (Ebd., S. 70). Ebd., S. 82.

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Doch gerade die Notwendigkeit, sich selbst und das eigene Publikum zum Selbstdenken zu erziehen, wurde für Meiners zum Anlass, um die Spezifik der Philosophie als Wissenschaft genauer zu untersuchen und die Unterscheidung zwischen ihrer esoterischen und ihrer exoterischen Komponente zu erarbeiten, die in Hißmanns Denken eine herausragende Rolle spielen wird.

3. Philosophie, Philosophiegeschichte und Kritik der wolffschen Philosophie Im Verlauf der Philosophiegeschichte erlangte die Unterscheidung zwischen Philosophie lernen und philosophieren lernen dank der »Methodenlehre« von Kants erster Kritik Berühmtheit; allerdings war Kant bereits gegen Mitte der sechziger Jahre, nach einer langen Reflexion über Wolffs Unterscheidung zwischen historischer und philosophischer Erkenntnis dorthin gelangt.34 Im Unterschied zur Mathematik, sagte Kant, könne man die Philosophie nicht lernen, weil dies voraussetzen würde, dass es eine einzige Philosophie gebe, ein einziges vollendetes und endgültiges System von Normen und Grundsätzen, die den Gebrauch der Vernunft regelten. Wenn man also glaubt, man lerne Philosophie, so lässt man nur ganz dogmatisch eines der vielen bestehenden Systeme gelten und ist nicht imstande einzugreifen, wo es sich als mangelhaft erweist. So hätte man, wie schon Wolff meinte, eine historische (empirische) Erkenntnis eines Vernunftgegenstands. Statt ein System, also eine Philosophie zu lernen, muss man Philosophieren lernen, was bedeutet, selbst zu denken, zu urteilen und zu überlegen, letztlich also eine Methode für den Gebrauch der eigenen Vernunft zu lernen.35 Kants Lösung lag bekanntlich im Begriff der Autonomie, also darin, in sich selbst und der eigenen Vernunft »den letzten Probierstein« der Wahrheit zu suchen.36 Ähnlich wie Kant in der ersten Kritik kritisiert auch Meiners diese Haltung gegenüber der Philosophie, die sie auf ein Gedächtniswissen reduziert. »So sehr die Weltweisheit von Gedächtnis-Wissenschaften verschieden ist: eben so weit muß ihre Methode von den übrigen abgehen.«37 In der Unterscheidung zwischen Gedächtniswissenschaften und Philosophie kehrt mit Nachdruck die wolffsche Lehre wieder: Die Philosophie braucht Vernunft und kein Gedächtnis, sie ist keine Erkenntnis, die Daten anhäuft, sondern eine, die nach Prinzipien fortschreitet. Doch handelt es sich hier nicht, wie bei Wolff, um Prinzipien, durch welche die Verknüpfungen der Wahrheiten erfasst und diese in einem deduktiven System geordnet werden können; vielmehr geht es darum, zu beurteilen, welche Meinungen der unterschiedlichen philosophischen Systeme zu einer Wissenschaft gehören können, die unmittelbar auf den Menschen und seine

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Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 864–865, aber auch M. Immanuel Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-66. In: AA II, S. 305–313, hier S. 306–307. Vgl. hierzu Norbert Hinske: Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik. Studien zum Kantschen Logikcorpus. StuttgartBad Cannstatt 1998, S. 42–59. Kant: Logik Philippi. In: AA XXIV, S. 322; ders.: Refl. 1651. In: AA XVI, S. 66. Kant: Was heißt: sich im Denken orientiren? In: AA VIII, S. 140. [Meiners]: Revision der Philosophie (s. Anm. 14), S. 82.

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Bedingung gerichtet ist. Die Philosophie ist eklektisch und ihre Methode ist das Selbstdenken.38 Aber das eigenständige Denken lässt sich schwer lehren. Nicht einmal, wenn man eine eklektische oder halbskeptische Art des Vortrags wählt, bringt man sich vor der Gefahr in Sicherheit, dass die Hörerschaft das, was ursprünglich das Resultat eines Nachdenkens war, auf dogmatische Weise als unwiderlegbare Wahrheiten, als »Gegenstand des Glaubens und Gedächtnisses« aufnimmt.39 Und so widerfährt es den seltenen vernünftigen Zweiflern, die Dogmatismus geerntet haben, obwohl sie eigenständiges Denken säten. Unfreiwillig haben sie ihren Schülern ein System statt einer Denkungsart eingeschärft.40 Die Übereinstimmung mit Kants Betrachtungen ist bemerkenswert: »So hat Wolffius, und andere wahre Philosophen vor einige vermeinte Philosophen vorgearbeitet, und den Grund geleget, und diese haben nichtes mehr nöthig, als sich selbiges bekanndt zu machen«.41 Nicht Wolff, sondern seine Nachläufer sind also zu tadeln, weil sie die Philosophie auf ein dogmatisches System, letztlich auf eine Erkenntnis ex datis reduziert haben. Die Übereinstimmung mit Kant endet dort, wo Meiners die Möglichkeit erwägt, die Lehre der Philosophie auf die philosophische Geschichte zu beschränken, weil sie die Hörerschaft durch die Vorstellung der verschiedenen philosophischen Meinungen auf unparteiische Art dazu anregen könnte, eine Form von Selbstdenken zu entfalten. Das Interesse für die Philosophiegeschichte, das den Göttinger Eklektiker-Kreis schon seit Heumanns Zeiten und seinen Acta Philosophorum geprägt hatte, tritt auch hier deutlich zutage. In dieselbe Richtung wiesen die wichtigen Versuche Hißmanns, die Philosophie und ihre Geschichte als Aufeinanderfolge von Ideen zu begreifen, die aus bestimmten kulturellen Zusammenhängen hervorgehen und sich in ihnen entwickeln.42 Im Lichte dieser Auffassung der Philosophie als Kind der eigenen Zeit kritisiert Hißmann auch die Philosophie Wolffs. Er zeigt dabei nicht nur jene Abneigung gegen die perfekte Verkörperung des sklavischen Dogmatismus und der geistigen Unterordnung, wie sie schon Meiners gezeigt hatte – mehr als Feder, der auch mit dem Wolffianismus verwandte Wege gegangen war43 –, und wie sie auch bei Kant wiederkehrt. Hißmanns Kritik trifft Wolff vielmehr unmittelbar. Der allgemeine Begriff der Philosophie, seine Auffassung der philosophi38

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Eklektiker ist der, der »aus den vielen entgegengesetzten Meinungen die beste auswähle, und diese mit allen ihren Gründen unterstützt seinen Schülern vortrage«; kurz danach: »diese eklektische Philosophie, dieses Selbstdenken«, ebd., S. 60. Ebd., S. 79. Ebd., S. 80: »Bisweilen trifft es auch, daß sie [die ausserordentlich seltenen liebenswürdigen Lehrer, die eklektisch und halbskeptisch vortragen] durch ihren einnehmenden bescheidenen Vortrag der blinden Anhänglichkeit auf einer anderen Seite eine Thür öffnen, die sie gänzlich verschlossen zu haben glauben. Unverschuldet erwerben sie sich durch ihre guten Eigenschaften eine solche Herrschaft über die Gemüther ihrer Zuhörer, daß sie wider ihren Willen eine Meinung, der sie zugethan sind, nur desto heftiger vertheidigen, je eine vortheilhaftere Meinung sie von ihrer vorsichtigen Zurückhaltung in Annehmen und Verwerfen, – und von ihren guten Absichten haben.« Kant: Logik Blomberg. In: AA XXIV, S. 31; aber auch ders.: Kritik der reinen Vernunft, B 864. Über die Verhältnisse zwischen eklektischer Philosophie und Geschichte der Philosophie, vgl. Kelley: Eclecticism and the History of Ideas (s. Anm. 10), S. 577–592. Über die Situation in Göttingen insbesondere, vgl. Mario Longo: Scuola di Gottinga e »Popularphilosophie«. In: Storia delle storie generali della filosofia. Hg. von Giovanni Santinello, Bd. III: Il secondo illuminismo e l’età kantiana. Padova 1988, S. 671–878. Vgl. Johann Georg Heinrich Feder’s Leben, Natur und Grundsätze. Zur Belehrung und Ermunterung seiner lieben Nachkommen, auch Anderer die Nutzbares daraus aufzunehmen geneigt sind (angehängt ist desselben Otium senile). Leipzig, Hannover, Darmstadt 1825 (ND Bruxelles 1970), S. 72.

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schen Methode und seine Unterteilung der Philosophie sind nach Hißmann mit dem gegenwärtigen Stand der Philosophie und ihrer empiristisch-sensualistischen Ausrichtung nicht mehr vereinbar. Seine Kritik berührt folglich die Grundannahmen der wolffschen Philosophie: den Begriff der Philosophie als Wissenschaft des Möglichen und die Gleichartigkeit der philosophischen und mathematischen Erkenntnis mit dem daraus folgenden Versuch, das deduktivdemonstrative Verfahren auf alles Wissen auszuweiten. Im Discursus praeliminaris de philosophia in genere, der die Reihe seiner lateinischen Schriften einleitete, hatte Wolff die Philosophie als »scientia possibilium, quatenus esse possunt« definiert; da sie eine scientia sei, gehe sie demonstrativ vor, ausgehend von sicheren, unwandelbaren Prinzipien dringe sie zum Grund der Möglichkeit der Dinge vor.44 Bei der Widerlegung dieser Auffassungsweise der Philosophie zeigt Hißmann, dass er nur wenige theoretische Waffen besitzt, und beschränkt sich darauf, ihr das popularphilosophische Ideal einer Philosophie entgegenzusetzen, die nicht auf metaphysischen Abstraktionen, sondern auf den Menschen und sein »wichtigste[s] Interesse« blickt. Der Begriff des Möglichen ist Hißmann zufolge vage und folglich inadäquat, um den Zuständigkeitsbereich der Philosophie abzugrenzen: Warum Dinge möglich sind, davon kenne ich keinen andern Grund, als weil sie mir gedenkbar sind. Allein Gedenkbarkeit und Nichtgedenkbarkeit ist kein fixer Punkt, sondern ein bloß relativer Ausdruck. [...] Wie endlich Dinge möglich sind, davon weiß ich gar nichts.45

Hißmann verkehrt Wolffs Begriff der conceptibilitas (Gedenkbarkeit) – die ursprünglich als logische Nicht-Widersprüchlichkeit gedacht war – in eine allgemeine Verstehbarkeit, die von den mehr oder minder verfeinerten Gaben der verschiedenen Geister bedingt ist. Ein roher Verstand wird andere Dinge als möglich erachten denn ein höher entwickelter Verstand, so dass der Möglichkeitsbegriff nicht als eindeutiger Begriff zur Definition der Philosophie herangezogen werden kann. Aber genau besehen ist nicht dies das Argument, mit dem Hißmann Wolffs Konzeption aus den Angeln zu heben versucht. Das Mögliche kann nur in dem Maße Gegenstand des menschlichen Interesses werden, als es in der konkreten Welt wirklich werden kann, das heißt, nur wenn es einen direkten Einfluss auf die Glückseligkeit des Menschen haben bzw. seinen Freud- oder Leidzustand in irgendeiner Weise bedingen kann. »Daher ist auch die Philosophie gar nicht meine Muse, die ihren Thron in einer unendlichen Entfernung von uns Menschenkindern, im Reich der Möglichkeit, aufschlägt«.46 Wolffs Begriff der Philosophie entfernt den Menschen von der Welt und von sich selbst; indem er ihn ins Reich des Möglichen führt, bringt er ihn so weit vom Wirklichen ab, dass er geneigt ist, an seinen Sinnen zu zweifeln. Gegen die unnützen Abstraktionen der Metaphysik führt Hißmann die wesentlich pragmatische Dimension der Philosophie ins Feld und verkörpert somit voll und ganz den Geist der Popularphilosophie. Unmittelbar verknüpft mit der Auffassung der Philosophie als Wissenschaft des Möglichen ist die Frage der Gleichartigkeit zwischen philosophischem und mathematischem Wissen und folglich die der Einbeziehung von Mathematik und Physik in die Gefilde der Philosophie. 44 45 46

Wolff: Discursus praeliminaris (s. Anm. 3), §§ 29, 31–32. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), vierter Brief, S. 34. Vgl. auch ders., Psychologische Versuche (s. Anm. 18), S. 266f.: »Außerdem sind begreiflich und unbegreiflich sehr relative Dinge.« Ebd.

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Wolff hatte bekanntlich die philosophische Erkenntnis von der historischen wie von der mathematischen Erkenntnis unterschieden. Letztere galt ihm ebenfalls als eine Vernunfterkenntnis ex principiis und nicht ex datis, jedoch als quantifizierte. Das System wurde als eine nach der mathematischen Methode geordnete Verkettung der Wahrheiten gedacht, das heißt als eine deduktive Verkettung von Voraussetzungen und Folgen, der so genannten ratiocinatio polysiyllogistica. Wolff zufolge war die mathematische Methode, entsprechend dem euklidischen Modell, die universelle Methode der Vernunft. Sie musste daher auch in der Philosophie angewandt werden.47 In dieser langjährigen Debatte passt Hißmann sich einfach den Positionen der Preisschriften der Berliner Akademie der Wissenschaften anlässlich des berühmten Preisausschreibens von 1763 an. Die mathematische Erkenntnis unterscheide sich von der philosophischen wesentlich nach Methode und Gegenstand. Die Philosophie bilde ihre eigenen Begriffe und beschäftige sich mit deren Realisierung, während der Mathematiker seine Begriffe fertig von der Philosophie erhalte und sich ihrer aufgrund ihrer bloßen Möglichkeit bediene. Das heißt, dass der Philosoph, wenn er nicht völlig willkürlich vorgehen und über Undinge fantasieren will, imstande sein muss zu zeigen, dass die Elemente, die in seine Begriffe und Definitionen eingehen, tatsächlich Eigenschaften von sinnlich erfahrenen Dingen darstellen.48 Der explizite Verweis richtet sich auf Spinoza und die brüchigen Grundlagen seines more geometrico errichteten Denkgebäudes, deren er sich hätte bewusst werden können, wenn er die Realität seiner Definitionen überprüft hätte. Implizit bezieht sich Hißmann mit der Rede von den »neue[n] Kindereyen und Spielwerke[n], mit welchen vorzüglich die Metaphysik durch die mathematische Methode überschwemmt worden ist«,49 dagegen auf Wolff. Insbesondere in der Psychologie seien Wolff und die Wolffianer vorgegangen wie die Mathematiker. Sie hätten ihr Spekulation auf einen ›erschlichenen‹ Begriff, den der einfachen Substanz, gestützt, ohne sich darum zu scheren, seine Realisierung zu überprüfen. Ähnlich wie der Schwärmer, der sieht, was er sehen will, sponnen sie Hirngespinste und fanden in sich selbst, was es in Wahrheit nicht gab.50 Mathematik und Philosophie sind zwei für sich bestehende Körper und müssen in ihren 47

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Vgl. Paola Basso: Il secolo geometrico. La questione del metodo matematico in filosofia da Spinoza a Kant. Firenze 2004, S. 35–63, 137–176; ders.: La filigrana ontologica del metodo matematico wolffiano. In: Faustino Fabbianelli, Jean-François Goubet, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Zwischen Grundsätzen und Gegenständen. Untersuchungen zur Ontologie Christian Wolffs. Hildesheim 2011, S. 89–99. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), vierter Brief, S. 37–38: »Die Philosophen, die auf diesen wichtigen Umstand wenig achteten, und sich von der mathematikartigen Behandlung der philosophischen Wahrheiten beträchtliche Vortheile versprachen, und mathematikartig aus der Voraussetzung willkührlicher, unrealisierter Erklärungen philosophierten, haben häufig über Undinge philosophirt; d.h. phantasiert.« Das wiederkehrende Beispiel ist der Begriff der Größe. Vgl. auch ders.: Psychologische Versuche (s. Anm. 18), Vorbericht, S. 10–11; und ders.: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Göttingen, Lemgo 1790 (11778), S. 21: »Aus der Voraussetzung willkührlicher, unbewiesener, unrealisierter Erklärungen, in der schärfsten mathematischen Strenge philosophieren, heißt über Undinge philosophiren.« Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), vierter Brief, S. 38. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 18), S. 247. Die Kritik betrifft unmittelbar Mendelssohns Phädon, aber mittelbar jede metaphysische Psychologie wolffischer Art, vgl. ebd., S. 275, sowie Vorbericht, S. 10–11. Sowohl in dem rationalen als auch in dem empirischen Teil seiner Psychologie sei Wolff einen falschen Weg gegangen, indem er seinen Untersuchungen den willkürlichen Begriff vom einfachen Ding zu Grund gelegt habe: »Man studirte sich selbst; aber mit einer unerwarteten Partheilichkeit [...]. Man suchte, man bemerkte; aber immer mit dem Wunsch etwas gewisses zu finden«, ebd.

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Untersuchungen eigenständig vorgehen. Ihre Verbindung hat der Philosophie, die sich weder unter Absehung von der empirischen Überprüfung ihrer Begriffe der deduktiv-demonstrativen Methode bedienen noch dieselbe Gewissheit anstreben kann wie die Mathematik, stets zum Schaden gereicht.51 Die Ausweitung der deduktiven und demonstrativen Methode auf das Feld der Philosophie erweist sich nach Hißmann allgemein als unheilvoller Einfall. In den Psychologischen Versuchen kritisiert er ausdrücklich die »unbiegsame[n], hartnäckige[n] Demonstranten«, die das Studium der menschlichen Natur in die Maschen des mathematischen Verfahrens zwingen wollten. Im Bereich der Philosophie verlange die Gründlichkeit keine endgültige Gewissheit, sondern einen guten Grad der Wahrscheinlichkeit. Der Anspruch, auch hier die Gewissheit der Mathematik zu erreichen, habe sogar einen erheblichen Rückfall der deutschen Philosophie hinter dem Rest Europas bedingt.52 Aus der Kritik an Wolffs Deduktivismus ergeben sich programmatisch, vorgetragen in fast kämpferischem Ton, die Linien der neuen Philosophie: Weg also mit Demonstrirsucht. – Weg mit Märchen und Hirngespinsten. – Mehr Zufriedenheit mit Wahrscheinlichkeiten, da wo keine Gewißheit möglich ist, – und in wie wenigen Fällen ist sie es? – Mehr Beobachtungsgeist, und Aufmerksamkeit auf Thatsätze seyen die Beschäftigung der philosophischen Welt!53

Gegen den pruritus demonstrandi führt Hißmann das Vorbild einer beobachtenden und nicht grübelnden Philosophie ins Feld, einer Philosophie, die die Erfindungen und abstrakten Fiktionen zugunsten der Erfahrungen und eines brauchbaren Wissens aufgibt: »Man hat Fakta, man hat Erklärungen; man hat folglich das Brauchbare.«54 Obwohl Wolff hier die Funktion des Negativmodells einer dogmatischen, willkürlichen und weltfremden Philosophie zukommt, erstreckt sich Hißmanns Kritik auf alle philosophischen Systeme, die auf den Abstraktionen der Spekulation statt auf den Zeugnissen der Erfahrung beruhen.55 Aber Wolff kommt zweifellos eine erstrangige Bedeutung zu. Im Laufe der wenigen Jahre von Hißmanns Produktion wird sein Urteil über Wolff sogar zunehmend schärfer, bis es in der späten Schrift Leibniz (1783) fast beleidigende Töne annimmt.56 Denn hier wird die Ver51

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Nach Hißmann sind die Gebiete der Philosophie und der Mathematik zu breit, um zugleich gründlich erforscht zu werden. Ars longa, vita brevis: in diesem Leben ist man entweder Philosoph oder Mathematiker. In den Briefen deutet Hißmann an, dass Wolff hauptsächlich als ein Mathematiker zu verstehen sei. Die Bestätigung einer solchen Annahme findet man in seinem Versuch über das Leben des Freyherrn von Leibniz. Münster 1783, S. 70f., Anm.: »So ehrwürdig Wolff’s Name den Mathematikern ist; so sehr muß der Philosoph wünschen, daß er, in der Geschichte seiner Wissenschaften, nie genannt wäre.« Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 18), Vorbericht, S. 18: »Nirgends würde auch das Dogmatisieren und Demonstriren übler angebracht seyn, als in der Seelenlehre; wo wir uns im Geist freuen müssen, wenn wir nur das Wahrscheinlichere auszumachen im Stande sind.« Ebd., S. 18f. Ebd., S. 251. Vgl. schon [Meiners] Revision der Philosophie (s. Anm. 14), S. 32: »Soll ich mich, um ein Philosoph zu werden, in dem Reiche der Möglichkeiten verlieren, das mit unserer Scheinwelt nur vermittelst eines dünnen Fadens zusammenhängt, den eine durch Erfindungssucht erhitzte, oder durch die demonstrativische Methode erfrorne Einbildung zusammengesponnen hat?« Nur in seiner Geschichte der Lehre von der Association der Ideen scheint Hißmann einige gute Worte über Wolff auszusprechen (Geschichte der Lehre von der Association der Ideen, nebst einem Anhang vom Unterschied unter associirten und zusammengesezten Begriffen, und den Ideenreyhen. Göttingen 1776); hier scheint Wolff der

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antwortung für den Niedergang der deutschen Philosophie nach dem Werk des erhabenen Leibniz Wolff zugeschoben. Durch die Verstrickung der deutschen Philosophie in die Formen des Deduktivismus und die Erstickung des Selbstdenkens habe der Sektenstifter Wolff sie um ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen: Wolff nemlich, der als Philosoph bloß mit Diebstählen aus Leibnitzens Nachlassenschaft, sein Glück machte, gewöhnte seine Schüler an einen stolzen und unbiegsamen Dogmatism, und an eine barbarische Verachtung aller alten und neuern Litteratur, welche Leibniz in ihrem ganzen Umfang kannte, schätze und empfahl. Durch diese Seelensclaverey, unter der Tyranney eines Despoten, welcher selbst Sclavenfesseln trug, wurde alles Selbstdenken verbannt [...]. Der menschliche und insbesondere der philosophische Geist wurde entmannt, und der glückliche Zeitpunkt des vernünftigen Denkens und ungebundenen Forschens wurde, durch die Wolffische demonstrierende Barbarey, durch sein Wörterfädeln und Sylbenspalten, auf ein halbes Jahrhundert weiter hinausgerückt, als er würde genommen seyn, wenn man in Leibnizens Fußstapfen hätte tretten wollen.57

4. Die Kritik der Metaphysik und der neue Philosophiebegriff Entsprechend dieser Kritik des allumfassenden dogmatischen Deduktivismus machte sich Hißmann die Forderung der Philosophie der Zeit nach einem Neuüberdenken ihrer Natur und Funktion zu eigen. So widmet er der »genaue[n] Bestimmung« des Philosophiebegriffs die ersten fünf Briefe über Gegenstände der Philosophie, die 1778 in Gotha erschienen und die er ausdrücklich als seinen besten Beitrag zur Geschichte des Denkens ansah.58 Die Beschreibung der Philosophie auf den ersten Seiten der Schrift verweist unmissverständlich auf die Linien der Popularphilosophie, die in jenen Jahren die philosophische Bühne in Deutschland beherrschte. Wenn die Briefe zu Recht als eine der »klassischen popularphilosophischen Publikationen« der 1770er Jahre innerhalb der Debatte über das Selbstverständnis der Popularphilosophie gelten können, so verdankt sich dies genau der Überzeugung, dass die Philosophie eine ›Philosophie für die Welt‹ sein und ›populär‹ werden müsse.59 »Gute Menschen kennen, gute Menschen lieben, guten Menschen wohltun, und dies alles nach Grundsätzen; – dies ist die Philosophie meines Philosophen.«60 Diese praktische, ja soziale Dimension durchdrang die Auffassung der Philosophie in der griechischen und römischen Antike, deren kulturelle und zivilisatorische Größe auf die Ausübung einer Philosophie zurückzuführen war, die »volle, gesunde, wirkende Seelen« heranbilde-

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einzige unter seinen Vorgängern und Nachfolgern zu sein, der die Relevanz der lex imaginationis anerkannt hat (S. 48f.). Hißmann: Versuch über das Leben des Freyherrn von Leibniz (s. Anm. 51), S. 69f. Vgl. Schuller: Magister Hißmann in Göttingen (s. Anm. 7), S. 9. Böhr: Philosophie für die Welt (s. Anm. 16), S. 65. Vgl. auch Erwin Reisner: Michael Hißmann, ein Popularphilosoph aus Siebenbürgen. In: Archiv des Vereins für siebenbürgische Landeskunde XLVI (1931), S. 411–453. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), erster Brief, S. 8. Vgl. auch Johann Georg Heinrich Feder: Grundriß der Philosophischen Wissenschaften. Coburg 21769, Abt. II, § 2: »Die Glückseligkeit der Menschen [muß] die Bemühungen des Philosophen, wie ein jedes Unternehmen, gründen.«

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te und auf die »Verbesserung der Welt« gerichtet war.61 Um die Philosophie neu zu beleben, war es nach Hißmann nötig, dass ein neuer Sokrates auftrat, der imstande war, den Menschen ihre Würde zurückzugeben und sie definitiv von Aberglauben und Unwissenheit wegzubringen.62 Diese neue Philosophie betraf den Menschen und richtete sich an seinen Fähigkeiten aus. Hißmann bezog sich auf die Idee, die schon Meiners vertreten hatte, wonach die Grenzen und inneren Unterteilungen der Gelehrsamkeit nicht ein für allemal starr festgelegt sind, sondern ihre wandelbare und willkürliche Natur bewahren, die von den jeweiligen Bedürfnissen des Menschen und seiner Epoche beeinflusst sind.63 Dieses Erkenntnismodell hat sehr wenig mit der enzyklopädischen Auffassung des Wissens zu tun, wie Wolffs System, seine klassifikatorische Strenge und terminologische Präzision sie verkörpern, aber es erklärt den Ursprung der fortlebenden Streitigkeiten über die Auffassung der Philosophie. Die Suche nach dem Idealzustand eines ›Friedens unter den Philosophen‹, nach dem jede Epoche strebt, richtet sich hier nach dem Studium des Menschen: »Der Mensch [...] ist der eigentliche Gegenstand der Philosophie«, stellte Meiners in der Revision fest;64 nach Hißmann ist Gegenstand der Philosophie das »menschliche Denkwesen«, das in der Beobachtung und Erfahrung begegnet. Er definiert die Philosophie demnach als »eine räsonnierende Geschichte der menschlichen Seele, in allen bekannten Zuständen«, die sogar »pragmatisch« genannt werden kann.65 Die Philosophie befasst sich mit dem Denkwesen und ist daher in ihrem theoretischen und praktischen Bestandteil wesentlich Psychologie, Seelenlehre.66 Sie verfährt nach Beobachtungen, sammelt Daten, erzählt die »Geschichte« aufgrund der »verschiedenen Zustände, die man aus der Erfahrung lernt.«67 Aber es handelt sich hier nicht um den »metaphysischen Roman« der empirischen Psychologie, den auch Wolff ursprünglich als eine ›Geschichte‹ der Seele gedacht hatte, sondern um eine »räsonnierende Geschichte«, in der die Vernunft von den empirischen Tatsache und Beobachtungen ausgeht – nicht von willkürlichen oder erschlichenen Begriffen – und sie verbindet, um allgemeine Begriffe und Grundsätze zu formulieren.68 Sie verfährt außerdem »pragmatisch«, wobei allein das Kriterium des menschlichen Wohlergehens und seiner Glückseligkeit maßgeblich ist. Diese pragmatische Ausrichtung geht aus der inneren Unterteilung der Philosophie recht deutlich hervor, insbesondere in ihrem theoretischen Teil, der Hißmann letztlich dazu führt, die endgültige Vernichtung der Metaphysik und ein radikales Neudenken der Logik zu verkünden. Obgleich die Delegitimierung der Metaphysik bereits durch die Vorwürfe der Sophisterei, der Begriffsbarbarei, Unbegründetheit und Willkür vorbereitet worden war, die in seiner Produkti61

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Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), zweiter Brief, S. 20; dritter Brief, S. 23. Über das sozialen Potential von Hißmanns Philosophie vgl. Nicolao Merker: L’illuminismo in Germania. L’età di Lessing. Roma 1989, S. 263–271. Vgl. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), erster Brief, S. 11. [Meiners]: Revision der Philosophie (s. Anm. 14), S. 34–37. Bei Hißmann (Briefe über Gegenstände der Philosophie [s. Anm. 7], dritter Brief) taucht die schon von Meiners vertretene Kritik der Philosophie als ›Pansophie‹ auf. [Meiners]: Revision der Philosophie (s. Anm. 14), S. 51. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), fünfter Brief, S. 48. Über Hißmanns Unterschied zwischen den Termini ›Seele‹ und ›Denkwesen‹ vgl. ders.: Psychologische Versuche (s. Anm. 18), Vorbericht, S. 10f. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), fünfter Brief, S. 49.

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on beharrlich wiederkehren, übersetzt sie sich hier in den Nachweis einer strukturellen Unhaltbarkeit. Hißmann verleiht der verbreiteten Missstimmung gegenüber der Metaphysik als philosophischer Wissenschaft par excellence mit einem wirkungsvollen Bild Ausdruck: In der Metaphysik kommen einige allgemeine Begriffe vor, von denen ich nicht anders glauben kann, als daß sie, durch den Sturm einer im Paroxismus philosophirenden Seele an diese Stelle verschlagen worden.69

Die Begriffe der Metaphysik lassen sich nämlich auf zwei große Arten zurückführen: die eine Art sind die Begriffe, die der praktischen Philosophie und der Theologie zukommen (neben vielen anderen beispielsweise der Begriff des Bösen oder der der Bestimmung); die andere sind die bloßen Namensdefinitionen, die der Zurechnung zur Philosophie unwürdig sind. Die Metaphysik hat folglich keinen Daseinsgrund mehr. Nachdem der Schatz, den sie sich unrechtmäßig angeeignet hatte, der praktischen Philosophie zurückgegeben wurde, bleibt ihr nichts mehr, und nichts kann davon abhalten, definitiv von ihr Abschied zu nehmen. In der Rezension der Briefe, die Abraham Gotthelf Kästner – der Hißmann bereits den Eintritt in die angesehene Königlich Deutsche Gesellschaft vermittelt hatte – in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek publizierte, wurde gerade die Neigung, »der ganzen Metaphysik ihren Abschied zu geben«, als Merkmal dieses jungen, mutigen Denkers herausgestellt.70 Konnte die Metaphysik ohne irgendeinen Verlust für die Philosophie einfach abgeschafft werden, so galt es die Logik in der Perspektive der neuen psychologischen Philosophie neu zu denken. Die Wissenschaft des menschlichen Erkenntnisvermögens deckte nämlich das ganze Feld der theoretischen Philosophie ab. Entsprechend dem neuen Modell einer weltorientierten Philosophie musste auch sie in einer pragmatischen, nützlichen, »brauchbaren« Perspektive neu formuliert werden. Unter diesem Gesichtspunkt musste die Gesamtheit der Definitionen, Urteile, Syllogismen und Regeln für ihren Gebrauch, mit denen die Logik sich traditionellerweise beschäftigt hatte, auf wenige brauchbare Leitlinien reduziert werden, die Hißmann unter dem Namen »Dianoitik« sammelt. Die Trennung zwischen Logik und Psychologie, die schon in Wolffs System schwankend war und in Lockes Reflexion gar nicht bestand, bricht endgültig zusammen. Da die Lenkung der Erkenntnisvermögen auf ihren korrekten Gebrauch hin (Logik) vor allem die Erkenntnis des Denkwesens verlangt (Psychologie), macht die Logik einen beachtlichen Teil der Psychologie aus. Im Unterschied zur Psychologie hat die Logik unmittelbar praktische Folgen; ihre Regeln sind somit »dieselbigen psychologischen Sätze, in die praktische Form umgegossen«.71 »Psychologie und Logik«, hatte schon Meiners in der Revision gesagt, »verhalten sich gegen einander, wie die äsopische Fabel zur angehängten Moral«.72 68 69

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Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 18), Vorbericht, S. 15. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), fünfter Brief, S. 45. Vgl. aber auch [Meiners]: Revision der Philosophie (s. Anm. 16), S. 55: »Die Metaphysik ist dem Wörterbuche der schönen Welt gleich und ähnlich, aus dem die Mode eines jeden Zeitalters verjährte Ausdrücke und Artikel vertilgt, und andere an deren Statt aufnimmt, die bald nachher dasselbe Schicksal haben.« In eine ganz ähnliche Richtung geht Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 48), § 9, S. 18–20. Allgemeinen Deutschen Bibliothek, XXXVIII (1779), S. 157ff.; vgl. Böhr: Philosophie für die Welt (s. Anm. 18), S. 65. Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 48), Einleitung, § 8, S. 15. [Meiners]: Revision der Philosophie (s. Anm. 14), S. 53.

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Aber sowohl bei Meiners als auch bei Hißmann wird mindestens zweierlei Logik genannt: Hißmann nennt seine Psychologischen Versuche einen »Beitrag zur esoterischen Logik«. Umsonst sucht man in seinen Schriften jedoch Hinweise auf die Natur dieser Disziplin. Der Ausdruck erscheint im Untertitel des Werks (in der postumen Edition von 1788 sogar mit einem Druckfehler als »esoretische« Logik), sodann im Vorbericht, wo Hißmann sagt, nur die Psychologie des esoterischen Logikers sei wirklich brauchbar, insofern sie die psychischen Phänomene anhand der Beobachtung und Erfahrung erkläre, ohne in den unfruchtbaren Untersuchungen des Metaphysikers zu versinken73. Um zu verstehen, was die esoterische Logik tatsächlich ist, muss man sich wiederum der Revision von Meiners zuwenden, von der Hißmanns Reflexion in beeindruckendem Maße abhängt. Meiners hatte eine ganz allgemeine Unterscheidung zwischen einem esoterischen und einem exoterischen Bereich der Philosophie eingeführt, in deren Rahmen eine analoge Unterscheidung für die Logik Raum fand. Die esoterische Philosophie in dem Sinn, wie Meiners sie verstand, hatte nichts mit der Unterscheidung der antiken Philosophie zwischen esoterischen bzw. akroamatischen und exoterischen, für einen mehr oder weniger begrenzten Kreis von Schülern bestimmten Lehren gemein. Mit seinem Rückgriff auf diesen Ausdruck wollte Meiners vielmehr den Teil der Philosophie bezeichnen, der »solche Lehre [enthält], die von dem jedesmaligen theologischen Systeme, und den allgemein aufgenommenen Meinungen, nach welchen jedes Zeitalter sein praktisches Leben einrichtet, zu weit entfernet sind, als daß sie ohne gefährliche Erschütterungen allgemein bekannt gemacht werden dürften«.74 Eine solche Form von Philosophie hätte im klassischen Griechenland keinen Daseinsgrund gehabt, denn wie wir gesehen haben, waren die Meinungen der Philosophen aufgrund der wohltuenden Disharmonie zwischen Philosophie und Religion nach Meiners dort nicht gefährlich. Dagegen wird die esoterische Philosophie umso notwendiger, je mehr der Ausgleich der Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft angestrebt wird, indem auf intolerante Weise der Ausübung des Denkens schwer wiegende Beschränkungen auferlegt werden.75 Die Schwierigkeit einer Revolution der Denkungsart, welche die Gefahr birgt, ein Volk durch die Enthüllung der Vorurteile zu erschüttern, die zwar falsch sein mochten, ihm aber zu Stabilität verhelfen konnten, öffnet den Weg für eine Reihe sehr interessanter Überlegungen zu diesem Ausschnitt der deutschen Spätaufklärungsphilosophie. Um den Geist der Philosophie auch unter Bedingungen der überwachten Freiheit am Leben zu erhalten, erschien die Einführung einer Unterscheidung zwischen dem exoterischen und dem esoterischen Philosophen als der gangbarere Weg: Der exoterische Philosoph ist verpflichtet, sich in dem Vortrage seiner Grundsätze nach der öffentlichen Religion, dem Zustande der Gelehrsamkeit, und vorzüglich nach dem allgemeinen Urtheil, worauf man Sitten und Tugend gründet, einzurichten. Der Esoteriker kann sich über alle diese Sachen wegsetzen, nicht um sie zu bestreiten, sondern nur um zu zeigen, wie viel die schwächsten Gründen durch diese gewinnen, und die stärksten verlieren können.76

Nur der esoterische Philosoph verfolgt die Wahrheit, indem er die Meinungen jeder kulturellen und nationalen Mode entkleidet; sein Verfahren ist von einer klugen Skepsis geleitet: »Vorsich73 74 75 76

Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 18), Vorbericht, S. 10. [Meiners]: Revision der Philosophie (s. Anm. 14), S. 91. Ebd., S. 118. Ebd., S. 132.

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tig zweifeln und selten entscheiden, sind [seine] Hauptzüge.«77 Ihm kommt somit die Aufgabe zu, über den Weg der Philosophie seiner Epoche zu wachen und so weit es geht zu verhindern, dass er in irgendeiner Form von der Vernunft fortführt, sei es in Form des Aberglaubens oder des Dogmatismus, des Egoismus der einseitigen Denkart oder einfach des Vorurteils. Um die Philosophie neu zu beleben, muss der esoterische Philosoph in seiner Zeit den Geist des Selbstdenkens und das Interesse für die Prinzipien wecken, die tatsächlich zur Erkenntnis und Besserung des Menschen beitragen. Er muss daher in den etablierten Systemen und Denkweisen den Samen seiner eigenen Lehren ausstreuen bzw., um es mit Meiners Worten zu sagen, einige Schätze aus seiner Vorratskammer einbauen. Diese dem wahren Philosophen zuerkannte Aufgabe eines Erziehers, der zur eigenen Zeit auf Abstand geht, die Idee, dass er die gemeine Denkungsart schrittweise aufklären muss, indem er die Sprache des gesunden Verstandes spricht, ist ein Kennzeichen der Zeit. Offensichtlich hatte Hißmann von sich selbst das Bild eines esoterischen Philosophen, der die Aufgabe auf sich genommen hatte, der eigenen Epoche als Hüter zu dienen: Sowohl die Briefe wie die Anleitung zur Kenntniss der auserlesenen Litteratur bilden zwei Musterbeispiele für Mittel zur Verwirklichung dieser Aufgabe.78 Innerhalb der Unterteilung der Philosophie in eine esoterische und eine exoterische wird analog auch die Logik gegliedert. Wie in der Philosophie insgesamt begegnen auch in der Logik Verfahren und Begriffe, die stark von Geist und Forderungen der Zeit beeinflusst sind, in der sie entstanden, und die wie eine Art unausgesprochenes Erbe in der Geschichte des Faches fortleben, obwohl sie in späteren Epochen ihren Nutzen eingebüßt haben. Bezogen auf die Alten gilt dies zum Beispiel für die Dialektik und Syllogistik, bezogen auf die Modernen für die Lehre der Vorurteile. Wie der exoterische Philosoph in seinen Überlegungen die religiösen, moralischen und kulturellen Einflüsse des Zeitgeistes berücksichtigen muss, so muss auch der exoterische Logiker wesentlich zwischen dem gesunden Verstand und dem »Genie des Jahrhunderts« vermitteln. Er muss jeweils den richtigen Ort der philosophischen Begriffe nach ihrer wandelbaren Natur erkennen, »die künftigen Adepten« zur eigenständigen Ausübung ihrer Fähigkeiten anregen und vor allem »die Philosophie und die gemeinen Kenntnisse näher zusammenrücken, und über die Kluft zwischen beiden eine Brücke [...] bauen, worüber eine Gemeinschaft unter ihnen angelegt werden kann.«79 Dagegen ist die esoterische Logik »die ganze Psychologie«,80 die durch die Analyse der Struktur der Vermögen und der Entstehungsart der Begriffe gemäß der lockeschen Methode imstande sein wird, die philosophischen Meinungen vom Erbe der Zeit, in der sie konzipiert wurden, und von ihren religiösen und moralischen Implikationen zu befreien. So macht die Logik sich nützlich für ihre Epoche: »Wenn [die Logik] brauchbar seyn soll, [muß sie] Psychologie seyn!«81 Der Nutzen liegt in der Vorbereitung der »Reformation des Gedanken-Systems«, die bei der Analyse der Entstehungsart der Begriffe ansetzt und diese dadurch nach der wirklichen Lage der Gelehrsamkeit neu zu denken erlaubt. In Meiners Worten – der darin vollkom77 78 79 80 81

Ebd., S. 133. Selbst Meiners hält die Orientierung der Lektüren ein Mittel, womit der esoterische Philosoph zur Erziehung des Publikums beitragen kann (ebd., S. 153). Ebd., S. 182–183. Ebd., S. 54. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), fünfter Brief, S. 46.

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men mit Feder übereinstimmt – geht es darum, die »Lockische Methode« statt des »Wolfische[n] Zwang[s]« anzuwenden82: Dies ermöglicht beispielsweise eine Entlarvung der Hirngespinste der Metaphysik und ihrer Gliederungen (Ontologie, Kosmologie, Psychologie, Theologie), indem der Ursprung der abstrakten Begriffe aufgezeigt wird, auf denen sie fußen. Die Vernichtung der Metaphysik, die Hißmann berühmt machte, kann nur mit den Waffen der esoterischen Logik geführt werden. Deshalb ist sie eine wahre »Vorläuferin der Philosophie«, einer Philosophie des Menschen und für den Menschen.

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[Meiners]: Revision der Philosophie (s. Anm. 14), S. 59–60, S. 53–54. Vgl. Johann Georg Heinrich Feder: Institutiones Logicae et Metaphysicae. Göttingen 1777, Praefatio, S. VII–VIII. [Meiners], Revision der Philosophie, S. 53–54. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 7), fünfter Brief, S. 43. Die Idee taucht noch expliziter in Meiners berühmten Grundriß der Seelenlehre auf, der aber erst im Jahr 1786, d. h. zwei Jahre nach Hißmanns Tod, erschien. Die vier Teile der esoterischen Logik ahmen die Struktur von Lockes Essay nach. Sie behandeln die Ideen, die zur Verbindung der Begriffe nötigen Kräfte, die Sprache und die menschliche Kenntnis der Wahrheit, ihre Grenze und ihre Zuverlässigkeit.

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Assoziation der Ideen und denkende Materie Zum Verhältnis von Assozationstheorie und Materialismus bei Michael Hißmann, David Hartley und Joseph Priestley1

Michael Hißmanns Geschichte der Lehre von der Association der Ideen, nebst einem Anhang vom Unterschied unter associirten und zusammengesezten Begriffen, und den Ideenreyhen erschien 1776 und 1777 noch einmal in unveränderter zweiter Auflage in Göttingen bei Viktorin Bossiegel.2 Es handelt sich um Hißmanns dritte selbständige Veröffentlichung.3 Von ihrer Anlage her ist es für ihre Zeit eher ungewöhnlich und in gewissem Sinne auch modern: kein Lehrbuch im wolffianischen Stil und auch keine Sammlung kürzerer Abhandlungen, wie es vor allem üblich war, sondern eine sowohl historische als auch systematische Darstellung eines relativ abgegrenzten, zugleich dennoch zentralen Sachproblems. Die Untersuchung bietet einen Querschnitt durch die verschiedenen Theorien über Ideenassoziation im historischen Durchgang, wobei Jakob Bruckers Historia philosophica doctrinae de ideis zugleich Vorbild und Ausgangspunkt darstellt.4 Entsprechend beginnt Hißmann seinen »Vorbericht« mit einem Hinweis auf die »grosse Wichtigkeit der Associationsgesetze unserer Ideen« und konstatiert: »Es schien mir nicht ganz überflüssig, die Geschichte eines einzigen Lehrsatzes der Psychologie zusammen zu setzen, auf welchen die allermerkwürdigsten Seelenoperationen sowohl im Zustand des Wachens, als des Schlafes zurückgeführt werden müssen.«5 Die »grosse Wichtigkeit« der Assoziationstheorien besteht für Hißmann also darin, dass sich viele Seelenoperationen auf ihrer Grundlage aufhellen lassen sollen. Doch 1

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Die vorliegende Arbeit ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts »Denkende Materie versus Influxus physicus« (WU 695/1-1). Eine erste Fassung konnte ich während meines Aufenthalts am Forschungszentrum für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Gotha verfassen, dank der großzügigen Förderung durch ein Herzog-Ernst-Stipendium der Fritz-ThyssenGesellschaft. Mein Dank gilt auch dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Berlin), dessen Forschungsinfrastruktur ich als Gastwissenschaftler nutzen konnte. Hans-Peter Nowitzkis Beitrag in diesem Band zufolge wurde die erste Auflage vordatiert, da bereits im Dezember 1776 eine anonyme Rezension Abraham Gotthelf Kästners in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen erschien. Zuvor waren im selben Jahr zunächst seine Antrittsrede bei der Königlichen Deutschen Gesellschaft, Rede vom Flor Siebenbürgens unter Theresien und Joseph, in der königlichen deutschen Gesellschaft zu Göttingen bei der Aufnahme in dieselbe abgelesen von Michael Hißmann aus Göttingen (Göttingen 1776) sowie die Qualifikationsschrift De infinito. Dissertatio metaphysica prima (Göttingen 1776) erschienen. Johann Jakob Brucker: Historia philosophica doctrinae de ideis. Augsburg 1723. Michael Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen, nebst einem Anhang vom Unterschied unter associirten und zusammengesezten Begriffen, und den Ideenreyhen. Göttingen 1776, Vorbericht Bl. 4.

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bedeutsam sind sie für Hißmann noch aus einem anderen, spezifischeren Grund: Die Assoziation der Ideen ist ein zentrales Thema für den Materialismus Joseph Priestleys, und dieser ist wiederum zentral für den Göttinger Materialismus. Es ist daher sicher auch kein Zufall, dass im Haupttext von Hißmanns Buch Priestley als erster namentlich erwähnt wird.6 Die Entwicklung von Priestleys Materialismus setzt mit seiner Wiederentdeckung von David Hartleys Observations on Man ein, die er 1775 unter dem Titel Hartley’s theory of the human mind, on the principle of the association of ideas mit ausführlichen Erläuterungen und auch erheblichen Kürzungen und Eingriffen in den Text herausgibt – einem Werk also, das primär von der Assoziation der Ideen handelt.7 Hartley’s Observations bieten zudem den Versuch einer physiologischen Erklärung des Geistes auf Grundlage einer Theorie von Gehirn und Nervensystem. Ist die Assoziationstheorie auch schon in Hartleys Werk zentral, so stellt Priestley sie in Hartley’s theory als das allein zu beachtende Thema in den Mittelpunkt: Ziel der Hartley-Ausgabe ist ausschließlich, die Lehre von der Ideenassoziation herauszuarbeiten, bei der von Priestley als störend empfundene Ausführungen zur Anatomie, zur Religion (und damit der gesamte zweite Band der Observations), aber auch die wohl als nicht mehr haltbar betrachtete Theorie des Nervensystems wegfallen.8 Priestley setzt sich auch eindeutig von Hartleys Festhalten am Substanzdualismus ab und hält nur die Assoziationstheorie als solche aufrecht, die er ganz seinem eigenen, genuin materialistischen Projekt einverleibt. Hißmanns Interesse an der Assoziationstheorie ist damit leicht zu verstehen: Sie ist integraler Bestandteil und vor den 1777 erschienenen Disquisitions zugleich die erste Ausarbeitung von Priestleys Materialismus, an dem Hißmann und sein Göttinger Lehrer Christoph Meiners von Beginn an starkes Interesse nehmen und dem sie sich im Grundsatz anschließen.9 Von diesem Interesse legen auch die ausführlichen, wohlwollenden Rezensionen Zeugnis ab, die vor allem

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Ebd., S. 4. David Hartley: Observations on man, his frame, his duty, and his expectations. Bath, London 1749; Joseph Priestley: Hartley’s theory of the human mind, on the principle of the association of ideas; with essays relating to the subject of it. London 1775. Bereits 1772 hatte Hermann Andreas Pistorius eine deutsche Übersetzung der Observations herausgegeben, bei der insbesondere der erste Band jedoch stark gekürzt wurde (David Hartleys Betrachtungen über den Menschen, seine Natur, seine Pflicht und Erwartungen. Rostock, Leipzig 1772). Zu Hartley vgl. Barbara Bowen Oberg: David Hartley and the Association of Ideas. In: Journal of the History of Ideas 37 (1976), pp. 441–454; C.U.M. Smith: David Hartley's Newtonian Neuropsychology. In: Journal of the History of the Behavioural Sciences 23 (1987), pp. 123–136; Robert B. Glassman a. Hugh W. Buckingham: David Hartley's Neural Vibrations and Psychological Associations. In: Harry Whitaker et al. (eds.): Brain, Mind and Medicine: Essays in Eighteenth-Century Neuroscience. New York 2007, pp. 177–190. Die bislang einzige Gesamtdarstellung von Hartleys Werk bietet Richard C. Allen: David Hartley on Human Nature. Albany 1999. Zu Priestley vgl. bspw. Robert E. Schofield: Joseph Priestley, the Theory of Oxidation, and the Nature of Matter. In: Journal of the History of Ideas 25 (1964), pp. 285–294; ders.: The Enlightenment of Joseph Priestley. A Study of His Life and Work from 1733 to 1773. University Park 1997; ders.: The Enlightened Joseph Priestley. A Study of His Life and Work from 1773 to 1804. University Park 2004; John Yolton: Thinking Matter. Minneapolis 1983, pp. 107–126; Vilem Mudroch: Joseph Priestley. In: Helmut Holzhey et al. (Hg.): Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Basel 2004, Bd. 1, S. 849– 911. Priestley: Hartley’s theory (s. Anm. 7), p. iii. Dies äußert sich z.B. darin, dass Priestley oft einfach »vibration« streicht oder durch »association« ersetzt, z.B. Hartley’s theory, p. 26. Joseph Priestley: Disquisitions relating to matter and spirit. London 1777.

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Meiners frühzeitig in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen publiziert.10 Hißmann beteiligt sich mit Rezensionen etwas späterer Beiträge der Priestley-Debatte und besonders mit der Übersetzung und Publikation der drei »introductory essays«, die Priestley der Hartley-Ausgabe vorangestellt hatte.11 Hißmanns Geschichte der Lehre von der Association der Ideen ist unmittelbar in diesem Zusammenhang zu sehen und somit Bestandteil seines eigenen materialistischen Programms, obwohl Assoziationstheorien als solche eigentlich gegenüber der Frage nach materiellen oder immateriellen Substraten mentaler Phänomene neutral sind. Sie beschäftigen sich als solche grundsätzlich mit der Verbindung zwischen Vorstellungen und ihren Gesetzmäßigkeiten, ohne dabei zwingend auf physische Korrelate oder Ursachen sowohl der Vorstellungen als auch der Verbindungen Bezug zu nehmen. Sie handeln eben primär von der Assoziation der Ideen, d.h. davon, unter welchen Bedingungen und welchen Gesetzmäßigkeiten zufolge sich bestimmte Vorstellungen verbinden, ohne zugleich die Frage nach physischen Korrelaten gänzlich ausschließen zu müssen, wie im weiteren noch zu sehen sein wird. Im Folgenden wird zunächst der den verschiedenen Assoziationstheorien gemeinsame Ansatz näher diskutiert sowie die für Hißmann besonders zentralen Theorien von Hartley und Priestley sowie ihr Verhältnis zum Materialismus. Erst im Anschluss daran werde ich mich im Einzelnen mit Hißmanns Association der Ideen beschäftigen.

1. Die Problemlage für Assoziationstheorien des Geistes Assoziationstheorien basieren, so die immer noch grundlegende Darstellung von Robert M. Young, auf zwei Prinzipien: (1) Komplexe mentale Phänomene sind aus einfachen Elementen zusammengesetzt, die letztlich von Sinneseindrücken abgeleitet werden. (2) Der Mechanismus, durch den die Assoziationen gebildet werden, beruht auf einfachen Gesetzmäßigkeiten, in der Regel Ähnlichkeit und bzw. oder wiederholter Nebeneinanderstellung der einfachen Elemente in Raum und Zeit (räumlicher und zeitlicher Nähe oder Berührung).12 Assoziationsprinzipien bieten daher einen nahe liegenden Ansatz für empiristische Theorien, insofern diese in der Regel zunächst unverbundene Sinnesdaten als ursprüngliche mentale Gehalte unterstellen, im Gegensatz etwa zu eingeborenen Ideen, und kompliziertere Vorstellungen als aus diesen zu10

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Meiners’ Rezension der Hartley-Ausgabe erschien in Göttingische Anzeigen 1776, S. 249–253, die der Disquisitions in Göttingische Anzeigen 1779 Zugabe, S. 97–108; die Free discussion wurde in Göttingische Anzeigen 1780 Zugabe, S. 425–428 rezensiert. Zur spezifischen Form des Göttinger Materialismus und seinem Verhältnis zu Priestley vgl. den Beitrag von Udo Thiel in diesem Band sowie, auch zu den Priestley-Rezensionen im einzelnen, Falk Wunderlich: Empirismus und Materialismus an der Göttinger Georgia Augusta – Radikalaufklärung im Hörsaal? In: Aufklärung 24 [im Erscheinen]. Hißmann rezensiert Joseph Priestley: A flight sketch of the controversy between Dr. Priestley and his opponents on the subject of his disquisitions on matter and spirit. London o.J. (Göttingische Anzeigen 1781, S. 45–48); Anon.: An essay on the nature and existence of a material world. London 1781 (Göttingische Anzeigen 1782, S. 641–645). Er übersetzt und gibt heraus: Psychologische Versuche von Joseph Priestley. Aus dem Englischen. In: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte 1 (1778), S. 8–60; Hißmanns Übersetzung ist dem Original weitgehend getreu. Robert M. Young: Association of Ideas. In: Philip P. Wiener (ed.): Dictionary of the History of Ideas. New York 1973, vol. 1, pp. 111–118.

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sammengesetzt (und nicht, qua eingeborener Ideen, ursprünglich gegeben) ansehen, und zwar zusammengesetzt aufgrund bestimmter, ihrerseits empirischer Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien. Die Assoziationstheorie stellt insofern zugleich ein reduktionistisches Programm dar, als komplexere mentale Gehalte ausschließlich auf die einfachen Elemente und ihre Verknüpfung zurückgeführt werden sollen. Die wissenschafts- und philosophiehistorische Forschungslage zu den Assoziationstheorien ist eher überschaubar. Neben Youngs bereits erwähntem Überblick ist die stark systematisierende, bereits 1921 erschienene Darstellung von Howard C. Warren zu erwähnen.13 Warren schlägt eine ausführliche Taxonomie assoziationistischer Ansätze, ihrer Gemeinsamkeiten und Differenzen sowie ihrer Theoriekonkurrenten vor, gefolgt von einem historischen Durchgang durch das 18. und 19. Jahrhundert. Einen knappen historischen Überblick mit Schwerpunkt auf Hume und Hartley bietet David F. Marcus.14 Aus der Gegenwart ist vor allem auf Chiara Guntinis La Chimica della mente hinzuweisen, die den ausführlichsten Überblick über die Geschichte der Assozationstheorien von Locke bis ins 19. Jahrhundert bietet.15 Auf den Status von Hißmanns Association als originärem Beitrag zur Geschichte der Assoziationstheorien macht Fernando Vidal aufmerksam.16 Warrens systematischer Taxonomie zufolge werden als Assoziationen in aller Regel Aufeinanderfolgen von Vorstellungen bezeichnet, die in Reihen von Erinnerungen, Einbildungen oder Gedanken auftreten. Das zentrale Problem, das Assoziationstheorien zu lösen haben, besteht in der Ermittlung der Gesetzmäßigkeiten, denen solche Aufeinanderfolgen unterliegen. Je unterschiedlich aufgefasst werden die Assoziationsprinzipien im Einzelnen, ebenso ihr wechselseitiges Verhältnis. Am häufigsten findet man Ähnlichkeit und raum-zeitliche Berührung (Kontiguität) unter den entsprechenden Gesetzmäßigkeiten. Einige sehen diese beiden Prinzipien als gleichrangig an: eine Empfindung oder Idee führt eine Idee ein, die ihr ähnlich ist, oder eine, die zuvor in enger räumlicher oder zeitlicher Verbindung mit ihr aufgetreten ist. Andere reduzieren Ähnlichkeit auf Kontiguität oder auch umgekehrt Kontiguität auf Ähnlichkeit. Wieder andere reduzieren beide auf ein grundlegendes gemeinsames Prinzip der Wiedereinsetzung einer vergangenen Erfahrung durch Assoziation mit einer gegenwärtigen, was dann in verschiedenen Formen (etwa durch Ähnlichkeit oder Kontiguität) realisiert werden kann. Die Stärke jeweiliger Assoziationen (d. h. die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens unter wechselnden Umständen) wird in der Regel entweder durch Gewohnheit bzw. Wiederholung oder durch die Intensität der beteiligten Vorstellungen erklärt: Die häufige Wiederholung (oder hohe Intensität) einer Erfahrung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie per Assoziation wiedererweckt wird, und die Wiederholung einer Assoziation erhöht die Wahrscheinlichkeit ihrer Wiederkehr.

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Howard C. Warren: A History of the Association Psychology. London 1921. David F. Marcus: Die Associationstheorien im XVIII. Jahrhundert. Halle 1901. Chiara Giuntini: La chimica della mente. Associazione delle idee e scienza della natura umana da Locke a Spencer. Florenz 1995. Bemerkenswert ist weiter die unpublizierte Dissertation von Stephen R. Ferg: The Machinery of the Mind: The Origins of Association Psychology, 1644–1749. Cornell University 1977. Bestenfalls populärwissenschaftlich ist hingegen die äusserst oberflächliche Darstellung von David Rapaport: The History of the Concept of the Association of Ideas. New York 1974, in der weder Hartley noch Priestley auch nur erwähnt werden. Fernando Vidal: The Sciences of the Soul. The Early Modern Origins of Psychology. Chicago 2011, pp. 172–176.

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Historisch gesehen findet sich die erste systematische Ausarbeitung einer Assoziationstheorie des Geistes bei David Hartley, mit Vorarbeiten vor allem von John Locke und John Gay, die Hartley beide zu den wesentlichen Quellen seiner Theorie zählt. Hartley verbindet die Assoziationstheorie mit einer Theorie über ihre physiologischen Grundlagen in Nervenvibrationen, die sich allerdings nicht durchsetzen konnte, da die Vibrationstheorie sehr bald als empirisch unhaltbar angesehen wurde. Priestley hatte sich bereits von ihr distanziert, und auch andere frühe Assoziationstheoretiker wie Abraham Tucker lehnen sie ab.17 David Hume als der wohl in der Gegenwart bekannteste Philosoph, für dessen Theorie Assoziationsprinzipien ebenfalls eine zentrale Rolle spielen, misst möglichen physiologischen Erklärungen derselben keine Bedeutung bei.18 Ihre Blütezeit erfahren assoziationistische Theorien in der Psychologie des 19. Jahrhunderts, mit Vertretern wie James und John Stuart Mill, Alexander Bain, Herbert Spencer oder Erasmus Darwin, die jedoch außerhalb des Umkreises der gegenwärtigen Untersuchung liegen.

2. Die Assoziationstheorie bei Hartley und Priestley Hartley präsentiert die Assoziationstheorie einerseits und die Vibrationstheorie der Nerven andererseits als zwei durchaus verschiedene Lehrstücke.19 Während er die letztere auf einige Überlegungen Newtons zum Verhältnis von Sinneswahrnehmung und Bewegung in den Queries zu dessen Optics zurückführt, beruft er sich im Hinblick auf die erstere auf John Lockes Vorarbeiten für die Erklärung unserer Überzeugungen und Affekte.20 Hartley behauptet, dass diese beiden Lehrstücke die wesentlichen Gesetzmäßigkeiten enthalten, die die körperlichen Kräfte einerseits (Vibrationstheorie) und die geistigen andererseits (Assoziationstheorie) bestimmen. Da Hartley interaktionistischer Dualist ist, geht er davon aus, dass diese beiden Kräfte zusammenwirken.21 Diese notwendige Zusammengehörigkeit fasst Hartley wiederum in einer sehr eigentümlichen Weise auf, die mit seinem grundsätzlichen Dualismus nicht leicht vereinbar scheint: »One may expect, that Vibrations should infer Association as their Effect, and Association point to Vibrations as its Cause.«22 Es wird also ein eindeutiges Kausalverhältnis festgelegt dergestalt, dass körperliche Ereignisse in Form der Vibrationen Ursachen mentaler Ereignisse in 17

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Vgl. Edward Search [d.i. Abraham Tucker]: The light of nature pursued. London 1768, vol. 1, pp. 80, 182; vgl. Giuntini, Chimica della mente (s. Anm. 15), S. 89–90. Tucker wendet sich auch gegen den sowohl bei Hartley als auch bei Priestley vertretenen Determinismus. Eine Ausnahme notiert Hume selbst als solche im Treatise of Human Nature (David Hume: A Treatise of Human Nature. Hg. von D. F. und M. J. Norton, Oxford 2000, p. 44). Es ist nicht bekannt, ob Hume und Hartley wechselseitig mit ihren Auffassungen vertraut waren (vgl. z.B. Markus: Associationstheorien [s. Anm. 14], S. 22; Oberg: David Hartley [s. Anm. 7], p. 441 n. 2 vermutet dagegen, dass Hartley Humes Werk bekannt war). Hartley: Observations (s. Anm. 7), vol. 1, pp. 5f. Isaac Newton: Opticks, or a treatise of the reflections, refractions, inflections and colours of light. Hg. von I. Bernard Cohen. New York 1952, pp. 345–347. John Locke: An Essay concerning Human Understanding. Hg. von Peter H. Nidditch. Oxford 1975, pp. 394–401 (2.33). Hartley: Observations (s. Anm. 7), vol. 1, pp. 33f. spricht sich bspw. eindeutig für den Substanzdualismus und gegen die Möglichkeit denkender und fühlender Materie aus. Ebd., vol. 1, p. 6.

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Form der Assoziationen sind. Diese Art von Erklärung würde man eigentlich eher von einem Materialisten erwarten. So erstaunlich es ist, ein solches Kausalverhältnis bei einem Substanzdualisten postuliert zu finden, so ist es noch erstaunlicher, dass gerade der erklärte Materialist Priestley Hartleys Vibrationstheorie ablehnt oder zumindest herunterspielt und sich ganz auf die Assoziationstheorie konzentriert, und ganz allgemein große Zurückhaltung walten lässt, wenn es um die kausale Erklärung mentaler Zustände geht (wie in Abschnitt 3 noch näher zu sehen sein wird). Hartley hält jedoch den Ursprung von Sinnesideen in Sinneseindrücken für ebenso klar erwiesen wie die Möglichkeit, sie durch Assoziation wachzurufen. Daraus soll folgen, dass körperliche Einwirkungen auf das Gehirnmark (die so genannte ›Weiße Substanz‹) kausal dafür verantwortlich sind, dass Sinneseindrücke an den Geist weitergeleitet werden. Und dies zeigt Hartley zufolge wiederum, dass die Fähigkeiten, Ideen zu erzeugen und sie durch Assoziation wachzurufen ebenso auf körperlichen Ursachen beruhen müssen und sich durch die subtilen wechselseitigen Einflüsse kleinster Materieteile erklären lassen.23 Hartley behauptet weiter, dass eine vibrierende Bewegung dem Wesen der Sinneswahrnehmung am angemessensten ist, und folglich sei sie auch für die Entstehung und Wiedererweckung der Ideen geeignet. Zugleich sind die Fähigkeiten der Produktion von Ideen und deren Wiedererweckung durch Assoziation unabhängig voneinander zu begründen, so dass sich die Assoziationstheorie auch aufrechterhalten lässt, falls die Vibrationstheorie aufgegeben werden muss; Hartley nimmt also tatsächlich in gewisser Weise Priestleys Umarbeitung seiner Lehre vorweg. Wie bereits angemerkt, beabsichtigt Priestley in Hartley’s theory of the human mind die Assoziationstheorie als rationellen Kern herauszuarbeiten und von den anatomischen und theologischen Abhandlungen sowie der Theorie der Nervenvibration abzutrennen.24 Priestley vermutet, dass in diesen Theoriestücken die Ursache für Hartleys relativ geringe unmittelbare Wirkung zu suchen ist. Übrig bleiben soll »the doctrine of association of ideas only«.25 Dem gekürzten und redigierten Hartley-Text stellt Priestley drei eigene Essays voran, in denen er (1) einen Überblick über die Vibrationstheorien der Nerven und (2) einen über diejenigen der Assoziation der Ideen gibt und sich (3) mit der Erklärung komplexer Ideen beschäftigt. Das Ziel der Assoziationstheorie ist Priestley zufolge »to deduce all the phenomena of thinking from the single principle of Association« (xxii); ein reduktionistisches Programm mithin, das jedoch nur mentale Phänomene aus anderen mentalen Phänomenen und deren Zusammensetzung erklären soll. Mentale Phänomene wie Erinnerung, Einbildung, der Wille oder das Denken insgesamt sollen sich als lediglich verschiedene Weisen oder Fälle der Ideenassoziation darstellen lassen. Einen unmittelbar einsichtigen Vorteil dieser Theorie sieht Priestley in ihrer Einfachheit: aus wenigen Ursachen lässt sich eine Vielzahl von Wirkungen erklären.

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»Since therefore Sensations are conveyed to the Mind, by the Efficiency of corporeal Causes upon the medullary Substance, as is ackowledged by all Physiologists and Physicians, it seems to me, that the Powers of generating Ideas, and raising them by Association, must also arise from corporeal Causes, and consequently admit of an Explication from the subtle Influences of the small Parts of Matter upon each other, as soon as these are sufficiently understood, which is farther evinced from the manifest Influences of material Causes upon our Ideas and Associations.« (Hartley: Observations [s. Anm. 7], vol. 1, p. 72). Vgl. zu Priestleys Hartley-Ausgabe Schofield: The Enlightened Joseph Priestley (s. Anm. 7), p. 52–57. Priestley: Hartley’s theory (s. Anm. 7), p. iii.

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Um die Durchführbarkeit des reduktionistischen Unternehmens zu zeigen, versucht Priestley zunächst, alle mentalen Phänomene auf einige wenige Vermögen zurückzuführen, die des Gedächtnisses, des Urteils, der Leidenschaften und des Willens, ergänzt um eine »power of muscular motion« (xxv). Diese Grundvermögen ihrerseits sollen sodann als Fälle der Ideenassoziation ausgewiesen werden. Das Gedächtnis lässt sich Priestley zufolge unmittelbar als Wirkung der Assoziation erklären: der Geist hat eine Anzahl von Ideen durch die äußeren Sinne erworben, und diese sind in unterschiedlicher Weise miteinander assoziiert worden, so dass die Gegenwart der einen dazu führt, dass die ihr am nächsten verbundenen Ideen auftreten. Denn unser Gedächtnis ist Priestley zufolge so beschaffen, dass wir keine Ideen nach Belieben wachrufen können, sondern nur solche, die in irgendeiner Verbindung zu den je gegenwärtigen stehen.26 Im Hinblick auf die Einbildung hält Priestley es für wahrscheinlich, dass gerade in ihren »wildest flights«27 nur solche Ideen auftreten, die in Verbindung mit zuvor aufgetretenen stehen und es sich bei scheinbar neuen nur um Rekombinationen früherer handelt. Wenn wir behaupten, dass eine Idee oder ein Umstand eine bestimmte Leidenschaft hervorrufen, dann lässt sich dies Priestley zufolge dadurch erklären, dass bestimmte Gefühle in der Vergangenheit mit jener Idee oder jenem Umstand verbunden waren, die die Kraft besitzen, die entsprechenden Gefühle durch Assoziation wieder hervorzurufen, wie etwa die Angst in Verbindung mit der vergangenen Erfahrung eines Schmerzes. Priestley ist im Übrigen der hier nicht weiter erklärten Auffassung, dass alle unsere Leidenschaften sich als Modifikationen der beiden Grundtypen der Angst und der Liebe darstellen lassen. Der Wille wiederum soll nichts anderes als eine Modifikation der Leidenschaft des Verlangens darstellen, die man wohl ihrerseits auf diejenige der Liebe zurückführen kann. Als besonders problematisch für alle reduktionistischen Theorien erweisen sich natürlicherweise die höheren mentalen Vermögen, die sich an der Erklärung von Urteilen oder Propositionen studieren lassen. Priestley erklärt Urteile für »nothing more than the perception of the universal concurrence, or the perfect coincidence of two ideas or the want of that concurrence and coincidence, as that milk is white, that twice two is four«.28 Urteile sollen also nur in der Wahrnehmung einer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Prädikaten und Subjekten bestehen, wobei aber offen bleibt, wie die Struktur der Prädikation überhaupt zustande kommt. Priestleys Urteilstheorie sieht weiterhin die Übertragung der Idee der Wahrheit durch Assoziation vor, und zwar von einer Proposition zu einer anderen, die ihr ähnelt. Und hat man Wissen von allgemeinen Wahrheiten erlangt, dann kann auch die Idee (oder das Gefühl, wie Priestley hier sagt), das die »Wahrnehmung der Wahrheit« begleitet, auf alle einzelnen Propositionen oder Anwendungsfälle übertragen werden, die sich unter dieser allgemeinen Wahrheit subsumieren lassen, sowie auf »analoge« Propositionen mit der Begründung, »having found by experience, that when we have formed such conclusions we have not been deceived.«29 Hinsichtlich der Assoziation von Ideen mit bestimmten Muskelbewegungen schließlich bemerkt Priestley, dass 26

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»For we have no power of calling up any idea at pleasure, but only recollect such as have any connections, by means of former associations, with those that are at any time present to the mind.« (Priestley: Hartley’s theory [s. Anm. 7], p. xxvi). Ebd., p. xxvi. Ebd., pp. xxvif. Ebd., p. xxvii.

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Hartley für nahezu alle dieser Bewegungen gezeigt habe, dass sie ursprünglich völlig automatisch erfolgen: Die Muskeln werden zunächst unwillkürlich zur Kontraktion gezwungen und dann mit der Idee oder dem Umstand assoziiert, mit dem sie gemeinsam aufgetreten sind, so dass daraufhin die Idee »unmittelbar und mechanisch« der Muskelbewegung folgt.30

3. Die Assoziationsprinzipien im Kontext von Priestleys materialistischer Theorie des Geistes Unmittelbar bemerkenswert an Priestleys Auffassung der Assoziationstheorie ist der Umstand, dass gerade keine direkten Kausalzusammenhänge zwischen bestimmten Zuständen des Gehirns oder des Nervensystems und bestimmten Ideenverbindungen hergestellt werden, im Gegensatz zu Hartleys weitergehendem Erklärungsanspruch. Priestley behauptet auch nicht, dass bestimmte mentale Zustände mit bestimmten physischen identisch sein könnten. Er beschäftigt sich vielmehr grundsätzlich mit Verbindungen zwischen mentalen Zuständen, mit Ausnahme allerdings der mit bestimmten Muskelbewegungen assoziierten Ideen. Nun wurde Hartleys Vibrationstheorie schon frühzeitig von anderen Physiologen kritisiert. Seine Hypothese, dass die Nerven wie gespannte Saiten funktionieren, schien schlechterdings mit ihrer Anatomie unvereinbar zu sein, wie beispielsweise Albrecht von Haller gezeigt hat.31 Somit gab es einen nahe liegenden Grund für Priestley, die Assoziationstheorie von der Vibrationstheorie zu lösen, deren Unabhängigkeit Hartley selbst ja schon postuliert hatte. Dies scheint mir jedoch, wie im folgenden zu sehen sein wird, nicht der einzige Grund zu sein.32 Priestley ist nämlich im Rahmen seiner materialistischen Theorie des Geistes ganz generell wesentlich zurückhaltender, was Hypothesen über direkte Korrelationen zwischen mentalen und physischen Zuständen angeht, als man erwarten würde, ganz im Gegensatz zu Hartley. In Hartley’s theory spricht sich Priestley zunächst grundsätzlich gegen den Substanzdualismus auch in der von Hartley selbst bevorzugten, interaktionistischen Form aus, jedoch in durchaus vorsichtiger Weise: Priestley räumt ein, dass die Frage nach dem Wesen des Selbst grundsätzlich noch unserem Verständnis entzogen ist, er hält es jedoch für unplausibel, dass der Mensch aus zwei Substanzen zusammengesetzt sein soll, die so vollständig verschieden sind, dass sie keine einzige Eigenschaft teilen.33 Priestleys Einwand gegen den Dualismus beruht hier also vor allem auf der Heterogenität der beiden Substanzen. Er hält es für naheliegender, dass der ganze

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Ebd., xxxi. Albrecht von Haller: Elementa physiologiae corporis humani. Lausanne 1757–1780, Bd. 4, S. 241–242. Hißmann schließt sich Hallers Auffassung weitgehend an, zu einer ausführlicheren Diskussion vgl. Michael Hißmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt, Leipzig 1777, S. 48– 54. Im Gegensatz zu Schofield (The Enlightened Priestley [s. Anm. 7], p. 53), der Priestley hier beim Wort nimmt und die Ablehnung der Vibrationstheorie nur als in ihrer »Schwierigkeit« begründet ansieht. Priestley: Hartley’s theory (s. Anm. 7), p. xx. Vgl. Disquisitions (s. Anm. 9), pp. 74–81, gegen Vorstellungen von der Seele als »intermediate material substance of a more refined and subtle nature«, mit denen auch Hartley operiert.

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Mensch aus nur einer Substanzart zusammengesetzt ist.34 Priestley geht davon aus, dass Perzeptionen und mentale Kräfte Resultat einer organischen Struktur sind, wie sie das Gehirn darstellt, lässt jedoch offen, ob sie nur aus einer solchen Struktur erklärt werden können, also notwendigerweise auf ihr basieren. Das scheint zu bedeuten, dass Priestley im Falle des Menschen davon ausgeht, dass das Gehirn faktisch Grundlage der Perzeptionen ist, er aber auch nicht ausschließt, dass sich dies bei andersgearteten Wesen auch anders verhalten könnte. In ähnlicher Weise argumentiert Priestley in den Disquisitions, der umfangreichsten Ausarbeitung seiner materialistischen Theorie des Geistes. Er konstatiert hier mit größerer Entschiedenheit, dass die Kräfte der Empfindung, der Wahrnehmung und des Denkens notwendigerweise von bestimmten organisierten materiellen Systemen abhängen, da sie beim Menschen stets in Verbindung mit solchen auftreten.35 Zugleich hebt er hervor, dass wir nur über eine sehr unzureichende Vorstellung davon verfügen, was die »power of perception« ist, und dass diese Unkenntnis möglicherweise sogar prinzipielle Gründe hat, wir also möglicherweise nie weiterreichendes Wissen über sie erlangen können. Anstatt hier also direkte Identitäts- oder Kausalverhältnisse zwischen Gehirn- und Vorstellungszuständen zu behaupten, beschränkt sich Priestley auf eine allgemeine Abhängigkeit des Mentalen von organisierter Materie. Aufgrund unserer generellen Unkenntnis über die Wirkungsweise der »power of perception« im einzelnen ergibt sich für Priestley die Forderung, Zurückhaltung bei Annahmen zu üben, welche Art von Eigenschaften mit mentalen verbunden sein können und welche nicht: Nothing but a precise and definite knowledge of the nature of perception and thought can authorize any person to affirm, whether they may not belong to an extended substance, which has also the properties of attraction and repulsion. Seeing, therefore, no sort of reason to imagine that these different properties are really inconsistent, any more than the different properties of resistance and extension, I am, of course, under the necessity of being guided by the phenomena in my conclusions concerning the proper seat of the powers of perception and thought.36

Priestleys Vorschlag besagt also, dass, solange das Wesen der »power of perception« nicht geklärt ist, zunächst der Nachweis ausreicht, dass keine Unvereinbarkeit zwischen Perzeptionen und materiellem Substrat besteht. Dies versucht er auf der Grundlage seiner dynamistischen Materietheorie zu zeigen, der zufolge grundlegende Materieeigenschaften wie ihre Undurchdringlichkeit auf Kräfte (Attraktion und Repulsion) zurückzuführen sind und Materie damit keine rein passive Substanz darstellt.37 Nun gilt aber generell, dass wenn wir den Sitz einer Eigenschaft bestimmen wollen, wir uns nach denjenigen Umständen richten, die im Allgemeinen mit ihr verbunden auftreten (»the circumstances that universally accompany it«).38 Wenden wir diese Regel 34

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»I rather think that the whole man is of some uniform composition« (Priestly, Hartley’s theory [s. Anm. 7], p. xx). Hißmann übersetzt diese Passage: »Ich glaube vielmehr, der Mensch sey aus einförmigen Theilen zusammengesetzt« (Psychologische Versuche von Joseph Priestley [s. Anm. 11], S. 27). »[...] the powers of sensation or perception, and thought, as belonging to man, have never been found but in conjunction, with a certain organized system of matter; and therefore, that those powers necessarily exist in, and depend upon, such a system.« (Priestley: Disquisitions [s. Anm. 9], p. 26). Ebd., pp. 26f. Dies bildet die Grundlage seiner materialistischen Theorie in den Disquisitions (s. Anm. 9), pp. 11–23, vgl. zur Materietheorie selbst auch Joseph Priestley: The History and Present State of Discoveries relating to Vision, Light, and Colours. London 1772, pp. 383–394. Priestley: Disquisitions (s. Anm. 9), p. 27.

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auf die Frage nach dem Sitz des Mentalen an, dann müssen wir Priestley zufolge schließen, dass es sich dabei um das Nervensystem, oder genauer gesagt das Gehirn handelt. Denn soweit wir sehen können, ist das Vermögen des Denkens immer mit einem bestimmten, korrespondierenden Zustand des Gehirns verbunden. Wir vermuten aber aus keinem anderen Grund, dass irgendeine Eigenschaft irgendeiner Substanz inhäriert. Dies gilt auch dann, wenn wir nicht genauer angeben können, wie dieser Gehirnzustand beschaffen sein muss, es genügt zu zeigen, dass irgendein Gehirnzustand korrespondiert. Weiter lässt sich kein Fall zeigen, in dem ein Mensch das Vermögen des Denkens zurückerlangt hat, wenn sein Gehirn zerstört wurde, und entsprechend lassen Fälle von Beeinträchtigungen des Denkvermögens auf Beeinträchtigungen des Gehirns folgern. Priestley fasst seine Überlegungen zusammen: Metaphysicians, however, affirm that we have a clear idea of spirit, as we have of matter, each being equally the unknown support of known properties, matter of extension and solidity, and spirit of sensation and thought. But still since the substance is confessedly unknown to us, it must also be unknown to us what properties it is capable of supporting; and, therefore, unless there be a real inconsistency in the properties themselves, those which have hitherto been ascribed to both substances may belong to either of them.39

Da uns zumindest die geistige Substanz als solche vollständig unbekannt ist, folgert Priestley, dass wir auch kein Wissen darüber besitzen können, welche Arten von Eigenschaften ihr inhärieren können, anders als die Immaterialisten behaupten.40 Tatsächlich können wir aber auf unserem gegenwärtigen Wissensstand zu keiner Entscheidung gelangen, welcher Substanzart die bekannten geistigen Eigenschaften und Fähigkeiten zugesprochen werden können. Priestleys Argument für den Materialismus lässt sich also so zusammenfassen: (1) Wir kennen die Einzelheiten mentaler Verursachung nicht, d. h. wir wissen nicht, wie die »power of perception« im einzelnen wirkt. Wir wissen aber (2) von der generellen Abhängigkeit des Mentalen von einer materiellen Grundlage. Daraus folgt, dass wir (3) überhaupt keine Überlegungen anstellen sollten, welche Arten von Eigenschaften mit Mentalem und Materiellem verbunden sein können.41 Zeigt sich aber (4), dass die monistische Erklärung einfacher ist als die dualistische, dann verschafft dies letztlich dem Materialismus einen Vorteil. Im Anhang zur Ausgabe seines Briefwechsels mit Richard Price präzisiert Priestley seine Überlegungen zum Zusammenhang von Vorstellungen und materiellem Substrat etwas.42 Er sei gefragt worden, ob seiner Auffassung nach die Kräfte der Empfindung und des Denkens mit Notwendigkeit aus der Organisation des Gehirns hervorgehen, oder ob sie unabhängig von der Organisation sind und dem materiellen System in einem Akt der Lockeschen »superaddition«

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Priestley: Disquisitions (s. Anm. 9), p. 72. Die grundsätzliche Unerkennbarkeit von Substanzen war allerdings seit Lockes Diskussion der entsprechenden Ideen empiristisches Gemeingut; vgl. Locke: Essay (s. Anm. 20), pp. 295–317 (2.23). Gerade auf solchen Überlegungen zur Unvereinbarkeit mentaler Eigenschaften mit materiellen Substanzen basieren die klassischen Widerlegungen des Materialismus, vgl. dazu Falk Wunderlich: Johann Georg Sulzers Widerlegung des Materialismus und die Materietheorien der Zeit. In: Frank Grunert u. Gideon Stiening: Johann Georg Sulzer. Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume. Berlin 2011, S. 37–55. Joseph Priestley: A free discussion of the doctrine of materialism, and philosophical Necessity, in a correspondence between Dr. Price, and Dr. Priestley. London 1778.

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nachträglich vermittelt worden sind.43 Priestley räumt im Hinblick auf den Theoriestand von Hartley’s theory ausdrücklich ein, er habe sich dort zweifelnd und möglicherweise uneinheitlich dazu eingelassen.44 Er äußert sich hier etwas entschiedener zu der Frage, ob mentale Gehalte und Vermögen auf organisierte Materie im allgemeinen angewiesen sind und bejaht sie nun eindeutig, sofern solche materiellen Systeme belebt sind: »I answer, that my idea now is, that sensation and thought do necessarily result from the organization of the brain, when the powers of mere life are given to the system.«45 Er begründet dies mit der Überlegung, dass man sich zwar einen menschlichen Körper ohne alle Anzeichen von Leben vorstellen kann, aber keinen solchen, der einerseits vollständig organisiert und belebt ist und andererseits zugleich nicht über Empfindung und Denken verfügt. Wahrnehmung und Denken werden immer von einer solchen Organisation begleitet, und da wir sie nie getrennt davon beobachtet haben, haben wir keinen Grund zu der Annahme, dass sie als getrennte möglich sind. Auf welche Art und Weise jedoch die Kraft der Wahrnehmung aus organisierter und belebter Materie hervorgeht, hält Priestley nach wie vor für ungeklärt, ohne dass dies das Faktum eines solchen Kausalverhältnisses infrage stellen würde.46 Priestley hält hier also zwar eine Entscheidung zugunsten eines direkten Kausalverhältnisses zwischen Gehirn und Vorstellungen überhaupt und gegen Lockes Superadditionshypothese für möglich. Hinsichtlich der Frage, wie einzelne Vorstellungen vom Gehirn verursacht werden, übt sich Priestley aber auch hier in weiser Zurückhaltung.

4. Hißmanns Geschichte der Lehre von der Association der Ideen 4.1. Hißmanns historische Darstellung Hißmanns historische Darstellung der Assoziationstheorien beginnt bei Platon und Aristoteles und geht über Kerneades, Ovid, Horaz und andere bis in die Neuzeit, die in der Darstellung mit Thomas Hobbes beginnt. Bemerkenswert ist hier insbesondere Hißmanns Behauptung, die bekanntesten Assoziationsgesetze der Koexistenz und Ähnlichkeit seien im Altertum schon bekannt gewesen, ohne dass man sie als Gesetzmäßigkeiten formuliert hätte.47 Auch habe sich Aristoteles schon sehr weit vorgewagt, was mechanistische Erklärungen in der Seelenlehre betrifft, die ihm in der Neuzeit den Vorwurf der Heterodoxie oder gar des Materialismus einge43

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Vgl. Locke: Essay (s. Anm. 20), p. 541. Es ist in der Forschung umstritten, ob mentale Eigenschaften Lockes Theorie der »superaddition« zufolge eigentlich mit Materiellem unvereinbar sind und deshalb nur durch einen direkten Eingriff Gottes verbunden werden können, vgl. zur Diskussion Michael Ayers: Mechanism, Superaddition, and the Proof of God’ Existence in Locke’s Essay. In: The Philosophical Review 90 (1981), pp. 210–251; Matthew Stewart: Locke on superaddition and mechanism. In: British Journal for the History of Philosophy 6 (1998), pp. 351–379; Andrew Pawelich: Locke on the possibility of thinking matter. In: Locke Studies 6 (2006), pp. 101–126. Priestley: Free Discussion (s. Anm. 42), p. 256. Ebd., p. 256. »As to the manner in which the power of perception results from organization and life, I own I have no idea at all; but the fact of this connection does not appear to be, on that account, the less certain.« (Priestley: Free Discussion [s. Anm. 42], p. 257). Hißmann: Association (s. Anm. 5), S. 7, S. 10.

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handelt hätten.48 Im Hinblick auf die Philosophie der Neuzeit berücksichtigt Hißmann alle Autoren, die auch eine gegenwärtige Philosophiegeschichte zum Assoziationsproblem diskutieren würde: neben Hobbes werden John Locke, Christian Wolff, David Hume, David Hartley, Étienne Bonnot de Condillac, Charles Bonnet, Henry Home und Alexander Gerard ausführlicher angesprochen, sowie mit Ernst Platner schließlich noch ein unmittelbarer Zeitgenosse. Auffallend ist dabei die zentrale Rolle, die Nicolas Malebranche nicht nur im Rahmen der historischen Darstellung für Hißmann spielt.49 Einige grundlegende Gesetzmäßigkeiten im Hinblick auf die Assoziation der Ideen schreibt er Malebranche zu.50 In der Tat hat Malebranche in Buch 2, Teil 1, Kapitel 5 seiner Recherche de la verité Überlegungen zu Entsprechungen zwischen Gehirnzuständen und Ideen angestellt und in diesem Zusammenhang auch drei Gründe der Verbindung zwischen materiellen Spuren im Gehirn und Ideen identifiziert, die Hißmann hier als Gesetze der Ideenassoziation präsentiert.51 Als erstes Gesetz führt Hißmann das der Koexistenz ein, demzufolge sich unsere Ideen, die in der Vergangenheit gleichzeitig auftraten, verbinden und gegenseitig wieder aufwecken. Diese Verbindung hat für Malebranche, wie Hißmann zutreffend feststellt, eine physiologische Grundlage: »Denn, wenn zu der Zeit, da wir eben einen Gedanken denken, durch neue Vorstellungen neue Spuren unserm Gehirn eingedrükt werden: so können diese Fibern, diese Spuren, nie wieder bewegt werden, ohne dass jener Gedanke mit rege gemacht würde.«52 Auf der einen Seite sind Gedanken zwar durchweg mit Spuren im Gehirn verbunden, die mit ihnen korrespondieren. Es findet also keine Veränderung im Gehirn statt, ohne dass es nicht auch zu einer Veränderung in der Seele kommt, und bei jedem neuen Gedanken drücken sich dem Gehirn neue Spuren ein. Auf der anderen Seite hebt Hißmann jedoch hervor, dass diese Spuren die Ideen nicht enthalten, »denn Spuren und Ideen haben kein Verhältnis zu einander«.53 Die Seele besitzt nicht einmal Kenntnis von ihnen und kann demzufolge auch keine neuen Gedanken durch Betrachtung der Spuren erlangen. Ebenso sind die Spuren nicht die Ursache der Gedanken, denn im Rahmen von Malebranches Okkasionalismus ist Gott bekanntlich das einzige kausal wirksame Wesen.54

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Ebd., S. 13. Auch Warren: History (s. Anm. 13), diskutiert Malebranches Assozationstheorie, allerdings nicht sehr ausführlich. Auf die Bedeutung Malebranches für David Humes Assoziationstheorie weist John Wrigth: Hume’s »A Treatise of Human Nature«. An Introduction. Cambridge 2009, pp. 54–57, hin. »Dieser vortreffliche Mann [...] ist unter den Philosophen des vorigen Jahrhunderts, und aller philosophischen Jahrhunderte der erste, der nicht blos die Association unserer Begriffe bemerkte: sondern sie zu gleicher Zeit den Gesetzen, nach welchen sie sich associiren, nachspürte.« (Hißmann: Association [s. Anm. 5], S. 35). Nicolas Malebranche: De la recherche de la vérité. In: Oeuvres de Malebranche. Hg. von G. Rodis-Lewis. Paris 1991 [1674–1675], Bd. 1, S. 115–226, 274–278. Hißmann verweist hier (Association [s. Anm. 5], S. 35– 38) fälschlicherweise auf ein anderes Kapitel und gibt diese Gesetzmäßigkeiten auch in anderer Reihenfolge als Malebranche selbst wieder; im Folgenden orientiere ich mich grundsätzlich an der Reihenfolge in Hißmanns Darstellung. Hißmann: Association (s. Anm. 5), S. 36. Ebd., S. 37. Zu Malebranches Okkasionalismus vgl. z.B. Dominik Perler u. Ulrich Rudolph: Occasionalismus. Göttingen 2000; Steven Nadler: Malebranche on Causation. In: Steven Nadler (ed.): The Cambridge Companion to Malebranche. Cambridge 2000, pp. 112–138.

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Malebranches zweites Gesetz der Ideenverbindung in Hißmanns Darstellung basiert auf dem Willen des Menschen: der Mensch kann willkürlich Ideen verbinden und sie nach seinem Belieben wieder aufwecken. Dieses Gesetz hält Hißmann jedoch für »chimärisch« und durch die Erfahrung etwa der Unwillkürlichkeit und Unbeherrschbarkeit unangenehmer Erinnerungen widerlegt. Er weist weiter darauf hin, dass ein derartiges Gesetz mit den anderen Assoziationsgesetzen nicht vereinbar ist: Könnten wir tatsächlich Ideen nach Belieben verbinden und auch wieder voneinander trennen, dann wäre dieses Prinzip in der Lage dazu, alle anderen außer Kraft setzen, dann es müsste aufgrund seiner möglich sein, alle auf anderem Wege zustande gekommenen Assoziationen aufzulösen (es sei denn, man ordnet diesem Gesetz einen eng umschriebenen Wirkungsbereich zu). Das dritte Gesetz der Assoziation von Ideen und Spuren im Gehirn besteht Malebranche zufolge im unveränderlichen Willen des Schöpfers: »Die Natur selbst hat eine physische Verbindung unserer innern Organen veranstaltet, und alle Ideen, die in dergleichen von der Natur verbundenen Organen aufbewahret werden, müssen einander aufwecken.«55 Diese Art der Verbindung ist die stärkste und stabilste und betrifft beispielsweise solche Phänomene, die unmittelbar mit Selbsterhaltung zu tun haben (wie die Spuren von der Idee eines großen, auf uns stürzenden Körpers mit der Idee der Flucht). Mittels des dritten Gesetzes kann Malebranche erklären, warum einige Ideenverbindungen anscheinend bei allen Menschen anzutreffen sind, andere dagegen nicht. Besonders starke Ideenverbindungen, die dementsprechend durch das dritte Assoziationsgesetz zu erklären sind, betreffen beispielsweise grundlegende Eigenschaften von körperlichen Dingen oder geometrische Formen. Hißmann führt Hartley als denjenigen ein, der die umfangreichste und gründlichste Theorie über Ideenassoziation vorgelegt hat. Zwar sei nicht zu leugnen, dass er sich oft in »Chimären« verliere, die aus einer zu weiten Entfaltung seiner Hypothesen resultiert.56 Hißmann bezieht sich dabei auf die umstrittene Vibrationstheorie der Nerven. Hißmann ist unter Berufung auf Albrecht von Haller der Ansicht, dass die Hartleysche Annahme einer Reizweiterleitung durch Vibrationen als mit der Anatomie des menschlichen Körpers unvereinbar und damit widerlegt anzusehen ist.57 Um die Vielfalt verschiedenartiger Empfindungen aus den Vibrationen der Nerven erklären zu können, unterscheidet sie Hartley in vierfacher Weise: hinsichtlich ihrer Stärke, ihrer Anzahl zu einem gegebenen Zeitpunkt, der Gehirnregion, in der sie vorgehen, und ihrer Richtung. Die Assoziation der Empfindungen ist ihrerseits von zweifacher Art, nämlich synchron oder diachron. Im letzteren Fall wecken assoziierte Empfindungen und Ideen einander in derjenigen Ordnung auf, in der sie sich ursprünglich ereignet haben. Charles Bonnets Essai de Psychologie diskutiert Hißmann (ohne den Verfasser des anonym erschienenen Werkes zu kennen) als einen besonders konsequenten Vertreter der mechanischen Psychologie, die er auf Malebranche und Hartley als Hauptvertreter zurückführt.58 Was die physische Grundlage mentaler Vorgänge angeht, so bleiben Eindrücke und Ideen dem Essai de Psychologie zufolge grundsätzlich im Gehirn selbst erhalten. Es sei aber schwierig, anzugeben, wie genau sich Eindrücke in einer so weichen Substanz wie dem Hirnmark erhalten können. Die 55 56 57 58

Hißmann: Association (s. Anm. 5), S. 38–39. Ebd., 54. Ebd., S. 61–62, vgl. Anm. 30. Charles Bonnet: Essai de Psychologie. London [d.i. Leiden] 1755.

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Assoziation der Ideen folgt einigen Gesetzmäßigkeiten: (1) Die häufige Rückkehr derselben Konstellationen von Empfindungen »stiften unter den Ideen eine gewisse Verbindung, durch welche sie sich gegenseitig zurückrufen.«59 (2) Die Seele kann keine Idee isoliert zurückrufen, sondern nur dann, wenn sie sich mit einer mit dieser Idee verbundenen beschäftigt. (3) Die Seele beschäftigt sich fast durchgehend mit mehrere Ideen; Hißmann diskutiert diese Gesetzmäßigkeit näher im Anhang zur Association der Ideen.60 (4) Ursprünglich ist eine Abfolge von Ideen nichts anderes als die Folge der Bewegungen, die den Fibern eingedrückt wurde, da alle unsere Ideen »ursprünglich aus Bewegungen im Gehirn entspringen«.61 Hier wird also ein Kausalverhältnis zwischen Gehirnbewegungen und Ideen angenommen, das sich auch auf die Abfolge der Ideen auswirkt. Hißmanns eigene Auffassung zu dieser Problemlage wird deutlicher im Zusammenhang seiner Diskussion von Ernst Platners Theorie über die physische Grundlage des Assoziationsprinzips der Ähnlichkeit. Bonnets Erklärung desselben erfolgte, so Hißmann, »auf einem sehr ungewissen Weg«, nämlich der Lokalverknüpfung der Bündel von Fibern im Gehirn, die zur Erweckung ähnlicher Ideen erforderlich sind.62 Platners Hypothese hingegen besagt, dass ähnliche Objekte entsprechend ähnliche innere Impressionen und daher auch ähnliche Bewegungen des Nervensaftes hervorrufen. Die »Maschine« sei durch die früheren Bewegungen des Nervensaftes aber schon so weit vorbereitet, dass sie dann auch ohne weiteren Aufwand die entsprechende Bewegung ausführt.63 Durch diese Überlegung könne, so Hißmann, Hallers Einwand gegen physiologische Erklärungen des Mentalen (Hißmann spricht hier von mechanischen Erklärungen) ausgehebelt werden.64 Unabhängig davon, ob diese Überlegung überzeugen kann, macht sie deutlich, dass Hißmann einerseits mechanisch-physiologische Erklärungen durchaus für möglich und wünschenswert hält, sich aber zugleich im Klaren über den noch notwendigerweise hypothetischen Charakter solcher Erklärungen ist. Ich möchte hier nicht auf weitere Einzelheiten von Hißmanns historischer Darstellung eingehen, sondern nur noch auf einige auffällige Bemerkungen hinweisen. Im Zusammenhang mit Wolff kritisiert Hißmann dessen vermeintlichen Versuch, Assoziationsphänomene, die sich aus dem Prinzip der Ähnlichkeit erklären lassen, auf das der Koexistenz zurückzuführen.65 Es wird dabei deutlich, dass mögliche Ableitungsverhältnisse zwischen den Assoziationsprinzipien ein zentral diskutiertes Problem darstellen, wie auch Warren bemerkt hat. Hinsichtlich der Darstellung von Hume wiederum versucht sich Hißmann selbst als radikalerer Reduktionist. Hume hat bekanntlich neben die Assoziationsprinzipien der Ähnlichkeit und der Kontiguität das ihn am

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Hißmann: Association (s. Anm. 5), S. 65. Dazu näheres in Abschnitt 4.3. Hißmann: Association (s. Anm. 5), S. 66. Ebd., S. 84. Hißmann bezieht sich hier auf Charles Bonnet: Essai analytique sur les facultés de l’âme. Kopenhagen 1760, § 86; dieses Werk war unter Bonnets Namen erschienen. Hißmann bezieht sich hier auf Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Leipzig 1772 Teil 1, § 442. »Diese Hypothese, die im Grunde mit der Mallebranchischen über das Physische der Koexistenz der Ideen sehr viel Aehnliches hat, möchte vielleicht den Einwürfen Hallers ganz ausweichen, der Hook’s, Hartley’s und Bonnets mechanische Erklärungsarten deswegen ausstreicht, weil die Anatomie von ihren Voraussetzungen nichts wisse.« (Hißmann: Association [s. Anm. 5], S. 85).

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meisten interessierende der Kausalität gestellt. Zu diesem merkt Hißmann an: »Nichts ist leichter zu erkennen, als daß das dritte Gesetz, das Hume festsetzt, kein eignes neues Gesetz; sondern, daß es in den vorigen schon enthalten sey.«66 Hißmann führt leider nicht näher aus, wie er sich diese Ableitung des Kausalprinzips aus den beiden anderen im Einzelnen vorstellt. Er kann dabei etwa eine Passage in Humes Treatise vor Augen haben, in der Hume selbst die räumliche und zeitliche Kontiguität von Ursache und Wirkung und die zeitliche Priorität der Ursache gegenüber der Wirkung als essentielle Regel für Kausalrelationen formuliert.67 Diese sind Hume zufolge jedoch nur Bedingungen für die Kausalrelation, ohne sie zu erschöpfen (sie besteht eigentlich in der konstanten Vereinigung bestimmter Ursachen mit bestimmten Wirkungen), und von einer Ähnlichkeit von Ursache und Wirkung ist bei Hume gerade aus gutem Grund nicht die Rede.

4.2. Hißmanns Auffassung der Assoziationsgesetze Im Folgenden soll nun Hißmanns eigene Auffassung über die Assoziationsgesetze diskutiert werden, die er als das »[d]ogmatische Resultat dieser Geschichte« zusammenfasst.68 Für erwiesen hält Hißmann die beiden Gesetze oder Prinzipien, die in unterschiedlichen Bei- oder Unterordnungsverhältnissen in den meisten Assoziationsheorien postuliert werden, die der Ähnlichkeit und der Kontiguität. Auffällig ist hier wieder die besondere Rolle, die Malebranche zugedacht wird, er soll das Prinzip der Kontiguität (hier Koexistenz genannt) etabliert haben, während das Prinzip der Ähnlichkeit historisch auf Wolff und Hume zurückgeführt wird.69 Hinsichtlich unserer inneren Empfindungen und Leidenschaften lässt sich Hißmann zufolge noch ein drittes Gesetz festlegen, »dessen Hauptstücke schon Mallebranche vorgelegt hat, ich meyne, das Gesetz der physischen Verbindung unserer innerer Organen.«70 Was Hißmann darunter versteht, wird aus einem anschließend diskutierten Beispiel deutlich: Das Gesetz der physischen Verbindung soll auch erklären, warum uns traurige Musik niedergeschlagen machen kann, selbst wenn wir sie nie zusammen mit einem traurigen Gegenstand vernommen haben. Hißmann vermutet, dass in solchen Fällen die Natur selbst die »Organe der Leidenschaft« mit denen des Gehörs so verbunden hat, dass die einen nicht bewegt werden können, ohne die anderen mitzubewegen. Es gibt Hißmann zufolge also auch gewissermassen direkt physisch realisierte Assoziationen. Bis hierher ist Hißmanns Darstellung, wie er auch selbst anmerkt, nicht originell, sondern folgt einem Vorschlag Christoph Meiners’. Dieser hatte in seinem sehr knappen Abriß der Psychologie von 1773 festgestellt: »Alle Ideen werden, so viel ich weis, nach drey physischen Gesetzen 65 66 67 68 69

70

Wie in Abschnitt 4.4. zu sehen ist, hält Marcus Herz in seiner Rezension der Association der Ideen dies für ein Missverständnis. Hißmann: Association (s. Anm. 5), S. 53. Hume: Treatise (s. Anm. 18), p. 116. Hißmann: Association (s. Anm. 5), S. 86. »Zwey Gesetze, scheint es mir, seyen für die Association unserer Ideen gefunden, die in der menschlichen Natur Grund haben. Das Gesetz der Koexistenz, das Mallebranche bekannt machte, und das Gesetz der Aehnlichkeit der Ideen, das der deutsche Philosoph zuerst bemerkte, und Hume deutlicher auseinander setzte.« (Hißmann: Association [s. Anm. 5], S. 86). Ebd., S. 86.

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associirt: vermöge ihrer Coexistenz, ihrer Aehnlichkeit, und der organischen Verbindung gewisser Fibern.«71 Meiners betont hier, dass diese Gesetzmäßigkeiten durch Induktion ermittelt worden sind und daher nicht als vollständig gesichert angesehen werden können. Hißmann scheint ihm hinsichtlich dieses grundsätzlich reversiblen Status der Assoziationsgesetze zuzustimmen, wie an seinen Überlegungen zu weiteren möglichen Assoziationsgesetzen zu sehen ist. Für Meiners müsste ein viertes Assoziationsgesetz dann formuliert werden, wenn sich zeigte, dass wir nach unserer Willkür Ideen hervorrufen, vertreiben und fixieren können – mit anderen Worten, wenn sich Malebranches zweites Gesetz etablieren ließe. Hißmann überlegt dagegen in eine andere Richtung weiter (für ihn war Malebranches zweites Gesetz ja unhaltbar) und vermutet, dass es eigene Assoziationsgesetze für die Leidenschaften geben könnte, da »die Leidenschaften so sehr viel Eigenes« haben.72 Evident seien außerdem die starken Auswirkungen der Leidenschaften auf den Körper, die sich etwa »durch Erstarrung der Nerven und der Muskeln« geltend machen.73 Neben diesen anscheinend für die Leidenschaften eigentümlichen körperlichen Auswirkungen konstatiert Hißmann, dass oft eine Leidenschaft andere aufweckt und wir dabei außerstande sind, die Prinzipien dieser Assoziation anzugeben, so dass die Annahme naheliegt, dass hier noch unbekannte Prinzipien zugrunde liegen.74 Dies ist Hißmann zufolge beispielsweise dann der Fall, wenn Musik uns in bestimmte emotionale Zustände versetzt – die Töne weisen keine Ähnlichkeit mit den Emotionen auf, und es erscheint auch keinen Sinn zu ergeben, hier nach räumlicher oder zeitlicher Berührung zu fragen. Hißmann überlegt also, ob solche Phänomene auf weitere Assoziationsprinzipien hindeuten, hält es aber auch für möglich, dass sich Fälle wie der erwähnte durch das dritte Assoziationsgesetz, das der physischen Verbindung, erklären lassen könnten.75 Aufschlussreich sind Hißmanns Überlegungen in diesem Zusammenhang auch aus einem weiteren Grund, nämlich hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis der verschiedenen Assoziationsgesetze. Bei Hißmann, so hat es den Anschein, sind die Gesetze einander beigeordnet, es finden sich keine ausdrücklichen Versuche, Ähnlichkeit aus Kontiguität oder umgekehrt abzuleiten, noch beide aus einem übergeordneten Prinzip. Auch wird nicht behauptet, dass sie mit Notwendigkeit gelten. Vielmehr ist ihre Aufzählung, da induktiv gewonnen, eben nicht zwangsläufig vollständig (wie insbesondere Meiners deutlich macht). Kriterium für die Vollständigkeit ist dabei lediglich die erforderliche Erklärungsreichweite: Ziel ist es (wie bei Assoziationstheorien üblich), mentale Phänomene vollständig aus den Assoziationsgesetzen zu erklären, und wenn sich zeigt, dass einige Phänomene mit den vorhandenen Gesetzen nicht zu erklären sind, dann müssen eben weitere formuliert werden. Hißmann beschäftigt sich schließlich noch mit der ebenfalls typischen Fragestellung, wie die unterschiedliche Stärke von Assoziationen und also die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens 71 72 73 74

75

Christoph Meiners: Kurzer Abriß der Psychologie. Göttingen 1773, S. 38. Hißmann: Association (s. Anm. 5), S. 87. Ebd., S. 87. »Oft wekt eine Leidenschaft die andere auf, und wir sind gar nicht im Stand die Art anzugeben, wie sie miteinander verbunden gewesen. Weder haben sie jemahls zusammen existirt, noch haben sie etwas Aehnliches mit einander.« (Hißmann: Association [s. Anm. 5], S. 88). »Man kann daher mit grosser Wahrscheinlichkeit die physische Verbindung der Organen der Leidenschaften, als ein Associationsgesetz bey solchen Erfahrungen ansehen, die sich aus den andern beyden nicht erklären lassen.« (Hißmann: Association [s. Anm. 5], S. 90).

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unter wechselnden Umständen zu erklären ist. Anders als bei Warren diskutiert – er erwähnte Gewohnheit und Intensität als hauptsächliche Verstärkungsfaktoren – nimmt Hißmann eine Abschwächung der Assoziation bei zu großer Häufung an. Man darf, so Hißmann, nicht erwarten, daß sich in allen Fällen die Ideen nach den genannten Associationsgesetzen ohne alle Ausnahme auch wecken solten. So bald die Fibern mit Associationen überladen sind: so bald wecken sich Ideen, die nach dem Gesetz der Koexistenz und der Ähnlichkeit verbunden seyn müßten, nicht mehr auf.76

Bemerkenswert ist hier, dass Hißmann für das diskutierte Phänomen der, anachronistisch gesprochen, Reizüberflutung einen unmittelbar physischen Grund in der »Überladung« der Nervenfibern annimmt. Neben dem handgreiflichen Beispiel eines Briefträgers, der sich nicht an alle Adressaten erinnern kann, weil er täglich zu viele von ihnen zu Gesicht bekommt, diskutiert Hißmann auch ein theoretisch anspruchsvolleres: Die Verbindungspartikel »ist« und »und« treten so häufig in Sätzen auf, dass uns niemals die ungeheure Menge von Sätzen einfallen kann, in denen diese Wörter aufgetreten sind, obwohl dies nach den Assoziationsgesetzen zu erwarten sein könnte.

