Ernst Cassirer: Ein Philosoph der europäischen Moderne [Reprint 2015 ed.] 9783050073613, 9783050031057

Ernst Cassirer wird in diesem Buch als ein Denker vorgestellt, der geistig in der philosophischen Tradition wurzelt und

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German Pages 265 [268] Year 1997

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Ernst Cassirer: Ein Philosoph der europäischen Moderne [Reprint 2015 ed.]
 9783050073613, 9783050031057

Table of contents :
Vorwort
Danksagung
I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes. Der poietische Aspekt der Symbolisierung
Cassirers philosophische Konzeption
Cassirers Philosophie in ihrer Zeit
Schöpferische Gestaltung
Das gestaltende Tun
Die Gründung unserer geistig-kulturellen Existenz auf das „Tun“
Der Mensch als „Ausdruckswesen“
Eine „Ästhetisierung“ der menschlichen Existenz?
Selbstgestaltung als Bildung eines Selbstverständnisses und als geschichtliches Werden des Selbst
Geistige Identität durch Äußerung
Eine „Identitätstheorie“ des Geistes?
Die Vielfalt der Gestaltungen
Das Stufenschema und der Ausgang vom Mythos
Die Einheit des schöpferischen Gestaltens
„Konkrete Totalität“
Das einigende Band der „produktiven Einbildungskraft“
Der „Symbolprozeß“
Sinn und Sinnlichkeit
Das sinnliche Zeichen
Materiale Struktur und Funktion von Symbolismen
Sinnliches Bewußtsein und Zeichenbildung
Immanente Gliederung
„Natürliche Symbolik“
Affektive Verstärkung
„Halt und Dauer“ durch Repräsentation
Kontrastbildung durch Zeichen
Die geistige Welt als Einheit von Bewußtseins- und symbolischen Formwelten
Der Geist: eine Vielheit von Einheiten
„Konkrete Einheit“
„Komplexes System“
Die „Mehrdimensionalität“ der geistigen Welt und die Philosophie der symbolischen Formen
Die verschiedenen Dimensionen einer gemeinsamen geistigen Welt
Die Aufgabenstellung einer Philosophie der symbolischen Formen
Die Philosophie der symbolischen Formen: eine symbolische Form?
Die Philosophie der symbolischen Formen jenseits der symbolischen Formen
II Symbolische Prägnanz. Der ästhetische Aspekt der Symbolisierung
Symbolische Prägnanz: Eine Definition
Die Gliederung im Ausdrucksleben
Ausdruckserlebnisse und Gestaltungsimpulse
Verdichtung und Herauslösung
Fixierung der Identität
Verknüpfungsstruktur
Relationierung
Homogenität
Kontinuität
Der „Akt der Prägung“
„Primäre“ Bewußtwerdung und „sekundäre“ Vergegenwärtigung
Zentren-Bildung
Gliederung durch Bewegung
Gliederung und Repräsentation
„Repräsentation“ und „Rekognition“
„Repräsentation“ und „Präsentation“
„Repräsentation“ und „Retention“
„Repräsentant“ und „Repräsentat“
Das Wandelbare und das Bleibende
Das Hindurchblicken auf das Identische
Gruppenbildung und Umgruppierung
Der Bezug auf einen Gegenstand
Das Wandelbare und das Bleibende
Symbolische Existenz
Symbolische Prägnanz: Eine Interpretation
Symbolische Prägnanz als „Werden zur Form“
III Moral und Kultur. Der ethische Aspekt der Symbolisierung
Die praktische Ausrichtung der Cassirerschen Philosophie
Praktische „Objektivität“
Das reflexive Moment
Das formale bzw. logische Moment
Das materiale Moment
Das fundierende Moment
Das definierende Moment
Das universalistische Streben
Der Ausgriff auf die Zukunft
Der Imperativ des Werkes
Das Vertrauen auf die Kraft der Vernunft
„Moralisierung“ durch „Kultivierung“?
Der Rückfall in den Mythos
Die Ausbildung von Individualität
Die Einheit und Universalität des „moralischen Impulses“
„Moralischer Impuls“ und schöpferische Gestaltung
Die Vielfalt und Partikularität der „Moralsysteme“
Moral und Kultur
IV Der Werkbegriff in der Metaphysik der symbolischen Formen
Die Texte und Entwürfe zu einem vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen
Das Manuskript über die „Basisphänomene“
Die drei „Basisphänomene“
Die Gründung der philosophischen Erkenntnis in den Phänomenen und die Unmittelbarkeit der Phänomene
Das Ich-Phänomen: Gegeben- und Gesetztsein
Zwischen Wirken und Wollen
Das Werk-Phänomen
Phänomenale Unmittelbarkeit und die „Doppelbödigkeit“ der Phänomene
Ereignis und Form
Werk und Ich
Das Poietische, das Praktische und das Theoretische
Das Maß der Form: Wahrheit und Sittlichkeit
Das Werk im kulturellen Universum und der innere Bezug der Basisphänomene zueinander
V Cassirers Bild der Renaissance
Die Bedeutung der Renaissance im Werk Cassirers
Homogenität und Vermittlung
Individualität und Sinnlichkeit
Erkenntnis als Verschmelzung
Vision und Abstraktion: Das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft
Sehen und Gestalten
Das Werk
Technik, Kunst und Mathematik
Die Vernunft des Laien
Der Geist der Renaissance
Resümee 1: Cassirers Perspektive auf die Renaissance
Resümee 2: Renaissance und Kulturkritik im 20. Jahrhundert
Siglenverzeichnis
Sachregister
Personenregister

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Oswald Schwemmer

Ernst Cassirer Ein Philosoph der europäischen Moderne

Oswald Schwemmer

Ernst Cassirer Ein Philosoph der europäischen Moderne

Akademie Verlag

Abbildung auf der Titelseite: Ernst Cassirer in Schweden. Privatbesitz Dr. John M. Krois

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme S c h w e m m e r , Oswald: Ernst Cassirer : ein Philosoph der europäischen Moderne / Oswald Schwemmer - Berlin : Akad. Verl., 1997 ISBN 3-05-003105-0

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1997 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen von WILEY-VCH. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden, Umschlag-und Innengestaltung, Satz: Hans Herschelmann Druck: GAM Media, Berlin Bindung: Buchbinderei Stein, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort Danksagung

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I

Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes. Der poietische Aspekt der Symbolisierung Cassirers philosophische Konzeption Cassirers Philosophie in ihrer Zeit Schöpferische Gestaltung Das gestaltende Tun Die Gründung unserer geistig-kulturellen Existenz auf das „Tun" Der Mensch als „Ausdruckswesen" Eine „Ästhetisierung" der menschlichen Existenz? Selbstgestaltung als Bildung eines Selbstverständnisses und als geschichtliches Werden des Selbst Geistige Identität durch Äußerung Eine „Identitätstheorie" des Geistes? Die Vielfalt der Gestaltungen Das Stufenschema und der Ausgang vom Mythos Die Einheit des schöpferischen Gestaltens „Konkrete Totalität" Das einigende Band der „produktiven Einbildungskraft" Der „Symbolprozeß" Sinn und Sinnlichkeit Das sinnliche Zeichen Materiale Struktur und Funktion von Symbolismen

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6 I Inhalt Sinnliches Bewußtsein und Zeichenbildung Immanente Gliederung „Natürliche Symbolik" Affektive Verstärkung „Halt und Dauer" durch Repräsentation Kontrastbildung durch Zeichen Die geistige Welt als Einheit von Bewußtseins- und symbolischen Formwelten Der Geist: eine Vielheit von Einheiten „Konkrete Einheit" „Komplexes System" Die „Mehrdimensionalität" der geistigen Welt und die Philosophie der symbolischen Formen Die verschiedenen Dimensionen einer gemeinsamen geistigen Welt Die Aufgabenstellung einer Philosophie der symbolischen Formen Die Philosophie der symbolischen Formen: eine symbolische Form? Die Philosophie der symbolischen Formen jenseits der symbolischen Formen

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II Symbolische Prägnanz. Der ästhetische Aspekt der Symbolisierung Symbolische Prägnanz: Eine Definition Die Gliederung im Ausdrucksleben Ausdruckserlebnisse und Gestaltungsimpulse Verdichtung und Herauslösung Fixierung der Identität Verknüpfungsstruktur Relationierung Homogenität Kontinuität Der „Akt der Prägung" „Primäre" Bewußtwerdung und „sekundäre" Vergegenwärtigung Zentren-Bildung Gliederung durch Bewegung Gliederung und Repräsentation „Repräsentation" und „Rekognition" „Repräsentation" und „Präsentation"

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Inhalt I 7 „Repräsentation" und „Retention" „Repräsentant" und „Repräsentat" Das Wandelbare und das Bleibende Das Hindurchblicken auf das Identische Gruppenbildung und Umgruppierung Der Bezug auf einen Gegenstand Das Wandelbare und das Bleibende Symbolische Existenz Symbolische Prägnanz: Eine Interpretation Symbolische Prägnanz als „Werden zur Form"

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III Moral und Kultur. Der ethische Aspekt der Symbolisierung Die praktische Ausrichtung der Cassirerschen Philosophie Praktische „Objektivität" Das reflexive Moment Das formale bzw. logische Moment Das materiale Moment Das fundierende Moment Das definierende Moment Das universalistische Streben Der Ausgriff auf die Zukunft Der Imperativ des Werkes Das Vertrauen auf die Kraft der Vernunft „Moralisierung" durch „Kultivierung"? Der Rückfall in den Mythos Die Ausbildung von Individualität Die Einheit und Universalität des „moralischen Impulses" „Moralischer Impuls" und schöpferische Gestaltung Die Vielfalt und Partikularität der „Moralsysteme" Moral und Kultur

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IV Der Werkbegriff in der Metaphysik der symbolischen Formen Die Texte und Entwürfe zu einem vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen Das Manuskript über die „Basisphänomene"

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8 I Inhalt Die drei „Basisphänomene" Die Gründung der philosophischen Erkenntnis in den Phänomenen und die Unmittelbarkeit der Phänomene Das Ich-Phänomen: Gegeben- und Gesetztsein Zwischen Wirken und Wollen Das Werk-Phänomen Phänomenale Unmittelbarkeit und die „Doppelbödigkeit" der Phänomene Ereignis und Form Werk und Ich Das Poietische, das Praktische und das Theoretische Das Maß der Form: Wahrheit und Sittlichkeit Das Werk im kulturellen Universum und der innere Bezug der Basisphänomene zueinander

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V

Cassirers Bild der Renaissance Die Bedeutung der Renaissance im Werk Cassirers Homogenität und Vermittlung Individualität und Sinnlichkeit Erkenntnis als Verschmelzung Vision und Abstraktion: Das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft Sehen und Gestalten Das Werk Technik, Kunst und Mathematik Die Vernunft des Laien Der Geist der Renaissance Resümee 1: Cassirers Perspektive auf die Renaissance Resümee 2: Renaissance und Kulturkritik im 20. Jahrhundert

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Siglenverzeichnis

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Sachregister

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Personenregister

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Vorwort

Cassirers Philosophie erfährt gegenwärtig eine fast stürmische Wiederentdekkung. Vor wenigen Jahren noch mehrheitlich und umstandslos dem Neukantianismus zugeordnet, sieht man inzwischen mehr und mehr die eigenständige Bedeutung des philosophischen Konzeptes, das Cassirer vor allem in seiner Philosophie der symbolischen Formen entwickelt hat. Tatsächlich zeigt sich Cassirer hier als ein Philosoph der Moderne, der die Rolle der symbolischen und technischen Medien für das Verständnis des Geistes gesehen und darauf eine kulturelle Definition des Geistes aufgebaut hat.1 Sein Weg vom Neukantianismus zur eigenen symbol- und kulturphilosophischen Konzeption der menschlichen Existenz ist zutreffend unter den Titel Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie2 gebracht worden. Seine Wendung zur Kulturphilosophie und insbesondere seine Darstellung einer Vielfalt von symbolischen Formen hat Cassirer zu einer Art Hoffnungsträger für die Entwicklung einer interkulturellen Philosophie werden lassen. Solche Hoffnungen haben damit zu rechnen, daß Cassirer jedenfalls kein „multikultureller" Philosoph ist. Er bleibt mit seinem Denken auch einer kulturellen Vielfalt tief in der europäischen Tradition nicht nur der Philosophie, sondern auch der wissenschaftlichen und allgemeinen geistigen Entwicklung verwurzelt. Und er sieht dies nicht als eine Eingrenzung an, sondern als eine Öffnung auch für andere Positionen, Konzeptionen und Perspektiven. Andere Denkformen kann man nicht dadurch erfassen, daß man seine eigene geistige Tradition verleugnet und seine kulturelle Prägung - das Unmögliche versuchend - auslöscht, um dann als allseitig formbarer Geist die Andersheit des

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„Der Begriff .Geist' ist korrekt; aber wir dürfen ihn nicht als Name einer Substanz gebrauchen - für ein Ding ,quod in se est et per se concipitur'. Wir sollten ihn in einem funktionellen Sinne gebrauchen als einen umfassenden Namen für alle jene Funktionen, die die Welt der menschlichen Kultur konstituieren und aufbauen." (SML in GL, S. 337.) Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Wiirzburg [Königshausen und Neumann] 1996.

10 I Vorwort anderen Denkens in sich aufzunehmen. Das Verstehen des Fremden gelingt in den Augen Cassirers nur, wenn das Eigene verstanden ist, wenn die eigenen Traditionen und kulturellen Vermittlungen artikuliert werden können und reflektiert sind. Diese Überzeugung macht Cassirer zu einem Philosophen der europäischen Moderne. Dieser Titel kündigt ein systematisches Interesse an. So sind denn die fünf Kapitel dieses Buches - und dazu gehört auch das Kapitel über Cassirers Bild der Renaissance - in dem Interesse geschrieben, Cassirers Philosophie der symbolischen Formen als einen Entwurf oder ein Programm zu lesen, um eine bestimmte - nämlich symbol- und kulturtheoretische - Perspektive für das Verständnis der menschlichen Existenz fruchtbar zu machen. Diese Sicht zeigt eher offene programmatische Impulse als abgeschlossene systematische Thesen, entwickelt Cassirers Philosophie eher als noch anstehendes Arbeitsprogramm denn als historisch dokumentierte Position.3 Gerade diese Sicht verlangt aber auch, Cassirers eigene Darstellungen ernst und beim Wort zu nehmen. Das fällt zunächst nicht leicht - und dies vor allem darum, weil Cassirers Texte leicht lesbar sind. Ihr Stil ist flüssig, literarisch und manchmal auch, das ständige Vorbild Goethe vor Augen, (alt-) meisterlich. Eine Hauptaufgabe und -Schwierigkeit, Cassirers Philosophie Studenten zugänglich zu machen, besteht darin, ihr die Glätte und Leichtigkeit zu nehmen, mit der sie formuliert ist. Sie verführt regelrecht dazu, sie als einen affirmativen Kommentar zu den klassischen Positionen der europäischen Vernunftphilosophie, eines aufgeklärten Idealismus, zu verharmlosen: so vorsichtig und leise sind die Brüche mit diesen Positionen bezeichnet, so „klassisch" sind selbst Gegenäußerungen vorgetragen. Eine zweite und genauere Lektüre kann dann allerdings zur Entdeckungsreise werden. Hat man erst einmal den besänftigenden Stil als eine publizistische Politur durchaus kontroverser Argumente und Ideen begriffen, dann heben sich einzelne Formulierungen aus dem literarischen Strom der Darstellung heraus, die nicht geglättet sind, die das Gemeinte auch sagen, ihm eine prägnante Kontur geben. So sind es manchmal Wortinseln, bis zur Formelhaftigkeit ausformulierte Wendungen, die Cassirers Intentionen zur Sprache bringen. Und auch dies ist wieder eine Verführung und eine Schwierigkeit zugleich. Die Verführung besteht darin, die Wortinseln tatsächlich nur als Inseln zu nehmen, sie aus ihren Kontexten zu lösen und als Zitatenschatz für die Befestigung der eige-

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So sieht es Cassirer auch selbst: „Die .Philosophie der symbolischen Formen' kann und will daher kein philosophisches .System' in der traditionellen Bedeutung des Wortes sein. Was sie allein zu geben versuchte, waren die .Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie'. Es war nicht ein fertiger Bau, den sie zu errichten strebte, sondern nur ein Grundriß, den sie entwerfen wollte." (LS in WWS, S. 229.) Und er fügt hinzu: „das Problem, das ich mir in der .Philosophie der symbolischen Formen' gestellt habe, [bedeutet] kein Ende, sondern einen Anfang". (Ebda., S. 230.)

