Methodologien: Struktur, Aufbau und Evaluation [1 ed.] 9783428466924, 9783428066926

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Methodologien: Struktur, Aufbau und Evaluation [1 ed.]
 9783428466924, 9783428066926

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L u t z Danneberg

· Methodologien

E R F A H R U N G

U N D

D E N K E N

Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 71

Methodologien Struktur, Aufbau und Evaluation

Von D r . L u t z Danneberg

Duncker & Humblot - Berlin

CIP-Titelauf nähme der Deutschen Bibliothek Danneberg, Lutz:

Methodologien: Struktur, Aufbau und Evaluation / von Lutz Danneberg. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Erfahrung und Denken; Bd. 71) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1987 ISBN 3-428-06692-8 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hartmut Bauer, Hamburg 60 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-06692-8

Inhalt

Einleitung

9

I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

12

1. Vorbemerkungen zum Status von Methodologien

13

2. Vorüberlegungen zum Problem der partiellen Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

18

3. Klassifikation und historischer Rückblick

31

II. Argumente gegen eine partielle Rationalisierbarkeit

des

Entdeckungszusammenhangs

66

1. Das Intuitions-, Zufalls- und Unerklärbarkeitsargument

67

2. Das induktionslogische Argument

79

3. Das T-Term-Argument

98

4. Das Prognose-Argument III. Struktur

119

und Arten von Methodologien sowie Formen ihrer

Anwendung und Empfehlung

131

1. Struktur von Methodologien: Ziele, Konditionen und M i t t e l . . . . 132 2. Struktur von Methodologien der Theoriekonstruktion

151

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung von Methodologien

165

6

Inhalt

a) Die Beziehung zwischen Methodologien der Theoriekonstruktion und der Theorieevaluation

165

b) Formen der Anwendung und Empfehlung von Methodologien

171

c) Arten von Methodologien

177

IV. Der Aufbau von Methodologien

184

1. Der Aufbau von Methodologien: logische, empirische und quasi-empirische Verknüpfungen

185

2. Rekonstruktion des Aufbaus einer Methodologie am Beispiel von Poppers Methodologie der Theorieevaluation

191

a) Problemstellung der Rekonstruktion der Methodologie Poppers

191

b) Die ausnahmslose Geltung einer Regel gegen die Verringerung des Falsifizierbarkeitsgrades von Theorien 197 c) Die logische Verknüpfbarkeit einer Regel gegen die Verringerung des Falsifizierbarkeitsgrades von Theorien 3. Poppers Methodologie der Theorieevaluation und quasiempirische Annahmen

V. Methodologien und Formen der Theorie transition

221

233

252

1. Aspekte von Theorietransitionen

253

2. Der konservative Aspekt von Theorietransitionen: Grund-Typen und Abschwächungen

267

a) Drei Grund-Typen der Charakterisierung des konservativen Aspekts von Theorietransitionen

268

b) Die Abschwächung der „condition of derivability"

275

3. Bedeutungsverändernde Theorietransition a) Bedeutungsverändernde Theorietransition: Theorieexplikation

285 286

Inhalt

b) Bedeutungsverändernde Theorietransition: inkommensurable Theorien 4. Inkommensurabilität, Re-Semantifizierung und die Hermeneutik wissenschaftshistorischer Texte

VI. Wissenschaftstheorie und -historiographie: Die Überprüfung wissenschaftstheoretischer Konzeptionen anhand von Wissenschaftsgeschichte

290

303

330

1. Ziele, Probleme und Adäquatheitsbedingungen der Beziehung von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte

330

2. Laudans Metakriterium: Geltungspriorität und Korrigierbarkeit prä-analytischer Intuitionen

351

3. Lakatos' Metakriterium: Retrospektion und die Maximierung drittweltlicher Rationalität

370

4. Meta-Methodologie und Explikation

399

Literatur

417

Personenregister

540

Einleitung Ein beträchtlicher Teil wissenschaftstheoretischer Untersuchungen ist der Diskussion von Methodologien gewidmet; im Vordergrund stehen dabei meist Einzelprobleme. Vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit finden übergreifende Fragestellungen, wie die der Struktur, des Aufbaus und der Evaluation von Methodologien. Bei der Diskussion wissenschaftlicher Methodologien, die mitunter auch den Status von Theorien wissenschaftlicher Rationalität zugesprochen erhalten, drängt sich die Unterscheidung von zwei Phasen auf. Die erste Phase ließe sich danach durch drei Annahmen charakterisieren: (1) das Ziel, das die wissenschaftliche Methodologie orientiert — in der Regel Wahrheit von Theorien —, gilt als nicht problematisierungsbedürftig, auch wenn seine präzise Formulierung nicht unumstritten ist; (2) die Kriterien, Normen, aber auch Regeln der wissenschaftlichen Methodologie gelten im Hinblick auf das orientierende Ziel als logisch (definitorisch) fundiert; (3) zur Zurückweisung alternativer methodologischer Konzeptionen bedarf es lediglich der logischen Kritik, d.h. des Nachweises einer internen (logischen) Unvereinbarkeit. Alle drei Grundannahmen der ersten werden in der zweiten, weitgehend wissenschaftshistorisch ausgerichteten Phase der Methodologiediskussion — allerdings in unterschiedlichem Grad und aus unterschiedlichen Gründen — problematisiert: (1*) die eine (angemessene) wissenschaftliche Methodologie orientierende Zielsetzung gilt im Blick auf alternative und unvereinbare Zielsetzungen als begründungsbedürftig; (2*) eine allein logische (defmitorische) Fundierung ihrer Regeln, Normen und Kriterien erscheint als zu einschränkend und eine Ergänzung durch empirische oder quasiempirische Fundierungen als erforderlich; (3*) nicht zuletzt als Konsequenz aus (1*) und (2*) wird eine logische Kritik als nicht mehr ausreichend angesehen, um alternative methodologische Konzeptionen zu evaluieren. Diese zunächst naheliegende Darstellung des Übergangs zur vornehmlich wissenschaftshistorisch orientierten Methodologiediskussion ist als ,Erfolgsgeschichte4 in mehrfacher Hinsicht vereinfachend. Aus der retrospektiven Distanz lassen sich bei diesem Übergang zu einer neuen Methodologievorstellung zwei Prozesse erkennen: eine Entdifferenzierung der kritisierten Gegenpositionen und eine Entproblematisierung der Annahmen, auf denen die Plausibilität eines Großteils der Einwände beruht. In jüngeren philosophiehistorischen Analysen wurde begonnen, derartige Entdifferenzie-

10

Einleitung

rungen aufzuzeigen. Die vorliegende Untersuchungen reiht sich in diese Bestrebung ein, auch wenn aufgrund ihrer Schwerpunkte die einschlägigen Hinweise weitgehend in die Anmerkungen verbannt sind. Dagegen gehört die Problematisierung grundlegender Annahmen der wissenschaftshistorisch orientierten Methodologiediskussion mit zu ihren Schwerpunkten. Der Stand der Diskussion wissenschaftshistorisch ausgerichteter Methodologieüberlegungen hat zu neuen Problemstellungen geführt, für die unterschiedliche und kontroverse Lösungsangebote bestehen. I m Vordergrund stehen Fragen nach der Relevanz empirischer oder quasi-empirischer Annahmen — Annahmen, die selbst Gegenstand methodologisch angleiteter Bewertung sein können — für die Fundierung wissenschaftlicher Methodologien, sowie nach der Art ihres Beitrags zur Evaluation von Methodologien bzw. von „Theorien wissenschaftlicher Rationalität" z.B. anhand von Wissenschaftsgeschichte. Diese Fragen machen eine Klärung der Struktur und des Aufbaus von wissenschaftlichen Methodologien sowie der Konzepte ihrer Evaluation erforderlich, und sie zielen so auf eine sich entwickelnde Disziplin metamethodologischer Fragestellungen. Die vorliegenden Überlegungen verstehen sich als ein Beitrag zu einer solchen Disziplin; ihr Ziel ist es daher nicht, für die Relevanz oder Irrelevanz von Methodologien zu plädieren oder für eine bestimmte Methodologie zu werben. Die folgenden Schwerpunkte strukturieren den Argumentationsgang der vorliegenden Untersuchung: Ausführlich erörtert werden Fragen der partiellen Rationalisierung des Auffindens von Theorien, d.h. einer Methodologie der Theoriekonstruktion. Diese Erörterung knüpft an eine seit kurzem lebhaft behandelte Frage an, die im Schnittpunkt von Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Cognitive Science steht: Lassen sich rationale Strukturen bzw. Muster beim Auffinden von Theorien bzw. Problemlösungen entdecken und nutzen? Es wird erläutert, wie sich die Struktur von Methodologien als ein Z/e/Konditionen-Mittel-System auffassen läßt. Dieser Ansatz führt zu einer differenzierten Sicht der Preisgabe und Korrektur von Methodologien. Ergänzt werden diese Überlegungen durch Unterscheidungen zu Arten, zur Anwendung und zum normativen Status von Methodologien. Anhand der Rekonstruktion der Struktur einer elaborierten Methodologie, nämlich Poppers Methodologie der Theorieevaluation, werden die Annahmen erörtert, die in einer Methodologie die vorgenommenen Verknüpfungen und damit ihren Aufbau fundieren. Einen entscheidenen Aspekt der Erörterung bilden die Konsequenzen, die aus der Unvermeidbarkeit empirischer bzw. quasi-empirischer Annahmen bei der Fundierung von Methodologien resultieren.

Einleitung

Zentrales Problem einer Methodologie sowohl der Theorieevaluation als auch der Theoriekonstruktion ist der Übergang von einer Theorie zu einer neuen (Theorietransition). Das besondere Augenmerk gilt dabei dem Problem bedeutungsverändernder Theorietransitionen (Inkommensurabilitätsthesen) und den methodologischen Strategien zu seiner Lösung. Als eine Lösungsstrategie erweist sich die De- und Re-Semantifizierung von Theorien. Bei der Prüfung ihrer Akzeptabilität zeigt sich, daß die Inkommensurabilitätsthesen in einen Problemkontext eingelagert sind, dessen Annahmen mit einer solchen Strategie unvereinbar sind. Die weitere Analyse richtet sich auf diesen Problemkontext und macht deutlich, daß er zu einem Teil aus unbefragt entproblematisierten Annahmen der Wissenschaftshistoriographie und der Interpretation wissenschaftlicher Texte besteht. Das Problem der Evaluation (Überprüfung) von Methodologien anhand von Wissenschaftsgeschichte ist zwar Gegenstand mitunter heftiger Kontroversen, doch gibt es bislang kaum Ansätze, einen Argumentationsrahmen für die kritische Analyse vorgeschlagener Meta-Kriterien zur Evaluation von Methodologien bzw. von „Theorien wissenschaftlicher Rationalität" zu entwerfen und zu nutzen. M i t Hilfe eines in der vorliegenden Untersuchungen entwickelten Rahmens werden zwei einflußreiche Kriterienvorschläge analysiert und kritisiert. Zum Abschluß wird ein Typ meta-methodologischer Evaluationskonzeptionen allgemein charakterisiert, dem u.a. auch wissenschaftshistorische Meta-Kriterien angehören. Die vorliegende Untersuchung stellt eine stilistisch überarbeitete, vornehmlich im Anmerkungsteil ergänzte und um ein Kapitel — das in erweiterter Form separat veröffentlich werden soll — gekürzte Fassung meiner 1985 vom Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg angenommenen Dissertation dar. Danken möchte ich Herrn Wilhelm Schernus, der einen Teil des Manuskripts der ursprünglichen Fassung gelesen hat; vor allem aber Herrn Christian Weller, der das Manuskript mit Hinweisen für die stilistische Überarbeitung versehen hat. Mein Dank gilt fernerhin Herrn D.H. Kuchta vom Duncker & Humblot Verlag; nicht zuletzt Herrn Hartmut Bauer für Satz und Layout des Buches mit seinem PC-System Textline®. Insbesondere Herrn Norbert Simon vom Duncker & Humblot Verlag möchte ich schließlich danken, daß durch sein Engagement die Untersuchung in dem hier vorliegenden Umfang erscheinen konnte.

I. Entdeckungs-und Begründungszusammenhang Erst dann [wenn man Jorge Luis Borges' Erzählungen in einem Zuge liest] entdeckt man die Mechanismen seiner Schöpfung, die da am Werke sind, und eine solche Bloßstellung ist immer gefährlich, manchmal sogar für den Schöpfer fatal — wenn wir eben die invariante, die endgültige Struktur, den Algorithmus seiner kreativen Macht zu erfassen vermöchten. Der liebe Gott ist uns ein völliges Geheimnis vor allem deshalb, weil es uns prinzipiell unmöglich ist und für immer sein wird, die Struktur seines Schöpfungsaktes zu begreifen (das heißt eindeutig abzubilden). 1 Doch die Verfahrensweisen jener Genies [Rabelais, Cervantes, Molière und Hugo] nachahmen wollen, hieße sich zugrunde richten. Sie sind groß, gerade weil sie keine Verfahrensweisen haben.1 Zum Superklugen: Durch das häufige Beobachten nach Regeln in der Absicht, etwas erfinden zu wollen, bekommt die Seele eine verwünschte (Fertigkeit) Leichtigkeit, das Natürliche zu übersehen. 3 In der vorliegenden Untersuchung möchte ich nicht allein Methodologien im herkömmlichen Sinn — also in der Terminologie dieser Untersuchung Methodologien der Theorirevaluation — behandeln, sondern auch Methodologien der Theoriekonstruktion, d.h. Methodologien des Auffindens von Theorien. Diese Absicht könnte schon deshalb von vornherein als wenig erfolgversprechend und abwegig erscheinen, weil Methodologien der Theoriekonstruktion für einen Bereich gelten sollen — den Entdeckungszusammenhang von Theorien —, für den die Anwendung von Methodologien oder von besonderen Regeln, Methoden, Verfahren o.dgl. nicht nur als unerwünscht angesehen wird, sondern zumeist sogar als unmöglich erscheint. Der Entdeckungszusammenhang von Theorien gilt gemeinhin als einer methodologischen Regelung oder Rationalisierung nicht zugänglich. M i t Argumenten, 1 Lem 1971, S. 103. — Einschübe in eckigen Klammern bei Zitaten stammen ausnahmslos von mir. Hervorhebungen in Zitaten sind - falls nicht anders vermerkt immer die des Originals. 2 Gustave Flaubert in einem Brief an Louise Colet vom 27. März 1853 (abgedruckt in Flaubert 1964, S.244). 3 Lichtenberg 1984, D 473 (S. 162).

1. Vorbemerkung

13

die diese ablehnende Auffassung zu stützen versuchen, setzt sich Kapitel I I auseinander. 4 Die ausgiebige Beschäftigung mit der Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion ist nicht so sehr durch das Ziel eines einheitlichen und umfassenden Methodologiekonzepts begründet als vielmehr dadurch, daß die bei der Erörterung von Argumenten gegen die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion erzielten Ergebnisse sich als Anforderungen an ihre logische Struktur und ihren Aufbau deuten lassen. Die Frage, ob eine Methodologie der Theoriekonstruktion möglich ist, läßt sich im Zuge dieser Erörterungen durch zwei Teilfragen reformulieren. Erstens: Kann eine Methodologie der Theoriekonstruktion diese präzisierten Anforderungen erfüllen? — eine Antwort auf diese Frage wird über eine Analyse der logischen Struktur von Methodologien in Kapitel I I I unternommen. Zweitens: Gewährleisten diese Anforderungen, daß eine Methodologie der Theoriekonstruktion noch praktisch interessant sein kann? — eine Antwort auf die Aspekte dieser Frage, die sich vorab diskutieren lassen, findet sich in Kapitel IV und V. Die Erörterung der Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion stellt zum einen die Wiederaufnahme einer bis in die jüngste Zeit hinein in der Wissenschaftsphilosophie als definitiv beantwortet geltenden Frage dar, zum anderen bildet sie die heuristische Vorgabe für die Untersuchung allgemeiner Probleme von Methodologien. Vor der kritischen Prüfung von Argumenten gegen die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion werden in den folgenden drei Kapiteln eine Reihe von Präliminarien der Problemstellung erörtert.

1. Vorbemerkung zum Status von Methodologien Für die Erörterung der Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion soll angenommen werden, daß die in einer Methodologie festgehaltenen bzw. nach ihr zulässigen Verfahren, Regeln oder Kriterien nicht allein empirisch 5 geklärt werden können. 6 Diese Annahme impliziert erstens, daß über die Antwort auf die Frage, ob bestimmte Verfahren, Regeln oder Kriterien in eine bestimmte Methodologie (z.B. der Theoriekonstruktion) 4

Auf Argumente, die gegen die Erwünschtheit einer Methodologie der Theoriekonstruktion vorgebracht werden, gehe ich im Zusammenhang mit der Erörterung ihrer Möglichkeit ein (also in Kapiteill). - Auf Positionen, die sich generell gegen die Erwünschtheit einer methodologischen Regelung aussprechen, also auch des Begründungszusammenhangs, gehe ich nur am Rande ein (u.a. in Kapitel V.4.); zu einer solchen Position vgl. z.B. Philips 1973. 5 Zur Unterscheidung von „empirisch" und „quasi-empirisch" sowie zum Problem der, Selbstapplikation4 Kapitel IV.l. 6 Vgl. auch Thagard 1983, S.166.

14

I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Aufnahme finden, nicht allein durch empirische Erwägungen und Untersuchungen — z.B. über menschliches Problemlösungsverhalten — entschieden wird. Sie impliziert zweitens, daß nicht allein empirische Überlegungen ausschlaggebend sind für die Wahl der zu erreichenden Ziele und der zu realisierenden Konditionen einer Methodologie, an denen die Zulässigkeit sowie gegebenenfalls die Aufnahme von Verfahren, Regeln oder Kriterien orientiert ist. Das wiederum impliziert, daß z.B. wissenschaftshistorische oder psychologische Untersuchungen — auch wenn diese von stark divergierenden theoretischen Konzeptionen geleitet sind 7 — prinzipiell einen Beitrag zur Ausgestaltung und Evaluation von Methodologien leisten können. Diese Vorbemerkung berührt das an verschiedenen Stellen der Untersuchung anklingende Problem, welchen Beitrag empirische, insbesondere wissenschaftshistorische Untersuchungen und Überlegungen nicht nur für eine Methodologie der Theoriekonstruktion, sondern für Methodologien überhaupt zu erbringen vermögen. Dieser Beitrag könnte in der heuristischen Anregung zur Auffindung von Verfahren, in der Kritik solcher Verfahren, aber auch in der Kritik von Methodologien und ihrer Zielsetzungen bestehen: sei es bei der Prüfung ihrer Anwendbarkeit oder bei dem Versuch ihrer Optimierung, sei es bei der Kritik unterschiedlicher Methodologien der Theoriekonstruktion, die im Hinblick auf eine Methodologie der Theorieevaluation konkurrieren. 8 Das Problem, wie wissenschaftshistorische Untersuchungen und Überlegungen einen Beitrag zur Prüfung (Evaluation) von Methodologien (Rationalitätstheorien) leisten können, wird in Kapitel V I aufgenommen. Häufig findet sich die Erwartung ausgedrückt, daß empirische, etwa psychologische, Untersuchungen einen Beitrag für Methodologien zu leisten vermögen. So wird in einem Überblick zur Wissenschaftspsychologie als ein Aspekt, unter dem „psychologische Forschung zur Verbesserung der Wissenschaftspraxis beitragen könnte", der „heuristische Optimierungsaspekt" angeführt: „unter diesem Aspekt wäre nach den psychologischen Voraussetzungen und Bedingungen wissenschaftlicher Entdeckung, Erfindung und Erkenntnis zu fragen". 9 Die Relevanz empirischer — in diesem Fall psychologischer — Untersuchungen läßt sich zwar leicht postulieren, ignoriert wird aber zumeist, 7 Vgl. z.B. die bei Dörner 1976 vertretene Konzeption mit der bei Wertheimer 1943 (vgl. auch Anm.VI.233; Verweise auf Anmerkungen dieser Untersuchung erfolgen durch Kapitel- und Anmerkungsnummer). Die Untersuchung Wertheimers gehört zu den einflußreichsten für die (amerikanische) Kreativitätsforschung vornehmlich in den fünfziger Jahren (zu dieser Einschätzung auch McLeod 1963). 8 In dieser Vorbemerkung sowie in den folgenden Vorüberlegungen wird auf eine Terminologie vorausgegriffen, die erst in späteren Kapiteln explizit eingeführt und näher erläutert wird. 9 Brandstätter/Reinert 1973, S.371. Vgl. auch Materna 1965, S.29: „Die Ergebnisse [der Psychologie des Denkens] sind ohne Zweifel für die Methodologie wichtig, weil für das Finden der optimalen Methode gewiß das empirische Studium der Realisation von Methoden notwendig ist [...]."

1. Vorbemerkung

15

vor welchen theoretischen Problemen Versuche stehen, Methodologien oder methodologische Verfahren, Regeln oder Kriterien empirisch zu kritisieren, auch wenn das Ziel lediglich in ihrer Optimierung besteht. Ein Beleg für diese Probleme ist die anhaltende Auseinandersetzung über die angemessene Beziehung von philosophy of science und history of science. Auch wenn sich die Fronten zwischen den streitenden Parteien durch freundliche Gesten an die Adresse des jeweiligen Gegners seit geraumer Zeit aufzulockern scheinen, so dominieren doch Konzeptionen, die diese Beziehung eher nach dem Muster einer Einbahnstraße sehen - sei es in Richtung Wissenschaftsgeschichtsschreibung, 10 sei es in Richtung Wissenschaftstheorie 11 —, so daß nicht nur die Deutung dieser Beziehung als „marriage of convenience" 12 verständlich wird, sondern auch der Rat zur Keuschheit in einer oftmals wenig partnerschaftlichen Liaison. 13 Eine zunächst naheliegende Lösungsidee für das Problem einer empirisch fundierten Ausgestaltung und Evaluation von Methodologien möchte ich vorab als wenig hilfreich zurückweisen. Nach dieser Lösungsidee, die in Hans Albert ihren Vertreter findet, wären Methodologien als eine Art von Technologien aufzufassen. 14 U n d ebenso wie Technologien anhand von „Brükken-Prinzipien" 15 durch den Rückgriff auf die sie fundierenden erklärenden Theorien 4 kritisierbar und verbesserbar sein sollen, wären Methodologien im Prinzip zu kritisieren und zu verbessern. Sieht man von den recht vagen Ausführungen Alberts zu den erforderlichen „Brücken-Prinzipien"ab, 16 aber auch davon, daß bislang noch keine Methodologie als Beispiel der Anwendung dieser Idee untersucht und behandelt wurde, dann liegt die entscheidende Schwierigkeit in der Analogisierung der logischen Struktur und des Aufbaus von Methodologien und Technologien. U n d selbst dann, wenn hinreichende Ähnlichkeiten in der logischen Struktur und im Aufbau in einigen Fällen zugestanden werden können, besteht die Schwierigkeit, daß die Überlegungen zur Kritisierbarkeit und Evaluierbarkeit von Technologien sich in einem Stadium befinden, das für eine problemlösende Übertragung auf Me10

Ein Beispiel: Feigl 1970. Ein Beispiel: Kuhn 1977d. 12 Dieser Ausdruck wurde von Ronald N. Giere verwendet (vgl. Id. 1973) und später wieder aufgenommen (z.B. von McMullin 1976 oder Burian 1977). 13 Zu dieser Auseinandersetzung vgl. Kapitel VI. 14 Vgl. Albert 1970b, vor allem S.ll, Id. 1971b, vor allem S.124ss und S.141. Beide angegebenen Stellen beziehen sich zwar auf Hermeneutik, doch ergibt sich aus dem Kontext und späteren Arbeiten Alberts, daß er diese Auffassung nicht auf Hermeneutik beschränkt sieht. Jüngst hat Albert explizit vorgeschlagen, Methodologien als Technologien aufzufassen (Id. 1978, S.20, Id. 1982, S.52ss sowie Id. 1984). 15 Ausführungen zu „Brücken-Prinzipien 44 finden sich bei Albert 1968, S.76ss und passim, bzw. zu „Überbrückungsproblemen" bei Id. 1972 und Id. 1971, S.116ss. 16 Ein Beispiel - Sollen impliziert Können - erörtere ich in Kapitel VI.l S.331-34. 11

16

I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

thodologien nicht sonderlich vielversprechend erscheint. 17 Zudem vertritt Albert die These der Reduzierbarkeit einer Methodologie der Evaluation von (Sozial-)Technologien auf eine Methodologie der Theorieevaluation, wobei er Poppers Methodologie der Theorieevaluation favorisiert. Dadurch wird die Brauchbarkeit dieser Lösungsidee zusätzlich eingeschränkt: Poppers Methodologie würde die Evaluation ihrer eigenen Alternativen anleiten. 18 Vielleicht sieht die Zukunft der Beziehung zwischen Wissenschaftspraxis und Wissenschaftstheorie so aus, wie sie von Clifford Hooker entworfen wird: „ I n future, any interesting epistemology and theory of rationality for science will have to take the feedback from science into account. What we have is the logical form of a circle from an empiricist point of view; actually, it is a spiral extending along the historical time axis: epistemology evaluates scientific method, scientific discovery informs epistemology." 19 Gegenwärtig ist mit derartigen Ausblicken solange wenig gewonnen, wie es nicht gelingt, bei der Verknüpfung des — vermutlich — normativ aufzufassenden Konzepts des Evaluierens und des — vermutlich — deskriptiv aufzufassenden Konzepts des Informierens die Art und Verbindlichkeit solcher Informationen für wissenschaftstheoretische Konzeptionen festzulegen. Unterbleibt eine solche Festlegung, dann dürfte die Zukunft der Beziehung zwischen Wissenschaft und Wissenschaftstheorie ihrer Vergangenheit nicht unähnlich sein, in der — wie schon ein kurzer Blick in die Geschichte der Wissenschaftsphilosophie zu belegen vermag — es geradezu zum Topos geworden ist, wissenschaftstheoretische Überlegungen als durch die hervorragendsten Züge und die spektakulärsten Erfolge der Wissenschaften informiert vorzustellen. 20 17 Belege für den wenig fortgeschrittenen Stand der Forschung sind Weiss 1972, Spreer 1974 oder Podgórecki 1975. Differenzierte Überlegungen zur Beurteilung von Sozialtechnologien sind noch immer selten, vgl. z.B. Opp 1972, Kap.VII, oder Brocke 1978. Ebenso selten sind differenzierte Untersuchungen und Evaluationen vorliegender (Sozial-)Technologien, vgl. z.B. Römer 1972 oder Hofemann 1977. 18 Bei Albert tritt die Reduzierbarkeitsthese u.a. als These der „tautologischen Transformation" eines „theoretischen in ein technologisches System" auf (so z.B. Albert 1963, S.192; zu einer kritischen Untersuchung speziell der These der „tautologischen Transformation" Eichner 1974, S.98-124). Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß, wenn technologische Systeme nicht durch „tautologische Transformation" aus theoretischen Systemen hervorgehen, die Reduzierbarkeitsthese nicht oder nur trivial gelten wird (vgl. auch Braun 1982). Eine Formulierung dieser Vermutung findet sich in bezug auf den „non-statement view" wissenschaftlicher Theorien und seine Parallelisierung für die Rekonstruktion von (Sozial-)Technologien bei Alisch/Rösser 1978, S.53. Vgl auch die von Joseph Agassi vertretene Auffassung (Id. 1970 oder 1980b). Fernerhin Anm.III. 141 und III. 142 — Zu kritischen Überlegungen zur Identifizierung von Technologie und Methodologie vgl. Radnitzky 1980, S.47/48. 19 Hooker 1974, S.415. Hookers Überlegungen sind dabei im Rahmen seines „naturalistic realism" zu sehen (z.B. Id. 1975, S.206-227). 20 Als Beispiel mag der Hinweis auf die Relevanz gelten, die Moritz Schlick, Philipp Frank, Hans Reichenbach (der als „Leibphilosoph" Einsteins tituliert wurde), Her-

1. Vorbemerkung

17

Festzuhalten bleibt, daß — wie Hempel es formuliert hat — „Theorien der wissenschaftlichen Erkenntnis sowohl deskriptive wie auch normative Aspekte besitzen" und sie sich „auf empirische Informationen und auf normative Standards gründen 44 2 1 müssen. Auch wird man Hempel zustimmen können, wenn er behauptet, daß sich „methodologische Prinzipien nicht eindeutig in rein deskriptive und rein normative Sätze einteilen" 22 lassen. Wenn Hempel allerdings einräumt, daß die „philosophische Herausarbeitung oder Explikation methodologischer Prinzipien" eine „delikate wechselseitige Anpassung " 2 3 von empirischen Informationen und normativen Standards verlangt, dann stellt sich auch hier die Frage nach einer näheren Klärung der Beziehung der ,deskriptiven 4 und normativen 4 Komponente einer Methodologie. 2 4 Hempels Formulierung erinnert zugleich an Goodmans Antwort auf die Frage, wie deduktive oder induktive Regeln ihre Gültigkeit erfahren, nämlich durch die „gegenseitigen Abstimmungen zwischen [deduktiven oder induktiven] Regeln und anerkannten [deduktiven oder induktiven] Schlüssen 4425 , oder an John Rawls' — allerdings zunächst für ethische bzw. morali 1 bert Feigl, Karl Raimund Popper und viele andere der Einsteinschen Relativitätstheorie bei der Entwicklung des Logischen Positivismus/Empirismus (vgl. Friedman 1983, S.3-31) bzw. des Kritischen Rationalismus beimaßen und wie die Übereinstimmung mit dem neuesten Stand der Naturwissenschaften immer wieder und nicht nur gegen die „Schulphilosophie" — zu dieser Bezeichnung Zilsel 1930 — ausgespielt wurde. Als eines der vielen jüngeren Beispiele vgl. die Bemerkung bei Takeda 1971, S.675, zu der Wissenschaftsphilosophie James K. Feiblemans. — Nicht selten kommt es in diesem Zusammenhang zu erbitterten Auseinandersetzungen darüber, welchen wissenschaftstheoretischen Ideen eine Beeinflussung erfolgreicher wissenschaftlicher Theorien zuzugestehen ist. Ein Beispiel unter vielen ist auch hier Einsteins Theorie und der Einfluß der Philosophie Machs auf die Genese der speziellen Relativitätstheorie. So hegte z.B. die marxistisch-leninistisch orientierte Philosophie, die geraume Zeit für die Akzeptanz und Deutung der Theorie Einsteins brauchte, aufgrund Lenins Mach-Kritik lange Zeit die Befürchtung, daß die vermutete Beeinflussung Einsteins durch die Philosophie Machs dieser zu unerwünschter Anerkennung verhelfe (vgl. hierzu u.a. Müller-Markus I960, Joravsky 1961 und Graham 1972, S. 124-152, sowie zum Hintergrund auch Vucinich 1980; in jüngerer Zeit stellt sich dieses Problem nicht mehr, vgl. z.B. Hörz 1979 oder Delokarov 1977; ebenso hat sich auch die kritische Einstellung Mach gegenüber gemildert, vgl. als Beispiel die Arbeiten des Einstein-Forschers Friedrich Herneck - z.B. Id 1965 und 1976). Eine in gewisser Hinsicht offenbar ganz ähnlich motivierte Auseinandersetzung findet sich jüngst zwischen Elie Zahar und Paul Feyerabend (vgl. Zahar 1977 sowie Feyerabend 1980c und 1984, dazu auch Hentschel 1985). Neben der Untersuchung bei Broda 1979 vgl. hierzu vor allem Janich 1979 mit interpretationstheoretischen Überlegungen (zu weiteren Hinweisen auch Anm.VI.233). Zu Machs in diesem Zusammenhang immer wieder hervorgehobener Einstellung zu Einsteins Relativitätstheorie vgl. jetzt Wolters 1984 und vor allem die in Id. 1987 zusammengetragenen Indizien, die ein vollkommen neues Bild der Rezeption durch Mach ergeben. 21 Hempel 1982, S. 15. 22 Hempel 1982, S. 16. 23 Hempel 1982, S.15. 24 Schritte auf dem Weg einer solchen Klärung finden sich in Kapitel III.3 und IV.3. 25 Goodman 1955, S.87.