4.3. Empfindungen treten nie unverbunden auf In diesem Abschnitt soll eine recht bemerkenswerten Auffassung Hißmanns näher beleuchtet werden: Im letzten Kapitel der Association der Ideen, betitelt »Anhang über den Unterschied associirter und zusammengesetzter Begriffe, und der Ideenreyhen« befasst sich Hißmann mit der Frage, ob und unter welchen Bedingungen Empfindungen einzeln auftreten können, ohne mit irgendwelchen anderen mentalen Zuständen verbunden zu sein. Diese Frage ist außerordentlich naheliegend. Denn Assoziationstheorien gehen generell von der Existenz atomarer mentaler Gehalte aus, üblicherweise Empfindungen, die ihrerseits auf eine Ursache außerhalb des Bewusstseins verweisen und den Ausgangspunkt des Assoziierens bilden. Beide möglichen Antworten auf diese Frage ziehen Probleme nach sich. Wird behauptet, dass atomare Empfindungen einzeln, als solche, auftreten können, dann ist dies erstens schwer mit unserer normalen Erfahrung in Einklang zu bringen. Wir haben üblicherweise keine Erfahrungen von isolierten Sinnesqualitäten, sondern nehmen diese in aller Regel im Verbund mit anderen wahr (eine Überlegung, die für eine empiristische Theorie schwer wiegt). Zweitens erhebt sich die Frage, warum und unter welchen Bedingungen wir dann mehr als einfache Empfindungen haben, wann und warum also von einfachen zu assoziierten Vorstellungen übergegangen wird. Behauptet man dagegen, dass wir uns nie einzelner Empfindungen als solcher bewusst sind, dann ergibt sich die Schwierigkeit, wie denn ihre Existenz als atomarer Ausgangspunkt aller Assoziation überhaupt etabliert werden kann – man könnte einwenden, dass es sich nur um theoretische Fiktionen handelt, da sie nie als solche wahrgenommen werden können (auch dies ein für empiristische Theorien schwerwiegender Einwand). Hißmann teilt die zweite Auffassung, ist also überzeugt, dass Empfindungen nur in assoziierter Form auftreten. So schreibt er: »Alle alte Philosophen wusten es, daß unsere Ideen nicht 76

Ebd., S. 90.

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isolirt in der Seele liegen, sondern daß sie auf das genaueste mit einander zusammenhangen, und daß sie wegen dieses Zusammenhanges gemeinschaftlich aus ihrem Schlummer aufwachen, wenn nur eine aus der ganzen Kette rege gemacht wird.«77 Hißmanns Argumente zu identifizieren fällt deswegen schwer, weil er eigentlich für zwei unterschiedliche Dinge argumentiert. Zunächst geht es ihm um die Möglichkeit »reiner Empfindungen« im Sinne solcher, die keinerlei Vergnügen oder Missvergnügen bei sich führen bzw. ohne jeden Grad von Lust oder Unlust auftreten. Hierzu merkt Hißmann an, dass man sich erst in jüngerer Zeit die Frage gestellt habe, ob in diesem Sinne »reine« Empfindungen überhaupt empirisch anzutreffen sind, und stellt fest, dass dies bei den Empfindungen endlicher Wesen zumindest nicht der Fall sei – reine Empfindungen hat nur Gott. Bei endlichen Wesen sind Hißmann zufolge die folgenden Ausnahmen denkbar: Wesen, die die ganze Zeit ihres Daseins keine einzige unangenehme Empfindung haben, sind zu rein angenehmen Empfindungen fähig, und umgekehrt können Wesen, die nur unangenehme Empfindungen haben, diese auch ganz rein genießen. Als weitere Ausnahme lässt Hißmann Wesen zu, die über keinerlei Erinnerung verfügen.78 Recht unvermittelt geht Hißmann nun jedoch von dieser Überlegung zu einer allgemeineren über, die nicht nur das Empfindungen begleitende Gefühl der Lust oder Unlust betrifft: »Es kann sich nach den Gesetzen der Association der Ideen, unsern Empfindungswerkzeugen keine einzige Empfindung ganz isolirt einverleiben, so daß sie sich mit keiner einzigen schon gehabten Empfindung verbinden, und sie aufwecken sollte.«79 Hißmann behauptet also, dass die Assoziationsprinzipien derart universell wirken, dass in unserem Geist niemals eine isolierte, nicht mit anderen assoziierte Vorstellung anzutreffen ist.80 Diese These reicht deutlich weiter als die vorher diskutierte, derzufolge jede Empfindung endlicher Wesen von einem emotionalen Zustand (einem je verschiedenen Gefühl der Lust oder Unlust) begleitet wird; insbesondere, da von dieser Gesetzmäßigkeit Ausnahmen zumindest denkbar waren. Doch auch von der zweiten, weiterreichenden Gesetzmäßigkeit sollen unter sehr spezifischen Bedingungen Ausnahmen möglich sein. Dazu sind, so Hißmann, zwei Bedingungen zu erfüllen: (1) In dem Augenblick, in dem eine neue Empfindung entsteht, dürfen keine Reste vergangener Empfindungen mehr im Gehirn vorhanden sein. Mit anderen Worten: das Wesen dürfte kein Gedächtnis haben, weil sich sonst »die neue Empfindung, nach dem Gesetz der Koexistenz, mit derjenigen, die sie eben vorräthig findet, associiren müßte«.81 Wenn also eine bewusste Vorstellung auf eine andere bewusste Vorstellung trifft, dann verbindet sie sich mit dieser schon allein kraft ihrer gemeinschaftlichen Gegenwart in einem Bewusstsein. (2) Die neue Empfindung dürfte keiner vergangenen auch nur im Geringsten ähneln. Denn sonst würde sie, nach dem Ähnlichkeitsgesetz, sofort die ehemalige Empfindung, die ihr ähnelt, wiedererwecken. 77 78

79 80

81

Hißmann: Association (s. Anm. 5), S. 6. »Man denke sich den Fall, daß ein Wesen in diesem Augenblick das vollkommenste Vergnügen geniesse: so kann es im künftigen Augenblick von einem eben so unvermischten Mißvergnügen erschüttert werden, woferne es mit jedem Augenblick seine gehabte Empfindung so vergißt, daß es sich derselben in seinem ganzen Leben nicht mehr erinnern kann.« (Hißmann: Association [s. Anm. 5], S. 98f.). Ebd., S. 99. Auch diese These findet sich in Meiners’ Abriß der Psychologie in noch allgemeinerer Form: »Keine einzige Idee ist isolirt. Das ganze Gedanken-System ist eine ungeheure complexe Idee, deren Theile minder oder mehr große Ideen Reihen sind.« (Meiners: Abriß der Psychologie [s. Anm. 71], S. 39). Hißmann: Association (s. Anm. 5), S. 99.

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Beide Bedingungen ließen sich, so Hißmann, nur dann erfüllen, wenn ein Mensch über keinerlei Erinnerungsvermögen verfügte.82 Das scheint jedoch auszuschließend zu sein, und Hißmann fasst zusammen: Es ist als eine allgemeine Erfahrung annehmen, daß ein jeder neuer Eindruck, den wir mit Bewustseyn empfinden, uns, wenigstens auf eine dunkle Art, müsse fühlen lassen, daß, und was wir ehemals empfunden. Gesetzt also, eine neue Empfindung sey völlig rein und unvermischt: so muß sie gleich vermischt werden, wenn sie zum Bewustseyn kommt, wegen der unzertrennlichen Verknüpfung, in welcher gegenwärtige mit vergangenen dunkeln und klaren Empfindungen und Vorstellungen stehen.83

Hißmanns Antwort auf die Eingangsfrage, wie wir die unterstellten atomaren Empfindungen erfahren können, ist also nicht uninteressant. Er behauptet einerseits, dass wir faktisch keine Erfahrungen von isolierten Vorstellungen oder Sinnesqualitäten als solchen haben, die man in gegenwärtiger Terminologie als Qualia bezeichnet. Andererseits behauptet er, dass dies gerade auf die Assoziationsgesetze und ihre universelle Wirkung zurückgeht. Sobald Ähnlichkeit und Kontiguität vorliegen, werden sie wirksam, und da alle mentalen Ereignisse einander zumindest insofern ähnlich sind, als sie eben mentale Ereignisse sind, ist dies immer der Fall. Zugleich ist deutlich geworden, dass das Gedächtnis für Hißmann den Assoziationsgesetzen noch vorausliegt, denn nur dann, wenn keinerlei Erinnerung vorliegt, bleiben auch die Assoziationsgesetze wirkungslos.

4.4. Marcus Herz’ Rezension der Association der Ideen Hißmanns Association der Ideen scheint weniger Widerhall gefunden zu haben als seine Psychologischen Versuche, die ein Jahr später 1777 erschienen – im Annus mirabilis des deutschen Empirismus, wie man mit leichter Übertreibung sagen könnte, in dem auch Werke wie Tetens’ Psychologische Versuche, Tiedemanns Untersuchungen über den Menschen, Lossius’ Unterricht der gesunden Vernunft oder der erste Band von Irwings Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen herauskamen.84 Angesichts der größeren thematischen Breite der Psychologischen Versuche und der Sprengkraft ihres expliziten Materialismus ist das ist wohl nicht besonders erstaunlich. Dennoch wurde Association der Ideen an einigen Stellen rezensiert, so anonym in den Gothaischen Gelehrten Zeitungen auf das Jahr 1777 (aber nur in Form einer kurzen Zusammenfassung des Inhalts),85 anonym von Abraham Gotthelf Kästner in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen86 und in der Allgemeinen deutschen Bibliothek.87 Bei dem Rezensenten in der Allgemeinen deutschen Bibliothek handelt es 82 83 84

85 86 87

Hier ließe sich noch fragen, warum ähnliche Vorstellungen, die synchron auftreten, nicht auch von einem Wesen ohne Gedächtnis assoziiert werden sollten. Hißmann: Association (s. Anm. 5), 100f. Johann Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Leipzig 1777; Dieterich Tiedemann: Untersuchungen über den Menschen. Leipzig 1777–1778; Karl Franz von Irwing: Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen. Berlin 1777–1785; Johann Christian Lossius: Unterricht der Gesunden Vernunft. Gotha 1777. Gothaische Gelehrte Zeitungen auf das Jahr 1777, S. 195–197. Den Hinweis auf Kästners Rezension verdanke ich Hans-Peter Nowitzki, vgl. dessen Beitrag in diesem Band. Allgemeine deutsche Bibliothek. 31, 2 (1777) , S. 504–508.

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sich um Marcus Herz, als späterer Anhänger Immanuel Kants und Mitglied der Berliner Aufklärungszirkel wohlbekannt. Wie Hißmanns Briefwechsel zu entnehmen ist, stand dieser mit mehreren Vertretern der Berliner Aufklärung in regem Kontakt, so Johann Bernhard Merian, Karl Franz von Irwing und Christian Konrad Wilhelm von Dohm.88 In diesem Kontext ist Herz’ Rezension von besonderem Interesse. Herz äußert sich sehr wohlwollend zum Ansatz des Buches bei der geschichtlichen Darstellung eines vergleichsweise eng begrenzten Teilproblems und bemerkt auch den Gegensatz zu den sonst üblichen Lehrbüchern: Wahrlich eine vortreffliche Idee, die Geschichte eines philosophischen Lehrsatzes zu schreiben, ihm in allen seinen Verwandlungen zu folgen, wie er allmählich von Kopf zu Kopf aus seinem Chaos bis zur größten Vollkommenheit entwickelt ward. Eine ganze philosophische Geschichte auf die Art behandelt, würde mehr Weltweise, selbstdenkende Weltweise bilden, als eine noch so große Menge Universitätskompendien, die sehr oft, unter welcher neuen Gestalt sie auch hervortreten, dennoch im Grunde kein Gedänkchen mehr, als das hundertmal gesagte, wieder sagen.89

Herz stellt sodann fest, dass er mit Hißmanns Darstellung »bis auf einige Kleinigkeiten vollkommen zufrieden« ist.90 Bei diesen vermeintlichen Kleinigkeiten handelt es sich jedoch um zwei wesentliche Kritikpunkte. Zum einen ist Herz im Anschluss an Christian Wolff überzeugt, dass sich alle Assoziationsgesetze aus einem einzigen, übergeordneten Prinzip ableiten lassen, er hält Kontiguität und Ähnlichkeit also für keine genuinen Prinzipien, sondern leitet sie aus einem beiden zugrunde liegenden ab. Zudem ordnet er Kontiguität und Ähnlichkeit weitere Assoziationsprinzipien bei wie namentlich das der Kausalität. Das übergeordnete Prinzip charakterisiert Herz so: »Denn alle laufen sie darauf hinaus, daß eine gegenwärtige Idee, die wir vormals in Verknüpfung mit andern Ideen, d.i. als Theil eines Ganzen, uns vorgestellt haben, dieses Ganze in uns erweckt.«91 Grundlegend besteht Ideenassoziation also darin, dass eine gegebene Idee qua Erinnerung solche Ideen wachruft, die zuvor mit ihr verknüpft gewesen sind, und dies realisiert sich Herz und Wolff zufolge gemäß einer Vielzahl von »Untergesetzen« wie Kontiguität, Kausalität oder Ähnlichkeit, oder weiterer, nicht näher bezeichneter. Herz’ zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die in Abschnitt 4.3. diskutierte These, dass einzelne Empfindungen nie isoliert anzutreffen sind. Er moniert, dass dieser These eine Verwechselung zwischen zusammengesetzten und vermischten Empfindungen zugrunde liegt. In der Assoziation können Vorstellungen Herz zufolge voneinander abgesondert weiterexistieren, ohne sich zu vermischen. Herz richtet sich also eigentlich nicht gegen die Zurückweisung der Möglichkeit isolierter Empfindungen, sondern gegen die vermeintliche Zurückweisung reiner und zugleich mit anderen verbundener. Diese hat Hißmann jedoch, soweit ich sehe, gar nicht bestritten.

88 89 90 91

Sammlung Johann Filtsch im Brukenthal’schen Museum Hermannstadt, HH 1-5 no. 43. Allgemeine deutsche Bibliothek. 31, 2 (1777), S. 504. Ebd. Ebd., S. 507.

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5. Fazit: Assoziationstheorie und Materialismus Die beiden zentralen Anliegen der Assoziationstheorien bestehen zum einen darin, eine Klasse einfacher, atomarer mentaler Zustände (in der Regel Sinnesempfindungen) namhaft zu machen, aus denen alle anderen mentalen Zustände zusammengesetzt sind. Zum anderen sollen komplexere mentale Zustände auf die Zusammensetzung aus einfachen mittels regelgeleiteter Mechanismen zurückgeführt werden. Es findet also eine Reduktion sowohl auf einfache Elemente als auch auf Mechanismen der Zusammensetzung statt. Dieser Ansatz ist jedoch völlig neutral gegenüber der Frage, woraus die assoziierten Elemente eigentlich bestehen. Ein Assoziationstheoretiker kann prinzipiell behaupten, dass sowohl die Elemente als auch die Mechanismen mit physiologischen Vorgängen identisch sind; derartige Behauptungen sind tatsächlich aber selten und finden sich, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang spezifischer Gesetzmäßigkeiten. Er kann diese Frage aber auch aus pragmatischen oder prinzipiellen Gründen für unbeantwortbar halten, oder auch für irrelevant. Es ist entsprechend auch möglich, dass ein Substanzdualist komplexere, als immateriell verstandene mentale Zustände als aus einfachen, immateriellen Zuständen zusammengesetzt auffasst. Gemeinsam ist den Assoziationstheoretikern der Versuch, mittels möglichst weniger und üblicherweise empirischer Prinzipien – in der Regel nicht mehr als zwei bis vier davon – möglichst weit reichende Erklärungsleistungen zu erbringen. Diese Eigentümlichkeit wird besonders deutlich, wenn man sich die im Vergleich geradezu barocke Vielgestaltigkeit des Vermögensapparats in Kants kritischer Philosophie vergegenwärtigt: nicht nur basiert Erkenntnis Kant zufolge auf zwei vollständig heterogenen und eben deshalb unter keinen Umständen aufeinander reduziblen Vermögen, Verstand und Sinnlichkeit. Auch in der Binnendifferenzierung der Vermögen legt Kant großen Wert darauf, dass keine der zwölf Kategorien des reinen Verstandes auf die andere reduziert werden kann – das gerade ist es, was die viel zitierte Vollständigkeit der Kategorientafel ausmacht: dass ihre Anzahl nicht nur nicht erhöht, sondern auch nicht vermindert werden kann.92 Anders als Kant und die auch von diesem zurückgewiesene Hypothese eingeborener Ideen streben Assozationstheorien empirische Erklärungen mentaler Gehalte an. Wie Warren zu Recht feststellt, ergibt sich daraus das zentrale Problem, wie auch solche mentalen Gehalte, deren Bezug zu Stimuli ›von außen‹ nicht so offenkundig ist wie bei Sinneseindrücken – wie Erinnerungen, Einbildungen oder Rationalität – auf dieselben Assoziationsprinzipien zurückgeführt werden können: The problem, then, which engages the attention of both psychologist and philosopher is this: Can the more complicated forms of experience be accounted for wholly in terms of the simpler? Or must we suppose, in addition, the existence of certain innate ideas, universal principles of knowledge, or a priori forms, furnished to the mind independently of experience?93

Der sachlichen Überzeugungskraft assoziationistischer Theorien soll hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden. Hinsichtlich der materialistischen Assoziationstheoretiker hat sich ge92 93

Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Raymund Schmidt. Hamburg 1956, A70/B95– B116. Warren: History (s. Anm. 13), p. 11.

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zeigt, dass gerade sie sich mit physiologischen Erklärungen, Kausal- und Identitätsbehauptungen zurückhalten. Diese Zurückhaltung lässt sich an Priestleys Umarbeitung von Hartleys Theorie beobachten, und sie zeichnet auch Hißmann aus. Generell scheint auf Seiten der Materialisten hier ein höheres Problembewusststein zu bestehen. Zugleich lässt Hißmann auch in der unter vollem Namen erschienene Association der Ideen keinen Zweifel an seiner Präferenz für den Materialismus. So schreibt er: »Wenn man in der heutigen Sprache der Psychologen reden will: so kann man statt des dunkeln Ausdrucks ›Bewegungen der Seele‹ das Deutlichere setzen ›Bewegungen des Seelenorganen‹, oder des Nervensystems.«94 Das »dogmatische Resultat« seiner Geschichte der Assoziationstheorien schließt er dann auch in einer Weise ab, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. In Bezug auf das von ihm ermittelte dritte Assoziationsgesetz, das der physischen Verbindung, heißt es: Dieses Gesetz wird denen Philosophen sich um so vielmehr empfehlen, die die Sprache von den Organen der Leidenschaften, des Verstandes und der Vernunft vertragen können, die es wissen, daß alle unsre Seelenkräfte nichts als Anspannungen und Anstrengungen gewisser Organen des Gehirns, und daß Ideen, Urtheile und Schlüsse nichts, als die Resultate aus diesen Veränderungen und Anstrengungen der inneren Organen sind.95

Zwar handelt es sich hier nur um ein lokales Assoziationsgesetz, das einige relativ spezifische Phänomene erklären soll, doch letztlich steht es für Hißmann außer Frage, dass sich alle mentalen Ereignisse und auch höhere kognitive Leistungen auf organische Prozesse zurückführen lassen.

94 95

Hißmann: Association (s. Anm. 5), S. 14. Ebd., S. 91.

ANDREE HAHMANN

Hißmanns Versuch über die Wahrnehmung

Gleich zu Beginn seiner Abhandlung Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik macht Michael Hißmann unmissverständlich deutlich, gegen wen sich seine Philosophie der Wahrnehmung richtet. Denn endlich, so Hißmann, sei die Schimäre der anima sensitiva aus der Psychologie vertrieben. Stattdessen sei man endlich zur Erkenntnis gelangt, dass dasjenige am Tier, welches für die Empfindungen der äußeren Gegenstände verantwortlich ist, etwas Körperliches sein müsse.1 Die so genannte anima sensitiva wird schon von Thomas von Aquin in seiner Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie der Wahrnehmung als das Mittlere zwischen dem reinen intellektiven Denken und der Versunkenheit des Intellekts in die Materie als Nährvermögen verortet.2 Es handelt sich um den Teil der Seele, der in seiner Tätigkeit zwar auf den Körper angewiesen ist, an den wahrnehmbaren Gegenständen aber die nicht materielle Form unterscheidet und durch den Akt der Wahrnehmung mit dieser identisch wird. Denn die Wahrnehmung wird ganz allgemein von Aristoteles definiert als Aufnahme der Form ohne die Materie.3

1

2 3

Vgl. Michael Hißmann: Psychologische Versuche. Ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt, Leipzig 1777, S. 25: »Seitdem man die Chimäre der Anima sensitiva der Alten aus der Psychologie hinausgeworfen hat, ist man durchgängig darinnen übereingekommen, daß dasjenige am Thier, was die Eindrücke äußerer Gegenstände empfindet, etwas körperliches sey.« Siehe Sancti Thomae Aquinatis: In Aristotelis Librum De Anima Commentarium. Editio Tertia. Cura ac Studio P. F. Angeli M. Pirotta. Taurini et Romae 1948, Lectiones II, l. iv-v, 69–76 (insbesondere 69f.). Siehe Aristoteles: De Anima (rec. W. D. Ross, Oxford 1956), 424 a 17–24: »Καθόλου δὲ περὶ πάσης  αἰσθήσεως δεῖ λαβεῖν ὅτι  ἡ μὲν  αἴσθησίς ἐστι  τὸ δεκτικὸν τῶν  αἰσθητῶν  εἰδῶν ἄνευ  τῆς  ὕλης,  οἷον ὁ κηρὸς τοῦ δακτυλίου ἄνευ τοῦ σιδήρου καὶ τοῦ χρυσοῦ δέχεται τὸ σημεῖον, λαμβάνει δὲ τὸ  χρυσοῦν ἢ τὸ χαλκοῦν σημεῖον, ἀλλʹ οὐχ ᾗ χρυσὸς ἢ χαλκός∙ ὁμοίως δὲ καὶ ἡ αἴσθησις ἑκάστου  ὑπὸ τοῦ ἔχοντος χρῶμα ἢ χυμὸν ἢ ψόφον πάσχει, ἀλλʹ οὐχ ᾗ ἕκαστον ἐκείνων λέγεται, ἀλλʹ ᾗ  τοιονδί,  καὶ  κατὰ  τὸν  λόγον.« (»Man muss allgemein von jeder Wahrnehmung festhalten, dass die

Wahrnehmung das Aufnahmefähige für die wahrnehmbaren Formen ohne die Materie ist, so wie etwa das Wachs das Siegelzeichen des Rings ohne das Eisen oder das Gold aufnimmt. Es nimmt das goldene oder eherne Zeichen auf, aber nicht insofern es Gold oder Erz ist. Ebenso erleidet auch die Wahrnehmung jedes einzelnen Gegenstandes von dem, was Farbe oder Geschmack oder Ton hat, aber nicht insofern jedes als eines von diesen bezeichnet wird, sondern insofern es von bestimmter Beschaffenheit ist und gemäß der Proportion.« Übersetzung nach W. Theiler, korrigiert).

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Andree Hahmann

Das Ziel der hißmannschen Kritik ist also die Wahrnehmungsphilosophie des Aristoteles bzw. seine Deutung durch die scholastischen Ausleger des Mittelalters.4 Damit steht Hißmann selber wiederum in einer philosophischen Tradition, die über Hobbes, Spinoza und Descartes bis zu Epikur und seinen hellenistischen Zeitgenossen zurückreicht, was seinen Niederschlag auch in der verwandten Terminologie und im Ansatz seiner Kritik findet.5 Im Gegensatz zu vielen anderen Kritikern der aristotelischen Tradition zeichnet sich die Position Hißmanns jedoch dadurch aus, dass sich in ihr viele der Konsequenzen unverhohlen zeigen, die sich direkt oder indirekt aus einem strikten Materialismus der Wahrnehmung ergeben. So werden auch in gegenwärtigen Formen des so genannten Naturalismus, der in letzter Konsequenz nur ein gemäßigter Materialismus ist, viele der Probleme, die sich grundsätzlich aus diesem Ansatz ergeben, bis zur Unkenntlichkeit verstellt. Im Mittelpunkt von Hißmanns Philosophie der Wahrnehmung steht die Empfindung. So ist es laut Hißmann allen äußeren Sinnen des Menschen gemeinsam zu empfinden. Gleichwohl erweist sich der Versuch, eine eindeutige Definition von Empfindung aufzustellen, als hoch problematisch. Hißmann macht auf mehrere Probleme aufmerksam, die vor allem das Verhältnis der Empfindung zur Vorstellung betreffen. Nach Hißmann nimmt man allgemein an, »Empfindung sey die Vorstellung der Seele von einer gegenwärtigen Veränderung ihrer selbst«.6 Das ist aber eine problematische Bestimmung. Immerhin hat nicht jede Veränderung in der Seele eine Empfindung zur Folge und Vorstellungen sollen erst durch Empfindungen erzeugt werden. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten wisse jedes Kind, was unter einer Empfindung zu

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Yolton bemerkt, dass die scholastische Species-Theorie der Wahrnehmung seit Beginn des 18. Jahrhunderts zumindest in Großbritannien nur noch eine marginale Rolle eingenommen hat und dann ab Mitte des Jahrhunderts kaum mehr vertreten wurde. Man darf wohl davon ausgehen, dass die Situation in Deutschland recht ähnlich war. Siehe John W. Yolton: Thinking Matter. Materialism in EighteenthCentury Britain. Minneapolis 1983, p. 153. Siehe Thomas Hobbes: Leviathan. In: The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury, now first collected and edited by Sir William Molesworth, Vol. III, Reprint of the Edition 1839, Aalen 1962, I.1, p. 3: »For the cause of vision they say that the thing that is seen sends out in all directions a visible species, and that seeing the object is receiving this visible species into the eye. And for the cause of hearing they say that the thing that is heard sends forth an audible species (that is, an audible aspect, or audible beingseen) which enters the ear and creates hearing. Indeed, for the cause of understanding they say that the thing that is understood sends out intelligible species, that is, an intelligible being-seen, which comes into the understanding and makes us understand!« Eine ähnliche Kritik findet sich bereits in den früher ausgearbeiteten The Elements of Law Natural and Politic, II, 4. Das ist einer der wenigen Punkte, in denen Hobbes mit Descartes übereinstimmt. Vgl. Réne Descartes: Dioptrique. In: Œuvres de Descartes. Ed. par Charles Adam e. Paul Tannery. Paris 1996, VI, p. 85: »Et par ce moyen vostre esprit sera deliuré de toutes ces petites images voltigeantes par l’air, nommées des especes intentionelles, qui travaillent tant l’imagination des Philosophes.« Zum Einfluss des Epikureismus auf die Entwicklung der frühneuzeitlichen Philosophie siehe Catherine Wilson: Epicureanism at the Origins of Modernity, Cambridge 2008. Zum Stoizismus siehe Günter Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Etik und Politik. Berlin, New York 1977; immer noch einschlägig ist Wilhelm Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance and Reformation. Stuttgart 1957. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 26.

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verstehen sei.7 Diesem dunklen Vorverständnis nähert man sich laut Hißmann am besten, indem man den Vorgang der Entstehung einer Empfindung nachspürt. Bei einem wachen und gesunden Menschen bilden sich in einem zuverlässigen Prozess Vorstellungen, die sich als Empfindungen infolge einer Affektion durch einen äußeren Gegenstand einstellen. Das Subjekt wird von den Gegenständen mittels seiner Sinnesorgane affiziert. Die Gegenstände hinterlassen auf diese Weise Eindrücke, die vom Wahrnehmenden empfunden werden.8 Dieses Bild wirft allerdings mehrere Probleme auf: [1.] Erstens ist zu fragen, wer oder was die Eindrücke aufnimmt und wo die Empfindungen als solche zu verorten sind. [2.] Zweitens stellt sich die Frage nach der Art der Übertragung der Empfindungen; [3.] drittens muss nach dem daraus resultierenden Zugang zum wahrgenommenen Gegenstand gefragt werden. [4.] Viertens ist danach zu fragen, wie die einzelnen Empfindungen zu einer einheitlichen Gegenstandsvorstellung vereinigt werden können. [5.] Fünftens stellt sich schließlich die Frage, ob jeder Eindruck empfunden wird oder ob es auch nicht empfundene Eindrücke gibt und wenn ja, wie das zu erklären ist. Diese Fragen sollen als Leitfaden einer Rekonstruktion der von Hißmann herausgearbeiteten materialistischen Philosophie der Wahrnehmung dienen. Die einzelnen Fragen werden der Reihe nach anhand der Ausführungen Hißmanns diskutiert. Daraus ergibt sich schließlich nicht nur ein umfassendes Bild der hißmannschen Wahrnehmungsphilosophie, sondern überdies werden einige grundsätzliche Probleme deutlich, die mit einer materialistischen Wahrnehmungsphilosophie verbunden sind.

1. Der Ort der Empfindung Hißmann hebt hervor, dass die Sinnesorgane aufgrund einer mechanischen Reizung die Eindrücke der äußeren Gegenstände aufnehmen. Direkt verantwortlich für die Empfindsamkeit sind in erster Instanz die Nerven, die sich in den Organen finden. Die medizinische Anatomie stellt entsprechend Einsichten in die Nervenbahnen als Werkzeuge der Empfindsamkeit zur Verfügung.9 Die Nervenbahnen sind mit einem Netz vergleichbar, welches über die gesamte Oberfläche des Körpers gespannt ist. Hißmann betont, dass die Nerven die einzigen Werkzeuge der Empfindung sind. Denn nur Nerven sind empfindsam. Alle anderen körperlichen Bestandteile, wie Knochen, Sehnen und

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Vgl. ebd., S. 27: »So schwer es ist, das Wesen der Empfindung in einer bestimmten Erklärung darzulegen: so weis doch ein jedes mit menschlichen Organen versehenes Geschöpf, ohne alle Beschreibung, was sie ist.« Dieses Modell unterscheidet sich kaum von den bereits im 17. Jahrhundert ausgearbeiteten Theorien der Wahrnehmung. Siehe hierzu Yolton: Thinking Matter (s. Anm. 4), pp. 160ff.; sowie John W. Yolton: Perceptual Acquaintance from Descartes to Reid. Oxford 1984. Zur Bedeutung mechanistischer Theorien der Medizin für die Entwicklung materialistischer Positionen im 18. Jahrhundert, siehe Ann Thomson: Bodies of Thought: Science, Religion, and the Soul in the Early Enlightenment. Oxford 2008, pp. 177f.

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Membranen, sind an sich nicht der Empfindung fähig.10 Überdies scheint es eine notwendige Beziehung zwischen den Nerven und dem Gehirn zu geben. Das wirft aber die Frage nach dem genauen Sitz der Empfindung auf. So wäre nicht ausgeschlossen, dass die Empfindung zwar zum Gehirn übermittelt werden muss, die Empfindung selbst allerdings in den Nerven zu verorten ist. Diese Annahme weist Hißmann zumindest in dieser unqualifizierten Form zurück. Dagegen macht er geltend, dass zur Empfindung eines Eindrucks dessen Weiterleitung an das Gehirn erforderlich ist. Das wird durch unterschiedliche Erfahrungen bezeugt. Die Abtrennung der Nerven kann als Beispiel dafür dienen, dass auch die Empfindung aufgehoben wird. Das lässt nach Hißmann den Schluss zu, dass die Nerven an sich empfindungslos sein müssen, und zwar auch dann, wenn sie als Grund der Empfindsamkeit gelten können. Dasselbe wird auch daran erkennbar, dass sobald eine Nervenbahn entfernt oder vom Gehirn getrennt wird, die Einwirkung nicht mehr empfunden werden kann. Hißmann führt zahlreiche Beweise dafür an, dass es das Gehirn ist und nicht die Nerven sind, wo etwas empfunden wird.11 Jedweder in den Sinnesorganen stattfindende Eindruck muss also zunächst zum Gehirn befördert werden, um überhaupt empfunden zu werden. Bemerkenswert ist jedoch, dass bei den etwas gröberen Sinnen, wie beispielsweise beim Geschmack oder beim Tastsinn, der Ort der Empfindung an der Oberfläche des Körpers genau bestimmt werden kann. Das ist exemplarisch bei Verbrennungen zu beobachten. Dies trifft allerdings nicht für das Gesicht oder das Gehör zu, wo es sehr viel problematischer ist, das Gesehene beziehungsweise die Geräusche zu lokalisieren: Bey allen Eindrücken auf unsre drey gröbern Sinne, besonders auf den Tackt und Geschmack sind wir mehrentheils im Stand, sogar den Ort auf der Oberfläche unsers Körpers genau anzugeben, wo die Eindrücke geschehen, oder wo wir empfinden. Wer einen glühenden Körper anfaßt, empfindet zu seinem Verdruß, wo er ihn angefaßt hat. Selbst unmündige Kinder, die sonst sehr selten anzeigen können, wo ihnen etwas Schmerzen verursacht, sehen ihre Finger weinend an, wenn sie sie gebrannt haben. Ganz anders verhält es sich bei den Eindrücken auf das Gesicht und auf das Gehirn [sic: Gehör?]. Auch erwachsene Personen würden nicht anzugeben wissen, wo sie die Mißtöne eines schrecklichen Geheuls empfinden, wenn man sie nicht schon in ihrer frühesten Kindheit gelehret hätte, die Ohren zu verstopfen.12

Diese und weitere Beobachtungen, die sich einem jeden alltäglich darbieten, verleiten laut Hißmann dazu, die Nerven nicht bloß als Instrumente der Empfindung zu betrachten, sondern selbst zum Sitz der Empfindung zu machen. Diese Annahme wird durch zwei weitere Punkte unterstützt. So weist Hißmann darauf hin, dass die Nerven allesamt aus dem Gehirn und dem Rückenmark entstammen, was wiederum bedeutet, dass sie aus demselben Material wie das Gehirn und das Rückenmark bestehen. Emp10

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Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 33: »Die Nerven, weiße markige Schnüre, die sich über den ganzen Körper in unzähligen feinern und gröbern Zweigen verbreiten, sind die einzigen ausschießenden Werkzeuge der Empfindung. Alle übrigen Theile unsers Körpers, Knochen, Muskeln, Membranen, Bänder etc. sind ganz unempfindlich.« Thomson: Bodies of Thought (s. Anm. 9), p. 205 zufolge hat David Hartley in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die These, dass sich alle Empfindungen auf Vibrationen und Modulationen im Gehirn zurückführen lassen, zur Grundlage seiner Psychologie gemacht. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 44f.

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fände also das Gehirn, so wäre aufgrund der Ähnlichkeit des Gehirns mit den einzelnen Nervensträngen davon auszugehen, dass die Empfindungen zumindest von den Nerven mitempfunden werden.13 Hinzu kommt, dass die Nerven, nachdem man sie vom Gehirn abgetrennt hat, für eine kurze Zeit die Kraft behalten, Zuckungen und Krämpfe in den Muskeln auszulösen. Wenn nun allerdings die Nervenfibern für die Empfindungen mitverantwortlich sind, stellt sich die Frage, wie dieselben Nerven für ganz unterschiedliche Empfindungen zuständig sein können. Wo rührt beispielsweise die Vielzahl an Farbeindrücken her, wenn der äußere Anstoß doch immer auf dieselben Nerven trifft? Als natürliche Antwort hierauf böte sich laut Hißmann an, dass die Eigentümlichkeit der Eindrücke eine Verschiedenheit der Farbvorstellungen bewirkt. Doch das ist keinesfalls sicher. Denkbar wäre nämlich auch, wie etwa Bonnet behauptet, dass es für jede besondere Empfindung eine spezielle Nervenfiber gibt, sodass immer nur diese gereizt wird.14 Hißmann erläutert das am Beispiel des Geruchs. Wenn etwas gerochen wird, ist anzunehmen, dass aus dem Gegenstand selbst verschiedene Teilchen ausfließen, die auf die eigentümlichen Nervenfibern treffen und diese dann reizen. Die Nervenfibern leiten die ihnen entsprechenden Eindrücke zum Gehirn weiter. Für diese Annahme scheinen prima facie zwei Überlegungen zu sprechen: Er [d.i. Bonnet] kan nicht begreifen, wie Gedächtniß und Erinnerung im Menschen seyn können, wenn man nicht für eine jede Art von Eindrücken auf dasselbe empfindende Werkzeug eine eigne Art von Fibern annimmt. Ferner: es lehre eine gemeine Erfahrung, daß eine Saite auf dem Klavier immer nur einen und den nehmlichen Ton hervorbringt, und daß zu einem jeden andern Ton andre Saiten erfordert werden.15

Diese Position ist allerdings mit einem besonderen Problem belastet: »Allein diese Erfahrung scheint mir gerade das Gegentheil zu beweisen.«16 Die Saiten eines Klaviers können auf ganz unterschiedliche Weise angespannt werden. Ihrer Anspannung entsprechend werden sie dann auch mannigfaltige Töne wie Misstöne von sich geben. Die Erklärung von Gedächtnis und Erinnerung wird auf diese Weise geradezu unmöglich gemacht. Daraus schließt Hißmann, dass die Intensität der Eindrücke verschieden sein muss, woraus sich wiederum ergäbe, dass dieselben Nervenfibern eine nahezu unendlich große Varianz an möglichen Empfindungen haben beziehungsweise diese weiterleiten können. Übrig bliebe daher auch in diesem Fall nur, dass die Verschiedenheit der Empfindungen von der Verschiedenheit der Eindrücke herrührt, was wiederum dem Common Sense entgegenkäme. 17

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Ebd., S. 45. Ebd., S. 58: »Die Verschiedenheit der Empfindungen, sagt er [d.i. Bonnet], hängt nicht von der Verschiedenheit der Bewegung gleichartiger Fibern ab: sondern man muß annehmen, daß in einem jeden Sinn so viel verschiedne Fibern vorhanden sind, als es verschiedne Arten von Empfindungen giebt, die durch dasselbe Organ erzeugt werden können.« Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 59. Ebd. Siehe Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 60: »Eben deswegen kan gerade nach den Erfahrungen, auf welche sich Bonnet stüzt, das Gegentheil dargethan werden, indem wir von der Verschiedenheit der Eindrücke in Absicht auf ihre Heftigkeit durch die Erfahrung überzeugt sind.«

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Das ermöglicht Hißmann nun, eine Definition unserer äußeren Sinne zu geben. Bei den äußeren Sinnen handelt es sich demnach um ein Vermögen, äußere Empfindungen mittels Nerven und Organen zu haben.18 So kann sich derselbe Gegenstand auf die unterschiedlichsten Organe in ganz unterschiedlicher Weise auswirken und folglich auch ganz unterschiedliche Eindrücke hervorrufen. Das führt Hißmann wiederum zu einer weiteren Erwägung: Wenn derselbe Gegenstand an den unterschiedlichsten Organen ganz unterschiedliche Eindrücke hervorrufen kann, diese insgesamt jedoch nur Modifikationen, d.h. letztlich Bewegung sind, die durch die Affektion des Gegenstands an unseren Organen bzw. Nerven hervorgerufen werden, so wird nicht ersichtlich, warum der Mensch nur über fünf Sinne verfügen sollte, denen, wie Aristoteles behauptet, eigentümliche Gegenstände zukommen.19 Zunächst gesteht er Aristoteles zu, dass die durch die einzelnen Sinne vermittelten Eindrücke ganz unterschiedlicher Natur sind. »Wer eine Speise selbst kostet, dem ist dabey anders zu Muthe, als wenn er durch Erzählungen vermittelst des Ohrs Eindrücke bekömmt, wie die Speise andern geschmekt hat.«20 Die Art des Eindrucks 18 19

Vgl. ebd., S. 65. Aristoteles unterscheidet die eigentümlichen Objekte der fünf Sinne von den gemeinsamen und akzidentellen Objekte der Wahrnehmung. In der Wahrnehmung der eigentümlichen Objekte kann man sich laut Aristoteles nicht irren, da es sich um Verhältnis der Identität zwischen Wahrnehmenden und Wahrgenommenen handelt. Hierin ist ein Grund zu sehen, warum Aristoteles in der Neuzeit beispielsweise von Hobbes oder Gassendi ein naiver Realismus vorgeworfen worden ist. Vgl. Aristoteles: De Anima (rec. W. D. Ross, Oxford 1956 [1985]), 418 a 7–24: »Λεκτέον δὲ καθʹ ἑκάστην αἴσθησιν  περὶ  τῶν  αἰσθητῶν  πρῶτον.  λέγεται  δὲ  τὸ  αἰσθητὸν  τριχῶς,  ὧν  δύο  μὲν  καθʹ  αὑτά  φαμεν  αἰσθάνεσθαι, τὸ δὲ ἓν κατὰ συμβεβηκός. τῶν δὲ δυοῖν τὸ μὲν ἴδιόν ἐστιν ἑκάστης αἰσθήσεως, τὸ  δὲ κοινὸν πασῶν. λέγω δʹ ἴδιον μὲν ὃ μὴ ἐνδέχεται ἑτέρᾳ αἰσθήσει αἰσθάνεσθαι, καὶ περὶ ὃ μὴ  ἐνδέχεται ἀπατηθῆναι, οἷον ὄψις χρώματος καὶ ἀκοὴ ψόφου καὶ γεῦσις χυμοῦ, ἡ δʹ ἁφὴ πλείους  [μὲν]  ἔχει  διαφοράς,  ἀλλʹ  ἑκάστη  γε  κρίνει  περὶ  τούτων,  καὶ  οὐκ  ἀπατᾶται  ὅτι  χρῶμα  οὐδʹ  ὅτι  ψόφος, ἀλλὰ τί τὸ κεχρωσμένον ἢ ποῦ, ἢ τί τὸ ψοφοῦν ἢ ποῦ. τὰ μὲν οὖν τοιαῦτα λέγεται ἴδια  ἑκάστης,  κοινὰ  δὲ  κίνησις,  ἠρεμία,  ἀριθμός,  σχῆμα,  μέγεθος∙  τὰ  γὰρ  τοιαῦτα  οὐδεμιᾶς  ἐστὶν  ἴδια, ἀλλὰ κοινὰ πάσαις∙ καὶ γὰρ ἁφῇ κίνησίς τίς ἐστιν αἰσθητὴ καὶ ὄψει. κατὰ συμβεβηκὸς δὲ  λέγεται αἰσθητόν, οἷον εἰ τὸ λευκὸν εἴη Διάρους υἱός∙ κατὰ συμβεβηκὸς γὰρ τούτου αἰσθάνεται,  ὅτι  τῷ  λευκῷ  συμβέβηκε  τοῦτο,  οὗ  αἰσθάνεται∙  διὸ  καὶ  οὐδὲν  πάσχει  ᾗ  τοιοῦτον  ὑπὸ  τοῦ  αἰσθητοῦ.« (»Man muss bei jedem Wahrnehmungssinn zuerst über die wahrnehmbaren Objekte spre-

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chen. Das Wahrnehmbare wird so in drei Bedeutungen genannt; in zwei von ihnen sagen wir, dass es an sich wahrgenommen wird, in einer, dass es in einem akzidentellen Sinn wahrgenommen wird. Von den zwei ersten ist das eine jedem Wahrnehmungssinn eigentümlich, das andere allen gemeinsam. Das eigentümliche nenne ich das, was durch keinen anderen Sinn wahrgenommen werden kann und worüber keine Täuschung möglich ist, wie der Gesichtssinn von der Farbe, das Gehör vom Schall und der Geschmack vom Saft. Der Tastsinn hat allerdings mehrere Unterschiede. Aber jeder Sinn unterscheidet die ihm eigentümlichen Objekte und täuscht sich hierüber nicht, dass es z.B. Farbe oder Ton ist, sondern nur darüber, was der Träger der Farbe ist oder wo, oder was das Klingende ist oder wo. Solche Objekte heißen also dem Sinn eigentümliche, gemeinsame aber sind Bewegung, Ruhe, Zahl, Gestalt, Größe. Solche Objekte sind nämlich keinem einzelnen Sinn eigentümlich, sondern allen gemeinsam; denn eine Bewegung ist sowohl durch den Tastsinn als auch durch das Gesicht wahrnehmbar. Vom akzidentell Wahrnehmbaren aber spricht man, wenn z. B. das Weiße der Sohn des Diares wäre; denn dieses wird akzidentell wahrgenommen, weil dem Weißen dies akzidentell zukommt, von wem es wahrgenommen wird. Daher erleidet auch der Sinn nichts vom Wahrnehmbaren dieser Art.« Übersetzung nach W. Theiler, korrigiert). Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 66.

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scheint also abhängig von der Vermittlung des Organs zu sein. Gegen die scholastischaristotelische Tradition behauptet Hißmann aber, dass der Mensch neben den fünf bekannten Sinnen durchaus weitere Sinne haben kann. Beispiele hierfür sollen Hunger und Durst sein: Man weis, daß der Magen diejenige Werkstätte ist, in welcher unsre Nahrungsmittel verarbeitet werden müssen, ehe sie die zu unserer Erhaltung nothwendigen Säfte hergeben können. Eben dieser Magen ist das Organ des Hungers, das heißt, derjenigen Empfindung, die durch die Nerven, die die Falten des Magens durchweben, dem Gehirn zugeführt werden. [...] Es hungert uns also im Magen, nicht im Ohr, oder im Aug. Es ist ein eignes Werkzeug zu einer ganz eignen Empfindung da.21

Als Zeugen für seine Position ruft Hißmann die Stoiker auf, da auch diese der Ansicht sind, dass alle Empfindungen Modifikationen desselben Sinnes sind und nicht als das Ergebnis einer Tätigkeit ganz unterschiedlicher Sinne gelten können, wie Aristoteles und mit ihm das scholastische Mittelalter behaupten.22 Als weiteres offenkundiges Indiz gegen diese Ansicht spricht laut Hißmann, dass derselbe Wahrnehmungsgegenstand auch mit den anderen Sinnesorganen wahrgenommen werden kann. So erfahren wir beispielsweise den Druck am Ohr, der durch ein übermäßig lautes Geräusch verursacht wird. Aristoteles selber weist in diesem Zusammenhang auf das Beispiel des Donnergrollens hin, welches das Holz durch die übermäßige Bewegung der Luft spaltet.23 Ebenso werden ganz ungleichartige Empfindungen durch dieselben Organe beziehungsweise Sinneswerkzeuge erfahren. Ferner unterscheiden sich auch die durch dasselbe Organ empfangenen Empfindungen mindestens genauso sehr wie die durch unterschiedliche Organe aufgenommenen Eindrücke.24 So kann etwa der Geschmack vom Geruch affiziert werden. Wem ist es etwa noch nicht geschehen, fragt Hißmann, dass ihm der Geruch und der Anblick von Erbrochenem Übelkeit bereitet hat? Offensichtlich kann also auch ein und derselbe Gegenstand ganz unterschiedliche Sinnesorgane auf gleiche Weise affizieren. Wie erklärt Hißmann das? 21 22

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Ebd., S. 67. Vgl. ebd., S. 68. Zur stoische Theorie der Wahrnehmung siehe Havard Lokke: The Stoics on Sence Perception. In: Simo Knuuttila, Pekka Kärkkäinen (ed.): Theories of Perception in Medieval and Early Modern Philosophy. Dordrecht 2008, pp. 35–46; Heinz Gerd Ingenkamp: Zur stoischen Lehre vom Sehen. In: Rheinisches Museum für Philologie 114 (1971), S. 240–246. Siehe Aristoteles, De Anima (rec. W. D. Ross, Oxford 1956 [1985]), 424b 9–12: »ἅμα  δὲ  δῆλον  καὶ  οὕτως∙ οὔτε γὰρ φῶς καὶ σκότος οὔτε ψόφος οὔτε ὀσμὴ οὐδὲν ποιεῖ τὰ σώματα, ἀλλʹ ἐν οἷς ἐστίν,  οἷον ἀὴρ ὁ μετὰ βροντῆς διίστησι τὸ ξύλον.« (»Dies wird zugleich auch aus Folgendem klar: Weder

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Licht und Dunkelheit noch Ton und Geruch bewirken etwas in Bezug auf die Körper, sondern ihre Träger, an denen sie sich finden: z.B. die Luft in Verbindung mit dem Donner spaltet das Holz.« Übersetzung nach W. Theiler, korrigiert). Das Beispiel wird von Aristoteles dazu verwendet, um die Unterscheidung zwischen materiellem Träger und Form hervorzuheben. Der Träger des Tons, d.h. die bewegte Materie, kann durch ein Übermaß die bestimmte Organisation des Organs auflösen. Der laute Knall wird daher das Trommelfell nicht als Ton zerstören, sondern insofern es sich um eine heftig bewegte Materie handelt. Was Hißmann hier beschreibt, wird von Aristoteles als akzidentelle Wahrnehmung behandelt. Die Süße des Honigs kann natürlich bloß geschmeckt werden, auch wenn man beim gold-gelben Anblick desselben die Süße bereits auf der Zunge zu schmecken meint. Die hißmannsche Analyse wirft von einem aristotelischen Standpunkt aus betrachtet das Medium der Wahrnehmung mit dem eigentlichen Gegenstand der Wahrnehmung (der Form als dem Organisationsprinzip der Materie) durcheinander. Zu Aristoteles Philosophie der Wahrnehmung vgl. Wolfgang Bernard: Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles. Baden-Baden 1988. Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 71f.

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Hißmann zufolge berühren dieselben Teilchen, die auch das Riechorgan in Bewegung versetzen, ebenso die Zunge und rufen auch dort eine Bewegung hervor. In diesem Zusammenhang streicht Hißmann den Sonderstatus des Tastsinns heraus. Der Tastsinn, so sagt man, sei das Vermögen zur Aufnahme von druckartigen Berührungen, die dann bis ins Gehirn fortgeführt werden. Da wir es in allen Fällen von Sinneswahrnehmung bloß mit druckartigen Berührungen zu tun haben, so scheinen auch die anderen Sinne nur Erweiterungen des Tastsinns zu sein.25 Auch das Gesicht ist freilich nur ein Vermögen zur Aufnahme druckartiger Berührungen, die durch die Lichtstrahlen verursacht und dann weiter bis ins Gehirn geleitet werden.26 Das Gleiche gilt für das Gehör, das Hißmann zufolge nichts anderes als ein Eindruck oder eine Berührung eines im Ohr aufgespannten Häutchens ist.27 Die Frage danach, ob es nur fünf Sinnesorgane mit den ihnen entsprechenden Gegenständen gibt, kann laut Hißmann daher nur endgültig geklärt werden, indem man sich Klarheit über die Bestandteile und die Zusammensetzung der Nerven verschafft. Es ist nämlich erforderlich, so tief in die Bestandteile und den Aufbau der Nervenfasern selbst einzudringen, dass man auch ihre wesentliche Verschiedenheit dartun kann. Die Verschiedenheit der Empfindungen zwischen den einzelnen Sinnesorganen schöpft sich freilich aus der unterschiedlichen Lage der Nerven. Eine endgültige Klärung dieser Frage ist nach Hißmann mit den zu seiner Zeit beschränkten Mitteln der Wissenschaft aber leider nicht zu leisten.28 Ich fasse zusammen: Für die Erwerbung der Empfindung sind nichts weiter als Nerven erforderlich, die wie ein Netz den gesamten Körper umspannen, und ein Gehirn, das die Eindrüc-ke aufnimmt. Die Nerven enden in den einzelnen Sinnesorganen, die wiederum von unterschiedlichen Materien affiziert werden. Die einwirkenden Materien unterscheiden sich im Grad ihrer Feinheit. Die Materie, die auf das Gesicht einwirkt, ist zum Beispiel sehr viel feiner als diejenige, die unseren Geschmack affiziert.29 Die Einwirkung der Materie auf unsere Sinne bewirkt die Herausbildung einer Vorstellung des uns affizierenden Gegenstandes. Diese Vorstellungen bleiben über einen gewissen Zeitraum in den Sinnesorganen, und zwar auch dann, wenn die Gegenstände selbst längst verschwunden sind. Mit seinen Ausführungen glaubt Hißmann die notwendige Bedingung für die Erwerbung einer Empfindung herausgestellt zu haben; gleichwohl ist im Detail noch ungeklärt, wie die Weiterleitung der erworbenen Eindrücke zum Gehirn geschieht. So ist zum einen fraglich, von welcher Beschaffenheit die Nerven sein müssen, damit die Eindrücke unverfälscht bis ins Gehirn weitergeleitet werden können und zum anderen ist zu klären, was Hißmann unter einer Vorstellung versteht.

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Siehe ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 98.

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2. Das Innere der Nervenbahnen Das führt zur Beantwortung der zweiten zu Beginn aufgezählten Frage. Hißmann diskutiert in diesem Zusammenhang verschiedene Ansätze. Das Innere der Nervenbahnen ist, wie gesagt, bisher noch nicht eindeutig von der Wissenschaft identifiziert worden. Das Wesen der Nerven konnte bislang nicht sicher bestimmt werden, weil sich ihre Zusammensetzung nicht bis in die letzten Bestandteile verfolgen ließ – ein Schicksal, das die Nerven mit allen anderen Substanzen teilen, von denen man laut Hißmann ebenfalls das Innere bisher nicht erkannt hat und vielleicht auch nie wird erkennen können. Trotzdem sind im Hinblick auf den mechanischen Ablauf der Übermittlung der Eindrücke unterschiedliche Möglichkeiten vorstellbar. So wäre es zum einen denkbar, dass es sich um eine Art Nervensaft handelt. In diesem Fall hätte man es mit einem äußerst feinen Stoff zu tun, der selbst die geringsten Erschütterungen weiterzuleiten im Stande wäre. Eine andere Möglichkeit wäre indes, dass es sich bei den Nerven um feste, elastische Körper handelt. Diese würden die Eindrücke aufgrund ihrer eigenen Elastizität ins Gehirn transportieren. Sie wären den gespannten Saiten eines Instruments vergleichbar, die beim leichtesten Eindruck ins Zittern geraten und die Eindrücke als Bewegungen bis ins Gehirn weiterleiten könnten. Als einen Haupteinwand gegen diese letzte Variante macht Hißmann allerdings geltend, dass sich keine elastischen Eigenschaften an den Nerven selbst wahrnehmen lassen: Sie sind ganz weich, und Breyartig. Sie werden, wenn sie durchgeschnitten werden, nicht kürzer, wie die gespannten Saiten bey einem Durchschnitt kürzer werden. An den durchgeschnittenen Enden geht weiter keine Veränderung vor, außer, daß ein wenig Mark hervorquillet. Kurz man nimmt gar keine Eigenschaft eines elastischen Körpers an ihnen wahr.30

Ein anderer Punkt ist, dass alle Eindrücke sukzessive geschehen, und dabei auch, wie bereits angedeutet wurde, nach ihrer Einwirkung eine Art fortdauernden Eindruck hinterlassen. Folglich wären die Eindrücke über einen gewissen Zeitraum hinweg wirksam. Mit dieser Beobachtung kann die zweite Theorie jedoch besser als die erste umgehen, da man sich nur schlecht vorstellen kann, wie ein Nervensaft bestimmte Eindrücke, nachdem der Eindruck bereits erfolgt worden ist, noch beibehält, wohingegen ein Nachzittern durchaus vorstellbar ist.31 Das führt wiederum dazu, dass auch die Vorstellung entgegen der sonst üblichen Annahme nicht als Bild des vorgestellten Gegenstandes vor einem inneren Auge zu verstehen ist, da dies mit der körperlichen Affektion und Bestimmung der Wahrnehmungsorgane beziehungsweise der Nerven nicht in Einklang gebracht werden kann. Das wesentliche Merkmal einer Vorstellung besteht laut Hißmann darin, dass sich durch sie etwas anderes zu erkennen gibt; die Vorstellung hat also einen repräsentationalen Gehalt, d.h. sie repräsentiert etwas als ein anderes.32 Wie ist das zu verstehen? 30 31 32

Ebd., S. 50. Weitere Theorien zur Beschaffenheit der Nerven, die von den zeitgenössischen Materialisten diskutiert worden sind, thematisiert Thomson: Bodies of Thought (s. Anm. 9), p. 206. Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 51–54. In Hißmanns Worten ausgedrückt (ebd., S. 55): »Richtiger ist es, wenn man sagt, dann stellt eine Sache die andre vor, wenn man aus ihr die lezten [sic!] erkennen kan. Diese Erklärung wird vielleicht auf alle Arten von Vorstellungen angewandt werden können.«

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3. Der Gegenstand der Vorstellung Wir kommen damit zur dritten angeführten Frage: Eine direkte Folge aus der Art der Übertragung ist freilich, dass zum Gehirn keine Bilder übermittelt werden, sondern bloß Bewegungen. Die Bewegungen hinterlassen wiederum Spuren. Unter einer Vorstellung versteht Hißmann nichts anderes als eben diese Spuren. Das hat allerdings ein gravierendes Problem zur Folge, denn »nicht immer sind die äußern Gegenstände, deren Eindrücke wir für die Ursachen unserer äußern Empfindungen halten, wirklich die unmittelbaren Ursachen derselben«.33 Unter den oben benannten Voraussetzungen haben wir keinen direkten Zugriff auf die Gegenstände mittels unserer Sinneswahrnehmungen. Wir sehen nach Hißmann nicht das Gemälde an der Wand, so wie es in Wirklichkeit ist, sondern nur die Lichtstrahlen beziehungsweise die Sonne, die auf der Netzhaut das Bild des Gemäldes erzeugt. Daraus folgt wiederum, dass das, was wir wahrnehmen, nicht der Gegenstand selbst, sondern bloß die Bewegung ist, die dieser mittels unserer Sinnesorgane als Eindruck in unserem Gehirn hinterlässt.34 Nicht die Gegenstände, sondern nur die Bewegungen nehmen wir direkt wahr. Indem Hißmann die Bewegungen mit der Vorstellung identifiziert, folgt also, dass die Bewegungen wiederum die Gegenstände repräsentieren. Eine weitere Konsequenz dieser Konzeption ist, dass uns die Dinge an sich unbekannt bleiben, da wir keinen unvermittelten Zugriff auf diese haben können.35 Niemand empfindet den Gegenstand selbst, sondern bloß die Bewegung, die der Gegenstand vermittelt über die Sinnesorgane beziehungsweise Nerven als Eindrücke in unserem Gehirn hinterlässt. Hißmann gesteht aus diesem Grund ein, dass es sich bei dem Gegenstand an sich um etwas anderes handeln muss, was folglich durch die Wahrnehmung nicht direkt erfasst werden kann. Ob und wie wir das Ding an sich erkennen können, übersteigt die Wahrnehmung und soll daher an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden. Anmerken möchte ich jedoch zweierlei: Mit Blick auf die Tradition, in der Hißmann steht, ist klar, dass sich hier ein Problem zeigt, welches sich direkt aus jeder Art von Repräsentationalismus ergibt. Da uns kein unvermittelter Zugang zur Außenwelt gegeben ist, stellt sich sogleich die Frage nach der Zuverlässigkeit und dem epistemischen Status der Vorstellung. Diese Frage ist in der nacharistotelischen Epoche als die Frage nach dem Kriterium diskutiert worden.36

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Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 32. Diese Bestimmung hat eine frappierende Ähnlichkeit mit der stoischen Definition einer Vorstellung. Siehe Stoicorum Veterum Fragmenta. Collegit Ioannes ab Arnim. Berlin 1923, II [Chrysippi Fragmenta Logica et Physica] (Fr. 53-70), S. 21–26. Diese direkte Folge des Repräsentationalismus wurde in der Antike von den Skeptikern zu einer Grundlage ihrer Argumentation gemacht. Siehe etwa Sextus Empiricus: Opera I: Pyrrhoneiae Hypotyposeis. Hg. von Hermannus Mutschmann u. Johannes Mau (rev.). Leipzig 1958, I, S. 124ff. Diese Konsequenz wurde in der Neuzeit mit dem Wiedererstarken der pyrrhonischen Skepsis erneut durch Autoren wie Mersenne und Gassendi unterstrichen. Siehe beispielsweise Cicero: Academica, I. 40f.; II. 22; 30 f.; 37 f.; 57; 77 f.; 83–85 (Cicero in twenty-eight volumes XIX, De Natura Deorum, Academica. With an English Translation by Herbert Rackham. Cambridge, London 1933) sowie Sextus Empiricus: Pyrrhoneiae Hypotyposeis (s. Anm. 35), II, S. 14ff.

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4. Die Einheit des Vorstellungsgegenstandes Vorstellungen, Ideen usw. werden im Gehirn gebildet. Denn erst dort fließen die einzelnen Nervenbahnen zusammen und werden vereinigt.37 Aber wie findet diese Vereinigung statt? Wie ist es möglich, dass die Empfindungen, die von den unterschiedlichen Sinnesorganen ausgehen, im Gehirn zu einer Einheit zusammengeführt werden? Kann das von einem ausgedehnten Körper geleistet werden oder muss es sich um eine einfache Substanz handeln, da der Gegenstand als einer vorgestellt wird, auch dann, wenn ganz unterschiedliche Sinnesorgane an der Wahrnehmung des Gegenstandes beteiligt sind?38 Hißmann wirft diese Frage zwar selbst auf, bekennt aber zugleich, dass es ihm unter dem gegenwärtigen Erkenntnisstand der Wissenschaft unmöglich sein wird, eine zufriedenstellende Antwort zu finden. Eine endgültige Beantwortung wird auch hier auf den Fortschritt der Wissenschaft angewiesen bleiben, die zu Hißmanns Zeiten noch nicht so weit in die Geheimnisse der Mechanik unseres Gehirns vorgedrungen ist. Gleichwohl wendet Hißmann sich gegen jene, die behaupten, dass man im Gehirn einen bestimmten Punkt oder eine Stelle finden muss, in der alle Nervenbahnen zusammenkommen. »Hier in diesem unbeschreiblich kleinen Mittelpünktchen des Nervengewebes soll sie, gleich einer Spinne, alles, was dasselbe in seinem Umfang berührt, wahrnehmen.«39 Diese Vorstellung weist Hißmann allerdings mit Gründen zurück, die sich vermeintlich auf die Erfahrung stützen. Denn der Augenschein soll gerade das Gegenteil lehren. Demnach muss das ganze Gehirn als Sammelplatz aller Nerven angesehen werden. Denn das Gehirn und kein mysteriöser Punkt in ihm gilt Hißmann als notwendige Bedingung für Empfindsamkeit und Bewusstsein. Man gewinnt übrigens durch die Erdichtung eines Pünktchens im Gehirn, wo sich die Anfänge der ungeheuren Mengen von Nerven durchkreuzte, oder vereinigte, gar nichts: denn dieses Pünktchen bleibt doch gegen ein einfaches Ding, das gar keine Ausdehnung hat, dergleichen unsre Seele seyn soll, ein ungeheurer Körper. Man muß daher nothwendig das ganze Gehirn für das Sensorium Commune halten.40

Traditionell wird dieser Punkt als einfache Substanz verstanden, die als geistige Einheit die unsterbliche Seele des Menschen ausmacht. Hißmann bringt jedoch in Anschlag, dass wenn die Philosophie ihre Untersuchung der Seele bloß auf die Wirkungen und Kräfte einfacher Substanzen beschränken würde, so wäre die Sensibilität kein Teil der Psychologie, sondern fiele unter die Physiologie.41 37 38

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41

Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 35. Zu dem hiermit verbundenen Problem der personalen Identität, welches sich den Materialisten in aller Schärfe stellt, siehe Udo Thiel: The Early Modern Subject. Self-Consciousness and Personal Identity from Descartes to Hume. Oxford 2011, pp. 434f. Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 41. Das Bild der Spinne findet sich beispielsweise bei den Stoikern, die das menschliche Führungsvermögen mit einer Spinne vergleichen. Ebd., S. 41. Hißmann bezieht sich hier vermutlich auf die von Boerhaave bis ca. 1730 vertretene Theorie des Sensorium Commune, welches sich in einem Punkt im Gehirn befinden soll. Davon nimmt Boerhaave später selbst Abstand und macht stattdessen ganz unterschiedliche Regionen im Gehirn hierfür verantwortlich. Vgl. Thomson: Bodies of Thought (s. Anm. 9), p. 178. Vgl. ebd., S. 26.

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Andree Hahmann

Auch hier streicht Hißmann ein grundsätzliches Problem heraus: Denn zum einen scheint es notwendig zu sein, eine einfache Substanz anzunehmen, da man das Problem der Einheit des Vorstellungsgegenstandes nur mit ihr in den Griff zu bekommen scheint, zum anderen bleibt die Verbindung der einfachen Substanz mit dem Körper fraglich. Eine solche Verbindung muss aber vorausgesetzt werden, wenn man unter Wahrnehmung eine Empfindung, d.h. den Eindruck eines äußeren Gegenstandes, verstehen will. Hißmann gibt zu Recht zu bedenken, dass es folglich problematisch ist, einerseits eine einfache denkende Substanz anzunehmen und diese mit der Seele zu identifizieren, dieser aber andererseits eine materielle, empfindende Substanz entgegen zu stellen, die wiederum für die Empfindungen, die ihr durch äußere Körper bereitet werden, zuständig sein soll. Dagegen betont Hißmann die besondere Rolle, die das Gehirn allem Anschein nach in der Verarbeitung der Eindrücke und der Speicherung der Vorstellungen usw. einnimmt. Dies gibt ihm allerdings einen Anlass zu Spekulationen, beispielsweise über den Zusammenhang von Gehirngröße beziehungsweise seiner Masse und den Fähigkeiten des Lebewesens.42 In Erinnerung an die von Descartes vertretene These wäre nicht ausgeschlossen, dass manche Tiere, bei denen sich kein Gehirn findet, auf rein mechanische Weise funktionieren, also ganz so, wie Descartes es für alle Tiere behauptet hat.43 Auch wenn sich das nicht mit Gewissheit entscheiden lässt, steht es nach Hißmann doch fest, dass nirgends mit Sicherheit eine Seele zu finden ist, wo nicht zugleich die materielle Organisation eines Gehirns anzutreffen ist. Man kann feststellen, dass es dort, wo der Kopf vom Rumpf getrennt worden ist und damit die Verbindung des Gehirns mit den Nerven unterbrochen wurde, noch zu Bewegungen der Glieder kommen kann. Die Ursache hierfür scheint darin zu liegen, dass das Rückenmark für einen kurzen Zeitraum die lebensnotwendigen Funktionen übernehmen kann.44 Entgegen des oben herausgestellten Ergebnisses würde damit das Rückenmark zumindest eine Zeit lang allein zur Empfindung fähig sein. Das liegt Hißmann zufolge daran, dass das Rückenmark die Verlängerung des Gehirns ist. Dessen ungeachtet unterstreicht er, dass einzig das Gehirn als Prinzip der Empfindsamkeit anzusehen ist.

5. Das Phänomen der Aufmerksamkeit als philosophisches Problem Mit großem Scharfsinn deckt Hißmann ein besonderes Problem auf: Es fragt sich nämlich, warum wir, wenn wir doch die ganze Zeit über Eindrücke von den Gegenständen erfahren, d.h., kontinuierlich von diesen affiziert werden und diese Eindrücke mittels unserer Sinnesorgane über die Nervenbahnen zum Gehirn geleitet werden, nicht alle diese Eindrücke auch empfinden.45 Hißmann erläutert diesen Gedanken mit zahlreichen aus der Erfahrung genommenen 42 43 44 45

Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 36–38. Vgl. ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 40. Zum Problem der Aufmerksamkeit bei Aristoteles siehe Bernard: Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung (s. Anm. 19), S. 140–146. Zur Diskussion des Problems im Mittelalter siehe Robert Pasnau: Theories of Cognition in the Later Middle Ages. Philadelphia 1997, pp. 125–158. Leijenhorst thematisiert die Lösungsansätze in der frühen Neuzeit: Cees Leijenhorst: Attention Please! Theories of Selective Attention in

Hißmanns Versuch über die Wahrnehmung

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Beispielen. So nimmt etwa der Schamane, der sich in Trance befindet oder der meditierende Mönch die Gegebenheiten der Außenwelt nicht mehr wahr, und das, obwohl sie wie zu allen anderen Zeitpunkten auch kontinuierlich von Gegenständen über die unterschiedlichen Sinnesorgane affiziert werden. Man braucht nicht nur an jene extremen Beispiele zu denken; jedermann kann an sich selbst beobachten, dass die Konzentration auf einen geistigen Gegenstand so weit gehen kann, dass nichts weiter aus unserer Umwelt empfunden wird.46 Aber auch frisch Verliebte oder alle, die von anderem abgelenkt werden, empfinden weniger, genauso wie auch die Zerstreuung schließlich sogar soweit gehen kann, dass es zu einem vollständigen Verlust des Bewusstseins äußerer Empfindungen kommt. In allen diesen Fällen empfinden wachende Personen die Eindrücke der äußern Objekte nicht. Demohngeachtet ist es gewis, daß alle gesunde, wachende Menschen sich Empfindungen verschaffen können, wenn sie nur wollen, weil alle gesunde Menschen die Instrumente der Empfindung, die Nerven, haben, die alle Augenblicke von äußern Gegenständen können gerührt werden.47

Leider geht Hißmann auf diese Frage sachlich nicht weiter ein, sondern nimmt sie nur zum Anlass zu einer kruden Spekulation über den Zusammenhang von Kultur, materieller Beschaffenheit der Sinnesorgane und der daraus resultierenden Aufmerksamkeit, die manche Völker geistigen Gegenständen schenken können. So könnten die Augen der Wilden zwar die Fußstapfen von Tieren in der Steppe entdecken, weshalb sie auch mühelos deren Spuren verfolgen können, ja die Tiere sogar auf eine Viertelmeile hin riechen und daher selbst wie Raubtiere ihrer Beute auflauern können, wozu ein zivilisierter Franzose nach Hißmann niemals fähig wäre. Zugleich sind die Wilden aber unfähig, ihren Geist auf rein geistige Gegenstände zu lenken und sich dieser konzentriert anzunehmen. Ihre Unfähigkeit in dieser Sache rührt gerade aus der außerordentlichen Fähigkeiten der Sinnesorgane, da sie ihnen zu viele und lebhafte Empfindungen verschaffen, die den Geist der Wilden von der Schönheit intelligibler Gegenstände ablenken und es ihnen daher unmöglich machen, sich den Künsten und anderen geistigen Gegenständen zuzuwenden.48 Andererseits gilt für die Beschäftigung mit den geistigen Gegenständen auch, dass sich die Nerven mit zunehmender Kultur weiter ausdifferenzieren, wodurch ihre Empfindsamkeit erhöht wird.49 Ungeklärt bleibt allerdings, wie der Geist eine Auswahl zwischen den Eindrücken treffen kann, die ihm von den Sinnesorganen zugeführt werden; hier wäre zu fragen, ob dies überhaupt von einer materialistischen Theorie der Wahrnehmung geleistet werden kann.

46 47 48

49

Late Aristotelian and Early Modern Philosophy. In: Paul J. J. M. Bakker and Johannes M.M.H. Thijssen (ed.): Mind, Cognition and Representation. The Tradition of the Commentaries on Aristotle’s De Anima. Aldershot 2004, pp. 205–230. Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 1), S. 28. Ebd., S. 32. Siehe ebd., S. 81: »Es ist kein Zweifel, daß rohe Völker unter andern auch deswegen keine Produkte einer tiefen Meditation liefern würden, so lange sie lebhafter empfinden als wir, wenn sie übrigens auch alle Anstalten zur Kultur hätten, die wir haben. Sie könnten ohnmöglich meditiren, und sich mit den Vorstellungen abwesender Gegenstände beschäftigen, weil sie bey den starken Eindrücken auf ihre empfindlichere Sinnen ganz auf die Dinge außer sich hingezogen, angeheftet, und ausgebreitet seyn müssen. Aber durch dieses Leben der Seele außer sich wird ihre Zurückziehung in sich selbst, und ihre Beschäftigung mit den Gegenständen der Meditation beynahe ganz unmöglich gemacht.« Vgl. ebd., S. 85ff.

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6. Ergebnis Hißmann unternimmt den Versuch, eine materialistische Philosophie der Wahrnehmung auszuarbeiten, die die Forschungen der Physiologie und der Biologie seiner Zeit berücksichtigt. Im Ergebnis gibt Hißmann in vielen Punkten den heutigen Common sense zur Wahrnehmung wieder. Abgesehen davon, dass Hißmann die philosophische und naturwissenschaftliche Entwicklung mit seinem Ansatz antizipiert zu haben scheint, kann ich allerdings nicht ermessen, wie weit sein tatsächlicher Einfluss gereicht haben mag – vermutlich war dieser jedoch recht begrenzt. Sein größtes Verdienst kann wohl darin gesehen werden, dass er die Probleme erkannt und auch benannt hat, die allem Anschein nach grundsätzlich mit einer materialistischen Position in der Wahrnehmung verbunden sind. So bleibt fraglich, wie in einem ausgedehnten Körper die Einheit des Gegenstandes der Wahrnehmung zustande kommen soll. Oder anders formuliert: Wie werden die von den unterschiedlichen Sinnesorganen aufgenommenen Eindrücke einem einheitlichen Gegenstand zugeschrieben? Kann dies nur unter der Zugrundelegung einer einfachen Substanz geschehen? Dies führt unmittelbar zu einem zweiten Problem, welches unter den Zeitgenossen Hißmanns heftig diskutiert wurde:50 Wenn man eine einfache Substanz annimmt, wie kann diese als etwas notwendig Geistiges von den äußeren Gegenständen affiziert werden, d.h., in welchem Verhältnis steht sie zur Welt und insbesondere zu ihrem Körper? Schließlich ist das Problem der Aufmerksamkeit zu nennen. Wenn die Wahrnehmung nämlich als passive Aufnahme von Eindrücken beschrieben wird, wie erklärt es sich, dass nicht alle Eindrücke gleichermaßen wahrgenommen werden, da wir doch von allen Gegenständen auf gleiche Weise affiziert werden? Auf diese Fragen kann Hißmann keine zufriedenstellenden Antworten anbieten. Zu seiner Entschuldigung verweist er allzu oft auf den Stand der Wissenschaft, die gerade auf diesem Gebiet noch in ihren Kinderschuhen steckt. Hißmann vertröstet den Leser mit der Hoffnung auf künftige Erkenntnisse und eröffnet die Aussicht, dass kommende Generationen mit fortschrittlicheren wissenschaftlichen Gerätschaften eine Lösung zu diesen Problemen finden werden. Leider ist dieses Versprechen bislang nicht eingelöst worden und viele der oben genannten Fragen stellen moderne materialistische oder naturalistische Positionen vor dieselben Probleme, die ihr Vorläufer Hißmann bereits benannt hat.

50

Siehe Andree Hahmann: Kritische Metaphysik der Substanz. Kant im Widerspruch zu Leibniz. Berlin, New York 2009, S. 11–79; sowie Andree Hahmann: Die Reaktion der spekulativen Weltweisheit: Kant und die Kritik an den einfachen Substanzen. In: Kant-Studien 100.4 (2009), S. 454–475 (mit weiteren Literaturangaben).

MARTIN SCHMEISSER

»Der eigentliche Materialist […] weiß von keiner unkörperlichen gehirnbewegenden Kraft.« Michael Hißmann und die Psychologie Charles Bonnets

1. Materialismus in Göttingen Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts gilt als die Blütezeit des Materialismus, der sich vor allem in Frankreich durch seine einflussreichen Hauptvertreter Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), Claude-Adrien Helvétius (1715–1771), Denis Diderot (1713–1783) und Paul Henri Thierry d’Holbach (1723–1789) ausformte. Gemäß der gängigen Forschungsmeinung ist das radikale und religionskritisch orientierte Gedankengut der Lumières in der deutschen Aufklärung aber weitgehend ohne Anschluss geblieben. Schon nach Werner Krauss stellte in Deutschland »die enge Verknüpfung der bürgerlichen Intelligenz mit dem Pfarrhaus« ein Hemmnis für die »systematische Ausbildung der in der Aufklärung gelegenen Keime des Materialismus und des Atheismus« dar.1 In diese Richtung tendieren auch neuere Überblicksbefunde, wie etwa der im 2007 neu verlegten Dictionnaire européen des Lumières erschienene Artikel »Matérialisme«, verfasst von Heinz Thoma.2 Laut Thoma seien »dans l’Allemagne du commencement des Lumières« nur »de rares traces de matérialisme« zu finden gewesen.3 Eine »école matérialiste« hätte es in der deutsprachigen »Aufklärung« nicht gegeben.4 Demgegenüber hat Roland Krebs in seiner 2006 veröffentlichten Studie zur ›HelvétiusRezeption in Deutschland‹ verdeutlicht, dass die »Aufklärung« dem französischen Materialismus ein reges Interesse entgegenbrachte und mit dem zumeist als gefährliche »tentation« wahrgenommenen Gedankengut der Lumières bestens vertraut war.5 Wie sich zeigen lässt, gilt dies sogar für die Produktionen des Baron d’Holbach, die in deutschen Gelehrtenjournalen trotz ihrer Anstößigkeit und ihres Extremismus nicht nur auf Ablehnung stießen. So lobte etwa im Jahr 1773 der Göttinger Philosophieprofessor und Kantkritiker Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821) in einer Rezension der Göttingischen Anzeigen6 den Autor des Système social, ou princi1 2 3 4 5 6

Werner Krauss: Studien zur deutschen und französischen Aufklärung. Berlin 1963, S. 455. Heinz Thoma: Art. Matérialisme. In: Dictionnaire européen des Lumières. Hg. von Michel Delon (u.a.). Paris 2007, S. 769–773. Siehe ebd., S. 771f. Siehe ebd., S. 772. Roland Krebs: Helvétius en Allemagne, ou la tentation du matérialisme. Paris 2006. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen. Göttingen (1773), Bd. 2, S. 1290–1295.

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pes naturels de la morale et de la politique (London, 1773) als »Feind des Aberglaubens und des Despotismus«, der »viele nützliche Wahrheiten« sage, die er oft »aus den letzten Gründen der Natur« herzuleiten wüsste.7 Die Heftigkeit der durch d’Holbach an der geoffenbarten und natürlichen Religion geäußerten Kritik findet bei Feder allerdings keine Zustimmung: Der über die Grundsätze der Religion schlecht instruierte Verfasser des Système social habe nicht unparteiisch genug bedacht, ob die Religion nicht in vielen Menschen Tugend bewirke und böse Taten verhindere.8 Wie viele deutsche Aufklärer fürchtete Feder offenbar die sittlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen des Unglaubens, der aus dem Materialismus resultiert. Auch sein Zeitgenosse Albrecht von Haller (1708–1777) verurteilte deshalb in einer Rezension zu Abbé Bergiers zweibändigem Examen du Matérialisme ou Réfutation du Système de la Nature (1771) die nichttheonome Ethik der Materialisten: Abbé Bergier habe d’Holbachs Systeme de la Nature (1771) vor allem dadurch widerlegt, dass er die »Abscheulichkeit der Sittenlehre« des Autors zeige.9 Festzustellen bleibt, dass in Feders Göttinger Umkreis noch weitere Protagonisten zu finden sind, die dem Materialismus nicht feindlich gesonnen waren. Wie bereits durch Udo Thiel dargelegt wurde, verwirft Feders Schüler Christoph Meiners (1747–1810) in seinem Kurzen Abriß der Psychologie (1773) die Vorstellung einer einfachen und immateriellen Seelensubstanz.10 Von extremen Ideen nahm Meiners aber letztlich stets Abstand, denn auch er billigte der Religion eine sittliche und gesellschaftliche Funktion zu.11 Auch Meiners’ Kollege Michael Hißmann (1752–1784) hatte ein durchaus produktives Verhältnis zu den Lumières und zum Materialismus. Bei Hißmann stand ebenfalls die Psychologie im Zentrum der philosophischen Lehre und er trat gleichermaßen als Gegner der Wolffianer und der Theologen auf, um unverhohlen die Materialität des Seelenwesens zu verteidigen.12 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, lieferten ihm dabei die Ideen Charles Bonnets (1720–1793) wichtige Impulse: Bonnets sensualistischmechanistische Theorien sowie sein methodischer Empirismus wurden durch Hißmann einerseits positiv rezipiert. Andererseits formulierte Hißmann eine Kritik an Bonnets Konzeption des Seelenwesens, auf deren Grundlage er – so lautet die These, die hier verifiziert werden soll – seine eigene materialistische Psychologie entwickelte. Die Unsterblichkeit des Menschen wollte Hißmann aber nicht offen negieren, obgleich er vor einer Kritik an den theonomen Moralvorstellungen der Theologen nicht zurückschreckte. Vielmehr versuchte er sein Bekenntnis 7 8 9

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Ebd., S. 1291. Ebd., S. 1291–1292. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, Bd. 2 (1772), S. 1317–1319; hier S. 1318. Zur Rezeption d'Holbachs in den deutschen Gelehrtenjournalen siehe Martin Schmeisser: Baron d’Holbach in Deutschland: Reaktionen in deutschen Zeitschriften der Aufklärung. In: Christine Haug, Franziska Mayer u. Winfried Schröder (Hg.): Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2011, S. 85– 108. Udo Thiel: Varieties of Inner Sense. Two Pre-Kantian Theories. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), S. 58–79; insb. S. 74f. u. ebd., Fn. 51. Vgl. Jan Rachold: Die aufklärerische Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistisch-metaphysischer und politisch-sozialer Deutung. Frankfurt a.M. u.a. 1999, S. 299. Zu Hißmann siehe etwa Otto Finger: Eine Erscheinungsform des mechanischen Materialismus in Deutschland des 18. Jahrhunderts. Greifswald 1960; ders.: Von der Materialität der Seele. Beitrag zur Geschichte des Materialismus und Atheismus im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Berlin 1961, insb. S. 31–51 u. S. 86–97 sowie Udo Thiel: Art. Hissmann, Michael. In: Knud Haakonssen (ed.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. 2 vols., Cambridge 2006, vol. II, p. 1181.

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zum Unsterblichkeitsdogma glaubhaft zu machen, und dies, indem er sich erneut auf Argumente Bonnets berief. Wie noch zu zeigen sein wird, ist allerdings seine Rechtfertigung gegenüber der Religion nur wenig überzeugend ausgefallen; sie scheint vielmehr wissenschaftspolitisch motiviert gewesen zu sein. Angesichts der vorstehend skizzierten Tatsachen ist es offensichtlich, dass durch das Wirken von Hißmann und Meiners in Göttingen eine »école matérialiste« auch in Deutschland bestand. Durchaus fragwürdig ist daher auch der Befund, dass der Materialismus in Deutschland lediglich eine marginale Rolle gespielt habe.

2. Mechanische Psychologie Hißmann befasste sich mit Charles Bonnet bereits in seiner ersten bedeutenderen psychologischen Schrift, der 1776 in Göttingen erschienenen Geschichte der Lehre von der Association der Ideen,13 die er als komplementär zu Johann Jakob Bruckers Historia Philosophica doctrinae de ideis (1730) verstand; letzterer habe nämlich am Ende seines Buches nur »einen einzigen Gedanken« über die »Geschichte der Lehre von der Association der Ideen« hingeworfen, der zudem auch noch »unrichtig« sei.14 Sein Unternehmen schien Hißmann »nicht ganz überflüssig«, denn auf diesen »einzigen Lehrsatz der Psychologie« müssten »die allermerkwürdigsten Seelenoperationen sowohl im Zustand des Wachens, als des Schlafes zurückgeführt werden«.15 Die Gesetze, nach denen die Verknüpfung der Ideen im menschlichen Geist erfolgen, sind damit von grundlegender Bedeutung, denn wie Hißmann wenig später in seinen 1778 veröffentlichten Briefen über Gegenstände der Philosophie dartut, ist die Philosophie für ihn nichts anderes als die Erforschung und die Wissenschaft des menschlichen Seelenwesens: Die Philosophie (so schreibt er) ist, wie ich glaube, [...] eine räsonnierende Geschichte der menschlichen Seele; […] der einzige Gegenstand der Philosophie, (so heißt es ein paar Absätze weiter) ist demnach das menschliche Denkwesen, in seinen verschiedenen Zuständen, die man aus der Erfahrung kennen lernt.16

Weder die mathematischen noch die physischen Wissenschaften stellen für Hißmann Teilbereiche der Philosophie dar; mit besonderer Vehemenz spricht er sich aber als Vertreter einer säkularen und dezidiert antiklerikal orientierten Aufklärung gegen die Metaphysik aus, die er als »Sammlung von Spitzfindigkeiten« und als das »alte Zeughaus« brandmarkt, aus welchem »die seelenverderblichen Waffen« herausgeholt würden, mit denen sich die »gelehrte Dummheit« gegen die »gesunde Philosophie« rüste. Besonders in den Klöstern, »die die Finsternis der Dunse und der Aquinase« mehr liebten, als »das Licht der neueren Engländer, Franzosen und Deutschen« würden durch sie »junge Genies […] dumm gemacht«.17 13 14 15 16 17

Michael Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen, nebst einem Anhang vom Unterschied unter associierten und zusammengesetzten Begriffen, und den Ideenreyhen. Göttingen 1776. Siehe ebd., »Vorbericht« [o.P.]. Siehe ebd. Michel Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser. Gotha 1778, S. 48f. Ebd., S. 43f.

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Die Erforschung der im menschlichen Denken zustande kommenden »chaîne des idées« war auch in der Psychologie Bonnets zentral, wie aus dem umfangreichen Essai analytique sur les facultés de l’âme und dem als anonymes Jugendwerk entstandenen Essai de psychologie (1754) hervorgeht.18 Hißmann widmet den epistemologischen Konzeptionen Bonnets in seiner Geschichte der Lehre von der Association der Ideen mehrere Seiten.19 Den Verfasser des Essai de Psychologie, zu dem sich Bonnet erst 1778 bekannte, obschon er in seinen späteren Werken häufig kritisch auf ihn Bezug nahm,20 lobt er aufgrund seiner empirischen Herangehensweise an die Psychologie. Der Autor, den Hißmann in seinen Briefen über Gegenstände der Philosophie als »Vorgänger« Bonnets bezeichnet,21 habe die Erfahrung »zu Hülfe« genommen und die »auf der Studierstube gesponnen Systeme« weggeworfen.22 Zudem würdigt er ihn als Vertreter der auch durch Malebranche und Hartley ausgearbeiteten »mechanischen Psychologie«.23 Diese führt, wie Hißmann darlegt, die Assoziation oder »Folge der Ideen«, auf die Folge der Bewegungen zurück, die den Gehirnfibern eingedrückt wurde; all unsere Ideen würden nach dem Verfasser des Essai ursprünglich aus Bewegungen im Gehirn entspringen, so dass es wahrscheinlich sei, dass auch ihr »Zurückruf« durch eine solche Bewegung geschehe.24 Bonnet spricht in der Tat von einer »méchanique des idées« und formuliert, wie durch Hißmann angedeutet wurde, in seinen Essais die Hypothese, dass alle Bewegungen, welche die äußeren Objekte durch Wahrnehmung und Gefühl im Gehirn erzeugten, dort auch mechanisch-materiell erhalten blieben: »Les mouvemens de perception & de sensation que les Objets auroient imprimés au Cerveau s’y conserveroient par l’énergie de sa méchanique.«25 Ferner steht für Bonnet dementsprechend fest, dass es keine angeborenen Ideen gibt; jede Idee und Kenntnis, sei sie noch so abstrakt, habe ihren Ursprung vielmehr ausschließlich in der sinnlichen Wahrnehmung und in den durch diese verursachten mechanischen Veränderungen im Organismus: »Les Sens sont l’origine de toute connoissance. Les idées les plus spirituelles sortent des idées sensibles comme de leur matrice.«26 18

19 20

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Ich zitiere im Folgenden diese Texte stets nach dieser Ausgabe: Charles Bonnet: Œuvres d’Histoire Naturelle et de Philosophie de Charles Bonnet. T. 13 u. T. 14. Neuchâtel 1782 [= Essai analytique sur les facultés de l’âme] u. ders.: Œuvres d’Histoire Naturelle et de Philosophie de Charles Bonnet. T. 17. Neuchâtel 1783 [= Essai de Psychologie (pp. 1–235)]. Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen (s. Anm. 13), S. 63–67. Siehe hierzu Charles Bonnet: Avertissement. In: ders.: Œuvres d’Histoire Naturelle et de Philosophie de Charles Bonnet (s. Anm. 18). T. 17, pp. V–XX ; insb. p. V: »Me voici enfin arrivé au moment où je suis, en quelque sorte, forcé de faire l’aveu public de cet Ouvrage [= L’Essai de Psychologie], que j’ai cité assez fréquemment dans mes Écrits, critiqué plus d’une fois, plus souvent encore commenté & éclairci [...].« Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 16), S. 167. Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen (s. Anm. 13), S. 63f. Ebd., S. 63. Ebd., S. 66. Bonnet: Œuvres d’Histoire Naturelle et de Philosophie de Charles Bonnet (s. Anm. 18). T. 17, p. 82. Ebd., p. 133. Hißmann paraphrasiert offenbar folgende Stelle (ebd., S. 11): »L’AUTEUR de notre Etre ayant voulu que toutes nos idées dépendissent originairement des mouvemens ou des vibrations qui sont excités dans certaines parties de notre Cerveau, le rappel de ces mêmes idées dépend vraisemblablement d’une pareille cause.« Wie bereits in einem 1841 veröffentlichten Artikel richtig festgestellt wurde, haben Bonnets philosophische Ideen dem Materialismus »bedeutenden Vorschub geleistet« (siehe Anonym: [Art.] XLVII Die neuere Philosophie. In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland. Hg. v. Guido Görres und George Phillips. München 1841, Bd. 8, S. 535). Zur Psychologie

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Die durch Hißmann positiv rezipierten sensualistisch-mechanistischen Ansätze der Psychologie Bonnets sowie dessen Empirismus hatten auch auf die weitere systematische Entwicklung seiner psychologischen Theorien einen maßgeblichen Einfluss. Ein Jahr nach der Geschichte der Lehre von der Association der Ideen veröffentlicht Hißmann seine Psychologischen Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik, die er dem Kassler Professor der Finanzwissenschaften und Statistik Christian Conrad Wilhelm von Dohm (1751–1820)27 widmet, der 1773 eine deutsche Übersetzung des Essai de Psychologie erstellt hatte und in Kontakt mit Bonnet stand.28 Hißmann befasst sich in seiner in fünf »Versuche« gegliederten Abhandlung über das Seelenwesen mit der äußeren Empfindung, den äußeren Sinnen, den inneren Sinnen, den Seelenkräften und dem Wesen der Seele. Einer der meist zitierten Autoren ist hierbei bezeichnenderweise Charles Bonnet, den Hißmann als Gewährsmann anführt und zugleich grundlegend kritisiert, wie im Folgenden anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden soll.

3. Die Seele im ganzen Gehirn oder der Traum der Monadologie Gleich zu Beginn des ersten Versuches verwirft Hißmann im Sinne des Sensualismus die gängige Lehre, die Empfindung sei die »Vorstellung der Seele von einer gegenwärtigen Veränderung ihrer selbst«; Vorstellungen und Ideen würden vielmehr durch die Empfindung veranlasst werden. Durch eine Empfindung, so Hißmann, erlangten wir allererst eine Vorstellung.29 Die »Werkzeuge der Empfindung« seien aber allein die Nerven, die aus »einer unbeschreiblichen Menge von unsichtbaren Fibern« zusammengesetzt seien.30 Vereinigen würden sich wiederum alle Nerven im Gehirn, »dem Mittelpunkt der Empfindung«, dem sie entspringen würden.31 Wie Bonnet sage, seien die Bestandteile des Gehirns allerdings »zu fein und zu verwickelt«, als dass wir die Geheimnisse seiner »Mechanik« durchblicken könnten.32 Dessen ungeachtet argumentiert Hißmann an dieser Stelle auch gegen die durch Bonnet vertretene Ansicht, dass im Gehirn notwendigerweise »ein Punkt sein müsse, wo alle Nerven zusammenkommen«.33 Wie Bonnet ausführt, lokalisierten die Anatomen diesen Punkt im corpus callosum (»corps calleux«); er stelle den Sitz der Seele (»le Siege de l’Ame«) dar und fungiere als »Instrument immédiat du Sentiment, de la Pensée & de l’Action.«34 Das ganze Gehirn kann laut Bonnet ebenso wenig der Sitz des Denkvermögens sein, wie das ganze Auge der Sitz des Seh-

27 28 29 30 31 32 33 34

Bonnets siehe etwa auch Victor-Antoine-Charles de Riquet de Caraman: Charles Bonnet, philosophe et naturaliste. Sa vie et ses œuvres. Paris 1859, insb. pp. 119ff. u. Raymond Savioz: La philosophie de Charles Bonnet de Genève. Paris 1948, insb. pp. 195ff. Zu Dohm siehe etwa Karl G. Bruchmann: Art. Dohm, Christian Conrad Wilhelm von. In: NDB 4 (1959), S. 42f. Bonnet hatte offenbar Dohm gegenüber geleugnet, dass er der Verfasser des Essai sei. Siehe hierzu Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen (s. Anm. 13), S. 66, Fn*. Michael Hißmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt, Leipzig 1777, S. 26. Ebd., S. 33f. Ebd., S. 35. Ebd. Ebd., S. 41. Bonnet: Œuvres d’Histoire Naturelle et de Philosophie de Charles Bonnet (s. Anm. 18). T. 13, p. 20.

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vermögens ist: »Tout le Cerveau n’est pas le Siege de la Pensée, comme tout l’Oeil n’est pas le siege de la vision.«35 Hißmann ist diesbezüglich skeptisch; indem er sich auf die medizinischanatomische Erfahrung beruft, versucht er Bonnet mit den eigenen Waffen zu schlagen: Es sei nämlich unerwiesen, dass es ein solches »Plätzchen« gäbe, der »Augenschein« lehre genau das Gegenteil. Vielmehr sei das ganze Gehirn »der Sammelplatz aller Nerven«, denn nur »das ganze Gehirn darf nicht fehlen, wenn Sensibilität und Bewustseyn, und Bewegungen im Körper nicht aufhören sollen«.36 Zudem sei durch die »Erdichtung eines Pünktchens im Gehirn« gar nichts gewonnen, denn dieses Pünktchen bleibe im Vergleich zu unserer Seele, die ein »einfaches Ding« ohne Ausdehnung sein solle, ein »ungeheuerer Körper«.37 Man könne nach Hißmann auch nirgends »mit Gewißheit eine Seele annehmen, als wo man die »Organisation, die man Gehirn nennt, antrift«.38 Die Bewegungen der einfachsten organisierten Kleinstlebewesen stellen aus seiner Perspektive hierbei keinen Gegenbeweis dar: In der Anatomie der Polypen und der »mikroskopischen Thierchen« sei man noch »bey weitem nicht so weit gekommen«, dass man ihnen das Gehirn ganz absprechen könne.39 Die Perfektion der Seelenvermögen von Mensch und Tier verhält sich dementsprechend auch relational zur physikalischen Beschaffenheit des Gehirns: Je besser das Gehirn (so lässt sich Hißmanns Argumentation zusammenfassen), desto größer ist seine spezifische »Schwere und Reichhaltigkeit«.40 Es ist auch die Dichte der mikroskopischen Nervenfasern im Gehirn, die es laut Hißmann dem Psychologen zu begreifen ermöglicht, »wie die ungeheure Menge von Ideen in das Gehirn niedergelegt werden kann, das zwar eine ganz kleine, aber eine außerordentlich zusammengesetzte Masse ist.«41 Da die Seele eine Funktion des gesamten Gehirns ist, kann sie gemäß Hißmann außerdem keine einfache Substanz darstellen, wie er im fünften Versuch über das Wesen der Seele aufzeigt: Es müsse schließlich »beobachtet, und nicht gegrübelt werden«.42 Und auf »ein einfaches Wesen«, das »vom Gehirn wesentlich verschieden, das das Behältnis aller Empfindungen und Vorstellungen, die der ganze Mensch hat, und der uneingeschränkte Besitzer und Beherrscher aller dieser Reichthümer wäre«, führe »keine einzige Erfahrung«; kein Gedanke käme ihm, Hißmann, daher »sonderbarer und unbegreiflicher vor, als der Gedanke von einem einfachen, im Menschen wohnenden Wesen, und die willkührliche Umschaffung des Gehirns in ein einfaches Wesen«.43 Gegen diese »unwahrscheinliche Fiktion«, die »unwahrscheinlicher als das unglaublichste Feenmährchen« sei, aber dennoch »so allgemein ihr Glück gemacht« hätte,44 sprechen für Hißmann die »Hauptbeobachtungen der Aerzte«.45 Diese zeigen nämlich, dass unsere »äußeren sinnlichen Werkzeuge« durch Krankheiten »oft gänzlich verdorben« werden; dass »die 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Ebd., S. 21. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 29), S. 41. Ebd. Ebd., S. 39. Ebd. Ebd., S. 37. Ebd., S. 34. Ebd., S. 248. Ebd. Ebd., S. 249. Ebd., S. 247.

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Seelenkräfte eben so sehr geschwächt und zerrüttet« werden, »so bald die inneren Organe angegriffen werden«:46 Gesetzt aber die Seelenkräfte seyen das Eigenthum eines einfachen Wesens, das keine Theile einbüßen kan: so ist eine solche Schwächung und ihr gänzlicher Verlust schlechterdings unmöglich.47

So wenig es sich daher ein Philosoph habe »beyfallen lassen« die fünf Sinne »für Kräfte eines einfachen Wesens zu halten«, so wenig hätte auch »je ein Philosoph auf den Einfall kommen sollen, Sensibilität, Bewustseyn, Gedächtnis, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft zu Kräften eines einfachen Wesens zu machen«.48 Nur unserem Gehirn müsse »die Kraft zu denken« zugeschrieben werden; den Ausdruck »Seele, und Seelenkräfte« könne man (so Hißmann) daher nur unter der Bedingung beibehalten, wenn man unter den letzteren nichts als »Anspannungen der Gehirnorganen, der intellektuellen Fibern« verstünde, deren »verschiedene Modifikationen und Dispositionen verschiedene Begriffe und Ideen« seien.49 Für Hißmann steht deswegen auch eindeutig fest, »daß die ganze spekulative Philosophie lehrreicher, fruchtbarer und vollkommener« geworden sei, je mehr »die Simplisten abgenommen, je irdischer man vom Menschen, je materialistischer man von der Seele gedacht, und je mehr man das Monadenforschen verabscheut« habe.50 Seit dieser Zeit seien »viele vortreffliche Materien« gründlicher bearbeitet und viel »demonstrativische Pedanterie« aus dem »aufgeklärten Europa« verbannt worden; ganz neue »Systeme« seien da, die wesentlich wahrscheinlicher seien, als der »metaphysische Traum« der »Monadologie«.51 Als Wegbereiter für seine materialistischen Ansichten führt Hißmann Condillac, Bonnet, Search, Helvétius sowie »andere Engländer und Franzosen« an, die »schon lange gewinkt« hätten, bis endlich auch einige »würdige Deutsche« gefolgt seien, »die die Wolfische Psychologie nicht hartnäckig noch rechthaberisch« gemacht habe.52 Anders als etwa Locke oder der »rechtgläubige Buddeus« halte Wolff nämlich »die denkende Materie für Unsinn« und meine, dass »Materie so wenig Materie seyn, und doch zugleich denken könne, so wenig Gott machen könne, daß Eisen zugleich Gold sey.«53 Als das »wunderbarste, komplicirteste Ding« und »eine nicht durchzuschauende Organisation« ist das Gehirn aber für Hißmann, der hier offenbar auf Bonnets Rede vom Seelensitz als »Machine prodigieusement composée« rekurriert,54 nicht mit »irgend einem Körper« zu vergleichen.55 Um seine Ansichten zu verteidigen, wendet sich Hißmann wenig später auch ganz explizit gegen seinen Gefolgsmann Bonnet, der für die Einfachheit des Seelenwesens und gegen den Materialismus die Unteilbarkeit des Bewusstseins ins Feld führt. Gleich im zweiten Paragraphen seines Essai analytique sur les facultés de l’âme macht Bonnet darauf aufmerksam, dass die Annahme 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 249. Ebd. Ebd. Ebd., S. 252. Ebd., S. 250. Ebd. Ebd. Ebd., S. 270f. Bonnet: Œuvres d’Histoire Naturelle et de Philosophie de Charles Bonnet (s. Anm. 18). T. 17, p. 11. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 29), S. 272.

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der (immateriellen) Seele kein willkürliches Postulat darstelle; sie beruhe nämlich auf der Gegensätzlichkeit von der Einfachheit des Gefühls und der Zusammengesetztheit der Materie: En général, on est très-convaincu de l’existence du Corps; on ne l’est pas si généralement de celle de l’Ame. La supposition que l’Ame existe n’est cependant pas gratuite: elle est fondée sur l’opposition qui est entre la simplicité du sentiment & la composition de la Matiere.56

Trotz der Tatsache, dass es eine Vielzahl von kognitiven Tätigkeiten ausführt, dass es Begriffe der Mehrteiligkeit (Ausdehnung, Teilung, Bewegung u.ä.) besitzt und dass es sich beständig modifiziert, ist dieses »Ich« nach Bonnet stets selbst einfach und unteilbar: Ce Moi qui apperçoit, compare, raisonne, &c. ce Moi qui a des notions d’étendue, de division, de mouvement, &c. ce Moi qui se modifie de tant de manieres différentes, est toujours un, simple, indivisible.57

Und wie Bonnet später feststellt, könnten die Materialisten trotz ihrer Mühen nie auf zufrieden stellende Weise die Einfachheit des Ich-Gefühls erklären, dass sich aus seiner Sicht nur durch den Rückgriff auf eine immaterielle Seelensubstanz begreiflich machen ließe: Quelques efforts que fassent les Matérialistes, ils n’expliqueront jamais d’une mani[è]re satisfaisante la simplicité du Sentiment. C’est pour satisfaire à ce Sentiment du Moi, toujours un, toujours simple, toujours indivisible, que nous recourrons à l’existence de cette Substance immatérielle que nous nommons l’Ame.58

Für Hißmann sind die Argumente Bonnets aber nur wenig plausibel, denn wenn auch »das Bewustseyn wirklich etwas untheilbares wäre«, so müsse »das Principium des Bewustseyns« deswegen nicht auch ein »untheilbares Wesen« sein.59 Dieses könne zusammengesetzt sein und trotzdem »ungetheilte, einfache Empfindungen und Gedanken haben«, so wie auch die »vielen Räder einer Uhr« einen einzigen einfachen Effekt hätten, nämlich »die Bewegung des Zeigers zur Zeitmessung«.60 Es spräche demnach auch nichts dagegen, dass viele »Gehirnfibern« auf ähnliche Weise »zur Erzeugung eines einfachen Gedankens« zusammenwirkten.61 Hißmann zufolge würde man außerdem »nimmermehr auf den Gedanken von einem im Menschen wohnenden geistigen Wesen verfallen«, wenn man nur den »Weg der Erfahrung« ginge. Durch diese wüssten wir nämlich, dass körperliche Substanzen die Fähigkeit zu empfinden besäßen, die (wie schon Helvétius gelehrt habe)62 der »Grund aller übrigen Seelenfähigkeiten« sei.63 Dementsprechend offenbare sie überdies, dass die Gabe, Ideen und Empfindungen zu assoziieren und zu vergleichen, die Hißmann mit der Vernunft identifiziert, durch die Tätigkeiten von Gehirn und Nerven zustande komme: Es sind unleugbare Erfahrungen da, daß Nerven und Gehirn auch die Gabe haben, Empfindungen, und die von den Empfindungen zurückgebliebenen Eindrücke, oder Ideen mit einander zu verglei-

56 57 58 59 60 61 62 63

Bonnet: Œuvres d’Histoire Naturelle et de Philosophie de Charles Bonnet (s. Anm. 18). T. 13, p. 4. Ebd. Bonnet: Œuvres d’Histoire Naturelle et de Philosophie de Charles Bonnet (s. Anm. 18). T. 14, p. 23. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 29), S. 272f. Ebd., S. 273. Ebd. Ebd., S. 189: »Helvetius hielt die Sensibilität für die Grundkraft der menschlichen Seele.« Ebd., S. 263.

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chen und zu verbinden, das heißt zu urtheilen und zu schließen, oder welches einerley ist, daß sie Vernunft haben.64

Seinen materialistischen Standpunkt macht Hißmann auch in den Briefen über Gegenstände der Philosophie noch einmal deutlich: »Der eigentliche Materialist (so schreibt er dort), der den innern, feinern Organen selbst die Kraft zu empfinden, vorzustellen und zu denken, beylegt, weiß von keiner unkörperlichen gehirnbewegenden Kraft.«65 Auch hier kommt er gegen Bonnets Annahme, der »Mittelpunkt der Empfindungen« sei in einem »Pünktchen im Gehirn« zu lokalisieren,66 zu dem Schluss, dass aufgrund der ähnlichen Beschaffenheit von Gehirn und Nerven letztere nicht »als bloße Empfindungsleiter« angesehen werden dürften; das »Hauptempfindende und denkende Wesen« müsse wohlgemerkt aber in die »Knochenhölung des Kopfes« eingeschlossen werden, dessen »Eingeweide schon nach seiner ausserordentlichen Größe den Besitz eines höheren Grades von Empfindungsvermögen« vermuten ließe, als »eine einzelne Nervenschnur«.67 Das ganze Nervensystem sei daher mit »der Kraft zu empfinden« zu »überschütten«, wobei den einzelnen Nerven aber nur einen »geringen Grad dieses Vermögens«, dem Gehirn hingegen »die konzentrierte Empfindungskraft« zuschreiben sei.68 Diese Argumente scheinen darauf hinzudeuten, dass Hißmann, der (wie oben gezeigt wurde) aus seiner antiklerikalen Einstellung keinen Hehl macht, in seinen Schriften konsequenterweise auch die kirchliche Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und des Menschen verwirft. Seine an eine »Madame C**« gerichteten philosophischen Briefe greifen zumal schon in Hinblick auf die literarische Form auf ein Modell zurück,69 das durch die materialistischen und streng säkularen Produktionen der französischen (und englischen) Aufklärung vorgegeben wurde; man denke etwa an Nicolas Frérets Lettres à Sophie, contenant un examen des fondements de la religion chrétienne & diverses objections contre l’immortalité de l’âme (o.J.), an d’Holbachs Lettres à Eugénie ou Préservatif contre les préjugés (1768) oder an John Tolands Letters to Serena, Containing: The Origin and Force of Prejudices; The History of the Soul’s Immortality among the Heathens (1704). Eine Dogmenkritik wird aber durch Hißmann nicht explizit vorgenommen. Denn obgleich er die Notwendigkeit einer materialistischen Psychologie gegen den Empiriker Bonnet mit der Erfahrung belegt und dazu sogar eine offene Kritik an der kirchlichen Ethik wagt, bejaht er auch zugleich die Unsterblichkeit des Menschen, und zwar, indem er sich überraschenderweise wieder auf die Theorien Bonnets beruft, wie jetzt erläutert werden soll.