Vorwort I 11 nen Interpretation auszubeuten. Die Schwierigkeit besteht darin, diese Inseln überhaupt als eine exemplarische Artikulation übergreifender gedanklicher Zusammenhänge zu erkennen. Verstärkt wird diese Schwierigkeit noch dadurch, daß Cassirer die Darstellungen größerer Zusammenhänge in seinen Texten nicht zusammenführt. So kann es denn durchaus vorkommen, daß die besonders konzise Fassung eines allgemeinen Gedankens, z. B. über die Funktion des mythischen Denkens, nicht in dem Band seiner Philosophie der symbolischen Formen, der diesem Denken gewidmet ist,4 sondern im Band über die Phänomenologie der Erkenntnis* und dort sogar auch in dem Kapitel über die Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis^ vorkommt. Bestimmte Gedanken sind sozusagen überall gegenwärtig und finden daher ihre Formulierung auch dort, w o das gerade behandelte Thema sie zumindest nicht erzwingt. Gleichwohl ist Cassirer kein unkonzentrierter Autor. Im Gegenteil: Man spürt sozusagen auf jeder Seite die enorme Anstrengung, die Vielfalt der gedanklichen und darstellerischen Details zusammenzuführen und immer wieder die Grundgedanken seiner Konzeption gegenwärtig zu halten. Eben dies hat ihn offensichtlich dazu gebracht, für zentrale Gedanken seiner philosophischen Konzeption leitmotivische Formel-Formulierungen zu wählen. Diese Formeln liefern als gut erkennbare Orientierungsmarken den Ausgangspunkt für die Wiederaufnahme eines bestimmten Gedankengangs, für die Eröffnung einer perspektivischen Zusammenschau verschiedener Einzel-Argumente und Analysen, für Rück- und Vorausblicke auf dás Ganze seiner Darstellung. Ich habe diese Stileigentümlichkeit Cassirers für meine eigene Darstellung genutzt. Es ging mir um die Grundgedanken seiner philosophischen Konzeption, und ich habe meine besondere Aufmerksamkeit darauf gewandt, seine Wortinseln mit ihren Formeln und Leitmotiven auch dort, w o sie weniger auffällig auftreten, zu registrieren. Natürlich konnte es dabei nicht um die Ansammlung eines bloßen Zitatenrepertoires gehen. Vielmehr waren es die Variation der Formulierungen und die Verschiebung der Kontexte, die es jeweils mit festzustellen und zu interpretieren galt. Aus der methodischen Wahrnehmung dieser Variationen und Verschiebungen lassen sich gedankliche Differenzierungen der Cassirerschen Konzeption begründen, die für eine Interpretation der einmaligen Formulierung im einfachen Kontext nicht faßbar ist. Vor allem in den Kapiteln über Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes, über die Symbolische Prägnanz und über Moral und Kultur habe ich diese Suche nach den kleinen Variationen und geringen Verschiebungen aufgenommen und damit eine Leserichtung umgekehrt, die

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PSF II: Das mythische Denken. PSF III, Erster Teil, Kapitel II u n d III. PSF III, S. 524-526.

12 I Vorwort Cassirer der philosophischen Systematisierung empfiehlt. Ich habe die „kleinen Schriftzeichen", in denen der Text geschrieben ist, nicht vergrößert, um dann einen Text in „Großbuchstaben" vor Augen zu haben und interpretieren zu können. 7 Hier war an manchen Stellen der Versuch angebracht, Cassirer gleichsam mit der Lupe zu lesen und damit die „kleinen Schriftzeichen" der Formulierungsvariationen in sich verschiebenden Kontexten zu entziffern. Bei dieser Lesart zeigt sich in einer sehr deutlichen und beeindruckenden Weise, ein w i e genauer Denker Cassirer ist. Allerdings ist seine Genauigkeit nicht die der expliziten Definitionen. Solche Definitionen finden sich nicht einmal für die „Grundbegriffe" des Symbols oder der symbolischen Form. Zwar redet er über den Symbolbegriff - und hebt dabei hervor, daß er ihn nicht an die Unterscheidung von „Bild" und „Sache", von „Zeichen" und „Bezeichnetem" bindet, sondern „von Anfang an" versucht, „mit ihm das Ganze jener Phänomene zu umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete ,Sinnerfüllung' des Sinnlichen sich darstellt; - in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt."8 Aber gerade dieses prominente Beispiel zeigt, daß es bei der Rede vom Symbolèegrî/f nicht um eine Definition geht, sondern darum, die Grundvorstellung der Verkörperung von Sinn in Sinnlichkeit auch schon im „Begriff des .Symbolischen'" 9 und zwar „von Anfang an" - präsent zu machen. Die Vorstellung von der Sinnverkörperung im Sinnlichen ist ein tragender Grundgedanke für den ge-

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Bei Cassirer - wie bei Piaton, von dem er das Bild übernimmt - ist damit eine Vergrößerung der „kleinen Schriftzeichen", in denen unsere persönliche Erfahrung geschrieben ist, in die „Großbuchstaben" des politischen und sozialen Lebens gemeint. Vgl. dazu den Abschnitt Das Maß der Form: Wahrheit und Sittlichkeit in Kapitel IV. PSF III, S.109. Vgl. dazu auch die beiden berühmten „Definitionen", die Cassirer in seiner Antwort auf die Kritik, die Konrad Marc-Wogau an seinem Konzept geübt hat, für das Symbolische und die symbolische Form gibt: „Man kann den Begriff des Symbolischen so nehmen, daß darunter eine ganz bestimmte Richtung geistiger Auffassung und Gestaltung verstanden wird, die als solche dann eine nicht minder bestimmte Gegenrichtung sich gegenüber hat. [...] Was dagegen hier durch den Begriff der symbolischen Form bezeichnet werden soll, ist ein anderes und allgemeineres. Es handelt sich darum, den symbolischen Ausdruck, d.h. den Ausdruck eines .Geistigen' durch sinnliche .Zeichen' und .Bilder', in seiner weitesten Bedeutung zu nehmen; es handelt sich um die Frage, ob dieser Ausdrucksform bei aller Verschiedenheit ihrer möglichen Anwendungen ein Prinzip zugrunde liegt, das sie als ein in sich geschlossenes und einheitliches Grundverfahren kennzeichnet. Nicht also was das Symbol in irgendeiner besonderen Sphäre, was es in der Kunst, im Mythos, in der Sprache bedeutet und leistet, soll hier gefragt werden; sondern vielmehr wie weit die Sprache als Ganzes, der Mythos als Ganzes, die Kunst als Ganzes den allgemeinen Charakter symbolischer Gestaltung in sich tragen." (BSF, S.174.) Und: „Unter einer .symbolischen Form' soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird." (BSF, S. 175.) Ebda.

Vorwort I 13 samten Entwurf einer Philosophie der symbolischen Formen. 10 Er ist in allen Formulierungen gegenwärtig, in denen gedankliche Entscheidungen, die diesen Entwurf prägen, artikuliert werden. Und dies gilt auch für andere Grundgedanken - wie dem allen geistigen und kulturellen Seins als eines „Werdens zur Form", dem „Urphänomen des Ausdrucks", dem Grundverhältnis des Geistes zu seiner „Äußerung", dem Wert der „Individualität" oder der Bedeutung des „Werkes" für das Verständnis unserer geistigen Existenz. Sie alle werden von Cassirer nicht nur in seinen einzelnen Überlegungen mitgedacht, sondern auch mit zum Ausdruck gebracht. Und dieses ständige Mitvergegenwärtigen des Gesamtzusammenhangs seiner Grundgedanken ist das Prinzip, aus dem sich beides, die Prägung von Formel-Formulierungen und deren Variation in sich verschiebenden Kontexten, erklärt. Cassirer selbst erklärt in seiner Antwort auf Konrad Marc-Wogau, daß seine Philosophie der symbolischen Formen nur als „ein Ganzes von Begriffen gegeben [ist], die in strenger Korrelation zu einander stehen und die außerhalb dieser Korrelation gar keinen selbständigen Inhalt besitzen. Keiner von ihnen besagt etwas ,für sich', - jeder ist nur im Hinblick auf den andern oder, besser gesagt, im Hinblick auf das Gesamtsystem definiert. Und doch besagt eben diese Wechselseitigkeit nicht den geringsten Mangel, sondern sie begründet einen ganz bestimmten, höchst charakteristischen logischen Vorzug. Es kann nicht die Rede davon sein, daß dadurch, daß keiner der im System enthaltenen Grundbegriffe sich für sich erklären und sinnvoll gebrauchen läßt, auch der Sinn verschwindet oder zweideutig wird, den sie im System zu erfüllen haben. Jedem ist vielmehr sein ganz bestimmter Platz im System zugewiesen - und kraft desselben unterscheidet er sich von jedem anderen, dem System zugehörigen Begriff."11 Ist dieses Prinzip erfaßt, ergeben sich die Variationen nicht nur als eine Quelle für die Differenzierungen der Interpretation, sondern auch als ein Beleg für die Genauigkeit eines Denkers, dem es jederzeit „um das Ganze geht". Für eine allzu analytische Genauigkeit, die sich an einzelnen Formulierungen festmacht, ohne dieses „Ganze" mitzudenken, besteht die Gefahr, daß Cassirers Philosophie in Teile zerfällt, die nicht nur nicht mehr zusammenhängen, sondern sich womöglich auch noch widersprechen. Auch dies kann für die Rezeption Cassirers eine Schwierigkeit bedeuten. Aber da Cassirer das „Ganze" seiner Grundgedanken nicht in eine Darstellung zwingt, die durch undurchdringliche Verschränkungen der „Ganzheit des Ganzen" Rechnung tragen will, sondern diese seine Grundgedanken ausspricht und für sie zum Teil außerordentlich prägnante Formulierungen findet, mag dies eine durchaus vorläufige Schwierigkeit bleiben. Es ist jedenfalls eines der Ziele dieses Buches, diese Schwierigkeit nicht zu einer Schwierigkeit für das Verständnis der Cassirerschen Philosophie selbst werden zu lassen. 10 11

Vgl. dazu vor allem den Abschnitt Der „Symbolprozeß"\n LS in WWS, S. 226.

Kapitel I.

14 I V o r w o r t Die f ü n f Kapitel dieses Buches sind fünf v e r s c h i e d e n e u n d zugleich aufeina n d e r b e z o g e n e V e r s u c h e , d a s „ G a n z e " d e r C a s s i r e r s c h e n P h i l o s o p h i e z u vers t e h e n u n d v e r s t ä n d l i c h z u m a c h e n . Sie b i e t e n d a h e r k e i n e G e s a m t d a r s t e l l u n g o d e r „ E i n f ü h r u n g " im ü b l i c h e n S i n n e . 1 2 D e n n m e i n V e r s u c h , d a s „ G a n z e " d e r C a s s i r e r s c h e n G r u n d g e d a n k e n in i h r e m Z u s a m m e n h a n g v e r s t ä n d l i c h z u m a c h e n u n d d a d u r c h in i h r e r g e i s t i g e n „ P h y s i o g n o m i e " k e n n t l i c h w e r d e n z u l a s s e n , ist e i n a n d e r e s U n t e r n e h m e n als d i e D a r s t e l l u n g aller T h e m e n u n d T h e s e n d e r P h i l o s o p h i e Cassirers. Er u n t e r s c h e i d e t s i c h a b e r a u c h v o n e i n e m B a n d m i t v e r s c h i e d e n e n S t u d i e n z u m W e r k Cassirers. 1 3 D e n n ich w o l l t e n i c h t v e r s c h i e d e n e M o m e n t e u n d A s p e k t e d e s C a s s i r e r s c h e n G e s a m t w e r k e s ausl e u c h t e n , s o n d e r n v o n v e r s c h i e d e n e n S e i t e n h e r d a s „ G a n z e " d i e s e s W e r k e s in s e i n e r E i n h e i t s i c h t b a r m a c h e n u n d d u r c h s i c h t i g w e r d e n lassen. D i e h i e r v o r g e l e g t e n T e x t e s i n d d i e K a p i t e l e i n e s B u c h e s , a u c h w e n n sie z u n ä c h s t n i c h t alle als s o l c h e g e d a c h t w a r e n u n d g e s c h r i e b e n w o r d e n s i n d . D a s Kapitel Der Werkbegriff in der Metaphysik der symbolischen Formen w u r d e in e i n e r e r s t e n F a s s u n g als B e i t r a g z u e i n e r C a s s i r e r - T a g u n g g e s c h r i e b e n u n d veröffentlicht.14 S c h o n diese Arbeit w a r ein Versuch, v o m Werkbegriff

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Seit dem Erscheinen der Monographie von John Michael Krois Cassirer. Symbolic Forms and History. New Haven/London [Yale University Press] 1987, die ich nach wie vor als das Standardwerk zu Cassirer ansehe, und seit der Publikation des ebenfalls umfassenden Sammelbandes von Hans-Jürg Braun/Helmut Holzhey/Ernst Wolfgang Orth (Hrsg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1988, sind in den letzten Jahren einige Arbeiten zu Cassirers Philosophie erschienen, die diese Funktionen einer Gesamtdarstellung oder Einführung erfüllen. Hervorzuheben sind hier Andreas Graeser: Ernst Cassirer. München [C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oskar Beck)] 1994, Heinz Paetzold: Ernst Cassirer - Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1995, und Heinz Paetzold: Ernst Cassirer zur Einführung. Hamburg [Junius Verlag] 1993. 13 Auch hier sind vornehmlich in den letzten fünf Jahren gewichtige Arbeiten, zumeist in der Form von Sammelbänden, erschienen: Thomas Knoppe: Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 1992; Internationale Zeitschrift für Philosophie. Hrsg.von Günter Figal und Enno Rudolph (1992) Heft 2. Schwerpunktthema Ernst Cassirer. Stuttgart [J.B. Metzler]; Heinz Paetzold: Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1994; Dialektik. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaften 1995/1, Symbolische Formen, mögliche Welten - Ernst Cassirer. Hrsg. von Enno Rudolph und Hans Jörg Sandkühler. Hamburg [Felix Meiner]; Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hrsg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer. (Cassirer-Forschungen Band 1) Hamburg [Felix Meiner] 1995; Martina P l ü m a c h e r / V o l k e r Schürmann (Hrsg.): Einheit des Geistes. Probleme ihrer Grundlegung in der Philosophie Ernst Cassirers. (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften. Studien und Quellen Band 33) Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien [Peter Lang] 1996; Ernst Wolfgang Orth: op.cit.; Dorothea Frede/Reinhold Schmücker (Hrsg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1997. 14 Internationale Zeitschrift für Philosophie. Hrsg.von Günter Figal und Enno Rudolph (1992) Heft 2, a. a. O., S. 226-249.

Vorwort I 15 her die Cassirersche Philosophie insgesamt zu charakterisieren und nicht zuletzt auch ihre ethische Dimension zu verdeutlichen. Ein zweiter Versuch zu einer Gesamtcharakteristik, dieses Mal vom Begriff des Handelns und Gestaltens her, wurde unter dem beibehaltenen Titel Cassirers Bild der Renaissance wiederum als ein Tagungsbeitrag geschrieben15 und ist nun in einer überarbeiteten Fassung in das Buch aufgenommen worden. Vor allem durch den Blick auf Stephen Toulmins Thesen über die Bedeutung der Renaissance für die Entstehung der Moderne16 bin ich dazu angeregt worden, in Cassirer einen Philosophen der europäischen Moderne - und zwar mit einer etwas anderen Akzentuierung als bei Toulmin - zu sehen. Damit ergab sich auch das Konzept für dieses Buch. Ich wollte die Gedanken und Probleme, in denen sich für mich der Kern der Cassirerschen Philosophie besonders deutlich herausschälen ließ - das Problem der Vielfalt der symbolischen Welten und der Einheit des Geistes,'1'7 den Gedanken der Symbolischen Prägnanz und die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Kultur -, in eingehenden Untersuchungen vorstellen und durch ihren wechselseitigen Bezug aufeinander zu Kapiteln eines Buches mit den beiden anderen Arbeiten zusammenfassen. Dabei bilden die ersten drei Kapitel so etwas wie einen ersten Teil des Buches. In ihnen wird jeweils ein Aspekt der Symbolisierung thematisiert, der für das ganze Werk Cassirers charakteristisch ist. Mit dem poietischen Aspekt soll die schöpferische Gestaltung als auszeichnende Leistung des menschlichen Geistes in den Blick gerückt werden. Der ästhetische Aspekt findet sich in dem „Werden zur Form" oder dem „Werden zur Gestalt", das sich in unserem Ausdrucksleben und unserer Anschauung ergibt. Mit dem ethischen Aspekt soll die moralische Dimension hervorgehoben werden, die sich vor allem darin zeigt, daß wir unserem Leben selbst eine Form geben. Formerzeugung, Formwerdung, Selbstformung - dies wären drei mögliche Titel, unter die man diese aufeinander bezogenen Aspekte bringen kann. Die beiden Kapitel, die man einem zweiten Teil des Buches zurechnen könnte, setzen die Cassirersche Philosophie der symbolischen Formen auf der einen Seite mit der phänomenologischen Analyse der menschlichen Existenz und auf der anderen Seite mit einer historischen Rekonstruktion der Ursprünge des modernen wissenschaftlichen Denkens in Beziehung. Sie sind daher auch auf einzelne Werke Cassi-

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Veröffentlicht in dem Sammelband Enno Rudolph/Bernd-Olaf Küppers (Hrsg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, a. a. O., S. 255-280. Stephen Toulmin: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1991. (Amerikanische Originalausgabe: Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity. New York [The Free Press] 1990.) Dieses Kapitel ist in einer leicht gekürzten Fassung zwar auch in dem Sammelband erschienen, der anläßlich des 50, Jahrestages des Todes von Ernst Cassirer von Dorothea Frede und Reinhold Schmücker (a. a. O., S. 1-57) herausgegeben worden ist, war von mir aber schon für dieses Buch konzipiert und geschrieben worden.