18

I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

sehe Normen formulierte — Konzeption des „reflective equilibrium". 2 6 Die Frage, die sich anschließt, lautet, ob es sich hierbei lediglich um die (empirische) Beschreibung von Prozessen der Bildung von Gleichgewicht oder Übereinstimmung handelt, die ihre Erklärung in psychologischen oder soziologischen Annahmen finden, oder ob die Bildung von Gleichgewicht oder Übereinstimmung normative Kraft besitzt. 27

2. Vorüberlegungen zum Problem der partiellen Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs Die folgenden Vorüberlegungen dienen dazu, die mit einer Methodologie der Theoriekonstruktion verbundenen Ansprüche zu formulieren. Zunächst ist die Annahme zweckmäßig, daß eine Methodologie der Theoriekonstruktion allein bezogen sein soll auf die sog. erste ,Stufe der Erkenntnisgewinnung 4 , deren Resultate in einer nachgeordneten Stufe (methodologisch) daraufhin beurteilt werden, inwiefern ihre Erkenntnisansprüche berechtigt sind. A u f diese sog. zweite ,Stufe der Erkenntnisgewinnung' soll sich eine Methodologie der Theorieevaluation beziehen. Theorieevaluationen bestehen in der Klassifikation von Theorien und in der Bewertung der klassifizierten Theorien anhand eines (komplexen komparativen oder quantitativen) Bewertungsmaßstabes. Sind keine Bewertungen vorgesehen, dann handelt es sich lediglich um Konzeptionen der Theorieklassifikation. Konzeptionen der Theorieklassifikation können für eine Methodologie der Theorieevaluation nützlich sein, wenn die zur Klassifikation vorgesehenen Merkmale für diese Methodologie relevant 28 sind und wenn in die Konzeption der Theorieklassifikation keine Annahmen eingehen, die mit Grundannahmen der betreffenden Methodologie unvereinbar sind, etwa Annahmen über den Bereich der Vergleichbarkeit von Theorien oder Teilen von Theorien. 29 Theorieklassifikationen können aber auch anderen Zwecken als denen der Evaluation von Theorien dienen. 30 26 Rawls 1971, S.48-51, Id. 1974/75 und Daniels 1979 haben unter Einbezug von Hintergrundtheorien dieses Konzept zum „wide reflective equilibrium" erweitert. 27 Zur Erörterung dieser Frage vgl. Kapitel VI.4. 28 Hierzu Kapitel III.2. und III.3, sowie Kapitel V.4, S.324/25. 29 Einen theoretisch reflektierten und praktisch illustrierten Versuch einer Theorieklassifikation findet man bei Madsen 1959 (auch Id. 1968). - Die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Theorieklassifikation und Theorieevaluation scheint bei Giesen/Schmid 1978 als „deskriptiver" und „methodologischer Theorienvergleich" bezeichnet zu werden. 30 In sozialwissenschaftlichen Untersuchungen finden sich Theorieklassifikationen zumeist mit nur recht vagen evaluierenden Absichten verknüpft. Die theorieevaluierenden Versuche in den Sozialwissenschaften leiden in der Regel an drei Mängeln: (a) die zur Theorieklassifikation herangezogenen Merkmale sind nicht oder nur unvoll-

2. Vorüberlegungen

19

Eine Methodologie zur Anleitung von Theorieevaluationen besteht aus zumindest drei Komponenten: (i) der Wert- bzw. Zielsetzung der Evaluation, (ii) einer Anzahl von Merkmalen zum klassifizierenden Vergleich von Theorien, die für die Wert- bzw. Zielsetzung und die vorliegenden Regeln, Kriterien oder Indikatoren als relevant gelten sowie (iii) in Verbindung mit der Wert- bzw. Zielsetzung der Methodologie einer Anzahl von Kriterien oder Indikatoren, die als Anleitungen zur Bewertung von Theorien vorgesehen sind, sowie unter Umständen einer Anzahl von Verfahren oder Regeln, die als Handlungsanleitungen dem Aufweis bewertungsrelevanter Merkmale von Theorien dienen sollen. 31 Beispiel für eine solche Methodologie der Theorieevaluation ist die Methodologie Poppers. 32 Die Bezeichnung der beiden Stufen der Erkenntnisgewinnung als context of discovery und context of justification fand zuerst bei Hans Reichenbach Eingang in die wissenschaftstheoretische Literatur. 33 In anderer Terminologie wurde indes auf eine solche oder eine ähnliche Unterscheidung bereits früher hingewiesen. 34 Das Akzeptieren der discovery-justification- Dichotomie für die Erörterung der Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion ständig auf den zur Bewertung herangezogenen Bewertungsmaßstab bezogen; (b) der Bewertungsmaßstab selbst wird nicht expliziert; schließlich (c) wird er nicht ,begründet4, d.h. die Präferenz gegenüber anderen Bewertungsmaßstäben wird nicht erörtert (Beispiele sind Horton 1966, Mulkay 1971 oder Smelser 1971). - Daß Theorieklassifikationen nicht unbedingt mit Theorieevaluationen verbunden sein müssen, belegt Hondrich 1976. Dort wird dem Theorienvergleich und der Theorieklassifikation die Aufgabe zugeschrieben, „bisher scheinbar unverbundene Theorien zu einer Theorie höheren Abstraktionsgrades zusammenzufassen44 (Id. 1976, S.20). Weitere Beispiele finden sich in Hondrich/Matthes (Hrg.) 1978. 31 Hierzu ausführlich Kapitel III. 32 Hierzu ausführlich Kapitel IV. 33 Vgl. Reichenbach 1938, S.6/7, sowie Id. 1951, S.259/60, und Id. 1947, S.2. — Reichenbach setzt diese Unterscheidung schon früher zur Abwehr von Einwänden gegen seine Induktions- und Wahrscheinlichkeitskonzeption ein (Id. 1935, dazu Popper 1935, S.170; vgl. auch den Kongreßbericht in Neurath 1935, S.396). 34 Hingewiesen wurde auf eine solche Dichotomie z.B. bei J.St. Mill, J.F.W. Herschel (vgl. Losee 1972, S.l 15ss), F.C.S. Schiller, Moritz Schlick (vgl. Philippi 1986, S.x/xi), Edmund Husserl, Max Weber (Id. 1903/06, S.119), William James (Id. 1880, S.186) oder Abel Rey (Id. 1907, S.10) sowie im Neukantianismus (z.B. Windelband 1882, S.24, Cohen 1883, Kap.1.6 und 7; auch Anm.1.62; vgl. fernerhin Gabriel 1986 zu Freges neukantianischem Hintergrund). Diese Hinweise sind allerdings nicht immer sehr Idar (Albert sieht in Id. 1987, S.76, bereits bei Aristoteles einen „ersten Ansatz44 für diese Dichotomie; vgl. aber Höffe 1976, S.xxxiii-xxxvii). So ist - um nur ein Beispiel anzuführen — die Position Whewells im Hinblick auf die discovery-justification- Dichotomie aufgrund der Interpretationsschwierigkeiten seines Werkes (vgl. Anm.II.86 und 11.130) nicht unumstritten. Hierzu bemerkt Robert E. Butts (Id. 1973, S.56/57 ): „With respect to Reichenbach's distinction between,context of discovery4 and,context of justification 4, Whewell was both historically and spiritually a pre-Reichenbachian.44 Butts fahrt allerdings ergänzend und damit die Schwierigkeit anzeigend fort: „Those of us for whom the very granting of a Ph.D. depended upon our acceptance of Reichenbach's distinction may find Whewell's talk about,logic4 and,discovery4 in the same breath philosophically intolerable in the extreme.44

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I. Entdeckungs-und Begründungszusammenhang

mag auf den ersten Blick zu konziliant sein. Scheint doch mit ihrer Akzeptanz jeder Versuch zum Scheitern verurteilt zu sein, für eine partielle Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs, und das heißt für die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion zu plädieren. Wie sich jedoch bei der Erörterung von Argumenten gegen die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion in Kapitel I I herausstellen wird, lassen sich mit dem Akzeptieren dieser Dichotomie problematische Voraussetzungen vermeiden. 35 Die entscheidende Konsequenz der Akzeptanz der discovery-justification- Dichotomie besteht für eine Methodologie der Theoriekonstruktion — kurz gesagt — in dem Verzicht auf Geltungsrelevanz; — genauer gesagt: in dem Verzicht auf Garantien dafür, daß die mit Hilfe einer solchen Methodologie gewonnenen Theorien bei ihrer Evaluation besser abschneiden als solche, die nicht mit ihrer Hilfe gefunden wurden. 36 Aufgrund von Überlegungen zu verschiedenen Arten von Methodologien, zu ihrer Anwendung und zur Beziehung zwischen Methodologien wird die discoveryjustification-Dichotomie schließlich überflüssig und durch eine andere Konzeption der Verbindung von Methodologien unterschiedlicher Art ersetzt. 37 Eine wichtige Konsequenz dieser neuen Sichtweise der discovery-justification-Dichotomie führt dazu, daß ein Plädoyer für die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion nicht mit Konzeptionen der sog. „new philosophies of science" in Konflikt stehen muß. Gerade von dieser Seite ist in jüngerer Zeit strenge Kritik an der discovery-justification- Dichotomie geübt worden. 38 Eine Annahme dieser Kritik besagt, daß die auf der zweiten ,Stufe der Erkenntnisgewinnung 4 vorliegenden Evaluationen von Erkenntnisansprüchen nur als inadäquat von Resultaten der ersten Stufe losgelöst rekonstruiert werden können. Diese Auffassung ist nicht neu; eine recht explizite Formulierung findet sich bereits bei Ernst Mach: „ A m vollständigsten und strengsten ist ein Gedanke begründet, wenn die Motive und Wege, welche zu demselben geleitet und ihn befestigt haben, dargelegt sind. Von dieser Begründung ist die logische Verknüpfung mit älteren, geläufigeren, unangefochtenen Gedanken doch eben nur ein Teil. Ein Gedanke, dessen Entstehungsmotive klargelegt sind, ist für alle Zeiten unverlierbar,, so lange letztere gelten, und kann andererseits sofort aufgegeben werden, sobald diese Motive als hinfällig erkannt werden. 44 3 9 35 Damit möchte ich mich nicht Argumenten anschließen, die zur Verteidigung dieser Dichotomie vorgebracht wurden; z.B. bei Feigl 1974, vor allem S.l/2, auch Ια. 1970, S.4 (dazu McMullin 1974), oder bei Salmon 1973, S. 10-13, sowie Id. 1970. Ein ausführlicher Verteidigungsversuch findet sich bei Siegel 1980b. 36 Vgl. Kapitel III.3. 37 Vgl. Kapitel III.2 und III.3. 38 Einen Überblick zu dieser Kritik liefert Suppe 1974, vor allem S.l 19-241, sowie Kisiel 1974; vgl. auch Amsterdamski 1975, Kap.III. 39 Mach 1902, S.8.

2. Vorüberlegungen

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Die Erörterungen in Kapitel I I und I I I werden zeigen, daß für eine Methodologie der Theoriekonstruktion weder ihre Geltungsrelevanz eine conditio sine qua non ihrer praktischen Relevanz noch ihre Geltungs Irrelevanz theoretisch zwingend ist. Die Möglichkeit ihrer Geltungsrelevanz setzt sie dem Verdacht aus, Beispiel des sog. genetischen Fehlschlusses zu sein. Es kann hingestellt bleiben, ob dieser Verdacht die (retrospektive) Anwendung einer Methodologie der Theoriekonstruktion zu Recht trifft; entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß es sich beim sog. genetischen Fehlschluß nicht um einen logischen Fehlschluß handelt. Von Wesley Salmon z.B. wird der genetische Fehlschluß wie folgt bestimmt: „ I t is the fallacy of considering factors in the discovery or genesis of a statement relevant, ipso facto , to the truth or falsity." 40 Daß es sich nicht um einen logischen Fehlschluß handelt, wird bei Salmon deutlich, wenn er die korrekten Fälle des „argument from authority" und des „argument against the man" von genetischen Fehlschlüssen abhebt, die er mit den fehlerhaften Fällen dieser beiden Argumentetypen identifiziert: „Both arguments [the argument from authority and the argument against the man], however, also have correct forms, which must not be confused with the genetic fallacy. The difference is this. Items within the context of discovery can sometimes be correctly incorporated into the context of justification by showing that there is an objective connection between that aspect of the discovery and the truth or falsity of the conclusion. The argument then requires a premise stating this objective connection. The genetic fallacy, on the other hand, consists of citing a feature of the discovery without providing any such connection with justification." 4 1 Danach ist ein genetischer Fehlschluß entweder ein Argument, das nicht die erforderlichen Prämissen der Verknüpfung des context of discovery mit dem context of justification aufweist, das mithin elliptisch ist, oder das unter seinen beide Kontexte verknüpfenden Prämissen solche aufweist, die falsch (oder nicht gerechtfertigt) sind. Da nicht gezeigt werden kann, daß alle Argumente, die kontextverknüpfende Prämissen aufweisen, entweder elliptisch oder falsch sind, besteht hier keine größere Bedrohung durch sog. genetische Fehlschlüsse als durch Fehlschlüsse z.B. in den Sozialwissenschaften, 42 den Geschichtswissenschaften 43 oder in anderen Disziplinen. 44 40

Salmon 1973, S.U. Salmon 1973, S.l 1/12. - Vgl. auch die Überlegungen bei Agassi 1977b. 42 Eine Auflistung verschiedener Arten von „fallacies" im Bereich der Sozialwissenschaften findet sich z.B. bei Hummell 1972, S.84ss. 43 Vgl. Fischer 1970. 44 Zur Untersuchung genetischer (Fehl-)Schlüsse vgl. auch Hanson 1967b sowie Meibaum 1974 (auch Id. 1975); zu einem anderen Versuch, dem ,genetischen Fehlschluß4 den Charakter eines Fehlschlusses zu nehmen Lavine 1962. — Das Pendant zur Behauptung eines genetischen Fehlschlusses im Bereich der wissenschaftlichen Produktion ist im Bereich der künstlerisch-literarischen Produktion der ,intentionale 41

22

I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Der Konflikt zwischen der Idee einer Methodologie der Theoriekonstruktion und den „new philosophies of science" besteht weniger in der Frage der Geltungsrelevanz oder -irrelevanz als vielmehr in der Annahme der partiellen Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs - ein Konflikt, der ebenso im Hinblick auf den größten Teil herkömmlicher wissenschaftsphilosophischer Konzeptionen besteht. Allerdings wird nicht bei allen Konzeptionen, die man den „post-positivistic" oder „new philosophies of science" zuzurechnen pflegt, die Annahme der Verbindung beider, Stufen der Erkenntnisgewinnung' mit der Annahme der Nichtrationalisierbarkeit des Entdekkungszusammenhangs verknüpft. So wurde Norwood Russell Hanson mit seinen wissenschaftsphilosophischen Arbeiten zu Beginn der sechziger Jahre zum Wegbereiter und Anknüpfungspunkt einer verstärkt allerdings erst in den siebziger Jahren einsetzenden Beschäftigung mit Fragen einer logic oder methodology of scientific discovery. 45 Die Konzeption Hansons stellt, trotz einer Reihe wichtiger Übereinstimmungen, in zweifacher Hinsicht eine Abweichung im Rahmen der „new philosophies of science" dar: Zum einen wird in ihr unter Rückgriff auf Charles S. Peirces Idee der Abduktion 4 6 eine partielle Rationalisierung des Entdeckungszusammenhangs angestrebt — ein Versuch, der sich u.a. die Kritik Feyerabends eingehandelt hat; 4 7 zum anderen wird in ihr an einer bestimmten Version der Trennbarkeit beider ,Stufen der Erkenntnisgewinnung' festgehalten — eine Annahme, die von Vertretern der „new philosophies of science" mitunter weitaus radikaler kritisiert wird. A u f den zuerst genannten Aspekt der Konzeption Hansons soll nicht näher eingegangen werden. 48 Hansons Version der Trennbarkeit beider ,Stufen der Erkenntnisgewinnung', also der zweite abweichende Aspekt, besteht in der Unterscheidung zwischen Fehlschluß' (zur Analyse dieses Fehlschluß-Vorwurfes gegenüber textwissenschaftlichen Bedeutungs-und Interpretationskonzeptionen Danneberg/Müller 1983). 45 Vgl. Hanson 1958, Kap.4, Id. 1961 sowie Id. 1961b; fernerhin Hanson 1965 und 1965b. Vgl. auch Anm.1.55. 46 Zu einer philosophiehistorischen und rezeptionskritischen Untersuchung von Peirces Abduktions-Konzeption als logic of scientific discovery Danneberg 1988. Will man die Abduktion in eine Tradition einordnen, so könnte es die auf Aristoteles zurückweisende der demonstratio quia sein (vgl. auch Anm.1.106). — Anknüpfungen an Peirces Abduktions-Konzeption finden sich bei Yildirim 1970, Willer/Webster 1970 (hierzu unten Kapitel II.3, S. 103/04), Kisiel 1979, Blackwell 1980, Gutting 1980b. In expliziter Anknüpfung an Peirces Abduktions-Konzeption stehen auch die Überlegungen zu einer „inference to the best explanation", vgl. Harman 1965 (dazu kritisch Ennis 1968 und die Replik bei Harman 1968, kritisch auch Achinstein 1971, S.l 19-131); weiterführende Überlegungen zu dieser Art des Schlusses finden sich bei Thagard 1978, beachtenswert sind die kritischen Hinweise bei Fumerton 1980. 47 Vgl. Feyerabend 1961, darauf repliziert Hanson 1961c. 48 Ein Teil der kritischen Einwände gegen Peirces Abduktions-Konzeption läßt sich auch gegen Hansons Konzeption wenden (zu diesen Einwänden Danneberg 1988); auch Anm.1.56.

2. Vorüberlegungen

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,,(Γ) reasons for accepting a particular, minutely specified hypothesis H, from (2') reasons for suggesting that, whatever specific claim the successful Η will, nonetheless, be a hypothesis of one kind rather than another." 49 M i t dieser Unterscheidung hat Hanson neuen Versuchen der Aufspaltung des Entdeckungs- und Begründungszusammenhangs — insbesondere der Abkehr von der Dichotomisierung und der Wendung zu einer Trichotomisierung — in den siebziger Jahren die Richtung gewiesen. Das zeigen mehr oder weniger deutlich die Vorschläge von Peter Achinstein, 50 Gary Gutting, 5 1 Kenneth Schaffner 52 oder Karl Kordig, 5 3 auch wenn im Zuge dieser Anknüpfung Aspekte von Hansons Konzeption mitunter sehr bestimmt kritisiert und zurückgewiesen werden. 54 Kritik hat die Entwicklung und Ausgestaltung von Hansons Konzeption einer logic of scientific discovery von Anfang an begleitet 55 und beeinflußt. 56 Hier soll lediglich die Kritik Peter Alexanders herausgegriffen werden, da sich an ihr leicht ein grundlegendes Problem einer (partiellen) Rationalisierung des Entdeckungszusammenhangs aufzeigen läßt. Ergebnis der Kritik Alexanders an Hansons Konzeption einer logic of scientific discovery ist, daß das von Hanson analysierte und seit Peirce als Paradeexempel für die Abduktion 49 Hanson 1961, S.622. - Die Relevanz der Korrektur, die Hanson im Laufe der Zeit an der Formulierung „reasons for suggesting Η in the first place" vorgenommen hat und die ihn zu der hier zitierten Formulierung geführt hat, wird bei der Erörterung des Prognose-Arguments gegen die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion deutlich werden (vgl. Kapitel Π.4.). 50 Vgl. Achinstein 1970 und 1971. 51 Vgl. Gutting 1972/73 (Gary Gutting hat später seine Auffassung modifiziert, vgl. Id. 1980b und 1980c). 52 Vgl. Schaffner 1974b. 53 Vgl. Kordig 1978. 54 Vgl. fernerhin Salmon 1967, S. 144, und Id. 1970, sowie Nickles 1980 und Curd 1980. 55 In Id. 1965, S.50, stellt Hanson rückblickend fest, daß er „different ingredients" einer logic of scientific discovery an verschiedenen Stellen behandelt und auch zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark betont habe: „ A Logic of Discovery should concern itself with the scientists' actual reasoning which C. proceeds retroductively, from an anomaly to B. the delineation of a kind of explanatory [hypothesis] H which A. fits into an organized pattern of concepts." Der Aspekt Α. wird m Hanson 1958, der Aspekt Β. in Id. 1961 und der Aspekt C. in Id. 1961b als Schwerpunkt behandelt. In der hier zitierten Arbeit widmet sich Hanson vornehmlich dem Aspekt C. (auch Id. 1965b). 56 Recht früh fand eine Auseinandersetzung zwischen Hanson und Donald Schon statt, die Hanson zu Korrekturen veranlaßte (Id. 1958c, dazu Schon 1959 sowie Hanson 1960). Zur späteren Kritik vgl. u.a. Alexander 1965, Achinstein 1970, S. 117-120 (dazu Koslow 1970, Bowman 1970 sowie Achinstein 1970b), auch Id. 1987, Monk 1977, Pferry 1979, Schaffner 1980, S.173-179, Curd 1980, S.212-215, Thagard 1981, sowie zusammenfassend Nickles 1980, vor allem S.22-25, Lugg 1985.

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I. Entdeckungs-und Begründungszusammenhang

geltende Kepler-Beispiel 57 sich auch rekonstruieren läßt als „sukzessive Anwendung der hypothetisch-deduktiven Methode, um sukzessive Falsifizierungen von möglichen Hypothesen" zu erzielen. 58 Zwar ist diese Kritik für einen Versuch der partiellen Rationalisierung des context of discovery in der Form einer Methodologie der Theoriekonstruktion keineswegs so destruierend wie Alexander anzunehmen scheint, doch lenkt sie die Aufmerksamkeit auf ein Problem, dem ich eine verallgemeinerte Formulierung geben möchte: Jede (partielle) Rationalisierung des context of discovery kann prinzipiell auch als Variante eines trial-and-error-Prozesses rekonstruiert oder aufgefaßt werden. Ein wichtiger Sonderfall dieses Problems ist, daß jede retrospektive Anwendung einer (partiellen) Rationalisierung durch eine Deutung als trial-and-error-Prozeß ersetzt werden kann. 5 9 57

Zu weiteren Beispielen vermeintlich abduktiver Entdeckungen vgl. neben Hanson 1958 z.B. Huff 1975, der in der Entwicklung von Hypothesen zur Selbstmordneigung bei Durkheim ein Beispiel für ein abduktives Vorgehen erkennt, oder Campbell 1981, die dasselbe für die Entwicklung von J.G. Kölreuters Theorie sieht, oder Thagard 1980, S. 188/89, für den Darwin seine Theorie der natürlichen Selektion abduktiv gewonnen hat (dazu auch Holmquest 1986). 58 59

Alexander 1965, S.208.

Der Sonderfall bezieht sich auf die Art und Weise, wie wissenschaftshistorische Entdeckungsprozesse interpretiert oder rekonstruiert werden können. In dieser Hinsicht scheinen wissenschaftshistorische nicht weniger als literarische Texte wehrlose und geduldige Opfer zu sein. Die Vielzahl z.T unvereinbarer Deutungen gerade von Keplers Darstellungen des Vorgehens bei seiner Entdeckung bietet ein kaum weniger verwirrendes Bild als z.B. die spektakulärsten Interpretationsdifferenzen in der Kafka-Philologie: So ist Keplers Entdeckung der elliptischen Marsbahn für John F.W. Herschel (Id. 1830, 178) „deduced [...] entirely from a comparison of observations with each other, with no assistance from theory"; John Stuart Mill sieht in ihr eher eine „Beschreibung" als eine „Induktion" (Id. 1872, S.346, hierzu auch die kritische Bemerkung bei Wilson 1974, S.242-244); Whewell hingegen vermutet, „Kepler bound together the facts by superinducing upon them the conception of an ellipse" (Id. 1849, hierzu auch die kritischen Bemerkungen bei Wilson 1974, S.244-247); Ernst Friedrich Apelt sieht in Keplers Vorgehen einen „induktiven Schluß" in „kategorischer Form" (Id. 1854, S. 17-22, sowie S. 142-149, auch Id. 1849, S.45-70, und Id. 1851, S.402-445); W.S. Jevons hält es für ,hypothetisch^deduktiv' (Id. 1874, S.578), während Karl Pearson in ihm eine „discplined imagination" am Werk sieht, „analysing a laborious and minute classification of facts" (Id. 1892, S.98); nach Mach kann Kepler „sehen, daß der Mars in einer geschlossenen ovalen Bahn sich bewegt", und es „muß aber aus dem eigenen Gedankenvorrat selbsttätig" etwas hinzukommen, so daß „die versuchsweise für die Marsbahn angenommene Ellipse Keplers eigene Konstruktion" ist (Id. 1905, S.316, bei Mach 1883, S.179, heißt es: „Kepler hat aus Tychos Beobachtungen und aus seinen eigenen drei empirische Gesetze fiir die Bewegung der Planeten um die Sonne abgeleitet [...]." Soweit ich sehe, blieb diese Stelle in allen neun deutschsprachigen Auflagen — mit Ausnahme der Zeichensetzung — unverändert; in der englischen Ubersetzung heißt es: „Kepler had deduced"); für Peirce und Hanson - wie bereits gesagt - handelt es sich um das Paradebeispiel einer Abduktion (kritisch zu Peirce ist Wilson 1974, S.247-49; zu Curtis Wilsons eigener umfangreicher Analyse Id. 1974, S.255-257, und vor allem Id. 1968 und Id. 1975; zur Kritik an Hanson auch Pälter 1978 — eine gegenüber Hansons Ausführungen verfeinerte Rekonstruktion hat Kleiner 1983b vorgelegt); Popper hält Keplers Gesetze für „wild

2. Vorüberlegungen

25

Dieses Problem führt zum einen zu der Frage, welche Anforderungen an den Charakter einer Methodologie für den Entdeckungszusammenhang zu richten sind, und zum anderen zu der Frage, wie alternative wissenschaftshistorische Rekonstruktionen oder Darstellungen wissenschaftlicher Entdekkungsprozesse beurteilt werden können. Die Kritik Alexanders wäre für eine Methodologie der Theoriekonstruktion erst dann bedrohlich, wenn es nachzuweisen gelänge, daß sich die Anforderungen an den Charakter einer (partiellen) Rationalisierung des Entdeckungszusammenhangs nicht (befriedigend) klären lassen. Ein solcher Klärungsversuch wird in Abschnitt III.3 unternommen. Die vorangegangenen Vorüberlegungen besagen, daß für die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion in Verbindung mit der Unterscheidung zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang allein die Annahme der wie auch immer eingeschränkten Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs ausschlaggebend ist. Die Annahme der Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion gerät mithin lediglich mit der Annahme der vollständigen Nichtrationalisierbarkeit des Entdekkungszusammenhangs in Konflikt, nicht aber von vornherein mit der Akzeptanz einer Unterscheidung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang. Dieses Ergebnis der Vorüberlegungen zu einer logic of discovery im Hinblick auf die discovery-justification- Dichotomie soll im zweiten Teil dieses Abschnitts systematisch entwickelt werden. conjectures" (Id.l972d, S.358, Anm.10), während Theodore Kisiel Keplers Vorgehen „in the terms of the circular movement that hermeneutics describes" deutet (Id. 1973, S.277); für Richard Monk ist Keplers Entdeckungsprozeß einer der offensichtlichsten Fälle einer Entdeckung durch „error reduction" (Id. 1980, S.353) und nach Gerd Buchdahl schließlich läßt sich Keplers Vorgehensweise weder in ein induktives, ein deduktiv-hypothetisches noch ein abduktives Schema einordnen (Id. 1972/73, S.293/94; Buchdahl hat als spezielles Beispiel Keplers Versuch der Aufstellung eines Brechungsgesetzes untersucht). Vergessen werden sollte zum Abschluß auch nicht Keplers eigene Hypothese-Konzeption (hierzu u.a. Westman 1972/73 und Id. 1975b, auch Jardin 1984; sowie eine ältere Deutung bei Prantl 1875). Bei dem zur Illustration gewählten Beispiel soll allerdings weder behauptet werden, daß es sich in allen Fällen um unvereinbare Interpretationen handelt, noch daß die zitierten Autoren mit gleicher Umsicht ihre Deutungen vorgebracht und zu begründen versucht haben (so ist zumindest bei einem der genannten Autoren vermutet worden, daß er die einschlägigen Texte nicht gelesen habe; ein anderer Autor hat freimütig eingestanden, den lateinischen Text der Astronomia Nova nicht zu beherrschen und daher ausschließlich auf Sekundärliteratur angewiesen zu sein). Auf derartige Interpretationsdifferenzen, die sich natürlich nicht nur zu Kepler finden lassen, sind auf den ersten Blick zwei sich ausschließende Reaktionen naheliegend: eine mehr optimistische, die darauf vertraut, daß der Fortgang einschlägiger exegetischer Forschung prinzipiell zu einer Entscheidung über die kontroversen Deutungen führt, die sich im wesentlichen auf die Evidenz der Texte selbst zu stützen vermag; dem steht eine mehr pessimistische gegenüber, die befürchtet, daß weder ein Konsens über die Antwort auf die Frage besteht oder erzielt werden wird, was überhaupt als Bedeutung von Texten anzusehen ist, noch über die Antwort auf die Frage, wie über unterschiedliche Deutungen und Rekonstruktionen zu entscheiden ist. Vgl. zu diesem Problem Kapitel V.4. und Kapitel VI.

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Obwohl die Formulierungen der discovery-justification- Dichotomie in der Regel vage bleiben, 60 lassen sich die Erörterungen dieser Dichotomie auf die folgenden beiden Fragen beziehen: (I) auf die Frage, ob der Prozeß der Theorieauffindung Geltungsrelevanz besitzt, d.h., ob das Vorgehen, das zu der Aufstellung einer Theorie führt, einen Schluß auf ihre wissenschaftliche Güte erlaubt; (II) auf die Frage, ob der Prozeß der Theorieauffindung rational oder rationalisierbar ist, d.h., ob die Theorieauffindung ein (partiell) methodisches oder geregeltes Vorgehen ist oder als ein solches aufgefaßt werden kann. Läßt man unberücksichtigt, ob der Begründungszusammenhang geltungsrelevant ist, dann können für die discovery-justijïcation-Dichotomie die folgenden drei Annahmen als charakteristisch gelten: (a) für die Evaluation der formulierten Theorie hat das, was sich im context of discovery dieser Theorie abgespielt hat, keine Berücksichtigung zu erfahren; d.h., das Vorgehen, das zur Aufstellung einer Theorie geführt hat, erlaubt keinen Schluß auf ihre wissenschaftliche Güte. Der Entdeckungszusammenhang ist mithin geltungsirrelevant. A u f diese Annahme beziehe ich mich im weiteren als - t A ; (b) der context of justification ist (partiell) rationalisierbar, d.h. er ist oder kann regelgeleitet sein. A u f diese Annahme beziehe ich mich im weiteren als B; (c) die Theorieauffindung ist weder ein (partiell) methodisches oder geregeltes Vorgehen noch kann sie (adäquat) als ein solches rekonstruiert oder aufgefaßt werden. Der Entdeckungszusammenhang ist mithin weder rational noch rationalisierbar. A u f diese Annahme beziehe ich mich im weiteren als -, C. Zwar charakterisieren diese drei Annahmen die discovery-justificationDichotomie, doch können sie in unterschiedlichen Konzeptionen realisiert sein. Für diese Konzeptionen liegen zwei Standardmodelle vor. Das erste, das Sukzessions-Modell, dichotomisiert,horizontal': Die Phase der Entdeckung führt zur Formulierung einer Theorie; allein die zweite Phase, die mit der formulierten Theorie einsetzt, ist rationalisierbar bzw. logisch rekonstruierbar, und nur insofern sie das ist, ist sie geltungsrelevant. 61 Das zweite, das Ebenen-Modell, dichotomisiert ,vertikal': zum Begründungszusammenhang gehört das, was sich von den vorliegenden Beziehungen einer Theorie rationalisieren bzw. logisch rekonstruieren läßt, und insofern sie das sind, sind sie geltungsrelevant. 62 60

Vgl. neben Nickles 1980, S.8s, vor allem Hoyningen-Huene 1987. Illustriert wird dieses Modell durch die Auffassung Poppers (z.B. Id. 1934, S.6; vgl. auch Anm.1.254). 62 Illustriert wird dieses Modell durch die Auffassung Reichenbachs (z.B. Id. 1938, S.6/7; vgl. auch das Zitat in Anm.1.255); zur „rationalen" oder „logischen Rekon61

2. Vorüberlegungen

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Die Dichotomisierungen des Sukzessions- und Ebenen-Modells werden durchweg als koextensiv angesehen, so daß ihre theoretischen Differenzen zumeist übersehen werden. 63 Für die Erörterung der Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion bieten beide Modelle allerdings einen interessanten theoretischen Unterschied. N i m m t man an, die logisch rekonstruierbaren (rationalisierbaren) Beziehungen einer Theorie seien nicht koextensiv mit den geltungsrelevanten Beziehungen dieser Theorie, dann kann sich dieser Rationalisierbarkeits-Überhang bei dem Sukzessions-Modell per definitionem nicht auf die Theorieentdeckung erstrecken, während das beim Ebenen-Modell prinzipiell der Fall sein kann. Dadurch kann das Ebenen-Modell i m Gegensatz zum Sukzessions-Modell zu einer Ersetzung der Dichotomisierung durch eine Trichotomisierung des Entdeckungs- und Begründungszusammenhangs führen: Der geltungsirrelevante Rationalisierbarkeits-Überhang erstreckt sich auf den Bereich der Theorieentdeckung. Es kommt mithin zu einer Unterscheidung von nichtrationalisierbarem und rationalisierbarem Entdeckungszusammenhang sowie rationalisierbarem (und geltungsrelevantem) Begründungszusammenhang. Beide Modelle sind mithin bestenfalls faktisch koextensiv; es sei denn, es ließe sich zeigen, daß eine partielle Rationalisierung des Entdekkungszusammenhangs — und mithin eine Methodologie der Theoriekonstruktion — prinzipiell unmöglich ist. Formulierungen von Anhängern der discovery-justification- Dichotomie erwecken nicht selten den Anschein, als seien die oben formulierten Fragen (I) und (II) nicht unabhängig voneinander. So wird z.B. angenommen, daß-. C aus -ΛΑ (und Β) folge. Tatsächlich wird bei solchen Annahmen auf keineswegs zwingende zusätzliche Prämissen zurückgegriffen, auf die bei der Erörterung von Argumenten gegen die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion zurückzukommen sein wird. Wenn die Antworten auf die Fragen (I) struktion" vgl. auch Kamiah 1980. - Vorweggenommen findet sich das Modell Reichenbachs bei Hermann Lotze, z.B. (Id. 1883, S.63) in seiner Charakterisierung von „Vorstellungsverlauf" und „Denken", das sich nicht damit begnügt, „die Vorstellungen in denjenigen Verbindungen hinzunehmen, in welche sie der Zufall des physischen Mechanismus gebracht hat. Vielmehr ist das Denken eine fortwährende Kritik, welche der [denkende] Geist an dem Material des Vorstellungsverlaufs ausübt, indem er die Vorstellungen trennt, deren Verknüpfung sich nicht auf ein in der Natur der Inhalte liegendes Recht der Verbindung gründet, während er diejenigen Vorstellungen, deren Inhalt eine Verknüpfung duldet oder verlangt, nicht nur verbunden läßt, sondern ihre Verbindung zugleich in einer neuen Form der Auffassung und des Ausdrucks rekonstruiert, aus welcher das Recht dieser Verknüpfung sich ersehen läßt." 63

Ausnahmen sind Curd 1980, S.209/10, sowie Nickles 1980, S. 1 Iss, der sich dabei auf Martin Curd bezieht. Es ist allerdings nicht klar, ob beide dieselbe Unterscheidung meinen wie die, die hier mit dem Sukzessions-und dem Ebenen-Modell getroffen wird. Sowohl Curd als auch Nickles sind zudem der Ansicht, Reichenbach sei ein Verfechter einer logic of discovery gewesen (vgl. Curd 1980, S.209, sowie Nickles 1980, S.15). Vgl. hierzu aber Anm.1.255.