4. Schöne Aussichten in die seligen Gefilde der Unsterblichkeit? Schon im »Vorbericht« zu den Psychologischen Versuchen bekennt sich Hißmann gleichermaßen zum Materialismus und zur Unsterblichkeit der Seele: »Ich glaube an die Unsterblichkeit meiner 64 65 66 67 68 69

Ebd., S. 264f. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 16), S. 189. Ebd., S. 102. Ebd., S. 115. Ebd. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Udo Roth in diesem Band.

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Seele, und glaube eben so zuversichtlich an ihre Materialität.«70 Gleich im nächsten Satz bekundet er außerdem seine Tugendhaftigkeit, die nicht im Glauben an die Unsterblichkeit begründet sein dürfe: Und wenn ich auch das erste nicht glauben sollte: so müsste ich doch tugendhaft seyn; denn ich will glücklich seyn. Tugend ist mir für sich liebenswürdig, ohne Rücksicht auf Lohn und Strafe. Sie flößt mir Gefühl zur Rechtschaffenheit ein, ehe ich noch meine ewige Vortheile mit algebraischer Genauigkeit berechne. So muß ein Weltbürger fühlen und denken. Hinsicht auf ewige Strafe oder Lohn fesselt und macht Sklaven, ohne je die Brust mit Rechtschaffenheit anzufüllen.71

Diesen Standpunkt wiederholt Hißmann auch im fünften Teil seiner Psychologischen Versuche: »Wie? Ist es denn nur darum gut tugendhaft zu seyn, weil es eine andere Welt giebt? Oder werden die Handlungen nicht vielmehr dereinst belohnt werden, weil sie an sich selbst gut und tugendhaft waren?«72 Mit seiner kritischen Haltung gegenüber den theonomen und jenseitsorientierten Moralbegründungen der Theologen, welche die Menschen zu Sklaven mache, und seiner Befürwortung einer säkularen Ethik scheint Hißmann ganz bewusst an die Positionen der radikalen französischen Religionskritiker und Materialisten anknüpfen zu wollen. Ganz ähnlich wie Hißmann argumentierte etwa auch d’Holbach, der in seiner Abhandlung Le Bon Sens (1772) aufzeigt, dass die Furcht vor einem »dieu terrible« die Menschen nur zu depravierten Knechten degradiere: »La crainte ne fait que des esclaves; et des esclaves sont lâches, bas, cruels [...].«73 Anders als viele seiner deutschen Gesinnungsgenossen hatte Hißmann also keine Bedenken in Bezug auf die möglichen ethischen und gesellschaftlichen Folgen des Materialismus und einer in ihm fundierten, rein weltlichen Tugendlehre; die Unsterblichkeit der Seele oder gar die Existenz Gottes wollte er aber dennoch nicht negieren. Laut Hißmann hätte nämlich bereits Bonnet, »für dessen warmen Eifer für die Religion« jede Zeile seiner Schriften bürge, dreist herausgesagt, dass die Seele die Hoffnung zur Unsterblichkeit behalte, wenn sie auch materiell sei. Es sei ein ganz unerwiesener Satz, »daß die materielle Seele zu gleicher Zeit mit verwesen« müsse, wenn der »grobe Körper« zerfalle, weil nicht »eine jede Materie zerstörbar« sei.74 Um dies zu belegen, erinnert Hißmann an Bonnets Theorie der Keime; letztere hätten sich nämlich von Anbeginn der Schöpfung »in dem Gewühl der Natur« herumtreiben lassen, ohne zerstört zu werden.75 Diejenigen, die sich erst »am Ende der Tage« entwickeln würden, hätten dann der »Zerstückung durch lange Jahrtausende« widerstanden.76 Wie er darlegt, würde Gott auch seine Seele (möge sie nun einfach sein oder nicht) »nimmermehr untergehen lassen«, wofür ihm die »Weisheit und Güthe des Schöpfers Bürge genug« seien.77 Zudem ließe sich mit »den göttlichen Eigenschaften, mit der perfektiblen Natur der Seele, mit dem ganzen Naturlauf« der »Tod der Seele nach einem Aufenthalt im Leibe seit

70 71 72 73 74 75 76 77

Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 29), S. 13. Ebd. Ebd., S. 256. Paul-Henri Thiry d’Holbach: Le Bon Sens. In: ders.: Œuvres philosophiques. Tome III. Ed. par Jean-Pierre Jackson. Paris 2001, pp. 304f. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 29), S. 253f. Ebd., S. 254. Ebd. Ebd., S. 255f.

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gestern nimmermehr zusammenreimen.«78 Dergleichen Vorstellungen würden ihn »überzeugend beruhigen« und ihm »die frohen, schönen Aussichten in die seligen Gefilde der Unsterblichkeit« eröffnen. »Solten (so fragt Hißmann schließlich) die wärmsten Lehren der Religion an nakten, kalten troknen, leeren Principien haltbare Stützen haben?«79 Sowohl Hißmanns Rekurs auf Bonnets Keimtheorie als auch seine Rede von der »perfektiblen Natur der Seele« könnten zu der Annahme führen, dass er ein Anhänger von dessen Hypothese der Palingenesie oder Widergeburt der Seele in einem Zustand höherer Vollkommenheit war. Diese erläutert Bonnet in seiner erstmals 1769 in Genf erschienen mehrbändigen Abhandlung La Palingénésie philosophique ou Idées sur l’état passé et sur l’état futur des être vivans. In diesem in Europa viel rezipierten Werk, das theologische, naturphilosophische und naturwissenschaftliche Betrachtungen vereinigt, formuliert Bonnet bekanntermaßen die Annahme, dass den Tod und den Zerfall eines Organismus ein im Gehirn enthaltener »germe incorruptible« überdauere, der den eigentlichen Sitz der immateriellen Seele darstelle.80 Im Anschluss an die biblische Geschichtsschreibung ging Bonnet ferner davon aus, dass der Erdball periodisch wiederkehrenden Umwälzungen (wie die Sintflut) unterworfen sei, wobei aber auf jeden verwüstenden Kataklysmus ein neues Erdzeitalter folge, das den unzerstörbaren Keimen eine Entfaltung und Wiedergeburt zu neuen Formen pflanzlicher und animalischer Organisation ermögliche.81 Die der »Palingénésie« zugrunde liegende Idee des Fortschritts oder der ›Perfektibilität‹, auf die Hißmann anzuspielen scheint, besteht darin, dass – wie es Olivier Rieppel formuliert – »die Lebensformen eines jeden Zeitalters einen höheren Komplexitätsgrad erreichen als ihre Vorgänger.«82 Bonnet, der sich zum Christentum bekennt, möchte sich daher gegen jeden möglichen Materialismusverdacht verteidigen, der aufgrund seiner geringen Affinität zur Metaphysik hervorgebracht werden könnte: Si parce que j’ai mis dans mon Essai beaucoup de Physique et assez peu de Métaphysique, j’étois soupçonnée de Matérialisme, je serois un Matérialiste qui auroit donné peut-être les meilleures preuves de l’immortalité de l’Ame.83 78 79 80

81 82 83

Ebd., S. 256. Ebd. Siehe hierzu etwa Olivier Rieppel: Unterwegs zum Anfang. Geschichte und Konsequenzen der Evolutionstheorie. München 21992, S. 60. Zu Bonnets Keimtheorie allgemein siehe Jacques Roger: Les sciences de la vie dans la pensée française au XVIIIe siécle. Paris 21993, S. 712–725. Zu Bonnets Organismusbegriff und seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem atheistischen Materialismus der Franzosen (u.a. d'Holbach) siehe vor allem Tobias Cheungs ausführlich kommentierte Edition Charles Bonnets Systemtheorie und Philosophie organisierter Körper. Mit einer kommentierten Übersetzung der »Philosophischen Prinzipien« (1754). Frankfurt a.M. 2005. Die Rezeption der Ansätze von Leibniz in Bonnets Keimtheorie behandelt Cheung hingegen in seinem erhellenden Artikel System, Mikrooperator und Transformation: Leibniz’ gemeinsames Ordnungsdispositiv der Monade und des Lebendigen im naturgeschichtlichen Kontext. In: Hanns-Peter Neumann (Hg.): Der Monadenbegriff zwischen Spätrenaissance und Aufklärung. Berlin 2009, S. 143–202. Die breite Rezeption von Bonnet und dessen Einfluss auf Kants Konzeption des Organischen (KdU §64) dokumentiert Cheung zudem durch seine Studie Der Baum im Baum. Modellkörper, reproduktive Systeme und die Differenz zwischen Lebendigem und Unlebendigem bei Kant und Bonnet. In: Ernst-Otto Onnasch (Hg.): Kants Philosophie der Natur. Berlin 2009, S. 25–50. Siehe Rieppel: Unterwegs zum Anfang (s. Anm. 78), S. 61. Ebd. Charles Bonnet: La Palingénésie philosophique ou Idées sur l’état passé et sur l’état futur des être vivans. Paris 2002, p. 49.

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Wie gezeigt wurde, lehnt Hißmann jedoch dezidiert Bonnets Annahme von einem im Gehirn angesiedelten punktartigen Sitz einer einfachen Seele ab, die aus seiner Sicht vielmehr eine Funktion des gesamten Gehirns und dem mit ihm verbundenen Nervensystems darstellt. Die gleichsam monadischen Keime Bonnets, deren Unzerstörbarkeit bei Hißmann eigentlich auch nur als Argument für die Beständigkeit von Körpern ins Feld geführt wird, sowie dessen Begründung der Unsterblichkeit, sind mit der Theorie eines komplexen, körpergebundenen und nicht-substanziellen Seelenwesens in keiner Weise zu vereinbaren. Um auf der Grundlage der Annahmen Hißmanns die Unsterblichkeit zu etablieren, müssten zumindest gewisse Teile des Nervensystems den postmortalen Zerfall des Körpers überstehen. Diese Möglichkeit stellt Bonnet allerdings ebenfalls zur Diskussion, und zwar in seinem Essai analytique sur l’Ame: [...] l’immortalité de notre Ame ne repose pas uniquement sur sa simplicité. DIEU pourroit accorder l’immortalité à une portion de Matiere, même très-composée, très organisée.84

Wie er einige Absätze weiter erklärt, seien wir aber »assez heureux«, dass unsere Hoffnungen nicht allein auf der »base infiniment étroite d’un point de Métaphysique« beruhten: »C’est mettre la pyramide sur sa pointe, que de faire dépendre la Religion de la question abstraite si l’Ame est Matiere ou Esprit?«85 Diese »vortreffliche Stelle«, in der Bonnet à première vue auch den Materialismus gegenüber der Religion rechtfertigen möchte, ist Hißmann nicht unbekannt, denn er zitiert sie in einer Fußnote.86 Einen wesentlichen Passus übergeht er allerdings stillschweigend, und hierfür gibt es gute Gründe. Zwischen den beiden durch Hißmann selektierten (und soeben zitierten) Textstellen möchte Bonnet nämlich auch noch einmal nachdrücklich von seiner Theorie einer einfachen Seelensubstanz überzeugen: »Mais, la simplicité de l’Ame la met hors de l’atteinte des Agens qui operent la destruction du Corps [...].«87 Darüber hinaus erklärt er, dass ein Materialist, wenn er die Unsterblichkeit der Seele widerlegen wollte, ebenfalls die »fausseté des faits«, welche die Wahrheit der offenbarten und der natürlichen Religion etablierten, nachweisen müsste, denn gewisse Attribute der für Bonnet notwendigen Erstursache des Universums würden für den Erhalt der Seele sprechen, sei sie nun materiell oder nicht.88 Insgesamt ist Bonnet aber sogar davon überzeugt, dass seine Keimtheorie mit der Offenbarung übereinstimme: [...] que le siege de l’Ame renferme actuellement le Germe de ce Corps incorruptible & glorieux dont parle la RÉVÉLATION.89

Der Antimaterialist Bonnet konnte also kein naturwissenschaftliches oder naturphilosophisches Argument für die Unsterblichkeit des Menschen darbieten, das Hißmann auf einleuchtende Weise systematisch mit seinen psychologischen Konzeptionen hätte vereinbaren können. Folglich kann Hißmann anscheinend letztlich allein durch das theologische Argument überzeugen, dass der biblische Schöpfergott aufgrund seiner Macht und Güte auch ein materielles Seelenwesen »nimmermehr« untergehen lassen würde. Dieser Beweis ist indessen bei Bonnet (der christ84 85 86 87 88 89

Bonnet: Œuvres d’Histoire Naturelle et de Philosophie de Charles Bonnet (s. Anm. 18). T. 14, p. 222. Ebd. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 29), S. 254, Fn. *. Bonnet: Œuvres d’Histoire Naturelle et de Philosophie de Charles Bonnet (s. Anm. 18). T. 14, p. 222. Ebd., pp. 222f. Ebd., p. 241.

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lichen Lehre konform) dadurch letztbegründet, dass er im Sinne der Offenbarung die einstige Belohnung oder Bestrafung der Taten des Menschen durch Gott für eine moralische Notwendigkeit hält, und dies, auch wenn die Materialisten recht haben sollten: Accordez au Matérialiste ce principe qu’il chérit et qui le trompe ; concevez pour un moment que l’Ame est matérielle, qu’aura-t-il gagné par cet aveu ? Ne lui restera-t-il pas toujours à démontrer, qu’il n’existe point un ETRE SAGE, qui veut essentiellement le bonheur du juste opprimé, la correction du Méchant qui opprime et la plus grande perfection possible de toutes les Créatures?90

Wie gezeigt wurde, steht Hißmann gleich den französischen Aufklärern den Moralvorstellungen des Christentums aber kritisch gegenüber; für ihn hat der Mensch im Hier und Jetzt und ohne Hoffnung auf eine Belohnung durch eine Gottesinstanz seine Vollkommenheit und Glückseligkeit anzustreben. Somit liegen bei Hißmann letztlich weder aus religionsphilosophisch-ethischer Perspektive noch aus naturwissenschaftlich-systematischer Sicht zureichende Gründe für die Annahme einer Auferstehung und einer Vervollkommnung des Menschen nach seinem Tode vor. Festzustellen bleibt, dass Hißmanns deistischer Standpunkt, sein Bekenntnis zur Auferstehung und zur Existenz Gottes, das gegenüber seiner neurologischen Begründung des Materialismus und seiner kirchenkritischen Haltung befremdlich inkonsequent wirkt, augenscheinlich eine gewisse Nähe zu den Ideen Joseph Priestleys (1733–1804) aufweist, dessen Texte er mehrfach positiv zitiert, ja sogar teilweise ins Deutsche übersetzt hat:91 Wie Hißmann behauptete der Engländer nämlich ebenfalls die völlige Abhängigkeit seelischer Vorgänge von Gehirnprozessen, um dementsprechend die Psychologie als einen Teilbereich der (Gehirn-)Physiologie zu definieren. Dabei hielt aber auch Priestley zugleich am Glauben an die Unsterblichkeit fest. Zwischen den beiden Autoren besteht allerdings ein gravierender Unterschied, denn Priestleys Position ist klar und deutlich religiös motiviert und theologisch-systematisch abgesichert, wie jetzt zu erklärt werden soll.

5. Hißmann und Priestley Bekanntermaßen war Priestley trotz seines Materialismus ein bekennender und betriebsamer Parteigänger des Unitarismus, der den Versuch darstellt, auf der Grundlage einer rationalistischen Religionsphilosophie die christliche Theologie von vernunftwidrigen dogmatischen Verfälschungen zu befreien und das ursprüngliche Christentum zu restituieren.92 Aus ideengeschichtlicher Perspektive knüpft der Unitarismus der Aufklärungszeit am kirchenkritischen Denken des Sozinianismus an, einer antitrinitarischen Bewegung, die sich im Kontext der Radikalreformation entwickelt hat und europaweit Anhänger gewinnen konnte; bedeutende Denker

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Bonnet: La Palingénésie philosophique (s. Anm. 81), p. 48. Auf die Parallelitäten zwischen Hißmann und Priestley hat in der Diskussion meines Vortrags Udo Thiel hingewiesen, dem ich hierfür danke. Zu Priestleys Wirken und Denken siehe etwa den Sammelband Isabel Rivers a. David L. Wykes (ed.): Priestley, Scientist, Philosopher, and Theologian. New York 2008.

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wie Locke oder Newton besaßen Affinitäten zu den heterodoxen Auffassungen der Sozinianer. Priestley, der 1794 als Glaubensflüchtling England verließ, fungierte hingegen mit dem Prediger Theophilus Lindsey als Mitbegründer des modernen angloamerikanischen Unitarismus in Neuengland.93 Wie Otto Fock prägnant ausführt, vertraten die sozinischen Theologen der Spätreformation gegenüber der traditionellen Unsterblichkeitslehre die Grundanschauung, dass sich der Mensch in seiner Endlichkeit wesentlich von Gott unterscheide. Der Mensch ist demnach als endliches und aus irdischem Stoff gebildetes Wesen seiner Natur nach sterblich und der Vergänglichkeit unterworfen. Überdies ist er aufgrund der Ursünde dem ewigen Tode verfallen. Soll nun der Mensch dennoch zum ewigen Leben gelangen, so kann dies nur geschehen, indem ihm die Unsterblichkeit durch Gott als besondere äußerliche Gabe und als Belohnung für ein religiöses Leben, die Befolgung seiner Vorschriften, mitgeteilt wird. Aus der Sicht des Sozinianismus ist somit das Ziel der christlichen Religion die Unsterblichkeit und das ewige Leben als Teilhabe am Göttlichen, die beide keineswegs notwendig in der Natur des Menschen angelegt sind. Dieser nonkonforme Standpunkt ist nach den Sozinianern durch die Offenbarung belegt.94 In diesem Sinne argumentiert auch Priestley. Wie er in seinen Disquisitions relating to matter and spirit (1777) ausführt, wird in der Genesis der Mensch eindeutig als ein aus irdischen Materialien, aus Staub, zusammengesetzte Kreatur beschrieben; von einer immateriellen und damit unvergänglichen und höherwertigen Komponente seines Wesens sei in der heiligen Schrift nicht die Rede: We see here, that the whole man […] was made of the dust of the ground. No part of him is said to have had a higher or different original; and surely so very important a circumstance as that of an immaterial principle, which could not be from the dust, would not have been omitted, if there had been any such a thing in the composition.95

Der Leib-Seele-Dualismus, welcher der traditionellen Unsterblichkeitslehre sowie der augustinisch-platonischen Anthropologie des Christentums zugrunde liegt, wird durch Priestley folglich vehement verworfen. Die Widerlegung dieses Irrtums ist für Priestley sogar das Hauptziel sowohl seiner philosophisch-wissenschaftlichen als auch seiner theologischen Bemühungen. Wie er bereits zu Beginn seiner Abhandlung vorausschickend darlegt, stellt seiner Ansicht nach der Leib-Seele-Dualismus eigentlich ein Element des heidnischen Denksystems dar, das der christlichen Lehre beigemischt worden sei und diese damit grundlegend korrumpiert hätte; die Schrift würde keinerlei Beweise für eine derart vernunftwidrige Vorstellung darbieten. Wie den

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Siehe hierzu etwa Jan Rohls: Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 2002, S. 396 u. ders.: Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert. Tübingen 1997, S. 195ff. Zur Geschichte und dem Lehrbegriff des Sozinianismus siehe vor allem das umfassende Standardwerk von Otto Fock: Der Socinianismus nach seiner Stellung in der Gesammtentwicklung [!] des christlichen Geistes, nach seinem historischen Verlauf und nach seinem Lehrbegriff. 2 Teile. Kiel 1847; zu Priestley siehe etwa ebd. Teil 1, S. 271ff. Siehe ebd., Teil 2, S. 297ff. Joseph Priestley: Disquisitions relating to Matter and Spirit. To which is added, The History of the Philosophical Doctrine concerning the Origin of the Soul, and the Nature of Matter; with ist Influence on Christianity, especially with Respect to the Doctrine of the Pre-existence of Christ. London 1777, p. 115.

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Sozinianern ist demnach offensichtlich auch dem aufgeklärten englischen Wissenschaftler ausschließlich die sana ratio das Richtmaß für Exegese und Glaubensfragen: […] it will be seen […] that the scriptures afford no evidence whatever of a thing so contrary to the principles of reason; but that the sacred writers go upon quite different principles, always taking for granted the very thing I am here contending for; and that the notion of the soul being a substance distinct from the body, was originally a part of the system of heathenism, and was from thence introduced into christianity, which has derived the greatest part of its corruptions from this source.96

In Übereinstimmung mit seinen religiösen Überzeugungen erkennt Priestley als Naturforscher – ähnlich Hißmann – in einer gewissen Organisationsform der Materie, welche ihrerseits das Vorhandensein des Nervensystems und Gehirns determiniert, die einzig wahre Ursache der menschlichen Seelenvermögen: […] the powers of sensation or perception, and thought, as belonging to man, have never been found but in conjunction with a certain organized system of matter […]. […] Had we formed a judgement concerning the necessary seat of thought, by the circumstances that universally accompy it, which is our rule in all other cases, we could not but have concluded, that in man it is a property of the nervous system, or rather of the brain.97

Die wissenschaftlichen (und nicht-exegetischen) Begründungen, die Priestley für den Beweis seiner Ideen ins Feld führt, sind wie bei den übrigen französischen und englischen Materialisten (oder aber wie bei Hißmann), streng empirischer Natur und begegnen in entsprechender Form auch in deren Texten. Priestley bringt in diesem Kontext nichts Neues, wenn er erklärt, dass das Denkvermögen sich mit dem Körper entwickle oder aber durch pathologische Affekte des Gehirns beeinträchtigt werde: […] the faculty of thinking in general ripens, and comes to maturity with the body, it is also observed to decay with it; and if, in some cases, the mental faculties continue vigorous when the body in general is enfeebled, it is evidently because, in those particular cases, the brain is not much affected by the general cause or weakness. But, on the other hand, if the brain alone be affected, as by a blow on the head, by actual pressure within the skull, by sleep, or by inflammation, the mental faculties are universally affected in proportion.98

Mithin argumentiert auch Priestley auf der Basis des Sensualismus gegen die Konzeption des Seelenwesens als einer einfachen, unteilbaren und unveränderlichen Substanz, zu deren Partisanen wie bekannt Bonnet zählte. Die in der Seele vorliegenden Ideen seien nämlich laut Priestley stets durch externe Objekte verursacht und müssten diesen folglich entsprechen. Und da die extramentalen Gegenstände über Ausdehnung verfügen würden, so müssten aufgrund der Gesetzmäßigkeiten der Mechanik ihrerseits auch deren Abbilder, die Ideen, eine gewisse Ausdehnung besitzen: If the architypes of ideas have extension, the ideas which are expressive of them, and are actually produced by them, according to certain mechanical laws, must have extension likewise […].99

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Ebd., p. 31. Ebd., p. 26f. Ebd., p. 27f. Ebd., p. 38.

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Martin Schmeisser

Die auf der Behauptung der »germes incorruptibles« beruhende Begründungstheorie Bonnets für die leibliche Auferstehung kann für Priestley demzufolge ebenso wenig wie für Hißmann eine systematisch-philosophische Option darstellen. Die Seelenvermögen ereilt nach dem Tod dasselbe Schicksal wie der Leib; kein unverwüstlich-monadischer Seelensitz oder Keim kann gemäß Priestleys Annahmen zurückbleiben, um notwendig und naturgemäß die Weiterexistenz oder die Reinkarnation der Lebewesen zu sichern. Um seinen Glaubensgrundsatz gegenüber dem psychologischen Materialismus zu rechtfertigen greift Priestley vielmehr auf den ursprünglich sozinianischen Gedanken zurück, die Auferstehung sei allein vom Willen des Allmächtigen abhängig, der seine Kreaturen auch ins Leben gerufen habe. Sie sei die Belohnung der Rechtschaffenden am jüngsten Tage, wo hingegen den Sündern die Vernichtung drohe; wie oben erklärt wurde, vertritt der letztlich ebenfalls unorthodox denkende Naturphilosoph Bonnet im Gegensatz dazu die Idee einer sich im Laufe der Erdgeschichte beständig wiederholenden Palingenesie. Priestley definiert daher den seines Erachtens vernunft- und offenbarungskonformen Materialismus auch als das heilsamste Mittel, um das Christentum von seinen falschen Zusätzen zu befreien: The corporeal and mental faculties, inhering in the same substance, grow, ripen, and decay together; and whenever the system is dissolved, it continues in a state of dissolution, till it shall please that Almighty Being who called it into existence to restore it to life again. By the help of the system of materialism, also, the christian removes the very foundation of many doctrines, which have exceedingly debased and corrupted christianity; being in fact a heterogeneous mixture of pagan notions, diametrically opposite to those on which the whole system of relevation is built. The christian system provides no reward fort the righteous till the general resurrection of the just, nor any punishment fort he wicked, till the end of the world, at which time, and not before, the angels will be commissioned to gather out of the kingdom of Christ every thing that offends. Then only will be the great harvest, when wheat (to use the language of our Saviour) will gathered into the garner, and the chaff will be burned with unquenchable fire.100

Priestley ging überdies auch gegen den Atheismus der französischen Materialisten vor, um auf der Grundlage des physikotheologischen Gottesbeweises die Vernunftreligion zu verteidigen.101 Das Problem der fundamentalen Inkompatibilität zwischen Materialismus und Gottesglauben versucht er in diesem Kontext zu lösen, indem er eine Kritik am herkömmlichen metaphysischen Immaterialismus formuliert, den er als offenbarungswidrig (damit auch als vernunftwidrig) denunziert.102 Die heilige Schrift würde nämlich keineswegs suggerieren, Gott besäße aufgrund seiner außergewöhnlichen Wesenseigenschaften weder Ausdehnung noch irgendeinen Bezug zu Raum und Materie; diese Vorstellung, die kaum zur Steigerung unserer Gottesverehrung beitragen könne, sei schließlich noch schwerer fassbar, als die einer Wesenheit, welche alle Dinge durchdringe und trage: For my part, I do not see how this notion of immateriality, in the strict metaphysical sense of the word, is at all calculated to heighten our veneration fort the Divine Being. And though, as is no wonder, we are utterly confounded when we attempt to form any conception of a being properly pervading,

100 101 102

Ebd., p. 49f. Siehe hierzu etwa Jan Rohls: Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart. Tübingen 2002, S. 395. Priestley: Disquisitions relating to Matter and Spirit (s. Anm. 95), p. 134–146 (»SECTION XI. Of the DIVINE ESSENCE according to the Scriptures.«).

Hißmann und Bonnet

115

and supporting all things, we are still more confounded when we endeavour to conceive of a being that has no extension, no common property with matter, and no relation to space.103

Festzuhalten ist also, dass Priestley für sich den eigentlich systematisch überwindbaren Widerspruch zwischen dem philosophischen Materialismus einerseits und der religiösen Überzeugungen von der Unsterblichkeit und der Existenz Gottes andererseits durch die dogmenkritische und rationalistische Theologie des Unitarismus beseitigen konnte. Hißmann suchte hingegen nicht den Ausweg der Heterodoxie; weder explizit noch in Andeutung bedient er sich der Argumente der Unitarier oder Priestleys, um seinen Glauben an Gott und die Auferstehung gegenüber seiner Seelenlehre zu legitimieren. Er bezieht sich lediglich andeutungsweise auf Bonnets Palingenesie, der ihm aber wie gesagt kaum passende Gründe für seine religiösen Annahmen liefern konnte: Hißmann hatte schließlich (wie Priestley) dessen durch Leibniz geprägte Seelenlehre verworfen. Seine rein weltliche Auffassung der Tugendhaftigkeit sowie seine strenge Verurteilung der theonomen Ethik ist zudem selbst mit dem nonkonformen Religionsbegriff der Unitarier in keiner Weise zu vereinbaren: Wie am Beispiel Priestleys gezeigt wurde, definierten die Unitarier ja die Auferstehung als eine Belohnung Gottes für einen guten Lebenswandel; in der Erlangung der Unsterblichkeit sahen sie demnach das Ziel der Religion. Und obschon Hißmann gebürtiger Siebenbürger war,104 existieren meines Wissens schließlich auch keine Indizien für einen personalbiographischen Bezug zum Unitarismus, der eine schlüssige Erklärung für die genannten Diskrepanzen in Hißmanns Darlegungen darstellen könnte.105

6. Hißmanns Religion – Überzeugung oder Taktik? Vor diesen Hintergründen ist es keineswegs einleuchtend, dass Hißmann tatsächlich keine fundamentalen Zweifel an den »wärmsten Lehren der Religion« gehegt haben will. Möglicherweise, so könnte man einwenden, wollte er aus rein gefühlsmäßigen Anlässen an ihren beiden Grundsätzen festhalten. Und zugegebenermaßen spricht hierfür, dass er starke Bedenken der Tatsache gegenüber äußert, die Philosophie und die Wissenschaft hätten mit ihren »nakten, kalten troknen, leeren Principien«106 irgendeine Kompetenz in Glaubensfragen; er scheint ein nahezu blindes Gottvertrauen zu haben, wenn er angibt, ihm sei die »Weisheit und Güthe des Schöpfers Bürge genug« für die Unsterblichkeit.107 Einem solchen Eifer lässt sich im Grunde nur schwer etwas entgegenhalten. Begreiflicher wäre jedoch, dass für Hißmann sozialtaktische und wissenschaftspolitische Erwägungen maßgeblich waren, wie hier nun abschließend erläutert werden soll.

103 104

105 106 107

Ebd., p. 146. Der Antitrinitarismus war vor allem in Klausenburg bis ins 18. Jahrhundert präsent; im Jahr 1789 belief sich die Zahl der Unitarier, die in Siebenbürgen eine gesetzlich anerkannte Konfession bildeten, auf 32.000. Siehe hierzu Otto Fock: Der Socinianismus (s. Anm. 93), Teil 1, S. 262. Vielleicht werden die Nachforschungen von Falk Wunderlich Präzisionen liefern. Siehe oben. Siehe oben.

116

Martin Schmeisser

Bekanntermaßen strebte der Naturforscher, der ab 1782 dann auch als Philosophieprofessor tätig war, eine akademische Karriere an. Hätte Hißmann sich nicht damit begnügen wollen, auf der Basis der Psychologie und der Neurologie den Nachweis der Materialität des Seelenwesens zu bringen, so hätte er zur Bescheinigung seiner Vergänglichkeit auch den Forderungen Bonnets nachkommen und zusätzlich eine grundlegende Religionskritik formulieren müssen. Ein solches Unterfangen wäre aber mit erheblichen persönlichen und beruflichen Risiken verbunden gewesen: Wie bereits in der Einleitung zu diesem Beitrag angedeutet wurde, sah das 18. Jahrhundert in der Leugnung der Unsterblichkeit (und der Existenz Gottes) eine virulente Bedrohung für die Sicherheit des Staates und den Fortbestand der Sittlichkeit. Selbst Christoph Martin Wieland, der, wie Gideon Stiening in seinem Aufsatz zu Johann Georg Sulzers Positionierung in der Unsterblichkeitsdebatte der Aufklärungszeit treffend feststellt, »seit den 1760er Jahren am weitestgehenden im deutschsprachigen Raum die Konsequenzen des Materialismus durchdacht und akzeptiert hatte«, konnte sich deswegen nicht entschließen, von einem deistischen Glauben an Gott und das Leben nach dem Tode »abzusehen«.108 Angesichts dieser Situation wollte Hißmann offenbar der Beschuldigung der Gottlosigkeit so weit wie möglich aktiv und passiv vorbeugen: Unverholen atheistisch-materialistische Autoren wie Helvétius, der 1758 bei dem Pariser Verleger Durand seine skandalträchtige Abhandlung De l’esprit veröffentlicht hatte und nur mit Mühe den harten Sanktionen durch die Obrigkeit entgehen konnte, zitiert er nur selten. Überdies beantwortet er die sich bei ihm aufdrängende Frage nach der Unsterblichkeit mit fragmentarischen und wenig zweckdienlichen Verweisen auf die Thesen Bonnets, der ihm allerdings den eigentümlichen Vorteil bietet, trotz seiner religiösen Zielsetzung auch die Gefahren des Materialismus für die Theologie herunterzuspielen. Um das Gemüt der Leser zu beschwichtigen, schickt bezeichnenderweise daher Priestley ebenfalls seinen Disquisitions, die wegen ihres zugleich wissenschaftlich und theologisch begründeten Materialismus besonders anstößig wirken mussten, einen Satz aus der Palingénésie voraus; auf dem Titelblatt der Ausgabe von 1777 zitiert er: Si quelqu'un demontreroit jamais que l'áme est materielle, loin de s'en alarmer, il faudroit admirer la puissance, qui auroit donné a la matière la capacité de penser. BONNETT. Palingenesie. Vol. I, p. 50.

Die Attraktionskraft Bonnets, der im 18. Jahrhundert zu den meistdiskutierten Fachgrößen auf dem Gebiet der Naturphilosophie und der Naturgeschichte zählte, beruhte auch auf der Besonderheit, dass er sich aufgrund methodischer Affinitäten in der Seelenlehre dem Materialismus annäherte, um darüber hinaus eine anti-materialistische Keim- und Präformationstheorie zu formulieren. Aufgrund dieser Ambivalenz lieferte er sowohl den Materialisten als auch den apologetisch orientierten Denkern methodisch und sachlich eine Argumentationsbasis zur wissenschaftlich-empirischen Begründung ihrer jeweiligen Positionen; letztere, zu denen etwa Bonnets Freund und Korrespondent Albrecht von Haller zählte, erkannten insbesondere in der durch 108

Gideon Stiening: Zur physischen Anthropologie einer »Unsterblichkeit der Seele«. In: Frank Grunert u. Gideon Stiening (Hg.): Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume. Berlin 2011, S. 57–81; hier S. 75. Zu Wielands Deismus siehe auch Martin Schmeisser: Aufklärung und Deismus bei Christoph Martin Wieland. ›Die Gedanken von der Freiheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophieren‹ (1788). In: Wieland-Studien 7 (2011), S. 19–42.

Hißmann und Bonnet

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Caspar Friedrich Wolff vehement verteidigten Epigenese eine Gefahr für die Religion und die christliche Schöpfungslehre.109 Bonnet war sich der potentiellen Sprengkraft seines Sensualismus bewusst; wiederholt sah er sich selbst mit dem Materialismusvorwurf konfrontiert. Daher rühren augenscheinlich seine Anstrengungen, die Bedrohung, die der Materialismus darstellte, gegenüber einer weitgehend voreingenommenen Leserschaft zu relativieren. Bonnet hatte diese Bedrohung jedoch gründlich unterschätzt, weshalb er ihr gegen seinen Willen erheblichen Vorschub leistete. Und dies zeigen die Ideen Hißmanns; vor einer abschließenden Bilanz seien die Ergebnisse hier noch einmal zur Verdeutlichung rekapituliert: Wie aus der Geschichte der Lehre von der Association der Ideen hervorgeht, lobt Hißmann Bonnets Seelenlehre insbesondere aufgrund der strikt empirischen und anti-spekulativen Herangehensweise; zudem sah er in Autoren wie Condillac, Bonnet, Search, Helvétius, Hartley, Priestley oder Locke Vorkämpfer für seine eigenen Theorien, die ihm insgesamt das passende Handwerkszeug zu Dekonstruktion der »Simplisten« bereitstellten. Hißmann wusste sich dabei gleichermaßen die Autorität Bonnets und die Schwächen der rein spekulativen Nachweise der Unsterblichkeit durch die Theorie der sogar unter dem Mikroskop noch unsichtbaren »germes incorruptibles« zunutze zu machen; er musste lediglich Bonnets »Monadologie« argumentativ und durch eindeutige empirische Befunde als »Feenmährchen« entlarven, um im Gegenzug auf der Grundlage seiner europaweit rezipierten Fibernpsychologie den materialistischen Standpunkt überzeugend und publikumswirksam zu begründen. Wenn Hißmann trotz seiner glaubensfernen Entwürfe Elemente aus Bonnets Theorie der Palingenesie aufruft, um ein systematisch unhaltbares Bekenntnis zur Auferstehung glaubhaft zu machen, so konnte er sich mithin ganz geflissentlich einer althergebrachten Simulationsstrategie bedient haben, die unter anderem bereits Giulio Cesare Vanini (1585–1619) angewandt hatte, um sich gegen die Anschuldigungen seiner Zeitgenossen zu schützen. Letzteres ist dem 1619 wegen Gottesleugnung und Blasphemie auf dem Scheiterhaufen in Toulouse hingerichteten Philosophen aber nicht immer gelungen: Wie der Jesuitenpater François Garasse (1585– 1631) in seiner gegen die Freidenker und Atheisten gerichteten Doctrine curieuse110 empört konstatiert, habe der maliziöse Vanini zwar die Theorie der spontanen Generation des Menschen als atheistische Auffassung denunziert; die Argumente, die er gegen sie vorbringe, seien jedoch so schwach, dass er alles andere getan hätte, als sie zu entkräften: […] en somme il conclud que c'est à la vérité l'opinion des Atheistes: mais […] il la combat si foiblement […] qu'il n'est pas besoing de le mettre à la gesne: ses paroles sont assez claires.111

Jean-Pierre Cavaillé konnte in diesem Zusammenhang nachweisen, dass Vanini diese Vorgehensweise methodisch anwandte, um seine Rechtgläubigkeit gegenüber den Zensoren und der kirchlichen Obrigkeit zu demonstrieren; glaubensfeindliche Hypothesen werden in den Texten des neapolitanischen Religionskritikers unterschwellig plausibilisiert, indem er sie nach einer detaillierten Darstellung ihrer jeweiligen Begründungen durch unzulängliche Gegenargumente abzuweisen vorgibt. Cavaillé erklärt ergänzend : »L’exposition des doctrines impies permet de 109 110 111

Caspar Friedrich Wolff: Theoria generationis. Ueber die Entwicklung der Pflanzen und Thiere. Übersetzt und hg. von Paul Samassa, mit einer Einleitung von Olaf Breidbach. Frankfurt a.M., Leipzig 1999. François de Garasse: La doctrine curieuse des beaux esprits de ce temps, ou prétendus tels. [...]. Paris 1623. Ebd., S. 650.

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Martin Schmeisser

soulever une série d'obstacles théoriques, dont la résolution apparaît insatisfaisante, voire est donnée comme insuffisante, et qui dans tous les cas interdisent de rejoindre une claire et ferme démonstration.«112 Überaus nahe liegend ist also die Schlussfolgerung, dass sich Hißmann dieser Tradition anschloss, dass er mit seinen systematisch brüchigen Ansätzen zum Beweis der Auferstehung keinen anderen Plan verfolgte, als die Libertins des 17. Jahrhunderts mit ihren halbherzigen Verteidigungen der orthodoxen Lehren.

112

Jean-Pierre Cavaillé: Dis/simulations. Jules-César Vanini, François La Mothe Le Vayer, Gabriel Naudé, Louis Machon et Torquato Accetto. Religion, morale et politique au XVIIe siècle. Paris 2002, p. 74.

II. NATURRECHT, RELIGIONSPHILOSOPHIE UND

POPULARPHILOSOPHIE

DIETER HÜNING

»Eine fruchtbare philosophische Fiktion.« Michael Hißmanns Beitrag zur Anthropologisierung des Naturzustandes1

1. Anmerkungen zur Rolle der Naturzustandskonzeption in der neuzeitlichen Philosophie Michael Hißmanns im Jahre 1780 anonym erschienene Untersuchungen über den Stand der Natur2 thematisieren eines der wichtigsten Theoreme der neuzeitlichen praktischen Philosophie. Hißmann verfolgt mit seiner Schrift eine doppelte Zielsetzung, in welcher sich die Zweideutigkeit der Naturzustandskonzeption widerspiegelt. Zum einen gehören die Untersuchungen – in Anknüpfung an Rousseau – in eine lange Reihe von Beiträgen der deutschen Aufklärungsphilosophie zur Debatte um das Verhältnis von Anthropologie und Geschichte im Allgemeinen und um den Naturzustand im Besonderen.3 Zum anderen liefert Hißmann in seinen Untersuchungen über den Stand der Natur einen Beitrag zu Fragen der Genesis und Geltung des Naturrechts. Bevor diese doppelte Stoßrichtung der Schrift näher untersucht wird, sollen einige Bemerkungen zur Rolle der Naturzustandskonzeption in der neuzeitlichen Naturrechtslehre vorangeschickt werden.

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3

Für Hinweise, Korrekturen und Kritik danke ich PD Dr. Gideon Stiening (München), Dr. Mikiko Tanaka (Marburg) sowie Sabrina Schneider (Trier). Michael Hißmann: Untersuchungen über den Stand der Natur. Berlin 1780. Alle Zitate ohne weiteren Nachweis beziehen sich auf diese Schrift. Zur Autorschaft vgl. Johann Karl Schuller: Magister Hißmann in Göttingen. Ein Beitrag zur siebenbürgisch-sächsischen Gelehrtengeschichte. In: Archiv des Vereins für siebenbürgische Landeskunde 6 (1863), S. 201–230, hier S. 208Anm. 12. In seiner Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie, Göttingen, Lemgo 21790 (§ 48: Stand der Natur) nennt Hißmann selbst die folgenden Schriften: Jens Kraft: Die Sitten der Wilden zur Aufklärung des Ursprungs und Aufnahme der Menschheit. Kopenhagen 1766; [Heinrich Friedrich Diez]: Der Stand der Natur. [Lemgo] 1775; [Johann Georg Purmann]: Sitten und Meinungen der Wilden in America. Frankfurt 1777. Auf Diez’ ›kleine, aber trefliche‹ Schrift verweist Hißmann auch in seinen Betrachtungen über die Naturgesetze. In: Heinrich Christian Boie, Christian Wilhelm von Dohm (Hg.): Deutsches Museum 1778, 2. Band, S. 529–543, hier S. 531. Zu Diez’ antireligiöser Polemik vgl. Daniel Minary: Le problème de l’athéisme en Allemagne à la fin du »Siècle des Lumières«. Paris 1993, pp. 431–447.

122

Dieter Hüning

Die Konzeption des Naturzustandes selbst hatte eine lange Vorgeschichte,4 aber erst mit dem epochemachenden Werk des Thomas Hobbes wird der Naturzustand zu einer Leitkonzeption der Rechts- und Staatsphilosophie.5 Hobbes benutzt diese Konzeption, um die traditionelle naturrechtliche Vorstellung »einer bereits unter den Bedingungen der Natur realisierten rechtlichen Einheit der Menschheit ad absurdum« (Herb) zu führen: Der Zustand, in dem sich Menschen von Natur aus, d.h. bei Hobbes »extra societatem civilem«, also außerhalb einer staatlich verfassten Gesellschaft befinden, ist keineswegs- wie die Tradition annahm – ein Zustand des friedlichen Zusammenlebens der Menschen unter der Herrschaft der lex naturalis, sondern ein Zustand permanenter, unvermeidlicher und unentscheidbarer Rechtskonflikte, in welchem jeder Richter in eigener und fremder Sache ist. Es ist zugleich ein Zustand, in welchem das natürliche Recht (jus naturale), über das jeder Mensch ursprünglich verfügt, aufgrund der je eigenen Urteilskompetenz von jedermann notwendigerweise die Form eines jus in omnia annimmt. Aus diesem Grunde erweist sich der status naturae als »bellum omnium contra omnes«. Aus den mit dem status naturae verknüpften rechtslogischen Überlegungen leitet Hobbes in einem ersten Schritt die so genannten natürlichen Gesetze, die er auch als »viae pacis« bezeichnet, als diejenigen Regeln ab, die zur Beendigung des Kriegszustandes erforderlich sind. In einem zweiten Schritt begründet Hobbes die Notwendigkeit der Schaffung der souveränen Rechtszwangsgewalt des Staates, weil nur unter der Bedingung der gleichen Unterwerfung aller unter einen machthabenden Willen der Friede institutionell gesichert werden kann. Auch bei Hobbes’ Nachfolgern (Pufendorf, Cumberland, Locke u.a.), die die hobbessche Konzeption überwiegend entschieden bekämpfen, zeigt sich die »prinzipielle systembildende Funktion, die diesem Begriff für die Theorie des ›status civilis‹ zukommt«.6 In diesen Theorien bildet die Konzeption des Naturzustandes die normativ-analytische Folie für die Bestimmung der Rechte und Pflichten, die jedem Menschen ›ursprünglich‹ oder ›von Natur aus‹ zukommen, wobei diese ›ursprüngliche‹ Rechtsausstattung wiederum eine normative Bestimmungsfunktion für den status civilis, d.h. für die Auffindung der juridischen Grundlage und des Umfangs der Rechte des Souveräns, ist. Diese methodische Funktion der Naturzustandskonzeption äußert sich in drei Aspekten: Sie steht zum einen im engen Zusammenhang mit der Vorstellung der natürlichen Freiheit,7 sie dient zum anderen als logisch-prinzipieller Ausgangspunkt zur Kon-

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5

6 7

Der Gedanke findet sich schon in der antiken Philosophie, vgl. Epikur: Kyriai doxai; Lukrez: De natura rerum V, 1011ff. Bernd Ludwig nimmt an, dass einige der zentralen »Ideen Hobbes’ reifer politischer Philosophie Epikureischen Ursprungs sind«, wobei dies aber gerade für die Naturzustandskonzeption von De cive nicht gelte, vgl. Bernd Ludwig: Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Frankfurt a.M. 1998, S. 401ff., spez. S. 402f. Vgl. hierzu die einführenden Bemerkungen zu den »Grundpositionen der neuzeitlichen Naturzustandstheorie – Hobbes und seine Kritiker« bei Karlfriedrich Herb: Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Begründungen. Würzburg 1989, S. 19ff. Ebd., S. 69. Thomas Hobbes: De cive. The Latin Version. A Critical Edition by Howard Warrender, Oxford 1983, VII, 18; ders.: Leviathan. In: Opera philosophica, vol. 3, cap. 31 (p. 254); Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium. Hg. von Frank Böhling. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Bd. 4. Berlin 1998, II, 2, § 3; ders.: De officio [hominis et civis juxta legem naturalem]. Hg. von Gerald Hartung. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Bd. 2. Berlin 1997, II, 1, § 8; Christian Wolff: Jus naturæ methodo scientifica pertractatum I. Frankfurt, Leipzig 1740, § 145; vgl. hierzu

»Eine fruchtbare philosophische Fiktion«

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struktion oberster naturrechtlicher Prinzipien8 und schließlich als Basis für den Nachweis der Notwendigkeit der Staatsgewalt.9 Diese naturrechtlich-kriteriologische Funktion der Naturzustandshypothese gerät allerdings ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend aus dem Blickfeld. Auslöser hierfür war JeanJacques Rousseaus Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes aus dem Jahre 1755. Mit Rousseau beginnt eine Entwicklung, die man als Anthropologisierung und Historisierung der Naturzustandskonzeption bezeichnen könnte, die dazu führt, dass im Anschluss an oder in Auseinandersetzung mit Rousseau in der französischen, der schottischen sowie in der deutschen Aufklärungsphilosophie die traditionellen naturrechtlichen Fragestellungen, wenn sie nicht vollständig verabschiedet werden, so doch zugunsten anthropologischer und historischer bzw. geschichtsphilosophischer Fragen in den Hintergrund gedrängt werden. Zwar besitzt auch bei ihm diese Begründungsfigur normativ-kriteriologische Funktionen, aber sie sind eingebettet in eine geschichtsphilosophische Theorie über den Ursprung und die Entwicklung der Menschheit. Rousseau eröffnet seine Überlegungen zum Naturzustand mit einem scharfen Angriff auf seine Vorgänger: »Les Philosophes qui ont examiné les fondements de la société, ont tous senti la nécessité de remonter jusqu’à l’état de Nature, mais aucun d’eux n’y est arrivé.«10 Er sieht deshalb seine Aufgabe darin, alte Irrtümer und eingewurzelte Vorurteile zu zerstören, um dadurch das Bild »du veritable état de nature« darstellen zu können.11 Rousseau beansprucht seine Mutmaßungen über den ursprünglichen Zustand des Menschengeschlechts »de la seule nature de l’homme« abgeleitet zu haben.12 Um den Naturzustand des Menschen richtig beurteilen zu können, sei es notwendig gewesen, »de le considerer dès son origine«. Anders als seine Vorgänger, denen er vorwirft den Unterschied »entre les conditions Sauvage et Domestique« verfehlt zu haben und »de confondre l’homme Sauvage avec les hommes, que nous avons sous les yeux«,13 will er den Menschen in demjenigen Zustand betrachten, in den ihn die Natur noch vor aller Sozialisierung bzw. Kultivierung versetzt hatte. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass Rousseau dadurch, dass er den Naturzustand in eine »histoire hypothétique des gouvernements« einbaut,14 die begründungstheoretische Funktion der Naturzustandshypothese grundlegend ändert, indem die rechtsphilosophischen Aspekte nahezu vollständig hinter das Interesse einer geschichtsphilosophischen »Rekonstruktion der Gattungsgeschichte der Menschheit« zurücktreten, so dass »aus einer derart konzipierten Nor-

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9 10

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Diethelm Klippel: Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn u.a. 1976, S. 35. Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith. Göttingen 1973, S. 42 u. S. 47; Klippel: Politische Freiheit (s. Anm. 7), S. 39. Ebd., S. 40. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes. In: ders.: Œuvres complètes. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Paris 1964, tome III, p. 132 (im Folgenden: OC Band, Seite). OC III, p. 160. OC III, p. 133. OC III, p. 139. OC III, p. 127.

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mierungsfunktion keine Erkenntnisse über die Rechtsgrundlagen des Staates zu erwarten sind«.15 Der Naturzustand dient bei Rousseau dazu, de démêler ce qu’il y a d’originaire et d’artificiel dans la nature actuelle de l’homme, et de bien connoître un Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais, et dont il est pourtant nécessaire d’avoir des Notions justes pour bien juger de nôtre état présent.16

Die Autoren in der Nachfolge Rousseaus verstehen den Naturzustand dann fast nur noch in dieser anthropologisch-geschichtsphilosophischen Perspektive als ursprüngliche Situation eines historischen Ausgangspunktes der Menschheitsentwicklung. Es geht nunmehr nicht um die Aufdeckung der ›ursprünglichen Rechtslage‹ der Menschen, sondern  wie Adam Ferguson in seiner History of Civil Society das zeitgenössische Verständnis des Naturzustandes skizziert  darum, to distinguish, in the human character, its original qualities, and to point out the limits between nature and art, some have represented mankind in their first condition, as possessed of mere animal sensibility, without any exercise of the faculties that render them superior to the brutes, without any political union, without any means of explaining their sentiments, and even without possessing any of the apprehensions and passions which the voice and the gesture are so well fitted to express. Others have made the state of nature to consist in perpetual wars kindled by competition for dominion and interest, where every individual had a separate quarrel with his kind, and where the presence of a fellow creature was the signal of battle.17

Ferguson selbst lehnt die Benutzung der Naturzustandshypothese ab. Nach seinem Verständnis ist der Historiker der civil society ebenso wie der »natural historian« verpflichtet, »to collect facts, not to offer conjectures«.18 Er spricht in diesem Zusammenhang von »a fond expectation, perhaps, that we may be able to penetrate the secrets of nature, to the very source of existence« und von den »many fruitless inquiries«, die in dieser Hinsicht angestellt worden seien. Überhaupt erweist sich die Frage nach dem Naturzustand als sinnlos: If we are asked therefore, Where the state of nature is to be found? we may answer, It is here; and it matters not whether we are understood to speak in the island of Great Britain, at the Cape of Good Hope, or the Straits of Magellan. While this active being is in the train of employing his talents, and of operating on the subjects around him, all situations are equally natural. If we are told, That vice, at least, is contrary to nature; we may answer, It is worse; it is folly and wretchedness. But if nature is only opposed to art, in what situation of the human race are the footsteps of art unknown? In the condition of the savage, as well as in that of the citizen, are many proofs of human invention; and in either is not any permanent station, but a mere stage through which this travelling being is destined to pass. If the palace be unnatural, the cottage is so no less; and the highest refinements of political and moral apprehension, are not more artificial in their kind, than the first operations of sentiment and reason.19 15 16 17 18 19

Herb: Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft (s. Anm. 5), S. 75, 85. OC III, p. 123. Adam Ferguson: Essay on the History of Civil Society. Ed. by Duncan Forbes. Edinburgh 1966, I, 1, p. 2. Ebd., p. 98. Ebd., p. 8. Das Argument, dass dem Menschen alle Formen der Vergesellschaftung in gleicher Weise natürlich sind, findet sich auch bei Diez: » Wir müssen dieses Wort [sc. die Natur, D.H.] entweder bey unsern Betrachtung ganz ausmerzen, und unter die Chimären verweisen – oder wir müssen alles auf der Welt, was existirt, wie es ist, wie es war und seyn wird, das alles die Natur nennen. In diesem Fall können wir sie nicht unter den Begriff einer eignen Beschaffenheit zwingen; wir können nicht sagen,

»Eine fruchtbare philosophische Fiktion«

125

Ähnliche Tendenzen hat die Forschung für das jüngere deutsche Naturrecht konstatiert, dem die Konzeption des Naturzustandes insgesamt fragwürdig geworden war. Der Naturzustand wurde von der überwiegenden Zahl der Naturrechtstheoretiker in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur noch als »bloße Hypothese« akzeptiert, die  entweder zur »Entdeckung des gesellschaftlichen Zustandes als die dem Menschen eigentlich natürliche und angemessene Lebensform« sowie die Entdeckung der ursprünglichen Rechte und Pflichten der Menschen zum Ziel hat, 

oder als Hypothese, die das Wesen des Menschen, seine Menschheit bzw. seinen geschichtlichen Ursprung zum Gegenstand hat.20

Wie schon erwähnt, verfolgt Hißmanns Schrift eine doppelte Zielsetzung. Zum einen gehören die Untersuchungen zu den Beiträgen der Debatte um das Verhältnis von Anthropologie und Geschichte. Im Einzelnen will Hißmann im Rahmen des ersten, der Anthropologie gewidmeten Teils seiner Schrift die folgenden vier Behauptungen nachweisen, 1. dass die Menschen von Natur aus ungesellig bzw. gegeneinander gleichgültig sind, 2.

dass es aber »nie einen solchen gleichgültigen oder ungeselligen Zustand der Natur gegeben« hat, weil der Mensch »stets in Gesellschaft gewesen« sei (S. 75)21 und, dass

3.

der Grund für die Vergesellschaftung nicht in einem wie auch immer gearteten »Hang zur Geselligkeit« zu suchen ist, sondern ausschließlich in dem »unbestimmten Trieb zur Glückseligkeit«, der nur »in der Gesellschaft auf eine befriedigende Weise gesättigt« werden kann (S. 75).

4.

Deshalb müsse man den Naturzustand bloß als »eine fruchtbare philosophische Fiktion, die der Weltweise, zur tieferen Ergründung der mancherlei Eigenschaften der menschlichen Natur, voraussetzt« betrachten (S. 78).22

Neben dieser anthropologischen Problemstellung will Hißmann in seinen Untersuchungen über den Stand der Natur auch einen Beitrag zu Fragen der Genesis und Geltung des Naturrechts liefern, insofern die Naturzustandskonzeption auch »zur richtigeren Darstellung der moralischen und

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hier oder da ist die Natur ausschlußweise, sondern sie herrscht überall, nur unter verschiednen Gestalten«, [Diez]: Stand der Natur (s. Anm. 3), S. 69. Übrigens findet sich das anthropologische Verständnis des Naturzustandes auch bei Autoren, die Rousseau entschieden bekämpfen. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist die Stellungnahme von Christoph Martin Wieland, vgl. seine Schrift Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen (1770). In: Cristoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Bd. 14: Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit. Leipzig 1795 [ND Hamburg 1984], S. 119– 175. Wieland war zur Zeit der Abfassung seiner Rousseau-Kritik Professor der Philosophie an der Universität Erfurt. Seine Einwände gegen Rousseau machen allerdings nur die Schwäche seiner Argumentation offenkundig. Klippel: Politische Freiheit (s. Anm. 7), S. 114ff. Vgl. Hißmann: Untersuchungen (s. Anm. 2), S. 89: »Es hat keinen Stand der Natur gegeben; es existiert jezt kein Stand der Natur; und es wird keinen solchen Zustand geben, so lange der Mensch, Mensch seyn wird.« Vgl. Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 3), § 171, S. 321: »Die festete und bestimmteste Idee vom Naturrecht ist die, wenn es zum Inbegriff aller natürlicher, schon vor und ohne alle Konvention geltender vollkommener oder äußerlicher Recht und Pflichten macht.«

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politischen Verhältnisse der Menschheit, mit gutem Nutzen gebraucht werden« (S. 79) kann. Die Fruchtbarkeit der ›philosophischen Fiktion‹ des Naturzustandes soll, nachdem durch sie die Natur des Menschen erläutert worden ist, nach Hißmanns Auffassung auch dazu taugen, die »wesentlichen Bestandtheile [...] der Begriffe von Recht und Unrecht« aufzuzeigen. Diesem Nachweis dient der letzte und längste Abschnitt der Schrift. Hißmanns Schrift reiht sich also in die nachrousseauistischen Versuche der Umdeutung bzw. Umfunktionalisierung der Naturzustandshypothese ein. Sein leitendes Interesse ist im Unterschied zu seinen Vorgängern die Bekämpfung der Lehre von der natürlichen Sozialität der Menschen. Hißmann ignoriert deshalb weitgehend die oben angesprochene systembildende Funktion, die dem Konzept des Naturzustandes in der Naturrechtslehre der klassischen Autoren des 17. Jahrhunderts wie Hobbes, Pufendorf und Locke zukommt.

2. Zurückweisung falscher Auffassungen vom Naturzustand: Gegen Hobbes und Pufendorf Hißmann beginnt mit der Schilderung des Naturzustandes in den beiden wichtigsten konkurrierenden Fassungen, wie sie die Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts formuliert hat. Der hobbessche Naturzustand – so behauptet Hißmann jedenfalls – sei ein Zustand, »in welchem die edlen Menschheitsgefühle von den stürmischen Fluthen der Zügellosigkeit, Wildheit und Barbarei weggeschwemmt und ersäuft werden« und »in welchem Geschöpfe seiner Art die Mordkeule« gegeneinander »empor schwingen« bzw. ein Zustand des permanenten Mangels an Lebensmitteln und der allseitigen Feindschaft der Menschen (S. 7). Ich brauche hier nicht besonders hervorzuheben, dass dieses von Hißmann gezeichnete Bild nur sehr wenig mit den hobbesschen Intentionen zu tun hat. Hobbes’ Naturzustandskonzeption, die von ihm exakt als »conditio hominum extra societatem civilem« bestimmt wird, dient nicht zur Ergründung des ursprünglichen Zustandes bzw. des Ausgangspunktes der menschlichen Zivilisation, auch nicht zur Darstellung der menschlichen Natur, wie sie zu Beginn der geschichtlichen Entwicklung ausgesehen haben mag, sondern ist schlicht eine juridische Fiktion zur Analyse der Rechtslage der Menschen in einer Lage, in der keine souveräne Zwangsgewalt existiert. Auf der anderen Seite skizziert Hißmann das Gegenbild des Naturzustandes, den er Pufendorfs Naturrechtslehre glaubt entnehmen zu können. In diesem »glücklichen Stand der Genügsamkeit« werden die Menschen nicht durch »pressende Bedürfnisse« nach Nahrung oder des Überlebenskampfes drangsaliert. Den Menschen in diesem Zustand der primitiven Genügsamkeit quälen »keine unerfüllbaren Wünsche, täuschende Hofnungen und lästige Sorgen; und Neid, Mißgunst und die übrigen erkünstelten lasterhaften Gemüthsbewegungen zehren ihn nicht aus« (S. 9), weshalb der Naturmensch hier weder Mangel empfindet noch seine Mitmenschen als Konkurrenten begreift. Es stellt sich nun die Frage, »in welchen von diesen beiden Schilderungen [...] die wahre Natur charakterisirt« ist (S. 10f.). Hißmanns Antwort ist eindeutig: Er lehnt beide Konzeptionen des Naturzustandes ab: »Der Sohn der Natur ist weder ein hobbesisches Raubthier, noch ein puffendorfscher geselliger Philanthrop« (S. 11). Gegen Hobbes erhebt Hißmann, wie schon Rous-

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seau, den Vorwurf, er habe seine Variante des Naturzustandes bloß aus der Abstraktion der bestehenden Gesellschaft gewonnen.23 Insbesondere wird die Vorstellung kritisiert, die Vernichtung der societas civilis bedeute eine Rückkehr in den Naturzustand, so dass sich »der Staub einer zerstäubenden bürgerlichen Gesellschaft verwandle sich in Naturmenschen« (S. 11): Aus Natursöhnen werden, wenn erst gewisse Vorfälle vorher gegangen sind, Söhne des Staats; nicht aber werden, wie doch die Philosophen annehmen, aus verdorbenen, zertrümmerten Bürgern, die sich, als ehemalige Glieder eines Staatskörpers, von demselben gewaltsam losreißen, und nun in freien, unbewohnten Gegenden, die Zügel- und Gesezlosen machen wollen, – Naturmenschen (S. 17).24

Auch die Vorstellung der Schrankenlosigkeit des Wollens, das hobbessche ›ius in omnia‹, wird – ganz in Übereinstimmung mit den Überlegungen Rousseaus – kritisiert: Die »ächten Menschen der Natur« haben keine Bedürfnisse und Wünsche, diese sind vielmehr durch »enge Schranken« charakterisiert (S. 14). Deshalb gibt es auch keinen Anlass, warum die Menschen im Naturzustand zueinander in Gegensatz geraten könnten, weil ihre Bedürfnisse nicht über das hinausgehen, was sie unmittelbar erlangen können: »Was er verlangt, kann er [der Mensch der Natur, D.H.] haben. Denn die Sphäre seiner Güter ist begränzt, und der vergnügende Kützel derselben ist meistens in den Augenblick des Genusses selbst beengt« (S. 14). Nur das gesellschaftliche Leben ist es, was die Keime der unerhörten Bosheit ins menschliche Herz ausstreuet, deren Entwickelung es auch pflegend begünstiget (S. 16).

3. Kritik der Lehre von der natürlichen Geselligkeit und Sympathie Nach der Kritik der verschiedenen Konzeptionen des Naturzustandes geht Hißmann zur Zurückweisung der Lehre von der natürlichen Geselligkeit des Menschen über (S. 20ff.). Er kritisiert hier die »Unzulänglichkeit der Beweise für die natürliche Geselligkeit des Menschen«, wie sie nach seiner Ansicht vor allem von Hermann Samuel Reimarus und Henry Home25 vorgebracht worden sind. Reimarus’ Behauptung, dass Menschen sich wegen ihrer Schwachheit und Schutzlosigkeit und aus Furcht vor ›bösartigen Thieren‹ zusammenschließen, wird zurückgewiesen, weil diese »Erinnerung [...] zu hoch in der Region des Allgemeinen hangen bleibt« (S. 21). Auch »aus der Zwangsverbindung zwischen Mutter und Kind« könne man die »Geselligkeitsliebe der mensch23

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25

Diesen Vorwurf hatte schon Diez erhoben: »Hobbes, Grotius, Puffendorf, Wolff und andre« hätten »das Bild der Natur aus der bürgerlichen Gesellschaft entlehnt« (S. 9ff.): »Es läßt sich indessen leicht nachrechnen, wodurch die Scribenten, mit denen wir hier zu thun haben, auf ihre Entwicklung der menschlichen Verbindungen gerathen sind. Sie hatten unsre Staaten vor Augen, und stellten sich den entstehenden Erfolg vor, wenn unsre bürgerlichen Band aufgelöset würden.« ([Diez]: Der Stand der Natur. [s. Anm. 3], S. 16). Ähnlich äußert sich Hißmann schon in den Betrachtungen ([s. Anm. 3], S. 530): »Unter allen Beschreibungen des Standes der Natur ist keine einzige unrichtiger und schiefer, als die, die alle ihre Data aus der Voraussetzung herüberholt, daß bürgerliche Menschen in den Stand der Natur zurückfallen und Naturmenschen werden würden.« Hißmann verweist auf Reimarus’ Schrift Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Hamburg 1754, VII, § 5 sowie auf Henry Home: Sketches of the History of Man. Edinburgh 1774.

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lichen Natur« (S. 24) nicht folgern. Dasselbe gilt schließlich von der »Befriedigung des Geschlechtstriebs«. Ebenso wird Reimarus’ Argument, die Vergesellschaftung der Menschen habe ihren Grund in der Notwendigkeit der Aufzucht der Kinder, abgelehnt, weil das »gegenseitige Verhältniß der jungen zu den alten Thieren mitnichten der Untersuchung über eine eingepflanzte Zuneigung derselben zueinander beigemischt werden darf. Denn dieser Drang ist physisches Bedürfniß« (S. 28f.). Auch die Mutterliebe, als eine »durch das pressendeste physische Bedürfniß erzwungene Verbindung« zwischen Mutter und Kind, kann nach Hißmanns Auffassung nicht als Beweis »einer dem Menschen eingepflanzten Neigung zur Geselligkeit« betrachtet werden, »so wenig sich von dem an der Kette liegenden frölichen Wahnsinnigen« gesagt werden kann, »daß er Neigung zu diesem traurigen Aufenthaltsort habe« (S. 62). Die mütterliche Pflege ist keine »Frucht der Zuneigung zum gebornen Kind«: Dass Mütter ihre Kinder säugen, ist nur physiologisch bedingt, da der andernfalls entstehende Schmerz »durch das Saugen des Kindes nachlässt«. Darüber hinaus bietet ein »ebengebornes menschliches Kind« keinen erfreulichen Anblick, vielmehr müssten Mütter, die ihren Säugling liebten, das »Gefühl des Schönen [...] ganz abgestumpft« haben. Denn der Säugling gehört zu den »häßlichsten unter allen Gegenständen der ganzen Schöpfung [...]. Widerlich, unangenehm und beleidigend sind die Eindrücke, die [er] auf einen jeden unsrer äußeren Sinne macht. Der Anblick desselben ist unaushaltbar« (S. 63). Erst allmählich geht »jene ursprüngliche Bedürfnißverbindung« zwischen Mutter und Kind »in wahre Zuneigung und Liebe über« (S. 64). In Wahrheit beruhen alle diese Mutter-Kind-Beziehungen auf einer »blos transitorische[n] gesellschaftliche[n] Verbindung« (S. 55). Als Verfechter einer Theorie des  von Helvétius vorgezeichneten26  psychologischen Egoismus bekämpft Hißmann schließlich die Lehre von der natürlichen Sympathie der Menschen. Sie findet seiner Auffassung nach zum einen keine Anwendung auf den Naturzustand. Die Sympathie, die er als »die Fähigkeit des Menschen, an allen Arten an- und unangenehmer Empfindungen fühlender Wesen Theil zu nehmen«, ist erst Resultat der Vergesellschaftung: »[D]ie sympathischen Empfindungen, Mitleid sowol als Mitfreude, [sind] vom bürgerlichen Leben Nachbar« (S. 40). Außerdem erweist sich die Sympathie als reflektierte Selbstliebe: Sie ist nichts Ursprüngliches, »kein eigenthümlicher, unabhängiger Grundtrieb« (S. 42), sondern nur als abgeleitetes Phänomen der Selbstliebe.27 Wir versetzen uns nur dort »in die Stelle des Andern« (S. 44), wo wir hoffen können, dass »Andre wiederum mit unsern Ereignissen mitleiden, 26 27

Vgl. hierzu u.a. Claude-Adrien Helvétius: Vom Geist. Aus dem Französischen übersetzt von Theodor Lücke. Berlin, Weimar 1973, S. 125ff. Hißmann betont in diesem Zusammenhang die Einheit der menschlichen Natur, die auf einem ›großen Triebwerk‹ beruht, weshalb der Sympathie nicht der Status einer eigenständigen ›Grundkraft‹ zugesprochen werden darf: »Sympathie ist kein eigenthümlicher, unabhängiger, zweiter Grundtrieb, der etwa in der andern [d.h. der Selbstliebe, D.H.] residiret. Mehrheit von Grundtrieben, die für sich subsistiren, in einem einzelnen Menschen annehmen wollen, geschieht so wenig aufs Anrathen einer gesunden Philosophie, so wenig das Abtheilen mehrer Grundkräfte einer menschlichen Seele in mehrere Kapitel, in der wirklichen Natur so aussieht, wie in den ganzen Kompendien der Psychologie. Der ganze Mensch ist Eins. Es laufen nicht mehrere von einander unabhängige Triebwerke in ihm neben einander fort; sondern es ist ein großes Triebwerk, in welches alle Lebenskräfte eingreifen« (Hißmann: Untersuchungen [s. Anm. 2], S. 42f.).

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oder sich mitfreuen«. Daraus resultiert die Begrenztheit der Sympathie, denn wir sympathisieren dort nicht, »wo wir voraus berechnen, daß wir nie in denselben Fall kommen, oder daß uns die an- und unangenehmen Folgen vom gegenwärtigen, einen Andern betreffenden Schicksale, nicht zu Theil werden können«, weshalb sich – so Hißmanns Schlussfolgerung – die Sympathie »ganz in die Selbstliebe auflöset« (S. 46f.).

4. Hißmanns Lehre von der natürlichen Indifferenz der Menschen Nach der Zurückweisung der verschiedenen Lehren über den Naturzustand bzw. und nach der Kritik an den verschiedenen Begründungen der natürlichen Geselligkeit, versucht Hißmann selbst, eine positive Bestimmung der Menschen im Naturzustand zu geben. Den entsprechenden Ausgangspunkt bildet die Frage: Wenn der Mensch »von Natur [...] weder gesellig, noch ungesellig« (S. 50) ist, was ist er dann? Hißmanns Antwort lautet: »Er ist gleichgültig«. »Diese Gleichgültigkeit gegen Andre, dieser kummerlose Zustand ist der wahre Charakter der menschlichen Natur, der sich sogar bei den verwickeltesten Verbindungen in der bürgerlichen Gesellschaft nicht ganz verleugnen lässt« (ebd.). Mit dieser an Rousseau anknüpfenden »Eigenschaft der unbekümmerten Gleichgültigkeit«28 geht »der natürliche Hang des Menschen zu Ruhe, zur Unthätigkeit und zur Trägheit« (S. 51)29 und schließlich »das Bedürfnis des Vergnügens« einher: Unter allen Bedürfnissen, die zur Unterhaltung der durch andre Mittel entzündeten Neigung zur Geselligkeit das meiste beigetragen [haben], scheint dies Bedürfnis des Vergnügens das hauptsächlichste zu seyn (S. 57).

Wie wir gesehen haben, lehnt Hißmann die Vorstellung der natürlichen Sozialität des Menschen ab. Dennoch betrachtet er die Gesellschaft als die dem Menschen angemessene Lebensform und erkennt die »Richtigkeit der Behauptung so vieler Schriftsteller, Montesquieu’s, Ferguson’s, und anderer [an], [...] wenn sie sagen: Der Mensch ist in Gesellschaft geboren, und hier bleibt er« (S. 74f.). Der Grund für die Sozialität der Menschen liegt nicht in einem »ursprünglichen Trieb zur Geselligkeit«, sondern darin, »weil er einen unbestimmten Trieb zur Glückseeligkeit« hat, der in der Gesellschaft auf eine befriedigende Weise gesättigt wird: Eben deswegen hat es auch nie einen solchen gleichgültigen und ungeselligen Stand der Natur gegeben; und die Menschheit wird auch, so lang die Welt stehn wird, nie in diesen rohen Zustand der außergesellschaftlichen Wildheit herabsinken können. Der Mensch ist stets in Gesellschaft gewesen.

Die ursprüngliche Gleichgültigkeit »gegen Wesen seiner Art verwandelt sich in eine wirkliche Neigung zur Gesellschaft; sobald gewisse Bedürfnisse hinzukommen, die in einem isolierten Zustand nicht befriedigt werden können« (S. 54f.). Zu den Bedürfnissen, welche eine dauerhafte Vergesellschaftung initiieren, gehört die »Befriedigung des Geschlechtstriebes«, obwohl auch dieser zunächst nur zu einer »transitorische[n] gesellschaftliche[n] Verbindung« (S. 55) führt. 28 29

Rousseau hatte in seinem Discours sur l’inégalité die Notwendigkeit betont, die Entstehung der Zivilisation ohne Rückgriff auf das Prinzip »de la sociabilité« (OC III, pp. 126, 151) zu erklären. In seinem Hauptwerk Psychologische Versuche. Ein Beitrag zur esoterischen Logik. Göttingen, Lemgo 1777, wird dieser Gedanke Helvétius zugeschrieben, vgl. S. 163.

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Deshalb hält es Hißmann auch für »nichts weniger als wahrscheinlich, [...] daß nemlich der Drang des Geschlechtstriebes die Hauptursache der Vereinigung der Menschen in die Gesellschaft sey« (ebd.). Die Permanenz der Vergesellschaftung muss deshalb andere Gründe haben, die Hißmann schließlich im Vergnügen findet, »welches ein geselliges Leben so reichlich uns darbietet, daß der weisere Oekonom des Vergnügens viele Nebenbäche ableiten muß, um sich am Hauptstrome desto ungestörter laben zu können«: Unter allen Bedürfnissen, die zur Unterhaltung der durch andre Mittel entzündeten Neigung zur Geselligkeit das meiste beitragen, scheint dies Bedürfniß des Vergnügens das hauptsächlichste zu seyn (S. 57).

5. Der Vorschein der Rassentheorie: die Behauptung der rechtlichen Ungleichheit der Menschen Die Publikation von Hißmanns Schrift fällt in eine Zeit, in der die »Metaphysik der Rassen« − um einen Ausdruck von Luigi Marino zu benutzen30 – in Göttingen en vogue war. Ausgehend von Johann Friedrich Blumenbachs Abhandlung De generis humani varietati aus dem Jahre 1775 entspann sich eine intensive Debatte um die Gründe der angeblichen Verschiedenheit der Menschenrassen, zugleich aber über die Naturgeschichte der Menschheit insgesamt.31 Der materialistisch gefärbte Objektivismus bzw. die materialistische Psychologie Hißmanns steht im Zusammenhang mit diesen Debatten. Die Beschreibung der Verschiedenheit der Menschen, was bei Hißmann identisch ist mit ihrer unterschiedlichen physiologischen, kulturellen und rechtlichen Wertigkeit, wird auf angeblich objektive, durch Erfahrung erkennbare Faktoren, wie das Klima, zurückgeführt. Den Gedanken der Abhängigkeit der Formen der Vergesellschaftung von derartigen Faktoren wie Klima, geographische Lage, Ernährungsgewohnheiten usw. hatte Montesquieu in seinem Werk De l’esprit des lois in die Debatte eingeführt.32 Montesquieu hatte v.a. in den klimatischen Bedingungen den Grund gesehen, warum in Europa – anders als in Asien, wo ein »espirit de servitude« vorherrschend sei - »un génie de liberté« entstanden sei.33 Dieser Position schließt sich auch Rousseau an, wenn er in seiner Schrift Du contrat social schreibt: La liberté, n’étant pas un fruit de tous les Climats n’est pas à la portée de tous les peuples. Plus on médite ce principe établi par Montesquieu, plus on en sent la vérité. Plus on le conteste, plus on donne occasion de l’établir par de nouvelles preuves.34

30 31

32 33 34

Luigi Marino: Praeceptores Germaniae. Göttingen 1770–1820. Göttingen 1995, S. 90ff. Im Zentrum stand hierbei ein Angriff von Meiners auf seinen Göttinger Kollegen Blumenbach, vgl. hierzu Frank W. P. Dougherty: Christoph Meiners und Johann Friedrich Blumenbach im Streit um den Begriff der Menschenrasse. In: Gunter Mann u. Franz Dumont (Hg.): Die Natur des Menschen. Probleme der Physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750-1850) [Sömmering-Forschungen, Bd. VI]. Stuttgart, New York 1990, S. 89–111. Charles-Louis de Montesquieu: De l’esprit des lois. Genève 1748, XVII, ch. 2. Ebd., XVII, ch. 6; vgl. auch ch. 3. Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social, III, ch. 8 (OC III, p. 414).

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Was bei Montesquieu und Rousseau noch einen harmlosen Versuch darstellt die Diversität der Formen der Vergesellschaftung auf die sie determinierenden empirischen Voraussetzungen zurückzuführen, wird bei späteren Autoren umgedeutet in eine angeblich zugrunde liegende Verschiedenheit der menschlichen Rassen. Dies scheint ein typisches Muster des neuzeitlichen, von theologischen Voraussetzungen, unabhängigen pseudowissenschaftlichen Rassismus im späten 18. Jahrhundert zu sein. Zunächst werden – scheinbar objektiv bedingte - Unterschiede in den Existenzbedingungen der Menschen und zwischen verschiedenen ›Rassen‹ konstatiert, diese wiederum auf ebenso ›objektive‹ Faktoren bzw. Gründe zurückgeführt und dann beides als Grundlage für die Bestimmung der Minder- bzw. Höherwertigkeit zusammengeführt35: In den nördlichen Gegenden verliert der thierische Körper weit weniger durch die unmerkliche Ausdünstung, als im Süden. Die Kälte des Nordens ziehet die Fibern zusammen; verengt die Oefnungen der Haut, länget und stärkt den Körper, mittelst der vielen zurückbleibenden Theilchen, die der Südländer einbüßt. Die Gehirnorganen sind kompakter, gespannter und gröber. Dies ist der Grund der Rohheit der Nordländer; aber auch von ihrer Beharrlichkeit, ihrem Muth, ihrer Abhärtung. (S. 70)

Eine solche physiologische Beschaffenheit einzelner Menschen wird von Hißmann umstandslos in den »Geist der ganzen Nation« übersetzt. Es sei deshalb kein Wunder − sagt Hißmann in Übernahme eines Gedankens, der sich bei Montesquieu36 und Hume37 findet − »daß alle Er-

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36 37

Léon Poliakov, Christian Delacampagne u. Patrick Girard: Rassismus. Über Fremdenfeindlichkeit und Rassenwahn. Hamburg 1992, S. 20f.: »Hätten sich die Anthropologen darauf beschränkt, die Menschengruppen nach ihren physischen Merkmalen zu gliedern und daraus keine weiteren Schlüsse zu ziehen, wäre ihre Arbeit so harmlos wie die des Botanikers oder Zoologen und lediglich deren Fortsetzung gewesen. Doch stellte sich schon gleich zu Beginn heraus, dass diejenigen, die die Klassifikationen vornahmen, sich das Recht anmaßten, über die Eigenschaften der Menschengruppen, die sie definierten, zu Gericht zu sitzen: indem sie von den physischen Merkmalen Extrapolationen auf geistige oder moralische vornahmen, stellten sie Hierarchien von Rassen auf.« Montesquieu: De l’esprit des lois (s. Anm. 32), XVII, ch. 4f. David Hume: Of National Characters. In: ders.: Essays Moral, Political, and Literary. Ed. by Eugene F. Miller. Indianapolis 1987, p. 211. Humes Überlegungen sind denjenigen von Hißmann entgegengesetzt, da Hume die Rolle der physischen Ursachen im Hinblick auf die Unterschiede der Nationalcharaktere – insbesondere des Klimas – bestreitet und statt dessen behauptet, dass »all national characters, where they depend not fixed moral causes, proceed from accidents [...], and that physical causes have no discernible operation on the human mind« (p. 203). Allerdings findet sich in diesem Aufsatz auch eine berüchtigt gewordene Fußnote, die Hume in späteren Auflagen seiner Essays hinzugefügt hat und durch die sich Hißmann in seinen rassistischen Vorurteilen bestätigt fühlen konnte. In dieser Fußnote hatte sich Hume folgendermaßen über die naturgegebene Unterlegenheit der Afrikaner geäußert: »I am apt to suspect the negroes to be naturally inferior to the withes. There scarely ever was a civilized nation of that complexion, not even any individual eminent either in action of speculation. No ingenious manufactures amongst them, no arts, no sciences. [...]. Such a uniform and constant difference could not happen, in so many countries and ages, if nature had not made an original distinction between these breeds of men« (p. 208). Zu Humes Behauptung der Überlegenheit der Europäer gegenüber dem Rest der Menschheit vgl. Richard H. Popkin: The Philosophical Basis of Eighteenth-Century Racism. In: Harold Pagliaro (ed.): Racism in the Eighteenth Century. Cleveland, 1973, pp. 245–262; John Immerwahr: Hume’s Revised Racism. In: Journal of the History of Ideas 53 (1992), pp. 481–486; Emmanuel C. Eze: Hume, Race, and Human Nature. In: Journal of the History of Ideas 61 (2000), pp. 691–698; Andrew Valls: »A Lousy Empirical Scientist«. Reconsidering Hume’s Racism. In: Andrew Valls (ed.), Race and Racism in Modern Philosophy. Ithaca, NY 2005, pp. 127–149.

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oberer aus Norden ausgegangen« sind. Hißmanns klimatheoretische Überlegungen münden in folgendem Sittengemälde: Ein ungebildeter Naturmensch, der in den Wäldern der Nordwelt herumirret, wird […] wegen des lebhaften Gefühls seiner Kraft und Superiorität, weniger rachsüchtig seyn. Aus eben diesem scharf hervorstechenden Kraftgefühl entspringt seine Ueberredung von Sicherheit und Unverlezbarkeit. Daher eine größere Offenherzigkeit und Freimüthigkeit; Mangel an argwöhnischen Wesen, Entfernung von Arglist, um wirklichen oder eingebildeten Schlingen zu entgehen, oder sie selbst Andern zu legen; Standhaftigkeit und Tapferkeit; Munterkeit des Geistes und des Körpers; Beseelung von wirksamen Eifer zur Behauptung der Würde ihrer Menschheit. − Alle diese vom kalten Klima bewirkten Eigenschaften sind als Modificationen jenes Hauptzugs im Bild des Naturmenschen, seiner Gleichgültigkeit ziemlich vortheilhaft. Unter dem Aequator leben ganz andre Menschen. Welche Kleinheit, Magerkeit und Schwäche des Körpers! Welche Feigheit und Schlaffheit der Seele! Sie scheinen zur Sklaverei geboren zu seyn. Weil sie sich so wenig mit Kraft ausgerüstet fühlen: so nehmen sie zum Berücken ihre Zuflucht. Der Neger lügt und betrügt; weil er keine Fäuste hat. Hier sucht man die nördliche Offenheit des Charakters vergeblich. Die Fibern werden reizbar, durchs Vertrocknen, und durchs Verfliegen der Lebensgeister (S. 71f.).

Allerdings ist zu konstatieren, dass solche Überlegungen bei Hißmann (noch) nicht in eine systematische Rassentheorie münden.38 Erst sein Göttinger Kollege Christoph Meiners wird diese Überlegungen zur Unterlegenheit der nicht-europäischen Völker dann in verschiedenen Ab-

38

Hinzuweisen ist allerdings auf Hißmanns ablehnende, mit antijudaischen Klischees gespickte Rezension des ersten Bandes von Christian Wilhelm von Dohms Schrift Ueber die Verbesserung des bürgerlichen Zustands der Juden. Berlin 1781. In: Zugabe zu den Göttingischen gelehrten Anzeigen, 48.1, Dezember 1781, S. 753–763; vgl. zur Wirkung von Dohms Vorschlag Gerda Heinrich: »... man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie en haleine halten«. Die Debatte um »bürgerliche Verbesserung« der Juden 1781–1786. In: Ursula Goldenbaum (Hg.): Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687– 1796. 2 Bde. Berlin 2004, Bd. II, S. 813–895. Hißmann hatte einige Jahre zuvor Dohm sein materialistisches Hauptwerk (Psychologische Versuche [s. Anm. 29]) gewidmet. Zu Hißmanns Rezension (die anfangs J. D. Michaelis zugeschrieben wurde) und Dohms Reaktion hierauf vgl. Schuller: Magister Hißmann in Göttingen (s. Anm. 2), der auch darauf hinweist, dass Hißmann mit Michaelis »auf einem sehr vertrauten Fuße gestanden« habe (ebd., S. 221). Hißmann bezweifelt sowohl die Möglichkeit einer »allgemeine[n] Aufklärung, deren Bewirkung der Sittlichkeit für alle Stände zureichte« als auch die »Ausführbarkeit« von Dohms Vorschlägen zur Emanzipation der Juden. Insbesondere bestreitet er den Willkürcharakter der Gesetzgebungen für die Juden. Solche gesetzlichen Maßnahmen gegen die Juden seien nicht aus religiösen Gründen bzw. nicht wegen der Judenfeindschaft der Christen erlassen worden, sondern hätten schon in der Antike bestanden: »Allein wenn nun die Geschichte, die doch hier allein entscheiden kann, lehrte, daß die Juden gedrückt worden sind, weil sie nichts taugten?« Auch Dohms Ansicht, »der bestimmte Charakter einer Nation [wie der Juden, D.H.] sey nicht eine unterscheidende unabänderliche Eigenschaft einer ihr eigenen Modification der menschlichen Natur« (S. 56f.), wird von Hißmann bestritten. Vgl. auch Hißmanns Rezension der von Moses Mendelssohn herausgegebenen Schrift Manasseh Ben Israel: Rettung der Juden (Göttingische Gelehrte Anzeigen von gelehrten Sachen, 3. Stück, 14. Sept. 1782, S. 889–894) und des zweiten Bandes von Dohms Schrift (Göttingische Gelehrte Anzeigen von gelehrten Sachen, 50. Stück, 27. März 1784, S. 489–491). Zu den Hintergründen des in Göttingen verbreiteten Antisemitismus und der Rolle, die der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis hierbei spielte, vgl. Anna-Ruth Löwenbrück: Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung. Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitismus am Beispiel des Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717–1791). Frankfurt a.M. u.a. 1995.

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handlungen breittreten.39 Meiners’ Abhandlung Ueber die Natur der afrikanischen Neger aus dem Göttingischen Historischen Magazin40 von 1790 liegt weitgehend auf der Linie, die Hißmann in seiner Abhandlung über den Stand der Natur vorgezeichnet hat. Zugleich lässt sich an dieser systematischen Stelle der Umschlag der Anthropologie in Rassismus konstatieren, denn deutlicher noch als Hißmann glaubt auch Meiners die genetischen und entwicklungsgeschichtlichen Differenzen zwischen den Menschen für Aussagen über ihre differente kulturelle Wertigkeit und ihre unterschiedliche Rechtsansprüche fruchtbar machen zu können.

6. »Eine fruchtbare philosophische Fiktion«  Naturzustand und Naturrecht Die von Hißmann angeführten Klischees über die Minderwertigkeit und moralischen Defizite der Menschen »unter dem Aequator« bilden ihrerseits die Voraussetzung für die Besprechung auch der angeblichen rechtlichen Ungleichheit unter den verschiedenen Menschenrassen. Wir hatten schon gesehen, dass Hißmann den »Stand der Natur [...] als eine fruchtbare philosophische Fiktion, die der Weltweise, zur tiefern Ergründung der mancherlei Eigenschaften der menschlichen Natur, voraussetzt« (S. 78), betrachtet. Obwohl fiktiv, kann »diese erdichtete Voraussetzung [...] auch zur richtigeren Darstellung der moralischen und politischen Verhältnisse der Menschheit, mit gutem Nutzen gebraucht werden« (S. 79). Als Anwendungsfall dieser rechtsphilosophischen Perspektive des Naturzustandes gelten Hißmann die internationalen Beziehungen: Eins der wichtigsten politischen Verhältnisse, welches aus der Beschaffenheit der Beziehungen einzelner Menschen im Stand der Natur beurtheilt werden muß, ist das Verhältniß einzelner Staaten zu einander (S. 79).

Mit der Einschätzung, die Naturzustandshypothese diene nicht nur der Aufhellung der Ursprünge der Zivilisation, sondern besitze auch einen rechtsanalytischen Wert, leitet Hißmann zu seiner – wie er sich ausdrückt – »Hauptfrage, den Stand der Natur betreffend« über: »Giebt es im Stand der Natur Recht und Unrecht, und wie sieht es damit aus?« (S. 89).41 Dass diese beiden Begründungsfunktionen der Naturzustandshypothese − die Klärung der anthropologischen Grundlagen der Vergesellschaft sowie die abschließend behandelte Frage nach der Bedeutung der rechtstheoretischen Begriffe − in den Untersuchungen nur äußerlich verbunden sind, lässt sich schon daraus ersehen, dass Hißmann die Frage des Naturrechts schon zuvor in einer Abhandlung mit dem Titel Betrachtungen über die Naturgesetze, die zwei Jahre vor 39

40 41

Vgl. hierzu die  allerdings oberflächliche  Studie von Sabine Vetter: Wissenschaftlicher Reduktionismus und die Rassentheorie von Christoph Meiners. Ein Beitrag zur Geschichte der verlorenen Metaphysik in der Anthropologie. Aachen 1996, S. 186ff. Christoph Meiners: Ueber die Natur der Afrikanischen Neger, und die davon abhangende Befreyung, oder Einschränkung der Schwarzen. In: Göttingisches Historisches Magazin VI (1790), S. 385–456. In welchem Verhältnis die beiden theoretischen Funktionen des Naturzustandes – einmal als Hypothese über die ursprüngliche Natur des Menschen, das andere Mal als Konzeption zur Entdeckung der ursprünglichen Rechtslage der Menschen – zueinander stehen, wird von Hißmann nicht thematisiert.

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den Untersuchungen im Deutschen Museum veröffentlicht wurden, entwickelt hatte.42 Er kommt in diesem Aufsatz zu ähnlichen Ergebnissen wie in den Untersuchungen: Hier wie dort wird die eigentliche Naturrechtslehre durch eine naturalistische Rechtstheorie ersetzt. Auch mit der Betrachtung des Naturzustandes im Lichte dieser rechtstheoretischen Fragestellung folgt Hißmann seinem Leitautor Rousseau. Auch dieser hatte nämlich, obwohl die oben beschriebene zivilisationskritische Kontrastfunktion des Naturzustandes der Sache nach keine rechtsphilosophisch-normative Implikationen hat, dem Naturzustand eine rechtsphilosophische Begründungsfunktion zugesprochen, insofern 1) aus den beiden ursprünglichen Prinzipien  aus dem Interesse am Wohlergehen und der Selbsterhaltung sowie aus dem Mitleid  »toutes les régles du droit naturel« abgeleitet werden könnten, d.h. solche Regeln, die nach dem Einbruch der Zivilisation durch die Vernunft »sur d’autres fondements«, nämlich auf den Grundlagen von Recht und Staat, wieder errichtet werden müssten,43 2)

die »étude de l’homme naturel [...] le seul bon moyen« darstellt, das dazu geeignet sei, um »les vrais fondements du Corps politique« und »les droits réciproques de ses membres« bestimmen zu können,44

3)

an die Stelle der zivilisationskritischen Kontrastierung von Naturzustand und Gegenwart bei Rousseau unvermittelt das normativ-kritische Projekt tritt, »d’examiner [...] les faits par le Droit«.45

Ebenso wenig wie Rousseau gibt sich Hißmann Rechenschaft darüber, dass aus zunächst thematisierten anthropologisch-geschichtsphilosophischen Begründungsfunktion des Naturzustandes der Sache nach »Erkenntnisse über die Rechtsgrundlagen zu erwarten sind«.46 Vergleichbar mit den Rousseauschen Überlegungen sind Hißmanns Ausführungen allerdings nur darin, dass nunmehr der Naturzustand im Lichte der naturrechtlichen Fragestellung thematisiert wird. Was Hißmann über das Naturrecht zu sagen hat, macht deutlich, dass er den Boden der Argumentation Rousseaus verlässt und sich – wie schon zuvor andere Göttinger Rechtstheoretiker, in deren Tradition er steht – als Propagandist eines »anthropologisch begründeten Rechtspositivismus« betätigt.47 Hißmann interpretiert das Naturrecht naturalistisch, 42 43 44 45 46

47

Hißmann: Betrachtungen (wie Anm. 3). OC III, p. 126. Ebd. OC III, p. 182. Herb: Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft (s. Anm. 5), S. 85. Herb spricht zusammenfassend von einer bei Rousseau vorliegenden »Problematik«, die sich daraus ergibt, »daß Rousseau unter dem gemeinsamen Begriff ›état de nature‹ ohne sachliche oder terminologische Differenzierung zwei unterschiedliche Bestimmungsgesichtspunkte verfolgt, indem er den Naturzustand zugleich (1.) als Kontrastbegriff zu einem zivilisatorisch-kulturellen wie (2.) zu einem staatlich-rechtlichen Zustand bestimmt« (ebd., S. 95f.). Ich benutze hier eine Formulierung von Frank Grunert, der in einem Aufsatz die ähnlich gelagerte Naturrechtslehre von Johann Jacob Schmauss untersucht hat, Frank Grunert: Das Recht der Natur als Recht des Gefühls. Zur Naturrechtslehre von Johann Jacob Schmauss. In: Jahrbuch für Recht und Ethik/Annual Review of Law and Ethics 12 (2004), S. 137–153, hier S. 137. Vgl. außerdem den Aufsatz von Merio Scattola: Das Naturrecht der Triebe, oder das Ende des Naturrechts: Johann Jacob Schmauß und Johann Christian Claproth. In: Vanda Fiorillo u. Frank Grunert (Hg.): Das Naturrecht der Geselligkeit. Anthropologie, Recht und Po-

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d.h. als Recht des Stärkeren und blendet damit einerseits die Kritik, die Rousseau im Contrat social an dieser Konzeption geübt hatte, aus, will aber auf der anderen Seite auch dessen Konzeption eines auf vorrationalen Prinzipien der Selbsterhaltung und des Mitleids beruhenden ursprünglichen Naturrechts des Zweiten Diskurses nicht folgen. Man darf sich deshalb durch Hißmanns Rede vom Naturrecht nicht täuschen lassen: Sein Naturrecht hat im Grunde genommen nur wenig mit spezifisch rechtsphilosophischen bzw. legitimationstheoretischen Fragen zu tun; insbesondere darf man keine normativen Überlegungen bezüglich eines Rechtsgesetzes erwarten, durch das  wie dies in der Rechtslehre Kants der Fall ist  die rechtlichen Bedingungen für den äußeren Gebrauch der freien Willkür angegeben werden. Bei Hißmann ist ›Naturrecht‹ vielmehr das Stichwort, unter welchem die Ausrichtung des Handelns des natürlichen Menschen sowie die ursprünglichen Prozesse der Vergesellschaftung beschrieben werden48, wobei die naturalistische Begründung des Rechts die Ableitung desselben »aus der Grundbeschaffenheit des menschlichen Willens« (S. 92) impliziert: Der Mensch hat [...] einen Durst nach Glückseligkeit, einen Trieb nach Vollkommenheit und nach Vergnügen. Alles, was er thut; alles, was er unterläßt, zweckt darauf ab, jenen Durst zu löschen, und jenen Trieb der wahrscheinlich in Ewigkeit fortwirken dürfte, von Zeit zu Zeit zu befriedigen. ... Er wirkt, um zu genießen; und handelt um des Genusses froh zu seyn. Dieser Trieb liegt ganz unbestimmt, ohne weitere Einschränkung, in der menschlichen Seele; und da er ein Werk der Natur ist, [...] so folgt, daß alles Recht seyn muß, was der Mensch auf Anregung und Drang seines Triebes zur Glückseligkeit verrichtet. [...] Recht bestünde demnach in der Folgsamkeit des Naturtriebs zur Glückseligkeit; oder welches einerlei ist, in der Befolgung dessen, was einem jedesmal das Rathsamste und Beste scheint. (S. 90f.)

Wie schon angedeutet, hatte sich diese naturalistische Rechtstheorie schon zwei Jahre vor der Publikation der Untersuchungen in einem Aufsatz mit dem Titel Betrachtungen über die Naturgesetze angekündigt. Da hier die naturrechtskritische Stoßrichtung deutlicher ausgeprägt ist als in den Untersuchungen über den Stand der Natur, soll kurz auf die Betrachtungen eingegangen werden. Zunächst wird hervorgehoben, dass die Menschen im Naturzustand − aufgrund ihrer ›natürlichen Einfalt‹49 − »kein Wort zur Bezeichnung der Idee von Recht und Unrecht« gehabt hätten, »denn sie kannten diese ganze Idee nicht. − Was sie also thun konten, und was sie wirklich thaten, war Recht, und das Recht des Stärkeren war folglich im aussergesellschaftlichen Naturstand unstreitiges Recht. [...] Physische Kraft war der Maasstab des Wirkens, war der Maasstab des Rechts«.50 Ein paar Seiten später wird der gleiche Gedanke so ausgedrückt: »Der aussergesellschaftliche

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litik im 18. Jahrhundert. Berlin 2009, S. 231–250. Scattola macht (S. 247) darauf aufmerksam, dass sich diese Tendenz zur Anthropologisierung und Empirisierung des Naturrechts, verbunden mit dem Angriff auf den Intellektualismus der klassischen neuzeitlichen Naturrechtslehre auch bei anderen Vertretern der »Göttinger Schule des Naturrechts« (Johann Heinrich Gottlob Justi, Gottfried Achenwall und August Ludwig Schlözer) findet. Die Schriften von Schmauss hat Hißmann gekannt, sie werden in seiner Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 2), § 172 erwähnt. In den Betrachtungen über die Naturgesetze heißt es dem entsprechend: »unsre Begriffe von Recht und Unrecht sind die Extrakte von unsern geselschaftlichen Verbindungen« (Hißmann: Betrachtungen [s. Anm. 3], S. 529). Ebd., S. 531. Ebd., S. 529f.

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Naturmensch hat keine Begriffe von Recht und Unrecht, und es ist ihm ganz unmöglich, seine eigenen Handlungen an irgend einem Probierstein des Rechts zu untersuchen.«51 Die Vorstellungen über das Recht im Sinne verbindlicher Handlungsregeln sind im wesentlichen kulturell vermittelt und unterscheiden sich entsprechend der jeweiligen kulturellen Voraussetzungen: »Erziehung, Religion, Temperament, Grundeinrichtungen der verschiedenen Gesellschaften auf Gottes Erdboden modeln die Lehren von Recht und Unrecht, stimmen das Urtheil über das Gut- und Böseseyn der menschlichen Handlungen«. Deshalb ist die Suche nach einem apriorischen Prinzip des Rechts, einem überhistorischen normativen Maßstab unsinnig: Ebensowenig wie das Kamel in Brasilien oder Esel in den Polarregionen existieren könne, »[e]ben so wenig darf man unter allen Himmelsstrichen, bei den vielen Menschenvarietäten, die sogenannten weltallgemeinen natürlichen Prinzipien von dem, was Recht und Unrecht ist, suchen. Der europäische Gesellschafter hat sie erfunden, vielleicht mit Sophisterei ergrübelt«.52 Die Prinzipien der Sittlichkeit seien deshalb »ambulatorisch« und »jede Gesellschaft schreibt ihr eigenes Naturgesetzbuch«.53

7. Das Recht  zwischen paternalistischer Glücksvorsorge und Apologie der Gewalt Wenn sich die Menschen im Naturzustand vom Unterschied des Rechts und Unrechts keinen Begriff machen können, stellt sich die Frage, wie das Recht überhaupt bestimmt werden kann: Recht ist nicht das, wozu es die positiven Rechtslehrer nach einem so eingeschränkten Begrif, machen wollen, der zwar in der positiven Jurisprudenz, so wie der philosophisch unrichtige Begrif von der Grösse in der Mathematik, brauchbar genug ist. Recht im allgemeinen ist nicht das, was den Gesetzen gemäß ist. Denn nicht alle Gesetze sind recht; [...] Recht ist entweder nichts, oder es ist das, was in allem Betracht nach allen seinen Folgen und Beziehungen, das Beste, das Zuträglichste, das Nützlichste ist.54

Nun räumt auch Hißmann selbst ein, dass die »Vorstellungen der meisten neuern Naturrechtslehrer [...] von diesen Sätzen sehr weit« entfernt wären55 und dass mit diesem anthropologischen 51 52 53

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Ebd., S. 535. Hißmann: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 537. Was Hißmann nicht thematisiert, ist der Umstand, dass für die traditionelle Naturrechtslehre die Vielfalt der Formen der Vergesellschaftung kein Argument gegen die Möglichkeit des Naturrechts bzw. der Aufstellung eines universellen Prinzips zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Handlungen darstellt, weil ein solches Prinzip nicht empirisch begründet werden kann. Deshalb ist der Hinweis auf die empirische Vielfalt der Kulturen und Formen der Vergesellschaftungen für sich genommen kein Argument gegen den Rationalitätsanspruch des Naturrechts. Hißmann: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 533; vgl. hierzu auch Johann Jacob Schmauss: Neues Systema des Naturrechts. Göttingen, S. 476f., für den das erste natürliche Recht »das Recht nach seiner Natur, freyen Willen und Wohlgefallen, so bequem, frölich und vergnügt als er es nur zu haben kan, zu leben«. Dieses Recht dehnt Schmauss ganz folgerichtig »auf alle Laster, und actiones inhonestas und indecoras, wann nur der andere Mensch nicht dadurch beleydiget wird«, aus. Diese Abweichung seiner Auffassungen von der neuzeitlichen Naturrechtslehre kommentiert Hißmann folgendermaßen: »Was thut’s? Winken mir doch die Schatten grosser Menschen ihren Beifall zu.

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Rechtsbegriff keine Rechtsordnung und kein Staat zu machen sei, denn es hafte ihm »blos etwas Subjektivistisches« (S. 92) an, weil bei der Bestimmung der Objekte der Glückseligkeit jeder notwendigerweise Richter in eigener Sache sei. Recht wäre in diesem Falle dasjenige, was jemand für etwas hält, was er begehrt, was er braucht oder sonst in irgendeiner Weise Gegenstand seines Interesses, Nutzens usw. ist. Man hätte nun erwartet, dass Hißmann deshalb zu dem Ergebnis kommt, dass es − solange nur vom subjektiven Streben nach Glückseligkeit die Rede ist − prinzipiell keine allgemeine gesetzliche Übereinstimmung der diesbezüglichen Handlungen von Menschen geben könne. Die bloße Subjektivität der Glückbestrebungen, deren Realisierung jeder als sein gutes ›Recht‹ betrachtet, führt  so könnte der Gedanke fort gesponnen werden – dazu, dass der Naturzustand ein Zustand permanenter ›Rechts‹-Konflikte, ein Zustand der prinzipiellen Divergenz der Urteile über »das Beste, das Zuträglichste, das Nützlichste« wäre oder  mit Hobbes gesprochen  ein bellum omnium contra omnes. Man könnte dann zwar behaupten, dass Glückseligkeit – wenngleich in einem völlig trivialen Sinne – die Grundlage eines gedachten subjektiven Rechts sei, aber daraus folgt in keiner Weise die Bestimmung des Rechtsprinzips im objektiven Sinne, d.h. die Bestimmung von Gesetzen, in welchem das subjektive Recht des einen mit dem subjektiven Recht aller anderen in allgemeingültiger Weise vereinigt werden könnte. Es ist m. a. W. nicht möglich, aus dem Trieb zur Glückseligkeit, so berechtigt er auch immer sein mag, das Prinzips des Rechts im Sinne einer allgemeinen Norm zur Bestimmung der erlaubten Handlungen abzuleiten, das nun seinerseits als Maßstab für die Beurteilung positiver Gesetze fungieren könnte. Es liegt auf der Hand, dass das Recht im Sinne eines allgemein geltenden Normensystems nur durch die Staatsgewalt bestimmt werden kann und, dass also der Rechtspositivismus die Konsequenz der von Hißmann vorgenommenen Naturalisierung bzw. Anthropologisierung ist. Der Versuch, das Naturrecht anders als durch einen Grundsatz der Vernunft zu begründen, wie es  wenngleich in unterschiedlicher Ausrichtung für die Naturrechtslehren von Grotius, Pufendorf, Leibniz, Hobbes, Locke oder Wolff kennzeichnend war  und an Stelle eines rationalen Prinzips, das durch die recta ratio erkennbar ist, einen naturalistischen Grundsatz zu setzen, führt deshalb dazu, »das Naturrecht als Wissenschaft, als universitäres Fach, als moralphilosophische Theorie überflüssig und unmöglich« zu machen.56 Dennoch nimmt Hißmann an, dass die positiven Gesetze des Staates in irgendeiner allgemeinen Weise der Befriedigung der Glückseligkeit dienen. Denn darin, dass die Glückseligkeit der Maßstab des Rechts ist, liege – so Hißmann weiter – auch die Wahrheit der »Behauptung

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Du freust dich Karneades!« (Hißmann: Betrachtungen [s. Anm. 3], S. 529). Karneades, über dessen naturrechtsskeptische Position Cicero in seiner Schrift De re publica Auskunft gibt, galt seit Grotius’ De jure belli ac pacis als die Herausforderung für die Naturrechtslehre schlechthin. Scattola, Das Naturrecht der Triebe (s. Anm. 47), S. 235. Der Angriff auf den Rationalismus der Naturrechtslehre, insbesondere auf die Intellektualität, d.h. seiner Erkennbarkeit seiner Prinzipien durch die menschliche Vernunft, kann selbstverständlich auf verschiedene Weise geführt werden: Man kann entweder die Fähigkeit der Vernunft zur Beherrschung der Gefühle, Neigungen und Leidenschaften betonen und überhaupt die Bestimmbarkeit des Willens durch den Verstand bezweifeln, wie dies bei manchen Thomasianern, bei Hume oder in Rousseaus Discours sur l’inégalité der Fall ist; oder wie Hißmann mit dem reichen Schatz anthropologischer und ethnologischer Berichte die Möglichkeit der rationalen Deduzierbarkeit universeller Prinzipien als der Grundlage von Rechtsverhältnissen in Frage stellen.