16 I Vorwort rers bezogen, in denen diese Beziehungen - zu den „Basisphänomenen" und zur Renaissance - dargestellt werden. In diesen beiden Kapiteln geht es nicht so sehr um den inneren systematischen Aufbau der Philosophie der symbolischen Formen, als vielmehr um deren Beziehungen „nach außen". Sie sind daher auch in einem anderen, nämlich essayistisch kommentierenden, Stil geschrieben als die systematisch analysierenden ersten drei Kapitel. Ich hoffe, daß mit dem vorgelegten Buch ein „Ganzes" entstanden ist. Dieses „Ganze" soll in meinen Augen ein weiterer Schritt auf dem Wege zu einer Auseinandersetzung mit dem Werk Ernst Cassirers sein, die nicht mehr nur mit einer grundsätzlichen Orientierung beschäftigt ist, sondern die sich auf die Herausarbeitung, Nutzung, Weiterführung auch von Einzelgedanken und Nuancen richtet, ohne dabei die Gesamtkonzeption aus den Blick zu verlieren. Dieser Weg ist vor allem mit den neueren Arbeiten zu Cassirer beschritten worden, so daß die Cassirer-Forschung gegenüber den ersten mehr als vier Jahrzehnten nach dem Tode Cassirers in eine neue Phase getreten ist und Cassirer als den Denker vorstellen kann, als der er rezipiert zu werden verdient: als einen der bedeutenden Philosophen unseres Jahrhunderts, an deren Denken wir auch mit unseren eigenen philosophischen Fragen und Entwürfen anschließen können. Am Ende sei noch eine drucktechnische Bemerkung angefügt: In einem Buch über einen anderen Autor finden sich naturgemäß besonders viele Zitate. Will man sie alle in der Form übernehmen, in der sie zunächst gedruckt worden sind, dann ergibt sich eine bunte Mischung verschiedener Arten von Schriftformen und Anführungszeichen, die das Druckbild nicht nur unruhig, sondern stellenweise auch unübersichtlich machen können. Die unterschiedlichen und uneinheitlichen Schreibweisen, die Cassirer benutzt, habe ich beibehalten. Die Sperrungen - mit denen gewöhnlich die Unterstreichungen in seinen Manuskripten mitgeteilt wurden - sind kursiv wiedergegeben, so daß es nur noch eine Art von Hervorhebungen gibt. Ein häufiger Wechsel findet sich in den Schriften Cassirers insbesondere zwischen den verschiedenen Anführungszeichen („", aber auch ""; »«, aber auch »»). Eine systematische Ordnung ist, wenn überhaupt, dann nur stellenweise und auf keinen Fall konsistent zu ermitteln. Auch wenn Cassirer selbst, wie auf der unten zitierten Postkarte, durch seinen eigenen Gebrauch der (halben) winkligen und „normalen" Anführungszeichen einen solchen Wechsel nahelegt, bringt er doch, soweit ich das sehe, nirgends eine sachliche Verdeutlichung und scheint ohnehin vielfach auf das Konto des Setzers zu gehen. Ich habe daher eine radikale Vereinfachung vorgenommen, indem ich überhaupt nur noch eine Art von Anführungszeichen verwendet habe, nämlich die Anführungsstriche: doppelt oder - falls es sich um eine Anführung in einem Zitat handelt - einfach. Bei den eigens durch ihre Einrückung gekennzeichneten Zitaten habe ich auf die Anführungszeichen am Anfang und Ende verzichtet. In keinem Fall kommen daher noch winklige Anführungszeichen vor. Ich kann mich mit dieser Verein-

Vorwort I 17 fachung auf Cassirer selbst berufen, der - auf einer Postkarte vom 29. 6. 31 an Fritz Saxl18 - schreibt: Lieber Saxl! Soeben erhalte ich einen Brief von Hoffmann, in dem er sich sehr begeistert und zustimmend über die ersten Fahnen des »engl. Platonismus< äussert. Er macht aber eine drucktechnische Bemerkung, die ich Ihnen doch Spaßes halber weitergeben will, da sie genau mit meinen eigenen Eindrücken übereinstimmt. „Die winkligen Anführungszeichen, welche der Setzer verwendet hat, finde ich ausgesucht scheusslich u. ich würde an Ihrer Stelle darauf bestehen, daß sie geändert werden. Jedes einzelne dieser spitzen Zeichen versetzt mir geradezu einen Stich ins Auge." Wie gesagt - er hat nicht Unrecht. Aber lässt sich da noch etwas machen? Evtl. hätte ich telegraphisch den Weitersatz zu inhibieren, damit wenigstens für die Folge diese Zeichen vermieden werden Herzlichst Ihr E.C Im Unterschied zu Cassirer habe ich keinen Anlaß, den Weitersatz dieses Buches zu „inhibieren". Denn da der Akademie Verlag die Gestaltung von Anfang an mit mir abgestimmt hat, hoffe ich, daß im Text keine ästhetischen Unebenheiten mehr verbleiben, die die Aufmerksamkeit des Lesers stören oder gar die Bereitschaft weiterzulesen beeinträchtigen könnten. Berlin, im April 1997.

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John Michael Krois hat mir diese Postkarte zur Kenntnis gebracht.

Danksagung

Auch wenn das Buch - trotz seiner durch die multimediale Informationsgesellschaft und ihre akademischen Propheten arg bedrängten Position - immer noch ein Refugium für Autoren ist, die es selbst schreiben und verantworten müssen, gibt es bei seiner Entstehung doch die Hilfe von anderen. Für eine geistig außerordentlich anregende und offene Atmosphäre, in der die Neugier auf Argumente den anderen Gedanken der anderen nicht nur eine Chance gab, sondern sie auch weiterdachte, habe ich meinen Kollegen, Mitarbeitern und Studenten am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin zu danken. In den vielen Gesprächen und Diskussionen mit meinen Mitarbeitern habe ich mir zwar eine gewisse Unbelehrbarkeit bewahren können, brauchte aber auch auf die Lust am Lernen nicht zu verzichten. Mein zumindest zeitweiliger Hang zur großzügigen Formulierung war wiederholt die Zielscheibe fürsorglicher Kritik und hat mir die Gelegenheit geboten, einiges zu überdenken und dann doch anders zu sagen. Für seine nimmermüde Bereitschaft, sich auch mit meinen Detailfragen zu Cassirer auseinanderzusetzen, danke ich John Michael Krois. Willfried Geßner, Rüdiger Kramme, Rolf Jürgen Lachmann, Norbert Meuter, Mirjana Vrhunc und wiederum John Michael Krois habe ich dafür zu danken, daß sie die Manuskripte für die einzelnen Kapitel nicht nur gelesen, sondern auch mit Nachfragen und Verbesserungsvorschlägen kommentiert haben. Klaus Christian Köhnke wurde für mich durch sein unerbittliches Bestehen auf Textgenauigkeit in Sachen Cassirer zu einer Art Interpretationsgewissen, von dem ich nur hoffen kann, daß man es dem Buch anmerkt. Miriam Roczen habe ich dafür zu danken, daß sie die Mühseligkeiten der Texterfassung und der Erstellung von Manuskripten mit großem Engagement und einer wirklich entlastenden Verläßlichkeit auf sich genommen hat. Das alles war mir eine große Hilfe. Schließlich habe ich auch Thomas Egel vom Akademie Verlag einen Dank abzustatten. Er hat die Entstehung dieses Buches mit Anteilnahme, Geduld und Ermutigung begleitet. Für mich war dies eine zusätzliche Motivation zu einer Arbeit, bei der ich nicht immer sicher war, wann ich sie zuende bringen würde.

I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes. Der poietische Aspekt der Symbolisierung

Cassirers philosophische Konzeption Cassirers Philosophie in ihrer Zeit Die Zeit, in der Ernst Cassirer seine philosophische Konzeption entwickelt das ist seit dem Erscheinen seines Werkes über Substanzbegriff und Funktionsbegriff \m]ahfe 1910' -, ist eine Zeit der philosophischen Neuorientierungen. In Frankreich erschien 1889 Henri Bergsons Essai sur les données immédiates de la conscience2, dann aber - 1903 - die womöglich noch einflußreichere Introduction à la métaphysique.3 In den USA veröffentlicht William James 1904 seinen berühmten Aufsatz Does Consciousness' Exist?.'11907 erscheinen seine Pragmatismus-Vorträge.5 1

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Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1980 (5., unveränderte Auflage, reprografischer Nachdruck der 1. Auflage Berlin 1910). Wiederveröffentlicht in: Henri Bergson: Œuvres. Textes annotés par André Robinet, Introduction par Henri Gouhier. Édition du Centenaire. Paris [Presses Universitaires de France) 1959, 4Ì9S4, S. 1-157. (Deutsche Ausgabe: Henri Bergson: Zeit und Freiheit. Übersetzt von Paul Fohr. Mit einem Nachwort von Konstatinos P.Romanòs. Frankfurt am Main [Athenäum] 1989.) Der Aufsatz Introduction à la métaphysique erschien zuerst in der Revue de métaphysique et de morale 1903 und wurde dann in den Sammelband La pensée et le mouvant. Essais et conférences. Paris [Librairie Félix Alean) 1934 aufgenommen. Jetzt ist er zugänglich in Henri Bergson: Œuvres, a. a. O., S. 1392-1432. (Deutsche Ausgabe in: Henri Bergson: Denken und schöpferisches Werden. Übersetzt von Dr.Leonore Kottje, mit einer Einführung herausgegeben von Dr.Friedrich Kottje. Frankfurt am Main [Syndikat Autoren- und Verlagsgesellschaft] 1985, S. 180-225.) In: Journal of Philosophy, Psychology, and Scientific Methods I: 673-687, dann aufgenommen in: Essays in Radical Empiricism. New York [Longmans, Green] 1912. Jetzt in einer kritischen Ausgabe zugänglich: The Works of William James: Essays in Radical Empiricism. Cambridge, Massachusetts, and London, England [Harvard University Press] 1976, dort S. 3-19. William James: Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking. New York [Longmans, Green & Co] 1907.

22 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes In der deutschen Philosophie herrschen auf der einen Seite zwar dort, wo nicht überhaupt die Scholastik oder der Historismus die jeweilige Schulphilosophie ausmachen, die verschiedenen Richtungen des Neukantianismus. Auf der anderen Seite ist es aber auch hier die Zeit, in der die neuen Orientierungen für die Philosophie unseres Jahrhundert entwickelt werden. Edmund Husserl ist 1913 dabei, seine Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie zu entwerfen.6 Die „großen" Werke der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts erscheinen dann ab den 20er Jahren: 1921, allerdings nur von wenigen Kennern bemerkt, Wittgensteins Tractatus,7 zwischen 1923 und 1929 Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, 1927 Heideggers Sein und Zeit? dann 1936 - nur in Teilen und zunächst weitgehend unbeachtet - und 1954 9 Husserls Krisis-Schriftm und 1958 endlich die 1949 abgeschlossenen Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins.11 Natürlich kann man noch weitere „große" deutschsprachige Werke der Philosophie in unserem Jahrhundert ausmachen. Aber ich denke, daß die hier genannten auf jeden Fall dazugehören und daß sie einen entscheidenden Einfluß auf das Denken in unserem Jahrhundert ausgeübt haben - und zwar nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern überall dort, wo am philosophischen Gespräch teilgenommen wurde. Was mit diesen Werken der Schulphilosophie sowohl des Neukantianismus als auch des Historismus entgegengesetzt wurde, läßt sich grob charakterisieren - als Versuch, die selbstverständlich gewordenen Begriffssysteme sowohl der rationalistischen „Vernunft-" und „System-Philosophien" als auch der empiristischen Erkenntnistheorien auf eine größere Erfahrungsnähe hin - in der dann im übrigen auch Gefühle, Stimmungen und Strebungen eine Haupt6

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Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Tübingen [Max Niemeyer] 4 1980 (Unveränderter Nachdruck der 2. Auflage 1922. Die 1. Auflage erschien 1913 im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Band 1/1.) Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. In: Annalen der Naturphilosophie 1921. Eine zweisprachige Ausgabe erschien 1922 in London [Routledge & Kegan Paul Ltd]. Martin Heidegger: Sein und Zeit. In: Martin Heidegger: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1970. Band 2. Frankfurt am Main [Vittorio Klostermann] 1977 (Erstveröffentlichung als Sein und Zeit. Erste Hälfte in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Band VIII, 1927). Das gesamte Manuskript der Krisis-Schrift erschien erstmalig als Band VI der Husserliana. Den Haag [Martinus Nijhoff] 1954.1949 erschien eine französische Übersetzung der Publikation von 1936, Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hamburg [Felix Meiner Verlag] 2 1982. Zuerst veröffentlicht 1936 in der Zeitschrift „Philosophia" (Belgrad). Ludwig Wittgenstein: Philosophical Investigations. Philosophische Untersuchungen. Oxford [Basii Blackwell] 1958. Deutsche Erstausgabe: Ludwig Wittgenstein: Schriften. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main [Suhrkamp] I960.

Cassirers philosophische Konzeption I 23 rolle übernehmen sollten - zu überschreiten (Husserl, Cassirer und Heidegger); - als Versuch, die begrifflichen und logischen Zusammenhänge, wie sie in diesen rationalistischen und empiristischen Traditionen behauptet und behandelt wurden, im Hinblick auf ihre sprachliche und allgemeine symbolische Realisierung zu relativieren und dadurch die historisch-kulturelle Realität des Geistes zu entdecken (der frühe Wittgenstein und Cassirer); - als Versuch, den Blick der an der wissenschaftlichen Begriffs- und Theoriebildung orientierten (rationalistischen oder empiristischen) Philosophie wieder auch auf die alltäglichen Lebenssituationen des Menschen und die Ganzheit seiner alltäglichen Existenz zu lenken (Husserl, Cassirer, Heidegger und der späte Wittgenstein). Es ist kein Zufall - und, wie ich denke, auch kein Kunstgriff der Darstellung -, daß Cassirers Name der einzige ist, der in allen drei Perspektiven vorkommt. Es ist ein Charakteristikum seines Denkens, daß Cassirer sich mit allen Perspektiven der menschlichen Existenz und ihrer verschiedenen Ausdrucksformen auseinandersetzt: um das, was der Mensch „ist", in seiner Ganzheit erfassen zu können. Seine Philosophie der symbolischen Formen läßt sich durch folgende Kernthesen geradezu definieren: 1. Die wissenschaftliche Erkenntnis liefert nicht das Muster für unsere Erkenntnis überhaupt, sondern dieses unser Erkennen ist als eine Mannigfaltigkeit unterschiedlichen Welterfassens zu betrachten: „Die Philosophie der symbolischen Formen richtet ihren Blick nicht ausschließlich und nicht in erster Linie auf das rein wissenschaftliche, exakte Weltbegreifen, sondern auf alle Richtungen des Weltverstehens. Sie sucht dieses letztere in seiner Vielgestaltigkeit, in der Gesamtheit und in der inneren Unterschiedenheit seiner Äußerungen zu erfassen. "K 2. Die unterschiedlichen Weisen des Welterfassens sind mit unterschiedlichen symbolischen Formen verbunden, die ihre je eigenen, nicht aufeinander reduzierbaren Aufbauprinzipien besitzen: „Keine dieser Gestaltungen [sc. der symbolischen Formen] geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des, Wirklichen'. "1} 12 13

PSF III, s. 16. PSF I, S. 9- Vgl. dazu auch die Formulierung in der Studie über die Begriffsform des mythischen Denkens von 1922: „Die Sprache und die Religion, die Kunst u n d der Mythos besitzen je eine selbständige, von anderen geistigen Formen charakteristisch unterschiedene Struktur - sie stellen jede eine eigentümliche .Modalität' der geistigen Auffassung und der geistigen Formung dar." Jede dieser „Modalitäten" erweist sich „als ein eigentümliches Organ des Weltverständnisses und gleichsam der ideellen Weltschöpfung, das neben der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis und ihr gegenüber seine besondere Aufgabe und sein besonderes Recht hat." (BMD in WWS, S. 7.)

24 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes 3. In diesen unterschiedlichen Weisen des Welterfassens ist insbesondere auch die emotionale Dimension der menschlichen Existenz hervorzuheben und zu betrachten: „[Ajiles Denken wie alles sinnliche Anschauen und Wahrnehmen ruht auf einem ursprünglichen Gefühlsgrund. "l4 Pluralität nicht nur des Welterfassens, sondern auch unserer Ausdrucks- und Existenzformen - dies scheint eine Grundcharakteristik der Philosophie Cassirers zu sein, die ihn zu einem modernen Denker macht, in dessen Werk viele der geistigen Strömungen unserer Gegenwart aufgenommen und zusammengeführt werden. Tatsächlich trifft diese Charakterisierung aber nur eine Seite des Cassirerschen Denkens. Denn ihm ist es nicht nur um den Aufweis der Pluralität zu tun, die im menschlichen Denken und Handeln, Fühlen und Streben herrscht, sondern auch um die Einheit der menschlichen Weltverhältnisse und Existenzformen. Durch diese gleichzeitige Anerkennung der Vielfalt und Einheit im geistigen Leben des Menschen gerät Cassirers Denken in eine Spannung, die ihn selbst immer wieder hin- und hergetrieben und dadurch auch eine gewisse Ambivalenz in sein Denken hineingetragen hat. Und es ist dies nicht nur eine Spannung zwischen irgend zwei Motiven seines Denkens, sondern eine Spannung zwischen der philosophischen Tradition, in der Cassirer aufgewachsen ist, und der modernen Welt, die in so vielen ihrer Entwicklungen noch unbegriffen ist. Ich werde im folgenden versuchen, diese Spannung, die zwischen den Motiven der Vielfalt der symbolischen Welten und der Einheit des Geistes besteht, als einen Grundzug seines Denkens hervorzuheben und in ihrer Bedeutung für den Aufbau und die Wirkung seiner philosophischen Konzeption zu verdeutlichen.