28

I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

und (II) unabhängig voneinander sind, dann ergeben sich die folgenden Kombinationsmöglichkeiten (wobei der Aspekt der Geltungsrelevanz bzw. -irrelevanz des Begründungszusammenhangs unberücksichtigt bleibt) :

(1) (2) (3) (4) (5)

(6) (7)

(8)

( -Ά / ( ->A / ( AI ( -Ά ι (-,ΑΙ ( A/ ( A/ ( A I

-,Β / -,C ) -,Β j C) -,Β I C )64 Β/ c ; 65« Β / -,C )66 Β/ CJ« B/^Cr -,ΒI -,C 69 )m

Die Charakterisierung von Konzeptionen der discovery-justification- Dichotomie anhand der Beantwortung der Fragen (I) und (II) ist nur als ein erster Hinweis zu verstehen. Anhand dieser Antworten lassen sich die vorliegenden Konzeptionen schon deshalb nicht hinreichend charakterisieren, weil bislang nicht geklärt ist, was,partiell rationalisierbar' heißt, aber auch, weil im Falle der Kombinationen (4) und (6) nicht klar ist, welcher Grad an Übereinstimmung bei der partiellen Rationalisierung sowohl des Entdekkungs- als auch des Begründungszusammenhangs vorliegen muß. 7 0 64

Für die Kombinationen (1), (2) und (3) habe ich keine Beispiele finden können. Vgl. z.B. die Arbeiten Hansons. 66 Standardbeispiel hierfür ist die Auffassung Poppers. 67 Diese Kombinationsmöglichkeit läßt sich mit Auffassungen identifizieren, nach denen - wie es bei Laudan 1980b, S.176, heißt - „tf logic of discovery wouldfunction 65

epistemologically 68

as a logic of justification

Dieser Kombinationsmöglichkeit läßt sich - wenn auch mit Vorbehalten - die Auffassung Kuhns zuordnen (vgl. hierzu auch Hutcheson 1980, kritisch Siegel 1980, S.309—313). Zu Kuhns Sicht der Unterscheidung des Entdeckungs- vom Begründungszusammenhang Id. 1962, S.26/27, sowie Id. 1977b, S.429. 69 Dieser Kombinationsmöglichkeit läßt sich - ebenfalls mit Vorbehalten - die Auffassung Feyerabends zuordnen (zu Feyerabends Sicht vgl. u.a. Id. 1976, S.230-33). Diese Zuordnung kann sich z.B. auf Feyerabends Versuche berufen, die „beschränkte Gültigkeit methodologischer Regeln" aufzuzeigen, sowie auf seine Ansicht (Id. 1980, S.9): „Kluge Menschen halten sich nicht an Maßstäbe, Regeln, Methoden, auch nicht an nationale' Methoden [...]." Vgl. auch Anm.V.313 70 Das führt u.a. dazu, daß mit (4) eine recht heterogene Gruppe charakterisiert wird. Ihr wäre z.B. auch die Auffassung zuzurechnen, die Peter Caws vertritt (Id. 1969, S.1380): „In the creative process, as in the process of demonstration, science has no special logic but shares the structure of human thought in general, and thought proceeds, in creation as in demonstration, according to perfectly intelligible principles. Formal logic [...] represents a refinement and specialization of the principles of everyday argument; the logic of scientific discovery, whoserigorous formulation is yet to be

2. Vorüberlegungen

29

So wirbt Schaffner — um nur ein Illustrationsbeispiel herauszugreifen — im Rahmen einer wissenschaftshistorischen Fallstudie für die Behauptung, daß im context of discovery und im context ofjustification nur eine Logik zur Anwendung komme. Da nach Schaffner diese Logik rationalisierbar ist, 71 kommen für seine Konzeption allein die Kombinationen (4) und (6) in Betracht. Wollte man in diesem Fall noch zwischen einem context of discovery und einem context of justification unterscheiden, so wären die Anwendungsunterschiede dieser einen, in beiden Kontexten zur Anwendung gelangenden Logik aufzuzeigen (insbesondere auch dann, wenn -, A akzeptiert wird). Schaffner liefert für die Übereinstimmungen und Unterschiede Hinweise: „The contention that there is essentially the same logic, i.e., forms of inference and types of general normative considerations, involved in both discovery and justification aspects of science does not obliterate the most important distinction between having the data or evidence and not having the hypothesis; and having the data or evidence and the logic and the hypothesis. A commitment to a logic of discovery that is, in many essentials, identical to a logic of justification does not entail the thesis that such a logic of discovery algorithmically generate the hypothesis, even if the reasoning to the hypothesis should be strictly deductive. The fact that the generation of new explanatory hypotheses is non-algorithmic, however, does not entail the fact that such generation is illogical, for even deductions in formal logic are nonalgorithmic." 7 2 Den Ausführungen Schaffners läßt sich entnehmen, daß die eine, in beiden Kontexten zur Anwendung gelangende Logik (i) normativ ist und weder (ii) ein algorithmisches Verfahren aufweisen noch (iii) vollständig deduktiv sein muß. Von diesen drei Merkmalen wurde bislang lediglich der normative Charakter einer solchen Logik in der Vorbemerkung angesprochen. A u f die beiden weiteren Merkmale wird in Kapitel I I zurückzukommen sein. Der Anwendungsunterschied der einen Logik in beiden Kontexten läßt sich bei Schaffner als ein pragmatischer 73 Unterschied auffassen: „ I n the [...] view presented here, scientific discovery and scientific justification represent the application in contexts, which are primarily telically distinguishable , of a fundamentary unitary logic of scientific inquiry." 7 4 achieved (not that it holds out the hope of completeness once entertained by deductive logic), will similarly prove to be a refinement and specialization of the logic of everyday invention. The important thing to realize is that invention is, in its strictest sense, as familiar a process as argument, no more and no less mysterious. Once we get this into our heads, scientific creativity will have been won back from mystery^nongers." 71 Vgl. Schaffner 1974b, S.384. 72 Schaffner 1974b, S.383. 73 Dieser Ausdruck bietet sich hier aufgrund der Ähnlichkeit zur „Pragmatischen Relation des Gegebenseins" beim Vorliegen von Erklärungs- bzw. Prognoseargumenten an (vgl. Stegmüller 1969, S.202). 74 Schaffner 1974b, S.385 (Hervorhebung von mir), auch S.384.

30

I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Eine ebenfalls pragmatische Unterscheidung, nach der im wesentlichen dieselben Regeln oder Kriterien für beide Kontexte gelten sollen, jedoch die Anwendungsbedingungen und Zielsetzungen differieren, vertritt Achinstein, der vor und nach dem Test einer Theorie unterscheidet. 75 Einen graduellen Unterschied nimmt dagegen Kordig an. Nach ihm sind es im wesentlichen dieselben Kriterien, die sowohl für die „plausibility" als auch die „acceptability" von Hypothesen gelten, doch müssen im letzteren Fall die Gründe ,stärker' als im ersten sein. 76 In Kapitel III.3. wird ein nichtpragmatischer und nichtgradueller Unterscheidungsvorschlag formuliert. A m Ende der Vorüberlegungen soll ein Hinweis zur Struktur und zum systematischen Aufbau einer Methodologie im allgemeinen und einer Methodologie der Theoriekonstruktion im besonderen stehen. Dieser Hinweis bezieht sich auf den Zusammenhang der Verfahren, Regeln oder Kriterien, durch die der jeweilige Kontext eine (partielle) Rationalisierung erfahren soll. Das Spektrum eines solchen Zusammenhangs reicht von „Hilfestellungen", „Schlußweisen" usw., die — oftmals als ,Daumenregeln' etikettiert — so gut wie keine Systematisierung erfahren, bis zur Planung und zum Entwurf einer „systematischen Heuristik" 7 7 oder einer „logic of scientific discovery". 78 Unabhängig davon, ob eine (partielle) Rationalisierung nicht nur des Entdeckungszusammenhangs als Ansammlung vereinzelter und unzusammenhängender Verfahren, Regeln und Kriterien oder als (relativ) umfangreiche und zusammenhängende Kollektion auftritt, ist solchen Vorschlägen gemeinsam, daß sie in irgendeiner Weise einschränkend wirksam sein sollen: sei es, indem — zumeist recht vage und damit wenig effektiv — dem Wissenschaftler empirisch motivierte Verhaltenseinschränkungen nahegelegt werden, 79 sei es, indem — häufig nicht weniger vage, zumeist aber wesentlich aufschlußreicher — zugleich auf Merkmale der zu konstruierenden oder zu etablierenden Theorien rekurriert wird. 8 0 A u f diesen einschränkenden Aspekt einer Methodologie (der Theoriekonstruktion) wird in Kapitel III.2 und Kapitel V eingegangen.

75 Vgl. Achinstein 1971, S. 137-41. 7 6 Vgl. Kordig 1978, auch schon Id. 1975, S.284. 77 Der Ausdruck „systematische Heuristik" findet sich in den Arbeiten Johannes Müllers (z.B. Id. 1968). 78 Der Ausdruck „logic" dabei in einem so weiten Sinn verstanden wie z.B. bei Hanson 1961, bei Simon 1973, vor allem S.473s, oder bei Loeser/Schulze 1976, S.55ss. Andere Bezeichnungen sind beispielsweise „Pragmalogik" (vgl. Eichhorn 1961) oder „Infralogik" (vgl. Moles 1964). Demgegenüber insistiert Jaakko Hintikka (Id. 1985, S.3) auch für diesen Zusammenhang darauf, „that the word,logic' is to be taken quite seriously." 79 Vgl. z.B. Yildirim 1969. 80 Neben einer Reihe von Arbeiten, auf die noch einzugehen sein wird, vgl. z.B. Hage 1972, Blalock 1969, z.B. „Rule 1" und „Rule 2", Mullins 1974.

3. Klassifikation und historischer Rückblick

31

Nicht weniger wichtig als der einschränkende Aspekt ist für eine Methodologie der Theoriekonstruktion der erweiternde Aspekt, d.h. der Aspekt einer gezielten ,Suchraumexpansion'. Hiermit beschäftigt sich insbesondere Kapitel III.2.

3. Klassifikation und historischer Rückblick Gegen die Möglichkeit einer Methdodologie der Theoriekonstruktion sprechen alle in der vorangegangenen Vorbemerkung aufgelisteten Kombinationen, nach denen der Entdeckungszusammenhang als nichtrationalisierbar gilt. Häufig vertreten ist die Kombination (5). Auch wenn diese Kombination großen Zuspruch erfährt, ist die Haltung gegenüber der Akzeptanz von - , C, d.h. der Nichtrationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs, keineswegs einheitlich. Für die nicht unerheblich voneinander abweichenden Positionen, die gegenüber - , C bezogen werden, lassen sich nach einem zwar groben, aber für die hier verfolgten Zwecke ausreichenden Schema drei Gruppen unterscheiden. 81 Die erste Gruppe umfaßt Ansätze, denen zumindest unterstellt wird, eine vollständige Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs für möglich zu halten und die gelegentlich sogar mehr oder weniger konkrete, allerdings immer fragmentarische Vorschläge für eine solche Rationalisierung unterbreiten. U m auf Beispiele für diese Position und entsprechende Vorschläge zu verweisen, ist man zunächst auf die Geschichte der Erörterung (wissenschaftlicher) Heuristiken angewiesen. Da diese Vorschläge notgedrungen wenig konkret werden und die sie anleitenden Zielsetzungen oftmals inexplizit bleiben, dürfte die Zuordnung zu dieser Gruppe keineswegs unumstritten sein und erfolgt daher mit den entsprechenden Vorbehalten. Gerade älteren Überlegungen zu einer wissenschaftlichen und rationalen Heuristik wird recht häufig und vielleicht auch nicht ganz zu Unrecht unterstellt, der Extremposition einer vollständigen Rationalisierbarkeit nahezustehen. Als Vertreter einer solchen Traditionslinie gelten beispielsweise Raymundus Lullus, 8 2 der in der neueren Diskussion zur Heuristik — wenn er 81 Eine Dreiteilung, die für bestimmte Fragestellungen interessanter als die hier gewählte ist, findet sich bei Müller 1968, S.700-04, wo in einem kurzen Abriß divergierender Positionen die folgenden drei Gruppen unterschieden werden: in der ersten wird der „Problembearbeiter als ,Schwarzer Kasten4 in der zweiten als „,Glaskasten' " und in der dritten als „lernendes, sich selbst optimierendes System" aufgefaßt. — Eine Vierteilung schlägt Richard Blackwell vor. Er unterscheidet einen „logical" (Hanson), einen „historical" (Kuhn), einen „psychological" (Arthur Koestler) und einen „epistemological approach" (Bernard Lonergan), vgl. Blackwell 1966, ausführlicher in Id. 1969, Kap.III, S.69-101; auch Brannigan 1981, S.16-20. 82 Neben einer älteren Darstellung bei Prantl 1866, Bd.III, Kap.XVIII, S. 145-77, vgl. Platzeck 1962 sowie Yates 1954, vor allem S.155ss, und Pring-Mill 1961, Llinares 1963, insb. S. 18Iss, auch Johnston 1987. Ein synoptischer Blick in die neuere Lui-

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

überhaupt zur Kenntnis genommen wird — eher als Kuriosum erscheint, 83 oder Athanasius Kircher, der nicht nur im Rahmen neuerer Untersuchungen zur Heuristik weitgehend unbekannt geblieben ist. 8 4 Lullus und Kircher, um nur zwei Exponenten dieser Traditionslinie namentlich zu erwähnen, sowie eine Reihe weiterer, zumeist der lullistischen Tradition zugerechnete Autoren erfahren ein wenig ausführlichere Behandlung eher im Rahmen von Untersuchungen zur ars memorativa,* 5 zur ars combinatoria* 6 oder zur ars characteristica universalis. 87 Eine historische Darstellung theoretischer Überlegungen zu einer wissenschaftlichen und rationalen Heuristik ist zwar noch Desiderat, doch läßt sich vermuten, daß in ihr die äußerst verzweigte und komplexe Methodentradition von Analysis und Synthesis einen prominenten, wenn nicht dominanten Platz einnehmen wird. Die Bezeichnungen „Analysis" und „Synthesis" dienen lediglich als Hinweise auf eine Tradition, die aus sehr divergierenden Konzeptionen besteht und die sich hinter verblüffend unterschiedlicher Terminologie verbirgt. 88 Als erster Höhepunkt in der Geschichte der heuristisch orientierten Analysis-Synthesis-Tradition kann — nicht zuletzt dank der Hinweise Georg Pólyas 89 — die Analysis-Konzeption des Pappos (von Alexandria) in der lus-Literatur findet sich bei Platzeck 1970. Zur,lullistischen Tradition' vgl. Risse 1961 sowie Id. 1964, Kap. VII, ferner Rossi 1960 und 1961, Hillgarth 1971. - Zueinemvergleichenden Hinweis zur ars conjecturalis des Nikolaus von Kues vgl. Happ 1951, S.60, sowie Herold 1986, S.304ss. 83 Vgl. aber Polikarow 1974, S.244, der sich selbst in die Tradition des ,Lullus-Programms' einordnet. 84 Zu Kircher vgl. Scharlau 1969, Godwin 1979, Bach 1985 mit weiteren Hinweisen. 85 Vgl. Yates 1966, insb. Kap.VIII; zu einem älteren Beispiel vgl. die Darstellung bei Aretin 1810, Buch IV, Kap.VII, §4, S.92-95, Schwerpunkte der Darstellung bei Aretin sind u.a. Bruno (Kap.X, §9, S. 171-216) sowie Lambert Thomas Schenkel (Kap.X, § 10, S.216—59); auf Kircher wird nicht eingegangen. - Vgl. fernerhin die Behandlung im Rahmen einer mnemonisch- und inventionsorientierten Topica Universalis bei Schmidt-Biggemann 1983, Kap. 3. 86 Vgl. z.B. Knobloch 1979 (auch Id. 1973). 87 Vgl. Knowlson 1975, Kap.3, S.65-111, kritisch hierzu Dascal 1982. - Erwähnung findet die Ars Lulliana-Kircheriana auch im Zusammenhang mit ihrem Einfluß auf die Barockmusik — vgl. zur ars combinatoria in der Musik Scharlau 1969, S.202ss und passim — und Baroclditeratur; so heißt es etwa in Quirinus Kuhlmanns 1671 erschienenen Grabschriften (Nr. LXIV): „Was Lullus hat gewußt/lehrt Lullus Kunst zu wissen." Vgl. Erk 1953, Kap.4, Gillespie 1971, S. 136-45, Id. 1978, Neubauer 1978, Kap.I; auch Cornelius 1965, insb. Kap.I. 88 Vgl. das vorzüglich aufschließende Sachregister bei Engfer 1982. Aber selbst dieses Register vermag nur einen Ausschnitt aus der verwirrenden Terminologie-Vielfalt der Analysis-Synthesis-Tradition zu vermitteln. - Hinzuweisen wäre auch auf die Idee einer „Topik" als einer eigenständigen ars inveniendi neben der Logik. Diese Idee wifd in jüngerer Zeit wieder aufgenommen, so bei Durbin 1977 und Wolters 1986. 89 Vgl. Pólya 1945, S. 171-76.

3. Klassifikation und historischer Rückblick

33

Mathematik gelten. 90 Obwohl nicht wenige Versuche unternommen worden sind, diese Analysis-Konzeption zu deuten, 91 hat ihre Erörterung insbesondere mit der Untersuchung von Jaakko Hintikka und Unto Remes 92 und der durch sie provozierten kritischen Diskussion Auftrieb erhalten, ohne daß allerdings eine Einigung hinsichtlich der Interpretationskontroversen absehbar wäre. 93 Dieses Interesse ist auch anderen Analysis-Konzeptionen der Geschichte der (wissenschaftlichen) Heuristik zugute gekommen. 94 Die Erörterung und Deutung von Pappos' Konzeption der Analysis erlaubt, bereits an dieser Stelle auf eine Annahme einzugehen, die sich häufig in Argumentationen zur Frage nach der Möglichkeit einer wissenschaftlichen oder rationalen Heuristik in der Form einer Methodologie der Theoriekonstruktion findet und ein aufschlußreiches Mißverständnis darstellt. Nach Pappos besteht die Analysis — vereinfacht gesagt — darin, von einem Satz k , dann ist /«• akl = wahr. Offenbar liefert diese Deutung bei entsprechender Interpretation der Verknüpfungen innerhalb der Sequenz nur im Falle von la nl = wahr ein interessantes Ergebnis, nämlich den direkten Beweis von av In der zweiten Deutung, der sog. Abwärts-Deutung, gilt bei den gleichen Annahmen wie in der vorangegangenen Deutung: /a k aj = wahr. Offenbar liefert diese Deutung bei entsprechender Interpretation der Verknüpfungen innerhalb der Sequenz nur im Falle von / a n j = falsch ein interessantes Ergebnis, nämlich daß a] falsch ist, bzw. — wenn /α, v-i aj = wahr gilt — einen indirekten Beweis für -^a x. 95 90 Pappos ist allerdings nicht der einzige Autor, der aus diesem Zeitabschnitt im Blick auf die Analysis-Tradition Aufmerksamkeit verdient. Zu Proklos (Id. 1945, Vorrede) vgl. die Untersuchung bei Hartmann 1909 oder Altenburg 1905, S. 169-240, sowie die knappen Ausführungen bei Engfer 1982, S.72ss. - Auf Piaton als ,Entdecker' der Analysis und die nicht seltene Konfundierung von Analysis und Diairesis kann hier nur hingewiesen werden (zur Diairesis vgl. z.B. Schenk 1973, S.89-102). 91 Frühere Untersuchungen zur Analysis-Tradition sind u.a. Cornford 1932, Robinson 1936, Cherniss 1950/51, vor allem S.414-25, Gulley 1958, Mahoney 1968/69. 92 Vgl. Hintikka/Remes 1974 sowie 1976. 93 Vgl. Szabó 1974/75 und 1977 (sowie Szabós Appendix in Hintikka/Remes 1974), Mueller 1976, Barnes 1977, Engfer 1978, Maula 1981, Rehder 1982, Marchi/Agassi/ Wettersten 1982 (dazu Hintikka 1982). 94 Vgl. z.B. die Untersuchungen und Hinweise bei Engfer 1982. 95 Ein dritte Deutung ergibt sich, wenn die beiden genannten Deutungen verbunden werden. Für diese sog. Äquivalenz-Deutung gilt sowohl ja { a.J = wahr als auch /flj a.J = wahr.

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Bei der Kommentierung dieser beiden unterschiedlichen Varianten findet sich oftmals die Behauptung, daß es sich bei der Abwärts-Deutung um ein deduktives und mithin regelgeleitetes Auffinden handle, wohingegen es sich bei der Aufwärts-Deutung um ein nicht-deduktives und mithin intuitives Auffinden handle. Dieser Schluß beruht auf einem Mißverständnis, das für die Erörterung einer wissenschaftlichen oder rationalen Heuristik nicht untypisch ist. Sowohl dafür, daß ax einen bestimmten Satz impliziert, als auch dafür, daß a] von einem bestimmten Satz impliziert wird, gibt es prinzipiell in gleicher Weise Entscheidungsmöglichkeiten. Die Konsequenzen eines Satzes lassen sich unter bestimmten Bedingungen mechanisch produzieren; das gleiche gilt im Prinzip für Sätze, die diesen Satz logisch implizieren. 96 Nun ist es nicht interessant, irgendein beliebiges, sondern ein in bestimmter Weise qualifiziertes und gesuchtes Implikat oder Implikans zu produzieren. Das Mißverständnis kommt durch die Mißachtung des Unterschiedes zwischen Beweisen und Auffinden zustande. Der Auffindungsweg eines Implikats besitzt in der Regel ein Gegenstück in der Form eines deduktionslogischen Beweises. Anhand eines solchen Beweises und der entsprechenden Korrektheitskriterien für Schlüsse läßt sich der Auffindungsweg post festum rekonstruieren, um ihn als korrekt oder nicht korrekt zu identifizieren. Das bedeutet nicht, daß Auffindungsweg und Beweisgang dieselbe Struktur besitzen, und es bedeutet insbesondere nicht, daß nur der als Beweis rekonstruierte Auffindungsweg rational ist. Der Auffindungsweg eines Implikans besitzt kein rekonstruktives Gegenstück in der Form eines deduktionslogischen Beweises. Das schließt nicht aus, daß der Auffindungsweg eines Implikans prinzipiell rational ist, d.h. anhand der Normen einer rationalen Heuristik rekonstruierbar und kritisierbar ist. Unbestritten bleibt dabei, daß die Normen einer rationalen Heuristik wohl kaum die gleichen Aussichten auf Akzeptanz besitzen wie deduktionslogische Korrektheitskriterien, und es bleibt der Unterschied, daß es in dem einen Fall überhaupt entsprechende Normen gibt, während sie in dem anderen Fall weitgehend als Desiderat gelten. In beiden Fällen von Auffindungswegen ist für eine rationale Heuristik nicht allein die Frage nach Kriterien, die im nachhinein eine Entscheidung über ihre Rationalität 4 erlauben, das entscheidende Problem, sondern auch die Formulierung prospektiver Regeln und Verfahren. 97 Im 19. Jahrhundert hat die Analysis-Tradition zunehmend an Beachtung in der Diskussion einer (wissenschaftlichen) Heuristik verloren, wohingegen sie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bei der Erörterung von Auffindungs-, Beweis- und Darstellungsverfahren z.B. in den Logik-Lehrbüchern anhal96 97

Hierzu u.a. Morgan 1971, 1971b und 1973.

Dieses Problem bleibt z.B. bei Caws 1969, S.1375, aber auch bei Hempel 1966, S.28-30, unberücksichtigt.

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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tend präsent war. 9 8 I m vorigen Jahrhundert findet sich ,die' analytische Methode immer häufiger mit ,der' induktiven Methode identifiziert oder sogar durch diese ersetzt. 99 Ausnahmen, die der analytischen Methode ein eigenständiges Methoden-Recht zugestehen und ihre Bedeutung für die Heuristik anerkennen, sind John Venn und Ernst Mach. 1 0 0 Trotz der stärkeren Beachtung, die die in Vergessenheit geratene Analysis-Tradition in ihrer Verschränkung mit der Erörterung einer wissenschaftlichen Heuristik auch in Form vergleichender Studien in jüngerer Zeit erfährt, 101 befinden sich auf der Landkarte dieser Tradition kaum weniger weiße Flecken als erforschte Gebiete, und es gibt ganze Kontinente, die überhaupt nicht beachtet wurden, wie beispielsweise die Verbindung, die sie mit der Entwicklung hermeneutischer Konzeptionen eingegangen ist. 1 0 2 98

Vgl. Risse 1964 und Id. 1970. - Eine Reihe von Hinweisen findet sich bei Rossi 1960, auch Crescini 1965; zum Hintergrund Schilling 1969. - Besonderes Interesse im Blick auf die Geschichte der mathematischen Methodenvorstellungen verdienen Euklidkommentare und an Euklid orientierte mathematische Werke mit ihren mehr oder weniger ausführlichen Einleitungen zur Methode und ihren exemplarischen Aufgabenstellungen und -lösungen; als ein weniger bekanntes Beispiel vgl. Renaldini 1658. 99 Vgl. z.B. Ueberweg 1857, Teil IV, wo die „analytische (oder induktive) Methode" dargestellt werden soll (in der 5. Aufl. - Id. 1882 - ist die „analytische (oder regressive) Methode" gegenüber der Induktion noch weiter in den Hintergrund getreten), oder Jevons 1870, S.219, der Induktion und Analyse als „äquivalent" ansieht. - Dagegen z.B. die Analysiskonzeption J.F.W. Herschels (hierzu Chain 1975, Kap.V, S.170ss) oder die Überlegungen bei Trendelenburg 1840, S.315ss. - Albert (Id. 1982, z.B. S.42) scheint bei seinem historischen Rückblick die Unterscheidung zwischen „analytischer Methode" und „Induktion" entgangen zu sein. 100 Vgl. Venn 1889, S.369/70 und Kap.XVI, sowie Mach 1905, S.251-74 (zu Mach in diesem Zusammenhang auch Loparic 1984 und \\blters 1986, die wie Feyerabend vgl. Anm.1.20 - auf eine differenzierte Sicht der Überlegungen Machs insistieren und dabei mit einigen Vereinfachungen aufräumen, die immer wieder und nicht nur im Fall Machs die Kritik abgelehnter wissenschaftsphilosophischer Konzeptionen zu selbstevidenten Veranstaltungen werden lassen), ein weiteres Beispiel ist Russell 1914b, S.247, 279 und passim; besondere Varianten finden sich bei Carnap 1928, §74, S. 102-104 (Analyse und „Quasianalyse" bzw. Synthese), bei Dingler 1913, S.53ss („manuelle" und „logische" Analyse bzw. Synthese) oder bei Volkmann 1910, S.150ss („Isolation" und „Superposition"). Gelegentlich gibt es disziplinspezifische Differenzierungen (z.B. Wundt 1883 zur Chemie; zu Lavoisiers Rezeption der „analytischen Methode" Condillacs vgl. Albury 1986, S.207ss). 101 Vgl. u.a. Schepers 1959, S. 13-29, McKeon 1966, Arndt 1971, Rod 1976, Koertge 1980, Engfer 1982 (auch Dolan 1950 sowie Oeing-Hanhoff 1963). Vgl. Anm.1.118. 102 Auch hier möchte ich mich auf wenige Beispiele beschränken. So hat z.B. Johann Clauberg (vgl. Id. 1654) seine Logica vetus & nova in einen genetischen und in einen analytischen Teil untergliedert, die beide genau parallel zueinander weiter unterteilt werden. Die analytische Logik zerfallt danach in eine Hermeneutik - in der Clauberg zugleich eine ars discendi sieht —, deren Ziel die Ermittlung des wahren Sinns (sensus verus) ist, und in einen Teil, der nach Vorgabe der genetischen Logik die sachliche Richtigkeit des ermittelten Sinns zu prüfen hat. Bei Arndt 1971, S.83/84 (auch Id. 1965, S.43/44) wird zwar bemerkt, daß Claubergs Unterscheidung zwischen analytischer und genetischer Logik nicht mit den zeitgenössischen Cartesianischen Unterscheidun-

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Sicherlich ist in jedem Einzelfall zu prüfen — auch wenn in den meisten Fällen keine klare Entscheidung zu erwarten ist —, inwieweit die als Heuristik gedeutete oder erörterte Analysis (und Synthesis) tatsächlich an der Extremposition einer vollständigen Rationalisierung orientiert ist, doch gilt dieser Vorbehalt nicht weniger für die älteren, an einer Induktionslogik orientierten Überlegungen zu einer Heuristik. Beide Traditionen, sowohl die analytische als auch die induktive, sind recht komplizierte Verbindungen eingegangen,103 die die Rekonstruktion der vorgetragenen heuristischen Überlegungen nicht gerade erleichtert haben. Ein Beispiel sind Newtons Methodenüberlegungen, die trotz einer Vielzahl jüngerer Interpretationsversuche noch immer nicht als befriedigend geklärt gelten können. 1 0 4 Aus der Geschichte der (wissenschaftlichen) Heuristik und damit zumeist auch aus der Geschichte der Analysis-Synthesis-Tradition haben die einschlägigen Methodenüberlegungen bei Bacon, 105 Zabarella, 106 Descartes, 107 gen übereinstimmt; es wird aber nicht bemerkt, daß die analytische Logik bei Clauberg eine Hermeneutik darstellt; vgl. schon Bohatec 1912, S.87ss. Als weitere Beispiele vgl. u.a. Zopf 1735, pars sec., Kap.I und II, S.216-317, oder Ast 1808, §75, S.178/79 (zu weiteren Hinweisen Danneberg 1989b). 103 Ein Beispiel unter vielen findet sich bei Zabarella 1578, lib.III, cap.XIX, Sp.268F/269A: „Methodus autem resolutiua in duas species diuiditur efficacitate inter se plurimù discrepantes; altera est demonstratio ab effectu, quae in sui numeris functione est efficacissima, & ea vtimur ad eorum, quae valde obscura, & abscondita sunt, inuentioné; altera est inductio, quae est multò debilior resolutio, & ad eorum tantummodo inuentionem vsitata, que non penitus ignota sunt, & leui egent declaratione 104 Vgl. u.a. Blake 1933, Cohen 1956, S. 184-98, Pälter 1967/68, Guerlac 1973, Hintikka/Remes 1974, S. 105-17, Koertge 1980, S. 149-52, Fehér 1986, auchBechler 1982. Ein einschlägiges Textfragment findet sich bei McGuire 1970/71.1. Bernard Cohen hat betont, daß Newtons Wissenschaftspraxis - zumindest in der Principia - wenig mit seinen Überlegungen zur Analysis und Synthesis zu tun habe (vgl. Id. 1980, S.16); zu einem weiteren Beispiel für die Kluft von Methodenpraxis und Methodenideal bei Newton vgl. Whiteside 1976, Shapiro 1980, fernerhin Anm.II.68. Vgl. aber auch Glymour 1980, S.203-226 (dazu Laymon 1983); Garrison 1988. 105 Zu Bacon vgl. Anm.II.72. 106 Zu Zabarellas Methodentheorie sowie zum philosophiehistorischen Hintergrund der Aristoteles-und Averroes-Rezeption vgl. vor allem Edwards 1960 sowie Poppi 1972, insb. Kap.V und VI, auch Giard 1986; zu Zabarella und A. Nifo vgl. Jardine 1976. Zur Idenifikation der aristotelischen Unterscheidung von demonstratio propter quid und demonstratio quia mit Analysis und Synthesis auch die Anm.1.116. 107 Zu Descartes sowie zur Logik von Port-Roy al u.a. Joachim 1957, Buchdahl 1962/63, Id. 1963 und Id. 1969, S.l 18-55, Olscamp 1965, Rod 1971, Arndt 1971, Kap.II, Hammacher 1973, Hintikka 1978, Schouls 1980, Engfer 1982, Kap.III, Garber/Cohen 1982, vgl. auch Robert 1939, Risse 1963,Mahoney 1971, VandePitte 1979, Mittelstraß 1979b, Schuster 1980, Gaukroger 1980, sowie Lakatos 1978h; zur Rezeption der Methodenüberlegungen Descartes' im 17. Jh. vgl. Borghero 1988. Zu Spinozas Mißverständnis der Methodenkonzeption Descartes' in seinem Renat des Cartes principiorum philosophiae Pars I et II, More Geometrico demons trat ae vgl. Curley 1978; zu

Spinozas Analysis-Synthesis-Konzeption Kennington 1980, Dijn 1973 und 1986/87, zum Einiluß von Hobbes auf Spinoza vgl. u.a. Médina 1985, S. 179s.