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der würdigsten Rechtslehrer und Staatsmänner [...], daß es schon vor allen positiven Gesezen Recht und Unrecht« gäbe (S. 92). Der Souverän gibt deshalb nicht eigentlich Gesetze, sondern ist vielmehr derjenige, der als erster »die Verbindung derselben mit der Glückseeligkeit bemerkte, und seine Unterthanen durch ihre Bekanntmachung, darauf aufmerksam machte« (S. 94). Naturstand und bürgerlicher Zustand unterscheiden sich nur insofern, als im Naturzustand niemand existiert, der dem »Natursohn die mancherlei Wege zur Glückseligkeit zeigt« (S. 95), die Menschen im Staat statt dessen bei der Verfolgung ihres Glücks unter der Leitung des Herrschers stehen.57 Wenn nun der Erlass positiver Gesetze ein Akt des Herrschers zur besseren Verwirklichung der Glückseligkeit darstellt und der Bürger der »Stimme des Wohlthäters, die vom Throne Geseze verkündigt« gerne gehorcht, »weil er überzeugt ist, dass sein Gesezgeber die Quellen des Vergnügens näher kennt,58 den Werth der Güter richtiger beurtheilt, und die Möglichkeit einer zusammengesezten, öfterer wiederkehrenden Kollision beim Genuß derselben, deutlicher einsieht, als er selbst« (S. 93), dann stellt sich die Frage, warum das Recht überhaupt als »Zwangsverhältniß« (S. 93) organisiert werden muss. An sich − so Hißmann − wäre das »Hinzuthun der Pönalsanktion [...] gar nicht erforderlich«, wenn nur der Bürger einsehen würde, »daß das Gesetz nichts anders befiehlt, als was ihm sein Trieb zur Glückseeligkeit ohnehin anzeigt«. Auch Hißmann weiß keinen überzeugenden Grund für die Notwendigkeit positiver Gesetze anzugeben. Das einzige Argument, das er vorbringt zeigt die Schwäche seiner Überlegungen: »Was die Strafe in der bürgerlichen Gesellschaft eigentlich nothwendig macht, ist die Besorgniß, daß der folgsame Bürger, durch seine widerspenstigen Mitbürger, im Wirken gehindert und gestört werden möchte« (S. 94f.) Der krude Naturalismus findet seine Fortsetzung in Hißmanns Ausführungen über die Entstehung von Herrschaftsverhältnissen, die er als Frage, ob das »Recht des Stärkeren im Stand der Natur« legitimiert werden kann (S. 95), thematisiert: ob der Naturmensch »wol auch alsdenn noch Recht thut, wenn er gleichfalls auf Antrieb seines Verlangens nach Glückseeligkeit, auf den Menschen, auf den er hie oder da stößt, so wirkt, daß er ihn unter sich bringt, und sein Oberer und Beherrscher wird?« (S. 95). In seiner Antwort auf diese Frage zeigt sich Hißmann als Verfechter eines ›Recht des Stärkeren‹. Zwar wird der Rechtsbegriff mit zunehmender Kultivierung sublimer und die unmittelbare Anwendung physischer Gewalt tritt zurück hinter der »sanften Leitung«, welche die »an phisischen und an moralischen Vollkommenheiten« überlegenen Menschen denjenigen angedeihen lassen, die »sich ohne Führer in den Wüsten verirren« 57

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Eine Vorstellung, die Kant folgendermaßen kommentiert hat: »Eine Regierung, die auf dem Princip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Unterthanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genöhtigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urtheile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Unterthanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt)«; Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff., Bd. VIII, S. 290f. (im Folgenden: AA Band, Seite). Man fragt sich natürlich, wie dieser Paternalismus der Glücksfürsorge mit der zuvor konstatierten Subjektivität des Glücksempfindens vereinbar sein soll.

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würden (S. 108),59 aber das natürliche Recht des Stärkeren bleibt unverändert in Kraft und wird »auf dem ganzen Erdboden, bei barbarischen sowol, als bei kultivirten Nationen, in der Praxis befolgt« (S. 110). Denn »der größte Theil von polizirten Menschenkindern [handele] [ ...] durchaus ohne Ueberlegung, ohne Hinsicht auf die Bewirkung des größten Wohls, oder auf die Verhinderung des größten Wehes«.60 Aber  so kann man fragen  selbst wenn die große Masse ihr Glück auf eine unvernünftige Weise verfolgt, was hat das mit dem Recht zu tun? Denn wem es nicht gelingt, zweckrational die angemessenen Mittel seiner Zwecke zu bestimmen, der mag zwar unglücklich werden, weil seine Pläne scheitern, aber dieses Ergebnis ist rechtlich irrelevant. Wieso jemand ein Interesse an der Beherrschung anderer haben sollte, wenn jeder nur nach Glückseligkeit strebt, sagt Hißmann nicht. Ebenso wenig, wieso die einzelnen sich bei ihrem Streben nach Glück »ohne Führer« verirren würden. Auch die Frage, wieso aber derjenige, der seinen Mitmenschen physisch überlegen ist, deshalb der berufene Führer in Sachen ›sanfter Leitung‹ zur Glückseligkeit sein soll, bleibt unbeantwortet. Jedenfalls bestreitet Hißmann, dass bei den durch das Recht des Stärkeren begründeten Herrschaftsverhältnissen überhaupt ein Interessensgegensatz vorliegt: Wem aufgrund des Übermaßes von Körper- und Geisteskräften das Recht zukommt »die schwächeren Kräfte des Andern zu lenken«, tut dies nämlich nicht aufgrund der »Kraft des Wüterichs und des Zerstörers; sondern es kann gar wol die Kraft des Wohlthäters und des Unterstützers seyn« (S. 97). Das Recht des Stärkeren »verkündigt nicht Tyrannei, sondern Beglückung« (S. 102).61 Hißmann scheint hier die staatliche Herrschaft mit elterlicher Erziehung bzw. einem pädagogischen Verhältnis zu identifizieren: Während Herrschaftsverhältnisse immer einen Interessensgegensatz unterstellen, aus dem die Anwendung von Zwang resultiert, trifft dies bei der Erziehung nicht zu. Weil Kinder zum einen oftmals kein klares Bewusstsein über ihre Zwecke und die zu ihrer Realisierung notwendigen Mittel haben, sie weder die Bedingungen ihres Handelns noch dessen Auswirkungen einschätzen können, bedürfen sie in vielfacher Hinsicht der Anleitung ihres Willens. Zwang wird in der Erziehung im Idealfall nur angewandt, um das Kind an der schädlichen Betätigung seines Willens zu hindern. Hißmann gerät durch seine Gleichsetzung von Herrschaft und paternalistischer Glücksbeaufsichtigung in die Nähe der Staatslehre des ansonsten entschieden bekämpften Christian Wolff, für den das Verhältnis zwischen Herrscher und Untertanen mit dem zwischen einem Vater und seinen Kindern vergleichbar ist.62 Wer faktisch herrscht, beweist damit, dass er 59

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Es findet also eine »Umwandlung des Begriffs von Recht in Rücksicht auf den Richter« statt (Hißmann: Untersuchungen [s. Anm. 2], S. 106): An die Stelle der »Ueberlegenheit an körperlicher Kraft« tritt in den meisten »polizirten Staaten« sublimere Formen der Beherrschung durch »Reichthum, Geburt, Konnexionen« usw., die aber »schlechterdings nichts mehr und nichts weniger bedeuten, als das körperliche Faustrecht« (ebd., S. 112). Hißmann: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 532f. Dieses Recht des Stärkeren habe  so erklärt Hißmann mit gewissem Stolz  vor ihm »kein einziger Philosoph, nach einer gehörigen Analyse der hier eingreifenden Begriffe, mit diesen ihm eigenthümlichen Charakteren abgebildet« (Hißmann: Untersuchungen [s. Anm. 2], S. 102). So Wolff in seiner Deutschen Politik: »Regierende Persohnen verhalten sich zu Unterthanen wie Väter zu den Kindern. Denn Vätern lieget ob, den Kindern alle Mittel zu verschaffen, die sie zur Beförderung der Vollkommenheit ihres innern und äussern Zustandes von nöthen haben [...]. Obrigkeiten oder regierenden Personen lieget ob, für die gemeine Wohlfahrt und Sicherheit zu sorgen, und dem-

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ein Recht dazu hat. Wer sich umgekehrt beherrschen lässt, zeigt durch diese »Nachgiebigkeit und Folgsamkeit«, dass er zu den »Schwächern, Furchtsamen, Trägern, Unwissendern etc.« gehört. Herrschen und Gehorchen sind deshalb nur andere Ausdrücke für »leiten, beschützen, glücklich machen« bzw. für »folgen, gesichert seyn, glücklich werden« (S. 99). Im weiteren Verlauf unternimmt Hißmann den Versuch, »alle nachtheiligen Eindrücke, alles Schreckhafte« aus der Vorstellung vom Recht des Stärkeren zu eliminieren. Nach Hißmanns Auffassung sind die Wünsche der Menschen [...] gewöhnlich der Stärke ihrer Kräfte und Triebe proportionirt. [...] Nun sagt aber dem Schwachen schon das Gefühl seiner Ohnmacht, daß er nicht zum befehlen, sondern zum gehorchen geboren worden. [...] Gerade sein Trieb, der ihn, in der Aufsuchung der Gegenstände seines Vergnügens und seiner Glückseligkeit, zum Handeln bestimmt; dieser Trieb ist es, der ihn von allen herrsüchtigen Ideen entfernt, und der ihm fühlbar genug zu erkennen giebt, daß er nur durchs Gehorchen63 glücklich seyn könne. Sollte man von einem Menschen, der solche Begriffe, Gesinnungen und Neigungen hat, nicht schon zum voraus vermuthen können, daß er sich von freien Stücken an einen Andern anschmiegen werde, dene er für vollkommener hält; sobald ihm dieser zur Unterthänigkeit winkt. In diesem Fall befindet sich das weibliche Geschlecht (S. 103f.).

Herrscher und Beherrschte befinden sich also in wunderbarster Harmonie: der »gehorchende Theil« erscheint nicht »als eine unter einer schweren Bürde seufzende Kreatur«, sondern unterwirft sich »auf Anregung seines eigenen Triebes«. Der Herrscher ist kein »wütender Starker«, sondern bei ihm äußert sich der Trieb, »glücklich zu seyn, und glücklich zu machen, [...] im Verhältniß seiner größern Kraft«, gleichfalls umso wirksamer (S. 104). Durch die gelingende Herrschaft drängt sich ihm eine »andre Wahrheit gar bald auf, [...] daß seine Glückseeligkeit, mit der Wohlfahrt des Andern, nicht nur sehr gut bestehen könne, sondern sie auch durch des andern Glück, in einem hohen Grad erhöhet werde«. An einer anderen Stelle wird allerdings deutlich, dass Hißmann das idyllische Bild einer wohltätigen Herrschaft über die Schwachen und Dummen nicht ernst meint, denn die Forderung der Gleichheit gilt ihm angesichts der natürlichen Unterschiede der Menschen als Absurdität: Es ist in der That eine der härtesten Zumuthungen, wenn man es einem vorzüglichen Menschen, der den ander[e]n, die um ihn sind, an Kräften und Talenten bei weitem überlegen ist, zur Pflicht machen will, daß er völlig so mit ihnen existiren soll, wie sie mit ihm. Unsinnig ist diese Forderung. Seine Vorzüge müssen sich auch als Vorzüge und Superioritäten äußern; eben weil sie vorzüglich sind. Wie schmerzhaft müßte die Aufopferung seyn, wenn ein vorzüglich kluger und weiser Mann mit thörigten Jungfrauen existiren müßte; ohne diese nicht unter sich zu bringen und als thörigt behandeln zu dürfen? Gerade das Gefühl seiner Kraft und das Unbehagliche der Subsistenz mit solchen Menschen, die weit schwächer und dümmer sind, als er selbst, treibt ihn an, nach dem Recht des Stärkeren zu wirken (S. 102).

Zusammenfassend kommt Hißmann zu dem Ergebnis, dass »die rechtliche Gründung des Rechts des Stärkeren [...] auf einer gedoppelten Beobachtung« beruht:

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nach alle dazu nöthige Mittel zu erdencken, wodurch der Unterthanen Wohlfahrt auf das beqeuemste befördert werden kan, auch ihre Handlungen dergestalt einzurichten, wie es diese Absicht erfordert«, Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. Halle 61747, § 264. Im Original »Gehorsamen«.

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Einmal, des uns von Natur eingepflanzten unbegränzten Triebes zur Glückseeligkeit, nach welchem wir uns so vollkommen und glücklich machen dürfen, als wir immer können. Zweitens, der Ungleichheit der physischen und der moralischen Kräfte mehrerer Menschen. Wenn man sich auch nicht darauf berufen will, daß die Natur dabei [...] die Absicht gehabt haben muß, daß jener einen größern Wirkungskreis haben soll, als dieser: so ist schon das einzige Dasein der Ungleichheit der Kräfte, der Stärke und Schwäche für das Recht des Stärkern Beweis genug. Denn, wenn sich diese ungleichen Kräfte äußern: so ist es nicht anders möglich, als daß die kleinere Kraft der Ueberlegenheit unterliegen muß (S. 100f.).64

Die Apologie des Rechts des Stärkeren auf der Grundlage einer naturalistischen Rechtstheorie, d.h. die Identität von Stärke und Recht, ist allerdings nur die Kehrseite des durchgängigen moralphilosophischen Skeptizismus. Hißmann lehnt deshalb den Gedanken, es könne so etwas wie ein allgemeiner Begriff des Rechts existieren, der als universeller »Probirstein der Moralität«65 gelten könne, entschieden ab. Er verweist auf die Relativität der Formen faktischer menschlicher Vergesellschaftung: Man darf nicht »unter allen Himmelsstrichen, bei den vielen Menschenvarietäten, die sogenannten weltallgemeinen natürlichen Prinzipien von dem, was Recht und Unrecht ist, suchen«.66 Die rechtlichen und moralischen Regeln sind nicht natürlich, sondern insgesamt Produkte der Vergesellschaftung: »[I]mmer [...] ist es die Gesellschaft, die diese Prinzipien schaft, und die man immerhin Naturgesetze nennen kan, wenn man ihnen nur nicht die Vorzüge der Allgemeinheit, der Unwandelbarkeit, und der Ewigkeit beilegt.« Der Vergleich verschiedener Kulturen zeige vielmehr, dass man ebenso wenig »unter allen Himmelsstrichen, bei den vielen Menschenvarietäten, die so genannten weltallgemeinen natürlichen Prinzipien von dem, was Recht und Unrecht ist, suchen« darf.67 Ein »Universalnaturrecht« ist deshalb ebenso sehr eine »Chimäre [...] wie die belobte Universalschönheit«, eine jede Gesellschaft verfasse vielmehr »ihr eigenes Naturgesetzbuch«.68 Es ist somit kein Zufall, dass eine 64

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Rousseau hatte im Contrat social den Unterschied zwischen physischem Zwang und moralischer Verbindlichkeit präzise herausgearbeitet: Das Vorhandensein einer physischen Überlegenheit hat mit dem Problem einer rechtlichen Nötigung (einem Sollen bzw. einer Verbindlichkeit) nichts zu tun hat: »Supposons un moment ce prétendu droit. Je dis qu’il n’en résulte qu’un galimathias inexplicable. Car sitôt que c’est la force qui fait le droit, l’effet change avec la cause; toute force qui surmonte la première, succéde à son droit. Sitôt qu’on peut désobéir impunément, on le peut légitimement, et puisque le plus fort a toujours raison, il ne s’agit que de faire en sorte qu’on soit le plus fort. Or qu’est-ce qu’un droit qui périt quand la force cesse? S’il faut obéir par force, on n’a pas besoin d’obéir par devoir; et si l’on n’est plus forcé d’obéir on n’y est plus obligé. On voit donc que ce mot de droit n’ajoute rien à la force; il ne signifie ici rien du tout.« (Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social I, ch. 3 [OC III, p. 354f.]). Das bloße Faktum von Gewalt ist in geltungstheoretischer Hinsicht bzw. rechtsphilosophisch irrelevant, weil der bloßen Gewaltanwendung keinerlei legitime Gehorsamsverpflichtung entspricht. Hißmann: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 535. Ebd., S. 537. Ebd. Ebd., S. 538f.; als Beispiele für den faktischen Kulturrelativismus werden die Verbote des Ehebruchs und des Diebstahls genannt: »Du sollst nicht ehebrechen, ist dem Europäer ein Gesetz der Natur, und viele Asiaten machen sich das größte Vergnügen daraus, andern ihre Frauen zu zeitigen Nutzung zu überlassen, und die Töchter zur Hurerei zu vermieten. [...] Du sollst nicht stehlen, ist ein Zuruf der Natur, der im fünften Welttheil noch gar nicht erschollen ist. Denn diese Insulaner stehlen, vom König an, bis auf das verworfenste Glied ihrer Gesellschaft, wie die Raben. Selbst die Fürsten und Fürstinnen auf Otaheite raubten den Engländern Nägel, und nie vergoß ein Dieb, wenn er auf der That

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Theorie (und selbstverständlich noch mehr eine Praxis), »die auf empirische Principien der menschlichen Natur gegründet ist«, zu dem Ergebnis gelangt, dass »nun alle Plane der Theorie für das Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht in sachleere, unausführbare Ideale« verwandelt,69 weil bekanntlich »in Ansehung der sittlichen Gesetze [...] Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins« ist.70 Man ersieht an solchen Ausführungen, dass Hißmann nicht bereit ist, sich auf die Begründungslogik der Naturrechtslehre einzulassen. Zunächst wäre nämlich zu klären, in welcher Hinsicht die Vielfalt von Kulturen, Rechtsverhältnissen und -vorstellungen überhaupt ein Einwand gegen die Annahme einer universell gültigen Rechtsidee sein kann. Die Vertreter der rationalistischen Naturrechtslehre der Neuzeit haben ein klares Bewusstsein davon, dass die von ihnen normativ begründeten Rechtsbestimmungen den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen mehr oder weniger widersprechen. Für sie war aber dieser Widerspruch zwischen Begriff und Wirklichkeit kein Problem, weil der Geltungsgrund ihrer Überlegungen die Vernunft (die recta ratio) war: Eine Rechtsnorm gilt demnach als normativ begründet, wenn es auf der Grundlage rein rationaler Prinzipien ihre praktische Notwendigkeit aufgezeigt werden kann, und zwar unabhängig davon, ob diese Norm zu irgendeinem historischen Zeitpunkt oder an irgendeinem Ort der Welt auch faktisch anerkannt wurde.71 In diesem Sinne betrachtet Hobbes seine »civil philosophy« als eine a priori demonstrierbare Wissenschaft, weshalb Einwände, die sich auf eine angeblich abweichende Praxis berufen, nicht den Wahrheitsanspruch der Rechtsphilosophie tangieren. Dementsprechend antwortet Hobbes auf den Einwand, sein Begriff des souveränen Staates widerspräche der tatsächlichen Organisation der historisch gewordenen Staaten in Europa: »An argument from the Practise of men [...] is invalid. For though in all places of the world, men should lay the foundation of their houses on the sand, it could not thence be inferred, that so it ought to be.«72 Die für die Rechtsphilosophie bzw. für die geltungstheoretischen Überlegungen der Naturrechtslehre entscheidende Differenz zwischen Sein und Sollen, Deskription und Normativität ist in dieser Aussage schon deutlich ausgesprochen. Deshalb ist der von Hißmann vorgebrachte Hinweis auf die Divergenz der Rechtsvorstellungen in ver-

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ertappt wurde, Reu- oder Bußthränen, oder wenn es geschah, so waren sie wieder eben so leicht vergessen, als vergossen« (Hißmann: Betrachtungen [s. Anm. 3], S. 538). »Ich kan es mir noch nicht erklären, wie die Moralphilosophen, die die Existenz der Naturgesetze vor der Einführung der gesellschaftlichen Verbindungen unter den Menschen behaupteten, nicht sogleich bemerkten, daß Naturgesetze, die der aussergesellschaftliche Sohn der Natur befolgen soll, den unläugbarsten Grundtrieben des menschlichen Willens geradezu widersprechen, die sich beim Naturmenschen unendlich wirksamer regen, als beim bürgerlichen Gesellschaftler, der diese Federkraft durch bürgerliche Nachgiebigkeit, und durch verzärtelte Feinheit erschaft hat.« Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: AA VIII, S. 371. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Raymund Schmidt. Hamburg 31990, B 319. Interessanterweise macht Hißmann an anderer Stelle sehr wohl von dem Unterschied der deskriptiven und normativen Begründungsweise Gebrauch. In seinen Psychologischen Versuchen ([s. Anm. 29], S. 257) erklärt er die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele für den Bestand der Moral folgendermaßen für irrelevant: »Ueberhaupt ist es sehr unphilosophisch, wenn man bei Beobachtungen über die Natur und das Wesen der menschlichen Seele zuvor fragt: besteht aber auch Tugend, Geistesgröße, Strafe, Belohnung«? Hißmann geht es hier um die Zurückweisung der ›Konsequenzenmacherei‹, eine Theorie wegen ihrer »unangenehmen Folgen« zurückzuweisen. Thomas Hobbes: Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a Common-wealth ecclesiastical and civill. Ed. by Richard Tuck. Cambridge 1991, chap. XX, p. 145.

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schiedenen Kulturen für den Geltungsanspruch der Naturrechtslehre irrelevant. Hißmanns Stoßseufzer »Ich mögte wol wissen, was die Allgemeinheit der Naturgesetze ausmachen soll«,73 manifestiert nur seine Unfähigkeit, sich auf die normativen Begründungsaspekte der Naturrechtslehre einzulassen.

8. Fazit An dieser Stelle soll nur ein kurzes Resümee gezogen werden, in dem auf das Verhältnis der Untersuchungen über den Stand der Natur zu Hißmanns philosophischem Hauptwerk, den Psychologischen Versuchen, hingewiesen wird.74 Diese Schrift kann als interessantes Lehrstück für die Art und Weise gelten, wie in der deutschen Spätaufklärung der Versuch unternommen wurde, eine materialistische, von metaphysischen und theologischen Voraussetzungen unabhängige Psychologie zu begründen. Die Psychologie wird aus ihrer Verbindung mit der rationalistischen »Seelenlehre« befreit; an die Stelle der »metaphysischen Seelenlehre« der Schulphilosophie,75 die die Immaterialität, die Substantialität und die Einfachheit der Seele behauptet, tritt »eine neue Psychologie [...], die nur der physiologische und anatomische Psycholog schreiben kann« und die sich dadurch auszeichnet, dass sie die »Seelenphänomene erklärt, wenn sich der Metaphysiker in unfruchtbare Untersuchungen versenkt«.76 Es musste für Hißmann nahe liegen, dieses materialistische Begründungsprogramm der Psychologie auch auf anderen Gebieten fruchtbar zu machen. Insofern können seine Untersuchungen über den Stand der Natur als eine auch in Bezug auf ihre Ergebnisse folgerichtige Umsetzung dieses Versuchs auf dem Gebiet der praktischen Philosophie verstanden werden, indem hier die Theorie der gesellschaftlichen, rechtlichen und staatlichen Verhältnisse als Anwendungsfälle einer konsequente Anthropologisierung der praktischen Philosophie erscheinen, deren Basis die richtige, d.h. materialistische Theorie der Seele ist. Entsprechend verwandelt sich die Rechtstheorie der Aufklärung bzw. die Naturrechtslehre unter dem Einfluss einer perspektivischen Rezeption der geschichtsphilosophischen Überlegungen von Montesquieu und Rousseau in (empirische) Anthropologie.77 73 74

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Hißmann: Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 535. Zu Hißmanns philosophischer Position und schriftstellerischer Tätigkeit vgl. den instruktiven Artikel von Falk Wunderlich über Hißmann im Dictionary of Eighteenth-century German Philosophers. Ed. by Manfred Kuehn and Heiner F. Klemme. London, New York 2010, vol. II, pp. 79–86 mit umfassender Bibliographie. Der »metaphysischen Seelenlehre« gilt Hißmanns polemische Kritik: »Was man von ihr [der Seele, D.H.] mit Gewißheit weiß, gehört indessen nicht in die Metaphysik. Die metaphysische Psychologie hat es nur mit dem zu thun, was der Mensch von seiner Seele entweder gar nicht, oder nicht mit Gewißheit weiß«  sie ist also völlig wertlos, vgl. auch Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 2), § 130, S. 250. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 29), Vorbericht, S. 10f.: »Ist die menschliche Seele keine Monade: so fällt auf einmal die ganze Monadenpsychologie weg. [...] Ist die menschliche Seele Materie: so müssen wir nothwendig eine neue Psychologie haben, die nur der physiologische und anatomische Psycholog schreiben kann.« Bemerkenswert ist allerdings, dass Hißmann in den Untersuchungen über den Stand der Natur seine moraltheoretischen Überlegungen nicht mit der Frage des Verhältnisses von Naturrecht einerseits und Reli-

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Dieter Hüning

Dies gilt auch in epistemologischer Hinsicht: Die leitende Frage der Psychologischen Versuche nach der ratio cognoscendi, ob nämlich »bey den Untersuchungen über das Wesen der Seele tiefe Spekulation, oder ob die Erfahrung entscheiden soll?«,78 bildet auch die Leitfrage der Untersuchungen, die nur durch eine empirisch verfahrende Anthropologie beantwortet werden kann: Welches sind die in der Natur des Menschen liegenden Gründe der Vergesellschaftung? Hißmann ist auch darin konsequent, dass er die Voraussetzungen für die Möglichkeit einer aprioristischen Rechtslehre eliminiert und stattdessen das Naturrecht »aus der Grundbeschaffenheit des menschlichen Willens« (S. 92) ableitet. Auf dieser Grundlage gelangt er zu einer psychologischen Theorie anthropologisch bedingter Willensinhalte, die er als hinreichende Grundlage für seine Ausführungen über Recht und Staat betrachtet. Dadurch wird zugleich die Frage irrelevant, ob es erstens ein davon unterschiedenes normatives Rechtsinteresse, das jeder notwendigerweise als Rechtsperson haben muss, geben könne, und damit zweitens auch die Frage nach der möglichen rechtlichen Übereinstimmung des Willens aller in Bezug auf ein solches Interesse jenseits dieser naturalistischen Konzeption liegt. Der Großteil der Forschung zu Hißmanns Philosophie79, insbesondere die orthodoxmarxistische Interpretation (Arsenj W. Gulyga80, Otto Finger81 und Nicolao Merker82) hat den anti-idealistischen, antispiritualistischen und religionskritischen Aspekt der Lehre Hißmanns betont und dabei seinen Materialismus − trotz seiner Schranken − unter der Rubrik des ›fortschrittlichen Erbes‹ eingeordnet. Was allerdings Hißmanns Untersuchungen über den Stand der Natur angeht, so wird man Gulygas Urteil, Hißmann sei »ein konsequenter Denker und glänzender Popularisator gewesen«,83 nicht zustimmen können, weil die systematischen Schwächen des anthropologischen Reduktionismus nicht zu übersehen sind. Zu berücksichtigen sind allerdings auch äußere Umstände, die manches Unausgegorenes in den Untersuchungen bedingt haben mögen: Hißmann war angesichts seiner prekären finanziellen Lage in Göttingen auf Einkünfte aus seiner philosophischen Schriftstellerei angewiesen, die neben den eigenständigen Werken und einer Zeitschrift eine Vielzahl von Übersetzungen philosophischer und historischer Schriften

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80 81 82 83

gion andererseits in Verbindung bringt und auch auf jede Polemik gegen die religiöse Fundierung der Moral bzw. des Naturrechts verzichtet, obwohl er das Problem des ›tugendhaften Atheisten‹ an anderer Stelle sehr wohl thematisiert hatte. Wie nicht anders als zu erwarten hat Hißmann die Autonomie der Moralphilosophie, d.h. ihre Unabhängigkeit von der Religion behauptet, vgl. hierzu Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 3), § 147f., S. 281ff.: »Die Moral fällt auch in der That mit der Lehre von Gott nicht dahin. Der Mensch muß tugendhaft seyn, wenn er glücklich seyn will, er mag einen Gott glauben oder nicht. [...] Von allen Seiten betrachtet, erscheint der Atheist nicht so schwarz, wie er nach dem ersten Gemälde abscheulich ist«; »der sehr aufgeklärte Gottesläugner [im Unterschied zu dem »unausgebildeten Atheisten« ... kann, D.H.] eben so rechtschaffen handeln [...], als derjenige, der mit ganzer Zuversicht einen Weltschöpfer glaubt«. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 29), Vorbericht, S. 10. Zuletzt Minary: Le problème de l’athéisme en Allemagne (s. Anm. 3), pp. 184–221, der Hißmann in einem Atemzug mit Melchior Adam Weikard behandelt. Minary bezeichnet Hißmanns Lehre auch als »matérialisme anthropologique« (pp. 196ff.). A[rsenj] W. Gulyga: Der deutsche Materialismus am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Berlin 1966. Otto Finger: Von der Materialität der Seele. Beitrag zur Geschichte des Materialismus und Atheismus im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1961, S. 35ff. Nicolao Merker: Die Aufklärung in Deutschland. München 1982, S. 226ff. Gulyga: Der deutsche Materialismus (s. Anm. 77), S. 71.

»Eine fruchtbare philosophische Fiktion«

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umfasste, was zu »einer Zersplitterung seiner Thätigkeit um des täglichen Brotes willen« führte.84

84

Schuller: Magister Hißmann in Göttingen (s. Anm. 2), S. 208.

MARTIN MULSOW

Michael Hißmann und Christoph Meiners über die eleusinischen Mysterien

Am 8. und am 12. Juli 1776 erscheint, in zwei Teilen, im Hannoverschen Magazin ein Aufsatz von Michael Hißmann mit dem Titel »Ueber die Eleusinischen Geheimnisse«.1 Praktisch simultan, kurz nach dem 11. Juli, veröffentlicht Hißmanns Lehrer Christoph Meiners den dritten Band seiner Vermischten philosophischen Schriften, der einen langen Aufsatz zum gleichen Thema enthält: »Ueber die Mysterien der Alten, besonders über die Eleusinischen Geheimnisse«.2 Meiners merkt an, dass er den Aufsatz »in diesem Sommer in meinen heitersten Stunden« ausgearbeitet habe.3 Haben hier Lehrer und Schüler zugleich am selben Thema gearbeitet? Hat der Schüler den Lehrer ausgeschrieben? Oder treten beide miteinander in Konkurrenz und äußern unterschiedliche Thesen? Sehen wir zunächst auf Hißmann. Der dreiundzwanzigjährige Göttinger Student hatte am 30. März gerade seinen philosophischen Doktorgrad empfangen, nachdem er über De infinito disputiert hatte. Da war jetzt die Religionsgeschichte der antiken Griechen ein ganz anderes Thema. Hißmann ist sicherlich durch seinen Lehrer Meiners auf das Thema gestoßen, denn Meiners hatte in seinem Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker von 1775 im letzten Kapitel von Mysterien gehandelt, wenn auch von den ägyptischen.4 Da lag es nahe, sich auch zum Fall Griechenlands und seiner Verehrung von Demeter und Persephone Gedanken darüber zu machen, was die »geheime Lehrart« – so Meiners über die Ägypter – dieses Volkes gewesen ist. Das taten Hißmann und auch Meiners selbst im Sommer 1776. Aber auch schon vor den beiden hatte es eine lange Tradition der Beschäftigung mit den Eleusinia gegeben, am prominentesten in der antiquarischen Materialsammlung von Johannes Meursius aus dem Jahr 1619.5 Meist war der Blick auf die Mysterien allerdings nicht kühl antiquarisch, sondern erhitzt 1 2 3 4 5

Michael Hißmann: Ueber die Eleusinischen Geheimnisse, in: Hannoversches Magazin, 55. Stück, 8. Juli 1776, Sp. 865–880, und 56. Stück, 12. Juli 1776, Sp. 881–890. Christoph Meiners: Ueber die Mysterien der Alten, besonders über die Eleusinischen Geheimnisse. In: Vermischte philosophische Schriften. 3 Bde. Leipzig 1776, hier Bd. 3, S. 164–342. Ebd., S. 4. Christoph Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker. Göttingen 1775. Johannes Meursius: Eleusinia sive de Cereris Eleusiniae sacro, ac festo liber singularis. Leiden 1619. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Asaph Ben-Tov: The Eleusian Mysteries in the Age of Reason: Lack of Knowledge between Orthodoxy and Profanation. In: Martin Mulsow u. ders. (Hg.): Knowledge of Religion as Profanation (im Erscheinen). Zur heutigen Forschung über die Eleusinia vgl. George E. Mylonas: Eleusis and the eleusinian

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Martin Mulsow

polemisch – so bei vielen Theologen, die den Kirchenvätern darin nacheiferten darüber zu spekulieren, ob die den Eingeweihten gezeigten heiligen Gegenstände nicht Abbildungen von männlichen oder weiblichen Genitalien gewesen seien. Einen Einschnitt in der Rezeptionsgeschichte der Mysterien markiert das Jahr 1737. In diesem Jahr erschien der erste Band von William Warburtons Divine legation of Moses, ein Buch, in dem ein ganz neues Paradigma der Interpretation zugrunde gelegt wurde: das der politischen Theologie.6 In Buch II, Kap. IV erörtert Warburton, wie der göttliche Gesetzgeber (legislator) dafür sorgte, dass die Providenz unter den Menschen erkannt wurde – eben durch Einführung von Mysterien. Religion hat einen politischen, oder besser politisch-pädagogischen Zweck: I take the Substance of the Celebration to be a kind of Drama, of the History of Ceres, which afforded Opportunity to represent these three Things, about which the Mysteries were principally concerned. 1. The Rise and Establishment of Civil Society. 2. The Doctrine of a future State of Rewards and Punishments. 3. The Detection of the Error of Polytheism, and the Principle of Unity.7

Für Warburton sind die Eleusinia von den ägyptischen Isis-Osiris-Mysterien abgeleitet, entwickeln aber ihre eigene Qualität.8 Die drei Ziele werden durch eine doppelte Struktur erreicht: durch kleine Mysterien für die Menge und größere Mysterien allein für eine elitäre Gruppe von klugen und verständigen Menschen.9 Das dritte von Warburton genannte Ziel, die »Detection of the Error of Polytheism« mit gleichzeitiger Betonung des monotheistischen »Principle of Unity«, das ja den Lehren der gemeinen griechischen Religion entgegensteht, ist der elitären Gruppe vorbehalten. Now to reconcile this seeming Contradiction, of supposing the Mysteries to be instituted to invite the People into them, and at the same Time, to keep them from the People’s Knowledge, we are to observe there were in the Eleusinian Rites two Mysteries, the greater and the less. To the less must be refered what we said of the Institutor’s Intention to invite the People into them; and to the greater, his Intention of Keeping some Truths from the People’s Knowledge. […] However it is very certain that both the greater, and lesser Mysteries were instituted for the Service of the State.10

Schon sehr bald wurde diese Idee von Interpreten der Eleusinia aufgenommen und weiter ausgeführt. In Leipzig verfasste Johann August Bach 1745 eine Pro mysteriis eleusinis disputatio, in der er die Mysterien gegen die übliche patristisch genährte Beschimpfung verteidigte, indem er ihre Essenz (in den größeren Mysterien) in einem abstrakten Monotheismus und einer tiefmoralischen Lehre sah.11 Und auch Voltaire, dem die Sache in sein Konzept eines Deismus und einer

6 7 8 9 10 11

Mysteries. Princeton 31974; Hans Kloft: Mysterienkulte der Antike. Götter, Menschen, Rituale. München 32006; Michael B. Cosmopoulos: Micenean Religion at Eleusis. The Architecture and Stratigraphy of Megaron B. In: ders. (Hg.): Greek Mysteries. The Archaeology and Ritual of Ancient Greek Secret Cult. London u.a. 2003, S. 1–24; Christine Sourvinou Inwood: Festival and Mysteries. Aspect of Eleusinian Cult. In: ebd., S. 25–49; Walter Burkert: Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt. München 42003. William Warburton: The Divine Legation of Moses. Bd. 1. London 1737. Ebd. (ich zitiere die Ausgabe von 1738), S. 229. Ebd., S. 134 Zur heutigen Forschung: Ken Dowden: Grades in the Eleusinian Mysteries. In: Revue d’Histoire des Religions 197 (1980), S. 409–427. Warburton: The Divine Legation of Moses (s. Anm. 6), S. 144f. Johann August Bach: Pro mysteriis eleusinis disputatio. Leipzig 1745. Vgl. Ben-Tov: The Eleusian Mysteries in the Age of Reason (s. Anm. 5).

Hißmann und Meiners über die eleusinischen Mysterien

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»religion pur« passte, nahm die Vorgabe Warburtons auf – 1754 in seinen Essais sur les moeurs.12 So ist es nicht völlig revolutionär, wenn Hißmann die eleusinischen Mysterien ebenfalls innerhalb des politisch-theologischen Paradigmas deutet. Allerdings ist seine Deutung radikaler. Er beginnt mit einer Reflexion über historische Epistemologie im Rahmen einer konjekturalen Geschichte, wie sie im 18. Jahrhundert praktiziert wurde: »Man braucht [...] nur über die mögliche Entstehungsart der historischen Geheimnisse nachzudenken«, wenn man ihre Beziehung zur »Eingeschränktheit der menschlichen Erkenntniß« verstehen will.13 Entweder sind die genauen Umstände schon den zeitgenössischen Historikern selbst unbekannt gewesen, oder die Dokumente sind verloren gegangen, auf denen spätere Historiker hätten aufbauen können: beides führt dazu, dass etwas der Nachwelt zum Geheimnis wird. Und beides, so Hißmann, trifft auch auf die »Eleusinischen Geheimnisse« zu, aber auf unterschiedliche Weise. Denn er konstruiert ein Paradox: [...] Fakta und ihre Ursachen, Veranlassungen, und Beschaffenheiten [können] vor den Augen gleichzeitiger Geschichtsschreiber so sehr verborgen bleiben, daß sie höchstens wissen, daß sie sich ereignet. Aber eben diese Fakta können von späteren Geschichtsschreibern ungleich pragmatischer, umständlicher und richtiger erzählt, und durch sie alle Dunkelheiten völlig gehoben werden, in welche die Begebenheiten zur Zeit, da sie sich zutrugen, eingehüllt waren.14

Historische Forschung kann also frühere Blindheiten partiell rückgängig machen und Umstände, die den Zeitgenossen geheimnisvoll waren, ex post aufdecken – ein typisch Göttinger Optimismus, selbstbewusst in seinem Gefühl, die ganze Welt der Antike zu überblicken. Man habe nur, meint Hißmann, die Rezeptionsgeschichte der Mysterien in den späteren Jahrhunderten genauer zu verfolgen. Als die Eleusinia ihr Ansehen langsam verloren und ein Preisgeben ihrer Interna weniger streng verfolgt wurde als zuvor, konnten eher Einzelheiten ihrer Lehre durchsickern. Hißmann referiert daraufhin einige der Deutungen von Cicero bis Plutarch und versucht sich an Datierungen, etwa an der These, dass die Mysterien »nicht älter sind als Homer (um 2984)«.15 Er benutzt dabei erstaunlicherweise die traditionelle biblische Chronologie von der Weltschöpfung an, wie sie Gatterer noch pflegte, bei dem Hißmann wohl auch gehört hat – trotz der sonst längst gängigen Annahmen, die Erde sei Millionen von Jahre alt.16 Die kleinen Mysterien, sagt Hißmann, hätten in weiter nichts bestanden, »als in dramatischen Vorstellungen des Zustandes der Seele nach dem Tode, durch welche sowohl die Glückseligkeit reiner und unbefleckter Seelen im Elysium, als auch die Quaalen unreiner abgeschiedener Geister im Tartarus abgebildet werden«.17 Das ist ganz im Sinne Warburtons und anderer Interpreten gesagt. Der entscheidende Punkt in Hißmanns Aufsatz ist auch nicht diese Deutung, sondern seine Lesart der größeren Mysterien.

12 13 14 15 16 17

Voltaire: Essai sur les moeurs. Genf 1754, Introduction, Kap. 37: »Des mystères de Cérès-Éleusine«. Hißmann: Ueber die Eleusinischen Geheimnisse (s. Anm. 1), Sp. 865. Ebd., Sp. 868. Ebd., Sp. 874. Vgl. Martin Gierl: Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012. Hißmann: Ueber die Eleusinischen Geheimnisse (s. Anm. 1), Sp. 883. Vgl. Meiners: Ueber die Mysterien der Alten (s. Anm. 2), S. 274ff.

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Martin Mulsow

In die großen Mysterien, so Hißmann, wurden nur »Könige, Fürsten, Demagogen, Philosophen, und aufgeklärte Köpfe« eingeweiht. In ihnen – und Hißmann beruft sich auf die Passagen in Ciceros Tusculanae disputationes – wurde »der wahre Ursprung der Götter im griechischen Himmel gelehrt, die vom ganzen Staat auf das eifrigste verehrt werden mussten. Hier lehrte man ohne Zurückhaltung, dass die griechischen Götter zuerst Menschen waren, und dass die griechische Religion ein bloßes politisches Institut sei, nicht dazu bestimmt Menschen zu bessern, sondern Menschen zu bezähmen«. Dieser Euhemerismus wird mit Begriffen ausgestaltet – »politisches Institut« – die über Cicero hinausgehen und an die ganze frühneuzeitliche Debatte von Pomponazzi und Machiavelli bis zu den libertins erudits wie Naudé sowie den französischen Radikalaufklärern anknüpfen.18 Religion ist eine politische Einrichtung zur Zähmung der Massen. Auch wenn man sie als Illusion durchschaut, wird man sie keineswegs abschaffen wollen, denn sie ist nützlich und unerlässlich: So würden doch die rechtschaffendsten und vernünftigsten Weltweisen Griechenlandes, die mit vereinigten Kräften an der Ausrottung der Vorurtheile, und an der Verbreitung der Aufklärung über ihr Vaterland arbeiteten, nie allgemein nützliche Vorurtheile in der Religion zu ersticken gesucht haben.19

Die Eleusinischen Mysterien waren, so Hißmann, »die Schule, in welcher der aufgeklärte Theil der Nation, die Führer des Volks, und die Häupter des Staats zu der großen Absicht unterrichtet wurden, für Aberglauben und Schwärmerei bewahrt, von Nationalvorurtheilen unabhängig, vom dogmatischen Stolz befreyet, und verträglich gemacht zu werden«. Diese Worte gehen weit über eine rein historische Interpretation hinaus. Sie sind identifikatorisch und auf Hißmanns Gegenwart, das späte 18. Jahrhundert, gemünzt. Hißmann geht sogar so weit, das Gedankenexperiment anzusetzen, »daß heute ein außerordentliches Genie, das in achtzehn Jahrhunderten gar nicht seines gleichen gehabt, unwiderlegliche Beweise aus der Philosophie und der Geschichte gegen die Wahrheit der christlichen Religion erfände«.20 1776, als diese Worte geschrieben wurden, war der Fragmentenstreit zwischen Lessing und Goeze über die Fragmente aus Reimarus’ antichristlicher Apologie in vollem Gange.21 Die Szenerie war also nicht weit hergeholt. »Würde ein solcher Mann«, fährt Hißmann fort, »nicht sein ganzes Zeitalter verwirren; ein Feind des ganzen cultivirten Erdbodens werden; den würdigen Eifer der Menschheit nach dem Segen der Welt, der Tugend, niederschlagen; und das Bestreben nach rechtschaffenen Handlungen, wenn es gleich durch ein Vorurtheil erzeugt würde, ersticken [...]?« Diese Überlegungen lassen schon auf den von Friedrich Karl Forberg ausgelösten Atheismusstreit von 1799 vorausblicken, in dem es auch darum ging, dass der Glaube an die Existenz Gottes bei der Vorstellung einer moralischen Weltordnung ein notwendiges »als ob« der Gesellschaft darstelle – aber eben nur ein »als ob«, eine Fiktion, denn eine moralische Weltordnung sei im Prinzip auch ohne Gott möglich.22 18 19 20 21

22

Vgl. etwa René Pintard: Le libertinage érudit dans la prèmiere moitié du XVIIe siècle. Paris 1943. Hißmann: Ueber die Eleusinischen Geheimnisse (s. Anm. 1), Sp. 888. Ebd., Sp. 887f. Vgl. Gerhard Freund: Theologie im Widerspruch. Die Lessing-Goeze-Kontroverse. Stuttgart 1989; William Boehart: Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing). Schwarzenbek 1988; Christoph Bultmann u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Berlin 2011. Werner Röhr (Hg.): Appellation an das Publikum. Dokumente zum Atheismusstreit. Jena 1798/99. Leipzig 21991.

Hißmann und Meiners über die eleusinischen Mysterien

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Hißmann zeigt sich also als religionskritisch, ja möglicherweise atheistisch in dem Sinne, dass die Wahrheit der Religion ihre Menschengemachtheit ist. Doch zugleich beharrt er vehement darauf, dass der »würdige Eifer der Menschheit nach dem Segen der Welt« sich nur durch Religion erzeugen lasse – ob nun im alten Griechenland oder im Europa der Gegenwart. Man kann auf Religion nicht verzichten.23 Wie ist Hißmanns Lehrer Meiners mit dem Thema umgegangen?24 Durchaus anders. Sein Aufsatz umfasst mehr als 180 Seiten und ist damit eigentlich ein kleines Buch für sich, eine Fortsetzung seines Versuchs über die Religionsgeschichte der ältesten Völker vom Jahr zuvor.25 Damals war er nur auf die ägyptische Religion eingegangen und hatte im 14. und letzten Kapitel etwas über die »Mysterien und geheime Lehrart der egyptischen Priester« ausgeführt.26 Die Priester, so Meiners damals, seien – ähnlich wie die Zauberer der amerikanischen Völker – letztlich Betrüger27 – der Blick auf Naturvölker helfe also, eine unbefangene Deutung der angeblich so hehren ägyptischen Kultur zu gewinnen: So bald man die απoρρητα der Egyptier, wie die aller übrigen Nationen erklärt, und ihre geheime Lehrart nicht als eine Bemühung ansieht, große wichtige Wahrheiten in ihrer Würde zu erhalten, sondern Gauckeleyen, deren Nichtswürdigkeit sie am meisten fühlen mußten, zu verbergen; so laßt sich alles, was man uns von beyden erzählt, ganz natürlich begreifen, da man hingegen unendliche Schwierigkeiten antrift, sobald man ihre απoρρητα für esoterische Wissenschaften und ihren methodum arcanam als eine Ueberzeugung von der Heiligkeit ihrer Kenntnisse betrachtet.28

Meiners wollte die Ägypter entzaubern, entlarven. In dieser Schrift von 1775 hat er daher die Differenzierung in exoterische und esoterische Religion, bei der die esoterische tiefe Wahrheiten enthalte, noch abgelehnt. Mit Mosheim gegen Cudworth war er der Ansicht gewesen, wenn man klare und vernünftige Ansichten habe, müsse man diese nicht mit Symbolen verdunkeln und verstecken. Scheinbar tiefsinnige Symbole dagegen seien oft nur dazu da, die Leere der Inhalte zu übertünchen.29 Dabei hatte Meiners bereits 1772 in seinem durchaus revolutionär 23 24 25 26 27 28 29

Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Udo Thiel einerseits und Martin Schmeisser andererseits in diesem Band. Zu Meiners vgl. Luigi Marino: I maestri della Germania. Göttingen 1770–1820. Torino 1975; Michael C. Carhart: The Science of Culture in Enlightenment Germany. Cambridge, Mass. 2007. Meiners: Ueber die Mysterien der Alten (s. Anm. 2). Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte (s. Anm. 4). Ebd., S. 297. Ebd., S. 298. Ebd., S. 299f. zitiert Meiners Mosheim: »Fatebor quod sentio: nunquam ego quemquam ratione valentem ita delirasse arbitror, ut dogmata, quorum utilitatem et veritatem noverat, et quae perspicuis et planis verbis declarari posse videbat, imaginibus et nescio quibus symbolis opprimeret, et hominum oculis subduceret. Contra eorum, qui nugas et ineptias populo vendunt, hoc esse proprium solet, ut splendida veste, figurisque longe petitis nuditatem sententiarum suarum tegant. Qui sub quavis, quae ad nos pervenit, Aegyptiorum veterum figura, sapientiam latere putant incredibilem, hi mihi, quaso, caussam enarrent, quae induxeret homines istos, ut eruditionem suam tam calignosis et inficetis aenigmatibus concluderent. Sacerdotumne caussa sic fecerunt, an vero multitudinis et populi? Illud quidem nemo facile dixerit. Nunc cur sacerdotum caussa, qui probe noverant, quid ista sibi vellent signa, tam lepidis imaginibus usi fuissent? Ergo populum propter et multitudinem. Sed quid, obsecro, necessarium erat populo imagines rerum abstrusarum ab oculos ponere, quum nihil scientiae suae ad populum pervenire vellent? Qaunta, quaeso, haec stultitia est, populum omnisverae cognitionis expertem velle, et nihilo tamen minus symbola et signa veritatis conspectui eiusexponere?« Mosheim in den

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Martin Mulsow

gemeinten und anonym publizierten Erstlingswerk Revision der Philosophie Warburtons politische Unterscheidung zwischen Esoterik und Exoterik in der Religion verarbeitet. Er hatte seine Konzeption von philosophischer Psychologie als Grundwissenschaft »esoterische Logik« genannt und dabei unter Esoterik dasjenige verstanden, das »nicht ohne gefährliche Erschütterung allgemein bekannt gemacht werden kann« und das aus der Verteidigung »paradox scheinender Sätze« lebt.30 Er kannte also im Prinzip das Paradigma der »religio duplex« im Rahmen einer politischen Theologie, hier angewendet auf gesellschaftliche Folgen philosophischer Erkenntnis.31 Aber noch hielt ihn Mosheims Skepsis gegenüber der Gaukelei der »Orientalen« ab. Vielleicht sind es erst die Gespräche mit Hißmann gewesen, die ihn davon überzeugt haben, auch in der Mysterieninterpretation auf Warburtons Ansatz setzen zu müssen. Allerdings geht Meiners dabei nicht so weit wie sein Schüler, der in eine atheistische Richtung driftete. Während Hißmann seinen Einstieg in das Thema über die historische Erkenntniskritik gesucht hatte, sucht Meiners sie über eine ethnologisch verfahrende Religionsgeschichte der gesamten Menschheit. Zwar hatte schon der Titel des Buches von 1775 darauf gezielt, aber erst jetzt, in den Anfangspassagen der Mysterienschrift, greift er wirklich massiv auf Religionsethnologie paganer Völker aus. »Mysterien«, so Meiners, »finden sich nicht unter allen Nationen des Erdbodens. Nicht die geringste Spur davon trifft man unter denjenigen wilden Völkerschaften an, die noch keine feste Religion, keine allgemeine vom ganzen Volk angebetete Nationalgötter haben«.32 Nötig dazu sind auch gemeinschaftliche und regelmäßige Feste und Priester oder Gottesdiener, die im Namen des ganzen Volkes Segen erflehen. Die primitiveren Menschheitsstufen kennen nur Zauberer, Wahrsager und Zeichendeuter. Schon im Buch von 1775 spricht Meiners von diesen »Jongleurs«.33 Meiners wertet – »moderner« Anthropologe, der er ist – Reiseberichte aus allen Teilen der Welt aus und kann etwa die Beobachtung machen, dass Vereinigungen von Jongleurs die erste Stufe zur Mysterienreligion bedeuten: »Wenn man alle diese Nachrichten von der feyerlichen Aufnahme geprüfter Jünger in die Brüderschaften der Jongleurs zusammen nimmt, so läßt sich die Wirklichkeit von Mysterien unter vielen Amerikanischen Völkerschaften nicht wegläugnen.«34 Diese Mysterien sind aber noch nicht für das

30 31 32 33 34

Anmerkungen zu Ralph Cudworth: Systema intellectuale huius universi. Jena 1733, S. 370, Anm. C. Mosheim hatte sich schon 1725 in De caussis suppositorum librorum inter Christianos mit dem Thema von Esoterik und Exoterik beschäftigt, und auch damals war er höchst skeptisch gegenüber Ansprüchen (in diesem Fall von Gnostikern), eine ernstzunehmende Geheimlehre zu besitzen. Vgl. Martin Mulsow: Eine ›Rettung‹ des Servet und der Ophiten? Der junge Mosheim und die häretische Tradition. In: ders. u.a. (Hg.): Johann Lorenz Mosheim (1693–1755). Wiesaden 1997, S. 45–92. Zu Mosheims Fußnoten zu Cudworth vgl. Sarah Hutton: Classicism and Baroque. A note on Mosheim’s footnotes to Cudworth’s The True Intellectual System of the Universe. In: ebd., S. 211–228. [Meiners:] Revision der Philosophie, Göttingen 1772, S. 91f. und 115. Vgl. auch Hißmann: Psychologische Versuche. Ein Beytrag zur esoterischen Logik, Frankfurt und Leipzig 1777. Zu dieser Religionskonzeption vgl. Jan Assmann: Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung. Berlin 2010. Meiners: Ueber die Mysterien der Alten (s. Anm. 2), S. 169. Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte (s. Anm. 4), S. 297; Meiners: Ueber die Mysterien der Alten (s. Anm. 2), S. 174. Meiners: Ueber die Mysterien der Alten (s. Anm. 2), S. 183. Zu Meiners im Kontext der Anthropologie um 1770 vgl. Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin 2007.

Hißmann und Meiners über die eleusinischen Mysterien

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ganze Volk, sondern nur für »heilige Rathgeber« bestimmt. Erst bei komplexeren Gesellschaften kommen Mysterien im eigentlichen Sinne auf – und zwar in zwei Arten: Die eine Art zeigt sich fast immer bey Völkern, die solche Götter anbeten, die entweder von Menschen gebohren, oder wenigstens in menschlicher Gestalt sich geoffenbahret haben, deren Priester ferner blos Opferer, Weissager u.s.w. aber keine Lehrer des Volks sind, und also die heiligen Geschichte ihrer Götter nicht öffentlich vortragen. Bey solchen Völkern sind Mysterien gewöhnlich dramatische Vorstellungen der Geschichte und Begebenheiten ihrer Götter, die die Stelle des öffentlichen Unterrichts vertreten, aber noch andere Absichten mit sich vereinigen lassen.

Ganz anders die Mysterien bei anderen Gesellschaften: Die zwote Art von Mysterien findet sich unter solchen Völkern, deren Priester zugleich Philosophen sind, und eine gewisse Anzahl von Kenntnissen erworben haben, die mit der öffentlichen Volksreligion, deren Diener sie sind, nicht genau übereinstimmen, aber einzelnen Personen eben so heilsam und nothwendig sind, als sie dem Pöbel sorgfältig entzogen werden müssen. Diese Mysterien, die in der Mittheilung gewisser, der Nationalreligion entgegengesetzter Kentnisse, bestehen, werden entweder mündlich fortgepflanzt, oder in heiligen Schriften aufbewahrt, die allein in den Händen der Priester 35 bleiben, und auch ihnen allein verständlich und sichtbar sind.

Das Interessante an den Eleusinia ist nun, dass sie beide Arten in sich vereinigen, beide aus unterschiedlichen sozialen Kontexten resultierende Religionsformen synthetisieren – eben durch die Zweiteilung in kleinere und größere Mysterien. Auch Meiners stellt hier also, wie Hißmann, die Unterscheidung zwischen kleinen und großen Mysterien heraus, auch er hält die kleinen Mysterien für Dramatisierungen des DemeterKultes. Aber wie deutet er die großen Mysterien? Bei diesen Mysterien, so Meiners, wurde man unterrichtet »in Grundsätzen, die die ganze Religion des Volks übern Haufen warfen«.36 Genau wie Hißmann führt Meiners die Stelle bei Cicero an und interpretiert sie so, man habe die Eingeweihten »ohne Zurückhaltung in der wahren Geschichte der Götter, die der Pöbel anbetet«, unterrichtet; »und sagte den Epopten ungescheut, dass alle Götter Griechenlandes weiter nichts als schwache Menschen gewesen, dass sie als Menschen gelebt, als Menschen gestorben, und als solche wären begraben worden«. Dieser Euhemerismus bleibt aber nicht das letzte Wort. Meiners kommt nun auf Varros Unterscheidung zwischen der Theologie der Dichter, der Philosophen und der Gesetzgeber (theologia mythica, naturalis und civilis) zu sprechen.37 Das, was destruiert wird, ist natürlich die Theologie der Dichter, die Mythologie, während die der Philosophen ganz anders aussieht: »Nun nahm man aber in den großen Mysterien nicht blos, sondern man gab auch wieder; man riß nicht bloß ein altes Gebäude von Irrthümern um, sondern bauete auch ein neues herrliches von heilsamen Wahrheiten auf, von welchen das ganze Alterthum glaubte, dass der grosse Haufe sie zu fassen aus Sinnesblödigkeit schlechterdings unfähig wäre.« Dieses neue Gebäude ist – wie bei Warburton – der Monotheismus. »Man verkündigte in ihnen die Lehre von einem einzigen Gott, lehrte die wahre Natur und Beschaffenheit der Geister, oder

35 36 37

Beide Zitate: Meiners: Ueber die Mysterien der Alten (s. Anm. 2), S. 188f. Ebd., S. 292. Ebd., S. 296. Varro in Augustinus: De civitate Dei VI, 5-10.12. Dazu Assmann: Religio duplex (s. Anm. 30).

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Dämonen, und zeigte zugleich dem Adel die Glückseligkeit, und künftige Bestimmung unserer menschlichen Seelen.38 Dieser Teil – und das ist der entscheidende Unterschied – fehlt bei Hißmann. Bei Hißmann wird in den Mysterien nur euhemeristisch destruiert, aber nichts an die Stelle der entlarvten Religion gesetzt – außer Vernunft und Aufklärung. Wenn der Monotheismus nicht explizit an die Stelle des Polytheismus tritt, dann lässt sich die euhemeristische Entlarvung – e silentio – eben auch auf das Christentum anwenden. Wie soll man sich von daher das Verhältnis der Entstehung von Hißmanns Aufsatz und Meiners’ langer Studie vorstellen? Haben beide aus ihren mündlichen Diskussionen unterschiedliche Konsequenzen gezogen? Die Ähnlichkeiten der beiden Texte sind – abgesehen von der ungleich größeren Ausführlichkeit von Meiners – unübersehbar. Aber es gibt auch signifikante Differenzen im Detail: während etwa Hißmann zustimmend (oder unkritisch) die Ansicht referiert, die Ausweitung des eleusinischen Kultes auch auf Auswärtige sei durch Herkules geschehen, spricht sich Meiners gegen den Herkules-Mythos als ein »Mährchen« aus.39 Hätte Hißmann diesen Text vorab lesen können, hätte er kaum seine Ansicht aufrechterhalten. Daher gehe ich davon aus, dass beide Autoren die endgültigen Texte des jeweils anderen nicht kannten, als sie zur Veröffentlichung schritten. Weder reagiert Hißmann auf die historisch-kritischen Anmerkungen von Meiners’ noch Meiners auf die offenkundig radikalere Interpretation seines Schülers. Wie aber dachte sich Meiners die monotheistische Lehre, die in den großen Mysterien gelehrt wurde? Er spekuliert über eine Argumentation aus der Natur heraus, also eine physikotheologische Beweisart.40 Und er stellt auch Vermutungen darüber an, wie die Dämonologie innerhalb dieser Lehre ausgesehen haben könnte, sich dabei massiv auf orphische Quellen berufend. »Man lehrte endlich in den Mysterien das, was Plato nachher in ein vollständiges System ausarbeitete: dass die Seelen der Menschen ehemals Dämonen waren, aber zur Strafe ehemaliger Vergehungen, deren sie sich in einem besseren Zustande schuldig gemacht, in menschliche Leiber, wie in Gefängnisse herab gesenkt worden […].«41 Auch wenn Meiners die erhaltenen orphischen Hymnen für Pseudepigraphen hält, geht er doch von einer rekonstruierbaren orphischen Lehre aus, die er als Kern der großen Mysterien ansieht.42 Dass Meiners’ Mysterienschrift entscheidend auf die Struktur des Illuminatenordens gewirkt hat – und in der Folge auf die freimaurerische Mysteriendebatte in den 1780er Jahren43 –, ist bei dem identifikatorischen Ton, der bei in schwacher Form bei Meiners, sehr viel stärker aber bei Hißmann sichtbar geworden ist, nicht verwunderlich: Größere Mysterien sind Aufklärungszonen, sind Orte der Desillusionierung und elitären Selbstverständigung. Daher hat Adam Weishaupt die Doppelstruktur von kleinen und größeren Mysterien übernommen, als er einen Ge38 39 40 41 42 43

Meiners: Ueber die Mysterien der Alten (s. Anm. 2), S. 258f. Hißmann: Ueber die Eleusinischen Geheimnisse (s. Anm. 1), Sp. 878f. Meiners: Ueber die Mysterien der Alten (Anm. 2), S. 257f. Meiners: Ueber die Mysterien der Alten (s. Anm. 2), S. 300. Ebd., S. 304. Zur Kritik an der Echtheit der Hymnen: ebd., S. 315. Jan Assmann: Religo duplex (s. Anm. 31); dort S. 115f. zu Meiners; vgl. weiter Markus Meumann: Zur Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illuminaten: Ignaz von Born, Karl Leonhard Reinhold und die Wiener Freimaurerloge »Zur wahren Eintracht«. In: Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarbeit von Holger Zaunstöck (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999, S. 288–304.

Hißmann und Meiners über die eleusinischen Mysterien

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heimbund konzipierte, der sowohl eine größere Menge begabter und einflussreicher Leute an sich binden als auch innerhalb einer Elite dieser Leute Aufklärung über den Zusammenhang von Politik, Religion und Philosophie verbreiten sollte.44 Hißmanns Wort von der »Schule, in welcher der aufgeklärte Theil der Nation, die Führer des Volks, und die Häupter des Staats zu der großen Absicht unterrichtet« werden, trifft die Absichten der Illuminaten ziemlich genau. Meiners wurde 1782 oder 1783 Mitglied der Illuminaten und war stets eine philosophische Autorität ersten Ranges für den Ordensgründer.45 Eher ist es erstaunlich, dass Hißmann sich den Göttinger Illuminaten – deren »Minervalkirche« seit 1782 bestand – offenbar nicht angeschlossen hat.46 Die frühe Beschäftigung Hißmanns mit der Religionsgeschichte hat aber bei ihm weitergewirkt. Durch seine rege Übersetzungstätigkeit nicht nur von sprachphilosophischen, sondern auch von welthistorischen Büchern wie Delisle de Sales’ Histoire universelle und von religionsgeschichtlichen Werken sie Démeuniers Les moeurs et les usances des peuples war Hißmann mit der Forschung zur Entstehung und Entwicklung von Religionen in verschiedensten Gebieten der Welt vertraut.47 Als er am 14. August 1784 starb – noch nicht einmal 32 Jahre alt – hinterließ er ein Manuskript über die »Religionsgeschichte der Hindostaner«, das erst noch zu untersuchen ist.48 Es ist im Kontext von Alexander Dows Abhandlungen zur Erläuterung der Geschichte, Religion und Staatsverfassung von Hindostanzu verstehen, die, aus dem Englischen übersetzt 1773/4 in Leipzig erschienen waren.49 Dow, der Offizier, Orientalist und Literat, hatte 1768 einen Text von Muḥammad Qāsim Hindū-Šāh Astarābādī Firišta aus dem frühen 17. Jahrhundert mit dem Titel Gulšan-i Ibrāhīmī (Geschichte von Hindostan) aus dem Persischen übersetzt.50 Dadurch war die 44

45

46

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Monika Neugebauer-Wölk: Esoterische Bünde und bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1995, S. 27–29. Man vergleiche auch Hißmanns Beschreibung der »Prüfungen« für die Initianden der Eleusinischen Mysterien mit den Ritualen bei den Illuminaten. Hißmann: Ueber die Eleusinischen Geheimnisse (s. Anm. 1), Sp. 885f.: »Die Einzuweihenden wurden sehr lange unter allerhand Untersuchungen und schweren Proben hingehalten, damit man ihre Gesinnungen und die Kräfte ihres Verstandes und Herzens gehörig erforschen könnte. In eben dieser Absicht versetzte man sie in allerhand Situationen, und beobachtete sie in allerley Lagen des Lebens. Man sah auf ihre Seelenstärke im Unglück, und auf ihre Klugheit im Glück [...].« Zur illuminaten Überwachungstechnik vgl. Hermann Schüttler: Geheime Weisheitsschule. Zur Erziehungspraxis des Illuminatenordens. In: Martin Mulsow unter Mitarbeit von Michael Multhammer (Hg.): Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit (im Erscheinen). Zur Rolle von Meiners im Illuminatenorden vgl. Martin Mulsow: »Steigewenn du kannst, höher und höher zu uns herauf«: Adam Weishaupt als Philosoph. In: Walter Müller-Seidel u. Wolfgang Riedel (Hg.): Die WeimarerKlassik und ihre Geheimbünde. Würzburg 2002, S. 27–66, sowie mein demnächst erscheinendes Buch über die Reform im Illuminatenorden. Er ist nicht in den Mitgliederlisten zu finden: Hermann Schüttler: Die Mitglieder des Illuminatenordens1776–1787/93. München 1991. Auch in der auf zahlreichen neuen Materialien fußenden zweiten Auflage des Verzeichnisses, die Schüttler vorbereitet, ist Hißmann nicht enthalten. Neue Welt- und Menschengeschichte, aus dem Franzözischen, Münster und Leipzig 1781ff.; Démeunier über Sitten und Gebräuche der Völker. 2 Bde. Nürnberg 1783/84. HH 1–5 no. 44 Nachlass der Familie Klein im Brukenthal’schen Museum in Hermannstadt, BL. 11r– 49v: Zur Relig. Gesch. der Hindostaner. Hissman 1776. Alexander Dow: Abhandlungen zur Erläuterung der Geschichte, Religion und Staatsverfassung von Hindostan, 2 Bde. Leipzig 1773/1774. The History of Hindostan from the Earliest Account of Time to the Death of Akbar. London 1768.

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muslimische Sicht auf Südasien aus der Zeit des Mogulreiches in Europa bekannt geworden und gab der Religionsforschung reiches Material an die Hand, um die indischen Verhältnisse besser zu verstehen.51 Gleichzeitige religionsethnographische Werke wie die Lindemanns geben ein Bild von den Bemühungen der 1780er Jahre, bei Völkern »im Stande der Roheit und Cultur« das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Ritus zu bestimmen.52 Es wird zu prüfen sein, ob sich Hißmanns frühe radikale Ansichten über den politischen Charakter der Religionen auch noch im späteren Werk gehalten haben.

51 52

Vgl. hierzu Denis Hermann u. Fabrizio Speziale: Muslim Cultures in the Indo-Iranian World during the Early Modern and Modern Periods. Berlin 2010. Johann Gottlieb Lindemann: Geschichte der Meinungen älterer und neuerer Völker, im Stande der Roheit und Cultur, von Gott, Religion, und Priesterthum: nebst einer besondern Religionsgeschichte der Aegypter, Perser […] wie auch von der Religion der wilden Völker als: Brasilianer, Mexicaner, Peruaner. Stendal 1784–1787.

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»Lesen mag es die ganze schöne Welt.« Michael Hißmanns Beitrag zur Popularphilosophie

Aber dürfen wol auch Frauenzimmer, die nicht so gebildet sind, wie Ihre Korrespondentinnen, Ihre Briefe lesen?1

Diese Frage einer Dame, der er »die ersten sechs Aushängebögen« seiner Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser vorgelegt hatte, stimmt den Göttinger Magister Michael Hißmann nachdenklich. »Lesen mag sie die ganze schöne Welt«, doch hegt er Zweifel, ob das »ganze lesende Frauenzimmerpublikum Geschmack an diesen Gegenständen« finde,2 ob es, »durch Kenntniß ihres wahren Gehalts, warmen Antheil daran nehmen« werde. Besagte Dame kontert. »Leute, die kaum buchstabiren und lesen« könnten, buchstabierten und läsen ja auch »die Bibel die sie eben so wenig verstehn; warum sollten nicht auch diejenigen Individuen meines Geschlechts Ihre Briefe lesen, die sie nur mit einigen Erläuterungen kommentirender Väter, Brüder, Gatten etc. durchaus verstehen werden?«3 Die namenlose Dame öffnet mit ihrer Frage den Blick auf eine Diskussion, die in ihrer Tragweite in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts virulenter denn je scheint.4 Bereits im Titel seines Kompendiums, das, so in einem Brief an seinen Freund und ehemaligen Kommilitonen Johann Filtsch (1753–1836), »Beste, was [er] bisher geschrieben habe«,5 greift Hißmann Aspekte eben jener Diskussion in dezidierter Form auf: Es sind briefliche Mitteilungen an Rezipienten beiderlei Geschlechts über philosophische Einzelfragen bzw. Teilgebiete. Im Vordergrund steht damit nicht die systematische Unterweisung eines akademischen – und damit qua definitionem immer noch männlichen – Publikums, sondern eine geschlechter-, institutionenwie – so ist zu vermuten – standesübergreifende Unterrichtung in den hauptsächlichen Momenten der Philosophie. Dies scheint Hißmann um so dringender, als noch immer – oder wieder verstärkt? – »menschenähnliche Geschöpfe, Philosophen genannt, in der rauhen Tracht der 1 2 3 4

5

Michael Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser. Gotha 1778, fol. A3r. Ebd. Ebd., fol. A3r–A3v. Vgl. zur ›Krise‹ der Aufklärung u.a. überblicksartig Rainer Wisbert: Balance von Aufklärung und Bildung. Moses Mendessohn und Johann Gottfried Herder. In: Regine Otto, John H. Zammito (Hg.): Vom Selbstdenken. Aufklärung und Aufklärungskritik in Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«. Beiträge zur Konferenz der International Herder Society Weimar 2000. Heidelberg 2001, S. 57–71. Zitiert nach Johann Karl Schuller: Magister Hißmann in Göttingen. Ein Beitrag zur siebenbürgisch-sächsischen Gelehrtengeschichte. Kronstadt 1863 [Separatdruck aus: Archiv des Vereins für siebenbürgische Landeskunde 6 (1863), S. 201–230], S. 9.

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Schulpedanten [...] auf die Katheder« treten und vorgeben, »die Weltweisheit habe sich nun aus der Sphäre des Lebens in die Sphäre der Katheder versezt«; diese stimmen, wie ihre Altvorderen »in der Mönchskutte, und den Pfaffenmänteln«, ein Te Deum an, wenn sie den gemeinen Menschenverstand mit allerley Spitzfindigkeiten barbarischer Kunstwörter verdumpfet, eingeschläfert, besiegt, und erwürget; die gesunde Vernunft durch scholastische Nomenklatur fern von sich weggeschreckt, und den schönsten Keim der Tugend und Einsicht eines aufkeimenden Genies durch tödlichen Schulstaub erstickt [haben].6

Statt der Schulphilosophie, die sich mit Hilfe eines esoterischen Wissenschaftsbegriffes gleichsam in einem Elfenbeinturm verbarrikadiert, propagiert Hißmann eine Weltweisheit, die von den »ungestalten Hirngeburten« und dem »wüste[n] Labyrinth von unnützen Sätzen, und leeren Folgerungen; Sophistenzeug; Disputirkunst; Psittacismus; Trödelkram von Meinungen, ohne Kraft und Gewißheit«, in dem ein »Gemisch von Thorheit und Unvernunft, unbrauchbar für das menschliche Leben, dem gesunden Menschenverstand nachtheilig, in einer barbarischen Sprache vorgetragen« und »mit unbiegsamer, dogmatischer Entschlossenheit behauptet, mit einem wüthenden Geschrey hartnäckig vertheidigt« werde, sich löse und deren Vertreter, den »wahren Weltweisen«, man »am Pult, oder im Gewühl der häuslichen Gesellschaft, von Kindern umringt, die sein Ebenbild tragen, oder unter philosophischen Freunden, oder in der Kirche« finde.7 Er fühle sich, so Bernhard Le Bovier de Fontenelle im Préface seiner 1686 erschienenen Entretiens sur la pluralité des mondes,8 wie Cicero, als er begann, vormals einzig in griechischer Sprache behandelte philosophische Probleme lateinisch darzustellen. Doch habe er, Fontenelle, nicht nur in der ›Volkssprache‹ philosophieren wollen, er habe voulu traiter la Philosophie d’une maniere qui ne fust point philosophique; j’ay tâche de l’amener à un point, où elle ne fust ny trop seche pour les Gens du Monde, ny trop badine pour les Sçavans,9

wobei er sich amuseray point à dire que j’ay choisi dans toute la Philosophie la matiere la plus capable de piquer la curiosité.10

Der sich hier etablierende ›esprit de vulgarisation‹11 kulminiert gut 60 Jahre später in Denis Diderots Diktum im 40. seiner Gedanken über die Interpretation der Natur:

6 7 8

9 10 11

Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 9f.; Hvhg. im Original. Vgl. ebd., S. 6–9. Vgl. Bernhard Le Bovier de Fontenelle: Entretiens sur la pluralité des mondes. Paris 1686; dt. Übers. von Johann Christoph Gottsched unter dem Titel Gespräche, von Mehr als einer Welt, zwischen einem Frauenzimmer und einem Gelehrten. Leipzig 1726. Fontenelle: Entretiens sur la pluralité des mondes (s. Anm. 8), fol. *2v. Ebd., fol. *3v. Vgl. hierzu Marie-Françoise Mortureux: La formation et le fonctionnement d’un discours de la vulgarisation scientifique au XVIIIe siècle à travers l’œuvre de Fontenelle. Paris 1983 sowie jetzt Fabrice Chassot: Le Dialogue scientifique au XVIIIe siècle. Postérité de Fontenelle et vulgarisation des sciences. Paris 2012; ebenso Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft. Literarische Strategien naturwissenschaftlicher Vulgarisierung in Frankreich. Von Cyrano de Bergerac bis zur Encyclopédie. München 2002.

Hißmanns Beitrag zur Popularphilosophie

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Voilà donc à peu près trois mille ans de perdus pour autre chose. Hâtons-nous de rendre la philosophie populaire. Si nous voulons que les Philosophes marchent en avant; approchons le peuple du point où en sont les Philosophes.12

Auch in Deutschland mehren sich seit dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts die Stimmen für eine solche »philosophie populaire«. Bereits 1687 hatte Christian Thomasius gegen all jene gewettert, die sich einzig »auff die Abstractiones Metaphysicas derer Schullehrer befleißigen [...] oder die nöthigen Wissenschaften nur obenhin und ohne gewöhnlichen Verstand wie die Nonnen den Psalter lernen«,13 der Gelehrte solle demgegenüber »embsig bemühet [sein]/ anmuthige und nützliche Wissenschafften fortzupflantzen/ und die unnöthigen Grillen derer Schulfüchse auszutilgen und aus dem Lande zu jagen.«14 Das Ziel Thomasius’ ist es, einem jungen erwachsenen Menschen – egal, ob »Frauenzimmer oder Mannsperson« – mit »einem guten natürlichen Verstand« in wenigen Jahren auf »leichteste und angenehmste Art« genügend Wissen in allen Bereichen zu vermitteln, dass er in der Lage sei, sich später »ohne fernere Handleitung« fortzubilden, »in der Welt gebraucht [zu] werden« und in Gesellschaft sich zu bewegen, ohne Anstoß zu nehmen.15 Dieses Programm verfolgte Thomasius zwei Jahre später in seinem Vorschlag wie ein junger Mensch zu einem honnéten und galanten Leben zu informiren sey umfänglich weiter, indem er ein Programm ausarbeitete, einen solchen Menschen binnen dreier Jahre mit täglich zweistündigem Unterricht in der Philosophie und Teilen der Jurisprudenz zu unterweisen.16 Erst in Halle jedoch folgte die praktische Umsetzung. Die »Weltweisheit« nämlich, so apostrophiert Thomasius in seiner Einleitung zu der Vernufft=Lehre, sei »so leichte/ daß dieselbige von allen Leuten/ sie mögen seyn/ von was für Stande und Geschlecht sie wollen/ begriffen werden kan.«17 Bleibt die gesellschaftliche Öffnung der Disziplin seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ein anvisiertes Ziel, so gesellt sich in dieser Zeit verstärkt ein zweites hinzu: die Bildung des weiblichen Geschlechts. Erfährt die Bildung von Mädchen und Frauen seit dem Mittelalter eine kontinuierliche Entwicklung, so etabliert sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Ideal des ›gelehrten Frauenzimmers‹,18 was sich vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten in einer Reihe von prosopographischen Schriften niederschlägt, die sich um eine bio-bibliographische Bestandsaufnahme eben jener Typisierung bemühen.19 In der zweiten Jahrhunderthälfte jedoch 12 13

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Denis Diderot: Pensées sur l’interpretation de la nature. o.O. 1754, p. 105. Christian Thomasius: Discours, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? Ein Collegium über des Gratians Grund=Reguln/ Vernünfftig/ klug und artig zu leben. In: ders.: Kleine Teutsche Schriften. Halle 1701 [ND mit einem Vorwort von Werner Schneiders. Hildesheim 1994], S. 1– 51, hier S. 20. Ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 34f.; Hvhg. im Original. Christian Thomasius: Vorschlag wie ein junger Mensch zu einem honnéten und galanten Leben zu informiren sey. In: ders.: Kleine Teutsche Schriften (s. Anm. 13), S. 233–270. Christian Thomasius: Einleitung zu der Vernunfft=Lehre/ Worinnen durch eine leichte/ und allen vernüfftigen Menschen/ waserley Standes oder Geschlecht sie seyen/ verständige Manier der Weg gezeiget wird/ ohne die Syllogisticâ das wahre/ wahrscheinliche und falsche von einander zu entscheiden/ und neue Warheiten zu erfinden. Halle 1691 [ND mit einem Vorwort von Werner Schneiders. Hildesheim 1968], S. 13. Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weibliche. Frankfurt a.M. 1979. Vgl. etwa Christian Franz Paullini: Das Hoch- und wohlgelahrte Teutsche Frauen-Zimmer. Frankfurt a.M., Leipzig 1705; Johann Caspar Eberti: Eröffnetes Cabinet deß gelehrten Frauen-Zimmers. Frankfurt a.M., Leip-

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verkommt, initiiert vor allem durch Rousseaus Émile,20 das weibliche Bildungsideal in der »Idealisierung des ›gefühlvollen Seelchens‹«.21 Auch Hißmanns eingangs geschilderte Bedenken scheinen dieser Nobilitierung des Empfindsamen Rechnung zu tragen. Denn den deutschen Schönen, die mehrentheils die Franzosen lieben, an der Lektüre philosophischer Aufsätze Geschmack abzugewinnen, mögte für einen Schriftsteller, der auf französische Schöngeisterey nicht den mindesten Anspruch macht, noch machen kann, ein beynahe ganz unmögliches Unternehmen seyn.22

Doch um des Vorhabens willen, dass »jedes lesende gelehrte und ungelehrte Frauenzimmer [...] wenigstens so viel von der Philosophie wissen« solle, als in den ersten fünf Briefen gesagt werde,23 will er das »lesende Frauenzimmerpublikum« im Einklang mit Gellerts Brieftheorie nicht »mit abgeschmackten Schmeicheleyen zu lauter Huldgöttinnen« machen, noch mit ihnen die schönen Wissenschaften von der besten Lage der Schminkpflästerchen, dem zierlichsten Ausschnitte des Leibchens, der gefälligsten Einfassung des Nachtrockes, von einer recht catullischen Art zu küssen, von der Sprache des Fächers und der Augen abhandel[n].24

1. L’esprit de vulgarisation Die Philosophie sei, so postulierte Johann Georg Sulzer 1755 in der Vorrede zu seiner Übersetzung der sieben Jahre zuvor publizierten Enquiry concerning Human Understanding David Humes, »eine Wissenschaft für jeden Menschen«,25 eine Forderung, die der Leipziger Altphilologe und Professor für Eloquenz Johann August Ernesti ein Jahr zuvor der Philosophie selbst in den

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zig 1706; Amaranthes [i.e. Gottfried Siegmund Corvinus]: Nurzbares, galantes und curiöses FrauenzimmerLexicon. Leipzig 1715; Christoph August Heumann: Acta Philosophorum, das ist, Nachricht von der Philosophie des Frauenzimmers. Halle 1721 [ders.: Acta Philosophorum, das ist, gründliche Nachrichten aus der Historia Philosophica, nebst beygefügten Urtheilen von denen dahin gehörigen alten und neuen Büchern, 12. Stück, S. 826– 875]. Vgl. insbesondere Jean-Jacques Rousseau: Émile, ou de l’éducation. Den Haag [sc. Paris] 1762, 5. Buch: Sophie; im Folgenden zitiert nach ders.: Emil oder Über die Erziehung. Frei aus dem Französischen übersetzt von Hermann Denhardt. 2 Bde. Leipzig o. J. Zu Rousseau als Pädagogen vgl. überblicksartig u.a. Otto Hansmann: Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Baltmannsweiler 2002 [Basiswissen Pädagogik. Historische Pädagogik 1]; zur Rousseau-Rezeption vgl. u.a. Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin 1994. Vgl. Christiane Brokmann-Nooren: Weibliche Bildung im 18. Jahrhundert. »gelehrtes Frauenzimmer« und »gefällige Gattin«. Oldenburg 1994 [Beiträge zur Sozialgeschichte der Erziehung 2], S. 13. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), fol. A3v–A4r. Ebd., fol. A4r. Christian Fürchtegott Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe, an den Herrn F. H. v. W. In: Belustigungen der Verstandes und des Witzes. Auf das Jahr 1742 [ND Stuttgart 1971], S. 177–189, hier S. 186. Vgl. Johann Georg Sulzer: Vorrede. In: David Hume: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß. Aus d. Engl. mit Anm. [von Johann Georg Sulzer]. Hamburg, Leipzig 1755 [ders.: Vermischte Schriften, Bd. 2], fol. a2r–b3v, hier fol. a4v.

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Mund gelegt hatte: »Quodsi philosophia loqui posset, haud dubie ipsa, se popularem esse cupere, profiteretur.«26 In Rekurs auf Diderot formulierte Ernesti in seinen Prolusiones De philosophia populari (1754) und De philosophia vitae (1755) ein Programm, das gegen die »subtilitas scholasticae« die Etablierung einer »philosophia populari« bzw. »philosophia vitae« propagierte,27 die die Enge der Lehrsäle und damit die rein fachphilosophische Kommunikation und Auseinandersetzung verlassen und an die gesellschaftliche Öffentlichkeit gehen müsse.28 Ernestis Programm zur Schaffung einer populären Philosophie,29 selbst wenig populär, da in Latein für die Schulphilosophen geschrieben, sowie der begrifflichen Klärung dessen, was ›Popularphilosophie‹ überhaupt sei,30 blieb ohne nennenswerte Folgen. Gleichwohl etabliert sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts das, was Johann Heinrich Feder unter Einbindung der schönen Wissenschaften in die philosophische Reflexion als eine Philosophie für die Welt propagierte, denn der Philosoph dürfe, »indem er metaphysische Welten schafft, nicht diejenige darüber [vergessen], in welcher er lebt.«31 Georg Friedrich Meier publiziert bereits 1752 seine Vernunftlehre, die fernab von aller Pedanterie und Künstlichkeit zeigen soll, »wie man philosophisch, vernünftig und gelehrt denken und reden soll«, und zwar jedermann, »er mag seyn wer er will, wenn er nur die Absicht hat, und das natürliche Geschicke besitzt, vernünftig philosophisch und gelehrt zu denken« – um sich von den »Schulfüchsereyen« und den »Gelehrten von Profeßion«, dem »bloße[n] Schullogicus« abzuheben, habe er »auf möglichste« versucht, »Deutlichkeit, Gründlichkeit und Anmuth mit einander zu verbinden« und so die sich vom eigentlichen Menschsein entfernende Schulphilosophie zu reformieren.32 Denn diese sei, wie Meier bereits in den Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften betonte, nichts mehr als »ein blosses Gerippe ohne Fleisch«, ein »Baum ohne Blätter und ohne Blüthen«, einzig wert, unter »Büchern vergraben« zu werden, da sie keinerlei Vermitt-

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»Wenn die Philosophie sprechen könnte, würde sie selbst unzweifelhaft bekennen, dass sie populär zu sein begehre«; Johann August Ernesti: De philosophia populari. In: ders.: Opuscula oratoria, Orationes, Prolusiones et Elogia. Leiden 1762, S. 149–156, hier S. 150. Vgl. Ernesti: De philosophia populari (s. Anm. 26) sowie Johann August Ernesti: De philosophia vitae. In: ders.: Opuscula oratoria (s. Anm. 26), S. 157–167, hier S. 169; vgl. dazu Roland Mortier: Diderot, Ernesti et la »Philosophie populaire«. In: John Pappas (Hg.): Essays on Diderot and the Enlightenment. Genf 1974, S. 207–230; ebenso Helmut Holzhey: Der Philosoph für die Welt – eine Chimäre der deutschen Aufklärung. In: ders., Walter Ch. Zimmerli (Hg.): Esoterik und Exoterik in der Philosophie. Basel, Stuttgart 1977, S. 117– 138. Vgl. Ernesti: De philosophia populari (s. Anm. 26), S. 154, ebenso Ernesti: De philosophia vitae (s. Anm. 27), S. 158. Vgl. Ernesti: De philosophia populari (s. Anm. 26), S. 153: »studeamus philosophiam popularem efficere« (Hvhg. im Original). Vgl. Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003 [Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung. Abt. II: Forschungen 17], S. 35; wenig ergiebig ist trotz des Titels das Themenheft »Popularphilosophie im 18. Jahrhundert« des Achtzehnten Jahrhunderts, vgl. Das Achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 14 (1990), H. 1. Johann Georg Heinrich Feder: Grundriß der philosophischen Wissenschaften nebst der nöthigen Geschichte zum Gebrauche seiner Zuhörer. Coburg 1767, S. 51. Vgl. Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle 1752 [ND Halle 1997], fol. [)(3r]–[)(3v].

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lung leiste und so ohne Nutzen bleibe.33 Um der Philosophie aufzuhelfen, bedürfe es einer Abkehr von der Methode »bloß mathematisch zu demonstriren« und damit in Zustände der »scholastischen Zeiten« zu verfallen,34 hin zu einer auch sinnlichen Erkenntnis, die Meier über die Ästhetik gewährleistet sieht.35 Der Schulphilosoph aber sei, wenn er seine »Sinnlichkeit nicht verbessert«, ein »Kranker [...], der oben verdorrt und unten schwillt«.36 Die unter Rekurs auf Alexander Gottlieb Baumgartens der Logik der höheren Erkenntnisvermögen eine solche der unteren Vermögen zur Seite stellenden Ästhetik, womit eine Erkenntnis auch aufgrund sinnlicher Vorstellungen legitimiert wird,37 betont Meier affektive Vorgänge so auch in der Ethik.38 Wird in dieser Hinsicht die Grenze zwischen der rein körperlichen Betrachtung des Menschen, der anthropologica physica, und der moralischen und verstandesmäßigen, der anthropologica moralis, durchlässig,39 so formuliert Johann Joachim Spalding in seinen Gedanken über die Bestimmung des Menschen (1748) in chiliastischer Wendung des eschatologischen Aspektes der christlichen Anthropologie die Aufgabe des Menschen in der Erkenntnis seiner Bestimmung und deren individueller und menschheitlicher Verwirklichung. Die »wahre Philosophie, die dieses Ziel erreichen wil«, solle, wie Christian Cay Lorenz Hirschfeld 1770 betont, »nicht blos mit den obern Kräften der Sele sich beschäftigen, sondern auch mit den untern, nicht blos für die Richtigkeit und Gewisheit ihrer Lehren sorgen, sondern ihnen auch das geben, wodurch sie bewegen und gefallen«, also »ihren Vortrag verständlich, edel, erhaben, rührend und gefällig« einrichten.40 In den 1780er Jahren kommt es in der Auseinandersetzung mit Kants Transzendentalphilosophie zu einer verstärkten Diskreditierung der so gearteten Popularphilosophie, die mit den Schriften Johann Christoph Greilings seit Mitte der 1790er Jahre ihren Höhepunkt erreicht.41 Schon 1794 unterscheidet etwa der Freiherr von Eberstein42 in seinem Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik zwischen zwei Formen der Popularphilosophie: Zum einen die den »Geist

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Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Tle. Halle 1748–1750, 21754–1759 [ND Hildesheim, New York 1976], 1. Tl., § 15, S. 25; auch in der Vernunftlehre greift Meier diese Metaphorik auf, vgl. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 32), § 8, S. 9: »ein ekelhaftes Ansehen«, »ein blosses Gerippe [...], dem es an Fleische und an blühender Schönheit fehlt«. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (s. Anm. 33), 1. Tl., § 15, S. 25. Ebd., § 15, S. 27. Ebd., § 20, S. 33. Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Halle 1735, v.a. § CXV–CXVII. Vgl. Georg Friedrich Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle 1744. Vgl. hierzu bereits Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon. Leipzig 1726, 21733, 31740; hier nach der 4., ergänzten Aufl. hg. von Justus Christian Hennings. 2 Bde. Leipzig 1775, Bd. 1, Sp. 172f. Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Vom guten Geschmacke in der Philosophie. Lübeck 1770, S. 25f. Vgl. Böhr: Philosophie für die Welt (s. Anm. 30), S. 139; Greiling selbst äußert sich zur Wissenschaftspopularisierung später aber anders: »[W]enn die fürs Leben brauchbaren wissenschaftlichen Resultate durch schöne Kunst, vermittelst der Versinnlichung, der gemeinen Fassungskraft genährt werden, wodurch dem natürlichen Verstande nothwendig ein Licht aufgeht« (Johann Christoph Greiling: Theorie der Popularität. Magdeburg 1805, S. 39f.). Vgl. auch Helmut Holzhey: Die Berliner Popularphilosophie. Mendelssohn und Sulzer über die Unsterblichkeit der Seele. In: Martin Fontius, Helmut Holzhey (Hg.): Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Berlin 1996 [Aufklärung und Europa. Beiträge zum 18. Jahrhundert], S. 201–216, v.a. S. 201–204.

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der Gründlichkeit« der leibniz-wolffschen Philosophie43 fortführenden und -bildenden popularphilosophische Richtung, der unter anderem Johann Georg Sulzer und Ernst Platner zugezählt werden.44 Zum anderen eine Popularphilosophie, die sich nicht »in ihren Schranken« halte,45 »strenger Methode Hohn« spreche, was »[u]ngegründete Urtheile und Vernichtung aller Wissenschaft« zur Folge habe: [W]as sie nicht siehet und greifet, ist für sie Unwahrheit: und da ihre Gesetze, ihre Sinne, ihre Gefühle keinen Richter über sich erkennen: fließen aus ihr die widersprechendsten Behauptungen. Was der eine Philosoph für Wahrheit hält, verwirft der andere; und nirgends ist ein Gesez, nach welchem die richtende Vernunft ein Urtheil spricht, wenn nur Gefühle entscheiden. [...] Das Resultat davon ist endlich die Verachtung aller Philosophie.46

Vertreter dieser ablehnenswürdigen, weil als Erscheinung des Verfalls deklarierten populären Form der Philosophie sind neben Johannes Bernhard Basedow47 und dem von der empirischen Psychologie Charles Bonnets beeinflussten Johann Christian Lossius48 vornehmlich die Göttinger Materialisten,49 allen voran Christoph Meiners50 und Michael Hißmann. Ebersteins Rekurs auf die System- und Methodenlastigkeit der leibniz-wolffschen Philosophie als qualitativem Moment spricht aber gerade Sulzer Hohn. Gegen Wolffs mathematische Lehr- und Demonstrationsmethode gerichtet apostrophiert er die Philosophie als »eine Wissenschaft für jeden Menschen«, die »auf eine Art vorgetragen werden [müsse], die jedem Leser deutlich und angenehm« sei.51 Wolff selbst habe »seine Nachfolger zu unzählig wiederholten malen [ermahnt], daß sie durch mühsame Untersuchungen erkannte Wahrheiten auf eine kürzere und angenehmere Art, nach dem allgemeinen Verstande vor tragen sollen.«52 Und so gebe es neben der »Philosophie als eine[r] wahre[n] Wissenschaft [...], die kunstmäßig, nach der Strengigkeit einer erweisenden Lehrart vorgetragen wird, [als] ein wahres System«, denn

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Vgl. Wilhelm Ludwig Gottlob Freiherr von Eberstein: Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik bey den Deutschen von Leibnitz bis auf gegenwärtige Zeit. 2 Bde. Halle 1794/99, Bd. 1, S. 234. Zu Sulzer vgl. generell Frank Grunert, Gideon Stiening (Hg.): Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume. Berlin 2011; zu Platner vgl. Michael Ansel: Ernst Platner und die Popularphilosophie. In: Aufklärung 19 (2007), S. 221–242. Eberstein: Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik (s. Anm. 43), Bd. 1, S. 339. Ebd., Bd. 1, S. 341; Ebersteins Kritik an dieser systemlosen und metaphysikfeindlichen Popularphilosophie bleibt in der Philosophiegeschichtsschreibung als Signum der Popularphilosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schlechthin virulent, vgl. etwa Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 399: »Ihr [der ›Lehrbücherphilosophie‹] gegenüber war denn auch die deutsche Popularphilosophie auf ihre Systemlosigkeit stolz: auch sie wollte sich, wie es Mendelssohn ausführte, aller Grübeleien über das Unerfahrbare enthalten und sich dafür desto mehr mit dem für den Menschen Brauchbaren beschäftigen.« Vgl. Johannes Bernhard Basedow: Practische Philosophie für alle Stände. Kopenhagen, Leipzig 1758, insbesondere aber Johannes Bernhard Basedow: Philalethie. Altona 1764. Vgl. v.a. Johann Christian Lossius: Psychische Ursachen des Wahren. Gotha 1775. Vgl. dazu auch Walter Ch. Zimmerli: »Schwere Rüstung« des Dogmatismus und »anwendbare Eklektik«. J. G. Feder und die Göttinger Philosophen im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 58–71. Christoph Meiners: Revision der Philosophie. Göttingen, Gotha 1772. Vgl. Sulzer: Vorrede (s. Anm. 25), fol. a4r–a5r. Ebd., fol. a5v.

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Udo Roth eine natürliche [Philosophie], die nichts von den mühsamen und weitläuftigen Erforschungen weis, welche man nothwendig anwenden muß, um die Wahrheit aus ihren ersten Quellen zu entdeken; eine Philosophie der gesunden Vernunft, die jeder nachdenkende Mensch ohne besondere methodische Anstalten, mehr oder weniger besizet, je nachdem er zum Nachdenken aufgelegt ist. Man könnte die erstere die Philosophie der Schule und die andere die Philosophie der Welt nennen.53

Diese ›Philosophie der Welt‹ »braucht gar keine Methode, sie nimmt ihren Stoff so wie er sich zeiget, und überdenkt ihn ohne Kunst, nach dem bloßen Gutdünken der gesunden Vernunft.« Während die Schulphilosophie einer »weite[n] Reise über Wasser und Land« auf genau zu treffendem Wege einem »bestimmten Orte« entgegen vergleichbar sei, gleiche die ›Philosophie der Welt‹ einem »Spaziergang, bey welchem man sich keinen gewissen Weg vorgesezt hat; man betrachtet alles, was in dem Wege vorkommt, und überläßt dem Zufall den Weg und die Gegenstände der Betrachtung.«54 In seiner Besprechung von Gottlob Ernst Schulzes Kritik der theoretischen Philosophie (Hamburg 1801) hat Hegel dieses Philosophieren als negativen Eklektizismus definiert, als einen Eklektizismus, der auf der »Oberfläche [der Philosophie] umherirrt und aus Blümchen, allenthalben her zusammengerafft, sich seinen eitlen Kranz bindet.«55 Solcherart Eklektizismus sei etwas sehr Schlechtes, wenn er in dem Sinne genommen wird, daß ohne Konsequenz aus dieser Philosophie dieses, aus einer andern etwas anderes aufgenommen wird, – wie wenn ein Kleid aus Stücken von verschiedenen Farben, Stoffen zusammengeflickt wäre. Es ist schon früher bemerkt, daß ein Eklektizismus nichts gibt als ein oberflächliches Aggregat. Solche Eklektiker sind teils die ungebildeten Menschen überhaupt, in deren Kopf die widersprechendsten Vorstellungen nebeneinander Platz haben, ohne daß sie je ihre Gedanken zusammenbrächten und ein Bewußtsein über ihre Widersprüche hätten, – oder die klugen Leute, die es mit Bewußtsein tun und glauben, so erlangen sie das Beste, wenn sie aus jedem Systeme das Gute, wie sie es nennen, nehmen und so ein Konto von verschiedenen Gedanken sich anschaffen, worin sie alles Gute, nur die Konsequenz des Denkens und damit das Denken selbst nicht haben. Eklektische Philosophie ist gerade haltlos, inkonsequent.56

Die spätestens seit Hegel vorherrschende Abwertung des dem natürlichen Philosophierens im Sinne Sulzers eignenden Eklektizismus als »Zeichen von Schwäche des Denkens, verschiedene im Grunde nicht gegeneinander ausgeglichene Gedanken zusammenzufügen« und damit der Vernachlässigung jedweder »Konsequenz und Systematik«57 prägt die Wahrnehmung der Popularphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: »Die zeitgenössischen offiziellen Vertreter der Philosophie in Deutschland«, so Karl Vorländer in seiner Geschichte der Philosophie, 53

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Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wißenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worinn jeder nach seinem Innhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. Zweyte ganz veränderte und sehr vermehrte Auflage. Leipzig 1759, § 238, S. 185. Ebd., § 238, S. 186. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten [1802]. In: ders.: Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1971, Bd. 2, S. 213–273, hier S. 243; zum Eklektizismus vgl. v.a. Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 [Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie 5]. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In: ders.: Werke (s. Anm. 55), S. 431f. Vgl. Friedrich Kirchner: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Neubearb. von Carl Michaëlis. Leipzig 51907, S. 169.

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waren »größtenteils gelehrte Eklektiker oder seichte Popularphilosophen«, die später »nichts aus dem ihnen unverständlichen Werke [Kants Kritik der reinen Vernunft] zu machen« wussten.58 Zeitgenössisch hingegen fehlt dem Eklektizismus diese negative Implikation: Unterscheidet bereits Thomasius in seiner Einleitung zu der Vernufft=Lehre den Eklektiker von dem Schulphilosophen,59 so setzt Denis Diderot eklektisches Denken explizit mit aufgeklärtem Denken gleich.60 Feder definiert als Eklektiker diejenigen der neueren Philosophen, die sich nicht zur »Wolfischen Philosophie« bekennen,61 Meiners schließlich apostrophiert: Die ganze Welt verlangt jetzo von einem Philosophen, daß er ein Eklektiker sey, d. i. daß er, wie man sich ausdrückt, selbst denke, aus den vielen entgegengesetzten Meinungen die beste auswähle, und diese mit allen ihren Gründen unterstützt seinen Schülern vortrage.62

Der Abkehr von den logischen, streng mathematisch-geometrischen Deduktionen wolffscher Provenienz inhäriert eine kritische Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Positionen, eine multiperspektivische Bestandsaufnahme des bereits Vorhandenen, die einzig mit »den Begriffen des gemeinen Menschenverstandes, die noch durch keine Systemabsichten und Hypothesen verkünstelt und verstellt sind« zu erfassen seien.63 Dies aber bedingt eine empirische Vorgehensweise, eine »Beobachtung und Kenntniß des Menschen«.64

2. Die Art des Vortrags, jedem Leser deutlich und angenehm In seiner Vorrede zu Humes Untersuchung des menschlichen Verstandes konstatiert Sulzer, dass es in Deutschland »nicht an großen Philosophen« fehle – gleichwohl scheine »das deutsche Kleid [...] der Philosophie noch nicht so zu stehn, wie es ihre innerer Schönheit erfordert.«65 Dieses ›Kleid‹ umzuarbeiten, gar ganz abzulegen bedürfe es, und dieses ›Kleid‹ sei der »den meisten Philosophen der deutschen Schule gewöhnliche Vortrag«, der der »Ausbreitung der Wahrheit etwas nachtheilig« sei. Wolle man die Philosophie als Wissenschaft für einen jeden Menschen 58 59

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Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. 2 Bde. Leipzig 51919, Bd. 2, S. 256f. Vgl. Thomasius: Einleitung zu der Vernufft=Lehre (s. Anm. 17), S. 72f.; vgl. auch Werner Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik. Zur Entstehung des modernen Kritikbegriffs. In: Studia Leibnitiana 17 (1985), S. 142–161, ebenso Michael Albrecht: Thomasius – kein Eklektiker? In: Werner Schneiders (Hg.): Christian Thomasius, 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989 [Studien zum achtzehnten Jahrhundert 11], S. 73–94. Vgl. Denis Diderot: [Art.] Éclectisme. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers. 35 Bde. Paris 1751–1776, Bd. 5 (1755), p. 270–293. Vgl. Feder: Grundriß der philosophischen Wissenschaften (s. Anm. 31), § 56, S. 43–45. Meiners: Revision der Philosophie (s. Anm. 50), S. 60f. Johann Georg Heinrich Feder: Ueber das moralische Gefühl, oder Beantwortung der Fragen: Giebt es ein moralisches Gefühl? Wie fern hat es der Mensch von Natur? Was sind seine eigentlichen Gründe. Und was hat es also für einen Werth in Ansehung der Erkenntnis und Empfehlung der Pflichten? In: Deutsches Museum 1 (1776), S. 15–40, 103–115, 287–306, 479–503, 2 (1776), S. 712–730, hier S. 24. Christoph Meiners: Allgemeine kritische Geschichte der ältern und neueren Ethik oder Lebenswissenschaft nebst einer Untersuchung der Fragen: Gibt es dann auch wirklich eine Wissenschaft des Lebens? Wie sollte ihr Inhalt, wie ihre Methoden beschaffen seyn? 2 Bde. Göttingen 1800/01, Bd. 1, S. 1. Sulzer: Vorrede (s. Anm. 25), fol. a4r.

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etablieren, müsse sie »auf eine Art vorgetragen werden, die jedem Leser deutlich und angenehm« sei.66 Der Adressat von Sulzers Kritik an der ›deutschen Schule‹ bzw. deren Kommunikationsformen ist zweifellos Wolff. Dieser habe zwar seine Nachfolger zu unzählig wiederholten malen [ermahnt], daß sie die durch mühsame Untersuchungen erkannten Wahrheiten auf eine kürzere und angenehmere Art, nach dem allgemeinen Verstande der Menschen vortragen sollen,67

er selbst hingegen »wollte dem ärgsten Zweifler keine Ausflucht übrig lassen« und keinen Begriff »der eigenen Erforschung des Lesers überlassen«.68 Um aber die Philosophie »sich die Ehrfurcht erwerben« zu lassen, die »der Wahrheit gebühret«, bedürfe jedem Weltweisen in seinen Untersuchungen ein Zweifler an die Seite gesetzt [...], der ihn immer beym Aermel zöge, so oft er die Gewißheit einer Sache behauptet, gegen welche noch wichtige Zweifel übrig sind. Dieses würde sein Nachdenken sehr schärfen, und ihn nöthigen, allen Wahrheiten bis auf die ersten und gewissesten Grundsätze nachzuspüren.69

Ja noch mehr, eine solche interaktive Vorgehensweise werde es eben diesem Zweifler und allen denjenigen, »welche nicht im Stande sind, die Wahrheit selbst zu erforschen« ermöglichen, mit »Zuverläßigkeit die Grundsätze« derselben zu begreifen und ihre »Handlungen mit Zuversicht« darauf hin einzurichten.70 Bereits in seiner Abhandlung über Gespräche überhaupt (1727), die er seiner Übersetzung von Bernhard Le Bovier de Fontenelles Gesprächen der Todten und Plutons Urtheil über dieselben voranstellte, apostrophiert Johann Christoph Gottsched eben jene interaktive Form des ›Philosophierens‹, den Dialog als die geeignetste Form einer populären Aufklärung. Die »systematische Lehr-art« erfordere zu viel Geduld des Nachsinnens, wohingegen die in »gute[n] Gespräche[n]« selektierten Materien den Leser »allmählich zum Nachdenken« anleite.71 Auch der bereits genannte Johann August Ernesti favorisiert den Dialog als bestes Instrument einer ›philosophia populari‹,72 denn wer eine solche betreiben wolle, müsse durch Wohlgefallen, Anmut und Witz in Wort und Satz erfreuen.73 Diesen Charakter des Dialoges streicht ebenso Johann Gotthelf Lindner heraus, wenn er dem »Gesprächstil wegen der unterhaltenden Lebhaftigkeit« zubilligt,

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Vgl. ebd., fol. a4v. Ebd., fol. a5v. Ebd., fol. a5r. Ebd., fol. a3r. Vgl. ebd., fol. a3r–a3v. Johann Christoph Gottsched: Abhandlung von Gesprächen überhaupt. In: Bernhard Le Bovier de Fontenelle: Auserlesene Schriften. Übers. von Johann Christoph Gottsched. Leipzig 41771, S. 1–44, hier S. 24; die Abhandlung erschien zuerst in: Bernhard Le Bovier de Fontenelle: Gespräche der Todten und Plutons Urtheil über dieselben. Übers. von Johann Christoph Gottsched. Leipzig 1727. Vgl. Ernesti: De philosophia populari (s. Anm. 26), S. 155: Die Griechen und Lateiner »in dialogo scripserunt, quod est aptissimum ei consilio genus scribendi: adeo magnam dat facultatem amoenitatis ingenii expromendae.« Vgl. ebd.: »Quare in hoc genus popularis philosophiae scribendo peraequi volet, quod & munditie orationis placeat, & claritate rerum luceat, copia denique & venustate quadam ac lepore in verbis & sententiis delectet«.