Schöpferische Gestaltung Cassirers geistige Heimat ist eine doppelte. Einmal ist es die Tradition der Kantischen Philosophie, vor allem in der Form des Marburger Neukantianismus von Hermann Cohen und Paul Natorp, zum anderen ist es das Werk Goethes, das ihn nicht nur geistig fasziniert, sondern ihn auch in der gewichtigen und durchaus konkret-sinnlichen Gestalt der Weimarer Ausgabe15 durch sein Leben begleitet - selbst in den unruhigen Zeiten der Emigration. Während die Kantische Tradition für die Einheit der Vernunft steht, und zwar für eine überall und immer und also für jedermann gleiche Vernunft, betont Goethe die Vielfalt vernünftiger und insbesondere schöpferischer Verhältnisse. Cassirer vermittelt diese beiden geistigen Grundhaltungen dadurch, daß er als „gemeinsames Drittes" den schöpferischen, gestaltenden Charakter der

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PSF II, S. 118. Interessant ist hier auch, daß Cassirer, der aus Goethes Werken häufig zitiert und sie ausführlich kommentiert, keine Markierungen oder Bemerkungen in den Bänden selbst angebracht hat, sondern nur durch eingelegte Zettel bestimmte Stellen markierte.

Cassirers philosophische Konzeption I 25 Vernunft zu deren Definition erhebt. In diesem Begriff des Schöpferischen und zwar im Sinne der Gestaltung, der Erzeugung von Formen, die unser geistiges Leben überhaupt erst sich entfalten lassen - glaubt er die Spontaneität der Kantischen Vernunft und die Kreativität des Goetheschen Geistes zugleich fassen zu können, trotz der bleibenden Unterschiede, die auch Cassirer deutlich sind. Die Schwierigkeit einer solchen Vermittlung - die auf den ersten Blick als eine harmonisierende Verharmlosung erscheinen könnte - macht zugleich deren Fruchtbarkeit aus. Schwierig ist diese Vermittlung dadurch, daß dort, wo bei Goethe die sinnlich-konkreten Formen von Taten und Werken das Schöpfertum des Geistes verkörpern und bezeugen, bei Kant die Spontaneität der Vernunft alleine in der logischen Ordnung der Kategorien und Anschauungsformen, als rein geistige Tätigkeit einer „Synthesis" bzw. Verknüpfung, gedacht wird: als „transzendentale Bedingung der Möglichkeit" von Gegenstandserkenntnis überhaupt und damit ohne jede material-sinnliche Dimension. Cassirer versucht denn auch, gerade die Verbindung von Geistigem und Sinnlichem, von „Sinn" und „Sinnlichkeit", zum Charakteristikum des Schöpferischen zu erheben. Daß er damit den Kantischen Vernunftbegriff nicht nur erweitert, sondern grundlegend verändert und - wie ich meine - geradezu umkehrt, versucht Cassirer in seiner häufigen und meist zustimmenden Berufung auf Kant zumindest in den Hintergrund zu rücken. Für ihn reicht bereits der Bezug der Kategorien auf die Anschauung aus, um ihn auch bei Kant eine Verbindung von „Sinn" und „Sinnlichkeit" sehen zu lassen. 16 In einer durchaus ähnlichen Weise wie für das Verhältnis von Kant und Goethe leistet der Begriff der schöpferischen Gestaltung eine Vermittlung auch für die beiden Quellen, aus denen sich die Moderne speist: für die Renaissance und die Aufklärung. Zu beiden Epochen hat Cassirer geforscht und bedeutende Untersuchungen publiziert. 17 Und in beiden Epochen interessiert ihn vor allem wiederum der schöpferische Charakter der Vernunft. In der Renaissance sieht er eine Verbindung von Kunst und Wissenschaft, von gestaltendem Handeln und mathematischer Darstellung, die in der Produktion von Werken - in der „Poiesis" - die Vernunft verkörpert. 18 In der Aufklä16

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Der Kant, auf den Cassirer sich beruft, ist letztlich ein Kant, der mit Goethes Augen zu sehen versucht wird. Ein kleines Indiz dafür findet sich sogar in Cassirers Kant-Buch: Das erste Wort der Einleitung ist nicht „Kant", sondern „Goethe": „Goethe hat einmal im Hinblick auf Kant das Wort gesprochen, daß alle Philosophie geliebt und gelebt werden müsse, wenn sie für das Leben Bedeutsamkeit gewinnen wolle." (KLL, S. 1.) Hier ist sogar die visuelle Konstellation genannt, in der Kant für Cassirer in den Blick gerät. Zur Renaissance vgl. den Abschnitt Die Bedeutung der Renaissance im Werk Cassirers in Kapitel V. Zur Aufklärung s. vor allem: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1974 (Erstausgabe Berlin [Bruno Cassirer] 1907) und PA. Vgl. dazu Kapitel V.

26 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes rung sieht er als „die Grundrichtung und das wesentliche Bestreben" keineswegs, „das Leben lediglich zu begleiten und es im Spiegel der Reflexion aufzufangen", sondern er charakterisiert sie durch den Glauben „an eine ursprüngliche Spontaneität des Gedankens", dem sie „keine bloß nachträgliche und nachbildende Leistung, sondern die Kraft und die Aufgabe der Lebensgestaltung" zuweist.19 Auch hier ließe sich wieder einwenden, daß die - auf Kant hinführende und in ihm kulminierende - Aufklärung mit ihrem Streben nach der Einheit einer umfassenden Begrifflichkeit für alle Formen des menschlichen Erkennens den Gedanken des konkreten schöpferischen Handelns, der statt einer solchen begrifflichen Synthese ein historisches Werk zum Ziel hat, umkehrt. Wo Cassirer eine ungebrochene Entwicklungslinie der Vernunft, eine „Gesamtbewegung" 20 zu ihrer Selbstbefreiung, nämlich aus Fremdbestimmung, sieht, könnten wir in den tatsächlichen Verhältnissen eine Verstellung der ursprünglichen Tendenzen der Renaissance durch die Aufklärung ausmachen - und zwar eine Verstellung, die - wie insbesondere Stephen Toulmin gezeigt hat 21 - grundlegende Folgen auch für die Moderne gehabt hat. Statt einer solchen Diskussion der historischen Sicht Cassirers auf die Renaissance und die Aufklärung soll hier aber das systematische Konzept seiner Philosophie erörtert werden. Die Berufung auf den schöpferisch gestaltenden Charakter der Vernunft soll ja nicht nur die historischen Wurzeln des Cassirerschen Denkens und der modernen Kultursituation verstehen lehren, sondern auch die Spannung zwischen der einheitsphilosophischen Tradition und dem kulturellen Pluralismus der Moderne wenn schon nicht überwinden, so doch zumindest begreifbar machen. Das Verhältnis von Vielheit und Einheit, von symbolischen Formwelten und formendem Geist werde ich von zwei Seiten her in den Blick zu bringen versuchen. Einmal gehe ich von einer Betrachtung des gestaltenden Tuns aus, so wie es Cassirer zwischen dem Ausdrucksverhalten des Menschen und der Schaffung eines Werkes in seinen verschiedenen Aspekten sich entwickeln sieht. Der andere Weg führt über eine Betrachtung des „Symbolprozesses", d.i. des Prozesses, der die Dynamik der Symbolisierung, zunächst in unserem Bewußtsein - unseren Gefühlen, Wahrnehmungen und Vorstellungen - und dann in den eigens geschaffenen Zeichen beschreibt. Der erste Weg hat viele Strecken mit pragmatischen Konzeptionen in der Philosophie gemein. Der zweite Weg charakterisiert die besondere symboltheoretische Konzeption Ernst Cassirers.

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PA, S. VI. Vgl. zu dieser Perspektive Stephen Toulmin: Op.cit.

Das g e s t a l t e n d e T u n I 2 7

Das gestaltende Tun Die Gründung unserer geistig-kulturellen Existenz auf das „Tun" D e r Blick auf das H a n d e l n bzw. „Tun" d e s M e n s c h e n öffnet für Cassirer d i e e n t s c h e i d e n d e Perspektive auf d i e Vernunftentwicklung. So schreibt er: Nicht das b l o ß e B e t r a c h t e n , s o n d e r n das T u n bildet v i e l m e h r d e n Mittelpunkt, v o n d e m für d e n M e n s c h e n d i e geistige O r g a n i s a t i o n d e r Wirklichkeit ihren A u s g a n g n i m m t . Hier zuerst b e g i n n e n sich d i e Kreise d e s Objektiven u n d Subjektiven, b e g i n n t sich d i e Welt d e s Ich v o n d e r d e r D i n g e zu s c h e i d e n . 2 2 D i e s e F u n d i e r u n g d e s „Seins" im „Tun" gilt für die g e s a m t e geistig-kulturelle 2 3 Wirklichkeit: für d i e G r ü n d u n g d e r s y m b o l i s c h e n F o r m e n 2 4 e b e n s o w i e für d e n Aufbau d e s P e r s ö n l i c h k e i t s b e w u ß t s e i n s . 2 5 Erst in s e i n e n geistigen Taten reift d e r M e n s c h z u m B e w u ß t s e i n s e i n e s Ich. 2 6 Im T u n d e s M e n s c h e n gliedert sich s e i n e Welt zu e i n e m K o s m o s , in d e m e r sich o r i e n t i e r e n k a n n . 2 7 U n s e r g e s a m t e s geistig-kulturelles „Sein" - s o k a n n m a n d i e s e T h e s e n z u s a m m e n f a s s e n - ist in u n s e r e m H a n d e l n u n d Wirken, ist praktisch fundiert. Mit d e r B e t o n u n g e i n e r s o l c h e n praktischen F u n d i e r u n g u n s e r e s geistigkulturellen „Seins" v e r b i n d e t Cassirer drei A s p e k t e s e i n e r

philosophischen

Konzeption:

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PSF II, S. 187. „Denn der Inhalt des Kulturbegriffs läßt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens nicht loslösen: das .Sein' ist hier nirgends anders als im ,Tun' erfaßbar." (PSF I, S. 11) „Das Tun ist das Erste, woran die mythische Erklärung, der ιερός λόγος sich erst nachträglich anschließt." (PSF II, S. 263) „Denn der wichtigste Faktor im Aufbau des Persönlichkeitsbewußtseins ist und bleibt der Faktor des Wirkens [...] Alles echte Wirken ist vielmehr so beschaffen, daß es sich im doppelten Sinne als bildend erweist: das Ich drückt nicht nur seine eigene, ihm von Anfang an gegebene Form den Gegenständen auf, sondern es findet, es gewinnt diese Form erst in der Gesamtheit der Wirkungen, die es auf die Gegenstände übt und die es von ihnen zurückempfängt. Die Grenzen der inneren Welt können demgemäß nur dadurch bestimmt, ihre ideelle Gestaltung kann nur dadurch sichtbar werden, daß der Umkreis des Seins im Tun umschritten wird. Je größer hierbei der Kreis wird, den das Selbst mit seiner Tätigkeit erfüllt, um so deutlicher tritt die Beschaffenheit der objektiven Wirklichkeit, wie die Bedeutung und die Funktion des Ich heraus." (PSF II, S. 239) „Denn der Mensch reift zum Bewußtsein seines Ich erst in seinen geistigen Taten heran; er besitzt sein Selbst erst, indem er, statt in der fließend immer gleichen Reihe der Erlebnisse zu verharren, diese Reihe abteilt und sie gestaltet." (PSF III, S. 106) „In dem Maße, als die verschiedenen Kreise seines [sc. des Menschen] Tuns sich voneinander abscheiden und in ihrem besonderen Sinn und Wert erfaßt werden, weicht die anfängliche Unbestimmtheit der mythischen Empfindung zurück, und die Anschauung eines in sich gegliederten Kosmos, die Anschauung einer Götterwelt und eines Götterstaates, beginnt zu erstehen." (PSF III, S. 88)

I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes -

Erst im Tun zeigt sich das „Sein": „Wir können niemals das unmittelbare Sein und Leben des Bewußtseins rein als solches bloßlegen" 2 8 - wie unserem Denken überhaupt das „Paradies der Unmittelbarkeit" verschlossen ist. 29 Denn alle „Akte des Ausdrückens, des Darstellens und des Bedeutens [...] [sind] sich selber nicht unmittelbar gegenwärtig". Sie können „sich nirgends anders als im Ganzen ihrer Leistung sichtbar werden [...] Sie sind nur, indem sie sich betätigen, und indem sie in ihrer Tat von sich selbst Kunde geben." 3 0 In unserem Tun und Wirken werden wir zu denen, die wir sind. Dieses unser Wirken ist uns als Schaffen von Werken - also sozusagen in seiner „Außenseite" - zugänglich, nicht aber in seiner „Innenseite" als Entwicklung eines Gestaltungswillens oder Formimpulses in unserem Bewußtsein. Die Fundierung des „Seins" im „Tun" schließt daher eine anthropologische Grundaussage mit ein, nach der wir unsere geistige Identität erst in unserem wirkenden Handeln erreichen. Durch Cassirers Sicht des wirkenden Handelns als eines schöpferischen Gestaltens gewinnt diese Aussage einen weiteren Sinn, der noch zu besprechen ist.

- Im Tun gründen unsere geistigen Unterscheidungen und wird deren gemeinschaftlicher Gebrauch gesichert: Unsere Orientierung in der Welt verdankt sich den Unterscheidungen, die wir treffen, den - im weitesten Sinne - gedanklichen Ordnungen, in denen wir uns unsere Welt und uns selbst faßlich zu machen versuchen. Solche Unterscheidungen und Ordnungen entwickeln sich auf vielfache Weise. Cassirer ist dieser Weise vor allem für die Ordnungen des Raumes, der Zeit, der Zahlen und des Verhältnisses von Selbst und Welt bzw. „Ich und Wirklichkeit" immer wieder nachgegangen. 31 Dabei hebt er hervor, daß die handelnd erschlossenen Weltverhältnisse unserer leiblichen Existenz Unterschiede für uns machen, an die wir mit unseren Unterscheidungen anschließen können. Hinzu kommt, daß wir in diesen leiblich „konkreten" Weltverhältnissen uns miteinander austauschen, uns aufeinander beziehen und so füreinander gegenwärtig sind. Damit entsteht eine „Öffentlichkeit" des interindividuellen Handelns, mit der ein „Gemeinschaftsgefühl" 32 begründet und die Formen des Miteinanderum-

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PSF III, S. 63. PSF III, S. 48. S. auch PSF III, S. 63: „Wir können niemals das unmittelbare Sein und Leben des Bewußtseins rein als solches bloßlegen". PSF III, S. 118. Vgl. dazu die entsprechenden Kapitel und Abschnitte in der Philosophie der symbolischen Formen, wo er sozusagen auf jeder .Ebene" der symbolischen Formen die Entwicklung der Raum- und Zeitanschauung, des Zahl- und Ichbegriffs untersucht. PSF I, 149-212 (Raum, Zeit, Zahl), 212-248 (Ichbegriff), PSF II, S. 104-182 (Raum, Zeit, Zahl), 185-261 (Selbstgefühl und Ichbegriff), PSF III, S. 165-221 (Raum, Zeit), 283-305 (Raum, Zeit, Zahl). Immer wieder betont Cassirer, daß das „Gemeinschaftsgefühl" dem „Selbstgefühl" vorausgeht und dieses überhaupt erst ermöglicht: „In den ersten Stadien [...] finden wir das Selbstgefühl überall noch unmittelbar verschmolzen mit einem bestimmten mythisch-reli-

Das gestaltende Tun I 29 gehens und der gegenseitigen Verständigung gesichert werden. Im Tun als leiblichen Handeln wird daher der Gebrauch unserer geistigen Unterscheidungen in einer gemeinschaftlichen Versicherung befestigt. Sprachliche wie überhaupt symbolische - Bedeutung ist in den Unterschieden, die uns unser Handeln erschließt, verankert, und die sprachlichen Unterscheidungen - wie überhaupt die symbolischen Differenzierungen - sind durch ihre Einbettung in unser (Miteinander-) Handeln in ihrem gemeinschaftlichen Gebrauch gesichert. - Erst im Tun wird die Entwicklung der Wissenschaften begründet und bewährt: Vor allem in seinen Renaissance-Studien geht Cassirer der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaften nach. Er konzentriert sich dabei auf eine Charakterisierung des „Geistes", in dem die Befreiung aus der Welt der scholastischen Buchgelehrsamkeit gelang und die ersten Schritte zur Entwicklung dieser Wissenschaften unternommen werden konnten. Das Bild, das er dabei zeichnet, ist komplex: Es umfaßt die begrifflichen Neuerungen eines Cusanus, die ethischen Ansprüche eines Pico della Mirandola, die mathematischen, technischen und künstlerischen Konstruktionen eines Leonardo da Vinci und nicht zuletzt das neue Selbstbewußtsein des „Laien", des „idiota", der nicht mehr die Gelehrtensprache des Latein, sondern die Volkssprache benutzt - und die Mathematik. 33 Entscheidend für Cassirer ist dabei, daß es nicht das methodische Element war - die durchkonstruierte begriffliche Ordnung und das (darauf bezogene) vollständig geregelte Herstellungs- oder Überprüfungsverfahren -, das dem neuen Geiste zum Durchbruch verhalf und ihn gegenüber den bleibenden Anfechtungen, den dogmatischen und alchemistischen Versuchungen seiner Vergangenheit, stärkte. Es war vielmehr das unbekümmerte Beiseitelassen der Gelehrtensprache wie der Gelehrsamkeit, die Nichtunterwerfung unter die kanonischen Regeln korrekter Vorgehensweisen und das Entdecken und Herstellen sozusagen auf eigene Faust - allerdings nicht willkürlich, sondern geplant und berechnet -, das den neuen Geist sich entwickeln ließ. Nicht die grammatikbezogene Logik, sondern die Mathematik, nicht das gelehrte Räsonnement und das im voraus geregelte Verfahren, sondern das technische Ausprobieren verhalfen in Cassirers Augen dem neuen Geist der Wissenschaften zum endgültigen Durchbruch. Das Tun, das sich selbst seine Möglichkeiten erschließt und verwirklicht, steht für Cassirer am Anfang der wissenschaftlichen Entwicklung im neuzeitli-

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giösen Gemeinschaftsgefühl. Das Ich fühlt und weiß sich nur, sofern es sich als Glied einer Gemeinschaft faßt, sofern es sich mit anderen zur Einheit einer Sippe, eines Stammes, eines sozialen Verbandes zusammengeschlossen sieht." (PSF II, S. 209) Dabei muß sich dieses „Gemeinschaftsgefühl" seinerseits „aus dem Chaos des ersten unbestimmten Lebensgefühls" (PSF II, S. 212) entwickeln. (Vgl. auch PSF II, S. 222, 232f.) Ausführlicher ist dies dargestellt in Kapitel V.