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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Leibniz 1 0 8 und Wolff 1 0 9 besondere Beachtung, etwas geringere die bei Galenos, 1 1 0 Bruno, 1 1 1 Jungius, 112 Hobbes 11 3 oder Hooke 1 1 4 gefunden. Zu den intrikaten Interpretationsfällen in der Geschichte sowohl der (wissenschaftlichen) Heuristik als auch der Analysis-Synthesis-Tradition zählen die Überlegungen Galileis. Deutlich wird dies durch die Zweifel an Cassirers Vermutung 115 eines entscheidenden methodischen Einflusses der Schule von Padua — insbesondere Zabarellas — und damit der Analysis-SynthesisTradition auf Galilei. 1 1 6 Eine befriedigende Lösung dieser Interpretationsprobleme scheint erst in Sicht zu sein, wenn die neuerschlossenen Quellen für Fragen der Methodenkonzeption Galileis ausgewertet sind. 1 1 7 108 Zu Leibniz vgl. u.a. Loemaker 1966, Arndt 1971, Kap.IV und Id. 1971b, Schneider 1974 (dazu Heinekamp 1976), Burkhardt 1980, Engfer 1982, Kap.IV, Ptosen 1983b (auch Id. 1986), Schulze 1987. Vgl. zur Beeinflussung durch die Lullus-Rezeption Platzeck 1974, Hübener 1983; zur Kircher-Rezeption David 1965, S.61ss. Hans Hermes hat versucht, Leibniz' ars inveniendi mit Hilfe des Begriffs der rekursiven Aufzählbarkeit zu explizieren (Id. 1969, S.82): „Die ars inveniendi ist nach Leibniz eine systematisch prozidierende kombinatorische Methode, welche kalkülartig operiert und sich im Prinzip mechanisch durchführen läßt, mit deren Hilfe man - ohne auf andere Hilfsmittel zurückzugreifen - alle (oder möglichst viele) unbekannte Wahrheiten im Laufe der Zeit der Reihe nach auffinden kann." Leibniz' Programm wird nicht selten in die Nähe der,verrufenen 4 Ars Lulliana gerückt; so heißt es z.B.bei Hegel 1812/16, S. 378/79: „Diese Leibnizsche Anwendung des kombinatorischen Kalküls auf den Schluß und auf die Verbindung anderer Begriffe unterschied sich von der verrufenen Lullianischen Kunst durch nichts, als daß sie von Seiten der Anzahl methodischer war, übrigens an Sinnlosigkeit ihr gleichkam." Nach Hösle 1985, S.lxv, ist Lullus „trotz seiner kombinatorischen Methode, Vorläufer nicht Freges und der modernen Logistik, sondern - wenn schon - Hegels." (Vgl. aber auch Oeser 1969, S.457.) Typisch für die Einschätzung einer ars inveniendi der Art Leibniz' Ende des vorigen Jahrhunderts als vollständiger Rationalisierungsversuch ist die Charakterisierung durch Wilhelm Windelband (Id. 1878, S.465): „[...] er [Leibniz] schreckte selbst vor der Konsequenz nicht zurück, daß3>wenn einmal diese Methode [die ars combinatoria ] gefunden wäre, es nur noch der Übung und Geschicklichkeit in ihrer Handhabung bedürfen würde, um neue Wahrheiten aufzufinden, und ein Mann, der die Genialität selbst war, arbeitete so daran, das Genie überflüssig zu machen." 109 Zu Wblff vgl. u.a. Arndt 1965 und Id. 1971, Kap.V, Corr 1972, Tonneiii 1976, S. 193-204, Engter 1982, Kap.V und Id. 1983, Peursen 1983. - Es gibt eine Vielzahl von Autoren, die mehr oder weniger eng an diese Tradition gebunden sind, vgl. z.B. die Kompilation bei Flögel 1760. 110 Zu Galenos vgl. Gilbert 1960, S.13-24, Remes 1978. 111 Zu Bruno vgl. neben Olschki 1924, S.73-78, vor allem Yates 1964 und Ead. 1966. 112 Zu Jungius vgl. Kangro 1968 und Id. 1969. 113 Zu Hobbes vgl. u.a. Rod 1970, Watkins 1973, Kap.3 und 4, Bertman 1973, Weinberger 1975, S. 1341ss, Sacksteder 1980 (auch Id. 1983), und vor allem Talaska 1988. 114 Vgl. Hooke 1705; zu einigen Aspekten der Überlegungen Hookes vgl. Hesse 1966b, Oldroyd 1972. 115 Vgl. Cassirer 1906, S. 136^4. 116 Hierzu sowie zur Schule von Padua vgl. u.a. Randall 1940, Edwards 1967, Gilbert 1963, Wisan 1974, S. 117-19, sowie 1978, Drake 1977, Päpuli 1983 (vgl. in diesem Zusammenhang auch Schmitt 1969 sowie Fehér 1982). Auch Anm.1.106. 117 Vgl. Wallace 1981, auch Id. 1977 (dazu Quinn 1980), Jardine 1976, Crombie

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Kaum zu überblicken ist schließlich die Vielzahl heuristischer Überlegungen, die zwar überliefert ist, aber bislang kaum nennenswerte Untersuchung erfahren hat. 1 1 8 Daß es sich dabei durchweg nur um unbedeutende Mitläufer, uninteressante Abweichler oder durch die Heroen in den Schatten gestellte Vorläufer handelt, scheint in Anbetracht solcher Philosophen wie Lambert, 1 1 9 Maimon, 1 2 0 Schleiermacher 121 oder Bolzano 1 2 2 zweifelhaft; eine Klärung werden allerdings erst detaillierte Einzelstudien erbringen. Ob heuristische Konzeptionen überhaupt erwähnt werden und stärkere Beachtung und Anerkennung finden, hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit sich jüngere heuristische Konzeptionen auf Vorläufer — wie fiktiv auch immer — berufen oder ihnen anscheinend zuordnen lassen. Als Beispiel für derartige Zuordnungen kann der Versuch Werner Hartkopfs gelten, drei verschiedene jüngere mit drei älteren heuristischen Konzeptionen zu verbinden 123 : 1975b. Alistair Crombie hat seit geraumer Zeit zwei einschlägige Veröffentlichungen angekündigt: Styles of scientific thinking in the European tradition sowie Galileo and Mersenne: Science, nature and the senses in the sixteenth and early seventeenth centuries

(vgl. Crombie 1980, Anm.l, S.243/44), die - soweit ich dies ermitteln konnte - bislang nicht erschienen sind. - Zu dem von William Wallace (u.a. Id. 1976,1981b und 1983) und Donald Mertz (Id. 1980 und 1982) unternommenen Versuch, bei Galilei die Argumentationsform ex suppositione als eine Variante des regressus herauszustellen vgl. McMullin 1978b und 1983, Wisan 1978 und 1984. Vgl. auch Anm.V.317. 118 Neben den in Anm.1.98 und 1.101 angeführten Untersuchungen finden sich weitere Hinweise u.a. bei Funke 1956, Gilbert 1960, Wallace 1972/1974, Crombie 1953, S.27-29, 193/194, 297-318, insbesondere zu Robert Grosseteste Kap.IV, S.61-90 (hierzu kritisch Serene 1979, vgl. auch Eastwood 1967, McEvoy 1982). - Zu dem schwierigen Kapitel der Analyse als einer philosophischen und naturwissenschaftlichen Methode bei Kant vgl. Vaihinger 1922, Bd.l, S.121-23, 336-39, Bd.2, S.412-24, S.432 (mit Hinweisen zur älteren Literatur); zur neueren Literatur: Hintikka 1966b und 1966c, Martin 1969, Teil III, auch Id. 1972, Hartman 1972, McCarthy 1976, Rod 1976, Engfer 1982, S.43-67, und Id. 1983, vgl. auch Tonelli 1959. 119

Vgl. z.B. die Fragmente über die Vernunftlehre

in Lambert 1782; auch Id. 1764. I n

den erhellenden Studien von Gereon Wblters bleibt dieser Aspekt weitgehend unberücksichtigt (vgl. Id. 1980 und 1985). 120 Vgl. Salomon Maimons Unterscheidung von sieben Arten der Analysis (Id. 1795 und 1795b); zu der allgemeinen Problematik auch Id. 1804. 121 Vgl. Schleiermacher 1942, insb. S.437ss. Schleiermachers Überlegungen zur Heuristik scheinen bislang übersehen worden zu sein. (In einem jüngst postum erschienen Aufsatz hat Werner Hartkopf in diesem Zusammenhang auf Schleiermacher hingewiesen, vgl. Id. 1987, S. 119-30). 122 Vgl. Bolzano 1837 (III.Bd.), Teil 4,322-91 ; soweit ich sehe, steht eine ausführliche Untersuchung zu Bolzanos Heuristik noch aus; zu einigen in diesem Zusammenhang interessanten Aspekten von Bolzanos Wissenschaftsphilosophie Berka 1982. Vgl. jüngst die Hinweise bei Hartkopf 1987, S. 130^9. 123 Hartkopf hat sich bereits 1958 in seiner Dissertation Fragen der Heuristik und Problemtheorie gewidmet (Id. 1958, sowie 1964c, auch Id. 1958b, 1963 und 1963c, sowie die bislang offenbar ungedruckten Vorträge Id. 1976 und 1977, deren Einsicht ich dem Nachlaßverwalter Hartkopfs, Herrn Prof. Dr. Martin Hengst, verdanke). Seine Arbeiten haben aufgrund des Desinteresses an Fragen einer (rationalen) Heuristik jedoch kaum Resonanz gefunden.

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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„Der Auftrieb, den diese [seil, heuristischen] Untersuchungen durch die wachsende Bedeutung der Programmierungsproblematik haben, wirkt sich vor allem in der von Lullus/Leibniz gewiesenen Richtung aus. Die Arbeiten G. Polyas zur Heuristik der Mathematik, die bei der methodentheoretischen Analyse der einzelnen mathematischen Verfahren ansetzen und daher insgesamt gesehen, auch ein starkes induktives Moment aufweisen, ähneln darin dem Ansatz Bolzanos, während der Entwurf einer Heuristik [seil, im eigentlichen Sinn] seitens des Verfassers mehr auf der Linie Descartes' liegt." 1 2 4 Diese Passage liefert zudem das Stichwort für den Übergang zur Diskussion heuristischer Computerprogramme. Als eine Art Nachklang zu den älteren Konzeptionen, die zu einer vollständigen Rationalisierung des Entdekkungszusammenhangs tendieren, erscheinen die zumindest in der Frühphase mit der Erstellung von Programmen zur Computersimulation menschlichen Problemlösungsverhaltens verbundenen Hoffnungen. Ein Beispiel sind die Erwartungen, die Allen Newell und Herbert A. Simon mit der Entwicklung des Logical Theorist 125 und später eines General Problem Solver 126 geweckt haben. 127 Der allgemeine Trend hat auch Newell und Simon in späteren Jahren zu einer moderateren Einschätzung der Möglichkeiten eines solchen Programms geführt. Allerdings finden sich ähnliche überschwengliche Erwartungen beispielsweise noch 1967 bei Marvin Minsky, der ebenfalls zu den Veteranen dieser Bewegung zählt: „Within a generation, I am convinced, few compartments of intellect will remain outside the machine's realm — the problem of creating,artificial intelligence' will be substantially solved." 128 Die Entwicklung eines allgemeinen Programms ist von diesem Ziel kaum weniger weit entfernt als zum Zeitpunkt der Prognose. Die Hoffnungen auf ein allgemeines Programm der Problemlösung sind gegenwärtig gering, während isolierte micro-world- Programme und Programme mit hochentwickelter Sachkenntnis den Trend bestimmen. 129 Die kühnen Erwartungen an ein allgemeines Programm der Problemlösung sind nicht zuletzt aufgrund der 124 Hartkopf 1964, S.10. - Den „geheimen Ursprung der Computertheorie" haben jüngst Künzel/Cornelius 1986 in Lullus' Ars Generalis entdeckt. 125

Vgl. Newell/Simon 1956.

126

Die Ergebnisse ihrer umfangreichen, seit Mitte der fünfziger Jahre andauernden Zusammenarbeit haben Newell und Simon in Id. 1972 gesammelt. 127 Eine Reihe älterer Versuche findet sich bei Newell/Simon 1961 beschrieben und erörtert. Die dort diskutierten Programme werden unter dem Aspekt evaluiert, inwieweit sie für die Entwicklung einer Theorie menschlichen Problemlösungsverhaltens einen Beitrag zu leisten vermögen. 128 129

Minsky 1967, S.2.

Zur Unterscheidung von „Allgemeinheit" und „Sachkenntnis" bei Programmen Sandewell 1975; der Ausdruck micro-world-Programme ist neueren Datums. Zur Kritik eines allgemeinen Programms der Künstlichen Intelligenz (KI), vgl. z.B. die Erörterung bei Dreyfus 1979, Vorwort.

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Kritik an den solchen Programmen zugrunde liegenden Theorien des menschlichen Problemlösungsverhaltens, aber auch aufgrund der skeptischeren Einschätzung der Möglichkeiten von Programmen zur Künstlichen Intelligenz nüchternen Einschätzungen gewichen. 130 Auch wenn die entwickelten allgemeinen Programme die in sie gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen vermochten, so haben doch die stärker spezialisierten Programme in den siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre Erfolge erzielt, 131 die sogar — je nach Perspektive — erstaunen können. 132 Allerdings ist es nicht leicht zu entscheiden, ob die erzielten Erfolge primär einer verbesserten Heuristik, die den Programmen zugrunde liegt, bestimmten Idealisierungen der Problemsituationen bei der Simulation oder der sich entwickelnden Hardware zu verdanken sind. Wie auch immer: Die die Entwicklung und Erprobung verschiedener heuristischer Programme begleitenden theoretischen Überlegungen und Diskussionen haben Einsichten zutage gefördert, von denen auch die Charakterisierung der logischen Struktur und des Aufbaus von Methodologien der Theoriekonstruktion profitieren kann. 1 3 3 Die zweite Gruppe, die im Hinblick auf die Akzeptanz oder Ablehnung einer Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs unterschieden 130 Vgl. u.a. Weizenbaum 1976, Dreyfus 1979 und Dreyfus/Dreyfus 1986, Id. 1988, Putnam 1988, dazu Dennett 1988. Bereits unter Verzicht auf das Beiwerk von strategischen Versprechungen und überzogenen Erwartungen unternimmt D. Michie eine Bestimmung des Entwicklungsstandes am Anfang der siebziger Jahre. Er unterscheidet (Id. 1971, S.96): 1. „the phase of adhoc invention"; 2. „the phase of formalization"; und 3. „the phase [...] of stabilisation and systematic development". Daran schließt sich die Einschätzung: „Machine intelligence is today [1971] a headlong transit from phase 1 to phase 2." — Eine knappe, problembezogene Darstellung der Entwicklung bis Mitte der sechziger Jahre findet sich bei Minsky 1968. 131 Vgl. z.B. Meitzer 1970, Plotkin 1971, Buchanan/Feigenbaum/ Shridharan 1972, Lenat 1979. Zu Hinweisen auf weitere Programme Schaffner 1980, Simon/ Langley/Bradshaw 1981, Langley/Simon/Bradshaw/Zytkow 1987, Teil I I und III, Zytkow/Simon 1986 und 1988, Kulkarni/Simon 1988, Buchanan 1983. 132 Vgl. v o r allem Langley/Simon/Bradshaw/Zytkow 1987, auch Simon/Langley/ Bradshaw 1981, Zytkow/Simon 1988. 133 Hier sollen nur drei zusammenhängende Problembereiche erwähnt werden, die auch für eine Methodologie der Theoriekonstruktion interessant sind. Diese Problembereiche betreffen die Voraussetzungen für die ,Effektivität 4 heuristischer Programme. Diese ,Effektivität' hängt davon ab, daß die mit Hilfe solcher Programme gewonnenen Ergebnisse Merkmale aufweisen, die für den weiteren Bearbeitungsprozeß dieser Resultate relevant sind; fernerhin darf die Auffindung des Resultats nicht wahllos erfolgen, wenn sie unter ökonomischen Gesichtspunkten interessant sein soll - sie muß vielmehr durch heuristische Kriterien gesteuert werden, die wiederum an dem weiteren Bearbeitungsprozeß orientiert sind; heuristische Programme sind von recht eingeschränktem Interesse, wenn sie nicht auch ,semantisch kreativ' sein können (vgl. Thagard 1983, S.170ss); schließlich sollten heuristische Programme vielleicht auch im Hinblick auf Teile ihrer Heuristik kreativ sein (zu dem letzten Problem Dörner 1979 und vor allem Lenat 1983, Id./Brown 1984). Vgl. hierzu die Kapitel II.l. und III.3. — Zu weiteren Aspekten der Programmevaluation vgl. Simon/Langley/Bradshaw 1981 und vor allem Buchanan 1982 (auch Id. 1983 und 1985).

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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werden soll, umfaßt solche Positionen, die entweder die Möglichkeit einer partiellen Rationalisierung des Entdeckungszusammenhangs offen lassen 134 oder die die Möglichkeit einer solchen Rationalisierung explizit zugestehen. Es handelt sich zum einen um theoretische Überlegungen, wie eine solche partielle Rationalisierung aussehen könnte, zum anderen werden aber auch konkrete Vorschläge für eine Rationalisierung angeboten und erörtert. Die Erörterungen der Möglichkeit und die ansatzweise vorliegenden konkreten Vorschläge zur Auffindung von ProWemlösungen lassen sich im Hinblick auf die Art der zu lösenden Probleme in drei Bereiche aufteilen: in den Bereich von technischen Problemen (z.B. Technikwissenschaften und angewandte Sozialwissenschaften); 135 in den Bereich von Problemen des Auffindens von Theoremen und Beweisen im Rahmen formalisierter Systeme; 136 schließlich in den Bereich von Problemen des Auffindens wissenschaftlicher Theorien (Hypothesen, Gesetze usw.). Obwohl es Binnengliederungen innerhalb der unterschiedenen Gruppen gibt, die Überschneidungen nicht ausschließen,137 und eine präzise sowie material adäquate Unterscheidung zwischen den genannten Problemarten schwierig und aufwendig sein dürfte, soll für die vorliegende Untersuchung die Beschränkung auf den zuletzt genannten Bereich gelten. Diese Beschränkung bedeutet allerdings nicht, daß die im Hinblick auf die logische Struktur und den Aufbau von Methodologien der Theoriekonstruktion erzielten Ergebnisse ausschließlich auf diesen Problembereich bezogen sein müssen. Wenn kein expliziter Hinweis auf einen Problembereich besteht oder wenn die charakterisierten Überlegungen sich nicht nur auf einen Bereich beziehen, verwende ich den Ausdruck „wissenschaftliche" oder „rationale Heuristik"; 134

Ein Beispiel hierfür sind die Bemerkungen bei Essler 1970b, S.66s und S.84. Vgl. ζ. B. Müller 1968 und 1969. Johannes Müller äußert mehrfach die Erwartung (z.B. Id. 1966, S. 134), daß es möglich sein wird, das von ihm „erarbeitete Modell der Struktur des Problemsachverhalts und die auf dieser Grundlage erarbeiteten Operatoren und Algorithmen auf alle Bereiche zu interpretieren bzw. anzuwenden, in denen menschliche praktische Tätigkeit zunächst gedanklich vorweggenommen wird, wo also Pläne, Programme usw. ausgearbeitet werden wie das z.B. in der wissenschaftlichen Hypothesenbildung, in der Leitung der Volkswirtschaft, einzelner Betriebe oder Volkswirtschaftszweige, m der Tätigkeit des Lehrers und nicht zuletzt in der Politik der Fall ist." - Vgl. als weiteres Beispiel dieser Gruppe Altschuller 1969 (dazu die wohlwollende Erörterung bei Thiel 1976). Weitere Literaturhinweise finden sich u.a. bei Lenk 1973, S.206-212. 135

136 Zu Beispielen für diese Gruppe vgl. u.a. Serebrjannikov 1970 (vgl. auch Sinaceur 1977), Denk 1951 (auch Id. 1957/59), Kleiber 1903, Pólya 1945,1954 und 1961/65. Zu einem Vergleich der Auffassungen Pólyas und Lakatos' vgl. Feferman 1981. - Zur computergestützten Lösung mathematischer Probleme vgl. aus der umfangreichen Literatur z.B. Cook 1984 oder Appel 1984 zur Lösung des Vier-Farben-Problems (dazu Tymoczko 1979, Teller 1980b, Detlefsen/Luher 1980). 137 Vgl. z.B. Monk 1980, S.339-42, der „problems of explanation", „of reconciliation" und „of determination" unterscheidet; weitere Unterscheidungen finden sich bei Kleiner 1985.

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

besteht der explizite Bezug zum Problem des Auffmdens von Theorien, dann verwende ich den Ausdruck „Methodologie der Theoriekonstruktion". 138 Inwieweit eine Übertragung von einem Problembereich auf einen anderen als erfolgreich angesehen wird, hängt nicht zuletzt von der Art ihrer Unterscheidung ab. So unterscheidet z.B. Pólya zwar zwischen „praktischen" und „rein mathematischen Aufgaben", 1 3 9 doch ist er zugleich der Ansicht, daß die „Hauptmotive und Verfahren bei der Lösung" in beiden Fällen „wesentlich die gleichen sind". 1 4 0 Die Ähnlichkeit der heuristischen Bearbeitung beider Arten von Aufgaben ist nicht verwunderlich, wenn nur sehr allgemeine, unspezifische heuristische Verfahren erwogen werden, d.h. Verfahren, die geringe Sachkennis und Aufgabenspezifizierung vorsehen. 141 Im Hinblick auf die Ausgestaltung einer rationalen Heuristik für die jeweiligen Problembereiche durch Verfahren, Regeln oder Kriterien liegt der Fall komplizierter. Hier gibt es Verfahren — Pólya behandelt auch diese —, die eine stärkere Spezifizierung zulassen oder erfordern und die sich zugleich bei unterschiedlichen Problembereichen als hilfreich herausstellen. Beispiele sind Modellbildung und Analogisierung. 142 Übereinstimmung besteht darin, daß Modellbildung und Analogisierung allgemeine heuristische Verfahren sein können 1 4 3 und daß es prominente 138 Zu einer anderen Unterscheidung Pólya 1971 ; zur Weltgeschichte des Ausdrucks „Heuristik" Matuschka 1985. 139 Vgl. Pólya 1945, S. 171-76. 140 Pólya 1945, S.171. 141 Programmatische Ausrichtung erhält dieses Vorgehen bei Polanyi 1957/58, S.94s. (dieser Aufsatz ist textidentisch mit Id. 1958, Kap. 5.11 und Kap. 5.12): „There are three major fields of knowledge in which discoveries are possible: natural science, technology, and mathematics [...]. It seems to me that any serious attempt to analyse the process of discovery should be sufficiently general to apply to all threefields of systematic knowledge". 142 Daneben gibt es eine Reihe „Metagesetze", die „als Kompaß auf dem Wege zu neuen Theorien" (Kamiah 1978, S.61) dienen und die als disziplinübergreifende,heuristische Prinzipien4 erörtert werden, etwa das ,Korrespondenzprinzip 4 (u.a. Post 1971/72, Laitko 1969, Nickles 1973, Koertge 1973, Kraiewski 1977b, Pearce/Rantala 1983b, Id. 1984c und 1984d; vgl. auch Kapitel V.3) oder das „Permanenzprinzip 44 (dazu Korch et al. 1972, S.224/25) - aber auch das ,Kausalgesetz4(vgl. Planck 1932, S.26) oder ,heuristische Symmetrieforderungen 4, von denen es bei Redhead 1975, S. 107, heißt: „[...] heuristic symmetries are in general constraints on new theories. They may just possibly constrain them so strongly as to characterize them completely [...]." 143 Neben den weiter unten erwähnten Studien vgl. die Bemerkungen und Erörterungen in den z.T. empirischen und methodologischen Studien von Oppenheimer 1956, S.130, auch Id. 1958, S.74/75, Wüstneck 1966, Dreistadt 1969, Ruben/W)lter 1969, Klix 1970, S.724-34, Hörz 1976, S.18, Gick/Holyoak 1980, Id. 1983; bei Brown 1983c scheint mit dem von Raget entlehnten Begriff der Assimilation ähnliches gemeint zu sein. Zu heuristischen Analogiekonzeptionen bei der Computersimulation vgl. u.a. Chen/Findler 1979, Winston 1980, Darden 1983b, Langley/Simon/Bradshaw/Zytkow 1987, Kap.5. — Modellen (und Analogien) werden neben heuristischen und semantisch-pragmatischen eine Reihe weiterer Leistungen zugeschrieben (vgl.

3. Klassifikation und historischer Rückblick

43

historische Theoriekonstruktionen gibt, bei denen beide Verfahren heuristisch wirksam geworden sind. Als bedeutendes wissenschaftshistorisches Exempel kann auf die Theorie Darwins hingewiesen werden, deren Entstehung wie die keiner anderen Theorie Gegenstand wissenschaftshistorischer wie wissenschaftstheoretischer Untersuchungen geworden ist. 1 4 4 Zu den detailliert untersuchten, wenn auch unterschiedlich gewichteten und nicht unumstrittenen Aspekten ihrer Entwicklung gehört Darwins Analogisierung von „künstlicher" und „natürlicher Zuchtwahl". 1 4 5 Kaum weniger Aufmerksamkeit als diese „technomorphe" Modellbildung hat die Übertragung eines „soziomorphen" Modells gefunden, 146 nämlich die oftmals vor dem Hintergrund des zeitgenössischen te&sez-/fl/re-Kapitalismus gedeutete Entlehnung der Ideen eines „struggle for existence" aus Thomas Robert Malthus' An Essay on the Principle of Population .147 Die Untersuchung von Modellbildung und Analogisierung im Zusammenhang mit der Darwinschen Theorie ist zudem aus weiteren Gründen für die Erörterung von Strukturen und Bedingungen heuristischer Prozesse aufschlußreich: Die Theorie gilt als Exempel einer Parallelentdeckung und damit als Illustration eines Einwandes gegen die Zufälligkeit wissenschaftlicher Entdeku.a. Apostel 1960, S. 125^0, Kuipers 1960, Hesse 1965, Hempel 1965b, S.433-37, Stoff 1966, Leatherdale 1974, Kap.2, S.39-90, Redhead 1980b, S. 153-58). 144 Gefördert wurden diese Untersuchungen nicht zuletzt durch die drei existierenden Konvolute von Notizbüchern: dem von Gavin de Beer in den sechziger Jahren edierten „Transmutations of Species" (Beer [ed.] 1960), den von Howard Gruber und Paul Barrett herausgegeben Notizbüchern über „man, mind and materialism" (Gruber 1974) sowie den geologischen Notizen, von denen in Rudwick 1974/75 ausfuhrlich berichtet wird. Zu den noch keineswegs abgeschlossenen Rekonstruktionen vgl. u.a. Limoges 1970, Hull 1973, Gruber 1974, Ruse 1975 und 1978, Darden 1976 und 1980, Manier 1977, 1980 und 1980b (hierzu kritisch Schweber 1979 und Hodge 1980), Thagard 1977, Schweber 1977, Caplan 1979, Kleiner 1981, Ospovat 1981 (dazu Browne 1982). Vgl. auch Oldroyd 1984. 145 Vgl. Darwin 1872, Kap.4; hierzu u.a. die Untersuchungen von Young 1971, Ruse 1973, 1975b und 1979, vor allem S.172 und 177, Id. 1980, Evans 1984, zum weiteren Hintergrund Cornell 1984 (vgl. auch Anm.1.144). 146 Zu den Ausdrücken „technomorphes" und „soziomorphes Modell" vgl. in diesem Zusammenhang Peters 1972, S.334 (in Anlehnung an Topitschs Unterscheidungen). 147 Vgl. Darwin 1872, Kap.3. Die von Christian M. Barth besorgte Ausgabe einer deutschen Übersetzung weist eine auch die zeitgenössische Diskussion umfassende Bibliographie auf (Malthus 1798). Zur Kontroverse um die Theorien von Malthus, die im 19. Jahrhundert weitgehend abgelehnt wurden, vgl. neben Smith 1951 vor allem Boner 1955 und Eversley 1959, auch Meek (Hrg.) 1953. Darwin hat allerdings nicht die erste, sondern die sechste (1826) Auflage gelesen, die gegenüber der ersten nicht unwesentlich verändert ist. - Hierzu vgl. die Untersuchungen bei Young 1969, auch Id. 1971b und 1973, Vorzimmer 1969, Limoges 1970, S.79-S1, Herbert 1971, S.211-13, Gale 1972, Bowler 1976, Ospovat 1979 und 1981, Kap.3 und 4, Schweber 1980, Kohn 1980, Hodge/Kohn 1985; auch La Vergata 1985, S.953-58. Speziell zu Darwins Metaphorik in diesem Kontext vgl. Fellmann 1977, Manier 1977 und Gruber 1980 (vgl. auch Anm.1.144). Zum Netz von Analogien, das sich bei Darwins Entdeckungsweg vor seiner Malthus-Lektüre findet vgl. Kleiner 1987.

44

I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

kungen 1 4 8 — zudem soll Alfred Rüssel Wallace, ihr Mitentdecker, 149 ebenfalls durch die Malthus-Lektüre beeinflußt gewesen sein; 150 sie wurde im Blick auf die Übertragung eines „soziomorphen" Modells zum weit verbreiteten Anknüpfungspunkt für Überlegungen zur Relevanz ,wissenschaftsexterner 4 Einflüsse auf die Theoriekonstruktion; 151 ihre Übertragung bzw. die vergleichbarer Theorien 152 auf den sozialen Bereich im Rahmen von Ansätzen zeitgenössischer soziologischer Theoriebildung 153 oder im Bereich politischer Handlungsvorlagen ist als „Sozialdarwinismus 44 beispielhaft geworden; 154 schließlich wird sie — wenn auch auf verschiedene Weise und bei unter148

Vgl. Kapitel II.4,S.123ss.

149

Vgl. hierzu Anm.II.250. Zu Differenzen zwischen Darwin und Wallace vgl. Bowler 1977, im Hinblick auf „the origin of man44 Smith 1972, Kottier 1974, Schwartz 1984. 150

Vgl. McKinnery 1972, S.80/81, Anm.l, S.150 und S.160-71. Vermutlich hat auch Wallace die sechste Auflage des Werkes von Malthus gelesen. 151 Ein bekanntes Beispiel findet sich in Engels' Brief an Pjotr L. Lawrow vom 12. November 1875 (vgl. Marx/Engels 1966, S.169s); vgl. aber auch als weniger bekannte Beispiele Schäffle 1876/77, S.540, oder Pännekoek 1909, S.8/9, eine explizite Verbindung von Darwinismus und Laissez-faire findet sich auch bei Keynes 1926, S. 13ss; zu neueren Beispielen Rieckmann 1938, MacRae 1958, S.300/01, oder Oldroyd 1980, S.347/48. - Allerdings wird in einigen Untersuchungen die Relevanz,externer 4 Faktoren gerade im Zusammenhang mit diesem Beispiel bestritten, vgl. u.a. Darlington 1959, S.34/35, oder Beer 1963, S.100. Vgl. auch Anm.l. 147. 152 Hinzuweisen ist nicht allein auf das Werk Spencers (vgl. u.a. Ruse 1982b; zu einem Vergleich von Darwins und Spencers Evolutionstheorien Freeman 1974), sondern auch auf die Orientierung an,alternativen4 Theorieansätzen (vgl. hierzu Bowler 1983), so z.B. auf die verschiedenen neolamarckistischen Ansätze des vorigen Jahrhunderts (vgl. Stocking 1962, zu dem relativ seltenen Beispiel einer Übertragung mit konservativen Implikationen4 die Falluntersuchung bei Bowler 1984, vgl. hierzu - insbesondere zu der Frage, inwiefern wissenschaftliche Theorien politische Implikationen4 aufweisen können - McKenzie 1985 und Bowler 1985b; auch Danneberg 1989c), die „Keimplasma44-Theorie August Weismanns (zu dieser Theorie und zum ,Weismannism4 Churchill 1968, Cowan 1970, Burnham 1972; seltenes Beispiel ihrer,nichtkonservativen4 Übertragung ist Whittaker 1901, typisch dagegen ist die Argumentation bei Ziegler 1893 und 1899) oder die „Mutations44-Theorie Hugo de Vries' (zu ihrer Rezeption Allen 1969). Oftmals steht hinter den Übertragungen trotz darwinistischer Lippenbekenntnisse der Rückgriff auf vordarwinistische biologische Auffassungen (zur vordarwinistischen biologischen Theoriebildung im deutschsprachigen Raum vgl. Montgomery 1974). Zudem knüpfen die Übertragungen an verschiedene Aspekte ,aer4 darwinistischen Theorie, bzw. der Theorien Darwins an (vgl. Mayr 1985, der fünf unterscheidet), so daß es nicht klar ist, wer als Darwinist, und noch weniger, wer als Sozialdarwinist gelten kann. 153 Vgl. die Überblicke, Analysen und Einzelstudien u.a. bei Towne 1903, Stein 1904, Coker 1910, Barth 1922, S.260-436, Barnes 1925/26, Sorokin 1928, Kap.4, sowie Greene 1959, Martindale 1961, McCloskey 1963, Ambros 1963, Burrow 1966, Kon 1967, insb. Kap.II, Wiltshire 1978. 154

Vgl. die Überblicke u.a. bei Hofstadter 1955, Goodwin 1964, Clark 1968, Koch 1972, Bannister 1970 und 1979, Jones 1980, Bowler 1985, Kap. 10 - zum deutschen Sprachraum neben der noch immer informativen Darstellung bei Woltmann 1899 (zu Weltmanns eigenen Überlegungen vgl. Misch 1975) u.a. Zmarzlik 1963, Bolle 1967,

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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schiedlichen Fokussierungen 155 - auf den Bereich von Theorieentwicklung bzw. Theoriefortschritt und damit auch auf den Bereich einer rationalen Heuristik übertragen. 156 Es ist im Rahmen dieses Überblicks — ebenso wie im Fall der Analysis-Synthesis-Tradition — nicht einmal skizzenhaft möglich, auf die Geschichte der Analogie, sofern ihr heuristischer Gebrauch behandelt bzw. ihr eine heuristische Funktion attestiert wird, in der griechischen 157 oder thomistischen Philosophie 158 einzugehen. Das gleiche gilt sowohl für die heuristischen Aspekte der Analogiekonzeptionen und gegebenenfalls der heuristischen VerMann 1969, Kelly 1981, Benton 1982, Bayertz 1982 (vgl. auch Anm.1.152 und 153). Ausführliche Monographien zu „Sozialdarwinisten" sind selten (eine Ausnahme ist Crook 1984 zu Benjamin Kidd). Eine Vielzahl von Hinweisen finden sich zudem in Untersuchungen zur allgemeinen Rezeption der Theorie Darwins (bzw. was dafür gehalten wurde), so u.a. bei Paul 1979, Moore 1979, auch die Beiträge in Glick (ed.) 1974 sowie Russett 1976. Zur Frage eines „Sozialdarwinismus" bei Darwin vgl. Anm.V.280, bei Wallace vgl. Durant 1979. 155 Zu Hinweisen auf ältere Übertragungsversuche vgl. Campbell 1974 (zu Mach insb. Capek 1968). Jüngere Beispiele, die zugleich die unterschiedlichen Übertragungsweisen und Ergebnisse illustrieren, sind Hol ton 1953, Ackermann 1976, S.57-63, 91/92 (auch Id. 1970, S.64ss), Kuhn 1962, S.225-27 (dazu Meynell 1975, S.89/90), Popper 1968c, S. 112-18, Id. 1975 und Id. 1984b (von Ruse 1977, S.659, wird die Beziehung zwischen Evolutionstheorie und evolutionärer Konzeption wissenschaftlichen Fortschritts bei Popper als „weak analogy" bezeichnet, sowie Ruse 1986, S.61-65; vgl. auch Anm.IV.9 und 89), Toulmin 1961, Kap.6, S.118ss, Id. 1967, 1972 und 1981 (dazu u.a. die Diskussion zwischen Cohen 1973, Hull 1974b und Cohen 1974, sowie Losee 1977, fernerhin Kordig 1981/82, Krüger 1987, S.196ss), Rescher 1977, Kap. VIII, Richards 1977 und 1980, Bechtel 1984. Ein im Hinblick auf die Übertragungsaspekte reflektierter Ansatz findet sich bei Shrader 1980/81 (ausführlicher Id. 1979). Die neueren Positionen einer „evolutionären Erkenntnistheorie" lassen sich einer Vielzahl neuerschienener Sammelbände und Abhandlungen entnehmen, so etwa Vollmer 1983, Riedl 1980 und 1982, Lorenz/Wuketis (eds.) 1983 (dazu Engels 1985). Zu einer Bibliographie vgl. Campbell 1974 sowie Id. et al. 1987; zu D.L. Hulls (u.a. Id. 1983b und 1988) Konzeption vgl. jüngst die Diskussion in Philosophy and Biology 1988. 156 Zur kritischen Erörterung vgl. neben den Hinweisen in Anm.1.155 u.a. Rescher 1977, Kap.IX, Skagestad 1978, Kekes 1977, Thagard 1980b, Kary 1982, Putnam 1982c, Stegmüller 1984, Ruse 1986, Kap.2, aber auch Kap. 5, in dem die Umrisse einer „Darwinian Epistemology" skizziert werden, Bayertz 1987; auch Hull 1982. Bradie 1986 bietet die umfangreichste, die Analogisierungen durchweg kritisch erörternde Untersuchung zur evolutionären Erkenntnistheorie. Zur Verteidigung gegenüber einer Reihe von Einwänden vgl. Vollmer 1982 und Id. 1985. 157 Vgl. u.a. Regenbogen 1930, Lloyd 1966, Hesse 1963ζ auch Lyttkens 1952 (dazu Barth 1955) sowie Platzeck 1954 (dazu Ennen 1955). 158 Vgl. neben Bocheiiski 1948 und 1956 (dazu Keim 1956/57, weniger erhellend die Kritik an der „neothomistischen Modellauffassung" bei Stoff 1966, S.93-98) insb. Lyttkens 1952, Montagnes 1963, Anzenbacher 1978. - Zu neueren Untersuchungen zur Analogie, Modellverwendung und zu Metaphern in der Theologie, in der mitunter auch auf ihre Relevanz in den Wissenschaften und auf ihre wissenschaftsphilosophische Erörterung zurückgegriffen wird, u.a. Mclnerny 1968, Mondin 1963, Ferre 1972, Pälmer 1973, Burrell 1973, Barbour 1974 (dazu Woodsmall 1979), MacCormac 1976.