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alle Materie transportieren zu können: man könne ihn »zu allem anwenden«.74 Als solcherart variable Textsorte wird der Dialog in der Aufklärung als Medium einer Verhandlung von Themen aller Art, wobei er sich aber mehr und mehr von der rein rhetorischen Bestimmung einer lebendigeren Vermittlung emanzipiert und als Medium aufklärerischer Reflexionen an Bedeutung gewinnt.75 Lindner aber geht, wie vor ihm bereits Johann Christoph Stockhausen,76 noch weiter, denn in der direkten Auseinandersetzung könne an die Stelle der mündlichen Kommunikation die »schriftliche Rede eines Abwesenden« treten – der Brief.77 Der Brief nämlich sei eigentlich nichts anderes, als die schriftliche Rede einer Person an eine andere von ihr abwesende Person gerichtet, und vertritt die Stelle der mündlichen Rede, die man an diese Person richten würde, wenn sie anwesend wäre. Der Briefwechsel ist folglich eine schriftliche Unterredung abwesender Personen.78

Mit der Brieftheorie Gellerts,79 die den Brief an die mündliche Rede bindet – schon 1742 konstatiert dieser, dass »dasjenige, was [er] einem auf ein Blatt schreibe, nichts anders [sei], als was [er] ihm mündlich sagen würde, wenn [er] könnte oder wollte«80 – erfüllt dieses Medium das Kriterium der Natürlichkeit und Lebhaftigkeit, weil es sich den bisher bestehenden äußeren, in den dogmatisch gehandhabten Briefstellern verhandelten Kriterien grundsätzlich entzieht: Das erste, was uns bey einem Brief einfällt, ist dieses, daß er die Stelle eines Gesprächs vertritt. [...] Ein Brief ist kein ordentliches Gespräch; es wird also in einem Briefe nicht alles erlaubt seyn, was im Umgange erlaubt ist. Aber er vertritt doch die Stelle einer mündlichen Rede, und deßwegen muß er sich der Art zu denken und zu reden, die in Gesprächen herrscht, mehr nähern, als einer sorgfältigen und geputzten Schreibart.81

Ganz im Gegensatz zu der unnatürlichen, zumeist ein gesellschaftliches Hierarchiegefälle zwischen Sender und Adressat spiegelnden Formelhaftigkeit bediene man 74

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Vgl. Johann Gotthelf Lindner: Kurzer Inbegriff der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst. 2 Tle. Königsberg, Leipzig 1771/72, 2. Tl., S. 160; dieses Spezifikum hebt auch der für die Herausgabe des Philosophen für die Welt (3 Tle., 1775–1800) bekannte Johann Jakob Engel hervor, vgl. Engel: Ueber Handlung, Gespräch und Erzählung. Leipzig 1774. Vgl. dazu u.a. Roger Bauer: »Ein Sohn der Philosophie«. Über den Dialog als literarische Gattung. In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1976, S. 29–48; Thomas Fries: Dialog der Aufklärung. Shaftesbury, Rousseau, Solger. Tübingen, Basel 1993; Vittorio Hösle: Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik. München 2006; vornehmlich mit Blick auf Frankreich Gabriele Vickermann-Ribémont, Dietmar Rieger (Hg.): Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung. Tübingen 2003. Vgl. Johann Christoph Stockhausen: Grundsätze wohleingerichteter Briefe, nach den besten Mustern der Deutschen und Ausländer; nebst beygefügten Erläuterungen und Exempeln. Wien 1766, § 1, S. 9: »Briefe sind schriftliche Unterredungen, die wir mit abwesenden Personen in gewissen Angelegenheiten oder Absichten anstellen.« Vgl. Lindner: Kurzer Inbegriff der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst (s. Anm. 74), 2. Tl., S. 163–183. Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Wissenschaften. Berlin 1789, S. 302. Vgl. dazu Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2000, S. 83–107; ebenso Gideon Stiening: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman »Hyperion oder der Eremit in Griechenland«. Tübingen 2005 [Frühe Neuzeit 105], v.a. S. 5–21. Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe (s. Anm. 24) S. 178. Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751 [ND Stuttgart 1971], S. 2f.

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Udo Roth sich im Umgange keiner weitläufigen Eingänge. Man fängt bald von der Sache an. Man setzt gemeiniglich das, was in der Sache das erste ist, voran. Man fährt mit den Vorstellungen fort, wie sie sich darbieten, und man hört auf, wenn man glaubt, das Nothwendigste gesagt zu haben. [...] Man bediene sich also keiner künstlichen Ordnung, keiner mühsamen Einrichtungen, sondern man überlasse sich der freywilligen Folge seiner Gedanken, und setze sie nach einander hin, wie sie in uns entstehen: so wird der Bau, die Einrichtung, oder die Form eines Briefes natürlich seyn.82

Zwar habe der Brief keineswegs »die Freyheit [...], einem unordentlichen Caffeegespräche völlig ähnlich zu seyn«,83 und auch das »besondre Verhältniß« zum Adressaten, die »Beschaffenheit der Personen, und gewisser zufälliger Umstände«,84 »die Charactere der Personen, der Beschaffenheit der Umstände, des Inhalts, der Absicht« gelte es zu berücksichtigen, doch seien dies »Regeln der Klugheit, die niemand genau bestimmen kann, und die sich jeder selber machen muß.«85 Denn: Wer gut schreiben will, der muß gut von einer Sache denken können. Wer seine Gedanken gut ausdrücken will, muß die Sprache in der Gewalt haben. Das Denken lehren uns alle Briefsteller nicht. Eine geübte Vernunft, eine lebhafte Vorstellungskraft, eine Kenntniß der Dinge, wovon man reden will, richten hier das meiste aus. Man sinnet nach, wovon man schreiben will. Man ordnet seine Sätze in Gedanken. Man suchet die Verbindung nicht stets in Worten, sondern in der Folge, in der Aehnlichkeit und Unähnlichkeit der Gedanken. Man setzet zu seiner Sache, wo es nöthig ist, Beweise, Erläuterungen, gute Einfälle.86

Damit unterscheidet sich der popularphilosophisch gelehrte Brief grundsätzlich von dem empfindsamen Brief, dem »affektierte[n] Gewinsel dieser warmen Seelen«,87 da jener auf einer andere Wirkabsicht beharrt: Der Leser soll in eine Kommunikationssituation eingebunden werden, die ihn zur eigenen Reflexion auf das Verhandelte anregt, ihn zumindest aber dazu anleitet. Hierzu bedarf es zweierlei: Einerseits muss der Briefsteller selbst »philosophisch denken«, das heißt »eine Wahrheit nach Gründen erkennen«, »um gelehrt zu schreiben«; andererseits darf er »aus solchen Schreiben keine trockene Ontologie machen, dabey die Leser gähnen« – die tiefsinnigen Sachen können angenehm gemachet werden, so bald sie durch den Witz gehen, und, ohne die Gründlichkeit zu schwächen, müssen sie auch der sinnlichen Erkenntniß deutlich seyn. [...] In dogmatischen [Sachen] muß man das Abstracte zur Empfindlichkeit zurück bringen, welche durch allerley eingestreuete Erläuterungen, Exempel, Gleichnisse, gute Einfälle etc. möglich ist.88

Dem popularphilosophisch gelehrten Brief eignet somit das Moment eines die höheren wie die niederen Erkenntnisvermögen gleichermaßen fordernden ›Vortrags‹, und zwar sowohl beim Sender als auch beim Empfänger: Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes seien ob ihres Gegenstandes gewiss »ungemein trocken beschrieben« worden, wenn sie »in die Gedanken eines blossen Sternenkundigen gefallen wären, der zugleich kein schöner Geist gewesen« wäre – Fontenelle aber gelingt es durch die Verbindung von Logik und Ästhetik, eine solch »subtile 82 83 84 85 86 87 88

Ebd., S. 46f. Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe (s. Anm. 24), S. 186. Gellert: Briefe (s. Anm. 81), S. 85. Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe (s. Anm. 24), S. 189. Ebd., S. 184f. Georg Christoph Lichtenberg: Gnädigstes Sendschreiben der Erde an den Mond. In: ders.: Schriften und Briefe. 4 Bde. u. Kommentarbd. Hg. von Wolfgang Promies. München 1992, Bd. 3, S. 406–413, hier S. 410. Stockhausen: Grundsätze wohleingerichteter Briefe (s. Anm. 76), § 115, Anmerkung, S. 285f. (Hvhg. U. R.).

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Materie so schön auseinander[wickelt], daß auch Ungelehrte ihn verstehen müssen, wenn sie ihn nur vernünftig lesen können.«89

3. Das – kaum mehr – gelehrte Frauenzimmer Auch wenn sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Ideal des ›gelehrten Frauenzimmers‹ etabliert, bleibt das weibliche Lesepublikum doch, wie eine »gewisse[], sehr verständige[] Dame«, die die vernünftige Tadlerin Phyllis um ihrer Meinung zum Vorhaben der Tadlerinnnen willen aufsucht dieser klagt, in »äusserste[r] Unwissenheit« gefangen, gleichsam seit Jugend an »hierinnen verwahrloset«, denn [m]an stehet in den Gedancken, es sey zu unserm Unterricht genung, wenn man uns die Buchstaben zusammen setzen und dieselben, zuweilen schlecht genung, nachmahlen lehre. Darauf hält man uns eine Frantzösin, um eine fremde Sprache in das Gedächtnüs zu fassen, da wir doch die MutterSprache nicht recht verstehen. Unser Verstand wird durch keine Wissenschafften geübt, und man bringet uns, ausser einigen offt übel genung an einanderhangenden Grund-Lehren der Religion, nichts bey; ja dieselben werden dazu noch meistentheils mehr dem Gedächtnüsse als dem Verstande eingeprägt.90

Ein mäßiges Beherrschen der Muttersprache in Wort und Schrift, mehr schlechte denn rechte Kenntnissen in der französischen Sprache, ein wenig religiös Erbauliches, dazu noch – so die weitere Bestandsaufnahme der Vernünftigen Tadlerinnen – ein wenig tänzerische Fähigkeiten, Grundzüge der Malerei sowie der Poesie (auch der eigenen dichterischen Bemühungen, deren Qualität aber stark angezweifelt wird),91 hierin verliert sich das, was man gemeinhin unter weiblicher ›Gelehrsamkeit‹ versteht. Den Grund für die Vernachlässigung weiblicher gelehrter Bildung sehen die Tadlerinnen wie auch ihre in der Gemeinschaft der ›Mahlerinnen‹ sich zusammengefundenen Geschlechtsgenossinnen in der »Mode«, daß man auf den Academien nur in der Lateinischen Sprache lieset; die meisten Bücher sind in eben derselben geschrieben; und man hat unsern Eltern die Maxime beygebracht/ die Wissenschafften seyen den Leuten unsers Geschlechts schädlich/ sie machen uns ruhmräthig und lächerlich/ sie halten uns ab von den nöthigen Geschäfften.92

Die Frau hat, so die ›Mahlerinnen‹, dem Manne zu dienen, Bildung, gar Gelehrsamkeit ist den »sclavischen Bemühungen«93 einer Mutter, Haus- und Ehefrau abträglich. Die Männer aber selbst wissen um ihr verantwortungsloses Handeln: »Wir meynen«, so konstatiert der männliche Korrespondent des Patrioten, »die Wissenschafften seyn dem Frauenzimmer nichts nütze: es 89 90

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Vgl. ebd., S. 286f. [Johann Christoph Gottsched (Hg.):] Die vernünftigen Tadlerinnen. 2 Bde. Halle 1725/26 [Neu hg. u. mit einem Nachwort, einer Themenübersicht und einem Inhaltsverzeichnis von Helga Brandes. 2 Bde. Hildesheim 1993], Bd. 1, 6. St., S. 42; zu den Tadlerinnen vgl. u.a. Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000, S. 49–75. Vgl. [Gottsched (Hg.):] Die vernünftigen Tadlerinnen (s. Anm. 90), Bd. 1, 39. St., S. 313f. [Johann Jakob Bodmer:] Die Discourse der Mahlern. 4 Bde. Zürich 1721–1723, Bd. 4 (1723) [u.d.T. Die Mahler, oder: Discourse von den Sitten der Menschen], Discours XV, S. 101. Ebd., S. 102.

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werde dieselben, nach seiner natürlichen Schwachheit, mißbrauchen, und lassen deßwegen mit Fleiß unsere Töchter in der dickesten Unwissenheit aufwachsen.«94 Den Missständen suchen die moralischen Wochenschriften, die eindringlich auf dieselben hinweisen, mit ›Frauenzimmerbibliotheken‹ zu begegnen, Kanones für die Bildung des weiblichen Lesepublikums – aus der Sicht männlicher Beobachter – relevanter Lektüre.95 Eine solche Mu-sterbibliothek publizierte ein anonymer Verfasser bereits 1705,96 erst mit den moralischen Wochenschriften etablierten sich aber seit den 1720er Jahren. In den späteren, von empfindsamen Tendenzen geprägten Wochenschriften verblasst eben jener Anspruch. Die »Frauensperson[]« werde durch die Ausschließlichkeit männlicher akademischer Bildung vor »einer Menge gelehrten Plunders«, »unnüzlichen Pakes von Sophisterey, Wortgrübeley, unverdauter Belesenheit, Schulwitze, und sektierischen Vorurtheilen« und »handwercksmässig« gelehrter Wissenschaften bewahrt, die »natürliche Einfalt« der Frau bleibe so unangetastet.97 Der ›Mahler‹ legt denn auch eine Lektüreliste vor, die auf allzu abstrakte Darlegungen durch das »männliche Vermögen der Seele/ de[n] Verstand« verzichtet und stattdessen den »Witz, [...] das weibliche Vermögen der Seele« fokussiert.98 Der Witz habe zwar, so mit Rekurs auf einen ungenannten »einheimischen Scribenten«, den Nachtheil, daß er das Gemüthe vielmehr einnimmt, und in Verwunderung setzet, als daß er die Wahrheit durch die Anmuth, mit der er sie versiehet, besser empföhle. Daher ist es nöthig, daß man, wenn er seinen rechten Nutzen haben soll geschickt damit umzugehen, und ihn schier unvermerkt anzubringen wisse.99

›Unvermerkt‹ lasse sich der Witz aber anbringen, wenn »das Wahre und Nützliche durch die geistreiche Form des Vortrages lebhafter und angenehmer vorgestellt« werde, der Witz also »Schönheit« mitteile.100 Die Nobilitierung der unteren Erkenntnisvermögen, die in ihrer Ausschließlichkeit in Rousseaus ›aimable ignorante‹, der empfindsamen, naiv-tugendhaften Schönen kulminiert, zeichnet sich hier hinsichtlich der Bildung von ›Frauenzimmern‹ bereits ab. Gut 20 Jahre zuvor klagt jene »sehr verständige[] Dame«, die in Gegenwart der vernünftigen Tadlerin Phyllis über die geistige Verwahrlosung des weiblichen Geschlechts lamentiert, dass die Schrifften, so zu Verbesserung des Verstandes und Willens etwas beytragen könten, [...] uns zu schwer, zu unverständlich, zu trocken, zu ernsthafft und zu verdrüßlich [düncken]. Und da man unsere Seele niemahls zum Nachdencken gewöhnt hat, so wird uns das Verstehen solcher Bücher zu sauer,

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Der Patriot. Nach der Originalausgabe Hamburg 1724–26 in drei Textbänden und einem Kommentarband kritisch hg. von Wolfgang Martens. Berlin 1969, Bd. 1, No. 3, S. 21. Vgl. Wolfgang Martens: Leserezepte fürs Frauenzimmer. Die Frauenzimmerbibliotheken der deutschen moralischen Wochenschriften. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 15 (1975), Sp. 1143–1200. Vgl. Frauen-Zimmer-Bibliothekgen, oder Thuelicher Vorschlag, wie und auff was Ahrt für ein Deutsches FrauenZimmer mäßigen Vermögens unterschiedene außerlesene, und recht nützliche Bücher zu ihrem Vergnügen, zeitlichen und ewigen Wohlseyn gar leicht und auff wenig Kosten angeschaffet werden können. Güstrow 1705. [Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger:] Der Mahler der Sitten. 2 Bde. Zürich 1746 [ND Hildesheim, New York 1972], Bd. 2, 76. Blatt, S. 280. Ebd., Bd. 2, 76. Blatt, S. 277f. (Hvhg. im Original). Ebd., Bd. 2, 76. Blatt, S. 276f. Vgl. ebd., Bd. 2, 76. Blatt, S. 276.

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welche mit Uberlegung gelesen seyn wollen, so daß wir sie wieder von uns werffen, wenn wir sie kaum in die Hände genommen haben.101

Die ›Frauenzimmerbibliothek‹, die Phyllis kurze Zeit später vorlegt, listet denn auch ausschließlich »ihrer rein teutschen Schreibart wegen lesenswürdig[e]« Titel auf (gleichwohl einige Übersetzungen, u.a. der Entretiens Fontenelles und Lockes Thoughts concerning Education), unter denen sich neben schöngeistigen und religiös-erbaulichen Texten aber auch Thomasius’ Einleitung zu der Vernunfft-Lehre und dessen Sittenlehre finden.102 In der ›Frauenzimmerbibliothek‹ der zweiten Auflage der Tadlerinnen 1738103 sind die Veränderungen in der Titelwahl insgesamt nicht spektakulär,104 doch fällt auf, dass Thomasius’ Vernunftlehre wie auch dessen Sittenlehre »Wolfs deutsche[n] Schriften«, den unterschiedlichen Vernüfftigen Gedancken gewichen sind.105 »Da ich vernehme«, so Christian Wolff im Mai 1738 an seinen Mäzen Ernst Christoph von Manteuffel (1676–1749), »daß auch hin und wieder die Dames zu philosophieren Lust gewinnen«, könne er Manteuffel einen großen Dienst erweisen und eine »Weltweisheit für die Dames« verfassen.106 Das Projekt einer Damenphilosophie,107 das, von Manteuffel vehement vorangetrieben, in den Jahren 1738/39 immer konkretere Züge annahm, zerschlug sich letztendlich.108 Drei Jahre später, 1741 aber setzte Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) eine Damenphilosophie in die Tat um, als er die wöchentlich erscheinenden Philosophischen Brieffe von Aletheophilus publizierte, in denen er sich an ein breites, auch nichtakademisches, vor allem aber ein vom Universitätsstudium ausgeschlossenen weibliches Publikum richtete und »sonderlig an die Themata zu denken« beabsichtigte, »die en vogue sind« und diese »angenehm vor[zu]tragen«.109 Offenbar mangels Nachfrage musste Baumgarten das Erscheinen der Briefe noch im selben Jahr nach 26 Ausgaben einstellen. Größerer Resonanz erfreuten sich Jean For-

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[Gottsched (Hg.):] Die vernünftigen Tadlerinnen (s. Anm. 90), Bd. 1, 6. St., S. 43. Vgl. ebd., Bd. 1, 23. St., S. 183f. Vgl. [Johann Christoph Gottsched (Hg.):] Die vernünftigen Tadlerinnen. Hamburg 1738, 23. St., S. 199– 201. Vgl. Martens: Leserezepte fürs Frauenzimmer (s. Anm. 95), Sp. 1166. Vgl. [Gottsched (Hg.):] Die vernünftigen Tadlerinnen (s. Anm. 103), 23. St., S. 200. Wolff an von Manteuffel, 28. Mai 1738, zitiert nach Jean École: A propos du projet de Wolff d’écrire une »Philosophie des Dames«. In: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 46–57, hier S. 47 (Hvhg. im Original); vgl. bereits Heinrich Wuttke (Hg.): Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung. Mit einer Abhandlung über Wolff. Leipzig 1841 [ND Hildesheim 1980], S. 38–41; der Briefwechsel Wolff–Manteuffel befindet sich in der Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 0345–0347 (1738–1748, 3 Bde.); zu Manteuffel vgl. Johannes Bronisch: Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus. Berlin, New York 2010. Zur ›Damenphilosophie‹ vgl. u.a. Werner Schneiders: Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne [1983]. In: ders.: Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie. Gesammelte Studien. Hg. von Frank Grunert. Berlin 2005, S. 343–364, sowie ders.: Das philosophische Frauenzimmer [1991]. In: ebd., S. 365–397; Ursula Jauchs Abwertung der ›Damenphilosophie‹ als »in kleine, leicht nachvollziehbare, hübsche Lernschrittchen aufteilbare Metaphysikchen und Logikchen« für ungelehrte ›Frauenzimmer‹ entbehrt aber jeder Grundlage, vgl. Ursula Pia Jauch: Damenphilosophie & Männermoral. Von Abbé Gérard bis Marquis de Sade. Ein Versuch über die lächelnde Vernunft. Wien 21991, S. 109. Vgl. bereits Wuttke (Hg.): Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung (s. Anm. 106), S. 38–41. Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Brieffe des Aletheophilus. Frankfurt a.d.O. 1741, S. 13.

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meys (1711–1797) La belle Wolfienne,110 ein zwischen 1751 und 1756 in sechs Bänden erschienener philosophischer Roman, der die Absicht verfolgte, die Anschauungen Wolffs, die Formey 1746 in seinen Elementa philosophiae Wolffianae dargelegt hatte, leicht verständlich darzustellen. Auch Johanna Unzers (1725–1782) 1751 publizierter und 1767 in zweiter Auflage erschienener Grundriß einer Weltweisheit für das Frauenzimmer,111 Leonhard Eulers (1707–1783) Lettres à une Princesse d’Allemagne sur divers sujets de physique & de philosophie, erschienen 1768 und zwischen 1769 und 1773 auch ins Deutsche übersetzt,112 sowie Philippine von Knigges (1775–1841) Versuch einer Logic für Frauenzimmer (1789)113 und die Kleine Logik oder Vernunft-Anwendungs-Lehre (1789) in Briefform des Reformpädagogen Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805),114 ja selbst noch Schillers Philosophie für Damen (1803)115 dürfen in den Kontext eines geschlechtsspezifischen Transfers von populärem Wissen eingebunden werden. Ein Überblick der spezifischen lesepädagogischen Bemühungen der in den verschiedenen moralischen Wochenschriften hinsichtlich des weiblichen Publikums vorgelegten ›Frauenzimmerbibliotheken‹ macht deutlich, dass man sich allgemein durchaus der Vernachlässigung einer spezifisch weiblichen Bildung bewusst ist, seit der Jahrhundertmitte aber mehr denn je auf der Grundlage einer Trennung von höheren – männlichen – und niederen – weiblichen – Erkenntnisvermögen auf die ›schöne‹ Darbietungsform als dem Kriterium eines für das Frauenzimmer geeigneten gelehrten Wissens fokussiert: Weibliche Bildung ist schöngeistige und moralisch-philosophische Bildung ohne Auslassung traditionell religiöser Erbauung.116

Der lutherische Theologe Johann Christoph Stockhausen scheint demgegenüber eine Ausnahme zu sein. In seinem 1758 erstmals publizierten Critischen Entwurf einer auserlesenen Bibliothek für den Liebhaber der Philosophie und schönen Wissenschaft entwirft Stockhausen ein ganz anderes Ideal weiblicher Bildung: »[N]ie ohne Vergnügen erinnere« er sich an ein Frauenzimmer namens Climene, das zwar nur eine mittelmäßige Erziehung genossen hatte, aber »bey einer sehr guten

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Johann Heinrich Samuel Formey: La belle Wolfienne. Avec deux lettres philosophiques. 6 Bde. Den Haag 1741–1753 [ND in 2 Bden. Hildesheim 1983]; vgl. dazu auch École: A propos du projet de Wolff (s. Anm. 106), S. 55. Johanna Charlotte Unzer: Grundriß einer Weltweisheit für das Frauenzimmer. Halle 1751; 21767. Leonhard Euler: Lettres à une Princesse d’Allemagne sur divers sujets de physique & de philosophie. St. Petersburg 1768 [ND Lausanne 2003]; Briefe an eine deutsche Prinzessinn über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie. Leipzig 1769–1773. Philippine von Knigge: Versuch einer Logic für Frauenzimmer. Hannover 1789; vgl. dazu Birgit Nübel: Knigge und seine Tochter Philippine oder Über den Umgang mit Frauenzimmern. In: Harro Zimmermann (Hg.): Adolph Freiherr Knigge. Neue Studien. Bremen 1998, S. 58–66. Friedrich Eberhard von Rochow: Eine kleine Logik oder Vernunft-Anwendungs-Lehre. Nach dem Französischen des d’E... sehr frei übersetzt in einem Brief an eine Dame. Braunschweig 1789. Friedrich Schiller: Philosophie für Damen, angenehmen und unterhaltenden Inhalts. Frankfurt a.M. 1803. Martens: Leserezepte fürs Frauenzimmer (s. Anm. 95), Sp. 1166; zwar gibt es unter den von Martens untersuchten ›Frauenzimmerbibliotheken‹ nach der Jahrhundertmitte auch solche, die gänzlich auf geistliche Titel verzichten, doch treten in diesen dann die schöngeistigen in den Vordergrund, vgl. ebd.

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Gemüthsart von einem lebhaften Geiste und glücklichen Witze« war; vor allem aber war sie »zu ihrem Glücke noch durch keine unsinnigen Romane verdorben«.117 Die ersten Bücher, die sie nächst den geistliche las, bestunden aus dem Patrioten und Gellerts Fabeln. Climene [...] bekömmt dadurch eine Neigung zum Lesen; sie bittet einen Freund, daß er ihr gute Bücher verschaffen möchte, und dieser macht es wie die neuen Liebhaber in Kalifornien, und beschenket die Schöne mit einer Philosophie. Weit gefehlt, daß sie sich dadurch hätte abschrecken lassen, so liest sie darinn vielmehr so begierig, als wenn ihr Geist längst so etwas gesucht hätte: Sie liest darauf den Wolf, sie liest den Leibniz, sie versteht ihn, und macht sogar ihre Anmerkungen darüber.118

Mit diesem Fundus an »ordentlichen Begriffen und einem richtigen System« wagte sie sich an die Lektüre von Titeln der schönen Wissenschaften, der Moral und des guten Geschmacks, las die »Schriften sowohl an und vor sich selbst, als auch, in Vergleichung mit andern, im Zusammenhange, und nicht mit der gewöhnlichen Flüchtigkeit ihres Geschlechts«.119 Vor allem aber dachte sie mit, denn sie las niemals ein Buch, ohne auf einem Blatt Papier die »vornehmsten Sachen des Innhalts mit ihren eigenen kurzen Anmerkungen« zu vergleichen,120 und trotzdem sie in Diskussionen mit dem Verfasser »meistentheils nach ihrer richtigen Denkungsart recht hatte«, war sie dennoch begierig, »in ihren Meynungen gewiß zu werden«.121 Stockhausens ›gelehrtes Frauenzimmer‹ Climene darf als das Ideal dienen, das womöglich Meiners vorschwebte, als er vom Eklektiker als demjenigen redete, der »selbst denke« und »aus den vielen entgegengesetzten Meinungen die beste auswähle«,122 aber, wie Feder ergänzt, einzig mit »den Begriffen des gemeinen Menschenverstandes, die noch durch keine Systemabsichten und Hypothesen verkünstelt und verstellt« seien.123

4. Hißmanns Briefe über Gegenstände der Philosophie: Metaphysikkritik Der »subtilitas scholasticae«124 will sich Hißmann denn auch ebensowenig befleißigen wie Jener »Erbkrankheit der gewöhnlichen Korrespondenzen, […] der aufgedunsenen Komplimentensucht«,125 als er 1778 seine Briefe über Gegenstände der Philosophie an die Öffentlichkeit bringt. Die Briefe an »Leserinnen und Leser« wenden sich an vier Adressaten, die Mesdames »«C**« (Briefe 1–5), »von B**« (Briefe 6–8) und »***« (Briefe 17–20) sowie an »Herrn P.***« (Briefe 9–16). Bereits die Vorrede Hißmanns aber spiegelt die je spezifische Adressatenbezogenheit. Der eingangs zitierten Frage jener Dame begegnet Hißmann mit Skepsis – finde das »ganze lesende

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Vgl. Johann Christoph Stockhausen: Critischer Entwurf einer auserlesenen Bibliothek für den Liebhaber der Philosophie und schönen Wissenschaft. In einigen Sendschreiben. Berlin 1758; 2. verbesserte und vermehrte Aufl. ebd. 1758, fol. ** 2v–** 3r. Ebd., fol. ** 3r–** 3v. Ebd., fol. ** 3v–** 4r. Vgl. ebd., fol. ** 4r. Vgl. ebd., fol. ** 4r–** 4v; Vgl. Meiners: Revision der Philosophie (s. Anm. 50), S. 60f. Vgl. Feder: Ueber das moralische Gefühl (s. Anm. 53), S. 24. Vgl. Ernesti: De philosophia vitae (s. Anm. 27), S. 169. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 1.

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Frauenzimmerpublikum Geschmack an diesen Gegenständen«?126 –, aber auch einem gewissen Selbstzweifel. Denn den deutschen Schönen, die mehrentheils die Franzosen lieben, an der Lektüre philosophischer Aufsätze Geschmack abzugewinnen, mögte für einen Schriftsteller, der auf französische Schöngeisterey nicht den mindesten Anspruch macht, noch machen kann, ein beynahe ganz unmögliches Unternehmen seyn.

Dennoch bleibt Hißmann zuversichtlich: Mein Buch mag also von hundert Toiletten weggeräumt, und dem Staub zur Speise überliefert werden; wenn’s nur auf einer einige Tage offen lag, und wenn’s von keiner eher verwiesen wurde, als die fünf ersten Briefe gelesen, und wenn ich’s fordern darf, auch einigermaßen verdauet waren. Denn, im Ernst, ich glaube, jedes lesende gelehrte und ungelehrte Frauenzimmer muß wenigstens so viel von der Philosophie wissen, als da gesagt ist.127

Diese erste Gruppe von Briefen will also das »lesende Frauenzimmerpublikum« nicht »mit abgeschmackten Schmeicheleyen zu lauter Huldgöttinnen« machen, noch mit ihnen die schönen Wissenschaften von der besten Lage der Schminkpflästerchen, dem zierlichsten Ausschnitte des Leibchens, der gefälligsten Einfassung des Nachtrockes, von einer recht catullischen Art zu küssen, von der Sprache des Fächers und der Augen abhandel[n].128

Bieten diese ersten fünf Briefe das, was der anonyme Rezensent der Briefe in der Nürnbergischen gelehrten Zeitung als »den Begrif des Philosophen und seiner Dame, der Philosophie, was sie sey und nicht sey« räsoniert, wobei aber die »[u]nnöthige Weitschweifigkeit, Deklamation und gezierter Ausdruck, die durchaus darinnen herrschen, [...] iedem Unlust und Langeweile erregen« müssen,129 anempfiehlt Hißmann die »übrigen an [s]eine Korrespondentinnen [...] gerichteten Briefe« nur einigen geduldigen Leserinnen, die »auch die Lektüre zu wiederholen« sich anraten lassen müssen. Sich dem intellektuellen Anspruch dieser Briefe jedoch bewusst, verweist er darauf, dass den Leserinnen bei eventuellen Verständnisschwierigkeiten »ein kurzer mündlicher Kommentar alles aufklären« könne130 – letzterer natürlich aus dem Munde »kommentirender Väter, Brüder, Gatten etc.«131 Zu diesen beiden Gruppen gesellt sich eine dritte, die Briefe an Herrn P.*** umfassende, die, 126 127 128 129

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Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 1. Ebd., fol. A3v–A4r. Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe (s. Anm. 24), S. 186. Anonymus: [Rez. von] Briefe über Gegenstände der Philosophie an Leserinnen und Leser, von Mich. Hißmann. Gotha bey Ettinger. 1778. 8. (1 fl.). In: Nürnbergische gelehrte Zeitung. 67. Stück, 21. Aug. 1778, S. 631–633, hier S. 631. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), fol. A4v; dieses Arguments bedient sich bereits Fontenelle: »Il est vray que les Idées de ce Livre son moins familieres à la pluspart des Femmes que celles de la Princesse de Cleves, mais elle n’en sont pas plus obscure. On ne peut penser deux fois tout au plus, & ne les prendre pas tres-justes« (Fontenelle: Entretiens sur la pluralité des mondes [s. Anm. 21], fol. *4v). Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), fol. A3v; Hißmann legt die geschlechtsbezogene Kommentierung jener »Dame« in den Mund, der er »die sechs ersten Aushängebögen vorlegte« (vgl. ebd., fol. A3r–A3v), doch ist der Rekurs nur zu deutlich; Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800) macht in seiner Rezension der Briefe darauf aufmerksam, dass es »in Beziehung auf das Frauenzimmer, eine vierte Klasse von Mannspersonen [gebe], die Hr. H. vermuthlich nicht hat nennen wollen, weil er

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wie schon die Ueberschriften lehren, für kein Frauenzimmer geschrieben. Man wird sie hoffentlich, ohne mein Erinnern, überschlagen. Wäre mir die Absonderung leichter geworden; so hätt’ ich sie ganz weggelassen.132

Der Eingrenzung des Adressatenkreises auf das »lesende gelehrte und ungelehrte Frauenzimmer«, geduldige und zur wiederholenden Lektüre bereite »Leserinnen« sowie »Väter, Brüder, Gatten etc.« parallel gehen Konzeption und Inhalt der einzelnen Briefgruppen. Während die Briefe an Madame C** (1–5) eine allgemeine Erläuterung des Begriffs und der Inhalte der Philosophie darstellen, diskutieren die übrigen Briefe eingehend die zeitgenössischen neurophysiologischen und Empfindungstheorien. So setzen sich die Briefe an Madame von B** (6–8) mit dem Bau und der Funktionsweise von Gehirn und Nerven, die an Herrn P.*** (9–16) mit Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung auseinander, die Briefe an Madame *** (17–20) schließlich beschäftigen sich mit Schlaf und Traum. Der Anlass des Schreibens variiert von Briefgruppe zu Briefgruppe. Zwar sind alle als ›Auftragsarbeiten‹ deklariert, doch lassen hinsichtlich der jeweiligen Kommunikationsform Unterschiede feststellen. So hoffte Madame C** sich in selbständiger Lektüre ein Bild der Philosophie machen zu können,133 doch fruchtete dieses Unterfangen wenig, wünscht sie vom Verfasser doch seine »Gedanken« »über einige Gegenstände der theoretischen Philosophie« zu erfahren,134 wozu sie ihm ihre Aufzeichnungen, »wichtige Beyträge zur Menschenkunde«, zukommen ließ.135 Madame C** gemahnt an Stockhausens Climene, die ebenfalls Aufzeichnungen über die von ihr gelesenen Schriften – die sie als »Schülerin des Leibniz und des Fontenelle« zu erkennen gaben – und diese zur Diskussion stellte.136 Die an die Mesdames C** und von B** gerichteten Schreiben dürfen als aufeinander aufbauend angesehen werden, werde erstere die Fortsetzung der an sie gerichteten Briefe »aus der Hand [i]hrer Freundinn, der Madame von B** erhalten«, ebenso wie letztere die Grundlagen der an sie gerichteten Ausführungen, »über das Allgemeine der Philosophie«, »durch eine dritte Hand zugestellt«, also durch Madame C** weitergeleitet wurden.137 Ebenso werde Madame von B** »von einer dritten Hand« – Herr P.** – den »Verfolg« der in den an sie gerichteten Briefen dargelegten philosophischen Ausführungen erhalten und lesen können, falls sie dieses wünsche.138 Einzig die Briefe an Madame *** scheinen sich diesem Kommunikationsnetzwerk zu entziehen. Die Briefe dürfen demnach, obwohl sie als einzelne adressatenbezogene Gruppen deklariert werden, nicht als in sich abgeschlossene, separat zu lesende Abhandlungen verstanden, sie müssen aufeinander aufbauend als Ganzes betrachtet werden. Ein Werk Hißmanns kann hier einem Vergleich dienlich sein: Die ebenfalls 1778 publizierte Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litte-

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nicht vermuthet, daß von ihnen Philosophie zu lernen seyn würde« (Lw [i.e. Abraham Gotthelf Kästner]: [Rez. von] Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser, von Michael Hißmann, Gotha, Ettinger, 1778. 296 Octavs. In: Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 38 [1779], 1. Stück, S. 157–164, hier S. 157) – der Rezipient sei hier an das Selbstdenken gemahnt. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), fol. A4v. Vgl. ebd., S. 5–7. Ebd., S. 4. Ebd., S. 2. Vgl. Stockhausen: Critischer Entwurf (s. Anm. 117), fol. ** 4v. Ebd., S. 56. Ebd., S. 101.

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ratur in allen Theilen der Philosophie.139 Das Wesen dieser Anleitung – »nach gewissen Rubriken geordnete Bücherverzeichnisse« – sei, so Hißmann, »eigentlich Skelet«: Aber Skelete schrecken zurück, und ihr Anblick ist den meisten fürchterlich. Ich mußte also die dürren Gebeine mit Muskeln, Nerven, Sehnen u.s.w. ausrüsten, und dem ganzen Körper ein Modekleid umwerfen.140

Er glaube dies durch die beigefügten erläuternden Texte erreicht zu haben, das Werk sei dadurch »gemeinnütziger« geworden. Man könne es nun, »wie [ihm] deucht«, »fuglich als eine Encyklopädie über alle Theile der Philosophie, beym Unterricht angehender Lehrlinge gebrauchen.«141 Doch sei der Text nie Hauptzweck. Das Werk bleibe ein Bücherverzeichnis für den akademische Unterricht, neben den »nothwendigsten litterarischen Notizen« habe er aber »die eigenthümlichen Gedanken und Behauptungen eines jeden großen Mannes aufzuzeichnen« versucht, um dadurch meine Zuhörer zur Lektüre der Werke selbst vorzubereiten; und zwar so, daß sie sich das Lesen mancher Schrift, die entweder selten ist, oder die nur der Litterator von Profession selbst gelesen haben muß, ganz ersparen können.142

Die Briefe über Gegenstände der Philosophie nehmen dieses Ansinnen einer spezifischen Selektion auf, erweitern aber den Adressatenkreis und öffnen so die esoterische Wissenschaft. Der exoterische Philosoph ist verpflichtet, sich in dem Vortrag seiner Grundsätze nach der öffentlichen Religion, dem Zustande der Gelehrsamkeit, und vorzüglich nach dem allgemeinen Urtheil, worauf man Sitten und Tugend gründet, einzurichten. Der Esoteriker kann sich über alle diese Sachen hinwegsetzten.143

In weiten Teilen korrespondieren nämlich die Begriff und Inhalte der Philosophie betreffenden Briefe an Madame C** mit der Einleitung zur Anleitung. Hier wie dort werden Mathematik und Physik von der Philosophie getrennt,144 denn die »Verbindung der Mathematik mit der Philosophie ist der leztern durchgängig nachtheilig gewesen.«145 »[V]orzüglich die Metaphysik« aber sei durch die »mathematische Methode« mit »neueren Kindereyen und Spielwerken« überschwemmt worden – [a]usser der Seichtigkeit ist noch die ermüdende Weitschweifigkeit, wodurch dergleichen nach der mathematischen Methode abgefaßte Schriften unerträglich werden, einer von ihren Hauptmängeln. Diese Philosophen demonstriren denn, wie die Meßkünstler, nur mit dem Unterschied, daß in der Philosophie, durch die Helle der Dinge Ekel erreget, wenn in der Mathematik der Geist geschärft wird.146

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Michael Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Göttingen, Lemgo 1778; 21790. Ebd.; hier zitiert nach der 2. Aufl. Göttingen, Lemgo 1790, S. XI. Ebd. Ebd., S. XIIf. Meiners: Revision der Philosophie (s. Anm. 50), S. 132. Vgl. Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 139), § 10, S. 20–22; Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 32–42. Ebd., S. 41. Ebd., S. 38.

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Einher geht hier wie dort mit dieser Trennung der Mathematik von der Philosophie vor allem eine scharfe Metaphysikkritik. Noch immer nämlich werde die Metaphysik von »Narren […] unendlich wichtiger [gemacht], als sie wirklich ist«, noch immer sei die Metaphysik eine Sammlung von Spitzfindigkeiten, die für die Grundfeste aller Wissenschaften, und für die Urquellen aller menschlichen Kenntnisse verkauft werden. Noch immer ist sie im größten Theil von Europa das alte Zeughaus, aus welchem die seelenverderblichen Massen herausgeholet werden, mit denen sich gelehrte Dummheit gegen die gesunde Philosophie rüstet. Noch immer werden durch sie, – besonders in den Klöstern, die die Finsterniß der Dunse und der Aquinase mehr lieben, als das Licht der neuern Engländer, Franzosen und Deutschen, – manche junge Genies, unter dem schmeichelnden Vorgeben, als wüßten sie was, da sie doch nicht wissen, wenn sie den Kopf mit noch so vielen metaphysischen Grillen füllen, ich weiß nicht, ob niedergepreßt, oder erhoben; doch ganz gewiß dumm gemacht.147

Den »monströsen Gehirngeburten intolleranter Kirchenlehrer«,148 die die Philosophie einzig studierten, »um den Glauben mit dem Plato zu vereinigen, oder ihn mit dem Aristoteles erklären zu können«,149 folgten »Geschöpfe […] in der rauhen Tracht der Schulpedanten, in der Mönchskutte, und den Pfaffenmänteln auf die Katheder«, die vorgaben, »die Weltweisheit habe sich nun aus der Sphäre des Lebens in die Sphäre der Katheder versezt«:150 Dieser »unphilosophische Pfaffenpöbel«151 tat nichts weiter, als »der Philosophie des Plato, des Aristoteles und der Kirchenväter eine barbarisch-scholastische Gestalt, (die fürchterlichste unter allen Ungeheuren,)« zu geben,152 stimmten ein Te Deum an, wenn sie den gemeinen Menschenverstand mit allerley Spitzfindigkeiten barbarischer Kunstwörter verdumpfet, eingeschläfert, besiegt, und erwürgt; die gesunde Vernunft durch scholastische Nomenklatur fern von sich weggeschreckt

hatten.153 Duns Scotus, Thomas von Aquin, Francisco Suárez »und wie die Väter der Barbarey alle heissen mögen« aber leben »nur noch im Schoos ihrer Brüder, in den Winkeln irgend eines finstern, gothischen Klosters.«154 An die Stelle des klerikalen Obskurantismus, der »das Selbstdenken ins schwarze Register der Verbrechen der beleidigten Majestät der Menschheit einschrieb«,155 traten Philosophen, die aus Kompendien und aus Heften voll Nonsens, voll unnützer Grübeleyen, voll gelehrter Unvernunft, voll kindischer Wortkrämereyen, und abgeschmackter Spielwerke, Dinge lehren, die kein gesunder Verstand begreifen kann, und Dinge beweisen, die nur sehr schadhafte Denkmaschinen beweisen können; die ein Chaos von leeren Sätzen numeriren, paraphrasiren, demonstriren, distinguiren, resutieren; die diesen Wust ein System nennen; die nützliche Wahrheit und das belehrende Gefühl der Menschheit verhöhnen; über ihre ungestalten Hirngeburten jauchzen, und sie mit dem geheiligten 147 148 149 150 151 152 153 154 155

Ebd., S. 43f.; vgl. die ähnlichen Formulierungen in Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 139), § 9, S. 18. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 18. Michael Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen, nebst einem Anhang vom Unterschied unter associirten und zusammengesezten Begriffen, und den Ideenreyhen. Göttingen 1776, S. 27 (Hvhg. im Original). Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 10. Ebd., S. 18. Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen (s. Anm. 149), S. 27. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 9. Ebd., S. 10f. Ebd., S. 18.

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Udo Roth Nahmen der Philosophie einweyhen. Auf solche Weise wird Unsinn; Verwirrung; ein Gewebe von Träumereyen der Einbildungskraft, und von finstern Ideen einer kranken Seele, ein wüstes Labyrinth von unnützen Sätzen, und leeren Folgerungen; Sophistenzeug; Disputierkunst; Psittacismus; Trödelkram von Meinungen, ohne Kraft und Gewißheit; eine mit alten Lumpen behangene Holzmaschine, ohne Wirkung aufs menschliche Herz; ein Gemisch von Thorheit und Unvernunft, unbrauchbar für das menschliche Leben, dem gesunden Menschenverstand nachtheilig, in einer barbarischen Sprache vorgetragen, mit unbiegsamer, dogmatischer Entschlossenheit behauptet, mit einem wüthenden Geschrey hartnäckig vertheidigt, – Philosophie; und gelehrte Marktschreyer werden ihre Priester. – Ich mögte lieber sagen: ihre barbarischen Henker.156

Dem antiklerikalen und antitheologischen – keineswegs aber atheistischen157 – Impetus der Metaphysikkritik gesellt sich ein in spezifischer Weise den Dogmatismus anprangernder zu. Unter Rekurs auf die mathematische Methode wird hierbei der »leibnitzisch-wolfischen Philosophie« trotz ihrer Verdienste der wohl beträchtlichste Nachteil zugestanden, dass sie nämlich »die deutschen Köpfe an einen zu unbiegsamen, entschlossenen, stolzen Dogmatism angewöhnt hat, wodurch der wahre Prüfungs- und Untersuchungsgeist erstickt« wurde.158 Der Dogmatismus, der vorzüglich die guten deutschen philosophischen Köpfe auf die ungegründeten, und bloß spitzfündigen Verwebungen willkührlicher Begriffe und leerer Worte verleitet hat, war mir immer lächerlich, seit dem ich denken lernte.159

Immer wieder ist es Wolff, der in den Fokus von Hißmanns Metaphysikkritik tritt. Denn trotz »manche[r] wichtige[r] Vorzüge, die er vor andern Philosophen und Mathematikern besaß«, sprach er »in Orakelsprüchen mit einer gewissen Mine der Untrüglichkeit« und »gab er sich für einen Erleuchter des ganzen Erdbodens, für einen Zerstreuer der Nebel und der Finsterniß der Unwissenheit aus, die die ganze Welt bedekte.«160 Zu seiner Zeit und für sein System mag der »Wolfische Begrif von der Philosophie« richtig gewesen sein, doch, so glaubt Hißmann »im Ernst«, »in unserm Zeitalter und bey den großen Fortschritten der heutigen Philosophie« müsse er »fehlerhaft seyn«.161 An dieser Stelle entfernt sich Hißmann von seinem popularphilosophischen Programm, setzt er doch bei seiner Korrespondentin die Kenntnis des wolffschen Begriffes der Philosophie – »Philosophia est scientia possibilium, quatenus esse possunt«162 – voraus,

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Ebd., S. 6f. Er selbst sei kein Gottesleugner, so Hißmann in der Anleitung, denn leicht lasse sich beweisen, dass »der Atheismus eine undankbare Schändung des menschlichen Verstandes und ein grobes Verbrechen der beleidigten Majestät der Vernunft« sei (Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur [s. Anm. 139], § 148, S. 284). Vgl. ebd., § 39, S. 84f. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 18f. Michael Hißmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt a.M., Leipzig 1777, S. 142; vgl. zu den Versuchen v.a. Otto Finger: Von der Materialität der Seele. Beitrag zur Geschichte des Materialismus und Atheismus im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Berlin 1961. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 28. Christian Wolff: Philosophia rationalis sive Logica [1728]. Frankfurt a.M., Leipzig 1740 [ND Hildesheim 1983], § 29; vgl. ebenso Christian Wolff: Vernüfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik). Halle 1720, 111751 [ND Hildesheim 1983]: »Weil nichts zugleich seyn kann und nicht seyn kann, so erkennet man, das etwas unmöglich sey, wenn es demjenigen widerspricht, davon wir bereits wissen, daß es ist oder seyn kann. [...] Woraus man ferner ersiehet, daß möglich sey, was nichts widersprechendes in sich enthält. [...] Daher ist das Wesen eines Dinges

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einer Philosophie, in der auf der Grundlage des Satzes vom Widerspruch das Mögliche, das Gott (Theologia naturalis), die menschliche Seele (Psychologia) und die materiellen Dinge (Physica) einschließt, Gegenstand der Erkenntnis ist,163 wobei Wolff die Theologia naturalis und die Psychologie als »Pneumatica« zusammenfasst und der Metaphysik einverleibt.164 Um seine Gedanken »über die Philosophie, ihren Gegenstand, Innhalt, ihre Gränzen, und Theile«, um deren Mitteilung ihn Madame C** gebeten hatte,165 weiter auszuführen, sucht Hißmann auf der Grundlage der Metaphysikkritik eine grundlegend neue Differenzierung der Philosophie in ihre Teile darzulegen. Denn was sei »dringender als das Zurückführen dieser Verlornen zu ihrer Heerde?«166 Zwar bleibt eine Differenzierung in theoretische und praktische Philosophie in den Briefen wie auch der Anleitung erhalten, doch geraten deren Unterdisziplinen in den Blick einer Reform. Die ganze Metaphysik könne, da sie »entweder aus unfruchtbaren Spekulationen, oder aus erbeuteten Schätzen besteht«, »ihren Abschied erhalten«,167 man könne sie »als eine eigene Disziplin, völlig eingehen lassen.«168 Denn eine große Menge »blos unfruchtbare[r] Nominalerklärungen« etwa falle gänzlich aus der Philosophie, die »Religionsbegriffe, die Vorstellungen vom Uebel in der Welt, von der menschlichen Bestimmung, u. s. w.« seien mehr der praktischen denn der theoretischen Philosophie zuzurechnen,169 alle anderen allgemeinen Begriffe der Metaphysik, ob ontologischer, kosmologischer oder theologischer Natur, seien der Logik zuzuschlagen, denn sie sei es, »die die Entstehungsart der allgemeinen Begriffe lehrt, und die eben deswegen auch nothwendig dem Ursprung einzelner wichtiger allgemeiner Ideen nachspüren muß.«170 Mit der weiteren Ausdifferenzierung der theoretischen Philosophie aber wird Hißmanns popularphilosophischer Beitrag deutlich. Die eher esoterische Anleitung unterteilt mit Hinweis darauf, dass man »nach einer fast allgemeinen Konvention, die weitläufige Theorie von den Empfindungen aus der Seelenlehre ausgehoben« habe, die theoretische Philosophie trotz der Gleichartigkeit der sie beschäftigenden Verstandesbegriffe in mehrere Disziplinen. So sei die Lehre von den angenehmen Empfindungen Gegenstand der Ästhetik, die der moralischen Empfindungen Teil der praktischen Philosophie geworden.171 Die Vernunftlehre, oder die Logik [aber] gehört, in so fern sie ein brauchbares Regelverzeichniß über den besten Gebrauch der menschlichen Seelenkräfte ist, zur Psychologie. Denn diese Regeln sind weiter nichts, als praktische Folgen aus denjenigen Lehren, die sich von der menschlichen Seele und in ih-

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seine Möglichkeit und derjenige verstehet das Wesen, welcher weiß, auf was für eine Art und Weise ein Ding möglich ist« (§ 12, 35). Vgl. dazu Werner Schneiders: Deus est philosophus absolute summus. Über Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff. In: ders. (Hg.): Christian Wolff (1679–1754). Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 1983 [Studien zum achtzehnten Jahrhundert 4], S. 10–30. Vgl. Wolff: Philosophia rationalis sive Logica (s. Anm. 162), § 73, 79. Vgl. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 55. Ebd., S. 45f. Ebd., S. 47. Vgl. Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 139), § 9, S. 19f. Vgl. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 46. Ebd.; vgl. Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 139), § 9, S. 19. Vgl. ebd., § 8, S. 14f.

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Udo Roth ren Kräften mit Gewißheit ausmachen lassen; oder besser, es sind dieselbigen psychologischen Sätze, in die praktische Form umgegossen.172

Während die Anleitung solchermaßen auf Fachwissen zurückzugreifen scheint – was eigentlich ist Philosophie allgemein? –, möchte der Verfasser der Briefe an Madame C** vor der weiteren Erörterung der Differenzierung der Philosophien in ihre Disziplinen »den allgemeinen Begrif von der Philosophie überhaupt vorausschicken.« Zwar traue er sich »eine ganz genau bestimmte Erklärung« nicht zu, aber er »werde [s]ich freuen, wenn sich [s]eine Erklärung der Wahrheit nur mehr nähert, als die bisherigen, und wenn sie noch überdem das Verdienst einer grösern Deutlichkeit haben sollte.«173 Damit ist unübersehbar eine Aufforderung an den Adressaten verbunden, die weiteren – durch ein eingeschobenes »wie ich glaube« nun als subjektiv gekennzeichneten – Ausführungen zum Begriff der Philosophie abzuwägen und damit selbst zu denken. Die Philosophie nämlich sei weiter nichts, als eine räsonnirende, oder, wenn man lieber will, eine pragmatische Geschichte von ein Paar entgegengesezten menschlichen Seelen, nebst allen merkwürdigeren Graden, die zwischen diesen beyden Extremen in der Mitte liegen; oder, welches einerley ist: Sie ist eine räsonnirende Geschichte der menschlichen Seele, in allen bekannten Zuständen […]. Der einzige Gegenstand der Philosophie, ist demnach das menschliche Denkwesen, in seinen verschiedenen Zuständen.174

Eben dieses aber bedürfe einer induktiven Methode, es gelte, die »Fakta und Phänomene der menschlichen Seele, deren es unendlich viele giebt, weil die Gegenstände ihrer Meditation unzehlbar sind«, zu verbinden »und allgemeine Begriffe und Sätze aus ihnen [zu] ziehen.« Allein damit beuge man »einem Hauptfehler« der bisherigen Philosophie – der Deduktion der dogmatisch-metaphysischen Methode – vor: »nemlich, der Bearbeitung von Chimären und von Undingen, die gewiß kein Mensch aus der Erfahrung kennen gelernt hat.«175 Die Wissenschaft von der menschlichen Seele, in so fern sie die Erkenntnißkräfte, und die Quelle unserer Erkenntniß, die Empfindungen angeht, giebt die theoretische Philosophie, oder die Dianoitik.176

Diese sei »in den Kompendien« »durch eine fast allgemeine Konvention, die sehr weitläufige Lehre von den Empfindungen in Rücksicht des Angenehmen, des Unangenehmen und des moralischen derselben in ein paar philosophische Wissenschaften vertheilt« – aus der Lehre von den angenehmen Empfindungen ist die Aesthetik erwachsen, und die Abhandlung von den moralischen Empfindungen ist der Satz praktischen Philosophie anvertrauet worden, theils, weil sie daselbst unmittelbar benutzt wird, theils auch, weil sie mit der Theorie von den Neigungen und Leidenschaften genau zusammenhängt. Man könnte auch mit der Schule sagen: das Gefühl des Wahren und das Selbstgefühl sey ein Gegenstand der Psychologie; das Gefühl des Schönen mache das Hauptobjekt der Aesthetik aus, und das moralische Gefühl gehöre zur praktischen Philosophie.177

Gleichwohl ist dies kein wie auch immer gearteter Rekurs auf die Darlegung in der Anleitung. In den Briefen bleibt der Gestus einer Anleitung zum eigenständigen Denken erhalten, auch wenn diese zumindest in den ersten fünf Briefen nicht realisiert werden kann. Denn die »Eintheilung 172 173 174 175 176

Ebd., § 8, S. 15 (Hvhg. im Original). Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 48. Ebd., S. 48f. Vgl. ebd., S. 49f. Ebd., S. 50.

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der innern Gefühle und Empfindungen«, so Hißmann, sei in den Kompendien und den landläufigen Theorien der Empfindungen »zu grundlos, als daß man auf sie wissenschaftliche Eintheilungen bauen könnte.«178 Die ersten fünf der Briefe über Gegenstände der Philosophie sind so in mehrerer Hinsicht ein Plädoyer für eine eigenständige und freie Auseinandersetzung mit Begriff und Inhalt der Philosophie als Wissenschaft von der menschlichen Seele. Immer nämlich musste man hierbei partheyisch seyn. Man muste den Theologen zu gefallen, um nicht bey ihrem heftigen Durchbruch der Menschenliebe aus lauter Liebe verbrannt zu werden, dichten, und über den Körper und über die Seele Romane, und über beide zugleich metaphysische, physische und moralische Romane schreiben, um den Geistlichen das Vergnügen zu machen, den unsinnigsten von allen, den theologischen Roman über den Menschen schreiben zu können. Und so ein Buch überschrieb man mit dem glänzenden Titel THEOLOGIA DOGMATICA SYSTEMATICA. Zum Unglück kam der Artikel von der Einfachheit der Seele auch in dieses Spruchbüchlein; und wer wollte die Lehre nun leugnen, ohne verdammt zu werden?179

Ebenso musste man den neueren dogmatischen Metaphysikern nach dem Munde reden, »seichten Nachbeter[n]« der leibniz-wolffschen Philosophie, in deren »schadhaften Gehirn[en]« unmöglich eine dem »auswendig gelernten System entgegenlaufende Meinung […] eingekeilt werden« könne, weil sie »mehrentheils unbiegsame, hartnäckige Demonstranten« seien.180 Nirgends aber erweise sich »Dogmatisiren und Demonstriren übler« als in der Wissenschaft von der menschlichen Seele, wo wir uns im Geist freuen müssen, wenn wir nur das Wahrscheinlichere auszumachen im Stande sind. – Weg also mit Demonstrirsucht. – Weg mit Mährchen und Hirngespinsten. – Mehr Zufriedenheit mit Wahrscheinlichkeiten, da, wo keine Gewißheit möglich ist, – und in wie wenigen Fällen ist sie es? – Mehr Beobachtungsgeist, und Aufmerksamkeit auf Thatsätze seyen die Beschäftigung der philosophischen Welt!181

Der Aufruf zu einer auf der Empirie gegründeten Seelenlehre kulminiert in der Feststellung: Fast scheint ein metaphysischer und ein wüster Kopf aus demselbigen Stoff gebauet zu seyn. Der Anatomiker könnte diese Muthmaßung zur Gewissheit erheben, wenn ein Regent einmal zur Strafe und schreckendem Beyspiele alle scholastischen Metaphysiker dem Messer des Zergliederers ausliefern ließe.182

5. … und Erfahrungsseelenkunde Die Briefe an Madame von B** und Herrn P.*** setzen sich mit neurophysiologischen und -anatomischen sowie mit psychologischen Fragestellungen auseinander, die an erstere mit dem Aufbau und der Funktionsweise von Nerven und Hirn, die an letzteren mit den Empfindungen 177 178 179 180 181 182

Ebd., S. 50f. Ebd., S. 51. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 14f. (Hvhg. im Original). Ebd., fol. A3r. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 18f. Ebd., S. 45.

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und deren Verarbeitung. Bedenkenswert ist hierbei, dass sie – wie die Briefe an Madame C** mit der Einleitung zur Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie – in weiten Teilen, häufig bis in Wortwahl und Formulierung, mit Hißmanns Ausführungen im ersten der Psychologischen Versuche korrespondieren. Ausgehend vom Nervensystem als Instrument der Empfindungen in der »thierischen Maschine«183 entwirft Hißmann in Korrespondenz mit dem ersten der Psychologischen Versuchen in den Briefen an Madame von B** zunächst den »ungemein einfache[n] und ungekünstelte[n] Mechanismus« des Nervensystems,184 wobei er gegen Leibniz, aber auch die Empiriker Edme Mariotte (um 1620–1684)185 und Claude-Nicolas Le Cat (1700–1768)186 dem »Nervenmark« die Empfindlichkeit zuspricht.187 Auch im Gehirn, dem laut Bonnet »Hauptstück der irrdischen Schöpfung«,188 ist es das Mark oder die »markigte Substanz«,189 das, da in ihm das Nervenmark gleichsam aufzugehen scheint, ebenfalls die sensible Masse ausmacht.190 Die mentalen Fähigkeiten diskutiert Hißmann bis in die Formulierungen hinein auf der Grundlage der Psychologischen Versuche.191 Nicht das Verhältnis von Hirnmasse zu Körpermasse, auch nicht Masse oder Volumen allein, sondern die »spezifische Schwere«, das Verhältnis von Masse zu Volumen sei ausschlaggebend für »Güte und Vortreflichkeit« des Gehirns, also der Denkleistung.192 Unter diese Ausführungen mischt sich jedoch wiederum eine deutliche antiklerikale Kritik. Denn Hißmann setzt die spezifische Schwere des Gehirns mit der »Reichhaltigkeit und Fette des übrigen Körpers« in Relation. Doch meint er mit letzterer nicht die »natürliche[n] Dispositionen zum Fettwerden«, sondern die »mönchartige[], ausgestopfte[], gemästete[] Fettheit«:193 Die mit Knochen und gesunden Säften ausgestopften Fleischthürme der Mönche in den Klöstern würden schwerlich so von Fette, wie ihre Blutgefäße von Blut, strotzen, wenn ihr Gehirn durch Geistesarbeiten und durch Meditationen an Reichhaltigkeit hätte aufladen können. So aber dünstet Trägheit und Fette des Fleisches um den hellen Verstand herum. […] Doch ist die Zahl von fetten und dabey dummen Mönchen zu gros, als daß die Natur gerade in sie alle natürliche Anlagen zum Fettwerden gelegt hätte. Die meisten haben daher blos eine gemästete Fettheit, und ein äusserst mageres Gehirn aufzuweisen; weil sie das leztere nicht mit Ideen zu füllen gesucht haben.194

Abhilfe könne hier nur die geistige Arbeit leisten, im klösterlichen Umfeld etwa das »Auswendiglernen erbaulicher Postillen«, was bei »Strafe der Entziehung der reich besetzten Tafel« abzuprüfen sei. Dann werde, Hißmann will jede Wette darauf eingehen, bei ihnen »an Weitläufigkeit ihrer Bäuche eben so viel ab, als an […] Reichhaltigkeit der Gehirnmassen anladen«. Doch – und hier schlägt die antiklerikale Kritik in schärfsten Sarkasmus um – die meisten der Mönche 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194

Ebd., S. 60. Ebd. Vgl. Edme Mariotte: Nouvelle découverte touchant la veue. Amsterdam 1668. Vgl. v.a. Claude-Nicolas Le Cat: Traité des sensations et des passions en général et des sens en particilier. 3 Bde. Paris 1767/68. Vgl. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 66. Vgl. ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 69. Vgl. ebd., S: 68–72. Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 35–40. Vgl. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 76. Vgl. ebd., S. 77f. Ebd., S. 78f.

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würden solch ungewohnte Geistesarbeit nicht überleben: Dieses Experiment dürfe daher nur in solchen Ländern durchgeführt werden, in denen die Klöster an fetten Subjekten zu reichhaltig sind. Ein unschuldiges Mittel zur Räumung und Säuberung vollgestopfter Zellen wär’s indessen immer, und für die italiänischen Staaten, die so viele Müßiggänger füttern, unaussprechlich heilsam.195

Bei »Denker[n] und heisse[n] Verfolger [der] Ideen« hingegen lasse bereits der Körperbau auf eine größere spezifische Schwere des Gehirns schließen: [W]ie zusammengeschrumpft sind ihre Muskeln; wie beschränkt ihre Dimensionen; wie marklos ihre seidenen Strümpfe; wie zart und niedlich ihr ganzes körperliches All! […] welche schwammigten, verblasene, lockere, ausgezehrte Menschengestalten.196

Mit dieser ›Diätetik‹ ist der Übergang geschaffen zum letzten Brief an Madame von B**, der eben jenen Sachverhalt – der aus »Faktis erhärtet[en]« Relation von spezifischer Hirnschwere und geistigen Fähigkeiten197 – mit empirischen Daten weiter zu erhärten sucht. Im Mittelpunkt steht der »Satz, von der Imperfektibilität der Thiere«. Da aber die »Philosophen gewöhnlich eben so wenig von der Naturgeschichte, als die Naturforscher von philosophischen Grundsätzen wissen«, ein philosophisches Studium der Naturgeschichte aber für die Eliminierung dieses Satzes aus den Systemen über die Tierseelen unabdingbar ist, bedient sich Hißmann zunächst über zehn Seiten der Paraphrase198 eines im Berlinischen Magazin erschienenen Artikels über Verhaltensbeobachtungen heranwachsender und adulter Tiere, insbesondere der Füchse und Wölfe.199 Diese rein referierenden Passagen aber sind ganz bewusst eingefügt, da der Adressatin so Gelegenheit gegeben wird, die auf empirischer Basis gewonnenen Erkenntnisse über die Hirnsubstanz durch philosophische wie verhaltenspsychologische Fakten mithilfe eigener Reflexion zu verifizieren – oder gegebenenfalls zu falsifizieren. Während Madame von B**, angeregt von den Briefen an Madame C** eine Fortsetzung derselben fordert, verlangt Herr P.*** dem Verfasser zufolge eine »detaillirte Nachricht von der gegenwärtigen Lage der physiologisch-psychologischen Lehre«.200 Dem Ansinnen kommt jener in ganz unterschiedlicher Art und Weise nach. Im neunten Brief, der sich mit dem »Sitz der Empfindung« befasst, werden beinahe in Dialogform aus »ein Paar nagelneuen Schriften« die unterschiedlichen Meinungen, Positionen, Entwürfe und Gegenstimmen zum sensorium commune vorgestellt.201 Diesem ›Dialog‹ der Stimmen für und wider das »Pünktchen im Gehirn, wo alle Nerven zusammenlaufen« und die Seele »sitzt«,202 und der im weitesten Sinne einem kurzen

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Ebd., S. 79. Ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 85–95. Anonymus: Zweyter Brief eines nürnbergischen Naturforschers über die Thiere. In: Berlinisches Magazin, oder gesammlete Schriften und Nachrichten für die Liebhaber der Arzneywissenschaft, Naturgeschichte und der angenehmen Wissenschaften überhaupt, Bd. 1 (1765), 2. Stück, S. 170–197; in Hißmanns Briefen wird S. 85 irrtümlich auf den Ersten Brief aus Nürnberg über die Thiere hingewiesen (Berlinisches Magazin, Bd. 1 [1765], 1. Stück, S. 32–41). Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 101. Vgl. ebd., S. 102–111. Vgl. ebd., S. 102f.

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Ausschnitt aus dem »Versuch über die äußere Empfindung« entspricht,203 stellt Hißmann nun seine Ansichten gegenüber, wägt das Für und Wider auf empirischer Basis ab, um letztendlich die grundsätzliche Frage nach dem Sitz des sensorium commune – offen zu lassen. Schwer sei es, bey solchen Sätzen und Gegensätzen ein Endurtheil zu fällen. Man ist fast genöthigt, seinen Beyfall fürs erste zurück zu halten, und die Frage, vom Sitz der Empfindungskraft im thierischen Körper, für unbeantwortbar zu erklären.204

Man »thut vielleicht am besten«, das ganze Nervensystem, vor allem aber das Gehirn als Sitz der Seele zu benennen, doch wolle er Herrn P.** keine »Muthmaßungen und Hypothesen« vorsetzen.205 In den Philosophischen Versuchen ist Hißmann nicht so zaghaft: »Man muß daher«, d.h. weil »das ganze Gehirn […] nicht fehlen [darf], wenn Sensibilität und Bewustseyn, und Bewegungen im Körper nicht aufhören sollen«, »nothwendig das ganze Gehirn für das Sensorium kommune halten.«206 Und im zwölften Brief konstatiert Hißmann auf der Grundlage empirischer Daten aus dem Philosophischen Arzt des Fuldaer Mediziners und Ordinarius Melchior Adam Weikard (1742–1803)207 gar, dass der »ganze Mensch […] also ein denkendes sensorium commune« sei.208 Während der zehnte Brief argumentativ weitgehend mit dem Schlussteil des ersten der Psychologischen Versuche korrespondiert,209 birgt der elfte Brief (»Theorie des Mechanismus der Empfindungen«) wiederum das Potential, den Adressaten zum selbständigen Denken anzuregen. Auch hier bedient sich Hißmann der Paraphrase, diesmal beinahe vollständig aus Weikards Philosophischem Arzt. Die bereits im zehnten Brief thematisierte Frage nach dem, was in den Nerven die Reize weiterleite – wie Saiten gespannte Schnüre können die Nerven nicht sein, auch keine Röhren, in denen ein Nervengeist fließe – wird erneut aufgegriffen. Die sich in den Nerven äußernde lebendige Kraft rühre wahrscheinlich von »einem feinsten, erhöheten Brennbaren oder Phlogiston her, welches nichts anderes, als eine elektrische, oder feurige Materie« sei, vielleicht »gar die Grundmaterie zur Elektrizität.«210 Belegen können diese Annahme »tausend Erfahrungen«, so etwa das Leuchten des Körpers nach heftigem Tanzen, die beim Niesen aus den Augen fahrenden Funken etc.211 Weikards Hypothese sei geeignet, »den entschlossenen Nervengeistler mißtrauisch« zu machen.212 Anders als im letzten Brief an Madame von B*** dient diese aber nicht nur der empirischen Unterfütterung eigener Theorien, Weikards Gedankenführung über den »Mechanism der thieri-

203

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Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 41–46; hier werden u.a. Haller, Hartley und Bonnet genannt; auch hier finden sich wiederum Korrespondenzen bis in Wortwahl und Formulierung, vgl. etwa ebd., S. 41 und Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 102f. Ebd, S. 114f. Vgl. ebd., S. 115f. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 41. Melchior Adam Weikard: Der philosophische Arzt. 4 Bde. Frankfurt a.M. 1773–1775 u.ö. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 148. Vgl. ebd., S. 46–62. Vgl. ebd., S. 135f. Vgl. ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 143.

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schen Empfindungen« habe ihm »beynahe [s]einen ganzen Beyfall abgenöthiget.«213 Doch sei dies sein subjektiver Eindruck: Am allerwenigsten hat’s Interesse, wenn einer eine gewisse Hypothese über den Mechanism der thierischen Empfindungen für wahr hält, da sie sonst der halben Welt falsch scheint. Je mehr hier erdacht wird, desto besser ist’s vielleicht. Man muß in solchen Fällen wählen können.214

Eben dieses gewährt Hißmann Herrn P.***, ja er fordert ihn geradezu dazu auf: »Was halten Sie von der folgenden Theorie?«215 Im Grunde stellt Hißmann aber Weikards Theorie – und damit die Reflexionsfähigkeit des Herrn P.***– gar nicht zur Disposition. Gleichwohl appelliert er an dessen eigenständiges Denken, denn Weikard entspricht genau dem Typus Wissenschaftler, der nach Hißmann einzig im Stande ist, Psychologie zu betreiben: Wie würde die Seelenlehre an wesentlichen Vorzügen zunehmen, wenn man sie auf solche [anatomische] Gründe bauen könnte! Die Sammlung dieser Thatsachen; behutsame Folgerungen aus denselben würden alles bisherige psychologische Gewäsche an Vorzügen und Brauchbarkeit unendlich überwiegen: denn sie würden den offenbaren, seltenen Vorzug der Gründlichkeit haben. Aber der Philosoph müste Arzt, und der Arzt Philosoph seyn; und folglich eine neue Art von Kreaturen entstehen.216

Herr P.*** solle sich daher mit dem »Verfasser des philosophischen Arztes bekannt« machen!217 Auch in anderer Hinsicht ist dieser Brief bemerkenswert. Weikards kleine Abhandlung Ueber das Klima218 aufgreifend, entwirft Hißmann auf der Basis der Phlogistonhypothese eine Charakteristik der Nationen. Man könne nämlich, so Hißmann, nach dem Klima »die Beschaffenheit der Fibern einer Nation, und folglich auch ihre Geistesanlagen schätzen.« Doch nicht nur das, auch die Ernährung lasse auf die Beschaffenheit schließen. Der Italiener genieße starke Weine und stimulierende Gewürze, was das Phlogiston in den Fibern erhöhe, er sei daher reizbarer als der Brite, den weder das Klima noch die Getränke – Tee und Bier – hitzig werden lasse, aber einen »treflich temperirten Kopf[]« habe. Ganz anders der Franzose, dessen zarte Beschaffenheit der Hirnfibern auf weniger starke Weine, Obst und Gartenfrüchte zurückzuführen sei – dafür sei er zwar freundlich und einnehmend, aber leichtsinnig und unbeständig. Der Deutsche habe wie der Holländer »weiche, schlappe, träge Fasern«, was ihn »weniger empfindlich, kaltsinniger, unfreundlicher« werden lasse – auf welche Getränke dies zurückzuführen ist, verschweigt Hißmann.219 Der zwölfte Brief greift diese Charakteristik auf, doch bemüht er sich nicht so sehr um neuroanatomische und -physiologische Hypothesen, bzw. einer Inrelationsetzung von mentaler bzw. kognitiver und anatomisch-physiologischer Nervenbeschaffenheit. Hißmann entwickelt hier, mit der Bitte an den Adressaten, ihm »einige Anmerkungen über Empfindlichkeit und Empfindsamkeit« zu gestatten,220 vielmehr eine Form der Zivilisations-, vor allem aber der 213 214 215 216 217 218 219 220

Ebd., S. 131f. Ebd., S. 132f. Ebd., S. 133. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 21f. Vgl. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 143f. Vgl. Weikard: Von der Wirkung des Klimas. In: ders.: Der philosophische Arzt (s. Anm. 207), Bd. 1, S. 85– 96. Vgl. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 141–144. Ebd., S. 151.

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Zeitkritik. Eine übersteigerte Empfindlichkeit könne auf Nervenschwäche zurückzuführen sein, doch seien »unsre hysterischen Stadtschönen […] gewöhnlich am allerempfindlichsten«.221 Die »empfindlichen Herren und Dames«, die »in ihrer Jugend die nervenschwächenden Freuden der Liebe und der Wollust aus überfließenden Bechern getrunken haben«, sollten »ihre Nerven bey der Zeit durch die harte Eisenkur des Arztes stillen« lassen.222 Eine gesunde Empfindlichkeit sei vorteilhaft, sei ohne sie doch keine Tugend möglich, doch dürfe sie nicht über einen bestimmten Grad hinausgehen223 – empfindsam darf der Mensch demnach sein, doch darf er nicht das »affektierte Gewinsel [einer] warmen Seelen« anstimmen.224 Eine durchaus kritische Bestandsaufnahme auch der empfindsamen Literatur, die Christoph Martin Wieland in seinem Zusatz zu den Auszügen einer Vorlesung über die Schwärmerey225 zwar nicht explizit, doch unterschwellig als eine »Krankheit der Seele, eigentliches Nervenfieber« verspottete.226 Wiederum mit dem ersten der Psychologischen Versuche korrespondiert auch der 13. Brief. Hier wie dort zieht Hißmann vor allem Bonnet heran, um über die »Verschiedenheit der sinnlichen Begriffe und Empfindungen« zu referieren. Diese beruhe zum ersten auf den Unterschieden der auf die Empfindungswerkzeuge einwirkenden Gegenstände selbst, zum anderen auf dem Bau der Empfindungswerkzeuge und zum dritten auf der Stärke der auf die Empfindungswerkzeuge einwirkenden Gegenstände. Um die unterschiedlichen Empfindungen ein und desselben Empfindungswerkzeuges, etwa Wohlgeruch und Gestank, zu begründen, führt Hißmann diese mit Bonnet zunächst auf unterschiedliche Nervenfibern zurück. Aber auch hier bleibt dem Adressaten eine eigenständige Reflexion nicht verweigert. »Wenn ich mir«, so Hißmann, die ungeheuere Menge von Fibern überdenke, die zu Folge dieser Hypothese, in einem Nervenfaden eingewickelt liegen, und dann noch die ungleiche Dicke desselbigen Nerven hinzunehmen, in welcher man ihn in verschiedenen Theilen des Körpers antrifft; so scheint sich, in meinem Innersten etwas unbeschreibbares dieser Hypothese zu widersetzen.227

Zwar sei dies kein haltbarer Grund, die Hypothese zu verwerfen, doch fehle Bonnets »Vermuthung« die Bestätigung auf empirischer Basis. Resigniert fügt Hißmann hinzu: »Mich deucht; wir stehen hier an einem Vorhang, den die Natur vor unsern Augen ausgespannt hat, und der auch wahrscheinlich beständig da hangen wird.«228 In den Psychologischen Versuchen ist Hißmann weitaus konkreter. Da Bonnet die Verschiedenheit der Fibern nicht beweisen könne, sei es wahrscheinlicher, dass die Verschiedenheit der Empfindungen von der Verschiedenheit der Eindrücke äußerer Gegenstände auf gleichartige Fibern als von der Verschiedenheit der Fibern herrühre, denn es sei unwahrscheinlich, dass die Natur

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Ebd., S. 153. Ebd., S. 154. Vgl. ebd., S. 154f. Georg Christoph Lichtenberg: Gnädigstes Sendschreiben der Erde an den Mond (s. Anm. 87), S. 406–413, hier S. 410. Vgl. Anonymus: Auszüge einer Vorlesung über die Schwärmerey. In: Der Teutsche Merkur 1775, 4. Vierteljahr, S. 134–151. Christoph Martin Wieland: Zusatz des Herausgebers. In: Der Teutsche Merkur 1775, 4. Vierteljahr, S. 151– 155, hier S. 153. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 172. Ebd.

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sich mit einer solchen Vielzahl von Nervenfibern dem ihr eignenden Ökonomieprinzip Hohn spreche.229 Der Ausführungen über das »Empfinden und Gewahrnehmen« aufgreifende 14. Brief irritiert zunächst. Hißmann verteidigt hier Leibnizens Trennung der seelischen Vorgänge in Apperzeption als dem, was durch ein sinnlich Gegebenes mittels Aufmerksamkeit und Gedächtnis aufgefasst, angeeignet, klar und mit Bewusstsein Wahrgenommenen und Perzeption als eine vage und unscharfe Vorstufe des Denkens, der dunklen Vorstellung.230 Auf dieser Grundlage entwickelt Hißmann seine Auslegung des Systems. Zur – zumindest äußeren – Empfindung gehöre immer ein die Empfindung auslösender gegenwärtiger, mit allen Sinnen wahrnehmbarer Gegenstand. Was aber, wenn dieser Gegenstand nur einen Teil unserer Sinne affiziere, wenn er unsichtbar, aber fühlbar, sichtbar, aber weder riech- noch schmeckbar sei – haben wir es dann mit einer »Empfindung eines äusseren Gegenstandes; oder […] eine[r] bloße[n] Illusion« zu tun?231 Damit ist eine Pattsituation hergestellt. Wolle man unter Einbezug des Kausalgesetzes nicht unphysiologisch argumentieren, so müsse man zugeben, dass das Gehirn der Sitz der Empfindungen und Vorstellungen sei, was also die Seele fühlt, ist ausser ihr, im Gehirn. Auf diese inneren Organe wirkt sie, wenn sie bey der Empfindung leidet, zurück; so wie das Rückwirken eines leidenden Körpers auf das Einwirken einer von jenem Körper verschiedenen Kraft zu erfolgen pflegt.232

Der »eigentliche« Materialist, der »den innern, feinern Organen selbst die Kraft zu empfinden, vorzustellen und zu denken, beylegt«, kenne keine »unkörperliche[] gehirnbewegende[] Kraft«, der »strenge Monadenpsycholog« hingegen spreche den Organen eine empfindende Kraft ab.233 In den Psychologischen Versuchen formuliert Hißmann dieses Dilemma wie folgt: Ist die menschliche Seele eine Monade: so fällt auf einmal die ganze Monadepsychologie weg. Ganz unnütz wird diese letztere deswegen doch nicht. Sie bleibt Philosophie über ein einfaches denkendes Wesen. So gut ist sie immer, als andere Abstraktionen; aber menschliche Psychologie ist sie nicht. […] Ist die menschliche Seele Materie: so müssen wir nothwendig eine neue Psychologie haben, die nur der physiologische und anatomische Psycholog schreiben kann.234

Der 15. Brief greift die Auseinandersetzung mit den klaren und dunklen Vorstellungen des vorhergehenden Briefes, auf der Basis von Johann Nicolas Tetens’ erstem seiner Philosophischen 229 230

231 232 233 234

Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 61f. Vgl. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 177–179; vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, § 14f. (Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Übers. von Artur Buchenau. Mit Einl. u. Anm. versehen von Ernst Cassirer. 2 Bde. Hamburg 1996, Bd. 2, S. 603–621, hier S. 605) sowie die erst 1765 aus dem Nachlass publizierten Nouveaux essais sur l’entendement humain [1703/04], die französisch in Gottfried Wilhelm Leibniz: Œuvres philosophiques latines et françoises. Hg. von Rudolf Erich Raspe. Amsterdam, Leipzig 1765, in deutscher Übersetzung in Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Werke nach Raspens Sammlung. Aus dem Französischen von Johann Heinrich Friedrich Ulrich. 2 Bde. Halle 1778–1780 erschienen, hier Buch II, Kap. 1f. (Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Übers. u. mit einer Einl. von Ernst Cassirer. Hamburg 1996, S. 75– 88). Vgl. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 184–186. Vgl. ebd., S. 188f. Vgl. ebd., S. 189. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 10f.

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Versuche über die menschliche Natur, über »die Natur der Vorstellungen«235 referierend, erneut auf. Auch hier springt Hißmann von dieser Betrachtungsweise in eine scheinbar völlig andere Diskussion, wenn er George Berkeleys (1685–1753) Versuch einer Widerlegung des Materiebegriffs – »das Daseyn der Körperwelt« – mithilfe des Arguments, Ursache und Wirkung seien gleich236 zu widerlegen sucht.237 Bliebe es bei diesem Versuch, so wäre der Argumentation kein Abbruch getan, auch wenn eine Kenntnis von Berkeleys Werk beim Adressaten vorausgesetzt wird. Doch Hißmann geht weiter, indem er darauf verweist, dass Berkeley vielleicht »nicht über seine neuen Gegner siegen« würde, »wenn Reid und Beattie ihm nicht in diesem falschen Argument Recht gegeben hätten«.238 Nicht nur setzt er hier entgegen seinem popularphilosophischen Impetus und ganz im Kontrast zu anderen Theoriedarstellungen die Kenntnis von Thomas Reids (1710–1796) Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense (1764) und James Beatties (1735–1803) Essay on the Nature and Immutability of Truth (1770) bei seinem Adressaten voraus, er verschweigt auch, wer diese »neuen Gegner« sind. Diesen Einschub räsoniert ein Rezensent der Briefe lapidar: »Der Rec. welcher gesteht sie nicht gelesen zu haben, bekömmt aus dieser Probe keine Lust dazu.«239 Die Beantwortung der Fragen im letzten Brief an Herrn P.***, »Denkt die Seele beständig? – Kann sie in einem ungetheilten Augenblick mehr als eine Vorstellung haben?«,240 folgen demgegenüber wieder dem vorgegebenen Schema. Erstere nämlich bejaht Hißmann mit Leibniz, verneint sie aber mit Locke. Letztere verneint Hißmann mit Haller, bejaht sie aber mit Bonnet. Doch bleiben immer Zweifel, welche Argumentation die richtige sei: »Fast solt’ ich glauben, daß die Gründe der Letzteren die Ersteren an Gewicht und Nachdruck übertreffen.«241 Skepsis bleibt so auch beim Adressaten vorhanden. Die Briefe an Madame *** korrespondieren wiederum vor allem mit Passagen aus der Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur.242 Mehr als die »Entwickelung der philosophischen Lehre von den Träumen«,243 die Madame *** von ihm forderte, sind diese Briefe aber Hißmanns komprimiertes Resümee der vor allem in den Briefen an Madame C** geäußerten Kritik am wolffschen System sowie der eigenen Seelenlehre. Ausgehend vom »Grundgesetz der Seelenlehre«,244 der Ideenverknüpfung, formuliert er, da dieses Gesetz durch seine Allgemeinheit »unbestimmt und unbrauchbar« sei, drei Gesetze: Zum einen das »Gesetz der Koexistenz« der Ideen oder Vorstellungen, zum andern das »Gesetz der Aehnlichkeit der Vorstellungen« und zum dritten das Gesetz einer »physischen Verbindung unsrer inneren Organe.«

235 236

237 238 239 240 241 242 243 244

Vgl. Johann Nicolas Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. 2 Bde. Leipzig 1777, Bd. 1, S. 1–165. Vgl. Georges Berkeley: A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge. Dublin 1710 (ders.: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Übers. u. mit einer Einl. von Arend Kulenkampff. Hamburg 2004). Vgl. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 193–195. Ebd., S. 195f. Kästner: [Rez. von] Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 131), S. 163. Ebd., S. 211–227. Ebd., S. 224. Vgl. Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 139), § 82f., S. 171–174. Vgl. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), S. 228. Ebd.

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Ein Einschub im 18. Brief darf als eine polemische Abrechnung mit dem wolffschen System gelten. »Zur Abwechselung« wendet sich Hißmann der »anziehende[n] Frage« zu, ob es Mittel gebe, sein Einschlafen und Aufwachen willkürlich zu beeinflusse. Er habe sich, so Hißmann, einstens des von Leibniz vorgeschlagenen »psychologische[n] Mittel[s]« des Zählens bedient, denn die Zahlen seien die »allermagersten Ideen, am meisten von Assoziationen entblößt«, und die den Menschen am Einschlafen hindernden lebhaften Vorstellungen würden so gemindert: Ich weiß nicht, ob jemand durch diesen Schlaftrank eingeschläfert worden ist. Bey mir hat das Leibnitzische Rezept nie seine gehofte Wirkung gethan. […] Wie ich dieses Mittel zum erstenmal anwenden wollte, wurd’ ich noch mehr um meinen Schlaf gebracht.245

Auch die Lektüre »schleppender, schlechter Bücher«, einer »philosophische[n] oder überhaupt eine[r] dogmatische[n] Schrift« habe keine Wirkung gezeigt, ja sie erzeugte gerade die gegenteilige Wirkung. Denn die Lektüre eines solchen Buches bringe ihn »gegen den Unsinn, den es predigt, auf« und »zuweilen in Ansehung des Verfassers in Hitze und Eifer«: Und so muß ich, ich mag lesen oder nicht, oft halbe Nächte, wider meinen Willen durchwachen; wenn eine halbe Welt schläft.246

Zum willkürlichen Aufwachen hingegen gebe es ein probates Mittel. Man nehme eine den Stunden des vorgesehenen Schlafes entsprechende Anzahl Lorbeerblätter, binde sie einige Zeit vor dem Schlafengehen um sein Haupt und denke immer an die Zahl der Stunden, die man schlafen möchte. Er selbst habe das Umbinden der Blätter weggelassen, doch habe das beständige Denken an dieselben ein Aufwachen zur gewünschten Stunde bewirkt. Das Ungewohnte soll zum Aufwachen mitwirken. […] Man fühlt etwas am Kopf, was man gewöhnlich nicht zu fühlen pflegt. Diese Empfindung störet den Schlaf; man erwacht oft, man steht aber nur gerade zu der Stunde auf, in welcher man aufstehen wollte.247

Der Schluss des 18. wie auch des 20. Briefes darf als eine Aufforderung an die Adressatin gelten, eigene Reflexion zu leisten: »Es mögen da unzehlige mittlere Zustände vorkommen, ehe wir die Eindrücke wahrnehmen, ehe wir erwachen, – klar wahrnehmen, wachen.«248 Im Schlaf aber habe man keine Gewalt darüber, die ganze Aufmerksamkeit auf einen einzelnen Gegenstand zu lenken. Da aber das Gewahrnehmen einer Sache umso leichter falle, je mehr einem an dem Gewahrnehmen liege, man besser beobachte, wenn man es beobachten wolle,249 sei »gelehrten Personen das Gelehrtträumen die natürliche Arbeit«, Schlaf und Traum halte sie nicht vom »ordentlichen Denken« ab. Mehr aber »weiß der Seelenlehrer vom Traum nicht zu sagen, ohne den Vorwurf befürchten zu müssen, er träume selbst. – Mehr erwarten Sie auch von mir nicht.«250 Die Briefe dienen nach dieser zugestanden sehr komprimierten und durchaus eklektischen Übersicht, so darf mit der Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur formuliert werden, einer kritischen, und damit notwendig eklektischen, Bestandsaufnahme der »kitzlichsten Untersu245 246 247 248 249 250

Vgl. ebd., S. 251–253. Vgl. ebd., S. 253f. Vgl. ebd., S. 254–256. Ebd., S. 258. Vgl. ebd., S. 256. Ebd., S. 292.

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chungen in der ganzen Philosophie«, nämlich der »Lehre vom Wesen der Seele«251 in allen ihren Facetten: Zweifeln ist der Weg zur Wahrheit. Nur selten erhärten Demonstrationen, mit unbiegsamen Stolz vorgetragen, die Wahrheit, weil unsre Kenntnisse nur in äußerst seltenen Fällen unveränderlich gewiß sind. Skeptizismus macht wenigstens behutsam. Allgemeiner Zweifel hingegen ist Thorheit.252

Dann ließe sich eine Seelenlehre bauen, die auf Felsen ruhen, und der geschäftigen Anfälle des mit Metaphysik anrückenden Räsonneurs spotten würde.253

6. Hißmanns Konzeption von Popularphilosophie Überblickt man Struktur und Inhalt der Briefe über Gegenstände der Philosophie, so verdichtet sich Hißmanns Konzeption einer populären Philosophie. Schon in der Dedikation seiner Psychologischen Versuche an den Kasselaner Kameralisten Christian Wilhelm Dohm rechnet Hißmann mit den »seichten Nachbeter[n]« der wolffschen Demonstrationen ab, denen [s]eine Beweise, wenn sie auch noch so stark wären, noch immer zu schwach seyn. Eine, ihrem auswendig gelernten System entgegenlaufende Meinung kann ohnmöglich ihrem schadhaften Gehirn eingekeilt werden; weil sie mehrentheils unbiegsame, hartnäckige Demonstranten sind.

Doch zum Glück »für die Philosophie« beginne »dieses Geschlecht seynsollender Weltweisen schon lange den Weg alles Fleisches zu wandern«, »nur noch hie und da [rufe] aus einem unbemerkten Winkel ein unbemerkter Mann von dieser Race hervor. Und wenn er gleich von Morgen bis in die Nacht sich heiser schreyt: so höret ihn ein Mann von Genie nicht.«254 Ein solcher ›Mann von Genie‹ verfalle nicht auf bloßes »Dogmatisiren und Demonstriren«,255 er teile »mit der größten Freymühigkeit [s]eine Gedanken« mit, da der »Geist der Verträglichkeit der beständige Gesellschafter aller derer seyn [müsse], die Philosophen heißen wollen« und »jedermann das Recht [habe], seine Meynung frey heraus zu sagen, und Denken [...] nicht mehr Verbrechen« sei.256 Zweifellos bedient sich Hißmann hier wolffscher Prämissen, um gegen Wolff selbst und die Wolffianer zu argumentieren. Als entscheidende Bedingung für die Möglichkeit philosophischer Reflexion nämlich hatte Wolff die ›libertas philosophandi‹, die uneingeschränkte Freiheit des Denkens erklärt,257 einen Aspekt, den bereits Gottsched gegen die Wolffianer ins Felde führt:

251 252 253 254 255 256 257

Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 14f. Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 139), § 98, S. 189. Ebd., S. 100. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), fol. A3r–A3v. Ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. Christian Wolff: Discursus Praeliminaris de Philosophia in genere. In: ders.: Philosophia rationalis sive Logica (s. Anm. 162), S. 1–140, Cap. VI: De libertate philosophandi, § 151–171, S. 79–104; vgl. demnächst auch Kay Zenker: Denkfreiheit. Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung. Hamburg 2012 [Studien zum 18. Jahrhundert 33].

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Die Freyheit zu philosophiren ist ein so herrliches Vorrecht unsrer Zeiten, daß man sich selbiges auf alle mögliche Weise muß unverletzt zu erhalten suchen. Der Wahrheit Platz zu geben, ist freylich keine Sclaverey, sondern die wahre Freyheit: Allein, wo es auf Meynungen ankommt, die oft gleich wahrscheinliche Gründe vor sich, und gleich wichtige Schwierigkeiten wieder sich haben; da muß man niemandem, als seinem eigenen Urtheil trauen. Wer hier mit fremden Augen lieber, als mit seinen eigenen sehen will, der geräth durch das Vorurtheil des Ansehens endlich in einen blinden Köhlerglauben, der in Wissenschaften noch weit lächerlicher ist, als in der Religion.258

Auch Georg Friedrich Meier stellt das (Selbst-)Denken in seiner Vernunftlehre programmatisch hervor, denn die Vernunftlehre »soll zeigen, wie man philosophisch, vernünftig und gelehrt denken« solle,259 und er wünsche sein Buch von jedermann, »er mag seyn wer er will«, verstanden und gebraucht, wenn dieser jedermann nur die Absicht habe, »vernünftig philosophisch und gelehrt zu denken.«260 Um diesem Wunsche zu entsprechen, dürfe »kein Frauenzimmer und kein Cavalier« davor zurückschrecken, sich der gelehrten Erkenntnis zu stellen,261 denn diese, als von der auch den ungelehrten Menschen zukommenden vernünftigen Erkenntnis unterschiedene,262 lasse sich wiederum differenzieren in eine bloß gelehrte und eine nicht bloß gelehrte Erkenntnis. Erstere ist »ohne alle Schönheit, und besitzt wol noch überdis viele Häßlichkeiten«, letztere hingegen »pranget [...] mit den Schönheiten der Erkentniß«.263 Während die bloß gelehrte Erkenntnis einzig den Regeln der Logik folgt, verbindet die nicht bloß gelehrte Erkenntnis die Regeln der Logik wie die der Ästhetik gleichermaßen. Eine bloß gelehrte Erkenntnis will Meier bloß den Gelehrten von Profession überlassen, denn sie schickt sich für keinen andern vernüftigen Menschen, und wer in seiner Vernunftlehre bloß allein solche Regeln giebt, welche eine Erkentniß zu einer bloß gelehrten Erkentniß machen können, der schreibt eine Vernuftlehre nach Handwerksgebrauch, und die hat ausser den Schulen der Gelehrten keinen Nutzen, weil sie einem iedweden einen Ekel verursacht, der kein Gelehrter von Profeßion werden will und darf. Eine solche bloß gelehrte Erkentniß wird auch allemal pedantisch und lächerlich, weil ein Mensch, der bloß eine soclhe Erkentniß besitzt, nur seinen Zunftgenossen verständlich ist.264

Ihm ist es demgegenüber mit der Vernunftlehre darum zu tun, »nicht nur [den] Verstand erleuchten, sondern auch [den] Willen bessern, und [die] gesamte Wohlfarth befördern« zu helfen,265 also sowohl die oberen als auch die unteren Erkenntnisvermögen gleichermaßen zu aktivieren, was voraussetzt, dass die ›Gelehrten‹ sich bemühen müssen, »Menschen zu bleiben.«266 258

259

260 261 262 263 264 265 266

Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, darinn alle Philosophische Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden. Zum Gebrauch Academischer Lectionen. Leipzig 1733, Vorrede, fol. [)( )( 7r]. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 32), Vorrede, fol. )( 2v; Meiers parallel erschienener, inhaltlich identischer Auszug aus der Vernunftlehre ist weitaus straffer organisiert und im Gegensatz zu der zum Selbststudium anleitenden Vernunftlehre ausdrücklich »zum Gebrauch in [s]einen Lesestunden verfertiget« worden (Georg Friedrich Meier: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle 1752, Vorrede, unpag.); vgl. zu Meiers Popularphilosophie u.a. Böhr: Philosophie für die Welt (s. Anm. 30), S. 44–51. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 32), Vorrede, fol. [)( 3v]. Vgl. ebd., § 35, S. 37. Vgl. ebd., § 34f., S. 35–37. Vgl. ebd., § 38, S. 40. Ebd., § 38, S. 40f. Vgl. ebd., § 594, S. 778. Vgl. ebd., § 630, S. 824.

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Meiers Programm einer populären Philosophie im Sinne einer Verbindung von Verstand und Sinnlichkeit zum Nutzen des Menschen beinhaltet auch die Abkehr von der »trockene[n], nüchterne[n], rauhe[n], scholastische[n] und schulfüchsische[n] Art« des bloß gelehrten Vortrages.267 In eben jene Kerbe der »subtilitas scholasticae«268 schlägt auch Johann Georg Sulzer: »Eines der ersten Bücher«, das er während seiner Schulzeit auf dem akademischen Gymnasium in Zürich »in die Hand nahm und mit großer Begierde las, war Wolf’s deutsche Metaphysik«, ein Werk, welches er nach Stunden ekelhaften, unergiebigen Lernens zur »Erholung« las.269 Dem »berühmten deutschen Weltweisen Wolf« weist er denn in seinem Kurzen Begriff aller Wissenschaften (1745) innerhalb der Philosophie auch eine zentralen Bedeutung zu,270 gleichwohl wäre es aber »noch ein sehr wichtiger Dienst, wenn jemand auf sich nähme«, die »Wolfische Philosophie«, soweit es sich thun läßt, von dem strengen Ansehen der demonstrativen Lehrart zu befreyen und in einer Schreibart vorzutragen, darinn sie jedem nachdenkenden Leser einleuchtend würde.271

Und auch Hißmann anerkennt Wolffs »wichtige Vorzüge, die er vor andern Philosophen und Mathematikern besaß«, gleichwohl schien [a]llein sein Gefühl dieser Vorzüge […] sich, so bald er in gelehrte Streitigkeiten verwickelt wurde, zu verdoppeln, und wenn einer blos aus seinen Streitschriften seinen ganzen Charakter abziehen wolte: so würde in seinem Bilde ein Zusammenfluß von beleidigendem Stolz, und von einer unerträglichen Eitelkeit, als zween sehr bemerkbare Züge, hervorstechen. Er wagte es so gar, Schriften herauszugeben, wie er es mit seinen Streitigkeiten halten wolle. Wenn er nun sprach: so geschahe es in Orakelsprüchen mit einer gewissen Mine der Untrüglichkeit. Da gab er sich für einen Erleuchter des ganzen Erdbodens, für einen Zerstreuer der Nebel und der Finsterniß der Unwissenheit aus, die die ganze Welt be-

267 268 269

270

271

Vgl. Meier: Auszug aus der Vernunftlehre (s. Anm. 259), § 552, S. 153 (im Original hervorgehoben); zum Vortrag als nicht bloß gelehrtem vgl. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 32), § 484–582, S. 651–761. Vgl. Ernesti: De philosophia vitae (s. Anm. 27), S. 169. Vgl. Johann Georg Sulzer’s Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt. Mit Anmerkungen von Johann Bernhard Merian u. Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1809, S. 13: »Nun war zwar die Lust zum Studiren einigermaßen bey mir rege geworden, aber ich war ohne Führer und ohne eigene Begriffe, wie und wo ich die Sache angreifen sollte. Der ehrliche Pfarrer bei dem ich in Pension war, wußte weiter nichts an seinen Pensionärs zu thun, als sie zu ermahnen, fleißig die Bibel zu lesen, als das Buch aller Bücher. Ich besuchte zwar die mir angewiesenen Lektionen der Professoren; aber da sie zum Theil schlecht waren, ich auch gar zu wenig literarische Kenntniß mitgebracht hatte, so ging mir dabey noch kein Licht auf. Zu Hause trieb ich aus Noth meine Sprachen elend grammatisch, wie ich in der Schule gewöhnt worden, und dieses geschah mit Ekel. Doch las ich zu meiner Erholung Wolf’s Metaphysik«. Vgl. Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften, worinn die natürliche Verbindung aller Theile der Gelehrsamkeit gezeiget, auch ein jeder ins besondere nach seinem Innhalt, Nutzen und Vollkommenheit beschrieben wird. Leipzig 1745; 2., ganz veränderte und vermehrte Auflage unter dem Titel Kurzer Begriff aller Wißenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worinn jeder nach seinem Innhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird. Leipzig 1759, § 206, S. 158 (zu Wolff vgl. ebd., § 186–239, S. 139–188); beide Auflagen des Kurzen Begriffs unterscheiden sich v.a. in der wissenschaftlichen Ausrichtung, in der 1. Auflage liegt der Schwerpunkt auf den Naturwissenschaften, erst in der 2. Auflage werden auch literarische und ästhetische Aspekten deutlich hervorgehoben; vgl. Robert Hering: Johann Georg Sulzer. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 1928, S. 265–326, spez. S. 270f.; zum Kurzen Begriff vgl. Hans Erich Bödeker: Konzept und Klassifikation bei Johann Georg Sulzer (1720–1779). In: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. von Martin Fontius u. Helmut Holzhey. Berlin 1996 [Aufklärung und Europa. Beiträge zum 18. Jahrhundert], S. 325–339. Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften 1759 (s. Anm. 270), § 227, S. 178.

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dekte. Aber W o l f ist nicht der einzige Gelehrte, der diese Schwachheit hatte. Die ganze Geschichte der Philosophen ist von Beyspielen voll.272

Die Abkehr vom »Wolfische[n] Zwang«273 bedingt zwangsläufig eine »Reformation [des] Gedanken-Systems«, die sich so etablierende esoterische Philosophie gibt nur darauf acht, »was wir in der menschlichen Sprache Wahrheit nennen«, sie sucht den Abscheu auch vor den entsetzlichsten Paradoxa, die einseitige Denkart, dogmatische Sucht und Abhängigkeit von Mode- und Nationalvorurteilen zu mindern.274 Damit werden ihre Vertreter zu ›echten‹ Philosophen, denn [a]echte Philosophen sind nicht zum Erfinden einiger Hypothesen bestimmt, worüber sie streiten können: eine erhabnere Pflicht liegt ihnen auf, – die gefährlichen Abweichungen ihres Zeitalters zum Aberglauben, und Unglauben, zu verhüten, und von Zeit zu Zeit solche Lehren unter das allgemeine Gedanken-System zu mischen, wodurch der philosophische Geist neues Leben, oder eine bessere Richtung erhält. Dazu gehört mehr, als das Compendium der Philosophie aus der Dogmatik, und diese wieder aus der erstern zu erklären.275

Die exoterische Logik hingegen kann als »Vorläuferin der Philosophie« dazu dienen, »junge Begrifflose Leute«, die ansonsten zur vorbehaltlosen Übernahme bestehender Systeme gezwungen wären, an eine »von Vorurtheilen freie Denckungsart« heranzuführen, die es ihnen ermöglicht, über Dinge zu philosophieren, die »auf unsere Bestimmung einen weit unmittelbareren Einfluß haben, als viele speculativische«, aber in Systeme gedrängte.276 Doch ist der exoterische Philosoph […] verpflichtet, sich in dem Vortrage seiner Grundsätze nach der öffentlichen Religion, dem Zustande der Gelehrsamkeit, und vorzüglich nach dem allgemeinen Urtheil, worauf man Sitten und Tugend gründet, einzurichten. Der Esoteriker kann sich über alle diese Sachen wegsetzen, nicht um sie zu bestreiten, sondern nur um zu zeigen, wie viel die schwächsten Gründe durch diese gewinnen, und die stärksten verlieren können.277

In eben jenem Verhältnis stehen Hißmanns Briefe und seine Anleitung ebenso wie die Versuche zueinander. Während nämlich letztere »beym Unterricht angehender Lehrlinge« der Philosophie dienen278 bzw. den »seichten Nachbeter[n]« der leibniz-wolffschen Philosophie mit dem »auswendig gelernten System entgegenlaufende[r] Meinung« Alternativen aufzeigen sollen,279 wollen die Briefe zunächst und vor allem darlegen, was Philosophie überhaupt sei. Damit aber wird die Popularphilosophie, sei sie nun eine esoterische, sei sie eine exoterische, nicht zur Ersetzungsinstanz der Schulphilosophie erhoben, ihr inhäriert vielmehr das Moment einer Ergänzung – und damit das einer Philosophie für die Welt.

272 273 274 275 276 277 278 279

Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 142 (Hvhg. im Original). Meiners: Revision der Philosophie (s. Anm. 50), S. 54. Vgl. ebd., S. 133f. Ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 59f. Ebd., S. 132. Vgl. Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 139), S. XI. Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), fol. A3r.

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7. Hißmanns Popularphilosophie in der Diskussion Eines der ›Frauenzimmer‹, denen Hißmann vermutlich seine Briefe zur Lektüre anempfahl, die Fürstin Amalie Gallitzin (1748–1806), Gattin des russischen Gesandten in Paris, Dimitrij Aleksejewitsch Gallitzin (1738–1803), dankte ihm im September 1786 für seine edle Tat: Je me flatte de mettre à profit toutes les vérités, qui seront à ma portée, et croirai ne pouvoir Vous mieux témoigner ma reconnaissance.280

Doch nicht nur bei den »Leserinnen« war die Resonanz positiv, auch das »rezensirende Männergeschlecht«281 nahm die Briefe wohlwollend, doch nicht ohne Kritik auf. Vor allem die Briefe an Madame C** erregten einigen Unmut. »Gerade die fünf ersten Briefe«, so der anonyme Rezensent der Nürnbergischen gelehrten Zeitung, die der Herr Verf. für iedes Frauenzimmer unentbehrlich glaubt, hätten uns bald von allem weitern Lesen abgeschreckt. Unnöthige Weitschweifigkeit, Deklamation und gezierter Ausdruck, die durchaus darinnen herrschen, müssen iedem Unlust und Langeweile erregen. Alles dreht sich darinnen um den Begrif des Philosophen und seiner Dame, der Philosophie, was sie sey und nicht sey, bis endlich nach langem Wörteln eine Erklärung kommt, die wenigstens an eben den Gebrechen, als die vorigen kränkelt.282

Doch treffe dies nur auf diese ersten fünf Briefe zu, der Leser werde im Weiteren für die »Langeweile« der Briefe an Madame C** entschädigt. Denn in den folgenden trage Hißmann die wichtigstens und abgezogensten Lehren mit solcher Bestimmtheit, Klarheit und in einem so bescheidnem Schmucke vor, weiß ganz kurz eignes gesundes Urtheil so gut damit zu verweben, daß wir denen, die dogmatische Trockenheit scheuen und doch gründlichen Unterricht verlangen, nicht leicht einen bessern Lehrer vorschlagen können.283

In eben diese Bresche springt auch der Rezensent der Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, der Mathematiker Abraham Gotthelf Kästner: Was über die vom Hrn. M. H. abgehandelten Gegenstände, besonders in neuern Zeiten, ist geschrieben worden, findet man mit guter Wahl gesammlet, einsichtsvoll geprüft und bescheiden beurtheilt, und diese Briefe können allerdings sowohl zur Unterhaltung, als zur Belehrung und Veranlassung eigenen Nachdenkens empfohlen werden.284

Hiermit bestimmen beide Rezensenten die Briefe als genau das, was bereits Gellert im popularphilosophischen Dialog und mit ihm im Brief verhandelt wissen wollte, nämlich den Leser

280 281 282 283 284

An Hißmann, 18. Sept. 1786, zitiert nach Schuller: Magister Hißmann in Göttingen (s. Anm. 5), S. 9, Anm. 8. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), fol. A3v. Anonymus: [Rez. von] Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 129) S. 631. Ebd., S. 632. [Abraham Gotthelf Kästner]: [Rez. von] Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser, von Michael Hißmann, bey Ettinger 294 Octavs. In: Göttinger Anzeigen von gelehrten Sachen, 118. Stück, 1. Okt. 1778, S. 953–955, hier S. 955.