30 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes chen Sinne. Dieses Tun, das Cassirer übrigens auch hier als schöpferisches Gestalten und daher eher als künstlerisch denn als technisch versteht, hat seine eigene „Vernunft", weil es nämlich sich selbst seine Orientierung gibt. Und in diesem Sinne liefert es den Gründungsimpuls und die Bewährungsinstanz für die Entwicklung der Wissenschaften.

Der Mensch als „Ausdruckswesen" Diese Gründung unserer geistig-kulturellen Existenz auf das „Tun" gewinnt ihren prägnanten Sinn erst dann, wenn man die drei Perspektiven, in denen sich für Cassirer das Verhältnis von „Tun" und „Sein" darstellt, ergänzt durch die Charakterisierung des Verständnisses, das Cassirer dabei vom „Tun" unterstellt und damit vom „Sein" aufbaut. Das „Tun", dem Cassirer die Gründungsfunktion für unser „Sein" zuweist, ist nicht irgendein Tun. In all seinen Überlegungen ist es für Cassirer selbstverständlich, daß dieses „Tun" als Gestalten zu verstehen ist, als die Schaffung von Ausdrucksformen im allgemeinen, von Bildern und Begriffen im besonderen. Dieses „Tun" wird daher auch immer wieder - und zwar ohne weitere Erläuterung, also aufgrund einer unterstellten Selbstverständlichkeit - entweder als ein „Bilden",34 ein „Formen", bzw. als eine „Formung",35 als ein „Gestalten"36 oder aber als ein „Wirken"37 - ausgerichtet auf ein Werk, das mit dem Wirken hervorgebracht werden soll - bezeichnet. Die Selbstverständlichkeit dieser Interpretation wurzelt darin, daß Cassirer unsere geistige Existenz insgesamt durch die Fähigkeit zur schöpferischen Gestaltung definiert. Letztlich geht es bei allen geistigen Leistungen und also auch bei allen symbolischen Formen darum, „das Chaos der sinnlichen Eindrücke" in eine „feste Gestalt" zu bringen 38 , „aus dem Chaos der Eindrücke ein[en] Kosmos, ein charakteristisches und typisches ,Weltbild"' zu formen. 39 Dem „fließenden Eindruck [müssen wir] [...] bildend gegenübertreten", damit er für uns „Form und Dauer" gewinnt. Es vollzieht sich dann eine „Wandlung zur Gestalt".40 Und damit ist das „Zentrum der symbolischen Formen" gefunden, nämlich in der „gemeinsamen Aufgabe", durch die alle symbolischen

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Vgl. z. B. PSF I, S. 9, 20, 26, 43, 51; PSF II, S. 20, 239, 281; PSF III, S. 8. Vgl. 2. B. PSF I, S. 29, 236, 251, 252; PSF II, S. IX, 117, 234, 258; PSF III, S. 8, 17,18, 19,102, 155,164. Von „Gestalten", „Gestaltung", „Gestaltungsweise" usw. redet Cassirer so häufig, daß sich ein besonderer Nachweis von Textstellen erübrigt. Vgl.z. B. PSF I, S. 261; PSF II, S. 64,70,187,188 (!), 221, 222, 235, 239-241 (!), 2 4 6 ( 0 , 254, 256,311. P S F I . S . 43. PSF II, S. 39. Ähnliche Formulierungen zum „Chaos", das geformt werden muß, finden sich auch in PSF II, S. IX, 212; PSF III, S. 71. PSF I, S. 43.

Das gestaltende Tun I 31 Formen, durch die ,,[d]ie verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur [...] zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs" werden: zu mannigfachen Ansätzen, die alle auf das eine Ziel bezogen sind, die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden. 41 In dieser Umbildung unserer Eindrücke „zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks" sieht Cassirer die entscheidende, uns zu geistigen Wesen erhebende Leistung, die unser „Tun" in seiner höchsten Möglichkeit auszeichnet. Wir sind - um es pointiert zu formulieren - „Ausdruckswesen", die ihrem Ausdruck eine Form zu geben vermögen. Unser Geist ist das Vermögen oder auch die Kraft zur - bildlichen oder begrifflichen - Gestaltung von Ausdrucksformen. Eben dies ist auch der Sinn der berühmten Formel Cassirers vom Menschen als dem „animal symbolicum". 42 Sind doch die symbolischen Formen „geistige Gestaltungsweisen", 43 durch die wir zu unseren bestimmten Ausdrucksformen kommen. Diese Ausdrucksformen sind die Bild- und Begriffswelten, in denen wir uns als in unserer Kultur bewegen und in denen sich zugleich die „Selbsttätigkeit" und „Spontaneität" des menschlichen Geistes 44 bezeugt. Als „Ausdruckswesen" ist der Mensch daher „Kulturwesen". Er ist das animal symbolicum, das seine Identität in seiner symbolischen Ausdruckskultur gewinnt und bewahrt.

Eine „Ästhetisierung" der menschlichen Existenz? Mit dieser anthropologisch-kulturphilosophischen 45 Konzeption erzeugt Cassirer eine Doppeldeutigkeit, die nicht ohne weiteres zu beseitigen ist. Es ist nämlich zu fragen, ob mit dieser Konzeption eine umfassende „Ästhetisierung" der menschlichen Existenz - und damit all unseres Tuns - verbunden ist oder ob nur ästhetische Momente in unser Tun hineingetragen werden sollen, um in ihm den Charakter des Schöpferischen entdecken zu können. Eine umfassende „Ästhetisierung" würde ich darin sehen, daß alle unsere Tätigkei41 42

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PSF I, S. 12. EM, S. 26. In bezug auf die traditionelle Definition des Menschen als animal rationale bemerkt Cassirer dort: „Reason is a very inadequate term with which to comprehend the forms of man's cultural life in all their richness and variety. But all these forms are symbolic forms. Hence, instead of defining man as an animal rationale, we should define him as an animal symbolicum. By so doing we can designate his specific difference, and we can understand the new way open to man - the way to civilization." VM, S. 51. PSF III, S. 3 PSF II, S. 259: „Die Sprache, der Mythos, die Kunst: sie stellen je eine eigene Welt von Gebilden aus sich heraus, die nicht anders denn als Ausdrücke der Selbsttätigkeit, der .Spontaneität' des Geistes verstanden werden können." Für Cassirer ist die philosophische Anthropologie immer schon Kulturphilosophie, weil das, was den Menschen definiert - nämlich sein Geist -, in der Gestaltung und Verwendung der kulturellen Symbolismen besteht.

32 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes ten als Gestaltung einer Ausdrucksform ihren Sinn gewinnen und damit andere Ziele oder Wirkungen zu einzelnen Momenten oder Faktoren, zu Randbedingungen oder Nebenwirkungen abgewertet werden. Im Geiste einer solchen Ästhetisierung wäre ζ. B. eine politische Entscheidung oder eine technische Vorkehrung in ihrem wesentlichen Sinn für uns nicht durch die angenommenen oder bestehenden - politischen Notwendigkeiten und technischen Zusammenhänge, also „sachlich", bestimmt, sondern als eine Ausdrucksform unserer Existenz, letztlich daher als Präsentation unserer Persönlichkeit in einem Symbol: einem Bild oder Begriff unseres Handelns, unserer Haltung oder sogar unserer Lebenseinstellung insgesamt. Gegen eine ästhetisierende Auffassung spricht, daß Cassirer selbst die erwähnten „sachlichen" Zusammenhänge durchaus sieht und daß sie für sein Denken auch ein großes Gewicht besitzen. So ist die Technik für ihn zugleich „eine Weltenwende der Erkenntnis"46 und „der eigentliche Anfang zur Selbstbefreiung des Geistes",47 weil nämlich durch sie, d. i. durch die Herstellung und den Gebrauch von Werkzeugen, sowohl die Werkzeuge als auch die mit ihnen bearbeitete Wirklichkeit und unser bearbeitendes Tun in eine „objektive", von den erreichbaren und eintretenden Wirkungen her bestimmte Beziehung gebracht werden müssen. Wir müssen die Werkzeuge gebrauchen und ihre Wirkungsweise kennen lernen. Wir müssen erkennen, o b etwas sich zum Werkzeug eignet, und wir müssen unsere Umwelt daraufhin betrachten, o b sich aus ihr Werkzeuge anfertigen lassen. Und insgesamt gilt, daß wir überhaupt die Natur nur dadurch zu beherrschen lernen, daß wir ihren Gesetzen gehorchen. 48 Dies alles sind „objektivierende" Leistungen unseres Geistes.49 Die Technik ist daher so etwas wie ein „Realitätsprinzip" für den Menschen, ein Korrektiv seiner Vorstellungen und Wünsche, ein Korrektiv, das dem Menschen das Bedenken der Realisierbarkeit abverlangt. Und ähnliches gilt für die Politik. Auch sie hat Aufgaben, die sich aus der natürlichen und

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FT in STS, S. 6\. ECN 1, S. 39f.: „Und doch ist das Grundmittel, kraft dessen sich der Mensch in der Technik mit dem Sein der Natur verbindet und kraft dessen er sich an dasselbe zu binden scheint, der eigentliche Anfang zur Selbstbefreiung des Geistes. Denn im Werkzeug ist an Stelle des unmittelbaren Ergreifens der Objekte ein mittelbarer Bezug auf sie getreten. Die Ziele des Wollens und Begehrens rücken jetzt in die Ferne: statt wie durch einen instinktiven Zwang, durch eine Übermacht der Natur, der er nichts entgegenzustellen hat, auf sie hingetrieben zu werden, erblickt sie der Mensch gewissermassen in einem brechenden Medium. Das Werkzeug kann erst dort entstehen, w o der Geist fähig geworden ist, ein .mögliches' Objekt zu ergreifen und zu konzipieren, statt sich direkt an ein wirkliches herzugeben und an dasselbe zu verlieren." S. auch die entsprechende Formulierung in FT in STS, S. 64f. Cassirer zitiert hier Francis Bacon (Novum Organum Buch 1, Aphorismus 3; dort: „Natura enim non nisi parendo vincitur."): „Natura non vincitur nisi parendo", (FT in STS, S. 60; PSF III, S. 475; MS, S. 294; MSD, S. 385), „Natura non nisi parendo vincitur." (ECN 1, S. 136). Vgl. dazu die Darstellung des Prinzips technischen Handelns in FT in STS, S. 59-61.

Das gestaltende Tun I 33 gesellschaftlichen Situation des Menschen ergeben, die sich auf die Erhaltung von Humanität und die Ermöglichung von Personalität beziehen. 50 Auch dabei wird eine „Objektivierung" unserer praktischen Vernunft gefordert, die sich aus den Zielen und Zwängen des politischen Handelns ergibt. Sozusagen zwischen den beiden Interpretationsmöglichkeiten stehen die Formulierungen Cassirers, in denen er der Technik eine besondere Funktion auf dem Wege zur Naturerkenntnis zuweist. Weil sie den Gesetzen der Natur gehorchen muß, wenn sie wirksam sein will, lernen wir durch sie, diesen Gesetzen zu gehorchen. Die Technik - oder wie Cassirer in diesem Zusammenhang auch sagt: „echte techné" - ist daher nicht eine Form der „Vergewaltigung der Dinge - sondern sie ist ein Moment und Durchgangspunkt des Verstehens", „ein Herausstellen der eigenen ,Natur' der Dinge".51 Für dieses verstehende „Herausstellen", von dem Cassirer auch als „ex-sistere" spricht, nennt er neben der Sprache und der Kunst als drittes das Werkzeug - und d. h. pars pro toto 52 die Technik.53 Dieses Verstehen allerdings, die Anerkennung der sachlichen Zwänge - des „harten Muß der bloßen Sachen" 54 - ist für Cassirer vor allem ein Moment im Gesamtprojekt der Weltgestaltung,55 die ihrerseits wiederum „ein neuer Aufschluß über das innere Sein", eine „vom Äußeren an das Innere ergehende Offenbarung" ist56 - also eine Form der Selbsterkenntnis des Menschen.57 In einer solchen Sicht aber scheint das „technische Schaffen" - so formuliert Cassirer selbst die Frage nach der Ästhetisierung - „in das Gebiet der Kunst und des künstlerischen Schaffens hinüberzurücken."58 Cassirer gibt eine zweifache Antwort auf seine eigene Frage. Spricht man überall dort, „wo ein Sieg der .Form' über den ,Stoff', der ,Idee' über die ,Materie' hervortritt", vom Schönen oder einem Kunstwerk, dann gehört „die ganze Weite geistiger Betätigung und geistiger Gestaltung überhaupt" tatsächlich in den Bereich der Kunst bzw. der „Formschönheit schlechthin".59 Dann

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Vgl. hierzu Volker Gerhardt: Vernunft aus Geschichte. Ernst Cassirers Beitrag zu einer systematischen Philosophie der Politik. In: Hans-Jürg Braun / Helmut Holzhey / Ernst Wolfgang Orth (Hrsg.): Op.cit., S. 220-246, hier S. 237f. ECN 1, S. 256. Bereits in den „Anfängen des Werkzeuggebrauchs" zeigt sich für Cassirer das „Prinzip des Handelns", das die Technik für eine philosophische Betrachtung definiert. S. dazu FT in STS, S. 61. Über den Unterschied zwischen primitiven Werkzeugen und den „Instrumenten der vollentwickelten Technik" s. dort S. 73. ECN 1, S. 257: „(Es gibt] 3 Grunddimensionen dieses ex-sistere in der menschlichen] Kultur]:] a) Sprache b) Werkzeugc) bildende Kunst].]" FT in STS, S. 68. FT in STS, S. 74. FT in STS, S. 70f. FT in STS, S. 72f. FT in STS, S. 82. FT in STS, S. 83 f.

34 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes ist auch die Technik - wie die Politik - ein „künstlerisches Schaffen". Differenziert man aber die verschiedenen Formen der Gestaltung, dann weist Cassirer auf einen entscheidenden Unterschied zwischen dem technischen und dem künstlerischen Werk hin: Während das technische Werk „in einer reinen Sachwelt" steht und „nur noch von sich selbst, nicht von dem Schöpfer" redet, bleibt das Kunstwerk, „indem es rein auf sich steht, immer zugleich das Zeugnis einer individuellen Lebensform, eines individuellen Daseins und So-Seins", nämlich desjenigen des Künstlers.60 Im Unterschied zum künstlerischen Gestalten leistet die Technik - wie die theoretische Erkenntnis - „mehr und mehr auf alles Ausdrucksmäßige Verzicht". Dieser Verzicht ist „eine selbständige und unentbehrliche Bekundung der,Humanität'."61 Entsprechendes ließe sich auch für den Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einem politischen Werk - wie z. B. einem komplexen Gesetzes- oder Vertragswerk - sagen. Mit dieser Unterscheidung ist - so könnte man feststellen - die Perspektive der „Sachwelt" wieder gewahrt. Die - durchaus schöpferische - Gestaltung im Bereich der Technik oder der Politik ist eingespannt in und untergeordnet unter deren sachliche Zusammenhänge und die sich darin ergebenden Notwendigkeiten. Auf der anderen Seite bleibt es aber dabei, daß diese Zusammenhänge und Notwendigkeiten letztlich nur als eine Herausforderung für die Welt- und Selbstgestaltung zählen. Die schöpferische Gestaltung von Welt - d. i. der natürlichen und gesellschaftlichen Umgebung - und Selbst - d. i. der eigenen Persönlichkeit und des eigenen „Charakters"62 - ist und bleibt der sinngebende Impuls der menschlichen Existenz, ihr Ziel und ihre erfüllende Wirklichkeit. Alles sinn volle Tun ist für Cassirer ein sinngebendes Tun. Und alles sinngebende Tun ist schöpferisches Gestalten, die Umprägung von Mannigfaltigkeit in Einheit, das Hervorbringen einer Form. In diesem Sinne finden sich denn auch immer wieder emphatische Formulierungen: Geist - das ist „Wille zur Gestaltung".63 Und so verdichtet sich auch das „Erkenne dich selbst" des Delphischen Orakels für Cassirer in dem Imperativ: „Gestalte Dein Tun".64 Denn der Mensch „muss gestalten,"65

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FT in STS, S. 85. FT in STS, S. 86. Vgl. dazu AH, S. 67. ECN 1, S. 27. ECN 1, S. 190. ECN 1, S. 209. Zur ethischen Dimension dieses Imperativs vgl. den Abschnitt Der des Werkes in Kapitel III.