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

wendung von Analogien etwa bei Archimedes, 1 5 9 Kepler, 1 6 0 Bacon, 1 6 1 Galilei, 1 6 2 Descartes, 163 N e w t o n , 1 6 4 Leibniz und Wolff, 1 6 5 Diderot, 1 6 6 K a n t 1 6 7 oder Adam Smith 1 6 8 als auch für die extensive Verwendung von Analogien in der Romantik und in der romantischen Naturwissenschaft und -philosophie, für die der „Zauberstab der A n a l o g i e " 1 6 9 zum wichtigsten Instrument der ,Einheit in der Vielheit 4 wurde, wie schließlich für die behutsame Rehabilitierung der Analogie etwa bei Thomas Reid, Dugald Stewart, Thomas Brown oder William H a m i l t o n . 1 7 0 I m 19. Jahrhundert ist die Erörterung von Analogien bzw. Analogieschlüssen Standardbestandteil der Lehrbücher zur Logik und Wissenschaftslehre, ohne daß ihnen zumeist besondere analytische oder wissenschaftshistorische Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. 1 7 1 Eine weitaus größere Bedeutung gewinnen Analogien bzw. Modelle dagegen bei Naturwissenschaftlern wie M a x w e l l 1 7 2 und L o r d K e l v i n , 1 7 3 aber auch bei 159

Vgl. Mainzer 1981, S.16ss. Vgl. Phalet 1985, auch Kleiner 1983b. 161 Vgl. Park 1984, auch Jardine 1974, Kap.7. 162 Vgl. Daston 1984. 163 Vgl. Clarke 1982, S. 122s, Galison 1984, Eastwood 1984. 164 Vgl. u.a. McGuire 1970, North 1980, S. 116-22. Vgl. zu Newton sowie zu Locke in diesem Zusammenhang auch Anm.II. 128. 165 Vgl. u.a. Wolff 1751, §858-63 (S.532-35) mit den Leitbegriffen,Ähnlichkeit 4 und , Witz4 (zu Wolffs Ähnlichkeitskonzeption Poser 1979). Es ist hier nicht möglich, auf die Bedeutung des Witz-Begriffes für die,Erfindungskunst 4 im 18. Jahrhundert einzugehen. Zu einer eindringlichen Formulierung, bei der Ähnlichkeit und konstruktiver Witz-Begriff verknüpft werden, vgl. Novalis 1968, S.410 ( = „Das allgemeine Brouillon"): „Der Witz ist schöpferisch - er macht Ähnlichkeiten.44 166 Diderot 1754, dazu auch die Ausführungen bei Bernstein 1978 und Betts 1980. 167 Kant hat verschiedentlich Analogien verwendet und analysiert. Ein Beispiel einer zweifachen Analogisierung findet sich in seiner Untersuchung Über die Vulcane auf dem Monde, die jüngst bei Reinhardt/Oldroyd 1984 untersucht wurde, während Kant im selben Jahr seine scharfe Kritik an Herders Gebrauch von Analogien veröffentlichte (vgl. Kant 1785). 168 Vgl. Thomson 1965, auch Llobera 1981. 169 Vgl. Novalis 1799, S.518. 170 Vgl. Olson 1975 sowie Strong 1979. - Bedeutend ist die erst wieder von de Broglie und Schrödinger aufgenommene (formale) optischmiechanische Analogie Hamiltons (vgl. Jammer 1966, S.236-38, Kubli 1970/71, auch Hankins 1981). 171 Zu den interessanteren Beispielen gehören die Bemerkungen bei Jevons 1874, S.627-43, zu den weniger interessanten die bei George 1868, S.544-57. In den herkömmlichen Darstellungen der Analogie im vorigen Jahrhundert wird in der Regel sowohl auf ihre heuristische Bedeutung hingewiesen als auch vor ihrer Überschätzung aufgrund der Unsicherheit des ,Analogieschlusses4 gewarnt. Zu einer sehr kritischen Erörterung der Analogie vgl. Hoppe 1873 (auch Id. 1868, S.653-717). 172 Vgl. u.a. Turner 1955/56, Chalmers 1973 sowie Id. 1986, Hesse 1973, Olson 1975, S.289-312, North 1980, S. 125-32, Nersessian 1984; auch Dorling 1970, Wise 1977 sowie Siegel 1981. 173 Vgl. u.a. Wise 1979 und 1981, North 1980, Topper 1980; auch Bellone 1976, S.49-65. Zum Hintergrund fernerhin Wise/Smith 1986. 160

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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G.K. Gilbert, 1 7 4 M a c h 1 7 5 oder Boltzmann, 1 7 6 nicht zuletzt im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Erörterung mechanischer Modelle 111 und der Nützlichkeit wissenschaftlicher Hypothesen. 178 Wenn eine Theorie nach Maxwell, um das prominenteste Beispiel herauszugreifen, „erfolgreich weiter entwickelt" werden soll, dann sind die vorausgegangenen Untersuchungen auf eine möglichst einfache Form zu bringen. Für diese „Vereinfachung" bietet sich entweder eine „rein mathematische Formel" oder eine „physikalische Hypothese" an. Wird „die mathematische Formel" gewählt, so vermögen wir nach Maxwell zwar die „Folgerungen aus gegebenen Gesetzen zu berechnen", doch „verlieren wir die zu erklärenden Erscheinungen ganz aus dem Auge und können niemals eine umfassende Übersicht über die inneren Beziehungen des Gegenstandes gewinnen." 179 Wird hingegen die „physikalische Hypothese" gewählt, so „sehen wir die Erscheinungen" — wie es nach Maxwells bekanntem Bild heißt — „wie durch eine gefärbte Brille und sind zu jener Blindheit gegen Thatsachen und Voreiligkeit in den Annahmen geneigt, welche eine auf einem einseitigen Standpunkte stehende Erklärung begünstigt." 180 Desiderat ist für Maxwell eine „Untersuchungsmethode", welche die Vorzüge der Wahl einer „physikalischen Hypothese" mit denen der „mathematischen Formel" zu verbinden und ihre jeweiligen Nachteile zu vermeiden vermag. Besteht der Vorteil der „physikalischen Hypothese" darin, daß sie uns „bei jedem Schritte zu einer klaren physikalischen Anschauung befähigt", so besteht ihr Nachteil darin, daß wir uns an eine „specielle Theorie" binden, „von welcher diese Anschauung entlehnt ist", und die als unsere „Lieblingshypothese" uns „von der Wahrheit" enfernen kann. 1 8 1 Demgegenüber besteht der Nachteil bei der Konzentration auf die „mathematische Formel" darin, daß wir „durch die Verfolgung analytischer Subtilitäten vom Gegenstand" unserer Untersuchungen „abgezogen" werden können. 1 8 2 Die Lösung des Problems sieht Maxwell zum einen 174

Vgl. Gilbert 1886. Vgl. u.a. Mach 1902. 176 Vgl. Boltzmann 1895 und 1902. Zu einem Vergleich von Maxwells und Boltzmanns Konzeption vgl. Curd 1978, S.71-128. 177 Der Ausdruck „,model' as a terminus technicus in the modern cognitive sense appears" - wie Max Jammer (1962, S.691) schreibt - „not before the second half of the last century, while as a term in craftmanship and architecture it is much older." Vgl. zur Geschichte des Modellbegriffs auch Müller 1983. 178 Als Beispiel kann die Diskussion der Atomhypothese im vorigen Jahrhundert gelten (vgl. Nye 1976, Gardner 1979). Zur zeitgenössischen Diskussion vgl. etwa Naville 1880, Rey 1907 oder Görland 1911. 179 Maxwell 1855/56, S.4. 180 Maxwell 1855/56, ebd. 181 Maxwell 1855/56, S.69/70. 182 Maxwell 1855/56, S.4. An dieser Stelle fehlt bei Maxwell die Angabe des Vorteils der „mathematischen Formel"; deutlicher wird er in der Einleitung zum zweiten Teil. 175

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

in der Ersetzung der „physikalischen Hypothese" durch die „physikalische Analogie" 1 8 3 und zum anderen in der Verbindung der „physikalischen Analogie" mit der „mathematischen Formel" 1 8 4 : „ U m physikalische Vorstellungen zu erhalten, ohne eine specielle physikalische Theorie aufzustellen, müssen wir uns mit der Existenz physikalischer Analogien vertraut machen. Unter einer physikalischen Analogie verstehe ich jene theilweise Ähnlichkeit zwischen den Gesetzen eines Erscheinungsgebietes mit denen eines andern, welche bewirkt, dass jedes das andere illustriert." 1 8 5 A u f den heuristischen Beitrag, den Maxwells „physikalische Analogien" bei der Weiterentwicklung von Theorien leisten sollen, ist immer wieder hingewiesen worden. 1 8 6 Zugleich findet sich bereits bei Maxwells Zeitgenossen thematisiert, daß „physikalische Hypothesen" und „physikalische Analogien" im Sinne Maxwells unterschiedlichen Status besitzen. Die Akzeptanz der heuristischen Fruchtbarkeit von Modellen und Analogien begleiteten zunehmend Warnungen vor ihrem Mißbrauch, die sich mit der Erörterung ihres unwirklichen 4 , ,fiktiven' oder ,imaginären' Charakters verbreiteten. Diese Warnungen protegierten eine Sicht von Modellen und Analogien, nach denen diese lediglich Instrumente der Weiter- oder Neuentwicklung von Theorien seien. Dieser Aspekt wird deutlich in Woldemar Voigts Gedächtnisrede zum Tode Lord Kelvins (William Thomsons) : „Die Modelle sind ihm [Lord Kelvin] eben nicht Abbilder der Natur, [...] sondern nur Systeme von bestimmten, in der Natur vorhandenen Eigenschaften, die, indem sie einen Vorgang der Auffassung näher rücken, die Aussicht auf leichte Entdeckung weiterer, damit verbundener, aber noch nicht bekannter Erscheinungen und Gesetze eröffnen." 187 Aufschlußreich an den Ausführungen dieser 1908 gehaltenen Rede ist, daß die schon fast sprichwörtliche Vorliebe Lord Kelvins für (mechanische) Modelle retrospektiv wie selbstverständlich eine instrumenteile Deutung erfährt, die weder für die Zeitgenossen offensichtlich war noch heute geteilt wird. 1 8 8 183

Gelegentlich verwendet Maxwell auch den Ausdruck „scientific metaphor". Die Problemsituation wird bei Kargon 1969 (vgl. auch Smith 1982 sowie Fox 1974) in einen erhellenden Kontext gestellt. Danach richteten sich Maxwells Überlegungen zum einen gegen die „French Mechanico-Molecular School", die ihren Theorien durch die Annahme molekularer Prozesse physikalischen Gehalt' zu verleihen versuchten, die durch ähnliche Gesetze wie makrophysikalische Prozesse beherrscht werden (Lagrange, Poisson und Cauchy), zum anderen gegen den „Positivistic Approach", der die,Reduzierung von Physik auf Mathematik' betrieb (Fourier). 185 Maxwell 1855/56, S.4. 186 Vgl. neben den in Anm.1.172 genannten Untersuchungen auch Black 1962, S.226-28, sowie Kargon 1969, S.434. 187 W. Voigt am 9. Mai 1908, zit. nach Jammer 1965, S. 170. 188 So unterscheidet Black 1962, S.228/29, den Gebrauch von Modellen als „heuristic fictions" von dem „existential use of models" und er sieht gerade bei Lord Kelvin ein 184

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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Worin die Gefahren der physikalischen Modellbildung und Analogisierung gesehen wurden, resümiert Max Jammer: „ M a n war [am Ende des 19. Jahrhunderts] der Meinung, daß der Gebrauch von Modellen neue Horizonte für die Forschung öffnete — und das nicht nur in den physikalischen, sondern auch in den biologischen und sogar gesellschaftlichen Fächern [...]. Doch die Reaktion blieb nicht aus. Die besonders aus der Maxwellschen Theorie erwachsenen Modelle mit ihren monströsen Komplikationen riefen ernste Bedenken hervor. Die schon seit Kirchhoff aufkommende positivistische Kritik sprach ihnen jeden Wahrheitswert ab und bewertete sie lediglich unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit (Hertz) oder der Gedankenökonomie (Mach) [...]. Der Modellbegriff wurde somit zu einem zwar methodologisch zweckmäßigen, aber im Prinzip eliminierbaren Hilfsmittel degradiert." 189 Diese Reaktion ist vor dem Hintergrund von zwei methodologischen Anforderungen zu sehen, die an heuristische Modelle und Analogien gerichtet werden: Zum einen sollen Modelle oder Analogien zugleich als Bestätigungen der durch sie weiterentwickelten Theorie gelten — in diesem Sinne deutet, allerdings nicht unumstritten Mary Hesse die Analogiekonzeption Maxwells; 1 9 0 zum anderen soll die Bildung einer bestimmten Art von Modellen (bzw. von Analogien) zu einer gegebenen Theorie zugleich als Evaluationskriterium dienen, wobei angenommen wird, daß das Scheitern einer derartigen Modellbildung gegen die gegebene Theorie spricht. Für den instrumenteilen Charakter des heuristischen Gebrauchs von Modellen oder Analogien ist es — im Gegensatz zu den Formulierungen bei Max Black 1 9 1 — keine notwendige und vielleicht nicht einmal eine hinreichende Bedingung, daß sie ,fiktiven 4 Charakter besitzen. 192 Ihr instrumenteller Charakter hängt vielmehr von der Erfüllung der folgenden Bedingungen ab: erstens, daß Modelle und Analogien nicht zur Evaluation der weiter- oder neuentwickelten Theorie herangezogen werden; zweitens, daß sie nicht zu einer integrativen Theorieentwicklung führen, d.h. zu einer Theorie, deren intendierter Anwendungsbereich den des Modells bzw. der Analogie wie den der weiterzuentwickelnden Theorie umspannt, etwa im Zuge einer ,ontologischen Reduktion 4 . Modelle und Analogien haben demgegenüber für eine Theorie essentiellen Charakter, wenn eine der beiden Bedingungen erfüllt ist. Eine zweite, oftmals von Modellen bzw. Analogien erwartete und mit ihrer heuristischen Leistung verknüpfte Aufgabe ist die bei Maxwell ebenfalls anBeispiel für den zuletzt genannten Gebrauch vorliegen. Vgl. auch Anm.1.173. 189 Jammer 1965, S.170/71. 190 Vgl. Hesse 1973. 191 Vgl. Anm.1.188. 192 Der,fiktive 4 Charakter von Modellen (und Hypothesen) findet sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts häufig erörtert. Diese Erörterung gipfelt in Hans Vaihingers nahezu grenzenloser Ausweitung des Fiktionalitätsbegrifis (vgl. Id. 1911).

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

gedeutete semantisch-pragmatische Deutung von Theorien. Auch hier läßt sich eine instrumenteile von einer essentiellen Verwendungsweise im Hinblick auf die vorliegende Theorie unterscheiden. A n dem einen Ende des Spektrums stehen Konzeptionen, nach denen Modelle bzw. Analogien oder — vornehmlich in der neueren Literatur — auch wissenschaftliche Metaphern didaktischen Zwecken genügen sollen, z.B. zur Veranschaulichung vorliegender Theorien; 193 an seinem anderen Ende stehen Konzeptionen, nach denen sie integrale Bestandteile von Theorien bilden und hierbei Aufgaben erfüllen, welche die Theorien allein nicht zu erfüllen vermögen, z.B. als Voraussetzungen ihrer empirischen Überprüfbarkeit. Norman Campbells Analogiekonzeption stellt ein elaboriertes Beispiel für die zuletzt genannten Konzeptionen dar. Analogien sind danach „an utterly essential part of theories", ohne die sie „completely valueless and unworthy of the name" 1 9 4 wären. Nach Campbell können Analogien zwar „laws", d.h. empirisch direkt überprüfbare Gesetze, heuristisch nahelegen, sie sind aber überflüssig, wenn diese Gesetze formuliert sind. 1 9 5 Sie können auch „hypotheses", d.h. empirisch nicht direkt überprüfbare ,Gesetze', heuristisch nahelegen, doch beruht ihre Relevanz in diesem Fall darauf, daß von ihnen die empirische Überprüfbarkeit der Theorie abhängt, der diese „hypotheses" angehören. Die Theorie soll nach Campbell die ihr zugeordneten „laws" erklären, und es reicht hierzu nicht aus, wenn die Theorie (anhand von „dictionaries") sie zu deduzieren erlaubt — denn zu gegebenen „laws" lassen sich beliebige und mithin uninteressante Theorien konstruieren. 196 Von der Theorie ist vielmehr zu erwarten, daß sie zu den ihr zugeordneten „laws" auch eine Analogie entfaltet. 197 Eine Erklärung (im Sinne Campbeils) vorliegender „laws" erreicht eine Theorie mithin erst mit der Bereitstellung einer Analogie. 1 9 8 Als Antipode zu Campbells Analogiekonzeption gilt die Duhem zugeschriebene Ansicht: Steht jener für die Wertschätzung von Modellen bzw. Analogien, so dieser für ihre Ablehnung. 1 9 9 In der Tat lehnt Duhem Modelle 193

Vgl. z.B. Franz 1953, S.51, ausführlicher Stoff 1966, Kap.9, S.279-328, auch Vollmer 1982b. 194 Campbell 1920, S.129. Zu einer knappen Darstellung seiner Auffassung auch Id. 1921, S.94-97. 195 Campbell 1920, S. 130. 196 Campbell 1920, S. 129. - Vgl. auch unten S. 116ss. 197 Campbell 1920, ebd. Campbell unterscheidet einen weiteren Theorie-Typ, bei dem das Problem variiert (Id. 1920, S. 140-^4). 198 Die hier vorgelegte Darstellung der Analogiekonzeption Campbells läßt eine Reihe von Zusammenhängen mit anderen Bestandteilen seiner Theoriekonzeption unberücksichtigt; zu weiteren Aspekten vgl. Buchdahl 1964, mit dessen Deutung hier allerdings nicht in allen Punkten Übereinstimmung besteht. - Zu einer Wiederaufnahme vgl. Bhasker 1975b, S.155s. 199 Vgl. z.B. Hesse 1963c und 1963d.

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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- und das sind bei ihm ,mechanische Modelle' - in bestimmter Hinsicht nicht nur ab, sondern er überhöht ihre Wertschätzung oder Ablehnung sogar zu nationalen Denkstilen. 200 So ist für ihn der Wert, den ,mechanische Modelle' für die Konstruktion von Theorien besitzen als gering zu veranschlagen, auch wenn es „lächerlich" wäre — wie es bei Duhem heißt —, dem „Gebrauch mechanischer Modelle jedwede Fruchtbarkeit" 2 0 1 abzusprechen. Duhems kritische Einschätzung des Wertes ,mechanischer Modelle' zur heuristischen Inspiration kontrastiert allerdings mit seiner Wertschätzung von Analogien als „fruchtbarste Methode" beim „Bau physikalischer Theorien": „Der Physiker, der die Gesetze einer gewissen Kategorie von Phänomenen zu vereinigen und zu klassifizieren sucht, läßt sich sehr oft durch die Analogie, die er zwischen diesen Phänomenen und den Phänomenen einer anderen Kategorie sieht, leiten. Wenn diese letzteren schon geordnet sind, wird der Physiker versuchen, die ersteren in einem System desselben Typus und derselben Form zu gruppieren. Die Geschichte der Physik zeigt uns, daß die Forschung nach Analogien zweier verschiedener Kategorien von Erscheinungen vielleicht von allen beim Bau physikalischer Theorien verwendeten Mittel die sicherste und fruchtbarste Methode gewesen ist." 2 0 2 Zwar steht Duhem in der Wertschätzung des heuristischen Nutzens von Analogien Campbell nicht nach, doch besteht der entscheidende Unterschied darin, daß er Analogien nicht als integrale Bestandteile von Theorien sieht. Die Gründe für die im Vergleich zu Campbell eher instrumenteile Sicht von Analogien liegen in der unterschiedlichen Auffassung der Struktur und Dynamik (physikalischer) Theorien. Deutlich wird, daß die Sicht der heuristischen Leistung von Modellen bzw. Analogien und der damit verbundenen weiteren Aufgaben, die von Modellen bzw. Analogien erwartet werden, weder 200

Vgl. Duhem 1906, S.79ss, auch schon Id. 1893; zu einem weiteren Beispiel einer derartigen Zurechnung Duhem 1915 (dazu auch Paul 1972). Zu einer detaillierten historischen Erörterung dieser Denkstilzuweisung vgl. Olson 1975, S.323-35. Derartige nationale Zuweisungen waren in der damaligen Zeit keineswegs unüblich, wenn man etwa an Taines Notes sur l'Angleterre denkt, aber auch an Poincaré 1890, S.v/vi. Paul Volkmann (Id. 1910, S. 108) hat Duhems Denkstilzuweisung aufgegriffen und mit dem vielleicht nicht anders zu erwartenden Ergebnis weiterentwickelt, daß „vielleicht gerade der deutsche Geist [...] besonders befähigt" sei, „beide Formen des Denkens [die von Duhem unterschieden werden] in das rechte Verhältnis zu setzen". 201 Duhem 1906, S. 127. 202 Duhem 1906, S. 123/24. Duhem weist noch auf eine „bestimmtere Form" hin, welche die Analogie annehmen kann und in der er Maxwells „physical analogy" wiedererkennt (S. 124): „Wenn zwei Kategorien von sehr verschiedenen, sehr unähnlichen Erscheinungen auf abstrakte Theorien reduziert worden sind, kann es geschehen, daß die Gleichungen, in denen die eine derselben formuliert ist, algebraisch, mit den Gleichungen, die die andere ausdrücken, identisch ist. Wenn nun auch diese beiden Theorien auf Grund der Natur der Gesetze, die sie ordnen, im Wesen verschieden sind, stellt doch die Algebra zwischen ihnen eine genaue Übereinstimmung her. Jedem Satz der einen dieser Theorie entspricht ein homologer in der anderen. Jedes Problem, das in der ersten gelöst ist, stellt und löst ein ähnliches Problem in der zweiten." - Vgl. hierzu auch die Charakterisierung bei Mach 1896, S.403, auch Id. 1896b, S.265.

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

unabhängig ist von der favorisierten Theoriekonzeption 203 — für Duhem besitzen Analogien einen inter -, während sie für Campbell einen zwfratheoretischen Charakter haben — noch von der Evaluation der Theoriendynamik 204 und damit letztlich von der gewählten Methodologie der Theorieevaluation. Die heuristische und interpretatorische Verwendungsweise von Modellen bzw. Analogien sowie ihr instrumenteller oder essentieller Charakter können kombiniert werden. Da ihre heuristische Verwendungsweise in der Regel unumstritten ist, lassen sich diese Kombinationen in eine Reihe einfügen, deren Endpunkte zum einen Konzeptionen der instrumentell gedeuteten heuristischen Verwendung, zum anderen Konzeptionen der essentiell gedeuteten heuristischen und interpretatorischen Verwendung von Modellen bzw. Analogien bilden. In einer solchen Reihe sind in der Tat Duhems und Campbells Auffassungen an den jeweiligen Endpunkten angesiedelt. Neuere Konzeptionen wie die Mary Hesses, die der Konzeption Campbells recht nahe steht, 205 oder die Auffassung Carnaps, die in der Nähe der Duhems liegt, 206 finden in dieser Reihe ebenso einen Platz wie die von den Endpunkten weiter entfernten Konzeptionen Rom Harrés, 207 Ernest Huttens, 208 Wilfrid Sellars', 209 Stephen Toulmins, 210 Ernest Nagels 211 oder Richard Braithwaites. 212 203

Auf die unterschiedlichen Theoriekonzepte hat Mellor 1968, S.287, hingewiesen: „[...] Duhem's concept of a theory differs from Campbell's in that Duhem has more stringent standards or self-identity for theories, so that he must talk of replacement by

a new theory where Campbell talks of extending the selfsame theory [...]." 204

Auf eine Vielzahl weiterer Aspekte der wissenschaftsphilosophischen Konzeptionen Campbells und Duhems, die für den Zusammenhang wichtig sind, kann hier nicht eingegangen werden (zu Campbell vgl. Buchdahl 1964; zu Duhem vgl. Schäfer 1974, Kap.4, S. 107-91, Diederich 1974, S.62-87, auch Giedymin 1976). 205 Zu Mary Hesses eingehender Beschäftigung mit Modell- und Analogiekonzeptionen Ead. 1951/52, 1953/54, 1955 sowie von späteren Arbeiten u.a. Ead. 1970d und 1974d. 206 Vgl. Carnap 1939, Kap.III.25 („ ,Verstehen' in der Physik"), wo es heißt (S.92): „Es ist wichtig zu erkennen, daß die Entdeckung eines Modells nicht mehr als einen ästhetischen oder didaktischen Wert besitzt, im besten Fall einen heuristischen Wert, daß sie aber für eine erfolgreiche Anwendung der physikalischen Theorie überhaupt nicht notwendig ist." 207 Vgl. u.a. Harre 1959/60 und 1972, S. 172-80. 208 Vgl. Hutten 1949,1953/54 und 1956 (zu einem Vergleich der Konzeption Huttens mit der Braithwaites vgl. Götlind 1961). 209 Vgl. Seilars 1965, S. 178-84, auch Id. 1963, dazu Brown 1986, S.292ss. 210 Vgl. Toulmin 1953, S.27-39 und 169-74 (zu einem Vergleich der Konzeptionen Toulmins und Braithwaites vgl. Luchins/Luchins 1963, S.310-16). 211 Vgl. Nagel 1961, S.95-97 und 108-16 (dazu kritisch Hesse 1963; vgl. auch Anm.V.14). - Hempel 1970, S. 156-58, erörtert die Auffassung Nagels und scheint dabei zu einer stärkeren Betonung der Relevanz von Modellen zu gelangen (S.158): „[...] a model in the sense here considered is not only of didactic and heuristic value: The statements specifying the model seem to me to form part of the internal principles of a theory and as such to play a systematic role in its formulation."

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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Die Verwendung von Analogien bzw. Modellen begleitet ein Problem, das auf die Frage der Geltungsrelevanz einer Methodologie der Theoriekonstruktion zurückverweist. Es besteht in der Frage, ob Analogien bzw. Modelle ,Beweislast4 tragen bzw. bestätigend sein können. Auch wenn die Antwort auf diese Frage häufig mehr oder weniger strikt verneinend ausfällt, 213 so finden sich nicht nur in älteren Untersuchungen Versuche, Analogien (bzw. Modellen) neben der heuristischen auch eine bestätigende Rolle einzuräumen. Diese Ansicht ist erneut virulent geworden, seit Carnap die Auffassung vertreten hat, daß eine Bestätigungsfunktion auch ein Prinzip der bestätigenden Analogie erfüllen sollte, 214 und er zu zeigen versuchte, daß die Funktion c* sowie jede andere c-Funktion in seinem η - K o n t i n u u m induktiver Methoden in bestimmter Weise ein solches Prinzip erfüllt. Dieser Versuch ist von der Kritik als inadäquat angesehen worden. Die Kritik Achinsteins, der darauf hinweist, daß die Berücksichtigung komplizierterer Analogien in Carnaps η - K o n t i n u um induktiver Methoden schon nicht mehr gewährleistet sei, 215 wird zwar von Carnap akzeptiert, jedoch nicht ohne den Hinweis auf einen, wenn auch noch nicht ausgearbeiteten Weg zur Behebung dieser Schwierigkeit. 216 Ebenso hält Mary Hesse in einer Reihe von Arbeiten an der bestätigenden Rolle von Analogien fest, obwohl sie keinen anderen Weg zu ihrer Rechtfertigung als den sieht, Analogien als Arten induktiver Schlüsse aufzufassen, 217 und ihr die vorliegenden Ansätze zur Rechtfertigung,induktiver Analogien 4 als ungenügend erscheinen. 218 Häufig ist zudem darauf hingewiesen worden, daß Analogien bzw. Modelle in wissenschaftshistorischen Fällen sowohl eine heuristische als auch eine bestätigende Aufgabe erfüllt haben. So heißt es zu dem bereits erwähnten Beispiel der Analogisierung der „künstlichen Zuchtwahl 44 bei Ruse verallgemeinernd: „Having modelled a theory on something, the scientist sometimes turns and uses the model in order to support his new theory. Hence, the model 212 Vgl. Braithwaite 1953, Kap.3 (auch Id. 1954), insb. Id. 1962 (zu Braithwaites Konzeption vgl. neben Götlind 1961 und Luchins/Luchins 1963 vor allem Spector 1965/66). Vgl. auch Kap.II, S.116. 213 Vgl. z.B. den lakonischen Kommentar bei Campbell 1907, S.308: „No analogy can prove anything.44 214 Vgl. Carnap 1950, S.569. 215 Vgl. Achinstein 1963. 216 Vgl. Carnap 1963c, vor allem S.225. 217 Hesse 1963b, S.287. - Zu einem neueren Ansatz zur Erörterung verläßlicher Analogieschlüsse vgl. Weitzenfeld 1984. 218 Vgl. Hesse 1963b, S.288-90, ausführlicher Ead. 1964b. Obgleich sie auch Vorbehalte gegen Carnaps Versuch hat, im Rahmen seines η-Systems die Probleme bestätigender Analogien zu lösen (vgl. Carnap 1959b, Anhang Β [VIII], S.251/52), hält sie es zunächst für möglich, daß Carnaps η-System nach einer Reihe von Korrekturen erfolgreich sein kann (vgl. Hesse 1963b und 1964b, S.290-92). Später scheint sie allerdings skeptischer zu sein (vgl. Ead. 1974c, S. 169/70).