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»allmählich zum Nachdenken« anzuleiten,285 und zwar ohne die »Schulfüchsereyen« der »Gelehrten von Profeßion« und dem »bloße[n] Schullogicus«.286 Kästner aber gibt eines zu bedenken: »Bey diesem, freylich jetzo gewöhnlichen Verfahren«, d.h. der auf anatomischer und physiologischer Empirie gründenden ›Seelenlehre‹ im Anschluss etwa an Bonnet, sei wenigstens dieser Theil der Naturlehre doch wohl was mehr, als ein Stück der Philosophie, sogar die Grundlage dieser psychologischen Kenntnisse. Hr. M. H. scheint, was er daher entlehnen muß, mit viel Behutsamkeit zu brauchen, bey andern Schriftstellern dieser Art erinnert der Rec. sich, Mißverstand und Uebereilung bey dem, was sie nur abschreiben, wahrgenommen zu haben. Eigentlich müßte, wer so psychologisiren will, selbst Anatomiker seyn.287

Auch in seiner zweiten Rezension der Briefe, in der Allgemeinen deutschen Bibliothek, hebt Kästner diesen Aspekt hervor. Hißmann wolle die Mathematik und auch die Physik von der Philosophie trennen, gleichwohl aber beruhe viel in diesen Briefen auf einem, noch dazu ganz speciellen Theil der Physik, auf Anatomie, und zwar der feinsten, des Gehirns und der Nerven […]. […] Es ist freylich jetzo Mode so Physiologie und Psychologie zu vereinigen. Zu wünschen ist, daß es nur immer vom Anatomiker der zugleich Philosoph ist, oder vom Philosophen, der selbst Anatomiker ist, geschehe.288

In den Psychologischen Versuchen macht Hißmann aber gerade hierauf aufmerksam, denn man müsse »Physiolog und Anatom […] werden, um Psycholog zu seyn.«289 Je »irrdischer man vom Menschen, je materialistischer man von der Seele gedacht, und je mehr man das Monadenforschen verabscheuet« habe, desto »lehrreicher, fruchtbarer und vollkommener« sei selbst die »spekulative Philosophie« geworden. Auf eben dieser Basis seien neue, der »demonstrativische[n] Pedanterie« entgegengesetzte Systeme entwickelt worden, die weitaus wahrscheinlicher seien als der »metaphysische Traum« der Monadologie. Freylich waren die Deutschen unglüklicher Weise die lezten. Condillac, Bonnet, Search, Helvetius, und andre Engländer und Franzosen hatten schon lange gewinkt, und es hielte hart, bis einige würdige Deutsche folgten, die die Wolfische Philosophie nicht hartnäckig noch rechthaberisch gemacht hatte. Nun samlet man Fakta; man giebt auf ihre Folgen Acht; man erklärt sie nicht mehr aus kraftlosen Abstraktionen, sondern befriedigend. Man hat Fakta, man hat Erklärungen; man hat folglich das Brauchbare.290

Wenn, so Hißmann, die menschliche Seele Materie sei, so »müssen wir nothwendig eine neue Psychologie haben, die nur der physiologische und anatomische Psycholog schreiben kann.«291 In seiner transsilvanischen Heimat hingegen fanden die Briefe über Gegenstände der Philosophie einen gänzlich anderen Nachhall. Der lutherische Superintendent und spätere Bischof (1778– 1791) von Siebenbürgen Andreas Funk verbot die Verbreitung der Briefe, was, wie Hißmann in einem Brief an seinen Freund und ehemaligen Kommilitonen Johann Filtsch (1753–1836) 285 286 287 288 289 290 291

Vgl. Gottsched: Abhandlung von Gesprächen überhaupt (s. Anm. 71), S. 24. Vgl. Meier: Vernunftlehre (s. Anm. 32), fol. [)(3r]. [Kästner]: [Rez. von] Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 284), S. 954f. [Kästner]: [Rez. von] Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 131), S. 163f. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 250. Ebd. Ebd., S. 10f.

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schrieb, »nicht nur eines Superintendenten, sondern jedes vernünftigen Menschen unwürdig« sei. Funks »Geschrei« könne, so Hißmann weiter, den aufgeklärten Theil meiner Landsleute unmöglich betrüben. Aber wie viele Schwachköpfe gibt es nicht! Diese müssen auch an dem Verbot eines so unschuldigen Buches Schuld sein. So was hätte mir wahrlich nicht geträumt, wie ich daran arbeitete. – Ich halte diese Briefe nebst meiner Literatur für das Beste, was ich bisher geschrieben habe.292

Zu fragen bleibt aber, warum Funk gerade die Briefe verbot. Die Psychologischen Versuche waren Funk, wie aus Hißmanns Brief an Filtsch hervorgeht, bekannt: Die Bemerkungen, da[ß] ich in meinen psychologischen Versuchen kein Wort von der Freiheit der Seele gesagt, mußten freilich jedem Leser in die Augen springen […] es muß ja jeder einsehen, daß beim Mechanismus der menschlichen Seele, den ich in meinem Buch vortrage, gar keine Freiheit bestehen kann.293

Noch Wolff bringt den theologischen bzw. metaphysischen Determinismus der Willensfreiheit in Anschlag, wenn er davon spricht, dass, insoweit die Seele den Grund ihrer Handlung in sich trage, man ihr »einen Willkühr« zueignete und »daher willkührliches Thun und Lassen« dasjenige nenne, »wovon der Grund in der Seele zu finden« ist. Daher ist »die Freyheit nichts anderes […] als das Vermögen der Seele durch eigenen Willkühr aus zweyen gleich möglichen Dingen dasjenige zu wehln, was ihr am meisten gefället.«294 Doch ist die menschliche Seele als materielle »nicht metaphysisch frei«, wie Hißmann einwendet, gleichwohl aber »kann sie belohnt oder bestraft werden. […] In meiner Literatur steht ein Paragraph im Kapitel von der Metaphysik, wo ich ein Paar Worte darüber beizubringen genöthigt war.«295 In der Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur betont Hißmann, er sei fest davon überzeugt, dass alle Schriftsteller, die »den Beweis dieser Lehre« von der Einfachheit und Immaterialität der Seele antraten, »im Gebrauch fehlerhafter Demonstrationen gleich« seien.296 Oft habe man behauptet, »Denkvermögen und Materie sey ein viereckigter Zirkel«, doch könne der Leser hinsichtlich der Frage, »[o]b es auch Unsinn ist, oder ob es nicht unsinniger ist, die Frage zu verneinen«, sich »nach eignem Nachdenken« aus den von Hißmann vorgestellten Schriften ein Bild machen.297 Denn die Frage nach der »Freyheit der menschlichen Seele« sei »blos spekulativ«, und ein entsprechender Streitpunkt nur dann, wenn man den Blick auf das theologische Argument dieser Behauptung gleich einer Richtschnur in der Frage erblicke: Was wird der Mensch nach dem Tode? Die Frage nämlich – »Ist der Mensch metaphysisch frey?« – könne

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Zitiert nach Schuller: Magister Hißmann in Göttingen (s. Anm. 5), S. 8f.; Hißmann verweist mit der »Literatur« auf seine Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 139); vgl. hierzu auch Carl Göllner: Die Beziehungen des Aufklärungsphilosophen Michael Hißmann zu seiner siebenbürgischen Heimat. In: Forschungen zur Volks- und Landeskunde 3 (1960), S. 1–97, hier S. 87–89. Zitiert nach Schuller: Magister Hißmann in Göttingen (s. Anm. 5), S. 9. Vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 162), § 518f. (Hvhg. im Original). An Filtsch, zitiert nach Schuller: Magister Hißmann in Göttingen (s. Anm. 5), S. 9. Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 139), § 131, S. 252. Ebd., § 132, S. 253f.

Hißmanns Beitrag zur Popularphilosophie

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man »bejahen und verneinen«, allein blieben »dabey die moralischen Rücksichten völlig gleich«.298 Man kann Materialist seyn, und fest die Unsterblichkeit hoffen. Man kann diese Hofnung haben, und dabey ein Bösewicht seyn. Man kann der rechtschaffenste Weltbürger seyn, und mit der einbrechenden Nacht des Todes eine ewige Nacht erwarten. Drey Sätze, die gleich wahr sind.299

In den Psychologischen Versuchen macht er noch eindringlicher auf dieses moralische Dilemma aufmerksam: Ich glaube an die Unsterblichkeit meiner Seele, und glaube eben so zuversichtlich an ihre Materialität. Und wenn ich auch das erste nicht glauben sollte: so müste ich doch tugendhaft seyn; denn ich will glücklich seyn. Tugend ist mir für sich liebenswürdig, ohne Rücksicht auf Lohn und Strafe. Sie flößt mir Gefühl zur Rechtschaffenheit ein, ehe ich noch meine ewige Vortheile mit algebraischer Genauigkeit berechne. So muß ein Weltbürger fühlen und denken. Hinsicht auf ewige Strafe oder Lohn fesselt und macht Sklaven, ohne je die Brust mit Rechtschaffenheit anzufüllen.300

Der Grund, warum Funk gerade die Briefe über Gegenstände der Philosophie verbot, mögen in ihrer spezifischen Kommunikationsform gelegen haben. Die Psychologische Versuche richten sich dem Untertitel zufolge an ein eingeschränktes Publikum, den dogmatischen wie »uneingenommenen untersuchenden Metaphysiker«, den »esoterische[n] Logiker«,301 im weitesten Sinne also an akademische bzw. mit der Materie eingehend bekannten Adressaten. Auch die Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur trägt diesen Adressatenbezug, soll die Schrift Hißmann zufolge doch hauptsächlich in dem Kontext genutzt werden, in welchem er sie »bey [s]einen Vorlesungen zu gebrauchen gedenke.«302 Die Briefe hingegen wenden sich an »Leserinnen und Leser«, ja an die »ganze schöne Welt«,303 forcieren also eine Aufklärung auch über die esoterischen Kreise hinaus. Gerade dies aber scheint Funk ein mehr als großer Dorn im Auge. In einem Brief an Filtsch aus dem Jahre 1778 bitte Hißmann diesen um die »Pasquillen«, die Funk zu verfassen beabsichtigte. Zwar wünsche er diese gar nicht zu lesen, um etwaige Belehrungen von ihm zu erhalten. Dazu ist er kein Judex competens. […] aber neugierig bin ich doch in einem hohen Grad. Ich bitte Sie, schicken Sie mir alles, was Sie haben, mit der ersten Post zu. Schreiben Sie mir dabei, ob er sein Zeug bekanntgemacht und auf welchem Weg, und ob’s stark ausgebreitet ist.304

Ob Funk derartige Schriften publizierte, kann nicht mehr nachgewiesen werden. Handschriftliche Aufzeichnungen Funks deuten aber auf eine generelle Abwehr jedweder ›Aufklärung‹ hin: Überhaupt scheint mir, das Sujet – Aufklärung – an sich selbst ein Steckenpferd der neumodischen literarischen süßen Herrchen, denn so verschieden auch die Begriffe der Aufklärung sind, so versteht doch jedermann so viel darunter, daß eine allgemeine Aufklärung weder tunlich noch gut sei, daß sie

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Ebd., § 134, S. 256f. Ebd., § 133, S. 255. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 13. Vgl. ebd., S. 10f. Vgl. Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur (s. Anm. 139), S. VI. Hißmann: Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 1), fol. A3r. Göllner: Die Beziehungen des Aufklärungsphilosophen Michael Hißmann zu seiner siebenbürgischen Heimat (s. Anm. 292), S. 88.

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Udo Roth der menschlichen Natur weder angemessen noch mit seinen anderswertigen Verhältnissen und Bindungen bestehen könne und endlich schädlich, weil niemand die Grenzen bestimmen kann.305

Man ist fast versucht, des Theologen Funk Äußerung als eine Replik auf Kants Diktum, was Aufklärung eigentlich sei, zu lesen. Denn wie formuliert Hißmann treffend den letzten Satz der Psychologischen Versuche: »Hütet euch, Weltweisen, Seelensklaven zu werden!«306 Aber wie ließe sich eine solche Sklaverei besser bewerkstelligen als mit dem theologischen Argument in »Hinsicht auf ewige Strafe oder Lohn«?307 »Und somit«, schließt der anonyme Rezensent der Nürnbergischen gelehrten Zeitung seine Besprechung von Michael Hißmanns popularphilosophischem Kompendium, empfehlen wir dies Buch nicht dem größten Theil der Damen unsrer Zeit, die, so viel wir wissen, außer ihrer werthen Person, empfindsames Potpourri und tändelnde Mährchen mehr als gesunde Nahrung für Geist und Herz lieben, sondern allen Freunden der Wahrheit und gemeinnütziger Kentniße.308

Unter dem Einfluss der kantschen Transzendentalphilosophie wandelte sich die positive Aufnahme der Briefe Hißmanns – wie all der Schriften, die gemeinhin popularphilosophisch genannt werden – in eine der ›Seichtigkeit‹. »[F]ehlerhafte Schlüsse und ungründliche Beweise«, so Eberstein, finde man allerorten »in allen populären Schriften dieser Zeit«, zu denen neben anderen Meiners Revision der Philosophie, Mendelssohns Briefe über die Empfindungen309 und, wolle man sehen, »was ein Kraft-Genie in der Philosophie vermag«, Herders Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele310 – »ein ganz populäres Gewäsch« – ebenso wie Knolls Sommer-Nächte philosophischen und moralischen Inhalts,311 Hißmanns Psychologische Versuche und seine Briefe.312 Insbesondere aber die Vernachlässigung der Logik, »dieser so reinen Wissenschaft« und Grundlage aller

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Arhivele Statului, Hermannstadt, Konzepte bischöflicher Schreiben, 1712–1791, zitiert nach Göllner: Die Beziehungen des Aufklärungsphilosophen Michael Hißmann zu seiner siebenbürgischen Heimat (s. Anm. 292), S. 88. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 160), S. 279. Ebd., S. 13. Anonymus: [Rez. von] Briefe über Gegenstände der Philosophie (s. Anm. 129), S. 632f. Vgl. Moses Mendelssohn: Briefe über die Empfindungen. Berlin 1755. Vgl. Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume. Riga 1778. Vgl. Heinrich Christoph Friedrich Knoll: Sommer-Nächte philosophischen und moralischen Inhalts in Dialogen und Erzählungen. Erfurt 1778; der Langensalzaer Privatgelehrte Knoll (1752–1786) schrieb neben den Sommer-Nächten nicht nur die Philosophie in anmutigem Gewande in Dialogen und Erzählungen (Reval, Leipzig 1781) und Das Gastmahl oder Der Weise. Eine philosophische Scene in Erzählung mit Dialog (Weimar 1781), gemeinsam mit dem Arnstädter Mediziner Johann Christoph Henckel (1720–1806) auch die Ehrenrettung der Hermetischen Kunst, durch solche chymisch-physikalische Beweise dargethan, die jeder, auch nur mittelmäßige Kenner und Künstler leicht einsehen, selbst nachmachen, und dadurch zugleich überzeugt werden kann und soll: daß Alchymie und Chrysopoeia keine leere Einbildung müßiger Köpfe sey, und noch weniger in die Zauber-Höhle gelehrter Windmacher gehöre. 3 Tle. Erfurt 1785/86. Vgl. Eberstein: Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik (s. Anm. 42), Bd. 1, S. 352–357; der »größte Theil« der genannten Schriften sei »weiter keiner Bemerkung werth«, doch kommt Eberstein nicht umhin zu betonen, Hißmann erkläre im »3ten Briefe die Wolfische Definition der Philosophie für unrichtig«, vgl. ebd., S. 356, Anm. *.

Hißmanns Beitrag zur Popularphilosophie

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Wissenschaften zeige sich in den Schriften aller Popularphilosophen, und man müsse die Logik beklagen, »wenn man sie unter solchen Händen erblickt«.313 Differenzierter als das Urteil Ebersteins hinsichtlich einer generellen Ablehnung der »strenge[n] Methode Hohn« sprechenden, das Gefühl über die »richtende Vernunft« erhebenden Popularphilosophie314 fällt das des Transzendentalphilosophen selbst aus. Während nämlich Kant eine allgemein fassliche Darstellung der Philosophie und das Erfordernis eines populären Vortrags, der sich um lebendige Bilder und konkrete Beispiele bemüht, für durchaus gerechtfertigt hält und vor allem die philosophische Anthropologie um ihres Nutzens für das allgemeine Leben willen »immer nur populär« angewendet wissen will,315 ist die Kritik der reinen Vernunft »keineswegs dem populären Gebrauche angemessen«,316 wie die ganze Logik keinesfalls in einem Duktus vorzutragen sei, der sich zu den »Fähigkeiten und Bedürfnissen derjenigen« herablasse, die »die Logik nicht als Wissenschaft studiren, sondern sie nur brauchen wollen, um ihren Verstand aufzuklären«.317 In der bekannten, sich an der von Feder ›überarbeiteten‹ Rezension von Kants Kritik der reinen Vernunft in den Zusätzen zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen 1782318 entzündenden Auseinandersetzung319 mit Garve,320 die bis zu Garves Tod 1798 sich hinzog und in Kants Vorhaben eines ›Anti-Garve‹ und letztendlich in der Metaphysik der Sitten mündete,321 betont Kant mehrfach, Garve fordere mit Recht, eine jede philosophische Lehre müsse, wenn der Lehrer nicht selbst in den Verdacht der Dunkelheit seiner Begriffe kommen soll – zur Popularität (einer zur allgemeinen Mittheilung hinreichenden Versinnlichung) gebracht werden können.322

Dem »gerechten Vorwurf[]« eines »Mangels der Popularität«, derer jede philosophische Schrift fähig sein müsse, verberge sie sonst »unter einem Dunst von scheinbarem Scharf[s]inn, vermuthlich Unsinn«,323 begegnet Kant aber mit eben der »Ausnahme des Systems einer Kritik des

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Vgl. ebd., Bd. 1, S. 357. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 341. Vgl. Friedrich Christian Starke (Hg.): Immanuel Kants Menschenkunde oder philosophische Anthropologie. Nach handschriftlichen Vorlesungen. Leipzig 1831 [ND Hildesheim 1976], S. 1f. Vgl. Immanuel Kant: KrV A XVIII; vgl. B XXXIV. Vgl. Immanuel Kant: Logik. AA IX, S. 19f. Vgl. Critik der reinen Vernunft. Von Immanuel Kant. [Riga] 1781. 856 S. Octav. In: Zugaben zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen 1782, 3. St., S. 40–48; Graves ›Original‹ erschien gut ein Jahr später, vgl. Mdw. [i.e. Christian Garve]: Kritik der reinen Vernunft, von Immanuel Kant. Riga, 1781. 856 Seiten, in 8. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek. Anhang zum 37.–52. Bd. (1783), 2. Abt., S. 838–862. Vgl. hierzu u.a. Klaus Petrus: »Beschrieene Dunkelheit« und »Seichtigkeit«. Historisch-systematische Voraussetzungen der Auseinandersetzung zwischen Kant und Grave im Umfeld der Göttinger Rezension. In: Kant-Studien 85 (1994), S. 280–302; Dietmar Hermann Heidemann: Kant und das Problem des metaphysischen Idealismus. Berlin, New York 1998 [Kant-Studien. Ergänzungshefte 131], S. 87–94. Zu Garve vgl. Claus Altmayer: Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve. St. Ingbert 1992 [Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 36]. Vgl. etwa Lutz-Henning Pietsch: Topik der Kritik. Die Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie (1781–1788) und ihre Metaphern. Berlin, New York 2010 [Frühe Neuzeit 150], S. 62–64; skeptischer hingegen Bernd Kraft, Dieter Schönecker: Einleitung. In: Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg 1999 [Philosophische Bibliothek 519], S. VII–XXXIX, hier S. XI–XIII. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, Vorrede, AA VI, S. 206. Kant an Garve, 7. August 1783, AA X, S. 336–343, hier S. 339.

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Vernunftvermögens selbst und alles dessen, was nur durch dieser ihrer Bestimmung beurkundet werden kann«: [W]eil es zur Unterscheidung des Sinnlichen in unserem Erkenntniß vom Übersinnlichen, dennoch aber der Vernunft Zustehenden gehört. Dieses kann nie populär werden. Wo wie überhaupt keine formelle Metaphysik; obgleich ihre Resultate für die gesunde Vernunft (eines Metaphysikers, ohne es zu wissen) ganz einleuchtend gemacht werden können. Hier ist keine Popularität (Volkssprache) zu denken, sondern es muß auf die scholastische Pünktlichkeit, wenn sie auch Peinlichkeit gescholten würde, gedrungen werden (denn es ist Schulsprache): weil dadurch allein die voreilige Vernunft dahin gebracht werden kann, von ihren dogmatischen Behauptungen sich erst selbst zu verstehen. Wenn aber Pedanten sich anmaßen, zum Publicum (auf Kanzeln und in Volksschriften) mit Kunstwörtern zu reden, die ganz für die Schule geeignet sind, so kann das so wenig dem kritischen Philosophen zur Last fallen, als dem Grammatiker der Unverstand des Wortklaubens (logodaedalus). Das Belachen kann nur den Mann, aber nicht die Wissenschaft treffen.324

Eben diese ›Unpünktlichkeit‹ war weder Garves noch derjenigen Ziel, die von der »kantischen Schule« als »Popular-Philosophen« tituliert wurden, weil sie nicht bis zu den ersten Gründen der menschlichen Erkenntniß hinausgestiegen sind, und diese in ihrem System nicht aufs Reine gebracht haben, ehe sie über andre Sachen zu philosophiren anfingen.325

Nicht die Gegenstände, die behandelt werden, sondern die Art und Weise, wie man die Gegenstände behandele, machen laut Grave die Popularität aus.326 Und daher müsse »das Ganze Ihres Systems«, wie er Kant auf dessen Forderung nach Aufhebung der Anonymität der Göttinger Rezension schreibt, »wenn es wirklich brauchbar werden soll, populärer ausgedrückt werden«, und es könne auch solchermaßen ausgedrückt werden, »wenn es Wahrheit enthält«.327 Die »kantische[] Schule« hingegen beharrte darauf, dass der »alles zermalmende Kant« die Metaphysik in ihrer Materie und Form so verändert habe, dass sie »gerade das Gegentheil von dem geworden ist, was unsre Pädagogen und Demagogen von ihr wissen«.328 Was die Metaphysik durch Leibniz, Locke, Hume und andere eigentlich geworden sei, »wissen vielleicht nicht zwanzig Gelehrte in Teutschland«, und »unsre Popularphilosophen auf ihren Kathedern und in ihren Schriften« haben ihr Möglichstes getan, um eben die Metaphysik »ziemlich allgemein in Vergessenheit gerathen« zu lassen. Bei dem »grossen Haufen« habe der »Name Metaphysik ungefähr dasselbe Schicksal […], was dem Namen Religion in Paris, und dem Namen Filosofie in Wien zu Theil geworden ist.« Daraus resultiere die Seichtigkeit im Denken, welche mit der Vielleserey und Vielschreiberey unter uns so sehr zugenommen hat, und die eine eben so unzertrennliche Gefährtin unsrer Volksfilosofie als die natürliche Feindin aller Metaphysik ist, erfolgt zum Theil auch aus der Geschwindigkeit und Beträchtlichkeit der

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Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, Vorrede, (AA VI, S. 206). Christian Garve: Von der Popularität des Vortrages [1793]. In: ders.: Vermischte Aufsätze, welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind. Neu herausgegeben und verbessert. Breslau 1796, S. 331–358 [ND in ders.: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. 2 Bde. Hg. von Kurt Wölfel. Stuttgart 1974, Bd. 2, S. (1039)–(1066)], hier S. 353 [S. (1061)]. Vgl. ebd. Garve an Kant, 13. Juli 1783, AA X, S. 328–333, hier S. 331. Vgl. Carl Leonhard Reinhold: Systematische Darstellung aller bisher möglichen Systeme der Metaphysik. In: Der neue Teutsche Merkur 1794, 1. Bd., 1. St., S. 3–18 u. S. 235–256, hier S. 4 (Hvhg. im Original).

Hißmanns Beitrag zur Popularphilosophie

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Fortschritte unsrer Selbstdenker, denen der bey weitem größte Theil unsers lesenden und schreibenden Publikums nicht nachzukommen vermag.329

Die hier apostrophierten »selbstdenkenden Philosophen« sind jedoch nicht die der Popularphilosophie, es sind nicht einmal die, »die sich mit Auflösung speculativer Probleme beschäftigen«.330 Es sind die Transzendentalphilosophen, die eben nicht auf die Formeln der »für sich feststehenden praktischen Grundwahrheiten« bauen, »Formeln die man nicht bezweifeln darf, ohne nicht dadurch seinen Anspruch an den sensus communis, und mit demselben sein Recht an den Namen eines Philosophen einzubüssen.«331 Daraus ergibt sich für Reinhold die grundsätzliche Ablehnung jedweder Popularphilosophie, sei sie im Sinne Ebersteins schrankenlos wie in den systematischen gefangen: Der Popularphilosoph, der sich das Sprichwort: »dass alles menschliche Wissen Stückwerk sey,« zur Maxime macht, begnügt sich mit einem Ganzen, das ohne sein Zuthun aus dem Allerley des Stoffs herauskömmt, der ihm bey seiner Arbeit in die Hände läuft. Was er aus seinen Collectaneen macht, hängt ganz von seiner Willkühr ab; die selten ein anderes Gesetz annimmt, als das ihr seine Absicht: von der möglichstgrössten Menge verstanden zu werden, auflegt. […] Versteht er nun auch die Kunst die herrschenden Meynungen durch Witz und Einbildungskraft aufzustutzen, – oder weiss er den Mangel an diesen Talenten, der bey manchen deutschen Philosophen vielleicht eben so oft eine Folge des zu vielen Docierens, als der Kargheit der Natur ist, durch grosse Belesenheit zu ersetzen; weiss er die Masse des Allgemeinbekannten durch Zusammentragen des Wenigerbekannten zu bereichern: so kann er auf ein zahlreiches Publikum zählen, das den Mann anstaunt, der das Geheimniss besitzt, den nächsten besten Leser durch die leichtverständliche Lectüre eines einzigen Buches (das kaum so viele Groschen, als der blosse Titel der höchsten Würde in der Philosophie, Thaler kostet) zu wirklichen Philosophen, und Sachkennern zu erheben.332

Der Einfluss des lockeschen Empirismus – denn Locke war es, der »Deutschland mit PopularPhilosophen« versah333 – habe wie der des französischen Sensualismus – halfen doch Lockes »Jünger, die galanten Franzosen« die deutsche Popularphilosophie »ausschmücken«334 – durch die bewusste Negation metaphysischer Dogmen zu einer immer weiter um sich greifenden »Freyheit im Denken« geführt, der »streng systematische Vortrag« sei zu ›philosophischen‹ Untersuchungen in »fesselfreyer und geschmackvoller Einkleidung« verkommen. Die »Fackel« einer solcherart des metaphysischen wie auch logischen Tiefsinns ›entkleideten‹ Philosophie sei bis an die »Putztische der Damen« getragen worden, es »wurde nun über jede menschliche, bürgerlich, häusliche Angelegenheit von der grössten bis zur kleinsten in Prosa und in Versen philosophiert«, ja, um die Masse »nur einigermassen in Ordnung zu bringen«, wurden die Anthropologie, die Geschichte der Menschheit, die »Philosophie der Geschichte, der Sprache, der Erziehungskunst u. s. w.« gar in den »Rang der Wissenschaften« erhoben.335 Aus dem neuen Kleid, das Sulzer 1755 der deutschen Philosophie um ihrer inneren Schönheit willen hatte 329 330 331 332 333 334 335

Ebd., S. 3f. Vgl. Karl Leonhard Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag, Jena 1789, S. 27. Vgl. ebd., S. 25. Karl Leonhard Reinhold: Beyträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen. Erster Band das Fundament der Elementarphilosophie betreffend. Jena 1790, Vorrede, S. Vf. (Hvhg. im Original). Vgl. Eberstein: Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik (s. Anm. 42), Bd. 1, Vorrede, unpag. Vgl. ebd. Vgl. Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (s. Anm. 330), S. 4f.

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schneidern wollen,336 war am Ende des Jahrhunderts »ein Kleid aus Stücken von verschiedenen Farben, Stoffen zusammengeflickt« geworden.337

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Sulzer: Vorrede (s. Anm. 25), fol. a4r. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III (s. Anm. 56), S. 431.

III. GESCHICHTE, SPRACHE UND LITERATUR

FRANK GRUNERT

Philosophie und Geschichte Michael Hißmann als Philosophiehistoriker

1. Zur Einführung Vergegenwärtigt man sich das Werkverzeichnis des vergleichsweise jung verstorbenen Michael Hißmann, dann ist sein wiederholt dokumentiertes Interesse an der Geschichte der Philosophie zweifellos auffällig. Ob diese Auffälligkeit bereits hinreicht, um von einem Schwerpunkt seines Œuvres zu sprechen, darf im Moment noch dahingestellt bleiben. Wilhelm Traugott Krug – das immerhin ist festzuhalten – hat in seinem Allgemeinen Handwörterbuch der Philosophischen Wissenschaften genau dies betont. In seinen Augen hatte sich Hißmann »zwar nicht um die Philosophie selbst, aber doch um deren Lit[eratur] und Gesch[ichte] [...] verdient gemacht«.1 Unabhängig davon, ob man sich Krugs Einschätzung anschließen mag oder nicht, sind Hißmanns einschlägige Beschäftigungen mit der Geschichte der Philosophie doch markant genug, um ihre eingehendere Analyse zu rechtfertigen. Was für sein gesamtes philosophisches Schaffen gilt, gilt wohl in noch höherem Maße für seine philosophiehistorischen Studien: Sie sind – soweit absehbar – so gut wie nie Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung gewesen. Freilich mit einer sehr bemerkenswerten Ausnahme. In dem noch immer gültigen Standardwerk zur Philosophiegeschichtsschreibung, der 1973 erschienenen Histoire de l’histoire de la philosophie von Lucien Braun2– herangezogen wird im Folgenden die 1990 publizierte deutsche Übersetzung3– ist von Hißmann sehr wohl die Rede. Hier wird Hißmann in die Philosophiegeschichtsschreibung nach Johann Jakob Brucker einund der Göttinger Popularphilosophie zugeordnet. Er wird als »brillanter Eklektiker«4 bezeichnet, der in seinem sechsbändigen Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte aus den Jahrbüchern der Akademien angelegt eine Art Archiv der Geschichte der Philosophie hat aufbauen wollen. »Das Magazin« – so heißt es bei Braun – »läßt es sich vor allem angelegen sein, verstreute Studien zu 1

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Wilhelm Traugott Krug: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. Stuttgart 1969, Faksimile-Neudruck der zweiten, verbesserten und vermehrten Auflage Leipzig 1832–1838. Bd. II, S. 439. Lucien Braun: Histoire de l’histoire de la philosophie. Paris 1973. Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Aus dem Französischen übersetzt von Franz Wimmer. Bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Johannes Schneider. Darmstadt 1990. Ebd., S. 186.

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sammeln und es ist Hißmanns Ehrgeiz, für die Philosophie und ihre Geschichte das zu leisten, was Walch für die religiöse und Haller für die medizinische Literatur getan hatten: eine kritische Übersicht über die verschiedenen Abschnitte der Philosophie und ihrer Geschichte nach einer vernünftigen Ordnung aufzustellen«.5 Insofern sieht Braun in Hißmanns Geschichte der Lehren von der Assoziation der Ideen ein erstes Ergebnis der »neuen historiographischen Praxis«,6 die ein philosophisches Theorem in seiner historischen Entwicklung verfolgt und auf diese Weise den historisch und philosophisch konstatierbaren Fortschritt der Philosophie vorführt. In der Betonung eines solchen Fortschritts sieht Braun das Spezifikum von Hißmanns philosophiegeschichtlichen Bemühungen, und zwar im Unterschied zu benachbarten Unternehmungen von Christoph Meiners oder Christian Garve – alle drei Philosophen, bzw. philosophischen Schriftsteller, werden von Braun in einem Kapitel zusammen behandelt. Brauns Angaben sind nicht falsch oder sachlich unangemessen, auch wenn es gute Gründe gibt, das Magazin etwas anders einzuschätzen, doch lassen sie sich – angesichts dessen, was Hißmann an philosophiegeschichtlichen Werken hinterlassen hat – nicht nur verfeinern, sondern auch entschieden verbreitern. Auch wenn Hißmann auf philosophiegeschichtlichem Gebiet kein theoretisch reifes und methodologisch abgerundetes Opus vorgelegt hat, dann lassen sich mit Hilfe des vorhandenen Materials doch wesentlich mehr an sachlichen und konzeptionellen Einzelheiten rekonstruieren als der knappe Überblick von Lucien Braun nahelegt. Dabei empfiehlt es sich, die Frage nach der theoretischen bzw. philosophischen Originalität und Produktivität erst einmal auszuklammern. Wenn im Folgenden der Philosophiehistoriker Hißmann mit Blick auf seine philosophiehistorische Konzeption vorgestellt werden soll, dann geht es daher zunächst nur um die philosophiehistorische Erhebung und Herausarbeitung eines philosophiehistoriograpischen Faktums. Im Zentrum des Interesses stehen dabei die Bemerkungen über einige Regeln für den Geschichtsschreiber philosophischer Systeme sowie die Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Die zuerst genannte Schrift ist immerhin an prominenter Stelle, nämlich 1777 im Teutschen Merkur erschienen, und die letztere hat offenbar genug Resonanz erfahren, dass der Verleger sich 1790, also zwölf Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage und sechs Jahre nach Hißmanns Tod, dazu entschloss, eine posthume zweite Auflage zu veranstalten.7 Was zweifellos insofern ein Wagnis dargestellt haben dürfte, als diese zweite Auflage sich von der ersten lediglich durch die Beseitigung der Druckfehler unterscheidet, und das heißt, dass eine eigentlich fällige Aktualisierung, die man von einer Anleitung zur Kenntnis der philosopischen Literatur nach immerhin zwölf Jahren erwarten darf, ausblieb. Was selbstverständlich erhebliche Folgen für die Brauchbarkeit des Werkes mit sich bringt, denn dass eine 1790 erscheinende litterärhistorische Anleitung die achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts einfach unterschlägt, ist wohl kaum zu akzeptieren – so findet nämlich Kants vorkritisches Werk hinreichende Berücksichtigung, nicht aber sein kritisches. Das könnte man – ein wenig malevolent – zwar mit einer typisch Göttinger Sicht auf die Königsberger Transzendentalphilosophie erklären, typisch für das litterärhistorische Genre ist dergleichen aber nicht. Gleichwohl dürfte deut-

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Ebd. Ebd., S. 187. Michael Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Göttingen, Lemgo 1778. Zweite Auflage Göttingen, Lemgo 1790.

Hißmann als Philosophiehistoriker

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lich sein, dass Hißmanns Anleitung zur Kenntniß der philosopischen Litteratur offenbar erfolgreich genug war, um auch unter ungünstigen Bedingungen eine zweite Auflage zu versuchen. In der folgenden Darstellung sollen nun nicht – wie es vielleicht naheläge – die beiden hier hauptsächlich in Rede stehenden Schriften nacheinander analysiert werden, vielmehr scheint es sinnvoll zu sein, Hißmanns Konzept auf der Grundlage dieser Arbeiten eher synthetisierend zu rekonstruieren. Wenn – ausgehend von den Bemerkungen über einige Regeln für den Geschichtsschreiber philosophischer Systeme – dabei der Akzent auf eben diesen von Hißmann formulierten Regeln liegt, die ein philosophiehistorisches Modell vorführen und eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichte und Philosophie erkennen lassen, dann geschieht dies nicht zuletzt aus einem dezidierten Interesse an dem von Hißmann im Rahmen seiner philosophiehistorischen Bemühungen entwickelten bzw. diesen zugrundegelegten Philosophiebegriff.

2. Philosophie als (historisches) Projekt Die 1777 im Teutschen Merkur publizierte kaum dreißig Seiten umfassende Schrift Bemerkungen über einige Regeln für den Geschichtschreiber philosophischer Systeme bietet – wie bereits der vollständige Titel ausweist – neben den angekündigten Regeln zugleich eine äußerst kritische Bewertungen von »Dutens Untersuchungen« sowie eine modellhaft durchgeführte philosophiehistorische Untersuchung »über die angebohrnen Begriffe des Plato, Deskartes und Leibnitz«.8 Louis Dutens’ Recherche sur l’origine des Decouvertes attribuées aux Modernes9 ist in Hißmanns Augen das Gegenbild zu einer im »wahren Geist der Geschichte der Philosophie« betriebenen Philosophiehistorie. Es ist auf deutsch 1772 in Leipzig unter dem Titel Untersuchungen über den Ursprung der Entdeckungen, die den Neuern zugeschrieben werden erschienen, und hätte »nicht ein dienstbarer Geist seinem Buch durch Verteutschung in unserm Vaterlande Leben und Othem (wenn gleich nur ein kränkelndes Leben, und einen kurzen Othem) eingeblasen,« dann wäre »Dutens in Teutschland augenblicklich den Tod schlechter Schriftsteller«10 gestorben. Was Hißmann auf die Behauptung gründet, dass er »fast keine einzige« philosophiehistorische Schrift kenne, »die so tief in Unrath und in den Pfützen historischer Irrthümer« stecke, wie die von Dutens, wobei er ausdrücklich die »planlose, unkritische Geschichte der Philosophie« des von Voltaire so genannten »platten Provinzial-Schöngeistes« Deslandes11 nicht ausnimmt.12 Und Hißmann fährt im kritischen Furor fort:

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Michael Hißmann: Bemerkungen über einige Regeln für den Geschichtschreiber philosophischer Systeme; über Dutens Untersuchungen; - und über die angebohrnen Begriffe des Plato, Deskartes und Leibnitz. In: Teutscher Merkur 4 (1777), S. 22–52. Louis Dutens: Recherches sur l’origine des découvertes attribuées aux modernes, où l’on démontre que nos plus célèbres philosophes ont puisé la plûpart de leurs connoissances dans les ouvrages des anciens & que plusieurs vérités importantes sur la religion ont été connues des sages du paganisme. Paris 1766. Hißmann: Bemerkungen (wie Anm. 8), S. 26. Siehe die mehrfach aufgelegte Histoire Critique de la Philosophie (erste Auflage Amsterdam 1737, weitere Auflagen bzw. Ausgaben: London 1742 und Amsterdam 1756) von André-François BoureauDeslandes. Hißmann: Bemerkungen (wie Anm. 8), S. 25.

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Frank Grunert Diese Untersuchungen durften sich gewiß nicht unter die Augen Teutscher Kenner der philosophischen Geschichte wagen, die unstreitig, was die genauere Auseinandersetzung und Entwicklung der alten Systeme betrifft viel weiter sehen, als die kurzsichtigen Franzosen. Selbst unter den vielen Aufsätzen, die in der Akademie der Innschriften vorgelesen werden, kömmt nur selten eine Abhandlung vor, die der kritische Geschichtsforscher brauchen kann.13

Seine – möglicherweise berechtigte – Kritik dickt Hißmann hier mit nationalen, gar nationalistischen Ausstellungen an. Die Grenze zwischen der richtigen und der falschen Philosophiegeschichtsschreibung ist zugleich durch die nationale Grenze zwischen den kurzsichtigen und daher nicht hinreichend klarblickenden Franzosen und den weiter sehenden und daher umfassender gebildeten und überdies kritischen Deutschen markiert. Obwohl die Unterscheidung zwischen den zumindest philosophiehistorisch inferioren Franzosen und den hinsichtlich ihrer Gelehrsamkeit superioren Deutschen mit einem gewissen Regelmaß den Argumentationsgang des Aufsatzes begleitet, wird dieser zeitübliche Stereotyp indes ohne besondere auffällige Aggressivität gehandhabt. Dass Hißmann im Übrigen die theoretischen Leistungen französischer Denker durchaus zu schätzen wusste, wird durch seine Übersetzungen und seine positive Rezeption französischer Philosophie hinlänglich dokumentiert. In der Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie spielt dieser Nationalismus – wenn ich richtig sehe – denn auch keine, oder doch nur eine untergeordnete Rolle. Hier ist verschiedentlich von »aufgeklärten Nationen«14 die Rede, so dass auf der Basis einer nationalen Unterscheidung die wahrgenommenen und bisweilen mit Wertungen versehenen Differenzen durch das Prädikat »aufgeklärt« wieder miteinander vermittelt werden. Dabei geht Hißmann einigermaßen weit. Denn zu den »aufgeklärten Nationen« gehören auch die »sogenannten barbarischen Völker«, die sich noch vor den Griechen »aus dem Zustand der ungesellschaftlichen Wildheit herausgearbeitet, und in bürgerlichen Gesellschaften zusammengethan haben«.15 Dies manifestiert sich in der Existenz eines »eigenthümlichen Systems von Gesetzen« und in »Religionsbegriffen«, die Hißmann zu den »beträchtlichen Gegenständen der Philosophie rechnet«.16 Gerade in den »Religionssystemen der sogenannten Barbaren«, findet Hißmann »die verwickeltesten Fragen der speculirenden Vernunft, über die Welt und ihre Entstehung, über die Gottheit und ihre Beziehung auf den Menschen«.17 Weil es sich dabei – seiner Auffassung nach – um »natürliche Religion« und um »menschliche, nichttheokratische Gesetzgebung«18 handelt, plädiert Hißmann dafür, als erste Periode der Philosophiegeschichte denjenigen Zeitraum anzusetzen, »in welchem aufgeklärte Nationen, die wir aus zuverlässigen Geschichtschreibern kennen, vor der Entstehung der griechischen Philosophie, in allen Weltteilen philosophiert haben«.19 Die Qualifizierung der so genannten barbarischen Völker als »aufgeklärt« mag erstaunen, ist aber zugleich aufschlussreich. Denn klar ist, dass die Begriffe »Aufklärung« und »aufgeklärt« von der gleichnamigen Epoche und ihren theoretischen Errungenschaften abgelöst sind. Hiß13 14 15 16 17 18 19

Ebd., S. 26. Hißmann: Anleitung (wie Anm. 7), S. 33. Ebd., S. 31f. Ebd., S. 32. Ebd. Ebd. Ebd., S. 33.

Hißmann als Philosophiehistoriker

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mann handhabt einen weiten Aufklärungsbegriff, der es ihm nicht nur erlaubt, von der »griechischen Aufklärung« zu sprechen, was noch vergleichsweise unspektakulär ist, sondern auch die mittelalterliche Scholastik mit »Aufklärung« in Verbindung zu bringen. Vor dem Hintergrund der »verfallenen Wissenschaften« verbreitete sich – so konstatiert Hißmann – mit den theoretischen Bemühungen der »scholastischen Doktoren [...] schon etwas mehr Aufklärung. Allein« – so fügt er hinzu – »sie war barbarisch«.20 Die symptomatische Rede von mehr oder weniger Aufklärung, von einer Aufklärung, die rudimentär und selbst noch barbarisch sein kann, markiert einen Aufklärungsbegriff, mit dem ernsthafte, gehaltvolle und vor allem jenseits des Glaubens angesiedelte theoretische Bemühungen bezeichnet werden, die an Ort und Zeit ihres Entstehens gebunden und daher im genauen Sinne relativ sind. Ihr Wahrheitsgehalt ist nicht zeitenthoben, sondern steht in direkter Relation mit den Gegebenheiten und den Anforderungen ihrer Zeit, und ihre Fähigkeit, diesen Anforderungen zu entsprechen, rechtfertigt es offenbar, sie als »aufgeklärt« zu bezeichnen. Dies wirft ein signifikantes Licht auf den von Hißmann unterlegten Begriff von Philosophie, der aus einer philosophiehistorischen Sicht weitere Konturen erhält, wenn man der Frage nachgeht, mit welchen philosophiehistorischen Verfehlungen sich der immerhin als LeibnizHerausgeber hervorgetretene Louis Dutens21 eigentlich die harsche Kritik Hißmanns eingetragen hat. Abgesehen davon, dass Dutens keinerlei philosophiehistorische Sorgfalt hat walten lassen, wirft Hißmann ihm vor, immer nur das gefunden zu haben, »was er sich zu finden vorgenommen hatte«.22 Und zwar sei er mit »der erklärten Absicht an sein Werk« gegangen, »alle Hauptlehren der Philosophie in irgend einem Alten zu finden«. Dabei sei ihm »jede Stelle willkommen« gewesen, die – wenn sie auch häufig aus dem Zusammenhang gerissen, ja wenn er sie vielleicht auch nie im Zusammenhang gelesen hatte – die Spuren von irgend einem wichtigen philosophischen Satz enthielt, den man für eine Entdeckung der neuern Weltweisen auszugeben pflegte. [...] Aus einem einzigen Wort, dessen eigentliche Bedeutung man zuweilen nicht mit völliger Gewißheit angeben kann, schloß er auf das uralte Daseyn einer ganzen ausgebildeten Theorie.23

Der hier expressis verbis artikulierte methodische Vorwurf, einzelne Textstellen philologisch unangemessen, d. h. ohne Rücksicht auf ihren spezifischen, semantisch bestimmenden Kontext zu würdigen und sie dazu noch ›ideologisch‹, nämlich im Dienst einer vorab formulierten Idee, zu instrumentalisieren, führt zu einer weitergehenden Kritik, die Hißmann interessanterweise gar nicht auf den Begriff bringt, und die doch vor dem Hintergrund seiner historischen bzw. historiographischen Ambitionen die entscheidende sein dürfte: Indem Dutens in den Theorien verschiedener Zeiten nur das jeweils Gleiche aufzufinden sucht, nimmt er der Philosophie die Dynamik ihrer Entwicklung und damit die Produktivität ihrer eigenen Geschichte. Indem sie in der Sicht von Dutens eigentlich nur Varianten Desselben hervorbringt wird die Geschichte in der Philosophie dequalifiziert, die Philosophie selbst wird dadurch statisch und so in gewisser Weise reifiziert. 20 21 22 23

Ebd., S. 79. Vgl. Gothofredi Guillelmi Leibnitii […] Opera omnia, nunc primum collecta, in classes distributa, praefationibus & indicibus exornata, studio Ludovici Dutens. Geneva 1768. Hißmann: Bemerkungen (wie Anm. 8), S. 28. Ebd., S. 26f.

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Blickt man auf die Regeln, die Hißmann dem »Geschichtschreiber philosophischer Systeme« vorgeben will, dann ist es genau diese ahistorische Reifizierung der Philosophie, die Hißmann mit Nachdruck ablehnt. Denn »der aufmerksame Untersucher der Systeme und Meynungen der Weltweisen muß« – so heißt es bei Hißmann – »ausser der kritischen Prüfung seiner Quellen hauptsächlich auf zwey Stücke Rücksicht nehmen: auf die Aufsuchung der neuen Erfindungen, und der auszeichnenden Behauptungen eines jeden großen Mannes; und dann auf die neue Behandlung der schon erfundnen Wahrheiten von den merkwürdigern Genies«.24 Beide Regeln stehen – wie Hißmann betont – in einer »nothwendigen Verbindung«, der Akzent liegt freilich auf der zweiten Regel. Mit ihr wird nämlich die Einsicht realisiert, dass sich die tonangebenden Philosophen nicht nur durch ihren »erfinderischen Geist« auszeichnen, dem wir »mehr oder weniger neue Wahrheiten, oder neue Aussichten in das unermeßliche Reich der Wahrheit zu verdanken« haben, sondern dass es gerade die »neue Art« ist, »alte, bekannte, philosophische Lehren und Grillen« zu »erklären, beweisen, verbinden, benutzen«25, die ihren Lehrsystemen die charakteristischen und damit wirkungsmächtigen Züge verleihen. Diese »neue Art«, und darauf kommt es im Unterschied zu Dutens’ Vorgehen an, variiert nicht Bestehendes, sondern produziert auf der Grundlage des historisch gegebenen Materials etwas in theoretischer Hinsicht Neues. Und so besteht der entscheidende Vorwurf, den Hißmann seinem französischen Gegenspieler macht, eben darin, gar nicht zu untersuchen, »ob nicht das Wesentliche der alten Lehre in den neuern Zeiten ganz verändert werden, und ob wir nicht unter denselbigen Ausdrücken, durch Veränderung der Erklärung ganz neue Theorien haben, an die kein alter Philosoph gedacht hat«.26 Während es also Dutens – zumindest in der Lesart von Hißmann – um den Nachweis der tatsächlichen Identität des Verschiedenen geht, hebt Hißmann umgekehrt auf die spezifische Differenz des vorgeblich Gleichen ab. Damit wird zum einen ein höherer Grad an historischer Genauigkeit reklamiert und zum anderen – und das scheint dann doch interessanter zu sein – ein Philosophiebegriff freilich mehr angedeutet als wirklich ausgeführt, der Philosophie als historisches Projekt begreift, das auf der Basis und mit den Mitteln des historisch gegebenen theoretischen Materials die in der historischen Bewegung vollführte Arbeit von vielen ist. Ein solcher projektiver oder, in einem unspezifischen Sinne, diskursiver Begriff von Philosophie, scheint auch in der Anleitung greifbar zu sein. So betont Hißmann etwa im Vorbericht, dass es gut sei, »wenn man nächst den Köpfen, die den Riß gemacht, auch die Hände kennen lernt, die nach jenem Riß das große Gebäude der Wissenschaften aufgeführt haben. Sogar die Bekanntschaft mit den gelehrten Handlangern, die Sand, Holz, Steine und andere Baumaterialien zusammengetragen haben, kann einem bisweilen nützlich seyn«.27 Und wenn Hißmann in seiner Einleitung erklärt, dass man auch mittelmäßige Schriften kennen muss, etwa wenn sie Aufsehen erregt haben, »indem sich ihr Verfasser die Mine gab, neue Wege entdeckt zu haben«,28 oder wenn andere und womöglich »bessere Schriften« sich auf sie beziehen29, dann 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 27. Hißmann: Anleitung (wie Anm. 7), S. X. Ebd., S. 1. Ebd., S. 3.

Hißmann als Philosophiehistoriker

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scheint auch hier ein Begriff von Philosophie im Hintergrund zu stehen, der diese als ein diskursives Projekt von vielen, und zwar durchaus von unterschiedlich begabten Beteiligten auffasst. Ein auf Entwicklung und Verbesserung zielender Begriff von Philosophie als Arbeit von vielen, deutet sich auch dort an, wo Hißmann auf die nur vorläufige Qualität philosophischer Schriften hinweist, die nur »beziehungsweise« und nur »einstweilen«, d. h. nur so lange als im qualitativen Sinne gut gelten können, wie man keine besseren Arbeiten über dieselben Gegenstände hat. Daher – so Hißmann – muss man diese auch nur »einstweilen kennen«, nämlich »kennen um sie zu vergessen; sobald man bessere zu kennen, und aus besseren mehr Gutes zu lernen, Gelegenheit bekömmt«.30 Diese Vorstellung einer eher projektiven und alles andere als monolithischen Philosophie findet ihren unmittelbaren Niederschlag in einem Teil der von Hißmann betriebenen philosophiehistorischen Praxis. Denn das von Hißmann begonnene und später von Johann Hermann Pfingsten – allerdings nur mit einem einzigen Band – fortgesetzte siebenbändige Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte31 bietet »aus den Jahrbüchern der Akademien« gesammelte Studien anderer, in der Regel fremdsprachiger Autoren und stellt damit im Grunde Arbeitsmaterial zu Verfügung, das weder sachlich in irgendeiner Form abgerundet noch inhaltlich von seinem Herausgeber kommentiert worden ist; selbst offenbare Fehler – so bekundet Hißmann in der Vorrede zum ersten Band – wurden nicht korrigiert.32 Gut möglich, dass diese Form einer vergleichsweise offenen Magazinierung philosophiehistorischer Forschung – Hißmann selbst spricht von einer »Vorrathskammer für die Geschichte der Weltweisheit«33 – die Absage an eine geschlossene und – wenn man so will – autoritative Form der Philosophiegeschichte indiziert; ob dies allerdings tatsächlich so ist bzw. so gemeint ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Denkbare Anhaltspunkte für Hißmanns Vorstellungen geben freilich die von ihm vorgelegte Geschichte der Lehre von der Association der Ideen und die kleine modellhafte Untersuchung »über die angebohrnen Begriffe des Plato, Deskartes und Leibnitz«, mit der Hißmann »im wahren Geist der Geschichte der Philosophie« sein vernichtendes Urteil über die Recherches von Dutens untermauern will. Denn auffällig ist hier, dass Hißmann sich den Details einer einzelnen Frage widmet und die große philosophiehistorische Geste möglichst vermeidet; er arbeitet offenbar lieber auf übersichtlichem Gelände, das die Chance auf ein historisch valides Resultat bietet. Dem dient auch das im Magazin versammelte Material, das allerdings offenbar weniger einer großen Philosophiegeschichte dienen, als vielmehr historische Aufschlüsse und Zugänge zu systematischen Fragen bieten soll. Denn Hißmann kündigt im Vorbericht des zweiten Bandes an, »am Ende«, also nach Abschluss einer umfangreichen Sammeltätigkeit, »die Behauptungen meiner Auktoren über den selbigen Gegenstand ordnen und vergleichen« zu wollen, zumal »die Behandlung solcher Materien, als in diesem Magazin vorkommen, noch lange [s]ein Lieblingsgeschäfte seyn« werden.34 Die historische Arbeit dient insofern nicht zuletzt einer systematischen Absicht, und zwar in dem doppelten Bewusstsein, dass zum einen »der beste Unterricht 30 31 32 33 34

Ebd., S. 5. Michael Hißmann: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte. Band 1–6. Göttingen, Lemgo 1778– 1783. Einen siebten Band legte Johann Hermann Pflingsten 1789 vor. Hißmann: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte, Band 1 (1778) (wie Anm. 31), S. 5. Hißmann: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte, Band 2 (1779) (wie Anm. 31), S. 3. Hißmann: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte, Band 3 (1780) (wie Anm. 31), S. 5.

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in der dogmatischen Philosophie historisch seyn muß«35 und dass zum anderen die historische Vergegenwärtigung der Philosophie über ein unschätzbares Anregungspotential verfügt. Denn die Durchsicht und das wiederholte Nachdenken über die Gegenstände des im Magazin gesammelten Materials verschaffen Hißmann »von ohngefähr Gedanken«, die er »bey einem absichtlichen Aufsuchen nicht würde herausgearbeitet haben«.36 Ob Hißmann also überhaupt auf die eine große und der Sache bzw. den Sachen angemessene Philosophiegeschichte zielt, ist daher noch gar nicht ausgemacht. Dies wird auch durch den knappen, in der Anleitung gelieferten philosophiehistorischen Grundriss nicht deutlicher. Denn dieser Grundriss bleibt in der Anleitung einigermaßen dürftig und wird auch später nicht ausgeführt. Allerdings könnte man – wie Lucien Braun dies tut37 – die Anleitung insgesamt als einen Entwurf zu einem größeren, wenn auch nicht geschaffenen Werk lesen, denn die von ihm gewählte Darstellungsmethode verbindet inhaltliche, chronologische und qualitative Merkmale. In diesem Sinne heißt es in der Einleitung: Die brauchbaren Schriften werden nach ihrem Hauptinhalt klassifiziert, und in der Ordnung aufgezählt, die ihr Alter bestimmt. Wenn man sich nach dieser Methode eine Kenntniß der bessern philosophischen Schriften beyzulegen sucht: so hat man zu gleicher Zeit eine Geschichte des Fortgangs der einzelnen philosophischen Wissenschaften, und der Entwickelung ihrer Hauptgegenstände erworben.38

Insofern bietet die Anleitung zwar in Umrissen das Material für eine umfassendere Philosophiegeschichte, doch als eine unverkennbar in der Tradition der Historia literaria verfassten Schrift, die lediglich Kenntnisse »der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie« vermitteln will, tut sie allerdings auch nicht mehr als genau das. Etwas anderes lassen die Gattungsregeln auch schlicht nicht zu.39

3. Geschichte als »Grundfeste« der Philosophie Die Art und Weise wie Hißmann sein Modell im »wahren Geist der Geschichte der Philosophie« vorführt, ist wahrlich unspektakulär. Es handelt sich um eine rein immanente Rekonstruktion dessen, was bei Platon, Descartes und Leibniz über die angeborenen Begriffe ausgeführt wird. Dies geschieht mit der Hilfe ausführlicher Quellenbefunde und ist – soweit absehbar – sachlich nicht unangemessen. Hißmanns Untersuchungen und Gegenüberstellungen führen auch zu einem am Ende des Aufsatzes explizit benannten Resultat, das dann tatsächlich oder vermeintlich kritisch der traditionellen Philosophiegeschichte, auf jeden Fall aber den Auffassungen von Louis Dutens entgegengesetzt wird. Geschichte ist hier nur durch die Chronologie 35 36 37 38 39

Hißmann: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte, Band 2 (1779) (wie Anm. 31), S. 4. Ebd., S. 6. Vgl. Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte (wie Anm. 3), S. 186. Hißmann: Anleitung (wie Anm. 9), S. 13. Vgl. zur Historia literaria: Helmut Zedelmaier: ›Historia literaria‹. Über den epistemologischen Ort des gelehrten Wissens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert 22 (1998), S. 11–21, sowie die Beträge in: Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007.

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der verhandelten Positionen anwesend. Weil es sich um eine rein immanente Darstellung handelt, bleiben denkbare semantische Qualitäten der Geschichte, die Einfluss auf die Genese der Ideenentwicklung haben könnten, zumindest unerwähnt. Dass dies von Hißmann auch hätte anders gesehen und angelegt werden können, lässt sich anhand der Geschichte der Lehre von der Association der Ideen und mehr noch mit Hilfe der Anleitung zeigen. Denn die Epocheneinteilung der Philosophiegeschichte beruht nicht allein auf historischen Entwicklungen innerhalb der Philosophie, sondern auch auf geschichtlichen Vorgängen, die philosophische Wirkungen mit sich brachten. So wird etwa die dritte Epoche der Philosophie sowohl hinsichtlich ihres Anfangs als auch mit Blick auf ihr Ende durch politischhistorische Vorgänge bestimmt, denn sie setzt mit der politischen und kulturellen Dominanz der Römer über die Griechen ein und endigt mit dem Untergang Roms. Hißmann stellt dazu fest: »Diese Periode schließt sich abermals mit einer merkwürdigen politischen Revolution, die für die Philosophie selbst eben so merkwürdig ist, mit dem Untergang des römischen Reichs; da die Philosophie fast eben so allmählich starb, wie das lateinisch-griechische Kaiserthum«.40 Freilich ist diese semantische Verbindung zwischen (politischer) Geschichte und Philosophie weniger konsequent durchgeführt als dies zu erwarten oder womöglich zu wünschen wäre. Dennoch gibt es sie, und sie hat eine explizite theoretische Basis, die auch in der Anleitung wenn schon nicht ausführlich begründet, so doch wenigstens benannt wird. Denn hier werden Philosophie und Geschichte insofern in eine enge Beziehung zueinander gestellt, als die Philosophie in letzter Konsequenz auf nichts anderem beruht als auf Geschichte, und zwar nicht Geschichte ihrer selbst, im Sinne einer disziplinären Dogmengeschichte, sondern der politischen Geschichte: »Die ganze brauchbare Philosophie« – so heißt es bündig – »ist eine räsonnirende Geschichte«.41 Und das heißt: »Alle ihre allgemeinen Begriffe müssen von wirklichen Dingen abgezogen werden, die man durch Beobachtung und Erfahrung hat kennen gelernt.«42 Daher hat es die Philosophie, insofern sie eine »brauchbare« ist, »nicht mit Welt, oder mit Wesen zu thun, die sich menschliche Köpfe nach ihrem Belieben schaffen, und die folglich auch nirgends als in menschlichen Köpfen existiren«.43 Philosophie ist hier empiristische Philosophie, die ausgehend vom erkenntnistheoretischen Befund geschichtsphilosophisch erweitert und auf die Geschichte der Philosophie angewendet wird. Der etwa noch von Christian Wolff und im Wolffianismus gehandhabte alte, mit Erfahrung identifizierte Historia-Begriff mag hier noch von Ferne durchschimmern, doch ist er wegen der völlig anderen theoretischen Grundlagen faktisch längst überwunden: »Der Philosoph« – so stellt Hißmann fest –»macht aus keinen andern Datis die Beschaffenheiten der Dinge aus, als in so fern er sie beobachtet, aus verschiedenen Gesichtspunkten angesehen, unter verschiedenen Umständen und in verschiedenen Lagen angetroffen hat«.44 Weil klar ist, dass die Verschiedenheiten von Umständen und Lagen eben auch historisch und nicht nur wahrnehmungstechnisch bedingt sind, bzw. die historisch differierenden Umstände und Lagen die Wahrnehmung bestimmen, kann Hißmann in der Tat behaupten, dass »die wahre Geschichte [...] die 40 41 42 43 44

Hißmann: Anleitung (Anm. 7), S. 34. Ebd., S. 91. Ebd. Ebd., S. 91f. Ebd., S. 92.

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Frank Grunert

Grundfeste von der wahren Philosophie«45 ist. Indem Hißmann hier Philosophie inhaltlich an die Geschichte bindet, überwindet er einen rein dogmengeschichtlichen Ansatz, der für die Philosophiegeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts bis dato noch die Regel war und beispielsweise auch noch das epochale Werk von Jacob Brucker bestimmt hatte.46 Dass er dabei nicht nur auf Vorarbeiten von Montesquieu, sondern auch den bereits weit entwickelten geschichtstheoretischen Diskurs in Göttingen beanspruchen konnte, liegt auf der Hand.47

45 46 47

Ebd., S. 92. Vgl. Jacob Brucker: Historia Critica Philosophiae. A Mundi Incunabilis ad nostram usque aetatem deducta. Tomus primus. Lipsiae 1742, S. 10. Vgl. dazu nur: Peter Hanns Reill: Die Geschichtswissenschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Rudolf Vierhaus (Hg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1985. S. 163–193 sowie: Rudolf Vierhaus: Die Universität Göttingen und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. In: Hartmut Boockmann u. Hermann Wellenreuther (Hg.): Geschichtswissenschaft in Göttingen. Göttingen 1987, S. 9–29.

HEINER F. KLEMME

»Die wahre Geschichte ist die Grundfeste von der wahren Philosophie.« Michael Hißmann und die Philosophie der Geschichte

1. Geschichtsphilosophische Positionen Die Geschichtsphilosophie hat im Laufe ihrer Geschichte zwei extreme Ausbildungen erfahren, an die ich einleitend kurz erinnern möchte, um vor ihrem Hintergrund den Beitrag von Michael Hißmann zur Philosophie der Geschichte besser beurteilen zu können. Das eine Extrem ist mit dem Namen von Hegel verbunden und kann exemplarisch an seinen Äußerungen zur Geschichte der Philosophie verdeutlicht werden: Nach Hegel ist die Geschichte in allen ihren Stadien und Schattierungen vernünftig. Sie ist Wahrheitsgeschehen und Versöhnungsakt zugleich. Jedes philosophische System ist der vernünftige Ausdruck seiner Zeit. Weil Vernunft in jedem einzelnen System steckt, ist es lohnend, sich mit jeder einzelnen Philosophie in ihren Besonderheiten zu beschäftigen. Ironischerweise ist es gerade der spekulative Hegel, der aufgrund seiner Konzeption einer sich in der Zeit realisierenden Vernunft eine sachtreue und vorurteilsfreie Philosophiegeschichte anmahnt. Sie ist die Geschichte der Versöhnung des Begriffs mit der Wirklichkeit, in der alles von Bedeutung ist, was jemals gedacht wurde. In der Geschichte ist die »Arbeit des Geistes« als Prozess seiner Selbsterkenntnis greifbar. Diese Arbeit des Geistes, sich zu erkennen, sich zu finden, diese Tätigkeit ist der Geist, das Leben des Geistes selbst. Sein Resultat ist der Begriff, den er von sich erfasst: die Geschichte der Philosophie die klare Einsicht, daß der Geist dies gewollt in seiner Geschichte. […] Die Geschichte der Philosophie ist das Innerste der Weltgeschichte.1

Das andere Extrem, der Historismus2, entsteht als Reaktion auf die Hegelsche Philosophie des absoluten Geistes im 19. Jahrhundert und hat weit reichende Bedeutung für die spätere Existenzphilosophie und Hermeneutik. Es besagt, dass die Geschichte nicht vernünftig, sondern die Vernunft mit ihrer Geschichte identisch ist. Die Vernunft ist zeitgebunden und relativ in ihrem Wahrheitsanspruch. Gerade weil sich die Geschichte als Geschichte des Scheiterns aller absolutistischen Begründungsansprüche entpuppt hat, fühlen wir, wie sich Ernst Troeltsch

1 2

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. In: ders.: Werke in zwanzig Bänden. Hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1971, Bd. XX, S. 456. Siehe dazu Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt a.M. 1983, S. 51ff.

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Heiner F. Klemme

1922 pointiert ausdrückt, den »historischen Relativismus […] überall in allen Gliedern«3. Der historische Relativist ist davon überzeugt, dass wir gewissermaßen im Krebsgang durch die Zeit schreiten: Wir blicken in die Vergangenheit und haben die Zukunft im Rücken. Die Gegenwart ist für uns ein flüchtiger Moment, dessen normativer Sinn permanent durch eine Zukunft verändert wird, die unserem Blickfeld immer entzogen sein wird.4 Im Bewusstsein der Geschichtlichkeit seiner eigenen Existenz kann, wie es Karl Jaspers ausdrückt, der Mensch seiner Geschichtlichkeit nicht mehr entkommen, obwohl er ihr doch so gerne entkommen würde. Doch wir sind nicht in der Lage, einen »archimedischen Punkt außerhalb der Geschichte« einzunehmen, so dass wir »gleichsam in der Mitwissenschaft mit der Schöpfung nicht mehr ganz und gar an die Geschichte verfallen«5 wären. Wenn wir den Historismus als Reaktion auf Hegel begreifen, dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass auch dessen Geschichtsphilosophie als Reaktion auf die vorkantische Vernunftkritik und Vernunftskepsis entstanden ist. Für diesen Historismus avant la lettre steht vor allem Johann Gottfried Herder.6 In seiner 1774 erschienenen Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit beantwortet Herder die Frage nach der eigenen Individualität nicht in den Modi von Vernunftbestimmung und Fortschritt, sondern durch Verweis auf die Partikularität der eigenen Existenz. Interessanterweise findet sich schon bei Herder die später von Jaspers aufgegriffene Archimedes-Metapher, und zwar in seinen Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur von 1766/67: Alle allgemeine Urtheile über die Litteratur eines Landes sind schwer und unsicher. Wo soll man stehen, um sie zu übersehen: hoch über ihr; oder in ihrer Sphäre? Über ihr: wer kann sich dahin heben? ausser der Denkart eines Volks von ihr richtig urtheilen? […] man stand selbst in der Reihe, über die man urtheilen wollte: […] man hätte, wie Archimedes, einen Punkt außer der Welt haben müssen, um die ganze Welt zu bewegen.7

Wo Extreme sind, da findet sich meist auch eine Mitte, eine Mitte jedoch, die in der einen Version mehr zum einen, in der anderen Version mehr zum anderen Extrem neigt. Mehr zum He3

4

5 6 7

Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Tübingen 1922. Zitiert nach ders.: Ethik und Geschichtsphilosophie. Drei Vorträge. Mit einer Einführung von M. Marquardt. Weinheim 1995, S. 30. Ein später Reflex auf diese Position findet sich, was das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft betrifft, bei Arthur C. Danto, dessen Ansicht nach »historische Darstellungen ihrem Wesen nach unvollständig« sind, weil wir die Zukunft nicht kennen: »Und meine These wird lauten, dass eine vollständige Darstellung der Vergangenheit eine vollständige Darstellung der Zukunft zur Voraussetzung haben müsste, so dass man demnach keine vollständige historische Darstellung erlangen könnte, ohne zugleich eine Philosophie der Geschichte zu leisten; so dass also, wenn es keine legitime Philosophie der Geschichte geben kann, es ebenso wenig eine legitime und vollständige historische Darstellung geben kann. Um hier ein berühmtes Resultat der Logik zu paraphrasieren: Es gibt, kurz gesagt, keine logisch folgerichtige, vollständige Darstellung der Geschichte. Unser Wissen um Vergangenes ist, mit anderen Worten, begrenzt durch unser Wissen (oder unsere Unkenntnis) von der Zukunft.« Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M. 1980, S. 38 und S. 37 (die Originalausgabe erschien unter dem Titel: Analytical Philosophy of History. Cambridge 1965). Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949). Frankfurt a.M., Hamburg 1956, S. 259. Siehe u.a. Hans Dietrich Irmscher: Aspekte der Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders. In: Marion Heinz (Hg.): Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus. Amsterdam, Atlanta, GA 1997, S. 5–47. Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin 1877–1913, Bd. I, S. 361, zitiert nach Hans Dietrich Irmscher: Aspekte der Geschichtsphilosophie (s. Anm. 6), S. 13.

Hißmann und die Philosophie des Geschichte

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gelschen Extrem neigt die Position Kants. Sie umfasst drei Dimensionen: (a) Mit Blick auf die Geschichte der Philosophie als Geschichte der sich selbst aufklärenden Vernunft gibt es seiner Auffassung nach, durch glückliche Umstände veranlasst, einen finalen Fortschritt in der Welt, belegt durch eine Schrift, der Kant den Titel Kritik der reinen Vernunft (1781)8 gegeben hat. (b) Der Geschichte äußerer Begebenheiten, definiert durch den Gebrauch, den die Menschen von ihrer äußeren Freiheit machen, dürfen wir ebenfalls durchaus positiv gegenüberstehen, finden wir doch auf der einen Seite in der reinen praktischen Vernunft und ihren Rechtsgesetzen einen Maßstab, an dem wir den Fortschritt der menschlichen Gattung hin zum höchsten politischen Gut, dem ewigen Frieden, messen können, und auf der anderen Seite in der Reaktion der Zuschauer auf die Französische Revolution einen Beweis dafür, dass sich eine in konkreten politischen Ereignissen realisierte Vernunft nicht mehr vergessen wird.9 (c) Den Fortschritt im Gebrauch der inneren Freiheit thematisiert Kant vor allem in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Seine These lautet, dass unser moralisches Streben mit unserem irdischen Tod nicht abgeschlossen ist, und dass wir das Ziel dieses Strebens, die Errichtung einer Tugendgemeinschaft, nur unter Mithilfe Gottes erreichen können.10

2. Hißmanns Darstellung der »Philosophie der Geschichte« Welche geschichtsphilosophische Position vertritt Michael Hißmann? Dass er überhaupt eine geschichtsphilosophische Position vertreten haben könnte, wird durch insgesamt 16 Paragraphen (§§ 41–56) nahegelegt, in denen er sich in seiner 1778 in erster, 1790 in zweiter Auflage erschienenen Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie11 der »Philosophie der Geschichte« widmet. Der Titel macht neugierig: Eine »Philosophie der Geschichte« zeitlich betrachtet nach Voltaire und Herder, aber vor Kant, Hegel und dem Histo8

9 10

11

Siehe den Abschnitt »Die Geschichte der reinen Vernunft« (A 852–884/B 852–856) in der Kritik der reinen Vernunft. Diese »Kantische« Mitte in der Geschichtsphilosophie wird heute in einer schwachen Version von Herbert Schnädelbach vertreten: »Geschichtsphilosophie in Konkurrenz zu den empirischen Wissenschaften vom Menschen oder als Super-Humanwissenschaft gehört wohl schon lange der Vergangenheit an. Ihre Beschränkung auf Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie der Geschichtswissenschaft vermag niemanden zu befriedigen. Vielleicht liegt ihre Zukunft in dem, woran uns Kant erinnert und woran sich auch in den Tagen des Historismus manche erinnerten: in ihrer Funktion als Appendix zur praktischen Philosophie, d. h. als Reflexion auf die gebotenen und realisierbaren Ziele menschlichen Handelns in weltgeschichtlicher Per-spektive.« (Schnädelbach: Philosophie in Deutschland [s. Anm. 2], S. 87). Siehe Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften [u.a.], Berlin 1900ff., Bd. VII, S. 85. So wie der ewige Friede in der realen politischen Welt nur durch einen guten Souverän erlangt werden kann, kann der status naturalis im inneren Freiheitsgebrauch nur durch einen bürgerlichen Zustand überwunden werden, in dem Gott regiert. Siehe Heiner F. Klemme: Die Freiheit der Willkür und die Herrschaft des Bösen. Kants Lehre vom radikalen Bösen zwischen Moral, Religion und Recht. In: Heiner F. Klemme, Bernd Ludwig, Michael Pauen, Werner Stark (Hg.): Aufklärung und Interpretation. Studien zur Philosophie Kants und ihrem Umkreis. Würzburg 1999, S. 125–151. Beide Auflagen sind in Göttingen und Lemgo erschienen. Ich zitiere die »Neue Auflage« im Folgenden der Einfachheit halber nur mit Angabe der Seitenzahl.

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rismus des 19. Jahrhunderts? Wird Hißmann für einen Fortschritt in Philosophie und Wissenschaften auf der einen und den politischen Institutionen auf der anderen Seite plädieren? Sieht er Vernunft in der Geschichte – oder wird Vernunft mit den Meinungen über sie identifiziert, die sich im Verlaufe der Zeit über sie gebildet haben? Wenden wir uns den Paragraphen über die »Philosophie der Geschichte« etwas näher zu, stellt sich jedoch ein Gefühl der Ernüchterung ein. Verwendet Hißmann den Ausdruck »Philosophie der Geschichte«, bezieht er sich in erster Linie auf die Bedeutung, die unsere Beobachtungen und Erfahrungen für die Bildung philosophischer Begriffe haben.12 Wer die Wahrheit verstehen will, muss untersuchen, wie sie sich im Prozess der Erfahrung bildet. So schreibt Hißmann in der »Vorerinnerung«, dass »die ganze brauchbare Philosophie […] eine räsonnirende Geschichte« (91) ist, die auf Begriffen beruht, die wir »durch Beobachtung und Erfahrung« (91) gebildet haben. Wenn wir wahre Aussagen über die Welt treffen wollen, dann müssen wir verstehen, wie wir unsere empirischen Gewissheiten ausbilden. Denn Gewissheit haben wir nur mit Blick auf die Existenz von Gegenständen, mit denen wir durch Erfahrung vertraut sind. »Die wahre Geschichte ist die Grundfeste von der wahren Philosophie. Der Philosoph macht aus keinen andern Datis die Beschaffenheit der Dinge aus, als in so fern er sie beobachtet, aus verschiedenen Gesichtspunkten angesehn, unter verschiedenen Umständen und in verschiedenen Lagen angetroffen hat.« (92) Das unmittelbare Zeugnis unserer Erfahrung können wir jedoch auf zwei Wegen überschreiten: Wir können erstens aus »ähnlichen Beobachtungen« (93) auf die Existenz von Gegenständen schließen, von denen wir nur teilweise Erfahrungen haben. Hierbei handelt es sich um wahrscheinliche Kenntnisse, von denen Hißmann annimmt, dass die »hohe und höchste Wahrscheinlichkeit« dort zur »Gewissheit« wird, wo sie »unser praktisches Leben« betrifft. Zweitens können wir durch die Bildung von Hypothesen aus bekannten Gegenständen auf völlig unbekannte Gegenstände schließen. Ob eine Hypothese unsere Erkenntnis erweitert, hängt davon ab, ob sie einen Wert hat. Wie wir dies jedoch feststellen können, schreibt Hißmann leider nicht. Fragen wir nach der Quelle von Hißmanns These über die Bedeutung der Geschichte für die Philosophie, liegt es nahe, an Christian Wolff zu denken. Wolff unterscheidet in seinem Discursus praeliminaris de philosophia in genere13 zwischen der historischen, der philosophischen und der mathematischen Erkenntnis. Die historische Erkenntnis definiert er wie folgt: »Die Erkenntnis dessen, was ist und geschieht, sei es in der materiellen Welt oder in den immateriellen Substanzen, nennen wir historische Erkenntnis.« Wolff gibt ein Beispiel für eine historische Erkenntnis: Z. B. handelt es sich um historische Erkenntnis, wenn einer aus Erfahrung weiß, daß die Sonne morgens aufgeht, abends dagegen untergeht; daß zu Beginn des Frühlings die Knospen der Bäume aufge-

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Hißmann stellt sich damit in die auf Francis Bacon (Novum organum, 1620) zurückgehende Tradition der empirischen Begriffsbildung. Christian Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere / Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe. Übersetzt, eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. Der Discursus ist ursprünglich als Teil der Philosophia rationalis sive logica (Frankfurt, Leipzig, 1728) erschienen.

Hißmann und die Philosophie des Geschichte

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hen; daß Tiere sich durch Zeugung fortpflanzen; daß wir nichts erstreben, außer wenn es uns gut erscheint.14

Im Unterscheid zur historischen zielt die philosophische Erkenntnis auf die »Erkenntnis des Grundes dessen, was ist oder geschieht«.15 Obwohl die Kenntnis des Grundes mit der Erkenntnis der Tatsache nicht identisch ist, weil es einen signifikanten Unterschied zwischen philosophischer und historischer Erkenntnis gibt, ist die eine auf die andere Form der Erkenntnis angewiesen: Ohne historische keine philosophische Erkenntnis. »Wenn durch Erfahrung dasjenige festgestellt wird, woraus sich anderes, was ist und geschieht oder geschehen kann, begründen läßt, liefert die historische Erkenntnis die Grundlage der philosophischen.«16 Wer nach philosophischer Erkenntnis strebt, darf die historische Erkenntnis nicht vernachlässigen. Wolff drückt dies mit seiner berühmt gewordenen These über den Ehebund zwischen historischer und philosophischer Erkenntnis aus: »Ja für uns soll die Ehe zwischen beiden in der ganzen Philosophie heilig sein.«17 Offensichtlich stimmt Hißmann Wolffs Einschätzung der Bedeutung der historischen für die philosophische Erkenntnis zu (so wie auch Hegel Wolff auf seine Weise zustimmen wird). Beruhen unsere »besten philosophischen Kenntnisse auf Factis«, wie Hißmann in § 42 seiner Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur betont, benötigen wir eine Geschichte, die für den Philosophen brauchbar ist. Wir müssen Regeln kennen, mittels derer die Materialien der Geschichte beispielsweise eines Individuums, eines Staates, der Welt oder von Naturereignissen korrekt und angemessen ausgewählt, geordnet und vorgetragen werden. Der Geschichtsschreiber muss einen philosophischen Geist verraten, damit sein Werk von philosophischer Bedeutung ist. In einem 1777 im Teutschen Merkur publizierten Artikel18 äußert sich Hißmann etwas spezifischer zur Methode. Er fordert von einem »aufmerksamen Untersucher der Systeme und Meynungen der Weltweisen« außer einer »kritischen Prüfung seiner Quellen« vor allem die Rücksichtnahme auf zwei Regeln: Der Untersucher soll erstens die »neuen Erfindungen und ausgezeichneten Behauptungen« eines jeden Philosophen aufsuchen, und er soll zweitens darauf achten, wie die von ihm erforschten Philosophen mit den Wahrheiten umgehen, die schon vor ihnen gefunden worden sind. Hißmann ist davon überzeugt, dass wir in der Philosophie nichts Neues zu erwarten haben. Denn das »kleine ursprüngliche Gebäude der Philosophie [ist] unter den meisternden Händen der spätern Weltweisen mehr durch Versetzung der einzelnen Theile desselben, als durch Erweiterung und durch Hinzufügung neuer Stockwerke verändert«19 worden. Ganz im Sinne dieser Regeln wendet er sich in der Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur den diversen Geschichten zu und prüft, was von den Werken zu halten ist, die über sie

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Wolff, Discursus (s. Anm. 13), § 3. Ebd., § 6. Wolff, Discursus (s. Anm. 13), § 10. Ebd., § 12. Michael Hißmann: Bemerkungen über einige Regeln für den Geschichtsschreiber philosophischer Systeme; über Dutens Untersuchungen; – und über die angebohrnen Begriffe des Plato, Deskartes und Leibniz. In: Der Teutsche Merkur 4 (1777), S. 22–52. Ebd., S. 23.

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geschrieben wurden. Damit stellt er sich in die Tradition der Historia litteraria,20 einer gelehrten Geschichte der bedeutendsten Werke aus den verschiedenen Bereichen des Wissens, in denen diese Werke bibliographisch erfasst sowie kurz inhaltlich vorgestellt und kommentiert werden. – Ich nenne jeweils zunächst die Disziplin und gebe dann einige Hinweise zu Hißmanns Ausführungen zur philosophischen Relevanz einzelner Disziplinen und Werke: Welt- und Staatengeschichte. Hißmann verweist hier unter anderem auf Voltaire, Thukydides und Hume als vorbildliche Autoren (96). Ihre Schriften sind wegen ihres »philosophischen Geistes« (95) hilfreich, auch wenn sie nicht immer als »Chronik« (96) vergangener Ereignisse verlässlich gebraucht werden können. Erwähnenswert ist Hißmanns Bemerkung, dass »die wichtigsten Lehrsätze der Philosophie« durch die wirklichen Weltereignisse nur dann überzeugend bestätigt werden, »wenn unter den allgemeinen Lehren und unter den einzelnen Faktis der Geschichte die Kommunikationslinien deutlich in die Augen fallen, und auch das Herz thätig bewegt.« (98) Naturgeschichte. Die Kenntnisse der »vornehmsten Resultate der Naturgeschichte« (99) sind für die Philosophie wichtig, weil sie die Grundlage für »einige Hauptlehren der Philosophie« (99) sind, »z.B. die Sätze von der ununterbrochenen Kette der Wesen, von der Realität unsrer allgemeinen Begriffe, von Genus und Spezies.« (99) Geschichte der Menschheit: Die – relativ junge – Disziplin der »Geschichte der Menschheit« hat den Menschen »in allen möglichen physischen und sittlichen Zuständen« (101) zum Gegenstand. Welchen Nutzen diese Geschichte jedoch hat, ist Hißmann dem eigenen Bekunden nach aus der Literatur nicht ganz klar geworden. Er unternimmt einen eigenen Bestimmungsversuch: Man könnte die Geschichte der Menschheit vielleicht am deutlichsten durch die Geschichte des Ursprungs und des Fortgangs aller Erfindungen und Einrichtungen der ganzen über den ganzen Erdboden verbreiteten Menschheit beschreiben; der Einrichtungen nemlich, durch welche die Bildung des menschlichen Geschlechts vom niedrigsten Grad bis zur höchsten Stufe bemerkt worden ist, aus welcher man es antrift. (108)

Iselins Geschichte der Menschheit ist hier nach Hißmann zu erwähnen, aber auch Lord Kames Sketches of the History of Man. Die Geschichte der Menschheit wird sodann entsprechend ihrer verschiedenen Gegenstände in neun Paragraphen näher behandelt: Erstens geht Hißmann auf die Physische Geschichte ein, deren Hauptthemen die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier sowie die Bestimmung der verschiedenen Rassen des Menschen sind (vgl. 103). Zweitens folgt die Beschreibung des Naturzustandes (»Stand der Natur«, 104-107). Hißmann stellt die Positionen von Hobbes, Pufendorf und Rousseau dar und weist sie als unbegründet zurück. Hobbes wird zurückgewiesen, weil er unterstellt, dass wir den Naturmenschen mit dem »Spitzbuben, Räuber und Mörder« (105) identifizieren können, zu dem der Mensch wird, wenn er sich gegen die bürgerliche Gesellschaft erhebt.21 Pufendorf irrte sich, weil die Natur »keinem Menschen solche Triebe des Wohlwollens in der Macht und Stärke«, die Pufendorf annimmt, »eingepflanzt« (106) hat. Und schließlich ist Rousseau zurückzuweisen, weil sein »Thiermensch« »ohne 20 21

Siehe Frank Grunert, Friedrich Vollhardt (Hg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007. »Denn Naturmenschen haben nicht das Interesse, den Eigennutz, die Habsucht, die Ungerechtigkeit, die ein ehemaliger bürgerlicher Mensch hat, wenn er das Joch das bürgerlichen Gesellschaft abgeschüttelt hat.« (105)

Hißmann und die Philosophie des Geschichte

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alle Gesellschaft leben und weben« (105) soll, was für den Naturmenschen nach Hißmann aber nicht zutrifft. Lobend hebt er dagegen das Werk von Heinrich Friedrich Dietz (1751–1817) hervor, das den Titel Der Stand der Natur (1775) trägt. Drittens behandelt Hißmann die »Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft« (107–108), wobei er darauf hinweist, dass wir den Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft nicht rechtlich, sondern historisch verstehen müssen. Wir sehen dann – und diesen Gedanken übernimmt Hißmann wohl von Herder –, dass jeder Staat »eine eigne besondere Ursache und Veranlassung zu seiner Bildung gehabt« (108) hat. Viertens folgen Ausführungen über »einzelne Theile der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft« (109111) und fünftens (allerdings nur in Gestalt von Literaturhinweisen) »Philosophische Reflexionen über die Gebräuche und die Geschichte merkwürdiger Staaten« (111–112). Sechstens nimmt Hißmann einen Vergleich zwischen dem »Naturzustand mit dem polizirten bürgerlichen Zustand« (112–114) vor. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das »kummervolle Leben des rohen Wilden« nicht »so abscheulich und schrecklich« (112) gewesen sei, wie Hobbes es darstellt. Es folgt siebtens ein Paragraph über den »Ursprung der Sprache« (114-116), wobei nach Hißmann die »Philosophie der Sprache« (115) zur Psychologie zu zählen ist, und achtens ein Paragraph über die »Geschichte des menschlichen Verstandes« (116–118). Diese Geschichte ist seiner Ansicht nach bisher weder geschrieben worden, noch kann erwartet werden, dass sie angesichts eines zunehmenden Erkenntnisfortschritts jemals geschrieben werden wird (117). Am ehesten ist sie noch als eine Geschichte der Erfindungen und »Geschichte der Künste und Wissenschaften« (118–120) vorstellbar, die nach Hißmann »die lehrreichste Geschichte des menschlichen Geistes ist« (118). Der letzte Paragraph zur Geschichte der Menschheit trägt schließlich den Titel »Philosophie der Geschichte« (120–121). Sein vollständiger Text lautet: Man kann die Geschichte der Welt und der Staaten philosophisch behandeln, ohne eine Philosophie der Geschichte zu liefern. Philosophie der Geschichte besteht nicht in einzelnen philosophischen Reflexionen bey den merkwürdigen Ereignissen der Menschheit. Wer sie schreiben will, muß ganze Jahrhunderte und ganze Welttheile auf einmal umfassen, und die gleichzeitige Lage der Menschheit in mehreren Staaten und Weltgegenden übersehen, und die Einflüsse der Völker aufeinander, und die nächsten und entfernteren Folgen ihrer bedenklichen Unternehmungen, die sie für das unternehmende Volk selbst und für die ganze Welt haben, aufspüren. – Die Deutschen können einen einzigen Versuch dieser Art Aufweisen. Die nachstehende Philosophie der Geschichte eines sonst berühmten Franzosen ist nicht nach dieser Idee gearbeitet. Sie muß aber bemerkt werden, weil sie sich berühmt gemacht hat. (120–121)

Die beiden angesprochenen Titel stammen von Voltaire und Herder, nämlich Voltaires La philosophie de l’histoire (1765) und Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774).

3. Zur Bedeutung von Hißmanns »Philosophie der Geschichte« zwischen Wolff und Herder An Hißmanns kurzen Bemerkungen über die »Philosophie der Geschichte« sind zwei Dinge bemerkenswert: Zum einen zeugen sie von einer Zweideutigkeit des Ausdrucks »Philosophie

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der Geschichte«, über die sich Hißmann nicht klar geworden zu sein scheint. Denn mit Herder liegt uns eine Philosophie der Geschichte vor, die nicht mehr im Sinne der Wolffschen Historia verstanden werden kann. Herders philosophische Betrachtung der Geschichte stellt gerade den Versuch dar, die engen Straßen von Beobachtung und Erfahrung zu verlassen, um uns Menschen, die wir diese Straßen bevölkern, als Individuen zu begreifen, als Wesen also, deren Eigentümlichkeiten niemals nur in allgemeinen Erfahrungsbegriffen vorgestellt werden können. Mit Herder wird aus der Historia die Geschichtlichkeit. Mit dem Übergang von der Geschichte zur Geschichtlichkeit der eigenen Existenz ist bei Herder eine spezifische Darstellungsweise, die Analogia poetica, verbunden, von der mir – und dies ist der zweite bemerkenswerte Punkt – nicht ganz klar ist, warum sie von Hißmann wenn nicht gelobt, dann doch zumindest nicht kritisiert wird. Unklar bleibt, was Hißmann an Herders Ansicht geschätzt haben könnte, wonach wir einen »Plan des Fortstrebens«22 der Menschheit erkennen können, weil alles Geschehen »ein Werk des Schicksals«23 ist. Herders Philosophie der Geschichte ist methodisch so angelegt, dass sie bei ihrem Versuch, sich der geschichtlichen Kontingenz der eigenen Existenz zu nähern, die Grenzen unserer Erfahrung überschreiten muss, um Plausibilität zu gewinnen. Weil Herders analogische Methode und poetischer Duktus so weit von Hißmanns Methode von Beobachtung und Erfahrung entfernt ist, möchte man fragen, ob Hißmann die Tragweite von Herders Ausführungen, dessen Anti-Mechanismus und Aufklärungskritik, recht verstanden hat. Ist Hißmanns Begriff der Geschichte als Historia im Sinne Wolffs gerade darauf angelegt, zu allgemeinen Aussagen über den Menschen und seiner Erfahrung zu gelangen, zielt Herder auf das Begreifen eines Besonderen, das nur insofern Teil eines Allgemeinen ist, als unsere geschichtliche Existenz ein Moment des allumfassenden Schöpfungsgeschehens darstellt. Die mechanistische Weltauffassung greift zu kurz, weil wir mit ihr unsere Individualität und Geschöpflichkeit nicht denken können. Hißmanns kursorische Ausführungen über die »Philosophie der Geschichte« sind somit als Dokumente des Übergangs zu verstehen zwischen einer Philosophie, die unsere Erkenntnis im Wolffschen Sinne des Wortes historisch betrachtet, und einer Philosophie, die die Selbsterfahrung des Menschen zum Anlass nimmt, nach dem Sinn der eigenen Existenz in einer Welt zu fragen, die, obwohl von Gott erschaffen, uns nur Kontingenzen und immer besondere Umstände der Existenz zu bieten hat, die mehr gefühlt als gedacht werden. Die sinnhafte Erfassung der Einheit des Besonderen, Mannigfaltigen und Kontingenten wird bei Herder auf eine Zeit verschoben, die erst noch kommen wird bzw. dem Schöpfer vorbehalten ist. »Übrigens«, schreibt Herder mit Blick auf die Nationen, »weiß ichs wie du, daß jedes allgemeine Bild, jeder allgemeine Begriff nur Abstraktion sei – Schöpfer allein ists, der die ganze Einheit, einer, aller Nationen, in all ihrer Mannigfaltigkeit denkt, ohne daß ihm dadurch die Einheit schwinde.«24 Und jedem einzelnen Menschen bleibt am Ende aller Tage nur die Frage: »Fragment des Lebens, was warest du?«25 Vor dem Hintergrund von Herders »Philosophie der Geschichte« wird deutlich, dass es Hissmann versäumt hat, klar zwischen einer philosophischen Reflexion auf die Ge22 23 24 25

Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart 1990, S. 36. Ebd., S. 64. Ebd., S. 31; vgl. S. 36 und S. 91–92. Ebd., S. 110.

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schichte und ihre verschiedenen Disziplinen, einer in philosophischer Absicht geschriebenen Historia litteraria auf der einen Seite und der genuinen Geschichtsphilosophie auf der anderen Seite zu unterscheiden. Hißmann wollte nicht nur keinen Beitrag zur Geschichtsphilosophie leisten, er hatte nicht einmal einen klaren Begriff von ihr. Angesichts der Novität dieser Disziplin ein vielleicht zu entschuldigendes Manko seiner rastlosen philosophischen Versuche.

HANS-PETER NOWITZKI

Die Mechanik der Sprache Hißmanns physiologische Sprachphilosophie und ihre anthropologischen Voraussetzungen

1. Zur Einführung Den Naturwissenschaftler und Philosophen Pierre-Louis Moreau de Maupertuis (1698–1759), im Jahre 1745 von Friedrich II. zum Präsidenten der Berliner Académie Royale des Sciences et BellesLettres berufen, beschäftigte Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre u.a. die Frage des wechselseitigen Zusammenhanges von Sprache und Denken. Mit seinen beiden Arbeiten, den Philosophischen Betrachtungen über den Ursprung der Sprachen und die Bedeutung der Wörter1 von 1748 und der Abhandlung über die verschiedenen Mittel, deren sich die Menschen bedient haben, um ihre Vorstellungen auszudrücken2 (1756) trug er dazu bei, dass die Berliner Akademie zu einem Zentrum der aufklärerischen Sprachdiskussion wurde.3 Als 1757 von der Akademie die erste sprachphilosophische Preisaufgabe ausgeschrieben wurde, die nach dem wechselseitigen Einfluss der Meinungen des 1 2 3

Pierre-Louis Moreau de Maupertuis: Réflexions philosophiques sur l’origine des langues et la signification des mots. 1748. Pierre-Louis Moreau de Maupertuis: Dissertation sur les différens moyens dont les hommes se sont servis pour exprimer leur idées. 1756. Er war es auch, auf dessen Betreiben hin Condillac 1749 zum auswärtigen Mitglied der Akademie berufen wurde. Maupertuis’ parallel zu den sprachphilosophischen Arbeiten veranstaltete biologische Untersuchungen zur Fortpflanzung und Vererbung galten der Diskussion der seinerzeit gängigen Präformationstheorie. Beide Vertreter der Präformationstheorie, die Animalculisten wie die Ovulisten, von denen die einen das männliche Samentierchen, die anderen das weibliche Ei als alleinigen Träger der Präformation reklamierten, konfrontierte er mit auch eigenen Untersuchungsergebnissen, die klar erkennen ließen, dass sowohl das männliche Samentierchen als auch das weibliche Ei Erbmerkmale auf die Nachkommen vererbten. Das bedeutete eine Aufweichung des präformationistischen Paradigmas zugunsten einer epigenetischen, ontogenetische Neu- und Umbildung behauptende Auffassung, die schließlich in Caspar Friedrich Wolffs Theoria generationis (1759) mündete. Maupertuis erwog gelegentlich sogar Mutations- und Selektionsmechanismen als transformistisch-evolutive Prinzipien der Entwicklung, die auf Gedanken Charles Darwins vorausdeuten. Auf beiden Betätigungsfeldern, dem der Sprachphilosophie wie dem der Biologie, drang Maupertuis auf historisch-genetische Erklärungsweisen. Vgl. Daniel Droixhe u. Gerda Haßler: Aspekte der Sprachursprungsproblematik in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Joachim Gessinger u. Wolfert von Rahden (Hg.): Theorien vom Ursprung der Sprache. Berlin, New York 1989, Bd. 1, S. 312–358, hier S. 313–315, und Ulrich Ricken: Sprache, Anthropologie, Philosophie in der französischen Aufklärung. Berlin 1984, S. 182–194: Kap.: »Sprache und Evolutionsdenken«.

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Volkes auf die Sprache und der Sprache auf die Meinungen fragte, haben sicher auch Maupertuis’ Philosophische Betrachtungen aus dem Jahre 1748 veranlassend gewirkt, musste doch der darin verfochtene strenge Logizismus Widerspruch seitens der Sensualisten provozieren. Selbst Condillac bewogen sie, die Rolle der Zeichen im Erkenntnisprozess weiter zurückzustufen. Den Preis bekam schließlich der Göttinger4 Orientalist Johann David Michaelis zuerkannt. Er war es dann auch, der in seiner Preisschrift die Berliner Akademiker ermunterte, künftig einmal danach zu fragen, »wie eine Sprache zuerst unter Menschen, die vorhin keine Sprache gehabt haben, entstehen, und nach und nach zu der jetzigen Vollkommenheit und Ausarbeitung gelangen würde«.5 Zwanzig Jahre später, im Jahre 1769, kam man darauf zurück; denn die Preisaufgabe für das Jahr 1771 lautete: »Haben die Menschen, ihrer Naturfähigkeit überlassen, sich Sprache erfinden können? Und auf welchem Wege wären sie am füglichsten dazu gelangt?«6 31 Arbeiten gehen schließlich ein,7 Johann Gottfried Herder kann sich den Preis sichern. Er polemisiert in erster Linie gegen Johann Peter Süßmilch, der, seinerzeit von Maupertuis’ sensualistischer These vom menschlichen Ursprung der Sprache herausgefordert, den Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, verfasst und 1756 auf zwei Sitzungen den Berliner Akademikern vorgetragen und zehn Jahre später schließlich, 1766, publiziert hat.8 Süßmilch sieht in der Annahme des göttlichen Sprach4

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Eine Vielzahl von Beiträgern zu den Berliner Preisfragen entstammen dem Göttinger Umfeld der Georgia Augusta, unter ihnen Johann Heinrich Gottlob von Justi, Abraham Gotthelf Kästner, Johann David Michaelis, Christoph Meiners, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Dietrich Tiedemann und Michael Hißmann (vgl. Hans Aarsleff: The tradition of Condillac. The Problem oft the Origin of language in the eighteenth century and the debate in the Berlin Academy before Herder. In: Dell Hymes (ed.): Studies in the history of linguistics. Traditions and paradigms. Bloomington, London 1974, pp. 93–156, und Cornelia Buschmann: Die philosophischen Preisfragen und Preisschriften der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert. In: Wolfgang Förster (Hg.): Aufklärung in Berlin. Berlin 1989, S. 165– 228, hier S. 219f.Anm. 118.Vgl. auch Gerda Haßler: Sprachtheoretische Preisfragen der Berliner Akademie in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein Kapitel der Debatte um Universalien und Relativität. In: Romanistik in Geschichte und Gegenwart 3.1 (1997), S. 3–26, hier S. 6–10). Johann David Michaelis: Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen. Berlin 1760, S. 78. »En supposant les hommes abandonnés à leurs facultés naturelles, sont-ils en état d’inventer le langage? Et par quel moyens parviendront-ils à cette invention?« Unter ihnen Karl Wilhelm Jerusalem: Daß die Sprache dem ersten Menschen durch Wunder nicht mitgetheilt sein kann; Johann Nicolaus Tetens: Über den Ursprung der Sprachen und der Schrift; und Dietrich Tiedemann: Versuch einer Erklärung des Ursprungs der Sprachen. Auf Tiedemanns Arbeit hat Hißmann in seiner Sprachursprungsschrift ausdrücklich hingewiesen. Zur Preisaufgabe und den dazu eingeschickten Arbeiten vgl. Haßler: Sprachtheoretische Preisfragen (s. Anm. 4), S. 10–16, in extenso Cordula Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin, New York 2003 sowie Dae Kweon Kim: Sprachtheorie im 18. Jahrhundert. Herder, Condillac und Süßmilch. St. Ingbert 2002. Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, in der academischen Versammlung vorgelesen und zum Druck übergeben von Johann Peter Süßmilch. Berlin 1766. Vgl. ebd., Vorrede, Bl. *3a.b: »Eine bey der Königlichen Academie der Wissenschaften, von dem verstorbenen Präsidenten derselben, dem Herrn von Maupertuis verlesene Abhandlung über die Entstehung der Sprache gab mir Gelegenheit, meinen ersten Entwurf über dieser Materie auszuarbeiten und die Unmöglichkeit zu beweisen, daß die erste Sprache ihren Ursprung von Menschen haben könne, woraus sodann nothwendig folget, daß sie von dem anbetungswürdigsten Schöpfer herrühren müsse.«

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ursprungs die einzige Möglichkeit, dem Dilemma zu entkommen, wonach weder Spracherfindung ohne Vernunft noch Vernunftbildung ohne Sprache möglich seien. Herder focht in seiner Schrift jedoch nicht nur mit Süßmilch, sondern auch mit Condillac und Rousseau. Jenem warf er vor, dass er »die Tiere zu Menschen«, und diesem, dass er »die Menschen zu Tieren machte«.9 Condillac behauptete, nicht nur der Mensch, sondern schon das Tier habe Sprache, beide seien also nicht qualitativ unterschiedlichen Wesens. Rousseau hingegen postulierte, der natürlichungesellige Mensch sei durch die Vergesellschaftung entartet;10 indem die Sprache von ihm als ein individuelles, nicht aber soziales Phänomen aufgefasst wird, avanciert ihre langwierige Entstehung und Herausbildung gleichsam zu einem Argument dafür, dass der Mensch eben nicht wesenhaft zur Gesellschaft, sondern zur ungeselligen Einsamkeit bestimmt ist. Gemeinsamkeitsstiftende Sprache ist entartete Sprache und nachgerade ein Verfallsindikator, der den Bruch mit dem Naturzustand und den Abstand zu ihm anzeige.11 Mitte des 18. Jahrhunderts avancierte nicht nur die Anthropologie, sondern auch die Sprachphilosophie zu einem Modethema. Insbesondere »[d]ie Frage vom Ursprung der Sprache«, so Michael Hißmann, »hat die Philosophen der letzten Hälfte unsers Jahrhunderts mehr als irgend ein ehemaliges philosophisches Zeitalter beschäfftigt«.12 Katalysatoren dieser Entwicklung waren Condillacs Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis13 (1746), Diderots Brief über die Taubstummen zum Gebrauch derer, welche hören und sprechen können14 (1751) und Rousseaus Abhandlung über den Ursprung und die Gründe der Ungleichheit unter den Menschen15 (1755). Fragt man indes, wer die Beschäftigung mit der Sprache in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf die Tagesordnung gesetzt hat, wird man in erster Linie auf John Lockes empiristisches Mani9

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Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften für das Jahr 1770 gesezten Preis erhalten hat. Von Herrn Herder. Auf Befehl der Academie herausgegeben. Vocabula sunt notae rerum. Cic. Berlin 1772. Hier zit. nach: Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart 1997, S. 20. Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. In: Jean-Jacques Rousseau: Kulturkritische und politische Schriften in zwei Bänden. 2 Bde. Hg. Martin Fontius. Berlin 1989, Bd. 1, S. 183–315, hier S. 239, 246f., 249. Vgl. dazu Droixhe u. Haßler: Aspekte der Sprachursprungsproblematik in Frankreich (s. Anm. 3), S. 318–326. Rousseau: Abhandlung über den Ursprung (s. Anm. 10), S. 223, S. 227f. und S. 297Anm. 10. Michael Hißmann: Über den Ursprung der Sprache. In: Hannoverisches Magazin. 72. Stück (6. September 1776), Sp. 1145–1152; 73. Stück (9. September 1776), Sp. 1153–1168; 74. Stück (13. September 1776), Sp. 1169–1184, und 75. Stück (16. September 1776), Sp. 1185–1200, hier Sp. 1145. Vgl. auch Michael Hißmann: Vorrede des Übersetzers. In: Über Sprache und Schrift. Aus dem Französischen des Präsidenten von Brosses übersezt, und mit Anmerkungen begleitet, von Michael Hißmann, der Weltweish. Doktor in Göttingen. Erster Theil. Leipzig, 1777, [p. 1]. Étienne Bonnot de Condillac: Essai sur l’origine des connaissances humaines, ouvrage où l’on réduit à un seul principe tout ce qui concerne l’entendement humain. Amsterdam 1746. Hißmann schätzte an Condillac, dass dieser als erster eine »auf Beobachtungen gegründete Seelengeschichte« verfasst habe; im zweiten Teil seines Essai liest man »so viel eigenthümliches und lehrreiches, als man in keinem ältern und in wenigen jüngern philosophischen Schriften beisammen findet«. Deshalb habe er sich auch vorgesetzt, künftig dessen Traité des Sensations (1754) ins Deutsche zu übertragen. (Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntniß. Aus dem Französischen des Abbé Condillac. In zweien Theilen übersezt von Mag. Michael Hißmann in Göttingen. Leipzig 1780, Vorbericht des Herausgebers [S. 1 f.]). Denis Diderot: Lettre sur les sourds et muets à l’usage de ceux que parlent. [o. O.] 1751. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’originé et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. Amsterdam 1755.