Imperativ

Das gestaltende Tun I 35

Selbstgestaltung als Bildung eines Selbstverständnisses und als geschichtliches Werden des Selbst Gestalten ist in all diesen emphatisch hervorgehobenen Wendungen zweierlei: Einmal ist es der Ausdruck des Selbst in seinem Welt- und Selbstverhältnis, zum anderen ist es das Schaffen eines Werkes. Durch Cassirers Verständnis des Ausdrucks als Schaffung einer Form, als „Umprägung" der Mannigfaltigkeit zur Einheit, scheinen diese beiden Momente zunächst nur zwei Aspekte des schöpferischen Charakters auszumachen, der zum Gestalten gehört. Denn die „Form", die da gebildet, und die „Einheit", die da erzeugt wird, existiert ja als ein eigenes Gebilde, als ein „Werk". Auf der anderen Seite ist aber zu sehen, daß das „Werk", das von uns gestaltend geschaffen wurde, eine eigene, von uns abgelöste Existenz besitzt. Selbst die Geste, zu der wir uns hinreißen ließen, oder das Wort, das uns als „spontaner" Ausdruck entfuhr, und sogar die Miene, die wir unwillkürlich zeigten, werden im Augenblick ihres Auftretens und Bemerktwerdens zu Gegenständen, die ihr Eigenleben führen und die wir auch, wenn wir es noch so gerne wollten, nicht mehr rückgängig machen können. Im allgemeinen haben wir selbst dann die Herrschaft über ihren Sinn verloren, wenn wir diesen nachträglich mit noch so vielen Gründen wieder zurückgewinnen wollen. Eine solche Form der Ablösung erscheint für das Verständnis der Selbstgestaltung, um die es bei jedem Ausdruck auch geht, zumindest nicht unproblematisch. So mag es wohl wahr sein, daß wir auch unser Selbstverständnis als ein „Werk" schaffen, daß dieses unser „Werk" ein Eigenleben - und eine eigene Autorität für uns selbst und andere - entwickelt und daß wir uns gegenüber diesem unseren „Werk" verhalten. 66 Aber Selbstgestaltung muß nicht nur im Sinne der Bildung eines Selbstverständnisses aufgefaßt werden. Eine „Gestalt" gewinnen wir auch in unserer Geschichte, in den Ereignissen, die uns ebenso formen wie wir sie zu formen versucht haben. In dieser unserer Geschichte ist unser (jeweiliges) Selbstverständnis immer ein wichtiger und oftmals entscheidender Faktor. Aber unsere Geschichte ist weder die Auslegung unseres

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Diese „Werk"-Perspektive unseres Selbstverständnisses ist hier durchaus nicht im Sinne einer kritischen „Entlarvung" gemeint. Jedes Selbstverständnis, das wir bilden, ist ja tatsächlich das Ergebnis eines Prozesses, in dem wir Erfahrungen „gemacht", Erklärungen gesucht und Verständnisse aufgebaut haben und dabei auch Idealen gefolgt sind und Normen angenommen oder aufgestellt haben. Gerade in diesem letzten normativen Sinn ist es durchaus wahr, daß wir uns mit unserem Selbstverständnis „etwas vormachen". Aber dieses „sich etwas Vormachen" kann beides bedeuten: nur etwas vormachen, was nicht eine Darstellung des tatsächlich Getanen oder Gelebten ist, oder etwas vormachen, dem man folgen will, das uns in diesem Sinne ein „Nachmachen" auferlegt. Diese Doppeldeutigkeit gehört zur Natur einer Darstellung überhaupt und hält damit insbesondere unser Selbstverständnis, unsere „persönliche Identität", in der Schwebe zwischen Vorwand und Selbstverpflichtung.

36 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes Selbstverständnisses, noch ist unser Selbstverständnis die bloße Verdichtung unserer Geschichte. Unser (jeweils gegenwärtiges) Selbstverständnis ist vielmehr ein - interpretierendes - Verhältnis zu unserer Geschichte, in der unser (jeweils früheres) Selbstverständnis ein Faktor war. Fassen wir - wie es Cassirer ja nicht fremd ist - unsere Selbstgestaltung als unser geschichtliches „Werden zur Gestalt"67, so haben wir es bei dieser Gestalt nicht nur mit unserem „Werk" zu tun, das wir geschaffen haben und dem gegenüber wir uns nun verhalten können. Diese geschichtlich gewordene Gestalt, die wir sind, ist nicht von uns ablösbar, auch wenn wir an ihr immer wieder wie an einem „Werk" gearbeitet haben. Sie ist die Form unserer Existenz und nicht nur unseres (Selbst-) Verständnisses. In diese Existenz gehen unsere Verständnisse ein, aber nur als ein Teil. Sie sind nicht das Ganze dieser Existenz. Dazu gehören auch die vielfältigen Weisen unseres Fühlens und Strebens, unseres Gestimmtseins und unseres Verhaltens, die sich unserem Verständnis nur schwer, wenn überhaupt, und jedenfalls nie ganz aufschließen. Und dazu gehören auch die „objektiven" Weltverhältnisse, in denen wir existieren und denen wir vor allem mit unseren wissenschaftlichen Untersuchungen auf die Spur kommen wollen.68 Geistige Identität durch Äußerung Cassirer hat ein Verständnis für beide Formen der Selbstgestaltung. Aber letztlich, so scheint es, dominiert darin doch immer wieder der „Werk-Aspekt" der Selbstgestaltung. Dies erklärt sich aus seiner Grundüberzeugung, daß auch das geschichtliche „Werden zur Gestalt", zum Selbst, nur dann verstanden werden kann, wenn wir es als eine Seite der Äußerungsgeschichte des Menschen sehen. Dieses Werden ergibt sich in den Äußerungen, die wir erbringen, in den Werken, die wir schaffen: Es bewährt sich hierin aufs neue die Grundregel, die alle Entwicklung des Geistes beherrscht: daß der Geist erst in seiner Äußerung zu seiner wahrhaften und vollkommenen Innerlichkeit gelangt. Die Form, die sich das Innere gibt, bestimmt auch rückwirkend sein Wesen und seinen Gehalt.69 67 68

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Cassirer nennt in einer ähnlichen Formulierung - unter Berufung auf Piaton - jedes lebendige Werden ein „Werden zur Form". Vgl. dazu ECN 1, S. 15. Nach wie vor scheint mir Heideggers Analyse des „In-der-Welt-Seins" die erhellende Darstellung dieser Selbst- und Weltverhältnisse zu liefern. (Dabei ist allerdings zu bemerken, daß Heidegger in einem anderen Sinne von „Verstehen" redet, als es hier geschieht. Bei ihm hat „Verstehen" den Vollzugssinn, den ich der Selbst- und Weltgestaltung, die nicht in einem Selbstverständnis aufgeht, beilegen möchte. Was hier „Verständnis" heißt, wäre für Heidegger ein Modus der „Auslegung".) Vgl. zum ganzen: Martin Heidegger: Sein undZeit, a. a. O., Erster Teil, Erster Abschnitt. Zum Unterschied von „Verstehen" und „Auslegung", dort SS 31-32. PSF II, S. 235.

Das gestaltende Tun I 37 In dieser Formulierung faßt Cassirer ein Prinzip seines Denkens zusammen. Der Geist besitzt sich nicht in einer ihm durchsichtigen Selbstgegenwart, in der Identität eines Selbstbewußtseins, in dem der Ablauf und die Vergegenwärtigung der Bewußtseinsprozesse in reiner Evidenz zusammenfallen würden. 70 Der Geist muß sich sozusagen „erringen", seine „ursprüngliche Bildkraft"71 in der Gestaltung einer jeweils eigenen „Bildwelt"72 oder „Welt von Gebilden" 73 zeigen und dadurch sich selbst - als ein „Innenreich" von Gedanken, Gefühlen usw. - bilden. Auf der einen Seite wird mit einer solchen „Äußerungstheorie" der „Innerlichkeit" bzw. Gestaltungskonzeption des geistigen Seins jede Behauptung einer unmittelbaren Selbstgewißheit, für welche geistigen Leistungen auch immer, abgelehnt. Für Cassirer steht außer Frage, daß alle diese Akte des Ausdrückens, des Darstellens und des Bedeutens, sich selber nicht unmittelbar gegenwärtig sind, sondern daß sie sich nirgends anders als im Ganzen ihrer Leistung sichtbar werden können. Sie sind nur, indem sie sich betätigen, und indem sie in ihrer Tat von sich selbst Kunde geben. Sie blicken ursprünglich nicht auf sich selbst zurück, sondern sie blicken auf das Werk hin, das sie zu vollziehen, auf das Sein, auf dessen geistige Form sie aufzubauen haben. Und hierin liegt zugleich, daß es zunächst keine andere Beschreibung ihrer eigenen Wirklichkeit und ihrer eigenen Wirksamkeit geben kann, als eine solche, die vom Werk, vom Gewirkten hergenommen ist und die gewissermaßen dessen Sprache spricht.74 Dieser unmittelbarkeits-kritische Sinn seiner „Äußerungstheorie" des Geistes scheint wohlbegründet. Das „Paradies der reinen Unmittelbarkeit" ist uns, wie gesagt, in der Tat verschlossen. Auf der anderen Seite aber stellt sich die Frage, ob mit dieser Unmittelbarkeitskritik nicht eine neue „Identitätstheorie" erschaffen wird: durch die Ineinssetzung nämlich des Wesens des Geistes mit dem Ausüben seiner „ursprünglichen Bildkraft", mit seinem schöpferischen Gestalten. Diese „Identitätstheorie" würde zwar die Differenz zwischen dem Prozeß des Gestaltens und dem Bewußtsein davon festhalten. Das Gestalten selbst ist sich nicht gegenwärtig, es zeigt sich nur in seinen Gestaltungen. Diese Differenz bleibt. Die Frage ist vielmehr, ob dieses Gestalten - auch wenn es sich selbst nur in der Differenz seiner Gestaltungen, seiner Werke erfassen

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Vgl. dazu auch den Schlußsatz von BSF: „Denn erst durch die Form und ihre Vermittlung nimmt die bloße Unmittelbarkeit des Lebens die Gestalt des Geistes an: die Kraft des Geistes aber ist - nach einem Wort Hegels - ,nur so groß, als seine Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut." (WWS, S. 200.) PSF I, S. 21. PSF III, S. 31, 33. PSF II, S. 259. PSF III, S. 118.

38 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes kann - mit dem Geist, mit dem entscheidend-unterscheidenden Charakteristikum unserer Existenz, identisch ist.

Eine „Identitätstheorie" des Geistes? Anders gewendet, geht es um die Frage, ob sich Cassirer durch seine gestaltungstheoretische Perspektive nicht den Blick auf das Ganze unserer menschlichen Existenz so stark einschränkt, daß wesentliche Verhältnisse außer Sicht geraten. Zu diesem unsichtbar Werdenden gehören die Momente des Ausgesetztseins, die Heidegger so eindringlich in seiner Analyse der „Geworfenheit" unserer Existenz zur Sprache bringt,75 wie auch das kontingent Fragmentarische, das allen unserer Entwürfen und Taten innewohnt und uns zwar in unserer Geschichte gestalten, nicht aber uns unsere Geschichte gestalten läßt. Für Cassirer zeigen sich diese Momente unserer Existenz als Herausforderungen, die - gestaltend - bewältigt, als Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen. Für einen Philosophen wie Heidegger beschreiben sie ein Grundverhältnis unserer menschlichen Existenz, das sich für uns durch seine seinlassende Anerkennung zu einem künftigen, unbestimmten und von uns ungedachten „Seinkönnen" öffnen kann.76

Die Vielfalt der Gestaltungen Cassirer begibt sich durch seine gestaltungstheoretische Perspektive in eine Art Zwischenreich zwischen den sonstigen theoretischen Grenzen: - Dadurch, daß er jede geistige Leistung und insbesondere Darstellung als eine eigene Gestaltung versteht, gerät er nie auf das Gebiet identitätstheoretischer Gewißheitskonzeptionen·. Schon die Frage nach der Identität von Darstellung und Gegenstand ist unsinnig, da die Darstellung eine eigene und ebenfalls gegenständliche Wirklichkeit ist,77 allerdings eine Wirklich-

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Heidegger selbst äußert dies als einen Kritikpunkt an Cassirers Darstellung des mythischen Denkens, insbesondere der mana-Vorstellungen. Vgl. dazu Martin Heideggers Besprechung: Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. 2. Teil: Das mythische Denken. Berlin 1925 (zuerst erschienen in: Deutsche Literaturzeitung, Berlin, N.F.5, 1928, Heft 21, S. 1000-1012). In: Martin Heidegger: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914-1976. Band 3: Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt am Main [Vittorio Klostermann] 1991, S. 267f. Es geht mir hier nicht um eine detaillierte Interpretation der Heiggerschen Philosophie genauer handelt es sich um die Philosophie von Sein und Zeit -, sondern lediglich um die Gegenüberstellung von zwei grundsätzlichen Denkmöglichkeiten, die auch durch andere Denker vertreten werden könnten. Cassirers Rede von einer „natürlichen Symbolik" des Bewußtseins schafft hier eine gewisse Schwierigkeit. Denn solchen bloß bewußten Darstellungen, die nicht durch eigens erzeugte Zeichen präsentiert werden, solchen reinen „Vorstellungen", käme nicht die gleiche öffentlich feststellbare Gegenständlichkeit zu wie den „künstlichen" Symbolen. Zu der

Das gestaltende Tun I 39 keit von anderer, nämlich symbolischer Art. Die Gegenstände, auf die sich Darstellungen beziehen, und die Darstellungen selbst, als Ergebnisse betrachtet, gehören beide der Dingwelt an und weisen als solche eine unaufhebbare Differenz - wie sie eben zwischen zwei Dingen besteht - auf. 78 Daß gleichwohl zwischen ihnen eine besondere Beziehung der symbolischen Repräsentation besteht, dies zu klären, ist eine eigene - bedeutungstheoretische - Frage. 79 - Dadurch, daß er die Gestaltungen auf ihre jeweiligen Prinzipien hin zu verstehen und in ihrer Unterschiedlichkeit als „verschiedene Weisen der geistigen Formung" 80 zu analysieren versucht, gerät er auch nicht auf das Gebiet eines identitätstheoretischen Universalismus, dem zufolge alle geistigen Leistungen dieselbe Struktur besitzen oder zu einem umfassenden System, ζ. B. einer universalen „Logik"81, integriert werden können. Die unaufhebbare Pluralität der symbolischen Formen betrifft dabei auch die grundlegenden Orientierungen unserer Existenz wie den Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff.82 Dieser Pluralismus der symbolischen Formen befähigt Cassirer dazu, die Ganzheit der menschlichen Existenz in der Vielfalt ihrer Orientierungen und Leistungen zu erfassen, und bewahrt ihn davor, diese Vielfalt nach dem Muster nur einer dieser Formen - wie z. B. der wissenschaftlichen Erkenntnis - begreifen zu wollen und damit verschwinden zu lassen.

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Unterscheidung zwischen „natürlicher" und „künstlicher" Symbolik vgl. PSF I, S. 41. Vgl. auch unten den Abschnitt „NatürlicheSymbolik". Cassirer wendet sich zwar in einem seiner letzten Texte, dem Vortragsmanuskript über den Strukturalismus in der modernen Linguistik von 1945, ausdrücklich dagegen, Symbole als natürliche Dinge anzusehen, wendet sich damit aber lediglich gegen einen „Physikalismus" (SML in GL, S. 318) der Linguistik, gegen ein Verständnis der Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft Ca. a. O., S. 336-339). Laute einer Sprache sind eben nicht „bloß physikalische Vorkommnisse", nicht bloß „natürliche Dinge", sondern sie „müssen eine Bedeutung haben; [...] Und Bedeutung ist kein sichtbares oder tastbares Ding." (A. a. O., S. 336.) Und daher ist die Linguistik „ein Teil der Semiotik, nicht der Physik." (A. a. O., S. 338.) Insgesamt ist es aber gerade einer der Grundgedanken der Cassirerschen Philosophie, daß nur durch die Verkörperung von Geistigem im Sinnlichen - und also auch im Dinglichen - Sinn zustande kommt. Dabei ist allerdings zu sehen, daß die meisten der etablierten Bedeutungstheorien, vor allem im Bereich der sprachanalytischen Philosophie, die Dinglichkeit der Symbole überhaupt nicht betrachten. PSF I, S. 29. Vgl. dazu Cassirers Kritik an dem Hegeischen Logik-Projekt in PSF I, S. 15f. „Der Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaft ist ein anderer, als es der der Religion oder der Kunst ist [...]" (PSF I, S. 24).