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I. Entdeckungs-und Begründungszusammenhang

continues [after the models have been used to discover and build theories] to play an important scientific role." 2 1 9 Von dieser wissenschaftshistorisch motivierten Behauptung läßt sich eine Verbindung zu Hesses Vorschlag zur Lösung des Transitivitätsproblems für Bestätigungsbegriffe ziehen, das bei der gleichzeitigen Erfüllung bestimmter Adäquatheitsbedingungen entsteht. 220 Vereinfacht formuliert besteht dieses Problem darin, daß ein Satz α, der eine Theorie t bestätigt, nicht in jedem Fall auch eine Konsequenz b von t bestätigt, wobei / / ->b\ = 1-wahr ist. Würde a in allen Fällen ein solches b bestätigen, dann könnte ein beliebiger Satz ρ einen beliebigen Satz q bestätigen, wenn t entsprechend formuliert wird, in diesem Fall z.B. als t = ρ λ q. Hesses Lösungsidee besteht in der Formulierung der zusätzlichen Adäquatheitsbedingung, daß t eine Analogie zwischen a und b ausdrückt. 221 Dieser Vorschlag ist nicht ohne K r i t i k geblieben 222 und er läßt eine Reihe von Fragen offen. 2 2 3 In jüngerer Zeit sind weitere Vorschläge zur Charakterisierung ,induktiver Analogien' vorgelegt worden, 2 2 4 auf die hier nicht näher eingegangen zu werden braucht. Aufgrund des zunächst festgelegten Verzichts einer Methodologie der Theoriekonstruktion auf Geltungsrelevanz ist die erfolgreiche Charakterisierung bestätigender Analogien für eine Methodologie der Theoriekonstruktion nicht zwingend erforderlich. Geringer ausgeprägt als die Akzeptanz von Modellbildung und Analogisierung als heuristische Mittel ist der Konsens im Hinblick auf Fragen ihrer ,rationalisierbaren' Struktur sowie ihrer generellen Relevanz bei der Entdekkung und Weiterentwicklung von Theorien. Auch wenn es eine Reihe von Untersuchungen zur formalen Charakterisierung von M o d e l l - und Analogiebeziehungen 225 und zur Unterscheidung von M o d e l l - und Analogiearten 219 Ruse 1973, S.247, auch Id. 1975c (dazu Rosenberg 1980, S.84ss). Diese wissenschaftshistorische Beobachtung steht in Konflikt mit einem Bestätigungsbegriff (vor allem im Rahmen einer Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme), der auf einem ,heuristischen Kriterium' der Neuheit beruht (vgl. Kapitel V, S.254ss sowie Anm.VI.229). 22 Vgl. Hesse 1970c sowie 1974b, S. 141-46. 221 Vgl. Hesse 1970d und 1974d, auch Ead. 1973. 222 Vgl. u.a. Dorling 1975. 223 Vgl. Hesses eigene Bemerkungen in Ead. 1980, S.216. 224 So z.B. Niiniluotos Vorschlag im Rahmen des /c-dimensionalen Systems induktiver Methoden, einer Weiterentwicklung des 2-dimensionalen Hintikka-Systems (Id. 1980c, ausführlicher 1981, dazu kritisch Spohn 1981). Zu weiteren Vorschlägen vgl. Batens 1975, Carnap 1980, Sect. 16 und 17, Constantini 1983, Kuipers 1984, der in Id. 1984b ein weiteres System charakterisiert hat. Ein älterer Vorschlag im Rahmen von Hintikkas (α, λ)-Κοη1ΐηυυιη induktiver Methoden findet sich bei Pietarinen 1972, insb. S.91-99. — Zur Ergänzung von Goodmans entrenchment- Konzeption wird bei Roper 1982 auf eine Konzeption von „analogical models" zurückgegriffen. 225 Vgl. u.a. Bochehski 1948, auch Id. 1956 (dazu Juhos 1956), Hesse 1959/60, Apostel 1960, Braithwaite 1962, Stachowiak 1965, S.456-63, und Id. 1973 (zu Stachowiaks Modellkonzeption vgl. Reitzer 1975), Stier 1967, Weingartner 1979, Gentner 1983,

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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gibt, 2 2 6 sind damit Modellbildung und Analogisierung noch nicht hinreichend als heuristische Verfahren charakterisiert. 227 Zwar gibt es in nahezu jeder Disziplin eine umfangreiche Literatur zu Modellen und Analogien, die in ihrer Geschichte heuristisch wirksam gewesen seien — so in Physik, 228 Chemie, 2 2 9 Biologie, 230 Psychologie, 231 Sozialwissenschaften, 232 Sprachwissenschaft 233 und Kommunikationswissenschaft 234 — , doch ist damit noch nicht ihre Relevanz bestimmt und insbesondere sind weder die Leistungen, die Modellbildung und Analogisierung als Elemente einer rationalen Heuristik zu erbringen vermögen, noch die methodologischen Nachteile aufgezeigt, zu denen ihr Gebrauch führen kann. 2 3 5 Indurkhya 1987. Der von Goodman 1951, Kap. 1.3 und 4, charakterisierte Isomorphiebegriff, der nicht symmetrisch ist, wird bei Swanson 1966/67 auf die Modellbeziehung übertragen (dazu vgl. auch Farre 1967/68 sowie Byerly 1969). 226 Vgl. z.B. die Unterscheidungen bei Meyer 1951, S.113, zwischen „mechanistic", „arithmetical" und „axiomatic models"; bei Zubin 1951/52, S.431, zwischen „miniature", „gap-filling or missing-link" und „mathematical model"; bei Meadows 1957, S.8, zwischen „pictoral or representational (or descriptive)", „explicative" und „verificatory model"; bei Groenewold 1960 zwischen „representative", „substitute" und „study model" (zu einem Explikationsversuch dieser Unterscheidungen Lawniczak 1979); bei Ujomov 1964 zwischen „traditional analogy", „causal and substitutional analogy", „analogy of consequence", „analogy of correlation" und „functional-structural and structural-functional analogy"; bei Fürth 1969 zwischen „functional", „structural", „scale" und „analogue model"; und bei Achinstein 1968, S.209-25 (auch Id. 1969b, S.280-82), zwischen „representational", „theoretical" und „imaginary models". Awenir Ujomov hat in seinem bislang nur russisch erschienen Buch Logical Foundations of Model Method siebenunddreißig verschiedene Konzeptionen in der einschlägigen Literatur unterschieden (vgl. Krajewski 1974b). Kritische Bemerkungen zum ausufernden Gebrauch des Modellausdrucks finden sich u.a. bereits bei Brodbeck 1959, S.373, oder Shanin 1972, S.7/8. 227 Vgl. Danneberg 1989c; auch Holland/Holyoak/Nisbett/Thagard 1986, Kap. 10. 228 Vgl. u.a. Seeliger 1948, Hesse 1953/54, Heckmann 1965, Jammer 1965, Hund 1965, Clark 1972, Korch et al. 1972, Kap.4.7, Hager/Hörz 1977, S.173-179, Hager 1982, S. 116-22, und Ead. 1982b. 229 Vgl. u.a. Farber 1950, Korch et al. 1972, S.304-12; auch Borek 1970. 230 Vgl. u.a. Bertalanffy 1951/52 und 1965, Peters 1960 und 1965, Straaß 1962, S.45-76, Canguilhem 1963 (dazu Rothschuh 1963), Pilet 1966, Hall 1968, R. Müller 1968, Schaefer/Novak 1972, Darden 1977, S.247-51, Viebahn 1982, sowie Beiträge in Beamont (ed.) 1960. Vgl. auch Basalla 1962, Webster 1965b und Burchell 1981. 231 Vgl. u.a. Bertalanffy 1951/52, Gregory 1953/54, Vetter 1965, Metzger 1965, Campbell 1970, Shope 1971, Lowry 1971, McReynolds 1980. - Vgl. Elkana 1983. 232 Vgl. u.a. Deutsch 1951 (auch Id. 1948/49), Bombach 1965, Galtung 1957 sowie Id. 1977, Kap.6, S.217-56, Bühl 1974, S.40-45. 233 Vgl. u.a. Meyer-Eppler 1955, Lees 1959, S.296-303, Chao 1962, Cohen 1982. Zu linguistischen Modellen in anderen Disziplinen Greenberg 1980. 234 Vgl. Murray/Stewart 1963. 235 Die Bedenken resultieren zumeist aus der wissenschaftshistorischen Beobachtung, daß Modelle und Analogien, nachdem sie ihre heuristische Aufgabe erfüllt haben, häufig eine Art Eigenleben führen und ihr instrumenteller Charakter in Vergessenheit gerät. So heißt es z.B. bei Zubin 1951 /52, S.438: „One earmark of a good model, in retrospect, is its brief life. Good models don't live long!" In die gleiche Richtung wei-

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

A u f zwei traditionelle Konzepte, nämlich Hermeneutik und Dialektik, die gelegentlich als Heuristiken gedeutet oder als heuristisch relevant angesehen werden, möchte ich nur kurz eingehen. Wenn Hermeneutik als eine Art Heuristik ins Spiel gebracht wird, so geschieht das zumeist en passant, wenn Wissenschaftstheoretiker die aus ihrer Sicht anmaßenden Prätentionen hermeneutischer Konzeptionen erörtern und Hermeneutik eher auf das Abstellgleis der Heuristik schieben. In diesen Fällen wird Heuristik kaum als etwas aufgefaßt, das rationalisierbar ist und im vorliegenden Zusammenhang Interesse verdient. 236 Die Verbindung zur Heuristik wird gelegentlich auch in wohlwollender Absicht hergestellt. Beispiel sind die Untersuchungen Theodore Kisiels, für den die Hermeneutik nicht auf den geisteswissenschaftlichen Entdeckungszusammenhang beschränkt bleibt — wie dies zumindest in der Geschichte der Hermeneutik Tradition ist —, sondern explizit auf den naturwissenschaftlichen Entdeckungszusammenhang bezogen wird, in dem sie eine entscheidende Rolle spiele. 237 Allerdings läßt sich auch dieser Ansatz vernachlässigen, da er keinen Bezug zu der Frage nach der Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs in Form einer Methodologie der Theoriekonstruktion erkennen läßt. Ebenso wenig hilfreich für die Erörterung einer Methodologie der Theoriekonstruktion war es bislang, wenn von Dialektik oder dialektischer Logik angenommen wurde, sie seien in der Lage, heuristisch wirksam zu sein, 238 oder behauptet wurde, erfolgreiche Entdeckungsprozesse seien dialektisch, wenn auch zumeist spontan dialektisch, 239 oder der Entdeckungsprozeß beinhalte wesentlich einen „dialektischen Sprung". 2 4 0 Ohne nähere Spezifizierung sind solche Zuschreibungen uneingelöste Versprechen, unüberprüfbare ex-postErklärungen oder sie geben dem, was als,irrational 4 , d.h. als methodisch nicht sen auch Überlegungen Bunges — zu weiteren Hinweisen auf Unzulänglichkeiten von Modellen vgl. Kaplan 1964, §32, S.275-88 —, für den die Entbehrlichkeit von Analogien bzw. Modellen im Zusammenhang mit dem Reifegrad einer wissenschaftlichen Theorie steht (Id. 1967/68, S.285): „In factual science analogy and analogical inference are welcome as theory construction tools. By the same token they are signs of growth, symptoms that the theory is still in the making rather then mature. A mature classical electrodynamics has no need for elastic tubes of force: the field — a non-mechanical substance — suffices for all purposes, the mechanical analogies being regarded as removable appendages." — vgl. auch unten, S.296/97. 236 Hierzu auch Danneberg/Müller 1984, Teil 1, S. 179-201. 237 Vgl. z.B. die Versuche bei Kisiel 1973, auch Id. 1971. Zu Kisiels Ansatz vgl. jüngst Id. 1979 und 1980. 238 So z.B. bei Tavanec/Svyrev 1964, S.20 (dazu auch die Bemerkung bei Hilpinen 1971, S.342s). 239 Vgl. hierzu u.a. Joravsky 1961, Delokarov 1977; als Beispiele auch Röseberg 1984, S.189, sowie Id. 1981, Wallner 1981, S.639, Gribanov 1979, S.76, 91 und 92, Kedrov 1966. Kursanov 1960, S.619, z.B. spricht von „intuitive dialectics" und bezieht dies auf Einstein, Bohr und Heisenberg. 24 ° Vgl. z.B. Kedrov 1969 oder Id. 1966.

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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einlösbar gilt, lediglich einen neuen Namen. Zwar hat Engels die Dialektik auch als „Methode zur Auffindung neuer Resultate" bezeichnet, doch wie die Methode in diesem Zusammenhang verfährt, wird nicht ausgeführt. 241 Ähnlich inexplizit bleiben die Anlehnungen an die von Marx erörterte Dialektik vom Abstrakten und Konkreten, 242 dem „Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten" und dem „Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten". 2 4 3 Nicht sehr hilfreich scheint auch die Betonung der „Einheit" des „Entstehungs-, Begründungs- und Wirkungszusammenhangs" nach der „Marxschen Auffassung" zu sein, wenn diese mit dem Hinweis beschworen wird, Wissenschaft sei „eine Form der Entfaltung menschlicher Wesenskräfte". 244 Georg Klaus schließlich sieht die Heuristik als das wichtigste dialektische Moment in der formalen Logik an: „Der Gedankenfluß des Beweises erhält sich nur in Bewegung, wenn ständig das Formalidentische im dialektisch Verschiedenen und das dialektisch Verschiedene im Formalidentischen gefunden wird, wie wir überhaupt glauben, daß die Heuristik des Auffindens von Beweisen das wichtigste, wenn auch kaum ausgearbeitete dialektische Moment in der formalen Logik ist. Das oft diskutierte Verhältnis von formaler Logik und dialektischer Logik hat hier einen Zentralpunkt. Dies ist eine — noch völlig unbewiesene — These und Programm." 2 4 5 Nach mehr als einem Vierteljahrhundert hat sich an diesem Ausarbeitungs- und Beweisstand nicht viel geändert. W. Heitsch, H. Parthey und W. Wächter sehen Dialektik „als theoretisch begründete Heuristik von hohem Allgemeinheitsgrad" 246 und kommen zu der Erläuterung: „Für das Zustandekommen von gedanklich Neuem innerhalb geistig-schöpferischer Problembearbeitungsprozesse spielt die dialektische Denkweise, das Ausgehen von philosophisch begründeten, zielorientierten methodischen Prinzipien, eine wesentliche Rolle. Diese Prinzipien orientieren das problemlösende Denken inhaltlich, sie lassen sich nicht als Programm oder Programmsystem darstellen." 247 24

1 Engels 1878, S. 125. Vgl. Marx 1857, vor allem S.631-639. 243 Vgl. Iljenkow 1960. Diese Methode haben polnische Wissenschaftstheoretiker um Leszek Nowak zu rekonstruieren versucht (vgl. Nowak 1980; zu weiteren Hinweisen Kapitel V.3, S.282ss). — Zu neueren Versuchen, den Methodenvorstellungen von Marx auf die Spur zu kommen, die allerdings zu keinem Konsens geführt haben und in dem hier vorliegenden Zusammenhang wenig ergiebig sind, vgl. u.a. Pröhl 1974, Hickethier 1980, Biedermann 1981, Quaas 1983. Bislang ist - trotz einiger Ähnlichkeiten in der Formulierung — nicht versucht worden, die „Dialektik vom Abstrakten und Konkreten" bei Marx vor dem Hintergrund der Analysis-SynthesisTradition zu deuten. 244 Albrecht 1969, S.615. 245 Klaus 1961, S.175 (vgl. Id. 1961b, Kap.III.3, S.403-449), auch Id. 1963. 246 Heitsch/Parthey/Wächter 1971, S.155. 247 Heitsch/Parthey/Wächter 1971, S.146. 242

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Dieser Hinweis ist wichtig, auch wenn Anhängern der dialektischen Denkweise ihre Charakterisierung als „das Ausgehen von philosophisch begründeten, zielorientierten methodischen Prinzipien" vielleicht etwas dürftig erscheinen mag. Nach Werner Hartkopf ist die Dialektik Fichtes und Hegels als wesentlich heuristisch aufzufassen. 248 Die Beschreibung, die diese ,heuristische Dialektik 4 bei Hartkopf erfährt, 2 4 9 macht aus ihr allerdings nicht mehr als ein 250 recht simples trial-and-error-Verfahren. Es mag sein, daß K a r l Popper 251 „der größte Dialektiker" ist, doch sollte eine rationale Heuristik zumindest in Form einer Methodologie der Theoriekonstruktion in ihrem Repertoire mehr aufweisen als — wie Poppers Konzeption in der Regel gedeutet w i r d 2 5 2 — ein blindes oder zufälliges trial-and-error-Ver fahren. Die stärkeren Anforderungen an eine Heuristik lassen sich auf verschiedene Weise ausdrücken. So könnte beispielsweise gefordert werden, daß eine Heuristik nicht aus einem random-trial-error-Verfahren, sondern aus einem systematic-trialand-error-Verfahren besteht, nach dem gewährleistet sein soll, daß die überflüssige Wiederholung von bereits beschrittenen Lösungswegen vermieden wird. Darüber hinaus könnte gefordert werden, daß es sich um ein classificatory-trial-and-error-Verfahren handeln soll, das die Identifikation und Zusammenfassung der Lösungswege erlaubt, die in bezug auf das angestrebte Ziel als äquivalent gelten. 2 5 3 Auch wenn derartige Anforderungen im Fall einer Methodologie der Theoriekonstruktion nicht unproblematisch sind, da ihre Erfüllung einen gut strukturierten Suchraum und erhebliche Vorkenntnisse über die angestrebte Problemlösung voraussetzen, so veranschaulichen sie doch, daß der Hinweis auf ein trial-and-errorVerfahren zu ungenau ist, 248

Vgl. Hartkopf 1964b. Hartkopf 1964b, S.54. 250 In einem späteren Aufsatz heißt es bei Hartkopf (Id. 1973, S.509; ausfuhrlicher ist Hartkopf in Id. 1976, auch Id. 1977/78): „Nur ist dabei zu beachten, daß sie [die freie dialektische Methode] als heuristische Methodik zwar zur Lösung bzw. zu Lösungsmöglichkeiten für ein vorliegendendes Problem fuhren kann, aber nicht muß, daß sie also keine sicher zum Ziel führende Methode darstellt, und vor allem, daß sie, im Gegensatz zu sicheren logischen Methoden, die durch sie gewonnenen Lösungen oder Lösungsansätze nicht zu sichern vermag, d.h. nicht gewährleisten kann, daß diese wirklich die gesuchten Lösungen sind. Daher muß eine heuristisch gefundene Lösung, also auch eine mit freier dialektischer Methodik erhaltene, hinterher durch logischen Beweis oder durch empirische Verifikation als die gesuchte Lösung bestätigt werden." In der unten explizierten Terminologie (vgl. Kapitel III.2.) wird damit der „freien dialekischen Methode44 Erfolgs- und Wahrheitsgarantie abgesprochen. 251 Essler 1972, S.92. 252 Die Deutung der Methodologie Poppers als simples trial-and-error-Yerfahren ist keineswegs zwingend. Poppers Methodologie der TTieorieevaluation läßt sich - wie im Prinzip jede derartige Methodologie - durch eine ihr zugeordnete Methodologie der Theoriekonstruktion ergänzen. 253 Zur Untersuchung verschiedener trial-and-error-Werfahien vgl. Wickeigren 1974, Kap.4, S.46ss. 249

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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um beim Streit über die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion hilfreich zu sein. Die der dritten Gruppe angehörenden Auffassungen, die ich im Hinblick auf die Akzeptation oder Ablehnung der Rationalisierbarkeit des Entdekkungszusammenhangs unterscheiden möchte, vertreten die Position, daß zum Entdeckungszusammenhang allein empirische Untersuchungen Zugang finden können und daß dieser Zusammenhang keine rationalisierbaren Bestandteile aufweist; er mithin — wie es heißt — irrational sei. Es ist offensichtlich, daß die dieser Extremposition zuzurechnenden Auffassungen keine Hoffnungen auf die Möglichkeit der Entwicklung einer Methodologie der Theoriekonstruktion aufkommen lassen. Äußerungen wie in den folgenden Standardzitaten verweisen auf diese Extremposition: „Die erste Hälfte dieser Tätigkeit, das Aufstellen von Theorien, scheint uns einer logischen Analyse weder fähig noch bedürftig zu sein: A n der Frage, wie es vor sich gehe, daß jemandem etwas einfällt — sei es nun ein musikalisches Thema, ein dramatischer Konflikt oder eine wissenschaftliche Theorie —, hat wohl die empirische Psychologie Interesse, nicht aber die Erkenntnislogik." 2 5 4 „Der Entdeckungsakt selbst ist logischer Analyse unzugänglich; es gibt keine logischen Regeln, auf deren Grundlage eine Entdeckungsmaschine gebaut werden könnte, die die schöpferische Funktion des Genies übernehmen würde." 2 5 5 254 Popper 1934, S.6. Nach Popper 1930/33, S.28, kann man das Entstehen von,Einfallen 4 auch „zufällig" nennen. Zur Kritik an Poppers Auffassung vgl. u.a. Bernays 1964 und 1974, vor allem S.601 (dazu Popper 1974b, S. 1086s), Achinstein 1968b, S. 163-165. - Bei Popper heißt es aber auch, daß jede Entdeckung „ ,ein irrationales Moment4 44 enthalte (Id. 1934, S.7). Betont man diese Stelle bei der Interpretation wie dies gelegentlich geschieht (z.B. bei Gutting 1980, S.28, oder bei Berkson/Wettersten 1982, S.72/73) - , dann ließe sich Poppers Ansicht, wenn auch vermutlich contra intentionem, prinzipiell mit der Idee einer partiellen Rationalisierung des Entdekkungszusammenhangs vereinbaren (vgl. jüngst auch die Ausführungen bei Albert 1982, Kap.III, Id. 1987, Kap.III). 255 Reichenbach 1951, S.260. Wie in Anm.1.62 erwähnt wird, sind Curd und Nickles der Ansicht, daß Reichenbach - z.B. mit seiner „straight rule44 - Verfechter einer logic of discovery sei. Nur weil Reichenbach Vertreter des Ebenen-Modells der Unterscheidung von Entdeckungs-und Begründungszusammenhang ist, das u.U. auch die Rationalisierung heuristischer Pozesse erlaubt, und weil man Reichenbachs Induktionslogik auch zur Anleitung des Auffindens von Theorien auffassen kann, bedeutet das noch nicht, daß Reichenbach eine solche Deutung seiner Induktionslogik und damit des Entdeckungszusammenhangs vertreten hat. So heißt es bei Reichenbach (Id. 1951, S.259/60, vgl. aber auch Id. 1938, S.383; Hervorhebung von mir): „Der Forscher, der eine neue Theorie sucht, wird oft durch Vermutungen geleitet, die mehr einem Raten gleichen als einem systematischen Denken; er kann keine genaue Methode angeben, mit deren Hilfe er die Theorie gefunden hat, und sagt meistens nur, daß sie ihm vernünftig erschien, daß er die richtige Ahnung hatte, oder daß er ganz plötzlich erkannte, was für Annahmen den Tatsachen entsprechen würden. Es gibt Philosophen, die diese psychologische Beschreibung des Entdeckungsvorgangs als einen Beweis dafür angesehen haben, daß man keine logischen Beziehungen formulieren

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Beispiele derartiger Äußerungen lassen sich leicht vermehren; 256 seltener sind detaillierte Darlegungen und Begründungsversuche dieser Position; 257 genauere Analysen der Argumente und ihrer Voraussetzungen in den vielzitierten Standardpassagen, etwa der Poppers, denen noch immer weitgehend autoritativer Charakter eingeräumt wird, fehlen ganz. Eine Reihe von Topoi lassen sich in den Formulierungen dieser Extremposition immer wieder finden. Ein aufschlußreicher und häufig anzutreffender Topos — wie in dem oben wiedergegebenen Zitat Poppers — ist die behauptete Ähnlichkeit zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Kreativität, 2 5 8 bzw. der vermutete analoge Charakter kreativer Prozesse in Kunst und Wissenschaft. 259 Selten allerdings geht man so weit wie Norman Campbell, der eine „exakte Analogie" zwischen dem wissenschaftlichen und künstlerischen Schaffen konstatiert. 260 U m diese Analogie so vollständig wie kann, die von den Tatsachen zur Theorie führen, und die deshalb darauf bestehen, daß eine logische Interpretation der hypothetischAieduktiven Methode unmöglich ist. Der induktive Schluß ist für sie ein Raten, welches einer logischen Analyse nicht zugänglich ist. Diese Philosophen übersehen völlig, daß derselbe Wissenschaftler, der seine Theorie durch raten entdeckt, sie seinen Kollegen erst mitteilt, nachdem er gesehen hat, daß die Tatsachen sein Raten gerechtfertigt haben. Die induktive Schlußweise kommt gerade in diesem Rechtfertigungsanspruch zur Geltung, denn der Wissenschaftler will nicht nur behaupten, daß die Tatsachen aus seiner Theorie ableitbar sind, sondern auch, daß die Tatsachen seine Theorie wahrscheinlich machen und man die Theorie zur Voraussage zuküftiger Ereignisse verwenden darf Der induktive Schluß wird nicht dazu benutzt, um eine Theorie zu finden, sondern u m sie mit Hilfe von

beobachteten Tatsachen zu rechtfertigen." Vgl. auch Anm.II.78. 256 Standardhinweise sind: Braithwaite 1953, S.20/21, Stegmüller 1957, S.261, Leinfellner 1965, S.98. - Schon Lotze (1880, S.400-04) betont den „logischen Sprung" beim Auffinden von Gesetzen. Sein Beispiel - daß keine beliebige Zahlenreihe eine Formel eindeutig zu bestimmen vermag - ist aufschlußreich. Die Auffindung ist nach Lotze „jederzeit eine Leistung der errathenden Einbildungskraft" (S.404). Die Verbindung von Auffinden und Raten ist ein verbreiteter Topos (vgl. etwa das Reichenbach-Zitat in Anm.1.255), dazu Cohen 1973/74 sowie Lesher 1978. 257 Vgl. z.B. Nicolle 1932, Holton 1957/59 und 1974/75, Koestler 1964 (dazu kritisch u.a. Medawar 1964, Robinson 1965/66, Simpson 1966, Hausman 1966/67), Polanyi 1957/58, 1968 und 1974 (zu Polanyis Auffassung im Zusammenhang mit seiner Wissenschafts-und Gesellschaftskonzeption Richmond 1978). 258 Vgl. z.B. Frank 1949, S.85: „Einen solchen Satz [seil, das Energieprinzip] finden, ist ein Werk des Genius genau so wie das Komponieren einer Symphonie." Auch Thomson 1961, S.9, Broadbent 1966, S. 112s. Bei Polanyi 1946, S.32, heißt es über den Prozeß des Entdeckens wissenschaftlicher Theorien: „The process resembles the creation of a work of art which is firmly guided by a fundamental vision of the final whole [...] with the remarkable difference, however, that in natural science the final whole lies not within the powers of our shaping, but must give a true picture of a hidden pattern of our outer world." Zur Ähnlichkeit von künstlerischer und wissenschaftlicher Kreativität bereits Plaut 1929, S.279ss; Lukasiewicz 1912. 259 Vgl. Henning/Mesarovic 1963. - Vgl. auch Bialkowski 1978. 260 Campbell 1921, S. 102/103, auch Id. 1920, S.22^-229; demgegenüber Feigl 1961, S. 15: „Science may have many features in common with art, but these are psychological features of creative minds. The standards of criticism of works of art, and of scientific

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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möglich erscheinen zu lassen und um Newtons Leistung, die Campbell als „perfectly personal and imaginative" ansieht, nicht gegenüber der Beethovens zu schmälern, werden der empirische Test einer Theorie durch ihre Konfrontation mit Realität und der Test eines Kunstwerkes durch die Konfrontation mit dem Urteil der Kunstkritiker analogisiert. 261 Wie in dem bekannten Bonmot David Hilberts wird gelegentlich der wissenschaftlichen kreativen Leistung die größere Anerkennung gezollt. Ein Beispiel liefert Mario Bunge: „Creative imagintion is richer in science than it is in the arts, because it has to transcend sense experience and common sense; it is more exacting, because it has to transcend the self and must try to be truthful. Scientific research is not mere Dichtung , but it tends to be Wahrheit. Yet some of its moments and some of its products, particularly the great theories that change our world outlook, are poetic as poetry can be." 2 6 2 Welche Relevanz dem Hinweis, daß die Wissenschaft hinsichtlich ihres kreativen Prozesses einen Vergleich mit der Kunst nicht zu scheuen brauche, auch immer eingeräumt werden mag — seine Aussagekraft ist nicht zuletzt aufgrund der geringen Vertrautheit mit literatur- und kunsttheoretischen Problemen, die solche Formulierungen in der Regel zu erkennen geben, nicht allzu hoch zu veranschlagen: Dieser Hinweis vermag weder den wissenschaftlichen Schaffensprozeß zu erhellen noch Argumente für die Nichtrationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs zu liefern. A u f dem angesprochenen Terrain künstlerischer Kreativität findet man ein nicht weniger breites Spektrum von Auffassungen wie im Bereich wissenschaftlicher Kreativität. knowledge-claims differ radically and fundamentally. Aesthetic satisfaction is one thing, degree of confirmation another." 261 Es gibt eine Vielzahl älterer Beispiele für einen Vergleich und für die Parallelisierung oder gar Identifizierung wissenschaftlicher und künstlerischer Kreativität - und das nicht nur unter dem Einfluß von Romantik und romantischer Naturphilosophie. Vgl. u.a. Fabian 1967 und Schmidt 1985, S.363ss; im 19.Jahrhundert z.B. Helmholtz 1877, S.184, Pearson 1892, S.30, Mach 1905, S.319 (zu Mach auch Haller 1981), Volkmann 1910, und nicht zuletzt Liebig 1865, S.6, dazu kommentiert Mach 1896b, S.445: „Liebig hat dies [seil. Entdeckungen werden „erschaut"], wenn auch in anderer Form, ausgesprochen und zugleich die nahe Verwandtschaft zwischen der Leistung des Künstlers und Forschers betont. Die Darlegung Liebig's scheint im Wesentlichen richtig, wenngleich sich gegen seine Ausdrucksweise manches einwenden lässt." Äußerungen im vorigen Jahrhundert über die Parallelität und Gleichrangigkeit wissenschaftlicher und künstlerischer Kreativität sind auch vor dem Hintergrund des Versuchs zu sehen, für die Naturwissenschaften auf den verschiedenen bildungspolitischen Ebenen Anerkennung zu gewinnen und die diesbezüglichen Ansprüche der Naturwissenschaft, d.h. ihrer Vertreter, zu legitimieren. Soweit ich sehe, gibt es keine Untersuchung, die diesem Versuch auch dort noch nachgeht, wo Naturwissenschaftler über Kunst und Künstler ,düettieren' (ein sehr interessantes Beispiel hierfür ist Virchow 1861). Zu sehr allgemeinen Informationen zum Streit über den ,Bildungswert4 der Naturwissenschaften Brüggemann 1967; zum Hintergrund der Universitätsreformen vgl. u.a. Ringer 1969, S.33ss und passim. 262 Bunge 1962b, S.96/97, auch S.81.

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Dieses Spektrum reicht etwa von Samuel Taylor Coleridges Darstellung der Entstehung seines Gedichtes Kuhla Khan als unbewußten, vollkommen ziellosen Schöpfungsakt, der sich zudem traumartig vollzogen habe, 263 bis etwa zu Edgar Allen Poes Darstellung der Entstehung seines Gedichtes The Raven als weitgehend auf Überlegung und Kalkulation beruhend. 264 Beide Deutungen können bis heute als paradigmatisch angesehen werden. Die Formulierungen dieser Extremposition und die Beispiele, die zu ihrer Illustration, nicht selten aber auch zu ihrer Bestätigung angeführt werden, 265 legen es nahe, eher von einem Erfindungs-ais von einem Entdeckungszusammenhang zu sprechen. 266 In der Tat hat Einstein dies in Abgrenzung — wie er hervorhebt - zu Mach getan. 267 Einsteins verschiedentlich geäußerte Auffassung vom Charakter des Entdeckungszusammenhangs hatte wesentlichen Einfluß auf die Durchsetzung dieser Extremposition. 268 Eine pointierte Formulierung seiner Auffassung stellt die folgende, immer wieder zitierte und erörterte Stelle dar: „Die Naturwissenschaft ist nicht bloß eine Sammlung von Gesetzen, ein 263 Vgl. Coleridge 1816, Vorwort, S.295/96. Kritisch zu dieser Traumlegende äußert sich Schneider 1953; zur Diskussion um Coleridge und die Art und Weise des künstlerischen Schaffens vgl. neben Beer 1959 z.B. Lowes 1927 und Beyer 1963. Das Beispiel Coleridge ist auch deshalb interessant, weil es von Theodosius Dobzhansky auch auf Darwin bezogen wurde, vgl. hierzu Eiseley 1965 sowie Schwartz 1974. - Weitere Beispiele bieten die Selbstdarstellungen Pfercy Bysshe Shelleys oder August Strindbergs sowie die Anekdote über die Abfassung des Gedichtes La nuit de mai von Alfred de Musset. In diese Richtung zielt z.B. auch die Konzeption des automatischen Schreibens zur „heroischen Zeit" (Maurice Nadeau) der Surrealisten. 264 Ygi Poe 1846, z.B. S.553/54: „Meine Absicht ist, deutlich zu machen, daß sich kein einziger Punkt in seiner [seil. The Raven] Komposition auf Zufall oder Intuition zurückführen läßt: daß das Werk Schritt um Schritt mit der Präzision und strengen Folgerichtigkeit eines mathematischen Problems seiner Vollendung entgegenging." - Weitere Beispiele finden sich bei Stéphane Mallarmé, Paul Valéry oder Vladimir V. Majakovskij. 265

Hierzu Kapitel II.l. So wird in jüngerer Zeit auch häufig anstelle vom „context of discovery" vom „context of invention " gesprochen (wobei der „context of justification" zum „context of appraisal" abgeschwächt wird, vgl. z.B. McLaughlin 1982b). 267 Albert Einstein in einem Brief vom 6. Januar 1948 an Michele Besso (abgedruckt in Einstein/Besso 1972, S.391). Zu der verwickelten Beziehung Einsteins zu Mach, bei dem dieser Punkt keine unwesentlche Rolle spielt, vgl. u.a. Herneck 1966 sowie Holton 1968 (dazu kritisch Janich 1979, S.420ss). Daß Einstein in dieser Hinsicht der differenzierten Auffassung Machs nicht ganz gerecht wird - auch wenn er den Hauptstrom der Rezeption auf seiner Seite hat - , braucht hier nicht weiter belegt zu werden (vgl. auch Anm.1.20 und 1.261). - Vgl. auch Eddington 1939, Kap.5. 268 Die meisten dieser Äußerungen finden sich in den Sammelbänden Einstein 1934 und 1979. Mit einer Reihe von Belegen ist Frank 1949b bemüht, in diesem Punkt die Übereinstimmung mit der Auffassung logischer Positivisten aufzuzeigen; vgl. auch Northrop 1949, Griffin 1971. Einsteins Auffassung ist bereits bei Moszkowski 1922, S. 101 ss, popularisiert worden. — Zu Einsteins Konzeption der Theoriekonstruktion vgl. insbesondere die Arbeiten Holtons, z.B. Id. 1979 oder 1981. 266

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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Katalog zusammenhangloser Fakten. Sie ist eine Schöpfung des Menschengeistes mit all den frei erfundenen Ideen und Begriffen [.. .]." 2 6 9 Schon für Richard Dedekind, mit dessen Zahlentheorie sich Einstein beschäftigt hat, lautet die Antwort auf den ersten Teil der seiner Untersuchung den Titel gebenden Frage Was sind und was sollen die Zahlen? bekanntlich: „die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes [ . . . ] " . 2 7 0 Und bei Popper heißt es entsprechend: ,,[T]heories are seen to be free creations of our minds." 2 7 1 Kaum ein Vertreter der hier behandelten Extremposition unterläßt es, sich auf Einsteins Ausführungen zu berufen. Das Ergebnis ist in der Regel allerdings nicht mehr als ein argument from authority , bei dem nicht einmal die beachtenswerten Argumente Einsteins für seine Auffassung berücksichtigt oder erkannt werden. 272 Neben der Ersetzung von Entdecken durch Erfinden, die die freie, d.h. von bestimmten Regeln und Normen unkontrollierte Konstruktion zum Ausdruck bringen soll, gibt es noch eine Vielzahl spezieller Deutungen und Entgegensetzungen, auf die zumindest noch hingewiesen werden soll: Die Unterscheidung bzw. Entgegensetzung von Finden und Entdecken kann mit der Unterscheidung bzw. Entgegensetzung von Begründungs- und Entdekkungszusammenhang korrespondieren; 273 Erfinden und Entdecken können im Hinblick auf bestimmte Produkte zusammenfallen, oder das Entdecken kann als eine Art Erkundung des Erfundenen aufgefaßt werden; 274 die 269 Einstein/Infeld 1938, S.194. Zur Diskussion dieser Passage u.a. Infeld 1969, S.86/87, Gribanov 1979, S.83/84, Herneck 1976b, vor allem S. 18-22 (vgl. auch Hörz 1988, S.288ss), Bernstein 1973, S.24/25, Holton 1968,1979 und 1981. 270 Dedekind 1887, S.iii. - Vgl. bereits Freges Hinweis auf einen Unterschied von Geometrie und Arithmetik — weil wir den „Größenbegriff" im Gegensatz zu den Axiomen der Geometrie „nicht in der Anschauung vorfinden, sondern selber schaffen" (Id. 1874, S.51; zu Freges Geometrieauffassung vgl. Dummett 1982) - und die daraus von ihm gezogenen methodischen Konsequenzen. 271 Popper 1958, S. 192. 272 Zu dem vielleicht wichtigsten Argument, das Einstein zur Diskussion der partiellen Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs beigesteuert hat, vgl. unten Kapitel II.3., S. 116-19. - Kritisch gegenüber Einsteins Überlegungen ist Feyerabend 1984, S.l 1 Iss, vgl. auch die Bemerkung bei Janich 1979, S.425. 273 Gelegentlich wird als inkonsequent vermerkt, daß Poppers Auffassung von der Nichtrationalisierbarkeit des Entdeckungzusammenhangs in Konflikt mit dem englischen Titel seiner Logik der Forschung: Logic of scientific discovery gerate (so jüngst noch Oldroyd 1986, S.317, Anm.55, oder Ruse 1986, S.63). Dieser Eindruck beruht auf einem Mißverständnis, bei dem übersehen wird, daß „Entdecken" zum einen das Erfinden einer Theorie im Entdeckungszusammenhang und zum anderen das Entdekken der Wahrheit oder Falschheit einer vorliegenden Theorie bedeuten kann. Bei Popper ist sicherlich die zweite Bedeutung gemeint. 274 In der Auseinandersetzung über die Frage, ob in der Mathematik erfunden oder (auch) entdeckt wird, erhielt der Begriff des Entdeckens auch die Bedeutung der Feststellung der (idealen) Existenz des Erfundenen (zu dieser Auseinandersetzung vgl.