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fest, den Versuch über den menschlichen Verstand16 (1690) hinzuweisen haben. Mit ihm war Locke angetreten, »den Ursprung, die Gewissheit und die Ausdehnung des menschlichen Wissens, sowie die Grundlagen und Abstufungen des Glaubens, der Meinung und der Zustimmung zu erforschen«.17 Insbesondere vom 3. Buch, Von den Wörtern überschrieben, ging für die aufklärerische Sprachdiskussion eine kaum zu überschätzende Wirkung aus. In einer von vielen Autoren im 18. Jahrhundert immer wieder zitierten Passage des 9. Kapitels Von der Unvollkommenheit der Worte heißt es angesichts der konstatierten mangelhaften Substanz-Bezeichnungen: Da diese grosse Verwirrung in den Substanz-Namen meistentheils aus der mangelhaften Kenntniss ihrer wahren Verfassung und dem Unvermögen, darein einzudringen, hervorgeht, so wird es auffallen, wenn ich sie mehr den Worten als dem Verstande zur Last lege; es scheint dies so wenig begründet, dass ich mich zur näheren Rechtfertigung meines Verfahrens verpflichtet halte. Ich gestehe, dass bei dem Beginn dieses Werkes über den Verstand, und selbst noch ein gut Theil länger, ich nicht daran dachte, dass auch eine Untersuchung der Worte dazu gehöre. Allein nachdem ich den Ursprung und die Bildung unserer Vorstellungen durchgegangen war, und die Ausdehnung und Gewissheit unseres Wissens zu prüfen begann, fand ich eine so enge Verbindung desselben mit den Worten, dass zuvor ihr Einfluss und die Weise ihrer Bezeichnung untersucht werden musste, ehe ich mich klar und angemessen über das Wissen auslassen konnte, das immer mit Sätzen es zu thun hat, wenn es die Wahrheit bieten will. Wenn diese auch bei den Dingen selbst abschliessen, so liegt es doch grossentheils in der Vermittelung durch Worte, dass die Sätze kaum von dem allgemeinen Wissen trennbar sind. Wenigstens stellen sie sich so sehr zwischen den Verstand und die Wahrheit, die er betrachten und erfassen möchte, dass, gleich dem Medium, durch welches man Gegenstände sieht, ihre Dunkelheit oder Unordnung unsere Augen umnebelt und unsern Verstand täuscht. […] Hätte man indess die Unvollkommenheiten der Sprache, die das Instrument zur Erkenntniss ist, gründlich erwogen, so würden von selbst eine Menge Streitfragen verschwunden sein, die jetzt so viel Lärm in der Welt verursachen, und der Weg zur Wahrheit, und vielleicht auch zum Frieden, würde freier sein, als es jetzt der Fall ist.18

Diesem Hinweis ging zunächst Condillac in dezidierter Weise nach: Er hatte sich nicht nur vorgesetzt, gewisse Inkonsequenzen der Lockeschen Position auszumerzen, sondern darüber hinaus die von Locke nicht gebotene genetische Rekonstruktion der Erkenntnisoperationen vorzuführen. Condillac schließt sich auf diese Weise an Lockes genetisch-psychologische Erkenntnistheorie an und versucht, das empiristische Programm sensualistisch forcierend, alle Erkenntnisse als aus der sinnlichen Erfahrung stammend, als daraus transformistisch resultierend darzustellen. Dabei kommt der Verwendung der Sprachzeichen eine zentrale Rolle zu: Denn Sprache und Denken, so Condillacs Credo, bedingen sich wechselseitig. Kognitive Prozesse lassen sich nicht losgelöst von semiologischen begreifen. Sprachliche Entwicklungen spiegeln kognitive wider, und umgekehrt. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Frage nach dem Ursprung und den Bedingungen von Sprache auch als eine Frage nach dem Ursprung und den Bedingungen von Erkenntnis. Die Sprachursprungsdebatte war nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch anthropologisch dimensioniert, insofern sie gängige philosophische und theologische Interpretationsparadigmata berührte und mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache zugleich auch die 16 17 18

John Locke: An Essay concerning Human Understanding. London 1690. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. 2 Bde. Übersetzt von Julius Heinrich von Kirchmann. Hamburg 1872/3, Bd. 1, S. 30. Ebd., Bd. 2, S. 96f.

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Frage nach dem Ursprung des Menschen und den Bedingungen seines Menschseins aufwarf. Sie barg damit enorme Sprengkraft, griff sie doch tief in das Selbstverständnis der Beteiligten ein: grundlegende weltanschauliche Positionen standen zur Debatte, so die, ob der Mensch natürlicher oder übernatürlicher Abkunft ist, welcher Rang ihm im natürlichen System resp. im göttlichen Schöpfungsplan ›angewiesen‹ ist, was ihn mit dem Tier eint und was ihn von diesem trennt, welcher Art und welchen Umfanges seine Kenntnisse sind usw. In den der Sprachursprungsfrage gewidmeten sprachphilosophischen Arbeiten dokumentieren sich dann auch unterschiedliche Erkenntnisinteressen: Während die einen dem Verhältnis von Sprache und Denken im Rahmen des Erkenntnisprozesses nachsannen, sahen andere auf die anthropologischen Implikationen des Sprachursprungs; wieder andere interessierte nicht so sehr der Sprachursprung, sondern der (hypothetische) Mensch des (hypothetischen) Naturzustandes; wiederum andere rangen um die Rekonstruktion der (hypothetischen) Ursprachen. – All dies erklärt das rege Interesse der Zeitgenossen an der Sprachursprungsfrage und die Vehemenz, mit der gestritten wurde. Orthodox-supranaturalistische Positionen konfligierten mit zumeist maßvoll deistischen, zuweilen aber auch radikal freigeistig-atheistischen Gesinnungen, rationalistische philosophische Denkweisen kollidierten mit empiristisch-sensualistischen Ansätzen. Oft lassen die Kombattanten das Bestreben erkennen, sich nicht an den Rändern des Möglichkeitsfeldes zu situieren; vielmehr versuchten sie dieses auszuloten, um sich anschließend mit ihren Auffassungen irgendwo zwischen den Frontlinien wieder zu finden. Diese Gemengelage gilt es im Blick zu behalten, wenn im kommenden Michael Hißmanns Beitrag zur aufklärerischen Sprachdiskussion behandelt wird. Denn jede dieser Hinsichten lässt sich in Michael Hißmanns Schriften mehr oder weniger stark ausgeprägt entdecken. Fragen des Sprachlichen beschäftigten Hißmann von Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit an, die im Sommersemester 1776 einsetzte. Sie gingen mit seinen psychologischanthropologischen Arbeiten Hand in Hand. So publizierte er im September 1776 im Hannoverischen Magazin eine Abhandlung Über den Ursprung der Sprache.19 Parallel dazu stellte er seine Geschichte der Lehre von der Association der Ideen (1777)20 fertig. Im darauf folgenden Jahr erschienen zunächst seine Psychologischen Versuche (1777), »ein Beytrag zur esoterischen Logik«, kurz darauf die umfänglich kommentierte Übersetzung der Abhandlung über die mechanische Bildung der Sprachen 19

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Die Datierung »1777« im bio-bibliographischen Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts. Die Grammatiker, Lexikographen und Sprachtheoretiker des deutschsprachigen Raums mit Beschreibungen ihrer Werke. Hg. Herbert E. Brekle, Edeltraud Dobnig-Jülich, Hans Jürgen Höller u.a. Band 4: H–I. Tübingen 1996, S. 337f. ist zu korrigieren. Offensichtlich hat der Bibliograph eine Titelauflage des gesamten Jahrgangs des Magazins, nicht aber die einzelnen Hefte in der Folge ihres Erscheinens aufgenommen und sich von der Datierung des Jahrgangstitelblattes irritieren lassen. Seine Sprachursprungsschrift plante er zu einer Separatveröffentlichung auszubauen: »Im Hannoverschen Magazin von diesem Jahr können Sie ein Paar philos. Abhandl von mir lesen; Über den Ursprung der Sprache, (die ich diesen Winter vielleicht in einen eignen Traktat umarbeiten werde).« (Hißmann an Johann Filtsch [Göttingen, 20. Oktober 1776]. In: MS Klein. Slg. Johann Filtsch. Nachlass der Familie Klein im Brukenthal’schen Museum in Hermannstadt, Bll. 202r–203v, hier Bl. 203r–203v). Die Dedikation ist »Göttingen, den 25ten Sept. 1776« datiert; das Werk ist vordatiert (Michael Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen, nebst einem Anhang vom Unterschied unter associirten und zusammengesezten Begriffen, und den Ideenreyhen. Göttingen 1777, S. 4b), da Abraham Gotthelf Kästners anonyme Rezension des Werkes in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen bereits am 5. Dezember 1776, im 146. Stück, S. 1257–1258, erschienen ist.

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und die physischen Prinzipien der Etymologie (1777) des Sprachmechanikers Charles de Brosses (1709–1777) unter dem Titel Über Sprache und Schrift.21 Im Jahre 1778 begann Hißmann mit der Herausgabe des Magazins für die Philosophie und ihre Geschichte, das mit Übersetzungen diverser Akademieabhandlungen aufwartete, darunter die Übertragung von Maupertuis’ Abhandlung aus dem Jahre 1756, Über die verschiedenen Mittel, deren sich die Menschen zur Bezeichnung ihrer Ideen bedienet haben,22 und er veröffentlichte eine Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie.23 Zwei Jahre später, 1780, legte er seine Übersetzung von Condillacs Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntniß24 vor. Noch im selben Jahr erschienen seine Betrachtungen Über die Shanscrita in dem von Georg Christoph Lichtenberg und Georg Forster herausgegebenen Göttingischen Magazin der Wissenschaften und Litteratur.25 Darüber hinaus finden sich auch in vielen seiner philosophisch-psychologischen und kulturgeschichtlichen Werke Bemerkungen linguistischen Zuschnitts. Dass Hißmann mit seinen Arbeiten zur Sprachphilosophie, eigenen wie Übersetzungen gleichermaßen, nicht nur seinen Unterhalt zu sichern suchte, sondern damit in erster Linie programmatisch an der sensualistischen Reformation der Philosophie mitzuwirken beabsichtigte, belegt ein Schreiben des Berliner Oberkonsistorialrats Karl Franz von Irwing, eines vertrauten Freundes Hißmanns, der im November 1780 darauf in aller Deutlichkeit zu sprechen kommt. Darin heißt es u.a.: Die psychologische Seelenlehre ist den Platonisch-Car[tesi]anisch-Leibnitzschen Grundsätzen so sehr entgegen gesetzt, daß sie in ihren weiter ausgebreiteten Folgen, eine beträchtliche Revolution in der neueren Philosophie, die doch meist Leibnitzsche ist, hervorbringen muß. Gegenwärtig ist das noch nicht merklich; Man laße nur aber unsern jungen Philosophen Zeit, die Sachen die sie darüber lesen und hören recht zu verdauen, so wird eine alte Lehre nach der andre anfangen wankend zu werden, und die Philosophie muß ein andres Ansehen bekommen; und ich denke ein besseres, das sich dem 21

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Die Übersetzung unternimmt Hißmann auch, um sich damit den Lebensunterhalt in Göttingen zu sichern: »Bis Ostern liefere ich ein Paar stärkere Werke, davon das eine fertig liegt u. unter einigen Tagen unter die Presse geht; das andere aber vor dem Febr. nicht fertig werden kann, weil ich zu den Anmerkungen noch vieles beysammen haben muß. […] Ich muß jezt immer solche Arbeiten liefern, um bald Brod zu bekommen.« (Hißmann an Johann Filtsch [Göttingen, 20. Oktober 1776]. In: MS Klein. Slg. Johann Filtsch. Nachlass der Familie Klein im Brukenthal’schen Museum in Hermannstadt, Bll. 202r–203v, hier Bl. 203r). Über die verschiedenen Mittel, deren sich die Menschen zur Bezeichnung ihrer Ideen bedienet haben. Aus dem Französischen des Präsidenten von Maupertuis. In: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte. Aus den Jahrbüchern der Akademien angelegt von Michael Hißmann, der Weltweisheit Doktor in Göttingen. Erster Band. Göttingen, Lemgo 1778, S. 62–88. Zu den bibliographischen Angaben vgl. unten Anm. 29. Zu seinen Beweggründen, solch eine ›Litterärgeschichte‹ zu verfassen, äußert er sich vertraulich folgendermaßen: »Ein neues Motif könnte vielleicht eines von meinen Büchern seyn, welches ich gerade in der Absicht geschrieben habe, um zu zeigen, daß ich auch bey einer Bibliothek gebraucht werden kann. Es ist folgendes: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Hannover 1778. 8. Ich habe erst 17 Bogen in Händen. Das ganze Werk aber ist unter der Presse, u. es wird wol 30 Bogen stark werden. […] Ich habe dabey zugleich den Wunsch Brückners zu erfüllen gesucht, der ein solches Buch über alle Theile der Philosophie von mir verlangte.« (Hißmann an Johann Filtsch [Göttingen, 20. Oktober 1776]. In: MS Klein. Slg. Johann Filtsch. Nachlass der Familie Klein im Brukenthal’schen Museum in Hermannstadt, Bll. 204r–204v, hier Bl. 204r). Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntniß (s. Anm. 13). Michael Hißmann: Über die Shanscrita. In: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur 1.4 (1780), S. 269–293.

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gesunden Menschenverstande noch mehr empfiehlt, und auf festern Stützen beruhen wird. Dünkt es Ihnen nicht auch so, daß mit dem bodenlosen Geschwäze über angebohrnen Ideen, und mit der ungegründeten Vorstellung, als wäre unser Körper ein Kerker für die Seele und dabey der Grund alles Bösen und aller Irrthümer, ein Haufen andere daraus herfließende Sätze, nach und nach mit umfallen werden. Der Grundsatz allein, daß alle Erkenntniß ursprünglich von den Sinnen herstammt, kann wenn er erst recht gebraucht werden wird, in der Theorie manchen philosophischen Wissenschaften […] Veränderungen hervorbringen. Locke26 fieng an den Ursprung der Begriffe aufzusuchen, Lambert that desgleichen, aber dabey ist es geblieben, und das kommt, wie mich dünkt daher, weil unsere junge Philosophen theils nicht den rechten Nutzen davon einsehen, theils nicht recht wissen, wie sie es anfangen sollen. Man muß also suchen sie darauf zu leiten. Um deßwillen war es mir angenehm, zu sehen daß Sie Condillacs Werk über den Ursprung der Erkenntniß übersetzt haben. Wenn es doch viele Leser finden wollte; Ihr Vorsatz, auch ebendesselben Werk über die äußern Empfindungen27 zu übersetzen, hat daher meinen ganzen Beyfall.28

Angesichts dessen wird es im Folgenden darum gehen, Hißmanns sprachphilosophische Anschauungen hinsichtlich ihrer Grundlegungen näherhin in den Blick zu nehmen und sie mit zeitgenössischen Ansätzen anderer, hier vor allem Herders, zu vergleichen, um deren eigenständiges Profil kenntlich werden zu lassen.

2. Hißmanns Philosophie der Sprache Die Philosophie der Sprache gehört für Hißmann einmal zur ›Geschichte der Philosophie‹, insbesondere dort, wo es um den Ursprung der artikulierten, aus willkürlichen Zeichen bestehenden Sprache geht.29 Ein anderes Mal wird sie zur ›Psychologie‹ gerechnet,30 deren »vorzüglichste 26

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Hißmann bekennt sich vielerorts zur Philosophie Lockes und Condillacs, etwa in Michael Hißmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt, Leipzig 1977, S. 96f.Anm. *: »Mir hat Locke […] in der ganzen Logik, oder welches einerley ist, in der ganzen Psychologie, mehr Licht gegeben, als irgend ein Schriftsteller. Überhaupt wollte ich einem jeden, dem es um brauchbare Kenntnisse zu thun ist, den offenherzigen Rath geben, sich statt der logischen Vorlesungen über W – – sche, C – – sche, D – – sche, und andre elende Lehrbücher, die noch immer in der Mode sind, lieber Locke’s Versuch anzulegen, so bald er nur einige mittelmäßige Kenntnisse von der Schule auf die Akademie mitbringt.« Und in einem Brief an Johann Bernhard Merian vom 29. September 1780 schreibt er: »Ich ziehe die Lockische u. die Condillacsche Art zu philosophiren [dem Leibnitzischen System] weit vor« (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: A I–VI–10, Bll. 80f.). Vgl. auch Michael Hißmann: Versuch über das Fundament der Kräfte. Bey Gelegenheit der von der kgl. Akademie in Berlin für das Jahr 1779 aufgegebenen Preisfrage. In: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte. Aus den Jahrbüchern der Akademien angelegt 6 (1783), S. 3–110. Darin auch Hißmanns philosophisches Credo: »Wir sind so eingerichtet, daß wir Verstand und Vernunft haben, und daß unser Verstand, der nach gewissen bekannten Gesetzen arbeitet, in einer gewissen Ordnung, mittels der Sinne zu seinen Kenntnissen gelangt, die, so abgezogen und fein sie auch seyn mögen, in der Welt der Phänomene Halt und Basis haben.« (Ebd., S. 41.) Étienne Bonnot de Condillac: Traité des Sensations. A Madame La Comtesse de Vassé. London 1754. Vgl. dazu Anm. 13. Von Irwing an Hißmann (Berlin, 18. November 1780). In: MS Klein. Slg. Johann Filtsch. Nachlass der Familie Klein im Brukenthal’schen Museum in Hermannstadt, Bll. 116v–117r. Vgl. auch Anm. 13. Michael Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Göttingen, Lemgo [11778], 21790, S. 114–116: § 53: »Ursprung der Sprache«.

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Hülfswissenschaft« die Physiologie, d.h. »die Kenntniß vom Bau des gesunden menschlichen Körpers, der Einrichtung seiner Theile und der ganzen Ökonomie des thierischen Lebens« ist.31 Die Kenntnis der Physiologien Boerhaaves, Heuermanns, Hallers sowie Unzers macht Hißmann den Psychologen resp. Sprachphilosophen daher zur Pflicht. Man führe sich einmal vor Augen, welche Fortschritte, ja »Revolutionen« die Psychologie gemacht habe, seitdem die Philosophen sich die Beobachtungen der Ärzte anzueignen begonnen hatten: Selbst die Bestimmung des Wesens der Seele ist durch die Rücksicht auf die Bemerkungen des Physiologen, des Pathologen und des Zergliederers einiger maaßen verändert worden; indem man nun ziemlich allgemein zuzugeben scheint, daß die Seele entweder Materie ist, oder daß sie doch, wenn man sie als einfach ansieht, mit den Ideen als Behälterinn nichts zu thun haben kann, und daß sie zum Gewahrnehmen und zum Denken Organen haben muß, die durch mancherley physische Ursachen verdorben werden können.32

In der an den Erkenntnissen der Hilfswissenschaften anknüpfenden Philosophie der Sprache betätigt sich der Philosoph nicht als ›wurzelforschender Grammatiker‹, sondern legt sich Fragen der Art vor: »[O]b sich der Mensch wol gerade der artikulirten Sprache von diesen mehreren Arten von Natursprachen zuerst bedienet; oder aber, ob er anfänglich die Minen- oder die Geberdensprache redete?«33 Welchen Charakter die erste Sprache hatte und über welche Stufen sie sich fort- und ausgebildet hat? Worin die Mängel und Vollkommenheiten der ursprünglichen und gegenwärtigen Sprachen bestehen? Wie sich das Verhältnis von Sprache und Geist ausnimmt, insbesondere vor und nach der Entstehung der artikulierten Sprache? – Hißmann hatte die Zuweisung einer ›Philosophie der Sprache‹ zur ›Psychologie‹ bei Meiners34 und Feder ken30 31 32

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Ebd., S. 180–185. Ebd., S. 150. Ebd., S. 152. Den Vorbericht seiner Psychologische[n] Versuche schließt er ganz ähnlich: »Aber der Philosoph müste Arzt, und der Arzt Philosoph seyn; und folglich eine neue Art von Kreaturen entstehen.« (Hißmann: Psychologische Versuche [s. Anm. 26], S. 22; vgl. ebd., S. 247f., 250f.) Zur zeitgenössischen Diskussion der Seelenorgane vgl. Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit. Berlin und New York 2003, insbesondere S. 192 und den Exkurs dazu im Anhang S. 379f. Hißmann: Anleitung (s. Anm. 29), S. 181–186. Das belegt nicht zuletzt Hißmanns fast vollständig überlieferte Vorlesungsmitschrift vom Wintersemester 1775/76, die sich in einem von Falk Wunderlich aufgefundenen Handschriftenfaszikel befindet, zusammen mit verschiedensten Kollektaneen zur Ästhetik und Religionsgeschichte der Alten, Ausarbeitungen zum Gesandtschafts- und Kriegsrecht, zur Anthropologie und zum Natur- und positiven Recht, einer Abhandlung Über die spätere Beschuldigungen des Sokrates (Mai 1776) und einer weiteren Vorlesungsmitschrift zu Meiners Kolleg über Die Religionsbegriffe Alter Völker (Winter 1775). Hißmanns Mitschrift, »Die Psychologie, nach der Vorlesung des Hf. Prof. Meiners, über seinen Kurzen Abriß der Psychologie Göttingen 1773 8vo, im Winter halben Jahre 1775 vom 26 Oct. wöchentlich Montags. Dienst. Donnerst. u. Freytags von VIIII–X gehalten. Honorarium Rthl 3.«, über 350 Seiten zählend, ist sauber und akribisch gearbeitet (In: MS H. H. 3. Slg. Johann Filtsch. Brukenthal’sches Museum in Hermannstadt). Sie beginnt mit der »Einleitung in die Psychologie, Über den Inhalt u. Theile derselb.«, geht dann über zum ersten, 13 Abschnitte fassenden Teil der Psychologie, »Von den Ideen« überschrieben, dem der zweite Teil »Von den Seelenkräften« mit acht Abschnitten folgt. Der dritte, leider unvollständig überlieferte Teil behandelt die »Sprache«. Im vierten schließlich geht es um die »Wahrheit unsrer Erkenntniß«. Im ›Sprach‹-Teil werden folgende Probleme besprochen: »Was Sprache sey: Ihre Anzahl« (Bl. 719r–722v), »Von den Fähigkeiten und Kenntnissen des Sprachlosen Menschen« (Bl. 723r–726v), »Von der Sprachfähigkeit« (Bl. 727r–730v), »Von den Anläßen zur Sprach-Erfindung«

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nen gelernt, von letzterem dann auch übernommen, indem er seinem Logik-Kolleg im Sommersemester 177635 Johann Georg Heinrich Feders Logik und Metaphysik36 zugrunde legte. Hißmann bemüht sich mehr noch als Feder um eine genetisch-anthropologische Herleitung der Sprache. Er benennt in seiner Logik-Vorlesung des Sommersemesters 1776 zunächst die »wichtigsten Vortheile der artikulirten Sprache«, verweist dabei auf Sulzer, und bemüht sich um eine Definition von ›Sprache‹. ›Sprache‹ sei danach, und zwar in ihrem weitesten Umfang genommen, eine »Sammlung sichtbarer u. hörbarer Zeichen, wodurch nicht bloß vernünftig Denkende sondern auch bloß empfindende Wesen, alle ihre Seelenveränderungen, Gedanken u. Empfindungen anzeigen u. ausdrücken«, die sich also bei allen Tieren findet: »In allen entdecken wir unter hörbarn oder sichtbarn Zeichen, wodurch sie ihre Empf. ausdrücken.«37 Beim Menschen unterscheidet er verschiedene »Natursprachen«, »die in dem Bau se[in]er Nerven u. Muskeln gegründet sind, die er folglich nicht durch Mühe u. Fleiß erlernet, sondern die ihm die Natur mit den Nerven u. Muskeln zugleich mitgetheilt hat«.38 Es sind dies 1.) »Die Sprache der inarticulirten Laute.«39 2.) »Die Sprache der Geberden« und die »Minensprache«.40 Die Geberdensprache ist ebenfalls »in der Organisation ganz nothw gegründet [und] […] im M[en]schen von e[in]em weit grössern Umfang, viel weitläuftiger, als in allen übrigen Arten [|] von Thieren, weil der M[en]sch e[in]en geschmeidigern K[örper] hat, als alle Thiere, u. weil er weit mehr an u. unangenehme Empf.[indungen] hat, als alle Thiere«.41 Gleicherweise ist es um die Mienensprache bestellt: »In allen grössern Arten von Thieren findet sich diese Minensprache, allein sie ist bey den M[en]schen am reichhaltigsten. Der Blick des Thieres ist nicht so be-

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(Bl. 149r–155v), »Anwendung dieser Distinction auf alle Menschliche Gedancken-Zeichen« (Bl. 156r– 163v), »Von den ursprünglichen Unvollkommenheiten aller Sprachen; Kurzes Ideal einer Menschlich vollkommenen Sprache« (Bl. 164r–168r), »Einfluß der Sprache auf den menschlichen Geist: Vorzüge der Einen vor der Andern; Philosophische und Dichterische Sprachen« (Bl. 168v–176v). Hier bricht das ›Sprach‹-Kapitel ab. Es fehlen 20 Bll., also etwa ein Drittel des Kapitels. Hißmann kündigte vom SS 1776 bis zum SS 1784 jedes Semester Logik und Metaphysik an. Das Skript zu seinem Logik-Kolleg (SS 1776) ist nur zum Teil erhalten (MS H. H. 3. Slg. Johann Filtsch. Brukenthal’sches Museum in Hermannstadt: Hißmann: Collegium Logicum habitum in Academia Georgia-Augusta per Aestatem 1776. a 2 Maii, diebus Lun. Mart. Jov. et Veneris. a IX–X, Bll 53r– 110v, hier Bl. 108v–110v: »Von der Sprache«. Der Aufriss der Logik-Vorlesung ist folgender: »Kurzer Vorbericht: Von der Logik überhaupt 1. Hauptstück: Von den Erkenntnißvermögen, und den dazu gehörigen Einrichtungen der Seele Erster Abschnitt: Von der Seelenlehre überhaupt Zweyter Abschnitt: Von den Erkenntnißvermögen u. den dahin zu rechnenden Fähigkeiten der Seele Dritter Abschnitt: Genauere Betrachtung der mancherley Wirkungen des mschl. Verstandes Von den mancherley Arten der Ideen und ihrem Ursprung Von den Gesetzen des Zusammenhanges u. der natürlichen Folge etc. Von der Sprache«. Johann Georg Heinrich Feder: Logik und Metaphysik. Vierte vermehrte Auflage. Hanau, Leipzig 1775. In dem Konvolut fehlen die Abschnitte 4: Von den Urtheilen und Sätzen, 5: Syllogistik, sowie das 2. Hauptstück mit seinen 5 Abschnitten und die Geschichte der Logik. Die beiden von Hißmann besprochenen Paragraphen 32 und 33 finden sich in Feders Logik und Metaphysik auf den Seiten 72–80. Hißmann: Collegium Logicum (s. Anm. 35), Bl. 108v. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., Bl. 108v–109r.

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deutend, als des M[en]schen, u. kein Thier hat ein so ausdrucksvolles Gesicht, als der Mensch.«42 Von diesen drei Natursprachen müsse man die artikulierte Sprache unterscheiden: »Artik. Sprache ist e[in]e Sammlung verbundner u. dem Ohr leicht zu unterscheidender Töne, wodurch der M[en]sch vielle Gedanken ausdrückt, die durch ke[in]e Natursprache ausgedrückt werden.«43 Sie sei, anders als Süßmilch behauptet, von Menschen erfunden worden. Dessen Einwand, »zur Erfindung solcher kompletter Zeichen Systeme, wie die menschliche Sprachen sind, [werde] e[in]e ganz entwickelte u. vollkommne Vernunft erfordert […], die der M[en]sch vor dem Besitz einer artikulirten Sprache nicht haben konnte«, sei dann nichtig, wenn angenommen werde, »daß der M[en]sch nicht auf einmahl ganze Sprachen erfunden, sondern daß er zuerst nur die ersten Anfänge entdekt, u. dann zur weitern Fortbildung u. Entwickelung der Sprache fortgegangen sey.44 Zur Erfindung der ersten Anfänge einer Sprache würde ke[in]e ausgebildete Vernunft erfordert.«45 Gegen Süßmilchs These spräche zudem, dass es noch heute »Nationen mit Sprachen [gebe], die noch ganz unartikulirt sind, blosse Sammlungen von Onomatopoieticis, Andre sind noch ganz unsillabisch, u. unschreibbar. Wir finden nur sehr wenige Sprachen, die so artikulirt wären, wie die Sprachen der kultivirten Europäer.«46 Dass alle Sprachen letztlich unvollkommen seien, spräche ebenfalls gegen ihre göttliche Abkunft. Die Entwicklung der artikulierten Sprache habe sich allmählich und stufenweise vollzogen, vom Gestischen über den Gesang zum Gespräch: »Anfänglich war die Sprache des M[en]schen blosse Gesticulation, u. Pantomime. Von ihr gieng der M[en]sch allmählig zur tönenden Sprache fort, indem er die Thierlaute nachahmte. Allmählig wurde diese tönende Sprache Artikulirter Gesang, oder Musik, u. so sind noch heute die Sprachen der Wilden beschaffen. Endlich wurden sie artikulirt, da die M[en]schen anfingen Alphabetische Zeichen zu erfinden, u. ihre Sprachen zu schreiben. Das Gehör war also der Sinn, der den M[en]schen in Erfindung u. Fortbildung der Artik. Sprache leitete.«47 Im folgenden Paragraphen 31 kommt Hißmann dann auf die Möglichkeit ›vollkommener Sprachen‹ zu sprechen und erwägt ihre Beschaffenheit. Dabei hebt er drei Kriterien hervor: Das eine gilt dem lexikalischen Reichtum, das andere der Motivierung und das dritte schließlich der Syntax. Eine vollkommene Sprache sollte danach »[g]ar ke[in]en beschwerlichen Reichthum an allg. Ausdrücken für dieselbige Art von Gegenständen haben, aber auch ke[in]e Armuth«, »[a]lle Wörter [sollten] so gebildet u. zusammengesezt [sein] […], daß derj. der sie redet aus der Zusammensetzung schon die Bedeutung erkennen möge, u. folglich ohne Mühe die Begriffe errathen könne, die m.[an] damit verbunden hat«, und letztlich sollte die ›vollkommene Sprache‹ keine »gefesselte Syntax haben. Es müste so vielle inversionen u. Versetzungen der Wörter erlaubt seyn, als es nach der Heftigkeit u. der Manigfaltigkeit der Empf u. Leidenschaften nöthig wäre.«48

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Ebd., Bl. 109r. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., Bl. 109v. Ebd. Ebd., Bl. 110r.

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Welche Fragen müsste sich der Sprachphilosoph als erstes vorlegen, wenn es darum geht, sprachvergleichend festzustellen, was für ›Sprache‹ notwendig und was zufällig ist: Zunächst habe er herauszufinden, »welche Klassen von Wörtern […] zuerst erfunden worden« sind:49 Es seien »[d]iej. die am nächsten an die Bedürfnissen der Spracherfindenden M[en]schen gränzen, folgl. die Verba«, gefolgt von den Substantiven und schließlich den Adverbien. Danach müsse er untersuchen, »[a]us wie vielen Haupttheilen oder verschiednen Klassen von Wörtern e[in]e jede Art Sprache bestehe. Fast alle Grammatiker nehmen ausser den Verbis, Substantivis, Adjectivis u. Adverbiis noch Pronomina, sogenannt. Interject u. Praepositiones an«.50 Notwendig und unentbehrlich seien die Pronomen, die Interjektionen, die Konjunktionen und die Präpositionen nicht; auf sie könne man verzichten.51 Das Zufällige der Sprachen schreibe sich (a) von den Meinungen der Menschen, (b) ihren Neigungen und (c) ihren Sitten und ihrem Klima her. Mit Hinweis auf James Harris’ Hermes (London 1751) und Nicolas Beauzées Grammaire générale (Paris 1767), die sich jener Bestimmung des Notwendigen und Zufälligen einer Sprache und damit der so genannten ›Allgemeinen Grammatik‹ gewidmet hatten, und der Feststellung, dass diese Wissenschaft »noch gar nicht bearbeitet«, zur Zeit lediglich »frommer Wunsch« ist, genauso wie Leibniz’ ›Allgemeine Charakteristik‹, »die von allen Artic. Sprachen der Völcker ganz unabhängig«, allen jedoch verständlich wäre, endet das Fragment.52 Es belegt Hißmanns frühzeitige Beschäftigung mit philosophischen Aspekten der Sprache, dem Ursprungsproblem insbesondere. Es kann als eine unmittelbare Vorstufe zu seiner Sprachursprungsschrift angesehen werden, präsentiert es doch in nuce bereits wesentliche Aspekte seiner Abhandlung Über den Ursprung der Sprache.

3. Hißmanns Abhandlung Über den Ursprung der Sprache Nur wenige Monate später, im September 1776, legte Hißmann mit der Abhandlung Über den Ursprung der Sprache vor einem zahlreicheren Publikum Rechenschaft von seiner intensiven Beschäftigung mit sprachphilosophischen Fragen ab. Was sich auf den ersten Blick nicht gleich erschließt, ist Hißmanns Absicht, damit einen eigenständigen Beitrag zur zeitgenössischen Sprachdiskussion liefern und gleichsam eine Preisschrift für die Preisaufgabe von 1769 ›nachreichen‹ zu wollen. Damals hatte man, in Hißmanns Paraphrase, folgende Preisfrage gestellt: »Ist diese Sprache eine menschliche Erfindung: läßt sich aus den bloßen Naturkräften des Menschen, und aus dem Wesen dieser Sprache erwarten, daß der Mensch sie habe erfinden können; und wenn er sie erfinden konnte, auf welchem Wege hat er sie erfinden müssen […]?«53 Hißmanns Abhandlung gliedert sich wie folgt: I. Einleitung (Sp. 1145–1147) 49 50 51 52 53

Ebd. Ebd. Ebd., Bl. 110v. Ebd. Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1162.

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Hans-Peter Nowitzki II. Die Empfindungssprache (Sp. 1147–1162) III. Die Beantwortung der Preisfrage (Sp. 1162–1200) 1) Analyse der beiden Teile der Preisfrage (Sp. 1162–1165) 2) Beantwortung der Frage: Ist diese Sprache eine menschliche Erfindung?54 (Sp. 1165-1187) 3) Beantwortung der Frage: Auf welchem Wege hat er sie erfinden müssen?55 (Sp. 1187-1200)

Eigentlich, schreibt er, sei es nicht die Auflösung der Frage nach dem Ursprung der Sprache, die sein Interesse an der Materie wach halte; es sei vielmehr die Fülle »vortreffliche[r] Bemerkungen über den ganzen Bau der Sprache«,56 die die Beschäftigung damit lohnenswert mache. Dabei verweist er auf Aufsätze in den Jahrbüchern der Berliner Akademie der Jahre 1754,57 175658 und 176759, auf die Preisschriften des Jahres 175960 und Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 1770 sowie auf de Brosses’ Abhandlung über die mechanische Bildung der Sprachen und die physischen Prinzipien der Etymologie von 1765. Insbesondere von letzterem rühmt er, dass er »die schärfsten Blicke in die ganze Ökonomie der Sprache«61 getan habe.

3.1. Die Empfindungssprache (II) Hißmann verspricht dem Leser, ihn mit den »vornehmsten Resultate[n] der bisherigen Untersuchungen« bekanntzumachen und eröffnet seinen Überblick mit Herders paradoxer Formulierung: »Schon als Thier hat der Mensch Sprache«, nicht ohne gleich noch ergänzend anzumerken: »und zwar mehr als Eine Sprache«. Herder hebt damit nur scheinbar den von ihm ansonsten vehement verteidigten qualitativen Unterschied zwischen Tier und Mensch auf, denn ›Tier‹ wird hier wie auch in Condillacs Traité des animaux (1755)62 nicht im Sinne von lat. bestia (Tier) sondern im Sinne von lat. animal (Lebewesen) verwendet. Es ist die zeitgenössische Benennung der so genannten »thierischen Öconomie«, um die es hier geht. Denn deren Kennzeichen ist das Empfindungsvermögen. Und als »empfindende Wesen mit den Nerven und Muskeln« hat

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Ebd. Ebd. Ebd., Sp. 1145. Darin: Pierre-Louis Moreau de Maupertuis: Dissertation sur les différents moyens dont les hommes se sont servis pour exprimer leurs idées. Gemeint ist wohl der Jahrgang 1755, der Ludwig von Beausobres Réflexions sur les changemens des langues vivantes par rapport à l’ortographe et à la prononciation enthält. Im Band 1756 findet sich kein einschlägiger Beitrag. Darin Johann Georg Sulzer: Observations sur l’influence réciproque de la raison sur le langage et du langage sur la raison. Vgl. dazu: Hans-Peter Nowitzki: Denken – Sprechen – Handeln. Johann Georg Sulzers semiotische Fundierung der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste. In: Frank Grunert u. Gideon Stiening (Hg.): Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume. Berlin 2011, S. 137–167. Michaelis: Beantwortung der Frage (s. Anm. 5). Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1145f.Anm. c. Vgl. Ulrich Hoinkes: Philosophie und Grammatik in der französischen Aufklärung. Untersuchungen zur Geschichte der Sprachtheorie und französischen Grammatikographie im 18. Jahrhundert in Frankreich. Münster 1991, S. 55Anm. 65.

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diese Art von Lebewesen »zu gleicher Zeit [Sprache] mit erhalten«.63 Tiere verfügten über ein mehr oder weniger komplexes Nerven- resp. »Empfindungssystem«, das, so es gereizt wird, angenehme oder unangenehme Empfindungen zeitigt, worauf das »Gefühl tönen«64, sich geberden65 oder durch Mienensprache ›blicken‹66 muß. Diese Töne, Gesten und Blicke seien distinkt insofern, als den unterschiedlichen »Gattungen von Fühlbarkeit«, die »in unserer Natur schlummern«, analog »so viel auch Tonarten«67, d.h. Interjektionen, entsprächen, die hervorgebracht werden könnten. Die Bedeutung der unartikulierten Laute ist durch ihre jeweilige situative Einbettung gesichert. Allen Tierarten, d.h. allen empfindungsfähigen Wesen, seien diese drei »allgemeine[n] Sprachen« eigentümlich, wenn auch »nicht bey allen gleich ausdrucksvoll«, d.h. sich in gleichem Maße äußernd. Bei den einen zeige sich nur ein kaum wahrnehmbares Zucken des Muskels, andere äußerten sich tönend,68 wieder andere blickend69: »Es sind Empfindungssprachen, die ein jeder von Vergnügen und Schmerz angeschlagene Nerve redet«.70 Empfindende Wesen sympathisierten mit den Artgenossen, da deren Nervensystem eine ›ähnliche Spannung‹ und deren Seele ›einen ähnlichen Ton‹ hätten. Darin liege die Sympathie somatisch beschlossen: »Sie sind«, so Hißmann, »zum Mitleiden, wie zur Mitfreude mechanisch gezwungen«.71 Im Gegensatz zu den Tieren sei der Mensch in der Lage, mit allen empfindenden Wesen »ganz uneingeschränkt [zu] sympathisir[en]«; er verstehe die Sprache der Empfindung »am allerallgemeinsten«.72 Obgleich alle empfindenden Wesen eine Sprache sprächen, verstünden die Tiergattungen einander nicht oder nur schlecht, weil »ihre Sprachorganen, die Instrumente dieser Naturlaute der Empfindungen nicht auf dieselbige Weise gebauet sind«.73 Hißmann erklärt die unterschiedliche Extension der Empfindungssprachen bei Mensch und Tieren durch Verweis auf artspezifische körperliche Strukturen, führt sie mithin auf anatomisch-physiologische Gegebenheiten zurück.

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Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1147. Ebd., Sp. 1148. Ebd., Sp. 1158f. Ebd., Sp. 1160. Ebd., Sp. 151f. »Die durch Vergnügen und Schmerz angeschlagene Saiten unsers thierischen Gefühls reden [außerdem] noch eine Sprache, ohne zu tönen. Dies ist eine Sprache für das Gesicht, so wie jene Natursprache für das Gehör ist« (ebd., Sp. 1155). Ebd., Sp. 1160. Ebd., Sp. 1147f. Ebd., Sp. 1149. Analoges findet sich bei Herder, der von der »Lautbarkeit der empfindenden Maschine« und von der »mechanischen Tiersprache« spricht (Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache [s. Anm. 9], S. 22f.). Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1149. Vgl. dazu auch den Anhang über den Unterschied associirter und zusammengesetzter Begriffe, und der Ideenreyhen. In: Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen (s. Anm. 20), S. 93–144, hier S. 132: »Aber der Mensch sympathisirt mit allen empfindenden und nicht empfindenden Wesen aus allen Klassen der Geschöpfe.« Zu Hißmanns David Hume und Adam Smith verpflichteten ›Sympathie‹-Begriff vgl. dessen Bemerkungen, über die Sympathie. In: Michael Hißmann: Untersuchungen, über den Stand der Natur. Berlin 1780, S. 36–49, und dessen Psychologische Versuche (s. Anm. 26), S. 167–169 (hier der Verweis auf Smith’ Theory of Moral sentiment; 1759). Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1150.

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Beide Natursprachen, die Ton- und die Geberdensprache, seien dem Tier resp. der ›tierischen Ökonomie‹ von Natur aus eigen; in »beyden Fällen thun die Nerven ihre Naturpflicht«,74 so Hißmann. Im Vergleich mit der Tonsprache sei die Geberdensprache jedoch viel authentischer, »ein so genauer Abdruck dessen, was in unserm Innersten vorgeht, daß der beredteste Ausdruck durch Worte diesen innersten Zustand bey weitem nicht so lebhaft vorlegen würde«.75 Dieser Defizienz wegen sei die Geberdensprache und eben nicht die Tonsprache als erste von Schauspielern und Rednern kultiviert und zu einer »künstliche[n] Sprache« umgebildet worden. Als »natürliche Sprache« ist sie nichtintentional und lässt keine Rückschlüsse auf irgendeine Art von Meditation zu. Anders liege der Fall, wenn sie zu einer »künstliche[n]« geworden ist; sodann »können durch sie auch die gemäßigten Seelenveränderungen, die Gedanken, angezeigt werden«.76 Wohl gemerkt: Bislang ist noch von keiner Seele, noch von keinem Verstand die Rede gewesen. Alle drei Natursprachen verdanken sich ausschließlich den Empfindungen und Leidenschaften, die durch solche Töne und Geberden ausgedrückt werden, die »in der Organisation des thierischen Körpers [...] gegründet«77 sind. Der Mensch, so Hißmann weiter, »redet als Thier drey Sprachen«, die unartikulierte Lautsprache, die Geberden- und die Mienensprache. So tauglich sie als Sprachen ›brausender‹ Empfindungen und Leidenschaften sind, umso weniger sind sie es für »ruhige Geistesarbeiten«.78 Hierfür bedarf der Mensch der Fähigkeit, »Wörter, zusammenhangende verbundene Töne, willkührliche Zeichen der Gedanken auszusprechen«, einer Sprache also, »die er weder spricht, noch versteht, ohne sie vorher zu erlernen«.79 Und um diese Sprache geht es, wenn gemeinhin nach dem Ursprung der Sprachen gefragt werde, ob sie tierischen, menschlichen oder göttlichen Ursprunges sind. Obgleich der Sprachursprung ein »Faktum der Geschichte« ist, sei es mangels historischer Urkunden unmöglich, die Frage historisch zu beantworten.80 Allenfalls eine hypothetische Klärung der Frage ließe sich versuchen. Von Herder sieht sich Hißmann in dieser Frage allein gelassen, behauptet dieser doch beides, in der Preisschrift einen natürlichen, in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts81 hingegen einen göttlichen Sprachursprung.82

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Ebd., Sp. 1155. Ebd., Sp. 1156. Ebd., Sp. 1157. Ebd., Sp. 1156. Auch darin stimmt Hißmann mit Herder überein, der einmal schreibt: »[I]ch entwickle aus keinen willkürlichen oder gesellschaftlichen Kräften, sondern aus der allgemeinen tierischen Ökonomie.« (Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache [s. Anm. 9], S. 25). Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1162. Ebd. Ebd., Sp. 1163 und Sp. 1165. Johann Gottfried Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. [Tle. 1–3] Riga 1774. [Tl. 4] Riga 1776. Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1165f.: »Mir scheint indessen die erste Erklärung ungezwungener.«

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3.2. »Ist diese Sprache eine menschliche Erfindung?«83 (III.2) Hißmann, um eine Antwort der Frage: »Hat der Mensch Sprache erfunden?« bemüht, reformuliert diese: »Hat der Mensch durch seine bloßen Naturkräfte Sprache erfinden können« und postuliert eine Äquivalenz beider – sie könnten »für völlig gleichgültig angesehen werden«, meint er, was man eingedenk des logischen Grundsatzes – erlaubt ist, vom Wirklichen auf das Mögliche, nicht aber vom Möglichen auf das Wirkliche zu schließen84– nicht ohne Bedenken wird akzeptieren können. Hißmann hat wohl darum gewusst, da er anmerkt: »[S]o bald die innere nächste Möglichkeit der menschlichen Spracherfindung dargethan ist: so bald ist ihre Wirklichkeit in einem so hohen Grad bewiesen, als man in solchen Fällen nur Beweise fordern kann«.85 Der Nachsatz heischt Nachsichtigkeit und erinnert daran, dass die Sprachursprungsfrage noch bis heute keine befriedigende Auflösung erfahren hat. Gleichwohl bleibt festzuhalten: Wie bei Herder so treten auch bei Hißmann zuweilen emphatische Beschwörungen an die Stelle konziser Analysen und überzeugender Argumentationen. Folgende Umstände könnten, so Hißmann weiter, eine Beantwortung der vorgelegten Frage von vornherein als aussichtslos erscheinen lassen: Erstens scheint es keinen »rohen, sprachlosen Naturmenschen«86 mehr zu geben. Somit wird man zweitens auch auf immer vergeblich nach einer »Sprache des Ursprungs«87 fahnden. Der Umstand jedoch, dass sich sowohl die Kenntnisse der Völker als auch deren Sprachen ungleichzeitig entwickeln, böte jedoch die Möglichkeit, zumindest so etwas wie Entwicklungstendenzen daraus abzunehmen, zumal »die Beschaffenheit der Kenntnisse der Wilden, und [...] das Wesen ihrer Sprachen ziemlich parallel« verliefen. Die Kenntnisse der Völker wie die Sprachen vollzögen gemeinhin eine Entwicklung vom Rohen zum Verfeinerten, vom Armen zum Reichen. Der rohe, noch sprachlose Mensch hätte nur über ein solches Maß an Naturkräften verfügen müssen, das es ihm ermöglicht hätte, eine rohe, noch unausgebildete Sprache zu erfinden. Damit ist allerdings, der irreale Konditionalsatz deutet es bereits an, prinzipiell noch nichts gewonnen. Und dennoch glaubt sich Hißmann berechtigt zu behaupten: »Und so können wir [...] eine höchst befriedigende Antwort auf die Hauptfrage geben, daß der Mensch nemlich, noch vor dem Besitz der artikulirten Sprache, Kenntnisse zur Erfindung einer Sprache besaß, zum Deutlichdenken des großen Gedankens einer Sprache.«88 Dieser saltus in concludendo, dieser ›Sprung im Schließen‹, ist indes kennzeichnend nicht nur für Hißmann, sondern auch für viele andere, etwa für Herder, der hierfür die ›Besonnenheit‹89 re83 84 85 86 87 88 89

Ebd., Sp. 1162. Ab esse ad posse valet consequentia, a posse ad esse non valet consequentia. Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1165. Ebd., Sp. 1167. Ebd., Sp. 1168. Ebd. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 9), S. 31. Mit dem Begriff ›Besonnenheit‹ benennt Herder die Fähigkeit der bewussten Wahrnehmung durch Aufmerken (Anerkenntnis resp. Apperzeption), wobei die Seele das dadurch reflexiv gewonnene Merkmal zugleich im Zuge der Anerkenntnis als Zeichen des Merkmals nutzt: »Dies erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden!« (ebd., S. 32) ›Besonnenheit‹ ist Anlage, ›Besinnung‹ Tätigkeit (ebd., S. 82). Die Annahme einer ›Seelensprache‹ impliziert, dass auch zeitlebens Stumme ›Sprache in ihrer Seele‹ haben (ebd., S. 34). Die menschliche Seele sei bereits als solche vermögend, »schon ohne Mund

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klamiert. Das Denken ist für beide genetisch und logisch sprach- und gesellschaftsvorgängig, nur dass Hißmann zufolge auch Tiere in der Lage seien, Verstandes- und Vernunftoperationen vornehmen zu können. Doch dazu im Folgenden mehr. In einem zweiten Schritt untersucht Hißmann, wie die Ursprache angesichts der natürlichen Kräfte und der Kenntnisse des ursprünglichen Menschen hätte beschaffen sein müssen. Hierfür konzentriert er sich zunächst auf all diejenigen sogenannten »Seelenkräfte« des Menschen, die der artikulierten Sprache nicht bedürfen. Danach seien Sensibilität und Bewusstsein, Gedächtnis, Einbildungskraft, ja selbst Verstand und Vernunft unzweifelhaft ohne Sprache denkbar. Die in der Schulphilosophie geläufige Zuordnung des Verstandes und der Vernunft zu den höheren Seelenkräften führe zwangsläufig dazu, dass der rohe, noch sprachlose Mensch nicht mehr als Mensch figurieren, sondern als eine neue »Classe von Wesen« angesehen werden müsste: ›etwas besseres als ein Tier, etwas geringeres als ein Mensch‹.90 Verstand und Vernunft seien jedoch sprachvorgängig. Zweierlei folgt daraus: (1) Vernunft ist kein Definiens des Menschen.91 Hierin unterscheidet sich Hißmann von Herder. Letzterem zufolge ist Sprache das äußerliche und Vernunft das innere Gattungsspezifikum.92 Hißmann hingegen ist die artikulierte Sprache dasjenige, was den Menschen zum Menschen macht.93 (2). Das wechselseitige Verhältnis von Sprache und Denken, dieser »ewige Kreisel«,94 der Süßmilch Zuflucht zum göttli-

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und Gesellschaft, sich Sprache [zu] erfinden« (ebd., S. 35). Für Herder ist der Mensch immer schon »inwendig sprechender Mensch, der sich [nur noch] über kurz oder lang seine äußerliche Sprache erfinden musste« (ebd., S. 41). Sprache ist damit nicht zwingend an Äußerung (Artikulation), d.h. an Sprachzeichen gebunden. Im Grunde genommen verlagert Herder das Problem damit nur ins Seelische, wenn er schreibt: »Ich kann nicht den ersten menschlichen Gedanken denken [...], ohne daß ich in meiner Seele dialogiere oder zu dialogieren strebe; der erste menschliche Gedanke bereitet also seinem Wesen nach, mit andern dialogieren zu können! Das erste Merkmal, was ich erfasse, ist Merkwort für mich, und Mitteilungswort für andere!« (ebd., S. 43). Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1176. Ebd., Sp. 1180f. Eine Folge davon ist, dass ›Instinkt‹ und ›Vernunft‹ nun für Hißmann nur noch graduell, nicht aber mehr qualitativ Verschiedenes sind (ebd., Sp. 1178; vgl. dazu auch Psychologische Versuche (s. Anm. 26), S. 195 und S. 231f.). Ein Definiens des Menschen ist seine Fähigkeit, »mit allen empfindenden und nicht empfindenden Wesen aus allen Klassen der Geschöpfe« zu sympathisieren. Die Sympathie ist »die gröste Zierde der Menschheit […], ohne welche man ein jedes menschenähnliches Geschöpf für ein Monstrum ansehen muß«. (Hißmann: Anhang über den Unterschied associirter und zusammengesetzter Begriffe [s. Anm. 72], S. 133.) Der ›Mensch‹ ist danach ein »uneingeschränkte[s] sympathetische[s] Thier« (ebd., S. 134). Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 9), S. 43. Hißmann: Vorrede des Übersetzers. In: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12), [p. IV]: »[…] der Mensch ist ein sprachfähiges Thier« (ebd., S. 42Anm. 1); »Sprachfähigkeit und uneingeschränkte Sympathie charakterisiren unser Geschlecht ganz genau.« (ebd., S. 43Anm. 1). Vgl. auch Über Sprache und Schrift. Aus dem Französischen des Präsidenten von Brosses übersezt, und mit Anmerkungen begleitet, von Michael Hißmann, der Weltweish. Doktor in Göttingen. Zweyter Theil. Leipzig, 1777, S. 8–14Anm. 1, und dessen Psychologische Versuche (s. Anm. 26), S. 219–224. ›Sprache‹ wie ›Vernunft‹ sind Resultate spezifischer kräftemodifizierender körperlicher Strukturen. Diese genetische Auffassung von ›Sprache‹ und ›Vernunft‹ macht die Annahme einer immateriellen Seele unnötig und das Bekenntnis Hißmanns zum Materialismus verständlich: »Ich glaube, die Materie könne […] allerdings denken, wenn sie auf eine gewisse Weise organisiret ist, die ich nicht näher bestimmen will, weil ich das Gehirn nur sehr unvollständig kenne.« (Ebd., S. 270) Daraus erklärt sich auch Hißmanns Plädoyer für eine monistische Anthropologie (Ebd., S. 266–278). Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 9), S. 37.

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chen, Herder einmal zum menschlichen, ein anderes Mal zum göttlichen Sprachursprung nehmen ließ, sei für das Problem letztlich historisch und genetisch irrelevant: Ist denn, polemisiert Hißmann, »der sprachlose Mensch stupide?«95 Hißmann macht sich Herders Ziel der Sprachursprungsschrift zu eigen und versucht, den natürlichen Ursprung der Sprache zu belegen, unterscheidet sich von ihm allerdings im methodischen Vorgehen: »Ich habe«, schreibt er, »einen andern Weg eingeschlagen, und aus Voraussetzung der gangbaren Begriffe geschlossen. Vielleicht führt mein Weg näher und sicherer zum Ziel.«96 Hißmanns Art der Beweisführung unterscheidet sich von derjenigen Herders, mit dem er in Hinsicht auf die Rolle der Empfindungssprache und der Genese der artikulierten Sprache, beginnend mit der Onomatopoesie, weitgehend übereinstimmt, insofern, als er sich viel stärker noch als dieser auf die mechanische Psychologie und die Assoziationstheorie beruft, anstatt sich zur Erklärung des Übergangs der Bezeichnung von tönenden Konkreta auf die Bezeichnung von nichttönenden und von Abstrakta auf so etwas wie die »Besonnenheit« zu beziehen. So wie die Kenntnisse und Seelenkräfte des Menschen auf fibernphysiologischer Grundlage mechanisch erklärt werden, so auch der Ursprung der Sprache. Dem ursprünglichen sprachlosen Menschen kann alles das zugesprochen werden, was fibernphysiologisch, im Rückgriff auf die im jeweiligen Gesamtorganismus vereinigten Organe herleitbar ist. So wird der Unterschied zwischen menschenähnlichem Affen und Menschen eben nicht durch das Fehlen oder Vorhandensein eines Vernunftvermögens markiert, sondern erweist sich als abhängig von der jeweiligen Körperstruktur: Denn im Gegensatz zum Menschen verfüge der Affe nun einmal nicht über Sprachorgane, mithin also auch nicht über artikulierte Sprache: »Immer ist es für den systematischen Philosophen eine lehrreiche Bemerkung«, resümiert Hißmann, »daß die Natur durch körperliche Organen, und deren Geschmeidigkeit, und nicht durch merkliche Vorzüglichkeit der Kräfte eines einfachen Wesens, einen so wichtigen Abschnitt in der Schöpfung gemacht hat.«97 Hißmanns Analysen zeitigen folgende Ergebnisse: Zur Charakteristik der Ursprache: Die Zusammensetzung der artikulierten Laute folgt keiner Grammatik, sondern ist lediglich gewohnheitsmäßig und situativ-pragmatisch bestimmt. Abstrakte Ausdrücke fehlen ihr gänzlich. Sie verfügt über ein »simples, armes Wörterbuch; reich, bis zur Überladung reich, an Ausdrücken der augenblicklichen Bedürfniß.« Zur Charakteristik des ursprünglichen sprachlosen Menschen: Er verfügt über die gleichen und gleich vollkommenen äußeren Sinne – »die erste Quelle unserer Erkenntniß« – wie der zivilisierte, nur dass sie bei ihm »ungleich feiner und schärfer«98 sind als beim kultivierten. Er 95 96

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Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1181. Vgl. auch Psychologische Versuche (s. Anm. 26), S. 190f. und S. 194–196. Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1181–1184Anm. d. Das zielt auch auf Herders ›Besonnenheits‹-Begriff, mit dem dieser ›Mensch‹ und ›Tier‹ abzugrenzen und das sensualistische Konzept der sensation transformée zu unterlaufen sucht. Und Hißmann lässt kein Missverständnis hinsichtlich dessen zu, worauf seine Anmerkung gemünzt ist: »Der Menschenähnliche Affe besitzt Vernunft, die sich nur in entfernteren Graden der menschlichen nähert, weil er vielleicht nicht so vortheilhaft organisirt ist, wie der Mensch. Aber er hat keine Sprachorganen, keine Sprache. Der Mensch hat beyde« (ebd., Sp. 1184). Ebd. Ebd., Sp. 1172.

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befindet sich noch »im außergesellschaftlichen Zustand der rohesten Barbarey«, denn Gesellschaft bedarf der Sprache.99 Im Gegensatz zu dem »sprachbesitzenden Menschen« ist der sprachlose nicht in der Lage, »die innern Vorzüge oder Gebrechen des Verstandes und des Herzens, Klugheit und Thorheit, Tugend und Laster, und alle unsichtbaren, unempfindbaren Gegenstände in Classen und Arten ab[zuteilen]«; er ist auf das sich den äußeren Sinnen verfügbare Feld beschränkt. Allgemeine Ausdrücke unsinnlicher Gegenstände kennt er nicht. Zu Verstandes- und Vernunftoperationen sei der rohe sprachlose Mensch, so Hißmann, »physisch durch seine Organisation, und durch seinen ganzen Bau genöthiget«; Urteil und Schluss seien »nothwendige mechanische Folge gleichzeitiger Bewegungen der innern Organen des Denkens«.100 Es lasse sich daraus, so Hißmann damit den ersten Teil der Preisaufgabe beantwortend, »mit vieler Gewissheit« folgern, »daß der Mensch auch vor dem Besitz einer artikulirten Sprache Kenntnisse zur Erfindung einer Sprache genug besaß«.101 Wenn der Mensch aber in so vielen Fällen der artikulierten Sprache entbehren kann, wofür, könnte man sich jetzt fragen, braucht er sie denn dann eigentlich noch? Hißmann verweist hierfür auf Sulzer und dessen Ansichten, wonach die der artikulierten Sprache eigentümliche symbolische Zeichenverwendung: (a) das Gedächtnis und die Imagination (Einbildungskraft) stärkt und verbessert,102 (b) zudem die Verstandes- und Vernunftoperationen durch Abkürzung der Begriffe durch Wörter unterstützt:103 (»Und so operiren wir mit den Zeichen der Begriffe eben so kurz, geschwind und glücklich, wie der Mathematiker mit Buchstaben und mit Ziffern«104), (c) den Beobachtungs- und Erfindungsgeist schärft und stärkt, insofern die in der Sprache ›gespeicherten‹ Wörter und Namen als ›verkörperte Ideen‹105 die Aufmerksamkeit des Einzelnen auf Sachen, die er bislang noch nicht oder nur wenig berücksichtigt hat, zu lenken vermögen.106 Es ist eben jene Fähigkeit der symbolischen Zeichenverwendung, die aus der spezifisch menschlichen Organisation und deren Funktionsweisen resultiert, die »einen so wichtigen Abschnitt in der Schöpfung gemacht hat«107 und den Menschen vom Tier trennt.108 Damit hat Hißmann die anthropologischen Grundlagen der menschlichen Sprachfähigkeit systematisch aufgesucht und namhaft gemacht.

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Ebd., Sp. 1173. Ebd., Sp. 1180. Ebd., Sp. 1187. Ebd., Sp. 1184. Ebd., Sp. 1185. Ebd. Ebd., Sp. 1184. Ebd., Sp. 1186: »Die Sprache einer Nation ist nemlich das gemeinschaftliche Magazin, in welches alle Kenntnisse und Erfindungen der ganzen Nation niedergelegt worden sind. […] Wir lernen […] mit der Sprache die ganze erkannte Natur kennen, ob wir gleich die wenigsten dieser Gegenstände selbst empfunden oder irgend angetroffen haben.« Vgl. auch Hißmann: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12), S. 121Anm. 18. Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1184. »[E]s läßt sich vermuthen, daß die vollkommenern Thiere selbst Sprache erfinden würden, wenn sie mit Sprachwerkzeugen ausgerüstet wären.« (ebd., Sp. 1187).

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3.3. »[A]uf welchem Wege hat er sie erfinden müssen?«109 (III.3) Nachdem Hißmann die Möglichkeit dargetan hat, dass der rohe sprachlose Mensch imstande gewesen ist, sich artikulierte Sprache zu erfinden, geht er nun daran, den »vermuthliche[n] Weg, auf welchem der Mensch wahrscheinlich Sprache erfunden, und fortgebildet hat«, nachzuzeichnen. Zuerst verabschiedet er die »fruchtbare philosophische Fiktion«110 eines ungeselligen Menschen, einer »außergesellschaftlichen Wildheit«, eines Standes der Natur. »Der spracherfindende Mensch mußte Gesellschafter seyn.«111 Er ist zwar ein ›gleichgültiges‹, weder geselliges noch ungeselliges Wesen. Aber er begibt sich notwendig in ein soziales Milieu.112 Dazu zwinge ihn förmlich die Forterhaltung der Art. Insofern könne man auch mit Montesquieu, Ferguson u.a. durchaus davon sprechen, dass er ›in Gesellschaft geboren‹ sei. Selbst angenommen, der Mann würde die Frau »nach der Befriedigung seines Geschlechtstriebes« wieder verlassen, um in Einsamkeit zu leben, so seien doch Mutter und Kind »durch das stärkste Band physischer, zwingender Bedürfnisse an einander gebunden, und folglich zur Gesellschaft untereinander gezwungen«.113 Bereits diese soziale Keimform habe genug »Anlaß und Drang«114 geboten, Sprache zu erfinden. Man habe sich verständigen (1) und den Erfahrungsschatz der Mutter auf das Kind vererbt sehen wollen (2). Vermutlich sei es noch keine artikulierte, sondern zunächst einmal eine gestikulierende Sprache gewesen, »eine Art von künstlicher Pantomime, Minen- und Geberdensprache«.115 109 110 111 112

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Ebd., Sp. 1162. Hißmann: Untersuchungen, über den Stand der Natur (s. Anm. 72), S. 78; vgl. auch S. 89f. Vgl. auch Michael Hißmann: Betrachtungen über die Naturgeseze. In: Deutsches Museum 3.2 (1778), S. 529–543. Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1188. Hißmann: Untersuchungen, über den Stand der Natur (s. Anm. 72), S. 74f. »Der Sohn der Natur ist weder ein hobbesisches Raubthier, noch ein puffendorfscher geselliger Philanthrop.« (Ebd., S. 11.) »Was ist er denn? Ein Mittelding zwischen der englischen Geselligkeit, und der widerspenstigen, verfolgerischen, teufelischen Ungeselligkeit« (ebd., S. 19). Hißmann widerspricht Reimarus und Home energisch, die den Menschen als ein von Natur aus geselliges Wesen deklarieren. Der Mensch ist weder gesellig noch ungesellig; er ist stattdessen gleichgültig (ebd., S. 50). Es wohnt ihm kein ›Trieb‹ oder ›Hang zur Geselligkeit‹ ein. Gesellig werde er gewisser Bedürfnisse wegen, allen voran des Geschlechtstriebes (ebd., S. 55). »Eben deswegen hat es auch nie einen solchen gleichgültigen oder ungeselligen Stand der Natur gegeben; und die Menschheit wird auch, so lang die Welt stehn wird, nie in diesen rohen Zustand der außergesellschaftlichen Wildheit herabsinken können« (ebd., S. 75). Vgl. hierzu auch den Beitrag von Dieter Hüning in diesem Band. Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1189f. Vgl. auch Hißmann: Über Sprache und Schrift II (s. Anm. 93), S. 18–20Anm. 3, vgl. auch dessen Untersuchungen, über die Mutterliebe. In: Hißmann: Untersuchungen, über den Stand der Natur (s. Anm. 72), S. 62–68. Bekanntlich war das einer der Gedanken, die Rousseaus entschiedenen Widerspruch provozierten: All jene, die die Familie als Keimzelle der Sprache angeben, gingen vom Stand der bürgerlichen Gesellschaft aus, projizierten gewissermaßen den zivilisierten in den Stand der Natur, argumentierten mithin nicht genetisch, sondern analytisch (vgl. Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts [s. Anm. 7], S. 388). Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1191. Ebd., Sp. 1193. Hierin folgt er Tiedemanns Versuch einer Erklärung des Ursprungs der Sprache (Riga 1772) und Maupertuis’ Dissertation sur les différents moyens dont les hommes se sont servis pour exprimer leurs idées (1754).

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Die menschliche Gesellschaft wurde im urmenschlichen »Thierstand« geboren, erhob sich daraus zum Jägerstand und entwickelte sich schließlich über den Ackerbaustand zum bürgerlichen Stand.116 Der Schritt zur artikulierten Sprache vollzieht sich mit dem Übertritt vom Stand der Natur, d.h. von der »allereinfachsten Gesellschaft«,117 in den Stand der »einfachsten Jägergesellschaft«118 in drei Phasen: In der ersten, der onomatopoetischen, geht man dazu über, die Laute der Tiere imitierend zu ihrer Bezeichnung zu verwenden: »Der Ton bezeichnete die Sache, so wie die Sache selbst den Ton gab.«119 Diese Art von noch unartikulierter onomatopoetischer Nachahmung mündet schließlich in die zweite, die Phase des musikalischen Gesangs. Es ist eine Art »musikalischer unartikulirter Gesang, der sich nicht in Silben aussprechen, sondern in Tönen singen und moduliren lässt«.120 In der dritten Phase vollzieht sich schließlich der Übergang von der unartikulierten zur artikulierten und damit zur eigentlichen Sprache. Nun macht man sich an eine der »allerschwersten Erfindungen«, an die der Alphabete, Buchstaben und Silben, und an die Umbildung der nachgeahmten Töne in Worte.121 Hißmanns Auffassung des Sprachentstehungsprozesses nimmt sich im Vergleich zu dem Herders genetisch-naturalistischer aus. Herders Annahme einer instantan einsetzenden ›Besonnenheit‹, macht auch die Annahme einer plötzlichen Sprachentstehung notwendig: »Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden.«122 Für Hißmann, der einen polygenetischen Sprachursprung annimmt,123 116

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Hißmann: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12), S. 250Anm. 54. Die Entwicklungsstufen ähneln denen Montesqieus und Rousseaus. Letzterer nahm für die frühe Menschheitsgeschichte drei Etappen an: (a) le sauvage est chausseur – Hieroglyphenschrift, (b) le barbare est berger (das Goldene Zeitalter) – Bilderschrift, (c) l’homme civil est laboureur – alphabetische Schrift. Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1191. Ebd., Sp. 1194. Ebd., Sp. 1195. Onomatopoetisch gebildete Wörter sind die gewissesten natürlichen Wörter resp. Zeichen (verba nativa), »die wahren Wurzelwörter, die freylich versezt, verändert, verstümmelt und daher größtentheils unkennbar geworden.« (Hißmann: Über Sprache und Schrift I [s. Anm. 12], S. 288f.Anm. 61.) Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1196. Ebd., Sp. 1197. »Immer blieb sein uraltes Wörterbuch auch hier die Grundlage, nemlich die tönende Natur« (ebd.). Vgl. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 9), S. 45f.: Die Natur präsentiert sich dem Horchenden tönend: »Da liegt ein kleines Wörterbuch fertig und wartet auf das Gepräge der Sprachorgane. […] Welch ein Lehrsaal der Ideen und der Sprache!« Ebd., S. 31. Herder nimmt, ausgehend von der Einheit des Menschengeschlechts (ebd., S. 117f.), einen monogenetischen Sprachursprung an (ebd., S. 116). Adam ist nicht nur Stammvater der Menschen, sondern zugleich erster Spracherfinder: »Das Weib, in der Natur so sehr der schwächere Teil, muß […] von dem erfahrnen, versorgenden, sprachbildenden Manne Gesetz annehmen« (ebd., S. 99). Vgl. Hans Dietrich Irmscher: Nachwort. In: Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 9), S. 137–175, hier S. 162: »Der biblische Bericht (1. Mos. 2,19f.) ist für Herder gleichsam das Schema seines sprachphilosophischen Grundgedankens.« Hißmann merkt dazu andernorts an: »Die Bibel hat noch allemal ungefesselten Philosophen in ihren Untersuchungen Fessel angelegt, selbst in Ländern, in denen die Freyheit des Geistes durch keine peinliche Geseze, und die Sprachfreyheit durch keine Strafverordnungen eingeschränkt worden. […] In […] Deutschland [wird man] mit dem Vorwurf, ein Ungläubiger zu seyn, gebrandmarkt werden, wenn man eine Meynung hegt, die nicht in der Bibel, sondern einer gewissen allgemein angenommenen Erklärung gewisser biblischen Stellen widerspricht. […] Ich will nicht einmal des Unsinns gedenken, den die Worte der Schrift, wenn sie im eigentlichen Verstand genommen werden, Gott und den Menschen beylegen. Man erkläre also Schöpfungs-, Falls-, und babylonischen Thurmbauesgeschichte allegorisch.« (Hißmann: Über Sprache und Schrift I

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erwächst die Sprache dagegen aus der sozialen, Bedürfnisse kommunizierenden Interaktion, setzt diese voraus – eine Annahme, die Herder nicht teilt. Die Sprache sei in dem Moment erfunden, so Herder, in dem die Seele »gleichsam in ihrem Inwendigen geblökt [habe], da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte, und wiedergeblökt, da sie ihn daran erkannte«.124 Das »erste Urteil der Seele«125 ist zugleich Sprachschöpfung gewesen. Es sei ohne Belang, ob der Mensch dies »innerliche Merkwort«126 je zur Kommunikation verwendet, sich mithilfe dessen jemandem mitteilt.127 Darin spricht sich ein methodischer Solipsismus aus. Seine Sprache ist nicht an Artikulation gebunden: Auch ohne Mund und ohne Gesellschaft sei die Seele vermögend, Sprache zu erfinden. So ist der Mensch immer schon »inwendig sprechender Mensch, der sich über kurz oder lang seine äußerliche Sprache erfinden musste«.128 Hißmanns Spracherfinder hingegen ist in eine soziale Gemeinschaft eingebettet, ist auf Kommunikation bedacht; Sprachentstehung ist für ihn nicht instantan ins Werk Gesetztes, sondern sich allmählich und stufenweise Vollziehendes. Damit ist der Weg der Spracherfindung mit Hißmann fast vollständig abgeschritten, wäre da nicht noch das Problem der Bezeichnung nichttönender und unempfindbar-abstrakter Gegenstände. Wie ist deren Bezeichnung motiviert? Hißmann beruft sich hier mit Sulzer auf den »vortreffliche[n] Verfasser einer vorzüglich einsichtsvollen Abhandlung« unter den Berliner Preisschriften von 1759, der die Motivation der Bezeichnung unempfundener und abstrakter Gegenstände auf die Assoziation zurückgeführt hatte. Danach sei es ein »Naturgesetz, daß sich

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[s. Anm. 12], S. 236–239Anm. 52) Vgl. auch Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntniß (s. Anm. 13), S. 209–211Anm. Dass Hißmann einem Kreis von Aufklärern angehörte, die weit radikalere Ideen einte, belegt ein Schreiben Mauvillons, Professor am Kasseler Collegium Carolinum und Gesinnungsgenosse Hißmanns. Darin heißt es: »Denn unter uns u. als Freunde gesagt, bin ich überzeugt daß man der Menschheit keinen wichtigern Dienst erzeigen kann als an der Untergrabung des Christenthums zu arbeiten. Diese Religion macht die Menschen schwach, furchtsam, kleinmüthig; sie erstickt jede Hoheit des Geistes, allen Adel der Seelen. Muth im Tode, Widerstand gegen Gefahren u. Unterdrückung sind ihr ein Greuel […].« (Jacob Mauvillon an Hißmann [Kassel, 23. Juni 1777]. In: MS Klein. Slg. Johann Filtsch. Nachlaß der Familie Klein im Brukenthal’schen Museum in Hermannstadt, Bll. 146r–147r, hier Bl. 146v.) Vgl. Hißmann: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12), S. 83Anm. 8. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 9), S. 34. Das ›blökende Lamm‹-Beispiel Herders schreibt sich von Mendelssohns ›Schaf‹-Beispiel in dem seiner Übersetzung von Rousseaus Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen mitgegebenen Nachschrift her (Johann Jacob Rousseau Bürgers zu Genf Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie sich gründe: ins Deutsche übersetzt mit einem Schreiben an den Herrn Magister Leßing und einem Briefe Voltairens an den Verfasser vermehret. Berlin 1756, S. 235–252, hier S. 248ff.). Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 9), S. 32. Ebd., S. 33. Vgl. Irmscher: Nachwort (s. Anm. 122), S. 162f.: »Herders Ansatz verhindert, Sprache in ihrer kommunikativen Funktion zu erfassen.« Die Sprache hat für ihn im Grunde monologischen Charakter. Herder fasst Sprachentstehung als von intersubjektiver Kommunikation unabhängiges, bloß intrasubjektives Geschehen auf. Sprache ist für ihn nicht an einen Akt der Äußerung gebunden. Damit löst er die Sprachentstehung von körperlicher Organisation, entnaturalisiert und entsozialisiert sie schließlich. Im Gegensatz zu Hißmanns emotivistisch-naturalistischer Sprachentstehungstheorie vertritt Herder eine kognitivistisch-metaphysische. Vgl. Anm. 89. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 9), S. 41.

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ähnliche Begriffe und Gegenstände im menschlichen Gehirn associiren«.129 Derlei assoziativ motivierte Benennungen seien jedoch oft raum-zeitlich verankert und deshalb für den späteren Sprecher kaum noch nachvollziehbar. Die Herausbildung der menschlichen, d.h. der artikulierten Sprache, setzt mit gestischer Sprache und der Nachahmung von Lauten der ›tönenden Natur‹ ein. Sie entwickelt sich nicht von der der ›tierischen Natur‹ eigentümlichen Empfindungssprache herkommend. Hier herrscht ein unüberwindlicher Hiatus. Darin stimmt Hißmann mit Herders Condillac-Kritik überein: Dieser suchte »in den unartikulirten, durch heftige Empfindungen und Leidenschaften herausgepreßten Naturlauten den Ursprung der artikulirten Sprache«.130 Zwischen Tier und Mensch, so die Quintessenz, gibt es in Hinsicht der artikulierten Sprache nicht nur einen graduellen, sondern einen qualitativen Unterschied. Dort wird fehlender Sprachorgane allenfalls etwas »herausgepresst«, hier ermöglicht ihr Vorhandensein Artikulation. Ebenso wenig verdanke sich die Sprachentstehung einer Verabredung, wie Maupertuis meinte; »als wenn rohe, sprachlose Menschen dergleichen gelehrte Conventen zu veranstalten wüßten?«131 Die Fortbildung der menschlichen Sprache vollzieht sich auf der Grundlage der Assoziation. Im Menschen, einem denkenden sensorium commune,132 wie Hißmann mit de Brosses und Herder133 meint, wirken alle Sinne zusammen: Alle Sinne sind nichts als Arten des Gefühls, davon ein jedes nach einem Empfindungsgesetz der thierischen Natur seinen Laut hat, der sich allen Nerven der ganzen Maschine mittheilt. Bey dieser Harmonie des ganzen Nervensystems konnten die Fortbilder der Sprachen einen jeden Gegenstand, der auf Auge, Geschmack, Geruch und Gefühl einen unangenehmen Eindruck machte, auch nach seinen Ähnlichkeiten mit einem rauhen und unangenehmen Namen belegen134 […]. Auf der andern Seite gab er allen sanften Eindrücken auf die vier äußern Sinne [Geruch, Getast, Geschmack, Gesicht] wiederum wegen der Harmonie der Nerven sanfte Namen.135

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Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1199; vgl. Hißmann: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12), S. 49Anm. 2 sowie S. 321Anm. 68, desgleichen Nowitzki: Denken – Sprechen – Handeln (s. Anm. 59), S. 154Anm. Hißmann anerkennt im Anschluss an Christoph Meiners (Kurzer Abriß der Psychologie zum Gebrauche seiner Vorlesungen. Göttingen, Gotha 1773, S. 38) drei Assoziationsgesetze: »Das Gesetz der Koexistenz, das Mallebranche bekannt machte, und das Gesetz der Ähnlichkeit der Ideen, das der deutsche Philosoph [Christian Wolff] zuerst bemerkte, und Hume deutlicher auseinander setzte. Für die Association unsrer innern Empfindungen und Leidenschaften könnte man mit Recht noch ein drittes Gesetz vestsetzen, dessen Hauptstücke schon Malebranche vorgelegt hat, […] das Gesetz der physischen Verbindung unserer innerer Organen.« (Hißmann: Geschichte der Lehre von der Association der Ideen [s. Anm. 20], S. 86; vgl. hierzu auch den Beitrag von Falk Wunderlich in diesem Band.) Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1197: »[…] als wenn irgend in einer menschlichen Sprache diese Laute Wurzelwörter wären?« (Ebd., Sp. 1197f.) Vgl. auch Hißmann: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12), S. 257f.Anm. 56 und S. 263Anm. 57, und dessen Anleitung (s. Anm. 29), S. 114f., sowie dessen Vorbericht zu seiner Übersetzung von Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntniß (s. Anm. 13), [S. 2], und Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 9), S. 52. Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1197. Vgl. Hißmann: Über Sprache und Schrift II (s. Anm. 69), S. 33Anm. 5, ebenso auch Hißmann: Anleitung (s. Anm. 29), S. 115. Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 32), S. 41. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 9), S. 54. Dieser Gedanke findet sich auch bei de Brosses (vgl. Hißmann: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12), S. 10. Hißmann: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 12), Sp. 1200.

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4. Hißmanns Kommentar zur Sprachmechanik de Brosses’ Damit schließt Hißmann seine Abhandlung Über den Ursprung der Sprache, nicht ohne jedoch noch einmal explizit – wie schon eingangs des Aufsatzes – auf de Brosses hinzuweisen. Dass dieser Verweis kein Zufall ist, bekundet Hißmann damit, dass er dessen linguistisches Hauptwerk ins Deutsche übersetzte und, mit einer Vielzahl von Anmerkungen begleitet, im Jahre 1777 unter dem Titel Über Sprache und Schrift publizierte.136 Mit seinen etwas mehr als 150 Anmerkungen bezeugt Hißmann auf beeindruckende Weise, wie intensiv er sich auch mit den physiologischen Grundlagen der Sprache beschäftigt hat. Die Anmerkungen reichen von Literatur- und Quellenangaben, über Ergänzungen und Berichtigungen bis hin zu mehrseitigen Exkursen, womit er das de Brosses’sche Werk ganz wesentlich ergänzt, so etwa I, S. 155–157, Anm. 31, S. 165–169, Anm. 36 oder S. 210–213, Anm. 47, wo er mit Hallers Physiologie de Brosses’ Ausführungen lautphysiologisch untersetzt. Drei Jahre darauf, in seiner Übertragung von Condillacs Essai, verzichtet er auf Annotationen: Inzwischen sei er »[d]em alltäglichen Notenankleben […] von Herzen feind«137 geworden. Stattdessen plante er, Condillacs Essai eigene Abhandlungen anzuhängen, wie aus einem Brief des Leipziger Verlegers Weygand hervorgeht, der zudem interessante Einblicke in die Druckgeschichte des Werkes eröffnet.138 136

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Hißmann: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12). [Der Vorbericht ist datiert: Göttingen, den 22. Merz 1777.] – Hißmann: Über Sprache und Schrift II (s. Anm. 93). [Vorbericht: Göttingen, den 20sten Junii, 1777.]. Michael Hißmann: Vorbericht. In: Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte 3 (1780), S. 6. »Für die gütige Übersendung Ihrer Übersetzung des Condillac«, heißt es da, »bin ich Ihnen sehr verbunden, und es freuet mich ungemein, daß Sie unsere diesfalls genommene Abreden nicht aus der Acht gelassen; auch die einigen Abhandlungen, die am Ende noch angedruckt werden sollen, will ich mir gelegentlich von Ihnen erbitten: denn es th[ut] mir sehr leid, daß ich Ihnen die unangenehme Nachr[icht] melden muß, wie es nunmehro ganz unmöglich ist, [das] Werk zur Ostermesse noch fertig zu schaffen. Der Mangel an Leuten in den Druckereyen ist wegen des Krieges so groß, daß keine einzige völlig besezt ist; da hingegen die Arbeiten desto häufiger sind, weil jetzt so viel geschrieben wird. Von der Stunde des Empfangs Ihres Mspts. an bis jetzt habe ich mir wirklich die allermöglichste Mühe gegeben, es noch gedruckt zu bekommen, aber vergeblich, und es ist nun nicht eher möglich den Anfang darin zu machen als auf künftigen Sommer, so daß es gewiß auf Michaelis fertig wird, und ich mich hiermit erbiete, gegen diese Zeit und noch vorher einen guten Geldabtrag in Abschlag auf das Honorar[i]um zu bezahlen. Genau betrachtet sind Ew. Wohlgebohren selbst daran schuld, daß Ihr Werk diesmal nicht zur Messe erscheint. Sie wissen selbst, wie viele Zeit seit unserer getroffenen Abrede verflossen ist; und wenn Sie mir nur noch vor ein paar Monaten einige Nachricht gegeben hätten, daß ich gewiß etwas von Ihnen erhalten würde, so wäre es wenigstens leichter möglich gewesen, das Werk noch zum Druck unterzubringen. Nunmehro aber sind alle Druckereyen aufs stärkste besezt. | Das von Ihnen bedungene Honorarium à 1 Dukaten für den Bogen, bin ich ganz zufrieden, so wie auch die erlangten 12 FreiExemplaria. Allein die verlangten Bücher von Campe, Shaftesbury und Blackwell noch über dieses zugeben, ist mir unmöglich; jedoch erbiete ich mich, sie Ihnen, wenn Sie solche verlangen sollten, für eben den Preis zu lassen, wie sie die Buchhändler bekommen. | Wegen Priestley habe ich mich, indem ich ohnehin noch verschiedene wichtige Verlagsunternehmungen von philosophischen Büchern vor mir habe, anders entschlossen, und dessen Übersetzung oder Auszug ganz aufgegeben. Sollten Sie künftig auf glückliche, nur nicht blos philosophische, geschweige trockene, theoretisch oder spekulativisch philosophische Verlagsideen gerathen, so bitte ich um deren gütige Mittheilung. | ich habe die Ehre zu seyn | Ihr | ergebenster Diener | Weygand.« (Buchhändler Weygand an Hißmann [Leipzig, 17. Januar 1779]. In:

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Charles de Brosses (1709-1777), Präsident des burgundischen Parlaments in Dijon, veröffentlichte im Jahre 1765 eine Abhandlung über die mechanische Bildung der Sprachen und die physischen Prinzipien der Etymologie,139 dem nach Noël-Antoine Pluches Mechanik der Sprachen und die Art sie zu lehren140 (1751) profiliertesten Beitrag der so genannten Sprachmechaniker. Im Gegensatz zu Pluche, der einen göttlichen Sprachursprung propagiert und dazu auffordert, sich dem providentiell verfassten sozialen Mechanismus ›Sprache‹ gleichsam zu ›überlassen‹, sich ihm nicht rational zu nähern, verficht de Brosses einen dezidiert natürlichen Sprachursprung. Während Pluche den Mechanismus gegen den Rationalismus ausspielt, setzt de Brosses gerade mit dem Rückgriff auf den Mechanismus auf dessen rationale Einholbarkeit, ohne jedoch einem Logizismus à la Maupertuis damit das Wort zu reden. Vielmehr ist sein Ansatz naturalistisch und antimetaphysisch. Im Fokus de Brosses’ stehen die natürlichen strukturbasierten Bedingungen der Sprachentstehung und Sprachverwendung, um von da aus zum einen sprachkritisch und sprachpflegend tätig werden, zum anderen aber auch, um mittels etymologischer Herleitungen die fast undurchschaubare Sprachenvielfalt natürlich erklären zu können.141 Von der Annahme ausgehend, dass die Sprachzeichen der zu rekonstruierenden, nur hypothetisch angenommenen Ursprache (langue primitive) natürlich, nicht arbiträr gewesen seien, und unter Einrechnung der wahrscheinlichen Derivation, die die natürlichen, rein mechanisch entstandenen Wurzelwörter

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MS Klein. Slg. Johann Filtsch. Nachlass der Familie Klein im Brukenthal’schen Museum in Hermannstadt, Bl. 78r–78v). Charles de Brosses: Traité de la formation méchanique des langues et des principes physiques de l’étymologie. Paris 1765. Hißmann gibt eine wörtliche Übersetzung des Titels nach der Vorrede auf S. 1 des ersten sowie auf S. 3 des zweiten Bandes: Über die mechanische Bildung der Sprachen, und über die physische Prinzipien der Etymologie. »Ich habe«, schreibt er, »den Titel nicht buchstäblich übersezt, weil wir uns unter dem Wort, Etymologie, selten den richtigen Begrif zu denken pflegen.« (Hißmann: Über Sprache und Schrift I [Anm. 12], [p. VAnm.].) Zu de Brosses vgl. Romain Colomb: Essai sur la vie et les écrits du président de Brosses. Paris 1858 ; Henri Mamet: Le président de Brosses, sa vie et ses ouvrages. Paris 1874; Hippolyte Sautebin: Un linguiste français du XVIIIe siècle[.] Le Président de Brosses[.] Etude historique et analytique du Traité de la formation méchanique des langues. Bern 1899 [ND 1971]; Yvonne Bezard: Le président de Brosses et ses amis de Genève. Paris 1939; Charles de Brosses 1777–1977. Actes du colloque organisé à Dion du 3 au 7 mai 1977 pour le deuxième centenaire de la mort du président de Brosses, par l’Académie des sciences arts et belles lettres de Dijon et le Centre de recherche sur le XVIIIe siècle de l’Université de Dijon. Hg. Jean-Claude Garreta. Genf 1981; Julie Andresen: Linguistic metaphors in Charles de Brosses’s Traité of 1765 and the history of linguistics. In: Lingvisticae investigations 5 (1981), pp. 1–24; Micheline Coulaud: Les Mémoires sur la matière étymologique de Ch. de Brosses. Problèmes et recherches. In: Studies on Voltaire and the eighteenth century 199 (1981), pp. 287–352; Daniel Droixhe: Matérialisme et histoire dans la linguistique du Président de Brosses. Un entretien avec Helvétius? In: Horst Geckeler, Brigitte Schlieben-Lange, Jürgen Trabant u.a. (Hg.): Logos semantikos. Berlin, New York, Madrid 1981, vol I., pp. 69–75, sowie Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts (s. Anm. 7), S. 60–62, 235–240, 263–266, 479–486 u.ö. und Droixhe u. Haßler: Aspekte der Sprachursprungsproblematik in Frankreich (s. Anm. 3), S. 334–337. Noël-Antoine Pluche: La mécanique des langues et l’art de les enseigner. Paris 1751. 1753 ließ er noch einen Supplément à la mécanique des langues folgen. Vgl. Irene Monreal-Wickert: Die Sprachforschung der Aufklärung im Spiegel der großen französischen Enzyklopädie. Tübingen 1977, S. 50Anm. 40 und S. 148f.; Ricken: Sprache, Anthropologie, Philosophie (s. Anm. 3), S. 78f.; ders.: Leibniz, Wolff und einige sprachtheoretische Entwicklungen in der deutschen Aufklärung. Berlin 1989, S. 50f.; Hoinkes: Philosophie und Grammatik in der französischen Aufklärung (s. Anm. 62), S. 123–127, Droixhe u. Haßler: Aspekte der Sprachursprungsproblematik in Frankreich (s. Anm. 3), S. 334–337, sowie Raymund Wilhelm: Die Sprache der Affekte. Jean-Jacques Rousseau und das Sprachdenken des siècle des Lumières. Tübingen 2001, S. 255–264.

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(racines) im Laufe der Entwicklung zur konventionellen Sprache erfahren haben, sowie der eruierten physischen, d.h. anatomisch-physiologischen Grundlagen der Wurzelwortbildung hofft de Brosses einen Weg gefunden zu haben, aus allen Sprachen die Wurzelwörter herausfiltern und in einem Wörterbuch versammeln zu können, um sich damit schließlich in die Lage zu versetzen, Sprachverderbnis und -missbrauch begründet entgegentreten zu können: »Allein ich bleibe bey den Wörtern in keiner andern Absicht stehen, als um zu den Sachen selbst zu gelangen. Wenn ich mich um den Bau, und um die Entstehung der Wörter bekümmere: so geschieht es blos, weil ich Hofnung habe, die Entstehungsart, und die Werkstätte der Ideen dadurch zu entdecken, und für einsichtsvolle Leser die Werkstätte der Meynungen.«142 Hißmann steht der Unternehmung insofern skeptisch gegenüber, als er eine lückenlose Rückverfolgung der Ableitung der Wörter nicht für möglich hält: »Nimmermehr wird man […] die Wurzelwörter in dem ursprünglichen Wörterbuch der tönenden Natur aufzuschlagen im Stand seyn.« Gleichwohl findet das grundsätzliche Ansinnen de Brosses’ seine Zustimmung: »Diese Unbequemlichkeit abgerechnet: so bleibt die Etymologie allemal ein Haupttheil der Geschichte des menschlichen Geistes, den ein sehr philosophischer und sprachkundiger Kopf noch zu bearbeiten hat.«143 De Brosses beschritt mit seinem Werk konzeptionell weitgehend wissenschaftliches Neuland, denn der Etymologie wurde von den Grammatikern des 18. Jahrhunderts zumeist nur noch wenig Wertschätzung entgegengebracht; auch der Status als grammatische Disziplin wurde ihr erst später wieder zuerkannt. Zu sehr hatte ihr die abenteuerliche pseudoetymologische Praxis der Barockzeit geschadet. Gleichwohl fanden de Brosses’ Arbeiten Eingang in d’Alemberts und Diderots Enzyklopädie-Projekt.144 Warum, so ist abschließend zu fragen, brachte Hißmann de Brosses’ Arbeit so überaus große Wertschätzung entgegen und übersetzte dieses opulente, durch eine Vielzahl unnötiger Redundanzen aufgeblähte Werk; in der deutschen Fassung zählt es immerhin annähernd 1000 Seiten? Hierfür kann wohl zweierlei ins Feld geführt werden: (1) Zunächst wird ihm der antimetaphysisch-antispiritualistische und naturalistische Impetus des de Brosses’schen Ansatzes sympathisch gewesen sein; (2) konnte er bei ihm seine eigene historisch-genetische Auffassung der Sprachentstehung und -entwicklung vielfach bestätigt finden, etwa dort, wo er darauf hinweist, »daß keine

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De Brosses in: Hißmann: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12), S. 64. Zur Bedeutung der Etymologie vgl. de Brosses: ebd., S. 72–140. Insbesondere auch in: Hißmann: Über Sprache und Schrift II (s. Anm. 93), S. 348Anm. 44. De Brosses in: Hißmann: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12), S. 86Anm. 9. Vgl. auch de Brosses in: Hißmann: Über Sprache und Schrift II (s. Anm. 93), S. 91Anm. 20 und S. 113f.Anm. 24. De Brosses hatte 1751 Gelegenheit, seine beiden Mémoires sur la matière étymologique den Mitgliedern der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres vorzutragen; handschriftlich bekam Diderot diese Arbeiten zur Kenntnis. Verschiedene Encyclopédie-Artikel fußen auf den Mémoires, insbesondere die Artikel Interjection und Onomatopée (in: Encyclopédie. tom. VIII (1765), pp. 827–829, sowie tom. XI (1765), pp. 484–486). Vgl. Hißmanns Anmerkung in ders.: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12), S. 3f.

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bekannte Sprache klumpenweise, oder auf einmal gebildet worden«,145 oder in jenen Passagen, wo er sie als ein Produkt des gesellschaftlichen Umganges ausweist.146 (3) Darüber hinaus wird Hißmann die methodische Vorgehensweise de Brosses’ geschätzt haben. Es ist dieses Denken sub specie machinae, das sich u.a. darin bekundet, »[d]aß die Keime der Rede, oder die Veränderungen der menschlichen Stimme, aus welchen alle Wörter der Sprachen entstanden, physische und nothwendige Wirkungen sind, die, so wie sie da sind, ganz nothwendig aus dem Bau und aus dem Mechanism des Sprachorgans herrühren, und von der willkührlichen Auswahl des verständigen Wesens, welches sie gebraucht, ganz unabhängig sind.«147 Die artikulierte Sprache ist im de Brosses’schen Verständnis physische und notwendige Wirkung eines menschlichen Organs, nämlich des Sprachorgans, und determiniert durch dessen Bau und Wirkungsweise. Doch nicht genug damit, dass die Sprache wesentlich durch die Körperstrukturen bestimmt ist. Darüber hinaus wird auch die Art und Weise der Bezeichnung, d.h. das Signifikans durch das Signifikandum determiniert. So schreibt de Brosses, [d]aß die Auswahl desjenigen Keims, oder einer Artikulation, aus den wenigen Keimen, den man zur Verfertigung eines Worts, das heißt, eines Nahmens für einen gewissen wirklichen Gegenstand, gebraucht, schon durch die Natur und durch die Beschaffenheit des Gegenstandes selbst physisch bestimmt ist; so daß er so viel möglich den Gegenstand, so wie er an und für sich beschaffen ist, zu mahlen geschickt ist. Denn sonst würde dem Wort gar keine Idee ankleben. Daher würde ein Mensch, der für eine harte Sache zum erstenmal einen Nahmen erfinden müßte, dieselbe mit einem harten, und nicht mit einem sanften Ton bezeichnen.148

Jene Konzeption des so genannten ›natürlichen Zeichens‹ steht paradigmatisch für den Naturalismus der Sprachmechaniker der Aufklärungszeit. Sie sehen in der Ursprache, um die es hier zunächst geht, ein »System der Nothwendigkeit«, das von zwei Faktoren bestimmt wird: (a) der »Einrichtung der Sprachorganen selbst« und (b) der »Natur« resp. »Eigenschaft der Dinge selbst«.149 Stets wiederkehrend ist der Hinweis auf die Struktur des menschlichen Körpers und die Beschaffenheiten der Außenwelt, die den menschlichen Körper in der einen oder anderen Art modifizieren bzw. affizieren. Im Menschen werden so, wie in jeder anderen Maschine, wie in jedem anderen Organismus, aufgrund gewisser, durch bestimmte Strukturen modifizierter Kräfte notwendig diskrete Wirkungen hervorgebracht. »Der Geist des Menschen bringt aus dem Instrument der Stimme Konsonanzen und Dissonanzen heraus […]. Die Akkorde […] geben die gemeine Sprache, in welcher durch eine äußere körperliche Handlung eine innre geistige Operation sinnlich gemacht wird. In diesem Werk«, so de Brosses weiter, »wird nur von jener materiellen Operation die Rede seyn […,] wird das Organ der Stimme blos als ein mechanisches Werkzeug, als eine Maschine betrachtet, die durch ihren Bau geschickt ist, artikulirte Töne hervorzubringen, und sie wegen der bestimmten Organisation nothwendig gerade so hervorzu145 146

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Ebd., S. 234. Desgleichen Hißmann: Über Sprache und Schrift II (s. Anm. 93), S. 89: »Keine Sprache ist auf einmal in einem Augenblick entstanden.« Ebd., S. 7 und S. 17–20. In seiner Anmerkung zu letzterer Passage heißt es u.a.: »Der Saz ist ausser Zweifel: daß der spracherfindende Mensch Gesellschafter seyn mußte, weil er im Zustand der aussergesellschaftlichen Wildheit zur Erfindung einer Sprache schlechterdings keine Veranlassung hat.« Hißmann: Über Sprache und Schrift I (s. Anm. 12), S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11.

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bringen, wie es sie hervorbringt.«150 De Brosses eröffnet eine naturalistisch-anthropologische Sichtweise auf die Sprachursprungsproblematik, indem er auf die sprachphysiologische Determination des Denkens aufmerksam macht. Wie unschwer zu erkennen ist, bediente er sich hierfür des Maschinenmodells und der davon abgeleiteten naturphilosophischen Vorgehensweise des ›mechanischen Philosophierens‹. Das Maschinenmodell stellte seinerzeit eine nichtmetaphysische, phänomenologisch-naturwissenschaftliche Minimalerklärungsbasis dar und wurde von vielen, essentiell unterschiedenen Denkströmungen adaptiert, weil es als maschinelles Erklärungsmodell ausreichend Raum für Gesetzesaussagen verschiedenster Provenienz bot. So auch hier. Als offenes systemisches Denkmodell bot es gleichermaßen Anknüpfungspunkte für die Psychologie als Psychomechanik wie für die Sprachphilosophie als Sprachmechanik. Es stellte eine Plattform zur Verfügung, auf der sich die unterschiedlichsten Disziplinen treffen konnten. Mit ihm verbanden sich eine der Aufklärung entgegenkommende intellektuelle Nachvollziehbarkeit und damit Überprüfbarkeit, d.h. eine der metaphysisch-spekulativen Dunkelheit entgegenstehende Transparenz. Es sicherte analytisch aufgebautes Wissen. Dabei ging es in erster Linie um ein funktionales Wissen, nicht um eines, das nach letzten metaphysischen oder physischen Gründen fragt.151 Die Mechanik als fundamentales Funktions- und die Kausalität als maßgebliches Erklärungsprinzip grundiert in diesem Sinne nicht nur Hißmanns Psychologie, sondern auch seine Sprachphilosophie.

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Ebd., S. 67. Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch (s. Anm. 32), S. 11–17, 39–42.

GIDEON STIENING

»Die Nerven deines Schönheitsgefühls.« Hißmann als materialistischer Ästhetiker und Theoretiker des Sturm und Drang?

1. Zur Einführung Im Jahre 1773 erscheint in zweiter Auflage ein Roman, der schon nach seiner ersten Publikation 1766/67 einiges Aufsehen erregt hatte; dort wurde gleich in den ersten Kapiteln, die – wie das ganze Buch – die Lebensgeschichte des Protagonisten ausführen, ein energischer, bisweilen wütender Dialog, eine leidenschaftlich geführte Kontroverse vorgeführt, die zwischen dem reichen Hedonisten Hippias und seinem Sklaven Callias ausgetragen wird. Schnell zeigt sich, dass Callias einen theoretisch zwar fragilen, weltanschaulich gleichwohl energischen Idealismus vertritt, der ihn auf ein besseres Leben seiner Seele nach dem Verlassen des als Gefängnis bestimmten Körpers hoffen lässt, während Hippias davon überzeugt ist, dass der Mensch »ein Thier« ist; zu Callias gewandt führt er aus: Du entstehest wie die Thiere, wächsest wie sie, hast ihre Bedürfnisse, ihre Sinnen, ihre Leidenschaften, wirst erhalten wie sie, vermehrst dich wie sie, stirbst wie sie und wirst wie sie wieder zu einem bißchen Wasser und Erde, wie du vorher gewesen warst. Wenn du einen Vorzug vor ihnen hast, so ist es eine schönere Gestalt, ein Paar Hände, mit denen du mehr ausrichten kannst als ein Thier mit seinen Pfoten, eine Bildung gewisser Gliedmassen die dich der Rede fähig macht, und ein lebhafterer Witz, der von einer schwächeren und reizbareren Beschaffenheit deiner Fibern herkommt, und dennoch alle Künste, womit wir uns so groß zu machen pflegen, den Thieren abgelernt hat.1

Unschwer erkennbar handelt es sich bei dieser Passage um einen Teil des Eingangsdialogs zwischen dem Materialisten Hippias und seinem Sklaven Agathon, hier Callias genannt, aus der zweiten Auflage (1773) der Geschichte des Agathon von Christoph Martin Wieland. Diese Kontroverse zwischen beiden Protagonisten gibt die entscheidende Problemlage des gesamten Romans auf;2 Wieland hat die systematische Struktur dieser Auseinandersetzung noch in die dritte Auflage seines Romans von 1794 übernommen, so dass eine für den Autor bestehende Kontinuität jener anthropologischen und epistemologischen Streitsache ersichtlich wird. Entscheidend ist nämlich, dass Wieland keineswegs ausschließlich die Positionen des Agathon teilt und literarisch 1 2

Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Zitiert nach: Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Manger u. Jan Philipp Reemtsma. Berlin, New York 2008ff., hier Bd. 10.1/2, S. 56f. Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands »Agathon«-Projekt. Tübingen 1991, S. 104ff.

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legitimiert; vielmehr sieht er in der Grundanlage des populären Materialismus seines Hippias überzeugende Momente einer empiristischen Epistemologie und einer naturalistischen wie utilitaristischen Ethik.3 Gerade weil Wieland die These von der grundlegenden Körpergebundenheit menschlichen Vorstellens und Handelns teilt – wie viele andere Anthropologen der 1770er Jahre4 –, werden die politischen, rechtlichen und religiösen Konsequenzen des Materialismus als prekär und bedrängend wahrgenommen. Nach langen Unterweisungen des Hippias, der sein System vollständig entfaltet, macht er nämlich am Beispiel der ehelichen Treue – mithin eines rechtlich geregelten Sachverhalts – deutlich, dass sein Verhältnis zum Recht eben ein utilitaristisches ist: Solange es niemand merkt – womit die Stabilität des status civilis gefährdet würde –, kann man durchaus seinen Neigungen nachgehen und sich mit der Frau seines Nachbarn vergnügen. Agathon, der lange geduldig zuhörte, bricht jetzt endlich aus sich heraus: O, Hippias, rief Agathon hier aus, ich habe dich, wohin ich dich bringen wollte. Sieh einmal die Folgen deiner Grundsätze. Wenn alles an sich selbst Recht ist, was meine Begierden wollen, wenn die ausschweifende Forderung der Leidenschaft unter dem Namen des Nützlichen, den sie nicht verdienen, die einzige Richtschnur unsrer Handlungen sind, wenn die Gesetze nur mit einer guten Art ausgewichen werden müssen, und im Dunkeln alles erlaubt ist, wenn die Tugend, und die Hoffnungen der Tugend nur Schimären sind. was hindert die Kinder, sich wider ihre Eltern zu verschwören? Was hindert die Mutter sich selbst und ihre Tochter dem meistbietenden Preiß zu geben? Was hindert mich, wenn ich dadurch gewinnen kann, den Dolch in meines Freundes Brust zu stoßen, die Tempel der Götter zu berauben, mein Vaterland zu verraten, oder mich an die Spize einer Räuberbande zu stellen … […] Du spottest der Tugend und Religion?5

Nicht allein der Roman, sondern viele andere Texte Wielands machen deutlich, dass er diese Bedenken teilte, gerade weil er die Anthropologie und die Epistemologie des Hippias für überzeugend hielt. Auch für ihn – wie dann für Michael Hißmann in den Psychologischen Versuchen – ist die Differenz zwischen Tier und Mensch eine nur graduelle. Wenn es seit den 1750er – vor allem aber in den 1770er Jahren nach der Publikation des Système de la nature des Baron d’Holbach – eine bedeutende Herausforderung der Aufklärungstheorie gab, dann war es der Materialismus, dessen sensualistische Epistemologie, materialistische Anthropologie und noch dessen utilitaristische Moral zwar vielfach geteilt wurden,6 vor dessen Konsequenzen in politischer und religiöser Hinsicht man jedoch zurückschreckte.7

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Vgl. hierzu Gideon Stiening: »Meine Begriffe von der menschlichen Natur«. Epistemologie und Anthropologie bei Wieland. Anmerkungen zu ›Was ist Wahrheit?‹ und zur ›Geschichte des Agathon‹ (1766/67). In: Wieland-Studien 7 (2012), S. 75–104 Vgl. hierzu u.a. Martin Bondeli: Über eine Entdeckung in der Psychologie. Reinholds Auseinandersetzung mit Platners Bemerkungen zur Geschichte des Seelenbegriffs. In: Aufklärung 19 (2007), S. 327–342. Wielands Werke (s. Anm. 1), Bd. 10.1/2, S. 100f. Vgl. hierzu u.a. Falk Wunderlich: Johann Georg Sulzers Widerlegung des Materialismus und die Materietheorien der Zeit. In: Frank Grunert u. Gideon Stiening (Hg.): Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume. Berlin 2011, S. 37–55 oder auch Paola Rumore: Meier, Kant e il materialismo psichologico. In: Luigi Cataldi Madonna u. Paola Rumore (Hg.): Kant und die Aufklärung. Akten der Kant-Tagung in Sulmona, 24.–28. März 2010. Hildesheim, Zürich, New York 2011, S. 329–355. Vgl. hierzu u.a. Udo Thiel: Varieties of inner sense. Two Pre-Kantian Theories. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), S. 58–79 sowie Thomas Kaufmann: Über Hallers Religion. Ein Versuch. In: Norbert Eslner u. Nicolaas A. Rupke (Hg.): Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung. Göttingen 2009, S. 309–379, spez. S. 360ff.

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Wenn Christoph Meiners und Michael Hißmann also den frühen 1770er Jahren ihre materialistischen Konzepte der Öffentlichkeit präsentierten, dann erfolgte das einerseits in einem Kontext, dem diese Nervenfibernpsychologie durchaus nicht unbekannt war,8 anderseits aber mit der expliziten Maßgabe, vor jenen Konsequenzen in praktischer Hinsicht eben nicht zurückzuschrecken; mit David Hume hält Hißmann in seinen Psychologischen Versuchen nämlich ausdrücklich fest: There is no method of reasoning more common, and yet none more blameable, than in philosophical debates, to endeavour the refutation of any hypothesis, by pretence of its dangerous consequences to religion and morality. When any option leads into absurdities, it is certainly false, but it is not certain, that an opinion is false, because it is of dangerous consequences.9

Damit ist nicht nur Wielands Position kritisch getroffen, sondern auch die vieler anderer Anthropologen. Dagegen hat Hißmann auf keinem Feld der philosophischen Wissenschaften vor den Konsequenzen materialistischer Grundlegungstheorien zurückgeschreckt; dies gilt neben dem Bereich der allgemeinen praktischen Philosophie insbesondere für seine politische Philosophie sowie für das Feld der allgemeinen Ästhetik und besonderen Dichtungstheorie. Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts ist allerdings ein Reflexionsfeld, das als streng wissenschaftliche Disziplin ebenso neu wie mit erheblichen Kontroversen belastet war. Auch hier, wie in vielen anderen Wissenschaftsbereichen erweisen sich die Grenzen und Grenzstreitigkeiten zwischen rationalistischen Ansprüchen auf einen objektiven Schönheitsbegriff und empiristischer Kritik und deren Einschränkungen auf einen zwar allgemeinen, doch ausschließlich subjektiven Anspruch des Geschmacks als prägend.10 Darüber hinaus erweis sich die Ästhetik als eine Theoriebereich, auf dem sowohl philosophische Theoretiker als auch literarische, musikalische und künstlerische Praktiker tätig waren und somit eine enge Korrelation zwischen Theorie und Praxis der Schönheit und der Kunst zu verzeichnen war; insbesondere in den deutschsprachigen Debatten bewiesen Lessing, Sulzer, Winckelmann oder Lenz, dass sie nicht allein auf der Grundlage umfassender Kenntnisse der europäischen Künste ihre ästhetischen Konzeption entwickelten, sondern dass sie auch zu künstlerischer Praxis fähig und gewillt waren. Keiner dieser Ästhetiker verstand sich jedoch als Materialist im Sinne der Rückführung angenehmer oder unangenehmer Empfindungen auf »Bewegungen der Gehirnfibern bei schönen und häßlichen« Gegenständen.11 Michael Hißmann erweist sich in seinen Publikationen sowohl als umfassender Kenner und Bewunderer älterer, neuerer und gar neuester Literatur als auch als Experte der philosophischen Schriften zur Ästhetik, wie er in seiner Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Thei-

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Vgl. hierzu auch Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt a. M. 2002, S. 146ff. Michael Hißmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt a. M., Leipzig 1777, S. 258. Vgl. hierzu die nach wie vor unverzichtbaren Überblicksdarstellungen bei Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1973, S. 368–482 [»Grundprobleme der Ästhetik«] sowie Rudolf A. Makkreel: Aesthetics. In: Knud Haakonssen (ed.): The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. 2 vol. Cambridge 2006, II, pp. 516–556. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 170.