40 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes Das Stufenschema

und der Ausgang

vom Mythos

Daß Cassirer gleichwohl - vor allem in Zusammenhang mit seiner Unterscheidung von Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion auf der einen 83 und von mimischem, analogischem und symbolischem Ausdruck auf der anderen Seite84 - in die Nähe eines Stufenschemas der symbolischen und damit überhaupt der geistig-kulturellen Entwicklung - und zwar auf die theoretische bzw. wissenschaftliche Erkenntnis hin - gerät, verdankt sich der bei ihm wiederkehrenden Denkfigur, daß wir vom Substanzdenken zum Funktionsdenken, von Substanzbegriffen zu Funktionsbegriffen fortschreiten müssen, um uns selbst und die Welt besser zu begreifen. Dieses Stufenschema ist aber nicht mit dem Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen als solchem verbunden. 85 Als eine wirkliche, von Cassirer auch ausdrücklich reflektierte, „Stufe" ist dagegen der Ausgang aus dem Mythos zu sehen, dem alle anderen symbolischen Formen entspringen: Es offenbart sich hierin ein Gesetz, das für alle symbolischen Formen in gleicher Weise gilt und das ihre Entwicklung wesentlich bestimmt. Sie alle treten nicht sogleich als gesonderte, für sich seiende und für sich erkennbare Gestaltungen hervor, sondern sie lösen sich erst ganz allmählich von dem gemeinsamen Mutterboden des Mythos los. Alle Inhalte des Geistes, so sehr wir ihnen systematisch ein eigenes Gebiet zuweisen und ihnen ein eigenes autonomes,Prinzip' zugrunde legen müssen, sind uns rein tatsächlich zunächst nur in dieser Verflechtung gegeben.

83

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So die Gliederung der drei Teile der „Phänomenologie der Erkenntnis", des Dritten Teils der „Philosophie der symbolischen Formen". Die Ausdrucksfunktion erfüllt sich in der Gestaltung einer „Zuständlichkeit" - eines Gefühls, einer Stimmung, eines Wollens usw. zu einem Symbol. In der Darstellungsfunktion bezieht sich ein Symbol auf einen „Gegenstand" - ein Ding oder ein Ereignis -, der anschaulich in Raum und Zeit, in Zahlverhältnissen und als Person oder Sache identifiziert werden kann. Mit der Bedeutungsfunktion wird durch das Symbol nurmehr ein Relationengefüge - das „abstrakt", d. h. unabhängig von der Identität der Relata ist - repräsentiert, z. B. ein mathematischer Formalismus. Vgl. dazu auch Andreas Graeser, op.cit., S. 40-47. S. dazu etwa PSF I, S. 134-148. Mimetisch ist eine sinnliche Nachbildung von etwas. Dies setzt voraus, daß das Nachgebildete ein sinnlich erfaßbares Phänomen ist, also nichteine innere Zuständlichkeit. Daher kann es im strengen Sinne auch keinen mimetischen Ausdruck, sondern nur eine mimetische Darstellung geben, die sich allerdings oft auf einen Ausdruck - den Schrei eines Tieres, den Ausrufeines Menschen - bezieht. Analogisch ist die anschauliche Gliederung einer Darstellung, die unabhängig von der Gliederung des Dargestellten sein kann, sich aber gleichwohl in einer deutlichen (wenn auch nicht immer eindeutigen) Weise auf einen bestimmten „Gegenstand" beziehen muß. Rein symbolisch ist eine Symbolisierung dann, wenn ihre innere Gliederung rein „formal", d. h. nur durch ein Gefüge von abstrakt definierten Relationen charakterisiert ist, die sich aber sehr wohl z. B. im Bereich der Kunst - auf Anschauungen beziehen können. Man kann es als einen „Rest-Neukantianismus" bei Cassirer lesen.

Das gestaltende Tun I 41 Das theoretische, das praktische und das ästhetische Bewußtsein, die Welt der Sprache und der Erkenntnis, der Kunst, des Rechts und der Sittlichkeit, die Grundformen der Gemeinschaft und die des Staates: sie alle sind ursprünglich noch wie gebunden im mythisch-religiösen Bewußtsein. 86 Der Mythos ist für Cassirer „sozusagen die Urschicht des Bewußtseins und der tragende Grund für alle seine Leistungen".87 Aus dieser Ursprungsstellung des Mythos folgt aber gerade kein Stufenschema im Sinne einer fortschreitenden Reihung der verschiedenen symbolischen Formen. Wenn nämlich alle symbolischen Formen im Mythos gründen, so wäre für deren Entwicklung - zumindest was die Anordnung ihrer Richtungen angeht - eher das Bild einer Rosette zu wählen, aus deren Mythos-Mitte die Blätter der anderen symbolischen Formen herauswachsen: durch den Mythos bleibend miteinander verbunden und doch in eigenen Richtungen und eigenständigen Gestaltungen. Außerdem gilt für Cassirer aber auch, daß der Mythos in sich selbst eine Entwicklungstendenz über sich hinaus zeigt und daher seine „Überwindung" in diesem Sinne zu ihm selbst gehört, 88 und daß zudem der Mythos zumindest in seinen Funktionen der Ausdrucksgestaltung auch in den anderen symbolischen Formen aufgehoben bleibt.89 Die Einheit des schöpferischen

Gestaltens

Als „Identitätstheoretiker", allerdings auf einer höheren Ebene, könnte Cassirer dadurch erscheinen, daß das schöpferische Gestalten als solches als eine Einheit gesehen wird, und zwar als die Einheit, die den Geist selbst, in seinem Tätigsein als Gestalten - bzw. „Bilden" oder „Formen" - betrachtet, definiert. Es ist dies eine Einheit, die für uns nur in der Verschiedenheit ihrer Wirkungen bzw. Werke faßbar ist, und damit eine Einheit, die sich aller theoretischen Systematisierung entzieht. Um über diese Vermutung einer identitätstheoretischen Perspektive eine Entscheidung treffen zu können, bedarf es noch einiger Klärungen: - Besteht die Einheit der Gestaltung und des Geistes im Prozeß dieser Gestaltung selbst oder nur in einem Impuls zur Gestaltung überhaupt?

86 87 88

89

SMinWWS, S. 112. AH, S. 85. (Dort zitiert Cassirer selbst die o b e n angeführte Stelle aus SM.) Der „dialektischen" Entwicklung des Mythos über sich hinaus, bei der d e m „stetigen Aufbau der mythischen Bildwelt [...] das stete Hinausdrängen über sie" entspricht (PSF II, S. 283) und in der dann die anderen symbolischen Formen entstehen, widmet Cassirer einen eigenen Abschnitt im Zweiten Teil seiner Philosophie der symbolischen Formen über „Das mythische Denken". (Vierter Abschnitt: Die Dialektik des mythischen Bewußtseins. PSF II, S. 281-311.) Vgl. dazu das ganze Kapitel Das Amdrucksphänomen als Grundmoment des Wahrnehmungsbewußtseins in PSF III, S. 68-107.

42 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes - Ist die Einheit der Gestaltung (sei es im Sinne eines Prozesses oder eines Impulses) eine Annahme, die aus systematischen Gründen zum Programm einer Philosophie der symbolischen Formen gehört, oder ist sie „nur" eine persönliche Annahme Ernst Cassirers? Wenn Cassirer den Geist durch seine Gestaltungen charakterisiert, dann bezieht er sich gewöhnlich auf seine „Spontaneität" oder Selbsttätigkeit,90 auf seine „Bildkraft"91 „Kraft des Bildens"92 oder „schöpferische Kraft"93, auf ihn als das „schöpferische Prinzip",94 auf seine Energie bzw. Energien. 95 Alle diese Formulierungen bezeichnen ein Vermögen, nicht aber einen Prozeß. Der Prozeß der Gestaltung selbst differenziert sich bereits in verschiedene Gestaltungsweisen. Damit wird aber auch fraglich, ob man denn überhaupt von einem einheitlichen Impuls zur Gestaltung reden kann, der die Spontaneität des Geistes charakterisiert. Im Zusammenhang mit der Frage, ob es eine allgemeine künstlerische Intuition geben kann, die sich dann in den verschiedenen Medien konkretisiert und differenziert, betont Cassirer, daß die durch das Medium geforderte „besondere Art des Ausdrucks nicht erst zur Technik der Werkgestaltung, sondern schon zur Konzeption des Kunstwerks selbst" gehört: „Beethovens Intuition ist musikalisch, Phidias' Intuition ist plastisch, Miltons Intuition ist episch, Goethes Intuition ist lyrisch. Dies alles betrifft nicht nur die äußere Schale, sondern den Kern ihres Schaffens."96 Die „ästhetische Intuition [wird] als musikalische oder plastische, als lyrische oder dramatische geboren". 97 Ebensowenig wie es eine allgemeine Intuition zur Gestaltung von etwas überhaupt geben kann, kann es dann aber auch einen allgemeinen Impuls zur Gestaltung von etwas überhaupt geben. In diesem allgemeinen Impuls müßte eine Spontaneität oder Gestaltungskraft des Geistes wirken, die vor aller Äußerung und unabhängig von den verschiedenen Gestaltungsprozessen schon in sich bestimmt wäre. Dies würde Cassirers „Grundregel", daß der Geist erst in seiner Äußerung zu seiner Identität kommt, eklatant widersprechen.

90 91 92 93 94 95 96 97

Z. B. PSF II, S. 259. PSF I, S. 21. PSF II, S. 281. PSF II, S. 311. PSF II, S. 259. Im Plural spricht Cassirer pointiert von den Energien des Geistes oder des Bildens und ihrer Verflechtung oder ihrem Ineinandergreifen in PSF I, S. 14, 51, PSF III, S. 107. LK, S. 119f. LK, S. 121.

Das gestaltende Tun I 43 „Konkrete

Totalität"

Wir können also weder von einem allgemeinen Prozeß noch von einem allgemeinen Impuls der Gestaltung reden, der das Wesen des Geistes ausmache. Vielmehr ist Gestaltung und damit auch Geist wirklich nur in der Vielfalt der Gestaltungsweisen und „Energien". Eine Einheit der Gestaltung oder des Geistes kann - wenn überhaupt - nur als „konkrete Totalität" der Formen der geistigen Kultur erreicht werden, sozusagen als ein begriffenes Miteinander der einzelnen Formen in einer von uns geschaffenen geistigen Welt, in der diese Formen in ihrer je eigenen Struktur und ihrem eigenen Gehalt erhalten bleiben. Für diese „konkrete Totalität" gilt: „Die echte, die konkrete Totalität des Geistes soll nicht von Anfang an in einer einfachen Formel bezeichnet und gleichsam fertig hingegeben werden, sondern sie entwickelt, sie findet sich erst in dem stetig weiterschreitenden Fortgang der kritischen Analyse selbst."98 Eine solche „konkrete Totalität" der Ausdrucks- und Verständnisformen insbesondere der symbolischen Formen - ist also keine Gegebenheit, sondern eine Aufgabe. Von einem „abstrakten System" - das man ihr als Gegenbegriff entgegenstellen könnte - unterscheidet sie sich dadurch, daß sie nicht das Ergebnis einer theoretischen, begrifflich begründeten Vereinheitlichung ist, sondern das Ziel einer Beziehungsanalyse der einzelnen Formen. In einer solchen Beziehungsanalyse sollen diese Formen nicht unter eine übergeordnete und doch gleichartige Einheit gebracht werden, sondern in ihrem wechselseitigen Bezug dargestellt werden, den sie durch ihre jeweils andere Perspektive, ihr jeweils anderes Aufbauprinzip, ihre jeweils anderen Grundorientierungen usw. - d. i. durch ihre jeweils andere Charakteristik als diese oder jene Ausdrucks- und Verständnisform - zu den anderen Formen haben oder herstellen können. So können etwa gewisse künstlerische Perspektiven auch in den Wissenschaften ihren Sinn gewinnen: ζ. B. als Differenzierung von Beschreibungen, als Erweiterung der betrachteten Aspekte usw." Und solche Wechselbeziehungen kann man für alle möglichen Formen unserer geistigen Orientierung feststellen und auch eigens herzustellen versuchen. Die Analysen dieser Wechselbeziehungen verbleiben dabei „zwischen" diesen Formen, bilden kein einheitliches oder geschlossenes und für sich verständliches System,100 sondern 98 PSF ι, s. 10. 99

Einen systematisch gemeinten Vorschlag für die ausdrückliche Herstellung einer solchen Wechselbeziehung habe ich entwickelt in meinem Aufsatz: Empirie ohne Experiment. Plädoyerfür einen methodischen „Zwischenschritt" bei unserer wissenschaftlichen Erfahrungsbildung. In: Gerd Jüttemann (Hrsg.): Psychologie in der Veränderung. Perspektiven für eine gegenstandsangemessenere Forschungspraxis, Weinheim / Basel [Beltz Verlag]

100

Zu Cassirers Rede von einem „komplexen System" (PSF I, S. 29) vgl. unten den Abschnitt „ Komplexes System ".

1 9 8 3 , S. 6 6 - 9 9 .

44 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes bieten eher eine praktische Regelung für unser theoretisches, die Grenzen der jeweiligen symbolischen Formen kritisch reflektierendes Handeln.

Das einigende Band der „produktiven Einbildungskraft" Cassirer selbst neigt allerdings manchmal zu Formulierungen, die zumindest in die Nähe der Annahme einer eigenen, sich in allen symbolischen Formen durchhaltenden Gestaltungskraft führen, über die man dann ja auch eine eigene theoretische Reflexion anstellen könnte. So weist er - mit dem Blick auf die Kantische Erkenntnistheorie - auf die Leistung der „produktiven Einbildungskraft" hin, „die uns allenthalben im Aufbau der einzelnen Formwelten entgegengetreten ist u n d die gewissermassen das einigende ideelle Band ist, das sich um sie schlingt." 101 Mit dieser Formulierung scheint tatsächlich eine Identitätstheorie des Geistes, nämlich eine Identitätstheorie der schöpferischen Gestaltungskraft in allen symbolischen Prozessen, unterstellt zu sein. Eine nähere Betrachtung lehrt aber, daß ein solches Verständnis die besondere Pointe der Cassirerschen Konzeption verfehlen würde. Denn was Cassirer mit seiner Formulierung hervorheben will, ist gerade die Nicht-Theoretisierbarkeit dieser „produktiven Einbildungskraft". Ist es doch das „Produktive", das Schöpferische im Tun, um das es hier geht, und nicht eine für sich selbst bestehende u n d charakterisierbare Kraft oder Fähigkeit. 102 Wenn Cassirer diese „produktive Einbildungskraft" das „einigende ideelle Band" aller symbolischen Formwelten nennt, dann geht es ihm um die immer wieder von Humboldt entlehnte Unterscheidung zwischen Ergon u n d Energeia, 103 zwischen der forma formata u n d der forma formans, 1 0 4 zwischen d e m

101

ECN l, s. 29.

102

Ausdrücklich sagt dies auch Cassirer selbst. So betont er, seine Suche nach einem „gemeinsamen Nenner" der verschiedenen Pathologien des Symbolbewußtseins könne nicht bedeuten, „daß wir die verschiedenartigen repräsentativ-symbolischen Leistungen, die für das Sprechen, für das wahrnehmende Erkennen und für das Handeln die unerläßliche Bedingung sind, als Äußerungen einer .Grundkraft' betrachten, daß wir sie als verschiedene Betätigungen des .Symbolvermögens schlechthin' ansehen dürfen. Die .Philosophie der symbolischen Formen' bedarf keiner derartigen Hypostasierung, noch kann sie sie nach ihren methodischen Voraussetzungen zulassen." (PSF III, S. 322) Obwohl Cassirer diese Unterscheidung Humboldts nur selten - z. B. in SML (WWS, S. 335), in ECN 1, S. 15, und indirekt in PSF III, S. 526 - zitiert, bildet sie doch eine der Grundannahmen seiner philosophischen Konzeption. Vgl. dazu etwa auch den Bezug auf Humboldt in PSF III, S. 19f., und die Anspielung auf Humboldts Unterscheidung („die lebendige .Energie' der Sprache") in PSF III, S. 240. Die „klassische" Formulierung Humboldts findet sich bei Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden III. Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1963, S. 418. Cassirer zitiert die Akademie-Ausgabe, Bd.VII (Einleitung zum Kawiwerk), S. 46. Z.B. ECN 1; S. 18f„ 30, 217.