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I. Entdeckungs- und Begründungszusammenhang

Unterscheidung bzw. Entgegensetzung von Erfinden und Entdecken kann mit einer realistischen' oder ,instrumentalistischen 4 Theoriedeutung verknüpft sein; 275 schließlich kann sie sich auf die Art und Weise beziehen, wie Kenntnisse über bestimmte Bereiche erlangt werden. 276 Vermutlich gibt es nur wenige andere wissenschaftstheoretische Unterscheidungen, die einen so breiten und dauerhaften Konsens bei durchaus divergierenden wissenschaftsphilosophischen Schulen gefunden haben und deren Fruchtbarkeit zur Lösung wissenschaftstheoretischer Probleme so hoch veranschlagt worden ist, wie die Unterscheidung zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang, die auf der Annahme der Geltungsirrelevanz und Nichtrationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs im Unterschied zum Begründungszusammenhang beruht. Es ist schwierig zu sagen, wodurch die discovery-justification- Dichotomie zu diesem Ansehen gekommen ist. Auch wenn zur Erklärung bzw. zum Verständnis dieses Sachverhalts ein ganzes Bündel von Vermutungen erforderlich ist, möchte ich doch einen Hinweis aufgreifen, den Robert Ackermann in einer Rezension versteckt hat: die vornehmlich auf Wittgenstein bezogenen Erörterungen bei Chihara 1965, auch Waismann 1936, S.210-217; bei Fraenkel 1932, S.480, wird die Auffassung Georg Cantors „zugespitzt44 wie folgt beschrieben: „der Mathematiker erfindet nicht die Gegenstände seiner Wissenschaft, sondern er entdeckt sie [.. .].44). Nach Popper ließe sich sagen, daß der Mensch der Mathematik als einem Teil von „Welt 344 erst als Erfinder im Sinn der Grundlegung ihrer Existenz (als drittweltliches Phänomen) und dann als Entdecker entgegentritt (vgl. unten S.383ss, hierzu u.a. Hersh 1979). 275 Bei ,Instrumentalisten4 sagt die Betonung des Erfindens einer Theorie zumeist allein etwas über ihren Status aus und nichts darüber, ob der Prozeß ihres Auffindens partiell rationalisierbar ist. Allgemein läßt sich sagen, daß die Betonung des freien Erfindens gegenüber dem gebundenen Entdecken nicht zwingend damit zusammenhängt, ob die Theorie,instrumentalistisch 4 oder realistisch4 gedeutet wird — auch wenn sich eine Gegenüberstellung von Erfinden und Entdecken bei ,Instrumentalisten4 ziemlich häufig findet. Ein Beispiel ist Pearson 1892, S.76: „The law of gravitation is not so much the discovery by Newton of a rule guiding the motion of the planets as his invention of a method briefly describing the sequences of sense^mpressions, which we term planetary motion [...]. The statement of this formula was not so much the discovery as the creation of the law of gravitation. 44 Vgl. auch die Verwendung des Ausdrucks „discovery44 bei Van Fraassen 1980, S.5: „ I use the adjective constructive4 to indicate my view that scientific activity is one of construction rather than discovery44. 276 Auf ein solches Beispiel wird bei Frank 1957, S. 14/15, hingewiesen: Nach der einen Auffassung ist Wissenschaft „an invention4 of the scientist [...la product of human imagination44, nach der anderen ist der Wissenschaftler kein Erfinder, sondern „he ,sees4 the formula with his,inner eye4 by looking at the operable phenomena with his sense organs. The scientist makes use of,intuition4 to discover the formula 44. Während die erste Auffassung mit der des Positivismus und des Pragmatismus übereinstimme, sei die zweite „more in agreement with the,great tradition 4 of scholastic philosophy44. Ihr unterliegt nach Frank eine Analogie zwischen „direct sense perception44 und „direct intellectual intuition44: „The belief in this analogy accounts for the belief that our intellect can,discover4 by intuition general laws of nature, and can be certain that they are true 44. Zur Kritik derartiger Intuitionskonzeptionen vgl. Bunge 1962b sowie Anm.II.36.

3. Klassifikation und historischer Rückblick

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„There can be little doubt that the most of the important contemporary discoveries in philosophy of science have resulted from the consequence of a distinction between the context of discovery and the context of justification and a subsequent application of the techniques of symbolic logic to problems which can be formulated in the context of justification." 2 7 7 Der Hinweis, den ich dieser Passage entnehmen möchte, ist die Verbindung der discovery-justification- Dichotomie mit der Anwendbarkeit eines formalen Instrumentariums zur Lösung der jeweils kontextspezifischen Probleme. Durch die Ausgrenzung des Problembereichs des context of discovery — so läßt sich dieser Hinweis deuten — verhindert die discovery-justificationDichotomie, daß sich die logische Analyse an Problemen abmüht, die einer solchen Analyse nicht zugänglich sind. Und indem diese Dichotomie die logische Analyse vor einem vorab kalkulierbaren Mißerfolg bewahrt, trägt sie zur Konzentration auf bestimmte wissenschaftstheoretische Probleme und ihrer erfolgreichen Traktierung durch eine logische Analyse bei. Diese Vermutung konvergiert mit Imre Lakatos' Erklärung des Desinteresses Logischer Empiristen an einer „logic of discovery": „The historian of thought may explain this in the following way. Neoclassical empiricism replaced the old idol of classical empiricism — certainty — by the new idol of exactness . But one cannot decribe the growth of knowledge, the logic of discovery, in ,exact4 terms, one cannot put it in formulae: it has therefore been branded a largely,irrational 4 process; only its completed (and formalized 4 ) product that can be judged rationally. But these ,irrational 4 processes are a matter for history or psychology; there is no such thing as scientific' logic of discovery. Or, to put it in a slightly different way: classical empiricists thought that there are rules of discovery ; neoclassical empiricists learned (many of them from Popper) that there are no such rules; so they thought there was nothing to learn about it. But there are, according to Carnap, rules of confirmation ; therefore confirmation is a subject suitable for scientific inquiry 4 ." 2 7 8 Die ,Rehabilitierung 4 des context of discovery kann auf zwei Wegen erfolgen: zum einen durch den Versuch, ein bestimmtes Instrumentarium und bestimmte Ziele der Analyse als inadäquat zurückzuweisen und damit den Entdeckungszusammenhang dem Begründungszusammenhang gleichzustellen — ein Weg, der von einigen Vertretern der new philosophies of science beschritten wird; zum anderen durch den Nachweis, daß bei im großen und ganzen gleichbleibendem Instrumentarium und unveränderten Zielen die logische Analyse des context of discovery prinzipiell nicht der Analyse des context of justification nachzustehen braucht — ein Weg, der in den folgenden Kapiteln zunächst im Vordergrund stehen soll.

277 278

Ackermann 1965/66, S.161. Lakatos 1968, S.328/29. - Vgl. auch Zytkow/Simon 1988, S.87ss.

Π. Argumente gegen eine partielle Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs Ganz anders [als bei arithmetischen oder algebraischen Calculationen] hingegen ist's um unseren Schach-Spieler bestellt. Bei ihm gibt's keinerlei vorherbestimmten, f es tumrissenen Ablauf. Kein SchachZug ist ja notwendige Folge eines ihm voraufgegangenen. Aus keinerlei Figurenkonstellation in einer bestimmten Phase des Spiels können wir auf spätere Konstellationen schließen. Setzen wir doch bloß den Eröffnungs-Zug im Schach-Spiele mit der data einer algebraischen Aufgabe gleich, und wir erkennen alsbald den fundamentalen Unterschied. Im letztgenannten Falle — demjenigen der data — erfolgt jeder weitere Schritt zur Lösung mit unausweichlicher Folgerichtigkeit aus dem jeweils vorangegangenen, da ja schon der erste ganz eindeutig durch die data bestimmt war. [...] Der weitere Spiel- Verlauf hängt von dem wandelbaren Urteile der Spieler ab. Ja selbst wenn wir annehmen wollten [...], daß die Züge der SchachAutomaten streng vorherbestimmt sind, so würd' ihre Folgerichtigkeit doch unterbrochen und durcheinandergebracht durch die nicht vorherbestimmbaren Entschlüsse des jeweiligen Gegen-Spielers. So gibt's denn keinerlei Analogien zwischen den Operationen von Maelzel's Schach- und denjenigen von Mr. Babbage's Rechen-Automaten, und sind wir willens, die erstere für eine von sich aus funktionierende Maschine anzusehen, so müssen wir wohl oder übel auch zugeben, daß wir' s in ihr mit der wunderbarsten, über jedwede Vergleichung turmhoch erhabene Erfindung der Menschheit zu tun haben.1 Für die Heuristik ist das Schachspiel gleich wichtig wie die Taufliege Drosophila oder das Virus für die Genetik. 2 Gegenstand dieses Kapitel ist die Erörterung von Argumenten, die gegen die Möglichkeit einer partiellen Rationalisierbarkeit der Konstruktion von 1

Poe 1836, S.256/57. Puschkin 1968, S.5. Vgl. auch Michie/Johnston 1984, S.64, oder Simon 1985, S.74 — Zur ,Entdeckung4 der Drosophila als einen für Erblichkeitsexperimente günstigen Organismus vgl. Allen 1975. 2

1. Das Intuitions-, Zufalls- und Unerklärbarkeitsargument

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Theorien und damit gegen die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion vorgebracht werden. Dabei unterscheide ich vier Argumente, die in der folgenden Reihenfolge diskutiert werden: ( I I . l ) das Intuitions -, Zufalls- und Unerklärbarkeitsargument', (II.2) das induktionslogische Argument; (II.3) das T-Term-Argument; (II.4) das Prognose-Argument. 3

1. Das Intuitions-, Zufalls- und Unerklärbarkeitsargument Auffassungen, die gegen jegliche Rationalisierbarkeit des Auffindens von Theorien oder Problemlösungen opponieren, stützen sich nicht selten auf Berichte oder Beschreibungen von Erlebnissen renommierter Wissenschaftler, aus denen hervorgehen soll, daß eine Rationalisierung des Entdeckungszusammenhangs bestenfalls inadäquat und fruchtlos sei, im schlimmeren Fall jedoch die Wissenschaft wegen der zu erwartenden rigiden Vorschriften um ihre kreative Potenz zu bringen drohe. Aus dem unerschöpflichen Reservoir an Anekdoten und Berichten haben sich die über Archimedes, 4 Newton, 5 Kekulé, 6 Mendelejev 7 und Poincaré 8 für diese Argumentation als besonders beliebt erwiesen. Berichte über das Auffinden von Problemlösungen, bei denen Anekdoten über eine Art von „produktivem Traumbewußtsein" 9 eine auffallende Rolle spielen, 10 sind nur selten einer kritischen Analyse, noch 3

Es gibt eine Reihe weiterer Argumente, die in Verbindung mit den vier Hauptargumenten stehen und die mehr oder weniger am Rande erörtert werden, und es gibt hier nicht behandelte Argumente, die sich auf spezielle wissenschaftsphilosophische Hintergrundannahmen beziehen, wie etwa Poppers (Id. 1958/59, S.138) gegen die Annahme, daß alle wissenschaftlichen Theorien von Beobachtungen ausgehen, gerichteter Hinweis auf die Theorie des Anaximander, die keine Analogie in beobachtbaren Strukturen finde. 4 Vgl. z.B. Taton 1957; die Anekdote scheint auf Vitruvius zurückzugehen. 5 Immerhin ist die Anekdote von Voltaire erzählt worden (vgl. Id. 1734, Quinzième lettre, S.20, auch Id. 1738, 3.III., S.175; zu Voltaires Newton-Rezeption vgl. Libby 1935, Walters 1954, Staum 1968, auch Borzeszkowski/Wahsner 1980). 6 Vgl. Kekulé 1890. 7 VgLAnm.II.18. 8 Vgl. Poincaré 1908b, auch Id. 1902, S. 10-25. 9 Vgl. Krauch 1970, S.61-64, auch Koestler 1964, vor allem Teil II.7 und II.8. 10 Beispiele sind Kekulé und Mendelejev; zu weiteren Beispielen Cannon 1945, Kap.V, S.59-70. Wenig bekannt ist die Traumlegende über Alfred Wallaces Mitentdeckung der natürlichen Selektion (hierzu Meyer 1870, S.xviii, xxüi, S.39 und 56; A.B. Meyer bezieht sich dabei auf einen Brief von Wallace vom 22. November 1869, vgl. auch Meyer 1895). - Zum ersten Mal wurde anscheinend 1892 in einer Befragung zu den Problemlösungsprozessen bei Wissenschaftlern nach ihren Träumen gefragt (vgl. Dement 1976, S.99). Der 1902 an Mathematiker versandte Fragebogen zur.Arbeitsmethode wurde 1904 um eine entsprechende Frage erweitert (in englischer Übersetzung findet sich dieser Fragebogen bei Hadamard 1945, S. 137-141, abgedruckt). Zu einem neueren Fragebogen, in dem eine Frage an Mathematiker gestellt wird, die sich auf

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

seltener einer alternativen Rekonstruktion unterzogen worden. 11 Sie sind allerdings — sei es aufgrund ihrer unsicheren Überlieferungsgeschichte, sei es aufgrund ihrer (wodurch auch immer motivierten) überspitzten Darstellung — auch nur in seltenen Fällen einer für den wissenschaftlichen Schaffensprozeß aufschlußreichen Untersuchung zugänglich. 12 Oft genug läßt sich das, was Ludwik Fleck für die von ihm untersuchten Entdeckungen festhält, verallgemeinern: „Die Heroen der Handlung können uns nicht unterrichten, wie dies geschah: sie rationalisieren, idealisieren den Weg. Unter den Augenzeugen sprechen die einen von glücklichen Zufällen und die Gutgesinnten von genialer Intuition. Es ist ohne weiteres klar, daß die Behauptungen beider Partein ohne wissenschaftlichen Wert sind." 1 3 Zu ergänzen ist, daß die „Heroen" sich oftmals auch nicht scheuen, zu mystifizieren. Ihre Beschreibungen verraten mehr über die herrschenden DeutungsTräume und Kreativität bezieht, vgl. Helson/Crutchfield 1970. Empirische Untersuchungen zu Traumtätigkeit und Kreativität sind selten; eine Ausnahme ist Schechter et al. 1965 mit Ergebnissen, die den hier interessierenden Zusammenhang jedoch wenig erhellen. 11 Große Erwartungen für die Aufklärung der „mysterious workings of a creative mind" (S.290) richtet Antoni Dobrowolski an Berichte über erlebte kreative Prozesse, die er in großem Maßstab zu sammeln beabsichtigte. Dobrowolski forderte daher 1936 in einem offenen Brief auch die „less important authors" auÇ derartige Berichte anzufertigen und einer Auswertung zur Verfügung zu stellen (Dobrowolski 1936). Solche Auswertungen haben bereits vor diesem Aufruf stattgefunden, vgl. z.B. Platt/Baker 1931, und für den künstlerischen Bereich z.B. Plaut 1929, Patrick 1935 oder Bahle 1936. 12 Für einen Großteil derartiger Berichte empfiehlt sich vermutlich eher eine Untersuchung ihrer mythologischen Bestandteile', wie dies im Hinblick auf Künstlerbiographien z.B. bei Kris/Kurz 1934 unternommen wird. 13 Fleck 1935, S. 101/02. Vgl. auch die Beobachtungen bei Woolgar 1976. In diesen Zusammenhang gehört auch die häufig behauptete Veränderung des Stils wissenschaftlicher Darstellungen - Veränderungen, die aber auch zu Verlusten führten, die bereits Mach (1902, S.8; vgl. auch die Bemerkung zu Huygens in Id. 1883, S. 149/50) zu bedauern wußte: „Der Verkehr mit den Klassikern der Periode des Wiederauflebens der Naturforschung gewährt eben dadurch einen unvergleichlichen Genuß und eine so ausgiebige, nachhaltige, unersetzliche Belehrung, daß diese großen, naiven Menschen ohne jede zunftmäßige gelehrte Geheimthuerei in der liebenswürdigen Freude des Suchens und Findens alles mittheilen, was und wie es ihnen klar geworden ist." Wilhelm Ostwald hat im Rahmen seiner Wissenschaftlertypologie (vgl. Id. 1910, S.385) den „Klassiker" unter den Wissenschaftlern so charakterisiert, daß dieser sein Werk auf eine Weise darzustellen versuche, „als beruhe es wesentlich auf sich selbst, wozu er insbesondere auch die Entwicklungsstufen, die zu der schließlichen Gestaltung geführt haben, sorgfältig forträumt", wohingegen die „Romantiker" unter den Wissenschaftlern sich nicht „scheuen, auch ihre Irrwege anzugeben, und jedenfalls aus den Gedankenwegen, welche sie zum Ziel geführt haben, kein Geheimnis machen". Einige Hypothesen über Gründe für die Veränderungen bei der Darstellung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, die auch mit wissenschaftsphilosophischen Vorstellungen zusammenhängen, finden sich bei Dear 1985. Beispiele neuerer wissenschafthistorischer Untersuchungen, die das im Einzelfall zu belegen vermögen, sind nicht selten. So heißt es z.B. bei Arthur Millers Rekonstruktionsversuch der Entwicklung der speziel-

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muster und Beschreibungssprachen des wissenschaftlichen Schaffensprozesses, als daß sie verläßliche Belege im Streit über die Struktur wissenschaftlicher Entdeckungsprozesse sind. Fernerhin gilt es, die beiden „Ausleseverfahren" zu berücksichtigen, die nach Julius Bahle den „wahrheitsgetreuen Einblick in den Entwicklungsgang großer Meister" — Bahles Untersuchung bezieht sich durchweg auf Komponisten — „zu verfalschen drohen": „Einmal ist es die vom Künstler selbst vollzogene individuelle Auslese, die durch Vernichten unselbständiger, wertloser und mißglückter Werke geschieht. Das andere Ausleseverfahren besteht darin, daß im Gange historischer Überlieferung vieles verlorengeht, und ebenso vieles von den Biographen, Verlegern, dem Publikum und anderen geschichtsbildenden Mächten als unwesentlich ausgeschieden wird. Beide Ausleseverfahren führen dazu, daß sich das Schaffen großer Meister häufig in isolierten Gipfelleistungen repräsentiert, welche nur durch ,Wunderanekdoten 4 erklärt werden können." 1 4 Z u den Anekdoten, auf die oben hingewiesen wurde, läßt sich immerhin sagen, daß dem Archimedes-Beispiel bereits Galilei mißtraute; 1 5 daß Newtons Apfel-Episode — die man bei Autoren, die es mit solchen Geschichten nicht genau nehmen, durchaus auch über Kepler lesen kann — zumindest umlen Relativitätstheorie, daß diese genau umgekehrt zu der gewählten Darstellungsform gewesen sei (vgl. Id. 1983, S.393; zu diesem Beispiel auch die Hinweise in Anm.VI.233; zu einem weiteren Beispiel, das die Forschungen Claude Bernards betrifft, vgl. Grmek 1973). Gegen die Ansicht, die schriftliche Ausarbeitung sei immer nur eine Verzerrung des Entdeckungszusammenhangs, zeigt Holmes 1987 anhand von Beispielen, daß die Darstellung oftmals selbst Bestandteil des Entdeckungsvorganges ist (auch Id. 1985). Vgl. Anm.II.68 — In jüngerer Zeit gibt es verschiedene Ansätze zur Erforschung von Darstellungsstrategien in wissenschaftlichen Untersuchungen, bei denen rhetorisch orientierte Analysen von modes of social accounting dominieren; dabei ist fraglich, ob eine strikte Trennung zwischen Darstellung, die der rhetorischen Beeinflussung des Lesers dienen soll, und der „-logischen Struktur der Erkenntnis" (wie sie sich z.B. bei Weber 1906, S.278, findet) durchzuhalten ist. Beispiele sind Gusfield 1976, Aaronson 1977, Gilbert 1977 und Id./Mulkay 1980, W)olgar 1980, Yearley 1981, Law/Williams 1982, Knorr-Cetina 1984, Kap. 5 und 6. Vergessen zu sein scheint, daß der Physiker Hendrik A. Kramers bereits 1935 eine Reihe anregender Beobachtungen zu „Physiker als Stilisten" (Id. 1935) formuliert hat („Stil" allerdings in einem nicht so weiten Sinn verstanden wie etwa bei Hacking 1983b und 1985). 14 Bahle 1939, S.33. - Vgl. auch die Bemerkung im Zusammenhang mit einer Rekonstruktion der Entdeckung des Benzol-Rings bei Cackowski 1969: „Einige Wissenschaftler haben von Erlebnissen berichtet, die ihrer eigenen Meinung nach ihre Entdeckungen direkt stimuliert haben, da sie den notwendigen ,Hinweis4 darstellten; jedoch können wir nicht sicher sein, daß solche Berichte in angemessener Weise ein wirkliches Erlebnis beschreiben, das der bestimmten Entdeckung direkt vorausging und es verursachte. In Wirklichkeit dürften die ,Berichte4 wohl eher nachträgliche Darstellungen sein, die in nur loser Beziehung zu den psychologischen Fakten stehen. Solche Berichte sollten daher kritisch untersucht werden44 - Zdislaw Cackowski fahrt dann allerdings fort - , „ja man sollte ihnen mißtrauen; man sollte ihnen die psychologische Analyse dessen gegenüberstellen, was passieren könnte und was die Losung für ein Problem unter den gegebenen Umständen direkt bestimmen könnte 15 Vgl. Galilei 1586.

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stritten ist, 1 6 aber vermutlich das stimmen wird, was ein Bekannter Newtons, Pierre des Maizeaux (1673-1745), in einer jüngst aufgefundenen Randnotiz zu dieser Geschichte bemerkt hat: „une conte fait à plaisir pour amuser ses lecteures"; 17 daß Mendelejevs Entdeckungsprozeß eine minutiöse Rekonstruktion durch B.M. Kedrov erfahren hat, die es zumindest fraglich erscheinen läßt, in ihm einen schlagkräftigen Beleg für die,Irrationalität' des Entdeckens zu sehen;18 und daß Poincaré schließlich seiner eigenen Geschichte eine theoretische Deutung beigefügt hat, welche keineswegs die Möglichkeit einer partiellen Rationalisierung des Entdeckungszusammenhangs ausschließt.19 Zudem werden nicht nur in sogenannten populären Darstellungen die Quellen häufig bestenfalls aus zweiter Hand geschöpft, wenn es bei den beispielhaften Episoden den Aspekt der Plötzlichkeit oder Unerwartetheit der Entdeckung in den Vordergrund zu rücken gilt. Soweit die gängigen Beispiele überprüfbar sind, kommt nicht selten der Eindruck der Plötzlichkeit und Unerwartetheit der betreffenden Entdeckung oder Erfindung dadurch zustande, daß die beispielhaften Episoden aus dem Kontext der wissenschaftlichen Problembearbeitung oder gar der Selbstdarstellung des betreffenden Wissenschaftlers gerissen werden. 20 Als Beispiel kann die Entdeckung des Benzolrings bzw. die Entwicklung der Benzoltheorie durch Kekulé dienen, dessen Schlangen-Traum die Phantasie einiger Interpreten zu erregenden Assoziationen inspiriert hat. 2 1 Schon die Kenntnisnahme der reich dokumentierten und detailliert verfahrenden Darstellung der Entwicklung der Benzoltheorie von Richard Anschütz vermag den Eindruck zu korrigieren, die Idee des Benzolrings stünde plötzlich 16

Vgl. Stukeley 1725, S. 19-21, dazu Beer/McKie 1951, Cohen 1946. Zitiert nach Figala 1978, S.481, dort finden sich auch weitere Informationen zu diesem Fund. 18 Vgl. Kedrov 1971 sowie Id. 1969, auch Rawson 1974. - S.L. Rubinstein sieht die Ergebnisse der Analyse Kedrovs in glücklicher Übereinstimmung mit seiner eigenen Theorie des Problemlösungsprozesses, vgl. Rubinstein 1958, Anhang, S. 138—41; er bezieht sich dabei auf eine ältere Untersuchung Kedrovs, die inzwischen auch übersetzt erschienen ist (vgl. Kedrov 1957). 19 Zu Poincarés Intuitionsbegriff vgl. Mooij 1966, vor allem S.59/60 und 115/16, fernerhin Miller 1984d, S.233ss. - Zum Ablauf der von Poincaré beschriebenen Entdeckung vgl. auch aufgrund neu aufgefundener Dokumente Gray 1982. 20 Das gilt selbstverständlich nicht für alle wissenschaftshistorischen Untersuchungen. Beispiel ist die Forschung zur Entstehung der speziellen Relativitätstheorie Einsteins, die zu einem recht kurzen Zeitansatz gelangt ist. Allerdings ist diese ,FünfWxhen-Hypothese' nicht ohne Probleme, vgl. Earman/Glymour/Rynasiewicz 1983. - Gegen eine derartige Auffassung steht z.B. die sog. Kontinuitätsthese Duhems, die er verschiedentlich formuliert hat (vgl. u.a. Id. 1906b, S.l, oder Id. 1905, S.156), deren Grundlage allerdings eine komplizierte Verbindung von wissenschaftsphilosophischen Annahmen und wissenschaftshistorischen Beobachtungen darstellt (vgl. auch Anm.V.222 und 317). 21 Vgl. die Deutungen bei Mitscherlich 1972 oder bei Mahadchassan 1961. 17

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und vollkommen unerwartet in der Entwicklung der Theorie. 22 Das gilt erst recht von Kekulés eigener Darstellung. Dort findet sich - für den aufmerksamen Interpreten eigentlich unübersehbar — der Bericht über das Zustandekommen seiner Idee eingebettet in Überlegungen zu dem klassischen Bild, daß wir Zwerge auf den Schultern von Riesen seien — über das Robert Merton unterhaltsam unterrichtet 23 —, und in Hinweise auf den kaum weniger klassischen Topos, daß die Idee seit geraumer Zeit in der ,Luft gelegen4 habe. 24 M i t diesem Hinweis soll keineswegs bestritten werden, daß es Zufallsentdekkungen — Serendipität — gibt. Nur scheinen die Anforderungen an das Vorliegen von Zufallsentdeckungen oder unerwarteten Entdeckungen seltener erfüllt zu sein, als die große Zahl vorschneller Deutungen vermuten läßt. 25 Bereichs- und disziplinunabhängig sind historisch abgesicherte und systematisch angelegte Aufarbeitungen und Darstellungen der auf verschiedene Weise dokumentierten wissenschaftlichen Entdeckungsprozesse Desiderat — ein Desiderat, das nicht zuletzt auf die Verbannung des context of discovery aus dem Bereich rationaler Rekonstruktion wie logischer Analyse und auf das damit einhergehende vorherrschende Desinteresse an wissenschaftshistorischen Untersuchungen zurückzuführen ist. 2 6 Noch für die Mitte der sechziger Jahre ist uneingeschränkt Herbert A. Simons resümierender Beurteilung zuzustimmen: „Discussions of scientific discovery have always been highly anecdotal, most of our specific information on the subject deriving from reports of scientific examples, recorded in some instances by historians and philosophers of science, in some instances by psychologists, but often by the discoverers themselves.4'27 Die Wiederaufnahme von Fragestellungen einer logic of scientific discovery gehört zu den Gründen, die das wissenschaftsphilosophische Interesse an Wissenschaftsgeschichte geweckt haben. Diese Wiederaufnahme führte zu 22 Vgl. Anschütz 1929. Jüngst hat Alan Rocke eine Rekonstruktion dieser Theorieentwicklung vorgelegt, die diese Behauptung bestätigt, vgl. Id. 1985 (auch Id. 1983). 23 Vgl. Merton 1965; auch Jeauneau 1967. 24 Vgl. Kekulé 1890. Dort heißt es auch (S.942) : „Lernen wir träumen meine Herren, dann finden wir vielleicht die Wahrheit [...] - aber hüten wir uns, unsere Träume zu veröffentlichen, ehe sie durch den wachenden Verstand geprüft worden sind.44 Vielleicht sollte man bei der Interpretation dieser häufig erwähnten, zumeist aus dem Zusammenhang gerissenen Formulierung einmal den Akzent auf lernen legen. 25 Ein weiteres Beispiel einer vermeintlichen Zufallsentdeckung ist die Entdekkung der Kernspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann (vgl. dazu Wbhlfarth 1979, S.l; dazu die Rekonstruktionen bei Weart 1983 und Krafft 1983). 26 Gelegentlich wird bemerkt, daß die tendenzielle, Ausblendung4 des Entdeckungszusammenhangs und der historischen Entwicklung wissenschaftlicher Theorien in Untersuchungen des Wiener Kreises den Untersuchungen eines ihrer wichtigstèn Vorläufer, nämlich Mach, entgegenliefe (so z.B. bei Ravetz 1980, S.17). 27 Simon 1966, S.22/23.

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einer Reihe einschlägiger Untersuchungen wissenschaftshistorischer Entdeckungsprozesse. Versucht man den Wert abzuschätzen, den die exemplarischen Belege und die darauf errichteten verallgemeinernden Behauptungen für die Kritik der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion besitzen, so ist festzuhalten, daß mit ihnen nicht mehr gezeigt wird — ihre Glaubwürdigkeit und Korrektheit einmal vorausgesetzt —, als daß es Entdeckungen und Erfindungen gibt, deren Ablauf,irrational', vor allem aber regellos erscheint. Diesem Befund gegenüber lassen sich zwei Sichtweisen einnehmen. Die erste gründet sich auf der Hoffnung, daß eine fundierte, sorgfältige Analyse und Rekonstruktion der irrational' erscheinenden Züge dem Erfinden oder Entdecken diesen Anschein nimmt. 2 8 Die zweite Sichtweise akzeptiert nach kritischer Sichtung das vorliegende Material und versucht, für die Struktur und den Aufbau einer wissenschaftlichen Heuristik in der Form einer Methodologie der Theoriekonstruktion Konsequenzen zu ziehen, die — grob gesagt — darin bestehen, auch bei dem Versuch einer rationalen Rekonstruktion oder Rationalisierung des Prozesses der Theoriekonstruktion irrationale' oder,intuitive' Züge zuzugestehen. Die erste Sichtweise beruht auf der Annahme, daß es bei wissenschaftlichen Entdeckungen — trotz widersprechender Oberflächenstruktur — eine Art rationaler, regelgeleiteter Tiefenstruktur gibt. Diese Annahme ist ohne zusätzliche Festlegungen unwiderlegbar; derartige Festlegungen bleiben durchweg aus. Als bestätigende Instanzen für diese Sichtweise dienen Rekonstruktionen wissenschaftshistorischer Beispiele. Es wird dabei übersehen, daß sich jedes wissenschaftshistorische Beispiel auf eine Weise rekonstruieren läßt, die 28 Einen Freibrief für eine solche Sichtweise stellt Franz Loeser mit seiner Deutung der Intuition aus (Id. 1974, S.1451, auch Loeser/Schulze 1976, Kap.2): „Der fundamentale Fehler, der der Auffassung von der Intuition als ein außerlogischer Prozeß zugrunde liegt, ist die Verwechslung ihres spontanen Charakters mit ihrem angeblich außerlogischen Wesen. Die Erklärung dafür, daß die Intuition unerwartet, zufallig und plötzlich neue Ideen hervorbringt, liegt nicht darin, daß sie außerlogischer Natur ist, sondern darin, daß ihre logischen u.a. Gesetze dem schöpferisch-tätigen Menschen gegenwärtig noch weitgehend unbekannt sind und sich demzufolge spontan, mit Hilfe von Erfahrungen und Routine durchsetzen müssen. Diese spontane Durchsetzung der logischen Gesetze des schöpferischen Denkens geben der Entstehung von Ideen notwendigerweise einen zufallsbedingten Charakter. Neue Ideen entstehen deshalb im allgemeinen unerwartet, sind nicht planbar oder vorausschaubar und haben den Anschein einer unerklärbaren Erleuchtung — eines außerlogischen Phänomens." Etwas vorsichtiger, aber ähnlich wird bei Knoop 1978 formuliert; zur Kritik an Loesers Deutung der Intuition vgl. Kellner 1977. Ein weiteres Beispiel sind die Ausführungen bei Hattiangadi 1980, S.262, zu Newton: „The more carefully one looks at Newton's thought, the more one is impressed by the beautiful cogency of his physical and mathematical arguments. Of course, there is creativity in all this. But one can never put one's finger on a creative act. Or, rather, if one does, it is only because we know to little about it." Vergleichbare Auffassungen finden sich schon früher, z.B. bei Paulhan 1901 oder Ziehen 1920, S.782, auch Drobisch 1851, S.196.