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len der Philosophie von 1778 dokumentiert.12 Im Folgenden sollen Hißmanns Ausführungen zur allgemeinen Ästhetik, die für ihn eine enge Bindung sowohl an die Psychologie als auch an die praktische Philosophie hat, rekonstruiert werden, um zu prüfen, ob und wie seine materialistische Anthropologie und Psychologie Auswirkungen auf seine Überlegungen zur Ästhetik haben (2.). Für die Beantwortung dieser Fragen sind einige Passagen aus dem Psychologischen Versuchen sowie der schon zitierten Anleitung zu betrachten. In einem weiteren Schritt werden Hißmanns Thesen und Beweisgänge zur Dramentheorie betrachtet (3.), die er in dem Text Ueber den Hauptzweck der dramatischen Poesie entwickelt hat.13 Sowohl in diesem Zeitschriftenbeitrag als auch in einer Reihe von Rezensionen wird sich dabei eine gewisse Nähe zum literarischen Sturm und Drang nachzeichnen lassen, was mit einem abschließenden Blick auf seinen Beitrag zum Naturrecht, Untersuchungen über den Stand der Natur, überprüft werden kann (4.).

2. Hißmanns materialistische Ästhetik und Dichtungstheorie In seinem philosophischen Hauptwerk, den Psychologischen Versuchen von 1777 entwickelt Hißmann auf der Grundlage neuester neurophysiologischer und -anatomischer Erkenntnisse eine insofern streng materialistische Epistemologie und Anthropologie, als er die Instanz einer vom Körper unterschiedenen Seele bzw. einen Geist für widersprüchlich und damit ebenso unmöglich wie unnötig erklärt.14 Seine Überzeugung von der reinen Körperlichkeit des Menschen und damit der Materialität der Seele bündelt er in dem Urteil: Nach der Erfahrung, auf die ich mich stütze, glaube ich daher annehmen zu müssen, daß unserm Gehirn die Kraft zu denken zugeschrieben werden müsse. Man kan demohngeachtet den Ausdruck, Seele, und Seelenkräfte immer beybehalten, wenn man unter den leztern nichts als Anspannungen der Gehirnorganen, der intellektuellen Fibern versteht, deren verschiedne Modifikationen und Dispositionen verschiedene Begriffe und Ideen sind.15

Vor diesem Hintergrund eines unbestreitbar konsequenten Materialismus16 stellt sich also die Frage nach den Folgen für die Ästhetik; in Ansätzen hat Hißmann seine Überlegungen zu den ›schönen Wissenschaften‹ in seinen Versuchen entwickelt; die Analyse eines im Nachlass aufgefundenen handschriftlichen Skripts zu ›Vorlesungen über Ästhetik‹ muss einer späteren Betrachtung vorbehalten bleiben.

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Michael Hißmann: Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Göttingen, Lemgo 21790, S. 200–234. Michael Hißmann: Ueber den Hautzweck der dramatischen Poesie. In: Deutsches Museum 1777, 2. Bd., S. 553– 564. Vgl. hierzu auch die Beiträge von Udo Thiel und Falk Wunderlich in diesem Band. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 252. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Udo Thiel in diesem Band.

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2.1. Die Organe des Schönen und seine Arten Zur Fragen der Ästhetik äußerst sich Hißmann erstmals im Rahmen seines dritten Versuches über den Begriff und die Formen des inneren Sinnes.17 Es geht dem Psychologen in diesen Passagen allerdings primär um die Bedeutung der Empfindungen schöner Gegenstände für seine epistemologische Analyse des inneren Sinnes; seine Ausführungen verbleiben somit im Status von »Ausfällen in die Ästhetik«, wie er ausdrücklich festhält.18 Diese ›Ausfälle‹ nehmen jedoch ebenso allgemeine wie polemische Züge an: Die Untersuchungen über das Wesen der Schönheit ist eine Lieblingsbeschäftigung der Philosophen unsers Jahrhunderts gewesen. Nimt man aber alles zusammen, was sie durch diese Untersuchungen über die innere Natur der Schönheit zu Stande gebracht: so ist es etwas sehr Unbeträchtliches. Man hat das Schöne in bestimmte Definitionen fassen wollen, und man bedachte nicht, daß die Empfindung des Schönen gar keiner Definition fähig sey, weil sie eine ganz einfache Empfindung ist, die sich nicht mit Worten beschreiben läßt.19

Mit diesem Argument, nach dem die Empfindung des Schönen eine einfache sei, sind alle Anstrengungen Gottlieb Alexander Baumgartens, Johann Georg Meiers oder Johann Georg Sulzers, die derartige Versuche einer allgemein begrifflichen und systematischen Bestimmung des Schönen und der Schönheit seit den 1750er Jahren unternommen hatten,20 als irrationale Unternehmungen zurückgewiesen. Im Sinne der empiristischen Tradition, die in Denis Diderots Essais sur la peinture (1751) oder David Humes Essay on the Standard of taste (1757) ihre Standardtexte in den 1750er Jahren erhielt und in Kants Beobachtungen über das Gefühl der Schönen und Erhabenen (1764), die Hißmann kannte,21 erweitert wurde, werden Fragen der Ästhetik nicht als solche einer objektivern Werk- bzw. Gegenstandstheorie entworfen und beantwortet, sondern ausschließlich im Rahmen einer kritischen Epistemologie der Empfindungen bzw. des Gefühls. Die auf dem Vermögen der inneren Empfindung basierende Befähigung des Geschmacks ist dabei auch für Hißmann aufgrund »seiner Unmittelbarkeit« und damit Einfachheit nicht in Begriffe zu übersetzen und daher a priori einer Definition ebenso unfähig wie unbedürftig. Die deutliche Bindung der Empfindungen des Schönen an den inneren Sinn als dessen zweites Moment zeigt dabei Hißmanns Stellung im Kontext einer auf Francis Hutcheson zurückgehenden Tradition einer Theorie der ästhetischen Erfahrung.22 Einen prägnanten Unterschied gegenüber jener englischen Tradition zur ästhetischen Theorie bildet Hißmanns explizite Polemik gegen jeden Rationalismus; mit lustvoller Verve werden

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Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 159–170. Ebd., S. 160. Ebd., S. 160f. Vgl. hierzu noch Johann Georg Sulzer: Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und ihrer besten Anwendung betrachtet. Leipzig 1772. Laut Hißmann: Anleitung zur Kenntniß (s. Anm. 12), S. 211. Vgl. hierzu Francis Hutcheson: An Inquiry into the Original of our Ideas of beauty and Virtue. London 1726, Section VI; es wird sich allerdings zeigen, dass Hißmann gerade jene dort entwickelte Allgemeinheit des ästhetischen Gefühls nicht teilt.

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der gängigen Definition der Schönheit, die u.a. Johann Georg Sulzer ableitete,23 interne Widersprüche und abstrakte Allgemeinheit vorgerechnet: Die allergewöhnlichste Definition von der Schönheit, bey welcher sich die meisten Philosophen beruhigen, ist diese, daß die harmonische Verbindung der Mannigfaltigkeit und der Einförmigkeit die Schönheit ausmache. […] Kein Philosoph hat es gewagt, Mannigfaltigkeit und Einförmigkeit auf bestimmte Begriffe zurückzuführen, wahrscheinlich, weil sie einsahen, daß beyde sich eben so sehr entgegen gesezt sind, und einander aufheben, wie Licht und Finsterniß. […] Und wer weis es nicht, daß Mannigfaltigkeit und Einförmigkeit, daß eine verschworne Räuberbande, die mit einfacher List ihr schändliches verwickeltes Vorhaben ausführt, nicht schön genannt werden kan?24

Zu Recht weißt Hißmann also darauf hin, dass die Begriffe der Einheit und der Vielheit zumeist so definiert werden, dass sie sich widersprechen und daher nicht in eine begrifflich unvermittelte Verbindung gebracht werden können; Schönheit als Einheit in der Mannigfaltigkeit ist in dieser unbestimmten Form nach Hißmann schlicht unmöglich. Darüber hinaus ist diese Definition so allgemein, dass sie keine spezifische Bestimmung des Schönen erheben kann, sondern auch auf andere Gegenstände anzuwenden wäre – so sie denn widerspruchsfrei bestimmt werden könnte. Ähnlich ergeht es Louis-Jean Lévesque de Pouilly und Jean-Baptiste Dubos,25 deren Bindung der Wahrnehmung des Schönen an die aktiven Kräfte des Menschen, die sie beförderten, von Hißmann mit dem Helvétius entlehnten anthropologischen Argument zurückgewiesen wird, der Mensch neige keineswegs zur Aktivität, sondern vielmehr zum Müßiggang, so dass die Korrelation von Schönheit und Kraft ohne sachliches Argument bleibe. Diesen misslungenen philosophischen Bemühungen hält Hißmann eine Erfahrung entgegen, die zunächst die Einsicht ermögliche, dass nicht alle angenehme Empfindungen schön genannt werden können; zum Angenehmen muss mithin etwas hinzutreten, damit jene Empfindung eine schöne genannt zu werden verdient. Um dieses durchaus schwierige sachliche Problem zu lösen, bedarf es nach Hißmann zunächst der Akzeptanz einer entscheidenden Voraussetzung: Diese Schwierigkeit [d.i. das Auffinden jenes ästhetischen Mehrwerts an der angenehmen Empfindung] wird man leichter überwinden, wenn man einmal darüber einig ist, daß es keine absolute Schönheit an sich gebe. Die Schönheit ist nichts Inhärirendes in den Gegenständen. Sie ist blos etwas relatives zu den Organen, mit denen wir die Welt, und die schönen Gegenstände wahrnehmen, und richtet sich nach der Association der Ideen. Daher können Geschöpfe mit andern Organen diejenigen Gegenstände häßlich finden, die uns als Schönheiten Vergnügen verschaffen.26

Damit hat Hißmann einen wesentlichen Grund seiner Ästhetik und dessen materialistische Grundlegung formuliert: Zum einen kann es auf der Grundlage seiner empiristischen Epistemo23

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Vgl. Johann Georg Sulzer: Theorie der angenehmen und unangehemen Empfindungen. Berlin 1762, S. 47: »Wir können also mit Gewißheit behaupten, dass das Wesen der Schönheit in den Dingen, welche die Sinne rühren, die zur Einheit gebrachte Mannigfaltigkeit sey; und wir wissen auch deutlich, was dazu erforderlich sey, dass die Einheit und Mannigfaltigkeit vollkommen sey.« Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 161f. Zu deren ästhetischen Theorien und ihrer Stellung in den Debatten des 18. Jahrhunderts über den Begriff der Lust vgl. u.a. Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie. Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 164.

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logie keine objektiven Kriterien der Schönheit und damit keinen raum-zeitlich indifferenten Begriff von Schönheit geben. Die Bindung des Schönen an die subjektive Empfindung des Individuums verunmöglicht eine historisch und kulturell, ja in der Konsequenz eine mehr als individuelle Vorstellung von Schönheit – eine These, mit der Hißmann Humes Analysen bestätigt, ohne allerdings dessen Vorschläge zur Lösung der Frage nach allgemeinen standards of taste zu teilen.27 Diese systematisch und historisch bedeutende These, die schon sein Lehrer Christoph Meiners in ähnlicher Weise vertrat,28 wird von Hißmann auch in anderen Texten mit Nachdruck wiederholt;29 so spricht er in dem Aufsatz Betrachtungen über die Naturgeseze von der ›Chimäre einer Universalschönheit‹, und vergleicht diese Illusion unveränderlicher Schönheit mit der Annahme von einem »Universalnaturrecht«: Die Geseze der Natur sind eben so wandelbar, wie die Regeln der Schönheit, die sich der Geschmack mehrerer Völker festsezt. Jene richten sich nach dem individuellen Geschmack der Gesellschaft. Daher die unzehligen Nuancen beider, die so häufig gerade in das Gegentheil übergehn.30

Die Gründe für solchen kulturhistorischen Relativismus in ästhetischen und rechtstheoretischen Belangen sind die gleichen: Die Fundamente auch normativer Erkenntnisse sind und bleiben zum anderen die menschlichen Erkenntnisorgane, die gemäß äußerer Bedingungsfaktoren, die historisch und kulturell variieren, unterschiedlich ausfallen; wenn es überhaupt – zumindest für den Einzelnen oder für soziokulturelle Einheiten – Kriterien des Schönen gibt, dann aufgrund der für den Erkenntnisprozess insgesamt gültigen Regeln der Assoziation, die Hißmann in einem früheren Text ausführlich erläutert hatte.31 Diese Assoziationsgesetze bleiben jedoch formal und können daher keinen materialen ästhetischen Maßstab formulieren. Deshalb kann – wenn überhaupt – eine ›Wissenschaft vom Schönen‹ nur als historisch-empirische Psychologie und Anatomie konturiert werden, die die als schön empfundenen Erscheinungen aufzählt und die sich je und je verändernden Organe für deren Bestimmung benennt: Da also bey der Schönheit alles auf unsre Organen, und auf die Art, wie wir empfinden und associiren, ankömmt: so ist es ganz vergeblich, das Wesen der Schönheit mühsam aufsuchen zu wollen. Man muß sich begnügen, wenn man die verschiednen Arten schöner Gegenstände, oder, welches einerley ist, wenn man die Organen, vermittelst welcher wir schöne Gegenstände wahrnehmen, aufzuzählen im Stand ist. Gewiß ist die außerordentliche Mannigfaltigkeit der schönen Gegenstände, und die Verschiedenheit der Organen, durch welche wir die Schönheit wahrnehmen, ein Haupthinderniß, warum wir den allgemeinen Grund, warum schöne Gegenstände schön sind, nicht angeben können.32

Trotz dieser strengen Relativität des Schönen und ihrer materialistisch-anatomischen Grundlegung lassen sich nach Hißmann vier verschiedene Arten schöner Gegenstände, d.h. vier formal bestimmte Klassen des Schönen unterscheiden, deren je inhaltliche Ausgestaltung historisch und kulturell, ja individuell variiert. Dazu gehört zunächst das »sinnlich Schöne«, wobei »Ge27 28

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Vgl. hierzu u.a. Annemarie Gethmann-Siefert: Einführung in die Ästhetik. München 1995, S. 59. Vgl. Christoph Meiners: Revision der Philosophie. Göttingen, Gotha 1772, S. 242: »Wenn wir auf dem dritten Wege, den ich eben vorgeschlagen habe, die Empfindungen des Schönen untersuchen, so werden wir gleichfalls finden, dass absolute Schönheit für uns etwas unmögliches sey, […].« So auch Hißmann: Anleitung zur Kenntniß (s. Anm. 12), S. 208f. Michael Hißmann: Betrachtungen über die Naturgeseze. In: Deutsches Museum 1778, Bd. 2, S. 529–543, hier S. 538f. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Falk Wunderlich in diesem Band. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 164f.

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sicht und Gehör […] die eigentümlichen Sinnen der Schönheit« seien, weil die anderen, gröberen Sinne keine ästhetischen Qualitäten feststellen könnten; für diese beiden Sinne gilt aber grundsätzlich: »Alle Gegenstände, die auf das Auge und das Ohr angenehme Eindrücke machen, heißen daher sinnlich schöne Gegenstände.«33 Damit hat Hißmann schon eine gewichtige Frage seiner Überlegungen zur Ästhetik beantwortet: Nicht alle angenehmen Empfindungen sind schön, aber all jenen, die durch die optischen und akustische Phänomene hervorgerufen werden, kommt dieses Prädikat zu. Die zweite Art von Schönheit ist nach Hißmann das »imaginativ Schöne«; dazu zählen die Erinnerungen schöner Gegenstände ebenso wie die nach den Regeln der Assoziation erfolgte Zusammensetzung einzelner Wahrnehmungen zu neuen Gebilden, wie dem »goldenen Zeitalter«, dem »Elysium« u.v.m., die angenehme Empfindungen hervorrufen und insofern schön genannt zu werden verdienen.34 Diese kurze Bestimmung ist erkennbar wenig spektakulär und bindet sich in die zeitgenössischen Bestimmungen der reproduktiven und produktiven Einbildungskraft bruchlos ein, und zwar auch im Hinblick auf eine Grundlegung in physiologischen und anatomischen Bedingungsfaktoren der Einbildungskraft.35 Dennoch ist die strenge Bindung dieses Vermögens an, ja seine Identifikation mit Bewegungen der neuronalen Organe für Hißmann eigentümlich und in jenem Zeitraum nur mit den Ausführungen Christoph Meiners’ zur vergleichen.36 Die dritte Art der Schönheit erweist Hißmann als Autor des 18. Jahrhunderts, der bei allen Abgrenzungen zu den in den 1770er Jahren gängigen Bestimmungen des Schönen in der Tradition Shaftesburys und noch Sulzers oder des vorkritischen Kant das Schöne mit den Zwecken der Moral zu verbinden sucht: das »sittlich Schöne« wird als sympathetische Eigenschaft der menschlichen Organe definiert. Benmerkenswerter Weise werden dieser Fähigkeit des Menschen zum Mitfühlen keine spezifischen Organe zugeschrieben; vielmehr sei »unsern Nerven eine Disposition eingepflanzt, ähnliche Empfindungen zu haben.«37 Ausdrücklich hält Hißmann gegen anderweitige zeitgenössische Positionen fest: Es hat mehrere Philosophen gegeben, die dieses Vermögen unsrer Nerven läugneten, und alle sympathetischen Empfindungen aus der bloßen Einsicht auf das persönliche Interesse herzuleiten suchten. Diese Philosophen musten nothwendig allen Unterschied unter dem Imaginativ und dem moralisch Schönen aufheben. Wir freuen uns mit dem Glück andrer, sagten sie, weil wir uns aus ihrem Glück selbst manche Vortheile versprechen. Wir leiden mit, weil wir uns fürchten, auch von ihrem Unglück ergriffen zu werden.38

Hißmann weist zumindest im ästhetischen Zusammenhang diese – u.a. von Helvétius entwickelte39 – Lehre eines moralischen Egoismus mit Nachdruck zurück, auch wenn er sie drei Jahre später in seinen Untersuchungen über den Stand der Natur verteidigen wird. Im Rahmen der 33 34 35 36 37 38 39

Ebd., S. 165. Ebd., S. 166. Vgl. hierzu u.a. Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998, S. 113ff. Vgl. Meiners: Revisionen der Philosophie (s. Anm. 28), S. 232. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 167. Ebd., S. 167f. Vgl. hierzu u.a. Claude-Adrien Helvétius: Vom Geist. Aus dem Französischen übersetzt von Theodor Lücke. Berlin, Weimar 1973, S. 125ff.

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Ästhetik lautet dagegen das entscheidende Argument gegen diesen Egoismus: »Aber warum sympathisiren wir mit dem Glük und Unglük verstorbener Personen, an deren Glük unser persönliches Interesse heute eben so wenig Theil nehmen kan, als an ihrem Unglük?« Dies ist nur möglich unter der Voraussetzung der Annahme eines Vermögens der Sympathie und damit einer Befähigung zur Bestimmung eines ›moralisch Schönen‹. Daher gebe es diese neurologisch fundierte Befähigung zum ›interesselosen Wohlgefallen‹ an »Handlungen und Gesinnungen, wenn sie gemeinnützig sind«.40 Von diesem mehr als sinnlich und imaginativ, nämlich moralisch Schönen unterscheidet Hißmann letztlich die Art eines »verständlich Schönen und Häslichen«. Gegen Kant, der in der Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen die angenehmen Empfindungen an intellektuellen Leistungen ausdrücklich von seinen Überlegungen zum ästhetischen Gefühl ausgeschlossenen hatte,41 hält der Göttinger Philosoph fest: Gewisse Gedanken und Sätze gewähren uns, so bald wir sie denken oder hören, angenehme Empfindungen, die wir schön nennen. Mit andern Gedanken und Sätzen ist Mißvergnügen vergesellschaftet, wenn man sie denkt, und man nent sie häsliche Gedanken.42

Diese – noch für den kritischen Kant eher unreinen ästhetischen Urteile43 – sind nach Hißmann jedoch unübersehbar neurologisch fundiert und daher nachweisbar, auch wenn die spezifische Nervenbewegung bei dieser Art der Empfindung schöner Gegenstände noch unerforscht sei: »Aber über die eigne Art der Bewegung der Gehirnfibern bey schönen und häßlichen Gedanken hat keiner, so viel ich weis, eine Muthmaßung vorgetragen.« Bei solchen Mutmaßungen bleibt natürlich auch Hißmann stehen, weil seine gesamte neuroanatomische Grundlegung keinerlei empirische Nachweise aufführt, sondern im Status des Wahrscheinlichen verbleibt. Dagegen trägt er ein spezifisches Element seiner genuin ästhetischen Theorie durchaus doktrinal vor; Hißmann ist nämlich von der Superiorität der Naturschönheit und damit der grundsätzlichen Abkünftigkeit des Kunstschönen überzeugt: Man glaubt durchgängig, daß der Künstler Ideale von Schönheit schaffen könne, die die höchste Schönheit der wirklichen Natur überreffen: weil er von tausend schönen Gegenständen der Schöpfung die vorzüglichsten Reitze in einem einzigen Bild vereinigen könne. Aber ohnmöglich wird je ein Gemählde, oder eine andre künstliche Nachahmung der Natur, durch die Versammlung ihrer schönsten Seiten, die volle Schönheit der Natur selbst überreffen.44

Eine Begründung für diese nachdrückliche Überordnung der Naturschönheit über die Schönheiten der Kunst führt Hißmann nicht aus; dennoch liegt diese These im Horizont seine materialistischen Grundanschauungen: Ist der Mensch ausschließlich Teil der Natur, wie es der materialistische Monismus zur Konsequenz haben muss, so kann er nur als deren Moment begrif40 41

42 43 44

Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 168. Vgl. Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. (im Folgenden: AA Band, Seite), hier Bd. II, S. 208: »Doch schließe ich hievon die Neigung aus, welche auf hohe VerstandesEinsichten geheftet ist, und den Reiz, dessen ein Kepler fähig war, wenn er, wie Bayle berichtet, eine seiner Erfindungen nicht um ein Fürstenthum würde verkauft haben.« Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 169f. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: AA V, S. 229–231 (§ 16). Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 166f.

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fen werden, das gegenüber dem Schöpfer der Gesamtnatur, von dessen Existenz Hißmann stets ausgeht, nur abkünftig sein kann. Daher muss die Schönheit seiner Produkte gegenüber derjenigen der Werke des Schöpfers qualitativ und quantitativ minderwertig ausfallen. Darüber hinaus kann aus Hißmanns strenger Konzeption von Nachahmungsästhetik nur eine Minderwertigkeit des Nachgeahmten gegenüber dem Vorbild hervorgehen, womit die Kunst, die die Natur nachahmen soll, den Status eines schwächeren Abbildes nicht zu überschreiten vermag. Hißmann hat in anderen Texten diese doktrinale Ebene konkreterer Schönheitsbestimmungen weiter ausgezogen; so heißt es in den Untersuchungen über Stand der Natur, dass es der »erwachsene Mensch« sei, den die Natur zum »schönste[n] unter allen schönen Objekten« gemacht habe.45 Damit meint Hißmann natürlich nichts anderes als den Körper des erwachsenen Menschen, der mithin die höchste Erscheinung von Naturschönheit darstellt. Doch scheint diese These weniger einer konsequenten – d.h. konsequent materialistischen – Argumentation zu verdanken zu sein als vielmehr zeitgenössischen Kontexten. So hatte Johann Joachim Winckelmann schon in den 1750er Jahren die Schönheit der antiken Griechen in deren schönen Körper verwirklicht gesehen, die – ungleich schöner als die Körper der Modernen – sowohl dem Klima als auch kulturellen Bedingungen, wie »frühzeitigen Leibesübungen«, geschuldet gewesen seien. Noch Wilhelm Heinse wird während der 1780er Jahre in seinem Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln diese herausgehobene Stellung der Schönheit des menschlichen Körpers behaupten und gestalten: Der schöne Mensch im bloßen Gefühl seiner Existenz ohne Leidenschaft in Ruhe ist der eigentümlichste Gegenstand der Nachahmung des bildenden Künstlers und seine Nummer eins; in dieser Verfassung ohne alle Bekleidung liegt die reinste Harmonie der Schönheit […].46

In diesem Kult insbesondere antiker Körperlichkeit scheint auch Hißmanns Urteil zum erwachsenen Menschen gegründet. Hißmann wird in der Folge der Psychologischen Versuche allerdings einen Dichtungsbegriff entwickeln, der einerseits die hier entwickelte Mimesistheorie bestätigt und doch von der erheblichen Beschränkung der Kunst als reiner Reproduktion durchaus abweicht.

2.2. »Schöpferische Einbildungskraft« - Dichtung zwischen Mimesis und Poiesis Hißmann liefert in seinen Psychologischen Versuchen von 1777 jedoch nicht nur eine allgemeine Theorie des Schönen, seiner Arten und beider Anbindung an seine Gehirnfibernanatomie; er entwickelt im Zusammenhang einer konkreteren Vermögenspsychologie der Einbildungskraft auch eine besondere Dichtungstheorie, die materialistische Konturen aufweist. Hierfür bindet Hißmann die Produkte und Leistungsfähigkeiten der dichterischen, und d.h. schöpferischen Einbildungskraft an äußere Umstände; zunächst jedoch definiert er dieses Vermögen im Unterschied zum Gedächtnis und d.h. zur einfachen Einbildungskraft wie folgt: Eine Einbildungskraft aber ist alsdenn dichterisch, wenn sie die angenehmen und unangenehmen Eindrücke länger erhält, und lebhafter wieder hervorbringt, es mag nun mit einer großen Veränderung 45 46

Michael Hißmann: Untersuchungen über den Stand der Natur. Berlin 1780, S. 63. Wilhelm Heinse: Ardinghello oder die glückseligen Inseln [EA 1787]. Kritische Studienausgabe. Hg. von Max L. Baeumer. Stuttgart 1978, S. 176.

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derselben geschehen, oder nicht, als die Menschen es gewöhnlich zu thun im Stande sind. Wenn hingegen die Einbildungskraft Faunen, Hyänen, geflügelte Pferde, Elysium und Tartarus schaft; wenn sie Schönheiten versamlet, die sich nirgend so koncentrirt finden; wenn sie Ideale von Schönheit oder von Häßlichkeit entwirft; wenn sie neue Welten, neue Systeme von Dingen werden läßt: so verdient sie den Namen einer schöpferischen Einbildungskraft, und diese Art der Aeußerung der Imagination ist es eigentlich, die man allein unter dem Ausdruk, Dichtungsvermögen, begriffen hat.47

Die Produkte der dichterischen Einbildungskraft evozieren also Eindrücke, die erstens mit dem Gefühl der Lust und Unlust verbunden sind (angenehme bzw. unangenehme Empfindungen) und die zweitens nicht in ihrer Intensität von anderen Eindrücken der Einbildungskraft unterschieden, sondern ausschließlich in der größeren Dauer ihrer Wirksamkeit gegenüber den Eindrücken der einfachen Imagination. Diese Psychologie der schöpferischen Einbildungskraft weicht noch wenig von den Standards der Bestimmungen dieses Vermögens ab, der in den 1770er Jahren in Geltung war. So schreibt Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste: Man schreibt der Einbildungskraft Leichtigkeit zu, wenn sie bey der geringsten Veranlassung eine große Menge sinnlicher Gegenstände sich wieder vorstellt; Leichtigkeit, wenn diese wiederkommende Vorstellungen einen großen Grad an Klarheit haben; Ausdehnung, wenn sie viele solcher Vorstellungen auf einmal mit Klarheit hervorbringt; diese drey Eigenschaften hat die Einbildungskraft des Künstlers in höhern Graden.48

Dennoch ist an diesem Vergleich mit Sulzer erkennbar,49 dass Hißmann seine Konzeption, vor allem quantitative Kriterien für die Differenzen der Seelenvermögen zu entwickeln, konsequent weiter führt.50 Darüber hinaus werden drittens – und das ist für diese Zeit, also die 1770er Jahre, noch weitgehend ungewöhnlich – Schönheit und Hässlichkeit als Produkte der dichterischen Einbildungskraft nicht-qualifiziert aufgeführt. Es gibt keine Priorisierung des Schönen vor dem Hässlichen, wie es sie in der Vollkommenheitsästhetik Baumgartens und Meiers geben musste.51 Noch bei Sulzer ist das Hässliche eine Erscheinung »der Unvollkommenheit«, die seit Spinoza und noch bei Wolff und Baumgarten als Privatio der – mit wesenhafter Realität identifizierten52 47 48 49 50

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Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 213f. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. 2 Bde. Biel 1777, Bd. 1.2, S. 390. Vgl. Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung (s. Anm. 35), S. 307ff. Das gilt auch für seine Distinktion zwischen Poesie und Rhetorik, die ebenfalls durch rein quantifizierende Kriterien bestimmt wird: »Wenn man einmal mit der Sonderung der schönen Wissenschaften und der schönen Künste fertig ist, so kann man mittelst einiger charakteristischer Züge die Dichtkunst leicht von ihrer Schwester, der Beredsamkeit, auszeichnen. Und der Hauptzug, der die Poesie kenntlich macht, ist, dass sie ihre Bilder ungleich häufiger gebrauchen, und ungleich weitläufiger ausmalen kann, als der Redner thun darf.« Hißmann: Anleitung zur Kenntniß (s. Anm. 12), S. 213f. Vgl. hierzu u.a. Achim Vesper: Lust als ›cognitio intuitiva perfectionis‹. Vollkommenheitsästhetik bei Wolff und ihre Kritik durch Kant. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph (Hg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.-8. April 2004. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 4, S. 283–296. Vgl. hierzu Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch-Deutsch. Neu übersetzt, hg., mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat. Hamburg 1999, S. 100 (Eth. II, def. 6): »Per realitatem et perfectionem idem intellego.« Oder auch Gottlieb Alexander Baumgarten: Metaphysik. Übers. von Georg Friedrich Meier. Anmerkungen von Johann August Eberhard. [Halle 1783]. Hg. von Dagmar Mirbach. Jena 2004, S. 25 (§ 78): »Die wesentlichen Stücke eines jeden Dinges

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– Vollkommenheit definiert wird, somit gegenüber dem Vollkommenen abkünftig ist und daher mit ontologisch geringerer Dignität ausgestattet.53 Es ist ersichtlich Hißmanns Empirismus, dessen Zurückweisung jeglicher Substanzmetaphysik ihm die Lösung des Hässlichen von jenen normativen Vorgaben, die mit dem Begriff der Unvollkommenheit verbunden waren, ermöglicht.54 Viertens erreicht die dichterische Einbildungskraft genau dann den Gipfelpunkt einer schöpferischen Variante, wenn sie neue – d. h. immerhin mögliche, also widerspruchsfreie – Welten (Faunen, geflügelte Pferde) oder neue Systeme schafft. Der Dichter tritt also auch bei Hißmann als alter deus auf, der genuin Neues schafft, wie gleichzeitig bei Goethe und Herder.55 Gleichwohl gibt es auch für das gottgleiche Dichtergenie des Materialisten begrenzende Bestimmungen im Hinblick auf dieses Neue; mit Nachdruck hält Hißmann nämlich fest: Nie hat man die Regel als allgemein oder festgesezt, daß die Größe des Dichters aus der Menge seiner poetischen Fiktionen geschäzt werden müsse. Ja wenn man nach der größern Menge dererjenigen Dichter urtheilen solte, die die wildesten Fiktionen ersonnen: so solte man bey der ungleich geringern Anzahl solcher Dichter und Künstler, die schöne und häßlich Gegenstände so schildern und vorstellen, wie sie in der Natur sind, den Schluß ziehen, daß die leztere Gabe weit seltner sey als die erstere. Schäferspiele und wahrhafte Schilderungen der schönen und häßlichen Natur haben vielen großen Kennern mehr Beyfall abgenöthigt, als Gedichte, die nur mit den wildesten Fiktionen überhäuft sind.56

Es sind nicht die Grade der Abweichung fiktionaler Welten von der empirischen Wirklichkeit und deren Menge, die ästhetisch bedeutende Dichtung ausmachen, sondern die Befähigung zur präzisen Mimesis der Natur im Rahmen der Ausgestaltungen jener neuen Welten. Der Dichter ist damit Schöpfer eine neuen Welt, Genie und zugleich an den Maßstab der Natur als einer mimetischen Norm gebunden. Im 19. Jahrhundert wird solcherart Vermittlung von Mimesis und Poiesis zu einen Realismuspostulat führen.57 Hißmann jedoch sieht vor allem in Schäferspielen oder den zeitgenössisch berühmten und beliebten Idyllen Salomon Geßners, also in der Prosadichtung, jene Verbindung von neuen, fiktionalen Welten und mimetischen Naturschilderungen verwirklicht.58 Trotz dieser Schätzung der einfachen sowie der schöpferischen Einbildung kann auch Hißmann eine zeitgenössische Kritik nicht einfach übergehen, gibt ihr jedoch eine eigentümliche

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stimmen zusammen zu seinem Wesen und zu den Eigenschaften folglich, sind alle Dinge wesentlich vollkommen.« Vgl. hierzu Gideon Stiening: Facetten des Fortschritts – Iselin und Kant. In: Lucas Marco Gisi u. Wolfgang Rother (Hg.): Isaak Iselin und die Geschichtsphilosophie der europäischen Aufklärung. Basel 2011, S. 177–200. Vgl. hierzu in Ansätzen Claudio La Rocca: Das Schöne und der Schatten. Dunkle Vorstellungen und ästhetische Erfahrung zwischen Baumgarten und Kant. In: Heiner F. Klemme, Michael Pauen u. Marie-Luise Raters (Hg.): Im Schatten des Schönen. Die Ästhetik des Hässlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten. Bielefeld 2006, S. 19–65. Vgl. hierzu Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. 2 Bde. Darmstadt 21988, Bd. 1, S. 129ff. u. S. 163ff. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 212f. Vgl. hierzu Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Tübingen, Basel 102001, S. 422ff. Zur literarhistorischen Stellung der Idyllen im späten 18. Jahrhundert vgl. Carsten Behle: »Heil dem Bürger des kleinen Städtchens«. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002.

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Wendung. Sowohl im Rahmen der Schwärmer-Kritik der Aufklärung59 als auch im Zusammenhang medizinischer Kontroversen über den Einfluss der Einbildungskraft von Schwangeren auf die Entwicklung von Embryonen60 werden Gefahren einer ungezügelten Einbildungskraft beschworen. So hält Sulzer schon zu Beginn der 1770er Jahre fest, dass die künstlerische Einbildungskraft mithilfe »durchdringender Beurheilungskraft« und »auf Wahrheit und auf die wichtigsten Beziehungen der Dinge gegründeten Empfindungen« beherrscht werden müsse, um ästhetisch produktiv zu bleiben; und Sulzer warnt eindringlich: Denn weh dem Künstler von vorzüglicher Einbildungskraft, wenn ihr diese Begleiter und Beherrscher mangeln! sein Leben wird ein immerwährender Traum seyn, und seine Werke werden mehr den Abentheuern einer bezaubernden Welt, als den schönen Scenen der würklichen Natur gleichen.61

Auch Lessing reflektiert in den späten 1770er Jahren über »Schwärmer […] von der gefährlichsten Klasse«, die aus seiner Sicht von Vertretern der Gefühlsreligion, wie Lavater und Jacobi kultiviert wird;62 häufiger und polemischer noch in den 1780er Jahren spricht man von der »Seuche der Schwärmerey«.63 Hißmann geht ebenfalls auf die möglichen Gefahren der Einbildungskraft, ihren Zusammenhang mit der Schwärmerei und die aktuellen Debatten über diese Psychopathologie der Imagination ein. Dabei hält er zunächst unmissverständlich fest: Eine starke Einbildungskraft ist eben so fürchterlich, wie ein hitziges Fiber. In beyden sieht man die Dinge von ganz andern Seiten an, und findet Vorzüge an ihnen, die sie nicht besitzen. Man phantasirt sich in die Gegenstände viele Vollkommenheiten hinein, die gar nicht da sind, und wahre Vorzüge, die wirklich da sind, sieht man nicht. Sie hindert uns eben so sehr in den Arbeiten unsers Verstandes. Keine Meditation kan bey ihrer Lebhaftigkeit zu Stande gebracht werden, weil sie die Seele blos an schöne und häßliche Gegenstände anbindet, ohne ihr die Zurükziehung in sich selbst, oder das Anschauen ewiger Wahrheiten zu erlauben.64

Hißmann bestätigt mithin die Gefahren einer verselbständigten Einbildungskraft und geht durch den Vergleich mit dem Fieber so weit, solche Zustände des menschlichen Gemüts zu pathologisieren. Diese ›Krankheit des Kopfes‹ ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Verstandestätigkeit behindert, das urteilende Gemüt an die Gegenstände sich verlieren lässt und 59

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Vgl. hierzu Norbert Hinske (Hg.): Die Aufklärung und die Schwärmer. [Aufklärung 3.1 (1988)] Hamburg 1988 sowie Manfred Engel: Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmens in Spätaufklärung und früher Goethezeit. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1994, S. 469–498. Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung dieser Debatte bei Dürbeck: Aufklärung und Einbildungskraft (s. Anm. 35), S. 156–176. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (s. Anm. 48), S. 390. Gotthold Ephraim Lessing: Über eine zeitige Aufgabe. In: ders.: Werke in 8 Bänden. Hg. von Herbert G. Göpfert u.a. München 1970ff., Bd. VIII, S. 548–556, hier S. 553. Anonymus [d.i. Christoph Reimarus]: Ueber die Schwärmerey unserer Zeiten: ein Schreiben an den Herausgeber. In: Göttingisches Magazin 3.2 (1782), S. 237–255, hier S. 238; Reimarus nimmt hiermit eine Formulierung Georg Friedrich Meiers auf, der schon 1749 festhielt: »Und es ist zu bedauren, daß aus eben dieser Quelle [d.i. der Einbildungskraft], um eben der Ursach willen, die Schwärmerey auch in der Religion sich, wie eine ansteckende Seuche, verbreitet. Man gehe nur in eine Gesellschaft der Schwärmer, der Quäker, der Enthusiasten, der Inspirirten. Man sieht daselbst Leute, die von einer erhitzten Einbildungskraft […] besessen sind.« Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Tle. Halle 1748–1750, Tl. 2, S. 316 (§ 395). Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 214.

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insgesamt eine Phantasiewelt konstituiert, die der Wirklichkeit weitgehend entzogen ist. Trotz dieser Konzession an die aufklärerische Kritik einer verselbständigten Einbildungskraft deutet Hißmann auch Kritik an jener kritischen Auseinandersetzung an. Dass man nämlich »eine starke und fruchtbare Einbildungskraft […] als die fruchtbarste Mutter von Schwärmery und Verfolgungswahn und von allen Uebeln, die die Ruhe des menschlichen Geschlechts gestört habe«, verschrien habe, scheint ihm unangemessen. Es bezeichnet solcherart Kritik selbst als schwärmerisch und damit ebenso widersprüchlich wie weltanschaulich fundiert, weil die Imagination überhaupt als irrational verworfen werde. In einer ähnlich wie Lessing und Wieland differenzierenden Weise hält er an der Notwendigkeit und Produktivität der dichterischen Einbildungskraft fest, indem er deren Leistungsfähigkeiten für die Entwicklung der wissenschaftlichen Philosophie namhaft macht: Allein man mag noch so schwärmerisch in der Beschuldigung dieser Seelenfähigkeit seyn: so wird man doch ihre absolute Schädlichkeit nimmermehr beweisen, weil Geschichte und Erfahrung uns die grösten Philosophen zugleich als die grösten Dichter kennen lehrt.65

Das historisch nachweisbare und zeitgenössisch erfahrbare Zusammenstimmen von Dichtung und Philosophie, das Hißmann systematisch darin ermöglicht sieht, dass die »abgezogensten Wahrheiten […] in Bilder eingehüllet« werden können,66 und das er mit Platons Phaidros exemplifiziert, zeige, dass die Einbildungskraft keineswegs grundsätzlich der Ordnung des Verstandes entgegen stünde und diese damit gefährde. Vielmehr gebe es fruchtbare, d.h. erkenntnisfördernde Vermittlungen: Regelmäßigkeit und System läßt sich mit der stärksten Phantasie vereinigen. Es ist wahr, die Einbildungskraft schwingt sich über die Regeln hinaus, die ihr Feuer auslöschen. Allein sie kan regelmäßig arbeiten, ohne sich an Regeln zu binden, wenn nur die übrigen Seelenkräfte nicht ganz durch ihr Leben ertödtet sind.67

Solange sie sich nicht gleichsam pathologisch verselbständigt, kann die Einbildungskraft mithin mit den rationalen Vermögen des Menschen fruchtbar kooperieren, auch wenn sie dadurch bestimmt ist, jene Momente zu transformieren, durch die sich die Rationalität definiert: Regeln und Systematizität. Hißmann begründet oder erläutert dieses Zusammenstimmen von den zugleich gegensätzlich bestimmten Vermögen der Einbildungskraft und des Verstand nicht;68 der Hinweis auf das empirische Faktum – am Beispiel der Texte Platons – scheint ihm als Nachweis auszureichen. Doch auch diese Ausführungen zum Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand sind kaum originell;69 vor allem weisen sie keine genuin materialistischen Argumentationen auf.

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Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 215. Ebd. Ebd., S. 215f. Hißmann verfällt bei der Bestimmung des Verhältnisses von Einbildungskraft und Verstand jenem Fehler, den er der sulzerschen Definition des Schönen vorgerechnet hatte: Beide Vermögen werden so definiert, dass sie sich widersprechen insofern der Verstand durch Regelhaftigkeit und die Imagination durch Regellosigkeit bestimmt wird; wie das zusammenstimmen können soll, geht im Furor des empirischen Nachweises unter. Vgl. hierzu u.a. Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 63), S. 500 (§ 463).

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Das tatsächlich Eigentümliche – und damit auch die materialistische Tendenz – dieser Theorie der Einbildungskraft besteht in der nahezu durchgehenden Determination jenes Vermögens durch äußere Faktoren: Wie sehr die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft vom Körper und vom Einfluß der äußern Gegenstände auf den Körper abhange, läßt sich am deutlichsten aus der allgemeinen Bemerkung in der Geschichte der Menschheit abnehmen, nach welcher alle Nationen, die sehr nahe an der Linie [d.i. dem Äquator] wohnen, eine außerordentlich starke Einbildungskraft haben. Die Morgenländer und alle südlichen Nationen dichten ungleich feuriger und schöpferischer, als alle Völker des kalten Nordens und des Occidents. Der vortheilhafte Einfluß des Klimas auf die Einbildungskraft läßt sich um so viel weniger bezweifeln, wenn man bedenkt, wie sehr die Fibern der innern Organen nach der Beschaffenheit des Himmelstrichs feiner oder gröber, biegsamer oder steifer, und die Lebensgeister feuriger oder träger seyn müssen.70

Zweierlei ist im Hinblick auf das spezifisch Materialistische dieser Argumentation bzw. die kontroversen Stellung des Materialismus in den 1770er Jahren von aussagekräftiger Bedeutung: Es ist völlig konsequent, wenn man einen starken Einfluss des Körpers auf den Geist bzw. dessen Produkte annimmt, bzw. diese gar als Bewegungen des Gehirns interpretiert, zugleich einen determinierenden Einfluss äußerer Umstände auf die Produkte der Hirnfibernbewegungen anzunehmen. Der jenen Teil seiner selbst umschließende Körper, der ihm das Denken ermöglicht – das Gehirn –, ist selbst Moment eines in sich geschlossenen natürlichen Determinationszusammenhangs und daher durch diesen maßgeblich geprägt. Dennoch führt dieses Argument prima vista noch keineswegs zu einem Materialismus in epistemologischer Hinsicht. Denn auch Johann Gottfried Herder71 oder schon Georg Friedrich Meier,72 Isaak Iselin73 und noch Georg Forster74 waren oder sind vor, während und nach Hißmanns Schaffen von einem stark prägenden Einfluss des Klimas auf Kulturprodukte und damit auf die sinnlichen Vermögen des Menschen überzeugt, hätten oder haben jedoch explizit jeden Materialismus zurückgewiesen. Die Klimatheorien der Aufklärung,75 die mit Montesquieu anheben und bis in den Streit zwischen Kant und Forster über den Begriff der Menschenrasse weiter entwickelt werden, sind im Selbstverständnis der Autoren keineswegs materialismusaffin. Es ist jedoch nicht zu bestreiten, dass die Theorie eines starken, gar prägenden Einflusses äußerer Umstände auf das Spezifische kultureller Leistungen materialistische Tendenzen aufweisen, die nur dann einzuhegen sind, wenn man – wie u.a. Kant es leistete – die genauen Grenzen

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Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 216. Johann Gottfried Herder: Ideen zu einer Geschichte der Menschheit. In: ders.: Werke. Hg. von Wolfgang Proß. 3 Bde. Darmstadt 1984–2002, hier Bd. III.1, S. 227–258, spez. S. 238ff. Vgl. hierzu Meier: Anfangsgründe (s. Anm. 63), Bd. 2, S. 323 (§ 397). Isaak Iselin: Geschichte der Menschheit. Neue mit dem Leben des Verfassers vermehrte Auflage [EA 1764]. 2 Bde. Karlsruhe 1791, Bd. 1, S. 42ff. Vgl. hierzu u.a. Georg Forster: Noch etwas über Menschrassen. In: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. von der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Bd. VIII, S. 130–156. Zur Klimatheorie der Aufklärung vgl. u.a. Gonthier-Louis Fink: Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive. In: Gerhard Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744– 1803. Hamburg 1987, S. 156–176; Wolfgang Proß: Kommentar. In: Herder: Werke (s. Anm. 71), Bd. III.2, S. 398–445 sowie Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2007, S. 83–114.

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jener Wirksamkeit zieht.76 Für Hißmann aber ist klar, dass es im Hinblick auf den prägenden Einfluss des Klimas auf die Leistungen und spezifischen Konturen der Einbildungskraft keine Grenzen gibt, weil diese vollständig von den neuronalen Organen konstituiert wird, die sie hervorbringen und die äußeren Einflüssen prägend ausgesetzt sind. In diesem klimatheoretischen Universalismus war Hißmann – anders als Georg Forster – konsequenter, weil er sich zum Materialismus bekannte. Darüber hinaus weist Hißmann neben dem prägenden Einfluss der klimatischen Verhältnisse auch auf die Bedeutung des Alters hin, weil auch die alterspezifische Verfasstheit des Körpers notwendig die Ausprägungen der Einbildungskraft bestimmt: Eben so unläugbar ist es, dass die Vortreflichkeit der Einbildungskraft in einem hohen Grade dem Alter des Körpers, und der durch das Alter veränderlichen Beschaffenheit der inneren Organen des Gehirns unterworfen ist. Mit den lebhaften Empfindungen des jugendlichen Körpers verschwindet ihre Lebhaftigkeit. Der Jüngling dichtet feuriger, als der abgelebte Alte, und nur die allerwenigsten Dichter bleiben sich in allen Altern gleich.77

Diese Argumente führen zwar zu der durchaus absurden These, dass es vor allem junge Südländer seien, aus denen gute Dichter würden, doch bleibt Hißmann auch im Zusammenhang seiner Theorie dichterischer Einbildungskraft bemerkenswert konsequent; dies gilt auch für die sich aus solchen Argumenten ergebende Position zum freien Willen des Menschen, den Hißmann leugnen muss. In einem – wenn auch nur privaten – Brief wird der Begriff der Freiheit explizit und aufs strengste negiert; an seinen Freund Filtsch schreibt er in den späten 1770er Jahren: Es muß ja jeder einsehen, daß beim Mechanismus der menschlichen Seele, den ich in dem Buche [gemeint sind die populärwissenschaftlichen Briefe über Gegenstände der Philosophie] vortrage, gar keine Freiheit bestehen kann.

Damit müssen auch die originellsten Produkte der dichterischen Einbildungskraft und der ihr zugrunde liegenden Gehirnnervenbewegungen einem natürlichen und kulturellen Ursachenkomplex unterworfen sein, der sie allererst hervorbringt. In diesen Ausführungen zu der Bedeutung äußerer Umstände für die Produkte des menschlichen Intellekts ist Hißmann konsequenter als die anthropologisierenden Kulturhistoriker seiner Zeit, weil er mit der These vom prägenden Einfluss des Klimas und des Alters auf die Kultur einen anthropologischen und epistemologischen Materialismus verbindet. Dabei erweist sich das Bedingungsverhältnis beider Theorieteile sowohl bei Hißmann als auch bei den zeitgenössischen Anthropologen als eindeutig: Sie kommen von der Voraussetzung der Theorien vom influxus physicus bzw. einer – wie bei Hißmann – Körperlichkeit des Mentalen zu ihren klimatischen und anthropologisierenden Kulturtheorien – nicht umgekehrt. Anthropologische und materialistische Kulturtheorien der Spätaufklärung leiten ihre Konzeptionen also aus der Epistemologie und Anthropologie ab und nicht – wie Kant – aus der praktischen Philosophie. 76

Vgl. hierzu Gideon Stiening: »Es gibt gar keine verschiedenen Arten von Menschen.« Systematizität und historische Semantik am Beispiel der Kant-Forster-Kontroverse zum Begriff der Menschenrasse. In: Rainer Godel u. Gideon Stiening (Hg.): Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche? Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse. München 2012, S. 19–53.

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3. ›Jenseits von Gut und Böse‹: Hißmanns Theorie des Dramas Wie schon aus einigen Zitaten aus den Psychologischen Versuchen zu ersehen, geht es Hißmann auch auf dem Felde der Ästhetik und Poetik darum, eine neurophysiologische Fundierung seiner Psychologie durchzuführen. Daher spricht er in dem Aufsatz aus dem Deutschen Museum davon, dass die Produkte der dramatischen Kunst ausschließlich den Zweck haben können, »die Nerven deines Schönheitsgefühls« – Hißmann spricht den Leser hier direkt an – zu affizieren.78 Für Göttinger Materialisten kann es ausschließlich eine rezeptionsästhetisch fundierte neuronale Poetik geben; das mittlere 19. wie das späte 20. Jahrhundert ist ihm in diesem Ansinnen – technisch elaborierter, theoretisch jedoch nicht eben komplexer – gefolgt.79 Hißmann geht es in seinem kleinen Text zum Hauptzweck der dramatischen Poesie jedoch keineswegs primär um eine durchgängig neurophysiologische Fundierung der zeitgenössischen Poetologie – auch wenn er seine zentralen Thesen zum Hauptzweck des Dramas mithilfe seiner materialistischen Psychologie begründet. Der Göttinger Philosoph ist vielmehr darum bemüht, die Schaubühne vom Ballast einer moral-didaktischen Instrumentalisierung zu befreien, der sie in Theorie und Praxis ausgesetzt sei. Mit deutlicher Kritik an der Gottsched-Schule, aber ebenso auf Lessings Theorie des bürgerlichen Trauerspiels Bezug nehmend heißt es hierzu, man dürfe die »Schaubühne nicht zur vollkommenen Sittenschule« machen.80 Gegen dieses Vorurteil wird gleich zu Beginn des Textes mit äußerst polemischer Verve vorgegangen: Die mehresten Urtheile über die Moralität des Theaters sind eben so unmoralisch, überspannt und ungegründet, als die gewöhnlichen Forderungen und Regeln, mit welchen die Kritik den theatralischen Dichter zu fesseln gesucht hat, unphilosophisch, unpsychologisch und unästhetisch sind.81

Dabei richtet sich Hißmanns kritische Argumentation durch den gesamten Text hindurch gegen zwei Richtungen einer Verbindung von Poesie und Moral: Zum einen weist er die älteren Versuche, die dramatische Poesie durch – wie es Kant später sagen wird – »edle (überverdienstliche) Handlungen«82 zur Sittenschule der Nation zu machen, mit Nachdruck zurück: Die »moralische Bildung des Menschen« könne »unmöglich zu ihrem Hauptzwecke« erhoben werden.83 Als Gründe für diese Überzeugung wird Hißmann ethische und ästhetische Argumente aufbieten. Zum anderen widersetzt sich der Autor den kritischen Invektiven Jean-Jacques Rousseaus, gegen dessen Brief an d’Alembert von 1758 mit Nachdruck Stellung bezogen wird.84 Rousseaus 77 78 79 80 81 82 83 84

Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 217 Hißmann: Hauptzweck der dramatischen Poesie (s. Anm. 13), S. 558. Vgl. hierzu u.a. Olaf Breidbach: Das Anschauliche oder über die Anschauung von Welt. Ein Beitrag zur Neuronalen Ästhetik. Wien, New York 2000. Hißmann: Hauptzweck der dramatischen Poesie (s. Anm. 13), S. 556. Ebd., S. 553. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: AA V, S. 155. Hißmann: Hauptzweck der dramatischen Poesie (s. Anm. 13), S. 557. Das entspricht den zeitgenössischen Stellungnahmen zu Rousseau; so hatte schon Sulzer 1760 gegen »Herrn Rousseau« festgehalten, dass »die dramatische Poesie sehr nützlich seyn könne«. (Johann Georg Sulzer: Philosophische Betrachtungen über die Nützlichkeit der dramatischen Poesie. In: ders.: Vermischte Philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. 2 Bde. Leipzig 1773/81, Bd. 1, S. 146–165, hier S. 160ff.) Obwohl Hißmann also in Zusammenhang seiner politi-

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Thesen von einer angeblich apriorischen Amoralität des Theaters zielten an dem eigentlichen Zweck des Dramas und damit dem spezifischen Verhältnis von Poesie und Moral vorbei; dieses sei nämlich im Kern eines der Indifferenz: Der Kritiker der Werke schöner Geister ist Kritiker, und nicht Moralist. Die Grundsätze der Aesthetik sind nicht Vorschriften der Sittenlehre. Gedichte werden deswegen nimmermehr vortrefflich heißen, weil eine jede Zeile mit einer wässerigen Sittenregel, oder mit einem kraftlosen Gebeth, oder mit einem erbaulichen Spruch aus einem heiligen Buch ausgestopft ist. Die allermoralischsten Stücke können feylich auch die besten seyn; aber sie sind nicht nothwendig allemal die besten.85

Diese Argumentation ist in der Tat bemerkenswert und dies nicht nur im Kontext der Poetik der 1770er Jahre86: Zwar schließen sich Poesie und Moral nicht zwingend aus, doch sind sie auch nicht auseinander abzuleiten – das ist Hißmanns zentrales und innovatives Argument. Weil sie mithin nur in synthetischen, nicht in analytischen Urteilen zu verknüpfen sind, mithin »die Gründsätze der Aesthetik […] nicht Vorschriften der Sittenlehre sind«,87 können die Produkte der dramatischen Poesie nicht nach ethischen Maximen beurteilt werden. Das tatsächlich Charakteristische diese Position einer Indifferenz von Ästhetik und Ethik zeigt sich schon bei einem kurzen Blick auf Friedrich Nicolais Position in dem Disput zwischen ihm, Lessing und Mendelssohn über das Trauerspiel. Nicolai hatte nämlich behauptet: Hauptsächlich habe ich den Satz zu widerlegen gesucht, den man dem Aristoteles so oft nachgesprochen hat, es sei der Zweck des Trauerspiels, die Leidenschaften zu reinigen oder die Sitten zu bilden. Er ist, wo nicht falsch, doch wenigstens nicht allgemein, und Schuld daran, dass viele deutsche Trauerspiele so schlecht sind. Ich setze also den Zweck des Trauerspiels in die Ereregung der Leidenschaften, und sage. Das beste Trauerspiel ist das, welches die Leidenschaften am heftigsten erregt, nicht das, welches geschickt ist, die Leidenschaften zu reinigen.88

Dieser Funktionsbestimmung des Dramas hatte sich Lessing widersetzt und seine Theorie des bürgerlichen Trauerspiels als eines die Mitleidsbefähigung des Menschen befördernden poetischen Reflexionsmediums entworfen; er hatte allerdings Nicolai auch dazu drängen können einzugestehen, dass seine Konzeption von reinem Affekttheater und der damit einhergehenden scheinbaren Trennung von Kunst und Moral nur auf der Voraussetzung einer fraglosen Gültigkeit sittlicher Normen basierte, die durch das Schauspiel keineswegs negativ tangiert werden dürften.89 Nicolais rationalistische Ethik ermöglichte zwar eine relative Eigenständigkeit des Dramas, bettete diese jedoch in das Raster der Geltung vernünftiger Moral ein.90 Nicht so Hißmann: Dessen grundlegender Empirismus und Sensualismus verunmöglichte die Vorausset-

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schen Theorie Rousseau durchaus affirmativ rezipierte (vgl. hierzu den Beitrag von Dieter Hüning in diesem Band), tritt er in Sachen Dramentheorie als scharfer Kritiker auf – ohne allerdings, wie Sulzer oder Lessing, die positiv-moralische Wirkung des Theaters zu restaurieren. Hißmann: Hauptzweck der dramatischen Poesie (s. Anm. 13), S. 557. Einzig Friedrich Justus Riedel entwickelte zum gleichen Zeitpunkt ähnliche Vorstellungen; vgl. hierzu Rita Terras: Friedrich Justus Riedel: The Aesthetic Theory of a German Sensualist. In: Lessing Yearbook IV (1972), S. 157–182. Ebd., S. 557. Friedrich Nicolai: Brief an Lessing, vom 31. August 1756. In: Lessing: Werke (s. Anm. 62), Bd. IV, S. 156. Vgl. hierzu Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2010, S. 171.

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zungen einer rationalistischen Ethik und führte so gegen Nicolai und Mendelssohn, aber auch gegen Lessings moral-sense-Theorie zu einer tatsächlichen Autonomisierung der Ästhetik. Bevor die Begründungen zu betrachten sind, die Hißmann für die Geltung dieser Position zur allgemeinen Poetologie und besonderen Dramentheorie entwickelt, muss noch kurz auf seine Reflexionen auf die Gründe für die traditionsreiche Annahme des substanziellen Verhältnisses zwischen Moral und Poesie hingewiesen werden. Sie zeigen, dass der Göttinger Materialist bei aller leichtfüßigen Rhetorik seines populärphilosophischen Selbstanspruches äußerst konsequent zu argumentieren versteht. Kaum bedarf es des Hinweises, dass jene kritisierte Position zur Poetik, die die Schaubühne zur moralischen Anstalt formierte, zu den einflussreichsten Konzeptionen der frühen und mittleren Aufklärung zählte, und dies nicht allein in ihrer Variante als gottschedscher Rationalismus, sondern auch in der Form des gellertschen Rührstückes oder noch in der den moral sense aufnehmenden Variante Lessings.91 Seinen Ausführungen aus den Psychologischen Versuchen entsprechend sind es vor allem äußere Umstände, die jene Fehlinterpretation hervorrufen, d.h. jene kulturellen Bedingungsfaktoren, unter denen die Thesen formuliert worden sind: So sind die meisten Urtheile über die Schaubühne, von Seiten ihrer Sittlichkeit betrachtet, beschaffen. Ich nenne keinen von den Schriftstellern, aus denen ich diese kleinstädtische Beschuldigungen gezogen habe, weil sie sich ihrer eignen Worte schämen müsten. Aber kleinstädtisch nenn’ ich dergleichen unüberlegte Vorwürfe mit Vorbedacht. Sie fliessen aus dem Mund, der Feder und dem Herzen entweder solcher Pedanten, die aus der kleinen Anzahl von Erfahrungen, die sie in dem engen Bezirk eines Landstädtchens von den unbeträchtlichen Wirkungen stümperischer, vorstädtischer Kreuzerschauspieler eingesammlet haben, auf die gleichmässige Einrichtung und Nuzenstiftung der meisterhaften Schaubühnen in der grössern, begüthertern Welt; von den theatralischen Landscheunen auf die prächtigen Schausäle grosser Städte; von den Rübenöllampen an den spanischen Wänden der Dorfstheater, auf die vortrefflichen Dekorazionen der Bühnen in den Hauptstädten der Provinzen; von den bettelarmen, herumirrenden Lumpenschauspielern, die sich, um Zulauf und Brod zu haben, nach dem Beyfall, den unwissende, äusserstsinnliche Zuschauer ihren läppischen Harlequinaden zuklatschen, richten müssen, auf die reichlichbesoldeten Schauspieler von Paris und Wien, und vom verdorbenen, oder nie ausgebildeten Geschmack ihrer schusterschen, schneiderschen, schul- und bürgermeisterschen Beichtkinder auf den verfeinerten Geschmack und auf die ausgebreiteten Kenntnisse des Parterre und der Logen im Schautempel ihres Königs, ― mit verkehrtem, kurzsichtigem Sinn fortschliessen; oder sie rühren von ganz blinden Eiferern her, die gar nicht einmal wissen, worüber sie eifern.92

Es ist nach Hißmann also der intellektuelle Provinzialismus, der eine angemessene Vorstellung des Verhältnisses von Moral und Theater verhindert und damit ein zutreffendes Verständnis der dramatischen Poesie und ihres Hauptzweckes. Dem hält Hißmann »den frohen Anblick der Feinheit der Sitten des gemeinen Mannes in grossen Städten« entgegen, aus dem nicht allein die menschliche Seele überhaupt zu erkennen sei, sondern auch die Leistungen des Theaters, das »den Grossen« wie der »niedrigste[n] Menschenklasse« »Vergnügen und Ruhe« verstattete.93 90

91 92 93

Vgl. hierzu den exzellenten Beitrag von Thomas Martinec: Friedrich Nicolai im Trauerspieldisput von 1756/57. In: Rainer Falk u. Alexander Koşenina (Hg.): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung. Hannover 2008, S. 45–65. Vgl. hierzu Thomas Martinec: Lessings Theorie der Tragödienwirkung. Humanistische Tradition und aufklärerische Erkenntniskritik. Tübingen 2003. Hißmann: Hauptzweck der dramatischen Poesie (s. Anm. 13), S. 554f. Ebd., S. 555.

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Diese soziokulturelle Erläuterung nicht allein der Entstehung der falschen Ansichten, sondern auch der wahren Einsichten gründet in Hißmanns oben ausgeführten Thesen zu der ursächlichen Funktion äußerer Umstände für die Bewegungen des Gehirns und damit für die Vorstellungen und Überzeugungen des Menschen; sie steht zugleich in polemischem Gegensatz zu Rousseaus Brief an d’Alembert, der ausdrücklich den depravierten Zustand des Menschen in großen Städten und der damit verbundenen positiven Bewertung des Theaters von der Situation in kleinen Städten unterschieden hatte, wo der sittliche Zustand des Menschen noch unzerstörter sei und damit das Theater nur Schaden anrichten könne.94 Unter Beibehaltung der von Rousseau gesetzten normativen Unterscheidung zwischen Stadt und Land wird deren Wertung in ethischer und ästhetischer Hinsicht schlicht umgekehrt; für den Materialisten Hißmann sind es die ausdifferenzierten Bedingungen des städtischen Lebens, die zu einer differenzierteren und damit angemesseneren Beurteilung des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik und der Leistungen und Grenzen des Schauspiels führen. Hißmann liefert jedoch nicht nur eine soziokulturelle Erklärung für das Entstehen der falschen Auffassungen vom Hauptzwecke der dramatischen Poesie, er entwickelt zudem eine systematische Begründung für die seiner Ansicht nach wahre Auffassung dieses ästhetischen Theoriestückes. Dabei ist allerdings das entscheidende Argument ein ethisches: Hier liegt abermal ein Hauptgrund, um welches Willen die moralische Besserung des Menschen unmöglich als Hauptzweck der dramatischen Dichtkunst angesehen werden kann. Denn gerade die ersten Gründe der Sittlichkeit und der Religion lassen sich nicht in theatralische Handlungen bringen. Der merkwürdigste Grundsaz der Moral, ohne welchen man gerade in den verschlungensten Fällen nicht fertig werden kann, der Saz, ― daß sich unser Leben nicht in diesem Irdischen wirbelt, sondern, daß gerade beym Herabsinken der Nacht des Todes, Lichtsaame der Unsterblichkeit auf die zerfallende Seele fliest, ― diese Grundfeste der Ruhe ist nicht theatralisch. Eine solche Wahrheit erreicht nur das Klimmen der ruhigforschenden Vernunft, und sie würde vom Munde des Komödianten ausgesprochen, und in Handlung eingekleidet, an Würde und Wichtigkeit unendlich verlieren.95

Die Überzeugung von der Unsterblichkeit, die einen entscheidenden Grundsatz der Moral ausmache, ist nach Hißmann nur durch das Vermögen der Vernunft zu erlangen und damit eben nicht durch die Reflexionsform der Poesie, die an die sinnliche Darstellung von Leidenschaften gebunden bleibt. Tatsächlich hatte Hißmann in seinen Psychologischen Versuchen die Materialität der Seele und ihre Unsterblichkeit zu vermitteln versucht und dieses Interesse als wesentliches Beweisziel seiner Argumentation ausgegeben.96 Die Poesie ist damit der Bedeutsamkeit dieses für die Moral konstitutiven Grundsatzes für die menschliche Natur nicht gewachsen. Weder kann und soll die Dichtung solcherart moralische Gegenstände thematisieren, noch kann sie zu deren Durchsetzung bzw. Akzeptanz beitragen, vielmehr soll sie Vergnügen beim Zuschauer erwecken und dies kann ihr gelingen, indem sie sich die »menschliche Natur« zum Gegenstand wählt. Die Erfahrung lehre nämlich »daß die dramatische Poesie […] die innersten Saiten der Menschheit trifft, die Menschen bis auf die niedrigste Menschenklasse herab, empfindungsvoll, gefühlvoll, theilnehmend, mitleidig, menschenfreundlich macht; daß sie ihnen 94 95 96

Vgl. hierzu Jean-Jacques Rousseau: Brief an d’Alembert über das Schauspiel. In: ders.: Schriften. 2 Bde. Hg. von Hennig Ritter. Frankfurt a. M. 1988, Bd. 2, S. 333–474, spez. S. 392ff. Hißmann: Hauptzweck der dramatischen Poesie (s. Anm. 13), S. 560. Vgl. Hißmann: Psychologische Versuche (s. Anm. 9), S. 13: »Ich glaube an die Unsterblichkeit meiner Seele, und glaube ebenso zuversichtlich an ihre Materialität.«

Materialistischer Ästhetiker und Theoretiker des Sturm und Drang?

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bewährte Grundsäze der Tugendlehre, befolgungswerthe Maximen der Klugheit einflöst; daß sie durch das ihnen eingegossene, lebendige, vollstürmende, tugendhafte Urgefühl […] zur Rechtschaffenheit anspornet«.97 Gute dramatische Poesie kann im Zuschauer also die ›innersten Saiten der Menschheit‹ ansprechen und ein ›vollstürmendes Urgefühl‹ evozieren. Es ist »der ganze Mensch«98 in seiner substanziellen, d.h. ein Daseingefühl ermöglichenden, ungezügelten Emotionalität, der durch die echte, von Moraldidaxe befreite dramatische Poesie angesprochen werden kann und soll. Diese ›vollständige Schätzung seine lebendigen Kräfte‹ ist aber nur möglich, wenn er die dramatische Poesie zum reinen Vergnügen rezipiert und erst auf dieser Grundlage kann sie »Grundsätze der Tugendlehre« und »Maximen der Klugheit« lehren. Die moralisch- und technisch-praktische Dimension der Poesie ist aus ihrer anthropologischen Wirkmacht abgeleitet. Auf der Grundlage ihres Hauptzweckes, der Evokation eines ›vollstürmenden Urgefühls‹ als Gefühls des Daseins seiner Menschheit kann die dramatische Poesie also durchaus auch moralische Nebenzwecke erfüllen. Weil das Verhältnis von Ästhetik und Ethik eines der Indifferenz ist, können beide Felder unter den genannten Voraussetzungen zusammenstimmen: Wenn aber die Schaubühne die Beförderung der moralischen Gesinnungen nicht zur Hauptabsicht hat: so ist diese doch unstreitig einer von ihren vornehmsten Nebenzwecken. […] Wichtig kann und muß also das Drama für die moralische Bildung, als für einen Nebenzweck, immer werden. Durch seine Zauberkraft werden die menschlichen Seelenkräfte auf die leichteste Art entwickelt und verfeinert, und die Nerven ihrer Wirksamkeit zur tugendhaften Thätigkeit gereizt. Geist und Herz wird in Bewegung gesezt. Sinnen und Einbildungskraft werden gerührt, und alle Arten von Gefühlen des bürgerlichen Menschen werden angeschlagen. Wer in schönen Dramen nicht alle Arten von Schönheit, oder wer keine einzige empfindet; wer in moralischen Schauspielen die Moral nicht fühlt, der bethe um Schönheits- und um moralisches Gefühl.99

Erst auf der Grundlage der Ausprägung des Schönheitsgefühls können gelungene Kunstwerke, weil sie die Nerventätigkeit im Allgemeinen ausbilden, auch das moralische Gefühl des Zuschauers befördern.

4. ›Vollstürmendes Urgefühl‹ – Hißmann und der Sturm und Drang Nicht allein die emotionalistische Fundierung der Poetik, auch deren terminologische, stilistische und rhetorische Formierung legen die Einbettung der hißmannschen Studie in einen Kontext nahe, der 1777, dem Jahr des Erscheinens seines Zeitschriftenbeitrags zur Dramentheorie, die literarische Öffentlichkeit weithin prägte. Denn Hißmann scheint sich mit seinem Text in eine Bewegung einschreiben zu wollen, die schon 1774 im Teutschen Merkur als »Parthey Hamanns und Herders« kritisch fixiert worden war100 und die durch Goethes und Lenzens Dra97 98 99 100

Hißmann: Hauptzweck der dramatischen Poesie (s. Anm. 13), S. 555. Hißmann verwendet die berühmte Formel in seiner Schrift zum Naturecht, dort heißt es: »Der ganze Mensch ist Eins.« Hißmann: Untersuchungen (s. Anm. 45), S. 44. Hißmann: Hauptzweck der dramatischen Poesie (s. Anm. 13), S. 560f. Vgl. Fortsetzung der kritischen Nachrichten vom Zustande des deutschen Parnasses. In: Teutscher Merkur 8 (1774), S. 164–201, spez. S. 170ff.

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men, aber auch durch theoretische Texte Herders, Goethes und Lenzens auf sich aufmerksam gemacht hatte: der Sturm und Drang. Schon 1772 hatte Johann Heinrich Mercks Redaktion der Frankfurter Gelehrten Anzeigen gezeigt,101 dass sich diese zunächst literarische ›Bewegung‹ nicht auf die Bereiche der schönen Künste reduzieren lassen wollte, sondern als oppositionelle, d.h. anti-feudale und orthodoxiekritische Gruppierung auch religions- und soziopolitische Themen zu besetzten versuchte. Die ›Originalgenies‹, die sich – wie Götz von Berlichingen zeigte – gerne eines kraftvoll polemischen Tons bedienten,102 den auch Hißmann in seinen Texten kultiviert, ent-wickelten sowohl sachliche Konzepte als auch sprachliche Formen, an die der Göttinger Philosoph offensichtlich anschließen konnte und wollte. So ist es keineswegs zufällig, dass er in seinem Beitrag die folgende Empfehlung an den Leser ausspricht: Lies also Wielands oder Göthe’s, oder die Werke andrer Dichtergenies nicht, wenn Du morgen Deine Missethaten ohne Zurückhalt ins Ohr beichten, und zu dem Ende heute die Kinder Deiner Gottlosigkeit alle um Dich herum versammlen willst. Diese vortrefflichen Werke sind dem Geschmack, nicht bußfertigen Sündern gewidmet; sie zerstreuen und heitern auf; und Du willst gerade Busse thun, und für lauter Reue zerfliessen. Was Wunder, daß Du Dir, durch Deine eigne Schuld, an diesen Pyramiden den Kopf zerstössest, ehe Du schmelzen kannst? Urtheile nun selbst, wie ungerecht Deine giftige Lästerungen sind, die Du auf Männer ausschäumest, die die ehrwürdigsten Aufklärer Deines Zeitalters, und die Ehre Deiner Nazion bey den Ausländern sind! – Ich wünschte: Kunstrichter schimpften nicht auf Göthe, und Theologen nicht auf die Berliner!103

Dieses Urteil ist insofern bemerkenswert, als Hißmann im Streit um Goethes Götz und vor allem seinem Werther, die 1777 noch keineswegs abgeklungen waren, eindeutig Partei ergreift. Zwar fügt sich der positive Bezug auf Wieland nicht nahtlos in diese Verbindung zum Sturm und Drang ein, hatten Herder und insbesondere Goethe in Götter, Helden und Wieland den Aufklärer doch aus der neuen Bewegung gedrängt. Doch schient sich hierin eine eigenständige Perspektive des jungen Göttinger Polemiker anzudeuten, zumal ihm Wielands subkutane Affinitäten zum Materialismus nicht entgangen sein dürften. Vor allem jedoch Hißmanns erneut dringend gemachte, systematische Trennung von Kunst und Moral trifft einen Nerv der Ästhetik und Poetik des Sturm und Drang. So hatte Jakob Michael Reinhold Lenz in seiner Verteidigung der Moralität der Leiden des jungen Werthers ebendiese Distinktion zwischen Schönen und Gutem vehement postuliert. Auch für Lenz hört der Dichter dort auf, wo er sich »einen moralischen Endzweck« setzt und so können für ihn die großen Leidenschaften, die der Roman Goethes weckt, nicht nach moralischen Kriterien beurteilt werden: »Nun sehen Sie Werthers Leiden nur als Produkt des Schönen an, für das Sie es selbst erkennen müssen.«104

101 102

103 104

Vgl. hierzu die anschauliche Darstellung bei Ulrike Leuschner: Johann Heinrich Merck. Hannover 2010, S. 63ff. Diese Polemik war dabei programmatisch: »[D]er polemische Ton bezeugt nicht nur das Engagement der Autoren, sondern ist überhaupt der neue Stil, über Literatur zu schreiben.« Sven Aage Jørgensen, Klaus Bohnen u. Per Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740–1789. [Geschichte der Deutschen Literatur VI] München 1990, S. 435. Hißmann: Hauptzweck der dramatischen Poesie (s. Anm. 13), S. 558. Jakob Michael Reinhold Lenz: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers. In: ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. Frankfurt a.M.1992, Bd. 2, S. 673–690, hier S. 674.

Materialistischer Ästhetiker und Theoretiker des Sturm und Drang?

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Überhaupt scheint Lenz, den Hißmann nicht erwähnt, in Stil und Gehalt den Texten des Göttinger Philosophen vielfach als Vorbild gedient zu haben; nicht allein die enge Verbindung von empirischer Psychologie und Poetik105 sowie die Doktrin, der Mensch sei der Hauptgegenstand des Dramas, selbst die spezifische Vermittlung von Mimesis und Poiesis zeigt sich bei Lenz und Hißmann in ähnlicher Weise: Sie [d.i. die Anmut der shakespearschen Stücke] kommt aus der Ähnlichkeit der handelnden Personen, partium agentium, die Mannigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien ist die Fundgrube der Natur, hier allein schlägt die Wünschelrute des Genies an.106

Noch das ›vollstürmende Urgefühl‹ Hißmanns gemahnt an das Gefühl der »selbstständigen Existenz, den Funken von Gott«, das nach Lenz vom Götz von Berlinchingen ausging107 – eine Beschreibung, mit der er das Lebensgefühl einer ganzen Generation von jungen Intellektuellen zum Ausdruck brachte.108 Hißmann scheint also in den literarischen Produkten der ›jungen Wilden‹ der 1770er Jahre die seiner Theorie entsprechenden Erscheinungen gefunden zu haben. Umgekehrt erweist sich sein dramentheoretischer Versuch, dessen Grundlegung in einer materialistischen Psychologie deutlich herausgearbeitet wird, als ein Unternehmen, jener soziokulturellen Bewegung eine bestimmte philosophische Grundlegung zu bieten. Hißmann offeriert seinen Materialismus dem Sturm und Drang als allgemeine Begründungstheorie der theoretischen Absichten und Interessen und damit als sicheres Fundament einer noch diffusen Konzeption von »Natur«.109 Hißmann versucht also mit seinen Texten, sich als Philosoph der Bewegung in Stellung zu bringen. Am deutlichsten zeigt sich dieses Interesse an seinem naturrechtstheoretischen Entwurf, der eine Politisierung des stark individualistischen Genieprogramms zu leisten unternimmt. Denn das im Geniebegriff forcierte radikalindividualistische Verständnis von der ›Einzigartigkeit‹ des Menschen110 wird von Hißmann insofern mit einer theoretischen Grundlegung versehen, als er die These von einem natürlichen appetitus societatis des Menschen zurückweist,111 jede natürlich Sympathie des Menschen zugunsten eines »Grundtrieb[es] der Selbstliebe« negiert112 und die Gründe für den Übergang des Menschen in den status civilis ausschließlich einer »Oekonomie des Vergnügens« zuschreibt.113 Kurz: Hißmann entfaltet hier eine Naturrechtstheorie, die als politische Legitimationstheorie für die »Selbstverwirklichung des großen leidenschaftlichen ›Kerls‹« fungieren kann und wohl auch soll.114 Die produktive Rezeption von Rousseaus Discours 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114

Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater. In: ebd., S. 641–671. Ebd., S. 661. Jakob Michael Reinhold Lenz: Über Götz von Berlichingen. In: ebd., S. 637–641, hier S. 637f. Vgl. hierzu Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen. Stuttgart 1995, S. 162f. Zur durchaus nachweisbaren Affinität zwischen den Autoren des Sturm und Drang und dem Système de la nature vgl. ebd., S. 57–62. Dass es sich hierbei um ein antinomisches Verständnis von Individualität handelt, zeigt die Studie von Undine Eberlein: Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne. Frankfurt a. M. 2000. Vgl. Hißmann: Untersuchungen (s. Anm. 45), S. 20ff. Ebd., S. 41. Ebd., S. 56. So Wolfgang Martens: Der patriotische Minister. Fürstendiener in der Literatur der Aufklärung. Weimar, Köln, Wien 1996, S. 293 zur Charakterisierung solcher literarischen ›Helden‹ des Sturm und Drang wie Götz, Karl Moor oder Friedrich Heinrich Jacobis Allwill.

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sur l’origine et les fondements de l’inegalité parmi les hommes, die Hißmann in seinen Untersuchungen dokumentiert, fügt sich nahtlos in die Bedeutung der Schriften des Genfer Philosophen für die Autoren des Sturm und Drang ein.115 Selbst Hißmanns irritierendes ästhetisches Urteil über das neugeborene Kind als »den häßlichsten unter allen Gegenständen der ganzen Schöpfung« bei gleichzeitiger Apotheose des erwachsenen menschlichen Körpers als des »schönste[n] unter allen schönen Objekten«116 ist nicht nur in seiner naturalistischen Ethik gegründet, die die Mutterliebe als kurzfristige List der Natur interpretieren kann, sondern auch den Interessen an der polemischen Provokation des zeitgenössischen Geschmacks. Vor allem jedoch ermöglichte Hißmanns Theorie der Geltung des ursprünglich naturzuständlichen »Recht des Stärkeren« auch im status civilis eine Legitimation für die Ausweitung des literarischen Geniebegriffs auf den Bereich soziopolitischen Handelns. Wenn der Göttinger Philosoph nämlich in seinen Untersuchungen behauptet: Ich trage kein Bedenken, die Vertheidigung des Satzes – daß auch die Gottheit, nach dem Recht des Stärkern die Welt beherrscht und mit Weisheit und Güte regieret, – zu übernehmen,117

dann bietet diese politische Theologie die Möglichkeit, das »profan-religöse Verständnis« des literarischen Genies als Erlöser118 auf das Feld gesellschaftspolitischer Aktivitäten zu übertragen. Doch gibt es auch deutliche Grenzen zwischen den Theoriemodellen des Sturm und Drang und Hißmanns philosophischen Positionen. Am deutlichsten zeigt sich diese Distanz bei der Emphase der Stürmer und Dränger für ein – wenn auch diffuses – Verständnis von Freiheit,119 die Hißmann zumindest als inneres Vermögen – wie zitiert – aufgrund seines Materialismus bestreiten musste. Darüber hinaus fehlt Hißmann jeglicher, für Goethe, Herder und Lenz essentielle Bezug zur Kunst Shakespeares120 und er versteht sich auch keineswegs – wie das letzte Zitat aus dem Aufsatz zur dramatischen Poesie zeigt – als Aufklärungskritiker; vielmehr reiht er Wieland und Goethe als Dichtergenies in die Aufklärung ein. Es bleibt letztlich eine gewissen Ambivalenz im Verhältnis zwischen Hißmanns Materialismus und der Weltanschauung des Sturm und Drangs bestehen. Ohnehin haben ihn dessen Autoren nicht zu Kenntnis genommen; doch bleibt er als Philosoph dieser kurzzeitigen Revolte noch zu entdecken.

115 116 117 118 119 120

Vgl. u.a. Luserke: Sturm und Drang (s. Anm. 108), S. 88ff. Vgl. Hißmann: Untersuchungen (s. Anm. 45), S. 63. Ebd., S. 102. Luserke: Sturm und Drang (s. Anm. 108), S. 70. Jørgensen, Bohnen u. Øhrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik (s. Anm. 102), S. 434. Vgl. hierzu Carolin Steimer: »Der Mensch! die Welt! Alles!« Die Bedeutung Shakespeares für die Dramaturgie und das Drama des Sturm und Drang. Frankfurt a.M. u.a., 2012.

Zeittafel

25. 09. 1752

Michael Hißmann wird in Hermannstadt (Siebenbürgen) als Sohn einer wohlhabenden Bäckersfamilie geboren; Besuch des evangelischen Gymnasiums Hermannstadt. Nach Abschluß der Schule Ablegung des Konsistorialexamens

19. 03. 1773

Abreise aus Hermannstadt; Aufnahme des Studiums der Theologie in Erlangen, Hißmann besucht Vorlesungen in Philosophie, Mathematik und Physik

19. 04. 1774

Immatrikulation in Göttingen; Hißmann studiert anfangs weiter Theologie, wendet sich dann aber der Philosophie zu; seine wichtigsten Lehrer hier sind Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800), Johann Georg Heinrich Feders (1740–1821) und Christoph Meiners (1747–1810); Freundschaft mit Feder und Meiners, sowie mit seinen Kommilitonen Ernst Adolf Weber (1751– 1781), Christian Friedrich Helwing (1725–1781), Johann August von Einsiedel (1754–1837), Justus Christian Loder (1753–1832), Georg Hermann Richerz (1756–1791) und Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1751–1820)

ab 1775

Publikationen in Zeitschriften (Der Hauslehrer, Deutsches Museum, Hannoverisches Magazin, Teutscher Merkur, Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur)

24. 02. 1776

Aufnahme in die Königliche deutsche Gesellschaft auf Betreiben Kästners; Antrittsrede Rede vom Flor Siebenbürgens unter Theresien und Joseph

24. 05. 1776

Disputation zur Doktorwürde mit De infinito. Dissertatio metaphysica prima, pro gradu Doctoris Philosophiae; Beginn der Lehrtätigkeit in Göttingen

Sept.–Okt. 1776 erste gesundheitliche Probleme, Kuraufenthalt in Hofgeismar 1776/1777

Geschichte der Lehre von der Association der Ideen erscheint in Göttingen

278

Zeittafel

1777

Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik erscheint in Frankfurt a. M. und Leipzig; Über Sprache und Schrift. Aus dem Französischen des Präsidenten von Brosses übersezt, und mit Anmerkungen begleitet erscheint in Leipzig

1778

Briefe über Gegenstände der Philosophie erscheinen in Gotha; dieses Werk wird in Siebenbürgen von Superintendent Andreas Funk verboten; Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur erscheint in Göttingen und Lemgo; Hißmann verwendet dieses Buch als Grundlage für Vorlesungen

Frühsommer 1778

Reise nach Leipzig und Berlin mit Freiherr Joseph von Podmanitzky; Treffen u.a. mit Minister Karl von Zedlitz (1731–1793), Johann Bernhard Merian (1723–1807), Wilhelm Abraham Teller (1734–1804); Beginn der Freundschaft mit Karl Franz von Irwing (1728–1801); Hißmann wird von Zedlitz über Teller die Nachfolge Georg Friedrich Meiers (1718–1777) in Halle angeboten

1778–1783

Herausgabe des Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte (1789 fortgesetzt von Johann Hermann Pfingsten) Kürzere Reisen nach Hannover, Rinteln, Pyrmont und Lemgo sowie nach Münster in Begleitung von Dohm; in Münster Treffen mit Minister Franz Friedrich Wilhelm Freiherr von Fürstenberg (1729–1810) und Fürstin Amalie von Gallitzin (1748–1806)

1780

Untersuchungen über den Stand der Natur erscheint in Berlin; Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntniß. Aus dem Französischen des Abbé Condillac erscheint in Leipzig; Hißmann ist im Gespräch für einen Lehrstuhl in Kiel

ab 1780

umfangreiche Rezensionstätigkeit, v.a. in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen

1781

Christian Garve (1742–1798) hält sich für zwei Monate in Göttingen auf und wohnt während dieser Zeit bei Hißmann; beide freunden sich an

Mai 1782

Ernennung zum außerordentlichen Professor in Göttingen durch König Georg III. von England

Sommer 1782

Anfrage an Hißmann wegen einer Professur des Naturrechts und der politischen Wissenschaften in Helmstedt; es kommt zu keiner Berufung

1783

Versuch über das Leben des Freyherrn von Leibniz erscheint in Münster

279

Zeittafel

März 1784

Erkrankung an einem Bluthusten, der sich im Laufe des Jahres zur Tuberkulose entwickelt

03. 05. 1784

Angebot einer ordentlichen Professur in Göttingen mit jährlicher Zulage von 200 Gulden

01./14. 07. 1784 Angebot eines Lehrstuhls der Philosophie in Pest für jährlich 1200 Gulden durch Kaiser Joseph II. 01. 08. 1784

Hißmann nimmt den Ruf nach Pest an

14. 08. 1784

Hißmann stirbt in Göttingen an der Tuberkulose

Bibliographie

GAS = Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen unter der Aufsicht der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften. Göttingen. ZGAS = Zugaben zu den Göttingischen gelehrten Anzeigen. Göttingen. HAR = Histoire (Mémoires) de l’Academie Royale des Sciences et Belles-Lettres [de Berlin] pour l’année […]. Berlin. NMA = Noveaux Mémoires de l’Academie Royale des Sciences et Belles-Lettres [de Berlin] pour l’année […]. Berlin. HARIB = Histoire de l’Académie Royale des Inscriptions et Belles-Lettres, avec les Mémoires de Littérature tirés des Registres de cette Académie. Paris. MARIB = Mémoires de Littérature, tirez des Registres de l’Académie Royale des Inscriptions et Belles-Lettres. Paris. MPG = Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte. Göttingen u. Lemgo.

Monographien Rede vom Flor Siebenbürgens unter Theresien und Joseph. In der königlichen deutschen Gesellschaft zu Göttingen bei der Aufnahme in dieselbe abgelesen von Michael Hißmann aus Göttingen. Göttingen 1776. De infinito. Dissertatio metaphysica prima. Göttingen 1776. Geschichte der Lehre von der Association der Ideen, nebst einem Anhang vom Unterschied unter associirten und zusammengesezten Begriffen, und den Ideenreyhen. Göttingen 1776. Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt a.M., Leipzig 1777; Hannover, Göttingen 21788. Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser. Gotha 1778. Anleitung zur Kenntniß der auserlesenen Litteratur in allen Theilen der Philosophie. Göttingen, Lemgo 1778; 21790. Untersuchungen über den Stand der Natur. Berlin 1780. Versuch über das Leben des Freyherrn von Leibniz. Münster 1783.

282

Bibliographie

Herausgeberschaften Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte. Aus den Jahrbüchern der Akademien angelegt von Michael Hißmann. Bd. 1 (1778) bis Bd. 6 (1783). Göttingen, Lemgo 1778–1783. Fortgesetzt von Johann Hermann Pfingsten. Bd. 7 (1789). Göttingen, Lemgo 1789. Schubart, Christian Friedrich Daniel: Kurzgefaßtes Lehrbuch der schönen Wissenschaften. 2., ganz umgearbeitete Aufl. Münster 1781.

Beiträge in Zeitschriften Ueber das Gewigte des rechtmäßigen Eides. In: Der Hauslehrer, oder Beiträge zur häuslichen Beförderung der Wahrheit, der Religion und des Geschmackes dem ungelehrten Theile des Publikums gewidmet 1 (1775), S. 313–316. Einige vorzügliche Beispiele von der Geschiklichkeit der Thiere. In: Der Hauslehrer, oder Beiträge zur häuslichen Beförderung der Wahrheit, der Religion und des Geschmackes dem ungelehrten Theile des Publikums gewidmet 1 (1775), S. 341–344. Erläuterung der Stelle Matth. V, 33–37. In: Der Hauslehrer, oder Beiträge zur häuslichen Beförderung der Wahrheit, der Religion und des Geschmackes dem ungelehrten Theile des Publikums gewidmet 1 (1775), S. 345–351. Ausführung einiger Regeln, die bei den Strafen in der Erziehung der Kinder beobachtet werden müssen. In: Der Hauslehrer, oder Beiträge zur häuslichen Beförderung der Wahrheit, der Religion und des Geschmackes dem ungelehrten Theile des Publikums gewidmet 1 (1775), S. 401–407. Ueber die Eleusinischen Geheimnisse. In: Hannoverisches Magazin. 14. Jg. (1776), Sp. 865–890. Ueber den Ursprung der Sprache. In: Hannoverisches Magazin. 14. Jg. (1776), Sp. 1145–1200. Supplement zu Seite 666. des Hannoverischen Magazins, von diesem Jahr, die Anekdoten von Sir Isaac Newton betreffend. In: Hannoverisches Magazin. 14. Jg. (1776), Sp. 889–896. Bemerkungen über die alte Geschichte von Indien. In: Hannoverisches Magazin. 15. Jg. (1777), Sp. 1169– 1216. Fortsetzung der Bemerkungen über die alte Geschichte von Indien. In: Hannoverisches Magazin. 15. Jg. (1777), Sp. 1249–1272. Bemerkungen über einige Regeln für den Geschichtsschreiber philosophischer Systeme; über Dutens Untersuchungen – und über die angebohrnen Begriffe des Plato, Deskartes und Leibnitz. In: Der Teutsche Merkur 1777, 4. Vierteljahr, S. 22–52. Ueber den Hauptzweck der dramatischen Poesie. In: Deutsches Museum 1777, 2. Bd., S. 553–564. Vorbericht. In: MPG 1 (1778), S. 3–8. Betrachtungen über die Naturgeseze. In: Deutsches Museum 1778, 2. Bd., S. 529–543. Vorbericht. In: MPG 2 (1779), S. 3–6. Ueber die Shanscrita. In: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur. 1. Jg. (1780), 5. St., S. 269–293. Vorbericht. In: MPG 3 (1780), S. 3–6. Vorbericht. In: MPG 4 (1781), S. 3–6.

Bibliographie

283

Versuch über das Fundament der Kräfte. Bey Gelegenheit der von der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin für das Jahr 1779 aufgegebenen Preisfrage. In: MPG 6 (1783), S. 3–111.1

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Vgl. dazu Cornelia Buschmann: Die philosophischen Preisfragen und Preisschriften der Berliner Akademie die Wissenschaften im 18. Jahrhundert. In: Wolfgang Förster (Hg.): Aufklärung in Berlin. Berlin (Ost) 1989, S. 165–228, hier S. 217f.

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Personenregister

Achenwall, Gottfried 135 Alembert, Jean-Baptiste le Rond d’ 231, 249, 269, 272 Alexander I. (Zar von Russland) 18 Amaranthes → Corvinus, Gottfried Siegmund Aquin, Thomas von → Thomas von Aquin Aristoteles 85, 90, 96, 177 Augustinus von Hippo 153 Bach, Johann August 148 Bain, Alexander 67 Basedow, Johannes Bernhard 163 Baumgarten, Alexander Gottlieb 162, 171, 257, 263 Beattie, James 188 Beausobre, Ludwig von 236 Beauzée, Nicolas 235 Bergier, Abbé Nicolas Sylvestre 100 Berkeley, George 188 Blackwell, Thomas 247 Blumenbach, Johann Friedrich 130 Bodmer, Johann Jakob 169f. Boerhaave, Herman 95, 232 Boie, Heinrich Christian 121 Bonnet, Charles 25, 27, 31f., 37, 74–76, 89, 99–118, 163, 186, 195 Bossiegel, Viktorin 63 Boureau-Deslandes, André François 207

Brandes, Georg Friedrich 19 Breitinger, Johann Jakob 170 Brosses, Charles de 230, 236, 246–249, 280 Brucker, Johann Jakob 63, 101, 205, 214 Brukenthal, Samuel von 21 Bucher, Urban Gottfried 11 Budde, Johann Franz 44, 105 Buddeus → Budde, Johann Franz Campe, Joachim Heinrich 247 Cat → Le Cat, Claude-Nicolas Cavaillé, Jean-Pierre 117 Chrysippos von Soloi 94 Cicero, Marcus Tullius 94, 137, 149f., 153, 158 Condillac, Étienne Bonnot de 27, 50, 74, 105, 117, 195, 225–229, 236, 245–247, 280 Cooper, Thomas 30 Corvinus, Gottfried Siegmund 160 Cudworth, Ralph 151 Cumberland, Richard 122 Danto, Arthur C. 216 Darwin, Charles 223 Darwin, Erasmus 67 Deslandes → Boureau-Deslandes, André François Démeunier, Jean Nicolas 155

304 Descartes, René 12, 33, 86, 96, 207, 211f., 230 Diderot, Denis 46f., 99, 158f., 161, 165, 227, 249, 257 Diez, Heinrich Friedrich von 121, 125, 127, 220 Dohm, Christian Konrad Wilhelm von 18f., 21, 48, 82, 103, 132, 190, 279 Dow, Alexander 155 Dubos, Jean-Baptiste 258 Duns Scotus 177 Dutens, Louis 207, 209f., 212 Eberhard, Johann August 18 Eberstein, Wilhelm Ludwig Gottlob Freiherr von 162f., 198, 201 Ebert, Johann Jacob 18 Eberti, Johann Caspar 159 Eichhorn, Johann Gottfried 21 Einsiedel, Johann August von 11, 18, 279 Empiricus, Sextus → Sextus Empiricus Epikur (Epikuros) 86, 122 Ernesti, Johann August 160, 166, 173, 192 Erxleben, Johann Christian Polycarp 17 Eschenburg, Johann Joachim 167 Euler, Leonhard 172 Feder, Johann Georg Heinrich 16f., 45, 57, 99f., 161, 165, 173, 233, 279 Ferber, Johann Karl Christoph 19 Ferguson, Adam 243 Fichte, Johann Gottlieb 45 Filtsch, Johann 15, 17, 19–21, 43, 82, 155, 157, 195–197, 229f. Fontenelle, Bernhard Le Bovier de 158, 166, 168, 171, 174f. Forberg, Friedrich Karl 150 Formey, Johann Heinrich Samuel 171f. Forster, Georg 230, 267f. Frérets, Nicolas 107 Friedrich II. (König von Preußen) 223 Friedrich Wilhelm I. (König von Preußen) 50

Personenregister

Fürstenberg, Franz Friedrich Wilhelm Freiherr von 19, 280 Funk, Andreas 195–198 Gallitzin, Amalie von 19, 21, 194, 280 Gallitzin, Dimitrij Aleksejewitsch 194 Garasse, François 117 Garve, Christian 19, 21, 199f., 206, 280 Gassendi, Pierre 90, 94 Gatterer, Johann Christoph 17 Gay, John 67 Gellert, Christian Fürchtegott 160, 167, 173f., 194f., 271 Georg III. (König von England und Kurfürst von Braunschwig-Lüneburg) 19, 280 Gerard, Alexander 74 Geßner, Salomon 264 Goethe, Johann Wolfgang von 264, 273f., 276 Goeze, Johann Melchior 150 Gottsched, Johann Christoph 158, 166, 169, 171, 190f., 195, 269, 271 Greiling, Johann Christoph 162 Grotius, Hugo 137 Haller, Albrecht von 26, 70, 75, 100, 116, 188, 206, 232, 247 Hamann, Johann Georg 273 Harris, James 235 Hartley, David 25–27, 31, 38, 63–84, 88, 102, 117 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 45, 164, 202, 215–217, 219 Heine, Heinreich 49 Heinse, Wilhelm 262 Helvétius, Claude Adrien 13, 27, 99, 105f., 116f., 128, 195, 258, 260 Helwing, Christian Friedrich 18, 21, 279 Henckel, Johann Christoph 198 Hennings, Justus Christian 12

Personenregister

Herder, Johann Gottfried 198, 216f., 221f., 226f., 236–241, 244–246, 264, 267, 273f., 276 Herkules 154 Herz, Marcus 77, 81f. Heuermann, Georg 232 Heumann, Christoph August 53, 160 Heyne, Christian Gottlob 17 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 162 Hobbes, Thomas 12, 73f., 86, 90, 122, 126f., 137, 142, 220f., 243 Holbach, Paul Henri Thiry d’ 13, 99f., 107f., 254 Hollmann, Samuel Christian 17 Home, Henry 74, 127, 243 Homer 149 Horatius Flaccus, Quintus (Horaz) 73 Hume, David 30, 50, 66f., 74, 76f., 131f., 160, 165, 200, 220, 237, 246, 254f., 257, 259 Hupel, August Wilhelm 11, 14, 34f. Hutcheson, Francis 35, 257 Irwing, Karl Franz von 18, 21, 81f., 230f., 280 Iselin, Isaak 220, 267 Jacobi, Friedrich Heinrich 265 James, William 67 Jaspers, Karl 216 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 18, 226 Jerusalem, Karl Wilhelm 226 Joseph II. (Kaiser des Heiligen Römischen Reiches) 20, 281 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 135, 226 Kästner, Abraham Gotthelf 17, 59, 63, 81, 174f., 194f., 226, 229, 279 Kames, Henry Home 220 Kant, Immanuel 14, 18, 43, 47f., 52f., 83, 98, 109, 135, 138, 142, 162, 165, 198– 200, 206, 217, 254, 257, 260f., 267f.

305 Karl VI. (Kaiser des Heiligen Römischen Reiches) 16 Karneades von Kyrene 73, 137 Knigge, Philippine von 172 Knoblauch, Karl von 11, 14 Knoll, Heinrich Christoph Friedrich 198 Kraft, Jens 121 Kraus, Christian Jakob 18 Krug, Wilhelm Traugott 46, 206 Lau, Theodor Ludwig 11 Lavater, Johann Caspar 265 Le Cat, Claude-Nicolas 182 Leibniz, Gottfried Wilhelm 48, 51, 57, 98, 109, 115, 137, 163, 173, 175, 178, 181f., 187–189, 193, 200, 207, 209, 211f., 230, 235 Lenz, Jakob Michael Reinhold 255, 273– 276 Leß, Gottfried 17 Lessing, Gotthold Ephraim 150, 255, 265f., 270f. Lichtenberg, Georg Christoph 168, 186, 230 Lindemann, Johann Gottlieb 156 Lindner, Johann Gotthelf 166f. Lindsey, Theophilus 112 Lipsius, Justus 46 Locke, John 12f., 15, 25, 30, 32, 35, 59, 61f., 67, 72, 74, 105, 112, 117, 122f., 126, 137, 171, 188, 200f., 227f., 231 Loder, Justus Christian 18, 21, 279 Lossius, Johann Christian 27, 81, 163 Lucretius Carus, Titus (Lukrez) 122 Luther, Martin 49 Machiavelli, Niccolò 150 Malebranche, Nicolas 74–76, 78, 102, 246 Manteuffel, Ernst Christoph von 171 Mariotte, Edme 182 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 223, 230, 236, 243, 248 Mauvillon, Jakob 21, 245

306 Meier, Georg Friedrich 12, 18, 47, 50, 161f., 191f., 254, 257, 265, 267, 280 Meiners, Christoph 11, 14, 16f., 21, 27, 47– 53, 58, 60–62, 64f., 77f., 80, 100f., 132f., 147–156, 163, 165, 173, 193, 198, 206, 226, 232, 246, 254, 259f., 279 Meister, Christian Friedrich Georg 17, 20 Mendelssohn, Moses 14, 35, 132, 198, 245, 270 Merck, Johann Heinrich 274 Merian, Johann Bernhard 18, 21, 50, 231, 280 Mersenne, Marin 94 Mettrie, Julien Offray de La 14, 99 Meursius, Johannes 147 Michaelis, Johann David 17, 132f., 226 Mill, John Stuart 67 Miller, Johann Peter 17 Montesquieu, Charles-Louis de 130f., 143, 214, 243f. Mosheim, Johann Lorenz von 151f. Münchhausen, Gerlach Adolph von 16 Muḥammad Qāsim Hindū-Šāh Astarābādī Firišta 155 Murray, Andreas 17 Newton, Isaac 112 Nicolai, Friedrich 18, 45, 270 Ovidius Naso, Publius (Ovid) 73 Paullini, Christian Franz 159 Pfingsten, Johann Hermann 280 Pistorius, Hermann Andreas 26 Platner, Ernst 18, 74, 76, 163 Platon 177, 207, 211f., 230, 266 Pluche, Noël-Antoine 248 Plutarch 149 Podmanitzky, Joseph von 18, 280 Pomponazzi, Pietro 150 Pouilly, Louis-Jean Lévesque de 258 Price, Richard 72

Personenregister

Priestley, Joseph 13, 15, 26f., 29–31, 35– 38, 50, 63–84, 111–115, 117, 247 Pütter, Johann Stephan 17 Pufendorf, Samuel 122f., 126, 137, 220, 243 Purmann, Johann Georg 121 Reid, Thomas 26, 188 Reimarus, Hermann Samuel 127f., 150, 243, 265 Reinhold, Carl Leonhard 45, 200–201 Richerz, Georg Hermann 18, 279 Riedel, Friedrich Justus 270 Robinet, Jean-Baptiste-René 27 Rochow, Friedrich Eberhard 172 Rousseau, Jean-Jacques 122–125, 127, 129, 131, 134f., 141, 143, 160, 170, 220, 227, 243–245, 269, 272, 275 Sales, Delisle de 155 Schiller, Friedrich 172 Schlözer, August Ludwig 135 Schmauss, Johann Jacob 134–136 Schulze, Gottlob Ernst 164 Scotus → Duns Scotus Search, Edward → Tucker, Abraham Selle, Christian Gottlieb 11, 14 Seneca, Lucius Annaeus 45 Sextus Empiricus 94 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper Earl of 247, 260 Shakespeare, William 276 Smith, Adam 123, 237 Spalding, Johann Joachim 18, 162 Spazier, Johann Gottlieb 11 Spencer, Herbert 67 Spinoza, Baruch de 86, 263 Stockhausen, Johann Christoph 167, 172f., 175 Stosch, Friedrich Wilhelm 11 Sturm, Johann Christoph 46 Suárez, Francisco 177 Suckow, Simon Gabriel 17 Süßmilch, Johann Peter 226f., 234

Personenregister

Sulzer, Johann Georg 12, 35, 50, 72, 116, 160, 163–166, 192, 201f., 236, 254f., 257f., 260, 263, 265, 269 Swieten, Gottfried von 20

307 Voltaire (François Marie Arouet) 148f., 207, 217, 220f. Vorländer, Karl 164f.

Unzer, Johann August 232 Unzer, Johanna Charlotte 172

Wagner, Gabriel 11 Walch, Christian Wilhelm Franz 17, 206 Walch, Johann Georg 13, 46, 162 Warburton, William 148f., 152 Weber, Ernst Adolf 17, 19, 21, 279 Weikard, Melchior Adam 144, 184f. Weißhaupt, Adam 154 Wieland, Christoph Martin 116, 125, 186, 253, 255, 266, 274, 276 Winckelmann, Johann Joachim 255, 262 Wolff, Caspar Friedrich 116, 225 Wolff, Christian 16, 43–45, 48, 50, 52–59, 62, 74, 76f., 82, 105, 137, 139f., 163, 166, 171, 173, 178f., 181, 190–193, 196, 213, 218f., 221f., 246, 254, 263

Vanini, Giulio Cesare 117 Varro, Marcus Terentius 153

Zachariae, Gotthilf Traugott 17 Zedlitz, Karl von 18, 280

Teller, Wilhelm Abraham 18, 280 Tetens, Johann Nicolaus 18, 48, 81, 187f. Thomas von Aquin 85, 177 Thomasius, Christian 44, 46f., 159, 165, 171 Thukydides 231 Tiedemann, Dieterich 81, 226, 243 Toland, John 107 Troeltsch, Ernst 215 Tucker, Abraham (pseud. Edward Search) 27, 67, 105, 117, 195