103

104

Das gestaltende Tun I 45 gestalteten Werk und der gestaltenden Kraft. Die symbolischen Formen und Welten sind nur dann verständlich, wenn wir sie auf die Dynamik des gestaltenden Tuns hin „durch-schauen", das in ihnen zum Ausdruck kommt. Sonst bleiben sie eine Ansammlung toter Formeln, die man zwar übernehmen und benutzen, in denen man aber nicht den Ausdruck eines lebendigen Seins, einer historischen Person, eines gestaltenden Willens erkennen kann. Eine symbolische Form - Cassirer denkt hier vor allem an die Sprache - wäre nur noch ein „System von Zeichen", nicht aber mehr etwas, das „die Brücke vom ,Ich' zum ,Du', von einem Erlebniszentrum zum andern, schlägt, sondern [das] beide nur in einer äusserlichen Sphaere [...] einander begegnen lässt."105 Das eine Form als Werk eines gestaltenden Willens „durch-schauende" Erfassen hingegen schafft eine Verbindung, die selbst zum gestalterischen Ereignis wird, zu einem Verstehen, das selbst ein Gestaltungsprozeß ist und das sich daher der „produktiven Einbildungskraft" verdankt. Und immer zeigt sich [...], daß das .Verstehen' der Welt kein bloßes Aufnehmen, keine Wiederholung eines gegebenen Gefüges der Wirklichkeit ist, sondern daß es eine freie Aktivität des Geistes in sich schließt. Es gibt kein echtes Weltverständnis, das nicht in dieser Weise auf bestimmte Grundrichtungen, nicht sowohl der Betrachtung, als vielmehr der geistigen Formung, beruht.106 In diesem Sinne läßt sich denn auch die Rede vom „einigenden Band" verstehen: Wir erfassen die Formwelten in ihrem vollen Sinngehalt - und d. h. für Cassirer: in ihrem Sinn auch als Ausdruck von Personen - nur dann, wenn wir in ihnen das gestaltende Tun der Menschen, die an ihnen mitgewirkt haben, erkennen, und zwar dadurch, daß sich dieses Erkennen zu einer Begegnung zwischen den gestalteten Formen und unserem gestaltenden Erfassen entwikkelt. Das „einigende Band" besteht so aus schöpferischen Ereignissen, die sich in mannigfaltigen Strukturen vollziehen und jedenfalls nicht als eine einheitliche - und das hieße: bereits in sich geformte - Kraft- oder Energie-Äußerung auftreten: Die Funktion der Bildgestaltung überhaupt mag immerhin als eine letzte übergreifende Einheit gedacht werden können; aber die Verschiedenheit der Formen tritt sofort wieder hervor, sobald man auf das verschiedene Verhältnis reflektiert, das der Geist in jeder von ihnen zu der von ihm erzeugten Welt der Bilder und Gestalten sich gibt.107

105 106 107

ECN 1, S. 5 8 . P S F III, S. I6f. B S F in W W S , S. 188.

46 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes

Der „Symbolprozeß" Auch die Symbolisierung - der „Symbolprozeß"108 - ist eine Gestaltung, allerdings nicht als tätige Bearbeitung der uns umgebenden Welt und der uns darin entgegenstehenden Dinge und Ereignisse, sondern als Erzeugung der Ordnung unseres Bewußtseins, unserer Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt und - verbunden damit - als Herstellung und Verwendung von Zeichen, als Schaffung einer Zeichenwelt. Daß Cassirer überhaupt dieser symbolischen Gestaltung eine zentrale Bedeutung für das Verständnis des menschlichen Geistes zuweist, gründet in seiner Einsicht von dem unauflöslichen Zusammenhang zwischen geistigem und sinnlichem Ausdruck, zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Dieser Zusammenhang soll daher zunächst in einer allgemeinen Weise skiziert werden.

Sinn u n d Sinnlichkeit Es ist einer der Grundgedanken der Philosophie der symbolischen Formen, daß sich „zwischen dem Sinnlichen und Geistigen [...] eine neue Form der Wechselbeziehung und der Korrelation" knüpft. Die „reine Funktion des Geistigen [muß] selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen" und vermag sie „hier zuletzt allein zu finden". 109 Es gehört zur ,,eigentümliche[n] Doppelnatur" der Zeichen und Symbole, daß in ihnen „ein geistiger Gehalt, der an und für sich über alles Sinnliche hinausweist, in die Form des Sinnlichen, des Sicht-, Hör- oder Tastbaren umgesetzt [ist]."110 Die Sphäre des Sinns und die der Sinnlichkeit „bleiben aufs engste ineinander verwoben". 111 Es herrscht eine „Wechselbestimmung des Sinnlichen durch das Geistige, des Geistigen durch das Sinnliche".112 Und schließlich: „Für [... alle .Grundformen des geistigen Schaffens'] gilt, daß sie die ihnen gemäße und eigentümliche Auffassungsund Gestaltungsweise nur dadurch zur Geltung bringen können, daß sie für sie gleichsam ein bestimmtes sinnliches Substrat erschaffen. [...] Und damit ist

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Cassirer selbst redet vom „Prozess der symbolischen Formung" (ECN 1, S. 48, 96), vom „grossen Umformungsprozess" (ECN 1, S. 45: „Gelänge es uns, uns in eine Schicht des Daseins zurückzuversetzen, die noch vor jenem grossen Umformungsprozess liegt, wie ihn die einzelnen symbolischen Formen vollziehen - dann wäre für uns das Geheimnis dieser Formen erst völlig aufgedeckt.") und vom „symbolischen Prozeß", der „wie ein einheitlicher Lebens- und Gedankenstrom [ist], der das Bewußtsein durchflutet, u n d der in dieser seiner strömenden Bewegtheit erst die Vielfältigkeit und den Zusammenhang des Bewufätseins, erst seine Fülle wie seine Kontinuität und Konstanz zuwege bringt." (PSF III, S. 235) PSF I, S. 19. PSF I, S. 42f. PSF I, S. 149. PSF I, S. 299.

Der „Symbolprozeß" I in der Tat ein allumfassendes Medium gegeben, in welchem alle noch so verschiedenen geistigen Bildungen sich begegnen." 113

Das sinnliche Zeichen Diese Formulierungen heben einen Wendepunkt im philosophischen Denken hervor, der mit Cassirers Philosophie der symbolischen Formen herbeigeführt worden ist. Sicher ist Cassirer nicht der erste Philosoph, der die Bindung von Sinn an Sinnlichkeit gesehen und bedacht hat. Aber er ist der erste, der diesen Gedanken zum Grundgedanken einer philosophischen Konzeption gemacht hat. Dieser Grundgedanke ist es, der Cassirer zu einem kulturphilosophischen Verständnis des Menschen und seines Geistes führt. Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient. 114 Dieser Satz grenzt die „Grundregel", wie sie für jedes schöpferische Tun gilt, auf das symbolische Handeln, auf das Zeichenhandeln hin ein. Er liefert sozusagen die Parallelformulierung zur allgemeinen „Grundregel".115 Mit ihm wird das Programm der symboltheoretischen Philosophie Cassirers formuliert: als einer Konzeption, in der gegen jede Behauptung einer weltlosen Innerlichkeit des Subjektes116 und gegen jede Behauptung einer immaterialen Reinheit des geschichtsenthobenen Reiches der Gedanken 117 die Einbindung unseres Den-

113 114 115 116 117

PSF I, s. 18. PSF I, S. 18f. S. oben den Abschnitt Geistige Identität durch Äußerung. Und damit also auch gegen die Konzeption eines transzendentalen Subjekts. Mit einer solchen Konzeption, in der die sinnliche Existenzform der Zeichen für die geistige Gliederung unseres Bewußtseins wie unserer Welt als konstitutiv angenommen wird, richtet sich Cassirer auch gegen Positionen einer logisch orientierten Philosophie, die ihm ansonsten wegen ihrer antipsychologistischen Tendenzen nahesteht. Sein Verständnis des inneren Zusammenhangs von „ideeller Form" und „sinnlichem Zeichen" würde sich daher auch gegen die „modernen" Konzeptionen Freges und Poppers richten: also gegen die Fregesche Annahme eines solchen Gedankenreiches und gegen die Poppersche Konstruktion einer „Dritten Welt" der Gedanken - nach der ersten Welt der Gegenstände und der zweiten Welt der psychischen Ereignisse. Zu Frege vgl. Gottlob Frege in seinen beiden Abhandlungen Ober Sinn und Bedeutung und Über Begriff und Gegenstand. In: Gottlob Frege: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Herausgegeben und eingeleitet von Günther Patzig. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 2., durchgesehene Auflage 1966, S. 46 (Anm. 5) und S. 70 (Anm. 7). Zu Popper vgl. Poppers Buch: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg [Hoffmann und Campe) 1973, bes. S. 123ff. und S. 172ff. Eine zugleich knappe und informative Darstellung gibt Lothar Schäfer: Karl R. Popper. München (C.H.Beck] 1988, S. 131-157. Übrigens spricht auch Cassirer einmal von „dem .dritten' Reich, dem Reich der reinen Bedeutung". (SSSP in STS, S. 13.)

48 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes kens - in dem weiten Sinne, der auch unsere Gefühle und Strebungen mit einschließt - in seine symbolische Verkörperung hervorgehoben wird. Ohne Rückgriff auf Cassirersche Formulierungen selbst kann man die Sache, um die es hier geht, auch so darstellen: Der Geist bedarf der Welt. Er kann sich selbst nur verwirklichen, indem er sich ausdrückt. Um sich ausdrücken, muß er sich sozusagen „materialisieren", nämlich eine sinnlich-konkrete Ausdrucksform finden. Ausdruck ist damit immer etwas Doppeltes: Präsentation eines „Inhaltes" und Bearbeitung eines Materials. Da beides keine getrennten Vorgänge sind, geschieht die Präsentation des Inhaltes in der Bearbeitung des Materials. Damit werden die Strukturen des Materials zu den Bedingungen der inhaltlichen Präsentation. Der präsentierte „Gedanke" ist nicht eine rein geistige, in einem selbstbeherrschten und-genügsamen Reich des Denkens angesiedelte Form. Er ist das Ergebnis eines schöpferischen Prozesses, in das der Ausdrucksimpuls ebenso wie die Materialstruktur, der Formwille ebenso wie der Formwiderstand eingehen 1 1 8 und ein Spannungsverhältnis schaffen, das weder idealistisch - durch die ausschließliche Konzentration auf die geistigen Inhalte - noch materialistisch - durch die Reduktion dieser Inhalte auf ihre materiale Beschaffenheit - aufgelöst werden kann. Erst in seinen Äußerungen gewinnt der Geist sein Eigensein, seine Identität - und damit eben auch die Erinnerungen und Entwürfe, die Orientierungen und Stimmungen, die man seine „Innerlichkeit" nennen mag. Eine solche „Innerlichkeit" ist für Cassirer niemals weltlos, sie hat immer auch ein kulturelles Sein, da sie immer nur in einer symbolischen Konfiguration ihre Existenz besitzt. Denn die Symbolismen, in denen sich diese Konfigurationen ergeben, sind kulturelle Symbolismen. 119

118

119

Vgl. dazu die Formulierung Cassirers, mit der er gegen eine Metaphysik polemisiert, die glaubt, „daß die Energie der reinen Lebensbewegung sich dort am vollkommensten zeigen müsse, wo diese Bewegung noch ganz sich selbst überlassen ist, wo ihr noch keinerlei Widerstand an einer Welt der Formen erwächst - und [...] [die darüber vergißt], daß dieser Widerstand ein Moment und eine Bedingung eben dieser Bewegung selbst bildet. Die Formen, in denen sich das Leben äußert und vermöge deren es seine .objektive' Gestalt gewinnt, bedeuten für dasselbe ebensowohl Widerstand, wie sie seinen unentbehrlichen Widerhalt bezeichnen. Wenn sie ihm Schranken setzen, so sind es doch solche, an denen es seiner Kraft erst bewußt wird, und vor denen es seine Kraft erst gebrauchen lernt. Die scheinbare Gegenkraft wird damit selber zum Impuls der Gesamtbewegung: die Richtung auf die Äußerlichkeit nicht der Dinge, sondern der Formen und Symbole, gibt den Weg an, auf welchem die reine Subjektivität sich erst selber findet." (PSF III, S. 47f.) Systematisch habe ich diesen Gedanken etwas ausführlicher dargestellt in meinem Aufsatz: Verstehen und Verallgemeinerung. Zur logischen Struktur der Kommunikation. In. Thomas Grethlein / Heinrich Leitner (Hrsg.): Inmitten der Zeil. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie. Würzburg (Königshausen & Neumann] 1996, S. 317-334.

Der „Symbolprozeß" I 49 Materiale Struktur und Funktion von

Symbolismen

Was Cassirer hier allerdings weniger gesehen hat, ist die Materialität dieser Symbolismen und die Rolle, die die mit dieser Materialität gegebene Eigenstruktur auch für die Bedeutung dieser Symbolismen spielt. So ist unsere Sprache ja auch ein System von Körperbewegungen, die wir für die Lauterzeugung einsetzen. Und dieses System hat für die jeweiligen Lautbildungen und Lautfolgen durchaus eine konstitutive Bedeutung. Und das Papier oder die Leinwand - um noch ein anderes Beispiel anzuführen - zwingen zur Umsetzung des Gesehenen nicht nur in eine zweidimensionale Darstellung, sondern auch in eine Darstellung auf und mit den jeweils benutzten Materialien, die ihre Spuren der Widerständigkeit oder Formbarkeit in dieser Darstellung hinterlassen. Cassirer selbst sagt einmal: „Die echte Substantialität des Geistes aber besteht nicht darin, daß er sich alles sinnlich-symbolischen Inhalts als eines bloßen Accidens entledigt, daß er ihn wie eine leere Schale fortwirft, sondern daß es [richtig wäre: er] sich in diesem widerstehenden Medium behauptet." 120 Dieser Gedanke ist so auch Cassirer nicht fremd, aber er wird in seiner Philosophie nicht systematisch entwickelt. Was Cassirer betont, sind die Funktionen der Symbolismen, die durch die jeweiligen Verkörperungen ermöglicht werden, die aber - wenn sie einmal etabliert sind - „in keinem Zuge mehr dem bloßen Material" gleichen 121 und in vielen Fällen auch unterschiedliche materiale Realisierungen erlauben. Seine Analysen z. B. der unterschiedlichen Raum-, Zeit- oder Persondarstellungen in verschiedenen Sprachen vergewissern sich durchaus der verschiedenen materialen Lautstrukturen, die in diesen Sprachen vorkommen, richten sich aber vor allem auf die funktionalen Unterschiede, die etwa ein ereignisbezogener Sprachaufbau im Vergleich zu einem zustandsbezogenen Sprachaufbau zeigt. So bestimmt für ihn die Funktion die Identität einer symbolisch relevanten Form und nicht deren materiale Struktur. Cassirer nennt „das Prinzip des ,Primats' der Funktion vor dem Gegenstand" sogar „das Grundprinzip des kritischen Denkens". In allen Funktionen vollzieht sich „eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt".122

120 121 122

BSF in WWS, S. 200. P S F I , S. 43. PSFI, S.U.

50 I Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes

Sinnliches Bewußtsein und Zeichenbildung Immanente

Gliederung

Auch wenn Cassirer alleine die Funktionen und nicht auch die materialen Strukturen für die Erzeugung einer Formwelt verantwortlich macht, bleibt doch die entscheidende Einsicht seiner Analyse die, daß es keinen Sinn außerhalb einer sinnlichen Verkörperung gibt. Die sinnliche Verkörperung spielt dabei nicht nur die Rolle einer Materialisierung des Ideellen, die alle Gestaltungskräfte auf der Seite des Ideellen sieht. Vielmehr betont Cassirer, „daß es auch eine Aktivität des Sinnlichen selbst, daß es, um den Goetheschen Ausdruck zu gebrauchen, auch eine .exakte sinnliche Phantasie' gibt, die sich in den verschiedensten Gebieten geistigen Schaffens als wirksam erweist."123 Und so gilt denn, daß „die Sinnlichkeit' [...] niemals als ein bloß Vor-Geistiges oder gar als ein schlechthin Un-Geistiges gedacht werden" kann. Denn „sie selber ,ist' und besteht nur, sofern sie sich nach bestimmten Funktionen des Sinnes gliedert."124 Die Sinnlichkeit besitzt für Cassirer eine „Sinnerfüllung", ist in sich selbst eine „Besonderung und Verkörperung", eine „Manifestation und Inkarnation eines Sinnes".125 Letztlich gründet diese interne Dynamik des Sinnlichen,126 seine „immanente Gliederung" 127 in den .„sinnlichen' Ausdrucksmomenten" 128 auf der einen und den schon in der Wahrnehmung wirkenden Gestaltungsprozessen auf der anderen Seite. Bereits in unserem natürlichen Ausdrucksleben finden wir ein „Gestaltungspotential", an das wir in unseren eigens hervorgebrachten Gestaltungen, also in unseren kulturellen Leistungen, anschließen können. Die elementaren Ausdrucksmomente, die schon das tierische Leben prägen, 129

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PSF ι, s. 20. PSF III, S. 71. PSF III, S. 109. Ähnlich auch die Formulierung Cassirers in PSF I, S. 47: „Denn es handelt sich nicht mehr um ein Voraufgehen oder Nachfolgen des .Sinnlichen' gegenüber dem .Geistigen', sondern um die Offenbarung und Manifestation geistiger Grundfunktionen im Material des Sinnlichen selbst." Es gibt durchaus auch Formulierungen Cassirers, in denen er von der „Passivität des Sinnlichen" spricht (z.B. PSF I, S. 2