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den Anschein regelloser und irrationaler' Kreativität vermeidet. Diese Möglichkeit besteht so lange, wie bei der Deutung und Rekonstruktion der vornehmlich als Texte überlieferten Dokumente wissenschaftshistorischer Entdeckungsvorgänge keine Bedeutungs- und Interpretationskonzeption, die die Deutung beschränken, und keine Adäquatheitsbedingungen festgelegt werden, die das Rekonstrukt überprüfbar machen. Erst eine solche Festlegung gewährleistet, daß der rekonstruierende Zugriff mit den überlieferten (Text-)Dokumenten in Konflikt geraten kann. 2 9 I m weiteren soll daher die zweite Sichtweise eingenommen werden. 30 Diese Wahl hat zur Folge, daß für die Struktur und den Aufbau von Methodologien der Theoriekonstruktion lediglich eine partielle Rationalisierung des Auffindens angestrebt werden sollte (hierzu Kapitel I I I . 1 und III.2). Für die Analyse des wissenschaftlichen Schaffensprozesses scheint — bindet man dieses Urteil an die Häufigkeit der Zitierung — noch immer das Phasenmodell von Graham Wallas als grundlegend angesehen zu werden. Wallas faßt seine Analyse mit der Aufzählung und knappen Charakterisierung der von ihm für typisch gehaltenen vier Phasen zusammen: „The first [stage in the formation of a new thought] in time I shall call Preparation, the stage during which the problem was investigated [...] in all directions'; second is the stage during which he [Hermann von Helmholtz] was not consciously thinking about the problem, which I shall call Incubation; the third, consisting of the appearance of the ,happy idea' together with the psychological events which immediately preceded and accompanied that appearance I shall call Illumination. A n d I shall add a fourth stage, of verification, which Helmholtz does not here mention." 3 1 Eine Analyse, die gegenüber der von Wallas nur Detailunterschiede aufweist, aber wesentlich ausführlicher ist, und die sich vornehmlich auf Poincaré beruft, hat der Mathematiker Jacques Hadamard vorgelegt. 32 So sehr sich bis heute die aufgestellten Phasenmodelle in der Zahl und Charakterisierung der einzelnen Phasen unterscheiden, keines verzichtet darauf, eine Phase als irrational' zu charakterisieren 33 : sei es, daß diese Phase als nicht regelgeleitet bzw. rationalisierbar angesehen wird, sei es, daß sie als einer wissenschaftlichen Erklärung unzugänglich gilt. 3 4 Unterschiedliche Auffassungen 29 Zu diesem Problem ausführlicher Kapitel V.4 und VI. Es handelt sich hierbei um ein Pendant zu der in Kapitel 1.2, S.24, getroffenen Behauptung, daß sich jede wissenschaftliche Entdeckung als einfacher trial-and-error-ProzçQ auffassen läßt. 30 Ähnlich auch Pilipenko 1971. 31 Wallas 1926, S.80. Zwar gab es schon vor Wallas Phasenmodelle vom Ablauf des ,Schöpfungsprozesses', doch haben diese Modelle durchweg nicht die Rezeption erfahren wie Wallas' Kodifizierung der Äußerungen von Helmholtz und Poincaré. Frühere Phasenmodelle finden sich z.B. bei Ribot 1900, vor allem 108ss, oder bei Dewey 1910, S.234-41, zu weiteren Hinweisen Sivilov 1978, S.122. 32 Vgl. Hadamard 1945. - Ähnlich auch Selye 1964, vor allem S.78-103. 33 Zu neueren Phasenmodellen u.a. Vinacke 1952, Ghiselin 1955, McPherson 1968,

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bestehen dagegen bei der Einschätzung der Bedeutung einer solchen Phase für den gesamten wissenschaftlichen Entdeckungsprozeß. Für eine große Anzahl von Untersuchungen, die eine Erklärung des wissenschaftlichen Schöpfertums4 oder der wissenschaftlichen Kreativität 4 erörtern und in erster Linie den Analysen von Wallas und Hadamard verpflichtet sind, stellen Zufall 3 5 und Intuition 3 6 die entscheidenden Aspekte des menschlichen Problemlösens dar. A u f das Zufalls-Argument komme ich bei der Erörterung des PrognoseHaseloff 1969. Vgl. auch die Untersuchungen von Catharine Patrick, z.B. Ead. 1937 (dazu Eindhoven/Vinacke 1952) und sehr ausführlich Ead. 1955, S.3-73. 34 Vgl. die Diskussion bei Popper et al. 1975, S.22-25, auch Jarvie 1981, S. 122/23. - Zu allgemeineren Fragen der Erklärung wissenschaftlicher Entdeckungen vgl. Koertge 1982. 35 Zum Zufall bei wissenschaftlichen Entdeckungen vgl. u.a. Cannon 1940, Hadamard 1945, S.l-20, Taton 1957, Grmek 1976, Simonton 1978 und 1979 (dazu Brannigan/Wanner 1983); eine Sammlung von Anekdoten zu Zufallsentdeckungen findet man bei Beveridge 1950, S.27-40 una S. 160-66. David Böhm hat das Auftreten neuer Ideen, wenn auch mit Vorbehalt, in Analogie zum Quantensprung gesehen (vgl. Id. 1952, S.170). In die wissenschaftspsychologische und wissenschaftstheoretische Literatur ging das Problem der Zufallsentdeckung ein unter der Bezeichnung Serendipität oder als die „Gabe, durch Zufall glückliche und unerwartete Entdeckungen zu machen44 (Mednick 1962, S.289). Vgl. aber auch schon Cannon 1945, Kap.VI: „Serendipität und ihre Vorteile44 (S. 71 -82), jüngst vor allem Austin 1978. Auf Zufallsentdeckungen ist indes schon früher hingewiesen worden, z. B. bei Souriau 1881, S. 17 und passim, oder Nicolle 1932, S.5-7, die beide zu der Auffassung neigen, jede Entdeckung und Erfindung beruhe auf Zufall; vorsichtiger ist Rossman 1931, S. 117—30, vgl. auch Picard 1928, S.244-88. Beispiele einer abwägenden Einschätzung der Rolle des Zufalls bei der Entdeckung sind im vorigen Jahrhundert u.a. Baumgartner 1855, Jevons 1874, S.529-32, Gore 1878, S.223-39, Mach 1896, S.282-304, und Id. 1896b, S.440-44. Noch ältere Hinweise finden sich, allerdings in sehr unterschiedlichen Kontexten, z.B. bei Bacon im Rahmen seiner Kritik an der,magischen Tradition 4 (vgl. Id. 1607, S.496) - eine Tradition, zu der ihm aber auch intellektuelle Beziehungen nachzuweisen versucht worden sind (vgl. Yates 1972, Kap. IX); bei Descartes im Zusammenhang mit seinem Plädoyer für Methode (vgl. Id. 1701, Reg. 4,1), bei Leibniz (vgl. Peursen 1986, S. 190/91), bei Lambert (vgl. Id. 1782, S.456ss), oder bei Friedrich Schlegel in seinen Philosophischen Fragmenten aus dem Jahr 1797 (vgl. Id. 1963, S.88). - Wissenschaftsphilosophische Bestimmungen von Zufallsentdeckungen sind selten; ein Beispiel liefert Lakatos (Id. 1971b, S.67, Anm.24) : „Eine experimentelle Entdeckung ist eine Zufallsentdeckung im objektiven Sinn, wenn sie weder eine bewährende noch eine widerlegende Instanz einer Theorie im objektiven Leib der zeitgenössischen Kenntnisse darstellt; sie ist eine Zufallsentdeckung im subjektiven Sinn, wenn ihr Entdecker sie weder als bewährende noch als widerlegende Instanz einer Theorie macht oder anerkennt, an der er persönlich zur Zeit festhält. 44 36

Zur Intuition vgl. in diesem Zusammenhang z.B. Somogy 1930, S.703: „Im ersten Keim werden die großen Wahrheiten auf irrationalem Wege intuitiv erblickt. Wie das schöpferische Genie zu diesen ersten Einblicken kommt, das ist rationell unerklärbar [...]. Eben deshalb gibt es eigentlich keine Methode der großen wissenschaftlichen Entdeckungen. Jeder Methode fehlt nämlich das irrationale, intuitive Moment der Invention , die durch keine intellektuellen Denkschritte erreicht werden kann, ohne die aber keine schöpferische Geistestätigkeit möglich ist.44 Zu Deutungen des wissenschaftlichen und künstlerischen Schaffensprozesses, für die Inspiration, Eingebung oder Intuition eine ausschlaggebende Rolle spielen, vgl. neben Bunge 1962b auch Nalcadzjan 1972; zu konzeptionellen und empirischen Untersuchungen von Intuitions-Kon-

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Arguments zurück. 37 Für ihre Kritiker sind Konzeptionen, nach denen ,Intuition 4 zum dominierenden Faktor im wissenschaftlichen Entdeckungsprozeß erklärt wird, zumeist nicht mehr als „theories of mystery 44 . 3 8 Belegt findet sich das kritische Urteil nicht selten durch den Hinweis auf so wenig präzisierte Begriffe wie den der Intuition, deren Wahl eher dem Eingeständnis der Unerklärbarkeit als der Formulierung eines fruchtbaren Erklärungsansatzes gleichkomme. 39 Mehr Klärung versprechen in diesem Zusammenhang neuere neurophysiologische Forschungen, die zur Erhärtung der Vermutung geführt haben, daß das menschliche Großhirn in zwei Hemisphären geteilt ist, von denen — vereinfacht gesagt — bei Rechtshändern die linke Hemisphäre (LH) die rechte Körperhälfte und die rechte Hemisphäre (RH) die linke Körperhälfte kontrolliert. 4 0 Es ist vorgeschlagen worden, die Prozesse, die von den jeweiligen Hemisphären (hauptsächlich) bestimmt werden, mit Phasen kreativer Prozesse in Verbindung zu bringen. 41 Ein Beispiel stellen Joseph Weizenbaums Überlegungen dar, nach denen die L H „sozusagen auf geordnete, an Abfolgen orientierte und, wie wir sagen könnten, logische Weise44, während die zeptionen vor allem Westcott 1969, weitere Hinweise finden sich bei Joerges 1977 und Coward 1981. - Zum philosophischen Hintergrund von Intuitions-Konzeptionen vgl. u.a. König 1926, Le Roy 1929/30, Wild 1938. Zu Bergsons IntuitionsbegrifiÇ auf den sich Popper beruft (vgl. Id. 1935, S.7), vgl. neben König 1926, Kap. 5, S.213-90, vor allem Capek 1971, S. 168-175, Morkovsky 1972, Rotenstreich 1972, Gunter 1978. Vermutlich sollte man Poppers Berufung nicht als Hinweis auf sehr weitreichende Übereinstimmungen mit der Auffassung Bergsons lesen. - Zu einer umfangreichen Verteidigung der Relevanz des Unbewußten für den Entdeckungsprozeß, der die neuere Literatur nur wenige Argumente hinzuzufügen vermochte, vgl. Montmasson 1931. 37 Vgl. Kapitel II.4. Die Kritik des Zufallsarguments spielt z.B. für Peirces Abduktionskonzeption eine zentrale Rolle (hierzu Danneberg 1988). Zur Kritik der Überschätzung des Zufallsaspekts bei Entdeckungen vgl. auch die Bemerkung bei Alexandrov 1976, S.27. 38 Zu dieser Bezeichnung vgl. Schon 1963, S. 12/13. 39 Zur Kritik vgl. neben in Anm.II.36 angeführten Untersuchungen z.B. Jarosevskij 1969, S. 131 : „Abschließend kann hier gesagt werden, daß die Erforschung der wissenschaftlichen Tätigkeit durch jene psychologische Richtung, die wir,Erlebnispsychologie4 genannt haben, zu einer Vervollständigung der Phänomenologie des Schöpfertums geführt hat, daß durch sie die positive Erklärung schöpferischer Aktivitäten jedoch nicht vorangebracht wurde, aa der reale Inhalt solcher Termini wie Intuition, Unbewußtes, Einsicht u.ä. nicht über die Grenzen eben dieser Phänomenologie hinausführte. 44 Vgl. auch die Bemerkung bei Rossman 1931, S.86, zum Rekurs auf das Unbewußte als Erklärung für das Zustandekommen von Erfindungen oder Entdekkungen: „It merely amounts to giving a name to a thing which puzzles and mystifies us.44 Auch Cackowski 1978, S.49. 40 In der angelsächsischen Literatur finden sich auch häufig Bezeichnungen wie „minor 44 und „dominant44 bzw. „major cerebral hemisphere44. Zu den Forschungsergebnissen und der Vielfalt von Fragen, zu denen diese Ergebnisse anregen, vgl. die Beiträge in den Sammelbänden von Ornstein (ed.) 1973 und Diamond/Beaumont (eds.) 1973. 41 Vgl. z.B. Ornstein 1972.

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R H „anscheinend in ganzheitlichen Bildern" denke. 42 Nach Weizenbaum gibt es ferner „etliche Anhaltspunkte" dafür, „daß die R H im wesentlichen der Sitz der Intuition ist, und daß deren Denken ganz unabhängig von der L H abläuft". 4 3 Die Beschreibung des Prozesses menschlicher Kreativität bei Weizenbaum weist Entsprechungen zu den herkömmlichen Phasenmodellen auf: „Die Geschichte der menschlichen Kreativität ist voll von Geschichten über Künstler und Wissenschaftler, die, nachdem sie verbissen und lange an einem schwierigen Problem gearbeitet haben, bewußt beschließen, es zu vergessen', es also ihrer R H zu übergeben. Nach einiger Zeit, oft mit großer Plötzlichkeit und ganz unerwartet, kündigt sich ihnen die Lösung des Problems in fast vollständiger Form a n . " 4 4 Aufschlußreich ist die Ursache, die Weizenbaum bei diesem Vorgang vermutet: „Anscheinend war die R H in der Lage, die höchst schwierigen logischen und systematischen Probleme [...] dadurch zu überwinden, daß sie die rigiden Standards im Denken der L H gelockert haben [sie]. M i t den lockeren Standards, mit denen die R H arbeitet, konnte sie vielleicht Gedankenexperimente anstellen, die der L H einfach nicht möglich waren, und zwar aufgrund deren Rigidität." 4 5 Die Charakterisierung des in der R H ablaufenden Prozesses wird ergänzt durch Weizenbaums Erörterung des intuitiven Denkens. Dieses sei „zwar logisch", doch seien die Kriterien, „nach denen es Material zum Beleg seiner Urteile auswählt, [...] völlig verschieden von den Kriterien [...], die wir normalerweise mit logischem Denken verbinden". Pointiert formuliert, hat nach Weizenbaum die R H „Kriterien der Absurdität, die weit entfernt sind von denen der logischen L H " . 4 6 Das intuitive Denken ist hiernach zwar nicht kriterienfrei, es wird aber durch eigenständige Kriterien charakterisiert, die im Vergleich zum sog. logischen Denken weniger rigide Standards bilden. 47 Paul Watzlawicks Technik der therapeutischen Kommunikation knüpft noch radikalere Überlegungen an die Unterscheidung links- und rechtshemisphärischen Denkens. 48 Zielpunkt einer solchen „problemlösenden Kommunikation" ist ein Wandel des vorwiegend linkshemisphärischen „Weltbildes" 49 mit 42

Weizenbaum 1976, S.284. Weizenbaum 1976, S.285. 44 Weizenbaum 1976, S.285/86. 45 Weizenbaum 1976, S.286. 46 Weizenbaum 1976, S.285. — Sieht man von der Bezugnahme auf neuere neurophysiologische Forschungen ab, dann sind ähnliche Beschreibungen nicht selten, z.B. bei Koestler 1964 passim. Robert E. Ornstein stellt daher mit Recht fest (Id. 1972, S.79) : „Was heute neu ist, ist die Erkenntnis, daß diese [Bewußtseins-]Modi auch physiologisch wirken und nicht nur geistig und kulturell." 47 Vgl. Watzlawick 1977. 48 Als weitere Anknüpfung vgl. Watzlawick/Weakland/Fisch 1974. 43

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den erhofften kreativen Auswirkungen auf die angestrebten Problemlösungen; Ausgangspunkt ist — und das soll hier der entscheidende Punkt sein — eine Sichtweise von Problemen, nach der „das wahre Problem die bisher versuchte Lösung des,Problems 4 ist, und damit richtet sich die Intervention gegen die versuchte, problemerhaltende Lösung. Die Lösung ist das Problem und sie bestimmt Natur und Struktur der Intervention. 4 ' 50 Die Absicht, eine durch Regeln angeleitete und durch Standards kontrollierte wissenschaftliche Heuristik in Form einer Methodologie der Theoriekonstruktion zu entwickeln, braucht aufgrund der zugestandenen Partialität der Rationalisierung nicht zu einer Verbannung des intuitiven Denkens — was auch immer darunter verstanden sein mag — zu führen; sie fördert ein solches Denken aber auch nicht. Bezieht man die Überlegungen Weizenbaums und Watzlawicks auf das Problem einer Methodologie der Theoriekonstruktion, dann ist eine solche Methodologie zwar nicht unmöglich, sie scheint jedoch — zumindest im Hinblick auf bestimm te Ziele — wenig erfolgversprechend und vielleicht sogar prinzipiell nicht wünschenswert zu sein. Da weder die Verwendung einer bestimmten noch überhaupt die Verwendung von Methodologien der Theoriekonstruktion in der vorliegenden Untersuchung empfohlen werden soll, braucht hier auch nicht die ganze Konsequenz dieser Überlegungen getragen zu werden. Für die allgemeine Charakterisierung von Methodologien der Theoriekonstruktion legen diese Überlegungen immerhin nahe, es nicht mit dem Hinweis auf die Partialität der intendierten Rationalisierung bewenden zu lassen. U m die Freiräume anzudeuten, die nach ihrer allgemeinen Charakterisierung eine Methodologie der Theoriekonstruktion intuitivem Denken einzuräumen vermag, soll die Beschränkung auf partielle Rationalisierung durch zwei weitere Forderungen ergänzt werden. Das Problem, das durch die Ausführungen Weizenbaums und Watzlawicks für eine wissenschaftliche Heuristik angesprochen wird, ist das immer wieder formulierte Problem der Gegenläufigkeit von Logik, d.h. von Regelbefolgung, und Kreativität, d.h. der Entdeckung von Neuem. Diese Gegenläufigkeit drückt sich in der folgenden Annahme aus: Je stärker der Entdeckungsvorgang regelgeleitet ist, desto weniger kann er kreativ, d.h. Neues entdekkend sein, und je kreativer er ist, desto weniger kann er logisch, d.h. regelgelei49 50

Zu diesem Begriff vgl. Watzlawick 1977, S.37-43.

Watzlawick 1977, S.127. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diesen Ausgangspunkt zu deuten - z.B. als Versuch der Erregung „schöpferischen Zweifels" - und das Vorgehen (z.B. in Abgrenzung zur „schöpferischen Routine") den „revolutionären" kreativen Leistungen zuzuordnen (zu den Begriffen des schöpferischen Zweifels und der schöpferischen Routine vgl. Loeser/Schulze 1976, S.88-95). Eine andere Möglichkeit besteht darin, in diesem Vorschlag einen Hinweis auf die Bedeutung der Rekonzeptualisierung von Problemstellungen zu sehen, die u.a. bei Goldman 1983, S.34ss, betont wird.

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

tet sein. 51 Die erste ergänzende Forderung besagt, daß eine Methodologie der Theoriekonstruktion angemessen elastisch 52 sein soll. Diese recht vage Forderung kann in dem hier vorliegenden Zusammenhang durch zwei Anforderungen präzisiert werden, die sich auf die Verbindung einer Methodologie der Theoriekonstruktion mit Methodologien anderer Art beziehen: Erstens, eine Methodologie der Theoriekonstruktion braucht lediglich die Forderungen der ihr nachgeordneten Methodologie — in der Regel einer Methodologie der Theorieevaluation — zu erfüllen, um für diese eine wissenschaftliche Heuristik zu sein; zweitens, bei der Charakterisierung der Zuordnung einer Methodologie der Theoriekonstruktion zu einer sie orientierenden Methodologie — etwa der Theorieevaluation — sollten keine maximalen Anforderungen vorgeschrieben werden, sondern Anforderungen, nach denen die orientierende Methodologie verschiedenen Methodologien der Theoriekonstruktion gegenüber zwar nicht indifferent ist, aber auch nicht nur eine derartige Methodologie auszeichnet.53 Die Berücksichtigung dieser beiden Anforderungen hat zur Folge, daß bei einer vorgegebenen und orientierenden Anschlußmethodologie eine Vielzahl unterschiedlicher Methodologien der Theoriekonstruktion vorliegen können, die sich ihr zuordnen lassen. Das wiederum ermöglicht, daß die Wahl einer Methodologie der Theoriekonstruktion durch die vorliegenden Situationen und Bedingungen der Theoriekonstruktion bzw. der Suche nach Problemlösungen beeinflußt werden kann. Damit wird die Möglichkeit eingeräumt, daß sich dieser Einfluß auch auf den Grad der angestrebten Rationalisierung auswirkt. Die beiden Anforderungen bestimmen mithin zwei Aspekte einer situationsorientierten Elastizität bei der Wahl und dem Aufbau einer Methodologie der Theoriekonstruktion. Die zweite Forderung, die die Partialität der Rationalisierbarkeit ergänzt, besagt, daß es bei einer Methodologie der Theoriekonstruktion nicht allein um die teilweise durch die orientierende Anschlußmethodologie, teilweise durch situationsbedingte Annahmen gesteuerte Einschränkung des Suchraums für die Theoriekonstruktion geht, sondern ebenso um seine zielgerichtete Erweiterung. 54 Diese Forderung stellt zumindest die Aufforderung dazu dar, auch ,Kriterien der Absurdität' eine Chance zu geben. Die Erörterung des ersten Arguments läßt sich wie folgt resümieren: Das Intuitions-, Zufalls- und Unerklärbarkeitsargument vermag nicht zu zeigen, daß eine wissenschaftliche Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekon51 Eine solche Gegenläufigkeit ist häufig behauptet worden. Vergleichsweise klar formuliert ist sie z.B. bei Paulsen 1892, S.210 (in der 17.-19. Aufl. von 1907, S.225). 52 Zu diesem Ausdruck vgl. Altschuller 1969, S. 112; zu einem Versuch, die Elastizität' einer Methode zu explizieren, Muresan 1984. 53 Vgl. Kapitel III.3. 54 Vgl. u.a. Kapitel III.2.

79

2. Das induktionslogische Argument

struktion nicht möglich ist. Anschlußüberlegungen legen allerdings nahe, bestimmte Anforderungen an die allgemeine Charakterisierung von Methodologien der Theoriekonstruktion und ihre Verbindung mit Anschlußmethodologien zu richten, bei denen es sich zeigen muß, ob sie von den entsprechenden Methodologien erfüllt werden können.

2. Das induktionslogische Argument Erfolgreicher als das erste Bündel von Argumenten gegen die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion scheint ein Argument zu sein, das auf der Annahme beruht, die Rationalisierung des Auffindens von Theorien sei oder — wenn dergleichen überhaupt möglich sein soll — müsse induktionslogisch sein. „Induktionslogisch" sollen dabei Schlüsse heißen, die sowohl „wahrheitskonservierend" als auch „gehaltserweiternd" sind. 55 Beispiele für Induktionsschlüsse sind nach gängiger Auffassung Schlüsse der folgenden schematischen Art:

CS1*,,...

,Blx n, B2x v...

0)

(jc)

,B2x n,

)

(..B lx.B 2x..)

Die durch eine Induktionslogik gesicherten Schlüsse der Art (1) sollen zu Generalisierungen „spezifischer" und nicht nur „numerischer" Allgemeinheit führen. 56 Für die Zielsetzung einer auf Induktionslogik beruhenden wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion wäre es offenbar nicht ausreichend, wenn die verwendete Induktionslogik lediglich Schlüsse der folgenden schematischen Art sichern könnte:

(Β%,...,Β%,Β\,...,Β 2χ η

(2)

)

(..B% +l.B 2x n+ì..)

Interessant für eine Methodologie der Theoriekonstruktion ist neben (1) eine weitere Art von Schlüssen, die sich schematisch wie folgt darstellen lassen: 55 56

Vgl. Stegmüller 1971, S. 17. Popper 1934, S.34/35.

80

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

(3) (..t..) Im Unterschied zu Schlüssen der Art (1) soll bei Schlüssen der Art (3) in der ,Konklusion' mit Γ ein Term auftreten, der sich weder offen noch versteckt in den Prämissen (. .B ] . Β 2 ..) findet. Der für eine Methodologie der Theoriekonstruktion interessanteste Fall liegt vor, wenn es sich bei T u m einen T(heoretischen)-Term und bei B \ B 2 um B(eobachtungs)-Terme handelt. Das induktionslogische Argument gegen die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion besteht aus zwei Annahmen: aus der Annahme, daß eine Rationalisierung des Entdeckungszusammenhangs nur induktionslogisch erfolgen kann, sowie aus der Annahme, daß die Unbegründbarkeit einer induktionslogischen Rationalisierung des Auffindens von Theorien als Konsequenz aus der Unbegründbarkeit induktiver Schlüsse nachweisbar ist. Eine im Hinblick auf die zweite Annahme etwas schwächere Variante des induktionslogischen Arguments richtet den Zweifel nicht so sehr auf die Unmöglichkeit eines induktiven Auffindungsverfahrens, als vielmehr auf seine Zweckmäßigkeit. Nach diesem Argument ist ein solches Verfahren eher hinderlich, da es dazu neige, „intellektuelle Lähmungserscheinungen" 57 hervorzurufen. Für viele Verfechter der Nichtrationalisierbarkeit des Entstehungszusammenhangs von Theorien scheint — wie Simon vermutet — das induktionslogische das entscheidende Argument zu sein: „We might ask how the premature dismissal of the possibility of a normative theory of discovery occurred. I suspect, but only suspect, that it occurred because the possibility of such a theory was supposed, erraneously, to depend on the solution of the problem of induction." 5 8 An Beispielen, in denen das Problem des Auffindens in Verbindung mit dem Induktionsproblem gesehen wird, mangelt es nicht. 5 9 Anhänger einer induktionslogischen Rationalisierung des Auffindens von Theorien sind dagegen gegenwärtig kaum noch zu finden. 60 Es spricht zudem vieles für die Vermutung, daß die discovery-justification-Dichotomie mit der Betonung 57

Medawar 1965, S. 105. Simon 1973, S.474. Vgl. auch Post 1971/72, S.215: „They [the philosophers of science] have thrown out the baby heuristics with the bathwater of naive inductivism." Zu den Ausnahmen gehört auch hier Peirce (vgl. Danneberg 1988). 59 Vgl. z.B. Polanyi 1957/58, S.95, Hempel 1966, S.19-31, und Id. 1966b, vor allem S.l 13-17, Medawar 1969 und 1971, wo sich weitere Belege finden. 60 Am ehesten ließen sich hier die Arbeiten von Vittorio Somenzi nennen (vgl. Id. 1955 und 1959). Vgl. auch Pera 1980 sowie die unten im Text erörterte Konzeption William Rozebooms. 58

2. Das induktionslogische Argument

81

der Nichtrationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs nicht zuletzt eine Reaktion auf die als überzogen empfundenen Ansätze einer induktionslogischen Rationalisierung sind. So schreibt Thomas Nickles unter Hinweis auf Bacon: „[The sharp distinction of context of discovery from context of justification] is a reaction against Baconian inductivists and others who have espoused failsafe ,mechanical' methods of discovery and is a recognition of the importance of creative originality in science." 61 Während ältere Stimmen des Zweifels vereinzelt geblieben sind, wurde die Brauchbarkeit und Ergiebigkeit der sog. Baconschen Methode im Verlauf des 19. Jahrhundert zunehmend angezweifelt. Beispiel ist die Generalabrechnung mit dem Baconisme bei de Maistre. 62 Insbesondere aber die Zweifel so renommierter Naturwissenschaftler wie des Physiologen Claude Bernard 63 oder des Chemikers Justus von Liebig 6 4 wirkten als einflußreiche Angriffe auf den Nutzen der Induktion bei der Hypothesenbildung. Gelegentlich wurde sogar der Verdacht geäußert, daß Wissenschaftler — als ein Beispiel diente Ampère — entgegen ihrer induktivistischen Bekenntnisse verfahren sein mußten; 65 selbst Newton blieb von diesem Verdacht nicht verschont. 66 61

Nickles 1974, S.575. Maistre 1836, Bd.I, S.80/81 und passim. 63 Bernard 1865, Kap.1.2 sowie S.393/94. Bernard beruft sich auch auf de Maistre. Zu Aspekten von Bernards Wissenschaftsauffassung, die in diesem Zusammenhang interessant sind, vgl. Schiller 1973 und vor allem Grmek 1973, Kap. I; Malherbe 1981 versucht, die Übereinstimmungen mit den Auffassungen Poppers herauszustellen. 64 Vgl. Liebig 1863. Von Liebig kommt auf dieses Thema in Id. 1865 zurück. Dort heißt es (S. 19) : „Die Induction unter der Leitung der Phantasie ist intuitiv und schöpferisch, aber unbestimmt und maßlos; die Deduction unter der Leitung des Verstandes analysiert und begrenzt, und ist bestimmt und maßvoll." Auf die Kritik Liebigs gab es eine Vielzahl von Reaktionen; sehr ausführlich z.B. Böhmer 1864. Liebig ist nur in wenigen Ausnahmen auf die Reaktionen eingegangen. Auf die Kritik Sigwarts in Id. 1863b, auf die Kritik Heinrich Böhmers in einer Bemerkung in Id. 1864, S.280. 65 Vgl. Maxwell 1873, § 528; oder die Analyse bei Duhem 1906, S.260-66. - Dorling 1973, S.363-65, hat versucht, Ampères Argumentation als eine Art „demonstrative induction" zu rekonstruieren. 66 Nach Duhem 1906, S.253-60, ist Newtons Theorie mit Keplers Gesetzen unvereinbar, so daß deshalb weder eine Deduktions- noch - nach Duhem - eine Induktionsbeziehung vorliegen kann (vgl. hierzu die wissenschafthistorischen Untersuchungen bei Wilson 1970, Westfall 1971, Kap. 7, Cohen 1974 und Id. 1980, Kap.5, auch Hattiangadi 1979, sowie den Rekonstruktionsversuch bei Zahar 1983, S.255ss). Popper hat dieses Argument aufgegriffen (Id. 1957) und später (vgl. 1984) wiederholt (hierzu auch Anm. V.109). In Id. 1984, S.245/46, behauptet Popper, daß eine Induktion, die zu einer Konklusion führt, die mit den Prämissen unvereinbar ist, unmöglich sei. Für diese Behauptung gibt Popper keine Begründung. Zudem schwächt er sie ab, indem er lediglich von Induktionen „in any important sense" (S.246) spricht, ohne diese Einschränkung zu erläutern (vgl. die Ausführungen in Franklin/Howson 1985, S.384/85). — Die Beobachtung, daß in vermeintlich kumulativen Theorieabfolgen die beteiligten Theorien unvereinbar und deshalb - in bestimmter Weise - nicht aufeinander reduzierbar seien (z.B. Feyerabend 1962, S.87/88, Laudan 1976, hierzu auch 62

82

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

Die Schwierigkeit, die wissenschaftliche Praxis mit den als dominierend erfahrenen induktiven methodologischen Normen in Einklang zu bringen, hat sogar — wie offenbar bei Darwin — zu Ansätzen der Camouflage geführt. 67 Derartige Beobachtungen sind schließlich zu der Behauptung verallgemeinert worden, daß sich keine Entdeckung anführen ließe, die nach der ,Baconschen Methode' zustande gekommen sei. 68 Von dieser VerallgemeiKapitel V.2.), wurde neben der Inkommensurabilitätsthese (vgl. Kapitel V.3. und V.4.) zu einem wichtigen Argument, das in den siebziger Jahren die Suche nach komplexeren Reduktionsbegriffen motivierte; Beispiele von Vorschlägen, die sich dabei explizit auf Newtons Theorie und Keplers Gesetze beziehen, finden sich bei Scheibe 1973 sowie Moulines 1980c (auch Stegmüller 1986, S.246ss), vgl. auch den Hinweis in Pearce/Rantala 1984, S.78, ausführlicher Id. 1984d, S.173ss. 67 Die folgende Zusammenstellung von Äußerungen Darwins aus Briefen und Veröffentlichungen mag das illustrieren: Darwin 1872, S.27; Brief646 vom 8.7.1863 in Darwin (ed.) 1903, Vol.II, S.323; Darwin 1887, S. 100s; Brief 133 vom 18.9.1861 in Darwin (ed.) 1903, Vol.1, S.195. Einen Teil der einschlägigen Stelle des zuletzt genannten Briefes zitiert auch Popper (Id. 1968, S.244, sowie Id. 1968b, S.291/92) und schließt daran die in Anbetracht der unterschiedlichen Äußerungen Darwins sicherlich kühne interpretative Behauptung (Popper 1968, Anm.l, S.244): „Darwin at least was very clear on these matters [...]", vgl. dagegen z.B. Pera 1980, S. 146. - Der Zwiespalt zwischen den eher öffentlichen und den mehr privaten Äußerungen Darwins über sein wissenschaftliches Vorgehen hat mitunter beträchtliche Verwirrung gestiftet. Während etwa John Pässmore behauptet (Id. 1959/60, S.42, Anm.4) : „His [seil. Darwin's] own ideas in this field [seil, the philosophy of science] are very close to those expressed by Wheweir, stößt eine solche Behauptung bei David Hull nur auf ungläubiges Erstaunen (vgl. Id. 1966/67, S.335, Anm.80). Zu Darwins Beziehungen zu Herschels und Whewells Wissenschaftsphilosophie vgl. Hull 1973, Ruse 1975 (dazu Thagard 1977 sowie Ruse 1978), Curtis 1987; auch Cannon 1976 sowie Hull 1983. Für Cassirer 1950, S. 167, ist die „Art, in der Darwin seine Lehre gefunden und in der er sie begründet und dargestellt hat, [...] ein Musterbeispiel echt induktiver Forschung und Beweisführung." Der VorwurÇ daß Darwin nicht nach ,echten Baconschen Grundsätzen' vorgegangen sei (vgl. dagegen seine Behauptung in Id. 1887, S.100), gehörte zu den Standardeinwänden zeitgenössischer Kritiker (vgl. Ellegard 1957 und 1958, Kap.9, S. 174ss). Inzwischen gibt es nur wenige Entdeckungsprozesse, die so wie der Darwins Gegenstand materialexponierender und rekonstruierender Untersuchungen geworden sind (vgl. Anm.1.144, 145 und 147). Dabei ist auch mit einigen Legenden der Theoriebildung Darwins aufgeräumt worden, so mit den Annahmen über Darwins Spekulation zum Ursprung der Arten aufgrund seiner Beobachtung der Finken auf denGalapagos-Inseln(vgl. Sulloway 1982 und Id. 1983). - Vgl. auch die unterschiedlichen Analysen und Rekonstruktionen der Theoriestruktur und des Argumentationsaufbaus in Darwins On the Origins of Species (Id. 1872), dazu jüngst Lloyd 1983 sowie Recker 1987. 68 Vgl. Jevons 1874, S.507, Mach 1896b, S.445, Carmichael 1922, S.43, Cohen 1949, S.99-106, auch Duhem 1915b, S.440, sowie Keynes 1921, S.265 (zu einem Vergleich mit der modernen Physik Margenau 1961). Vgl. aber auch schon die rhetorische Frage bei Coleridge 1818, S.40/41, der Bacons „Science of Method" allerdings eine vom Hauptstrom der Rezeption stark abweichende Deutung zukommen läßt (hierzu Anm. 11.73). - Bereits Leibniz hatte dieselbe Behauptung im Hinblick auf die zu seiner Zeit gerühmte Methode Descartes' aufgestellt (vgl. Leibniz 1926, S. 500, in einem Brief an einen unbekannten Adressaten vermutlich aus dem Jahr 1679; zum weiteren Hintergrund der Kritik Leibniz' an Descartes vgl. u.a. Beiaval 1960). Ebenso wie bei Ampère, Darwin und Newton (vgl. Anm. 1.104,11.65, 66 und 67, auch II. 1) ist auch bei Descartes zu zeigen versucht worden, daß er selbst nicht der von ihm propagierten Me-

2. Das induktionslogische Argument

83

nerung ist der Schritt zu einer generellen Absage an die Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs von Theorien nicht mehr groß, wenn diese mit einer Induktionslogik verknüpft wird. 6 9 Bis zum Beginn dieses Jahrhunderts war die Kritik an der Induktion als Verfahren der Hypothesenbildung so weit fortgeschritten, daß die Hypothesen- bzw. Theoriebildung generell keinem erfolgversprechenden induktiven Auffindungsverfahren zugänglich erschien, das geltungsrelevant und regelgeleitet ist. A n die Stelle der Idee einer Logik des Entdeckens traten zunehmend Auffassungen, nach denen die Hypothesenbildung auf Intuition, Imagination, Phantasie oder Einbildungskraft beruhe. 70 thode gefolgt sei, vgl. Schuster 1986. Im Anschluß an die Methodenskepsis Koyrés, Kuhns und Feyerabends sieht John A. Schuster generell in methodologischen Bekundungen eine Form ,mythischen Sprechens' („mythisch" dabei im Sinne Roland Barthes') : „All systematic method doctrines belong to a definite species of discourse. The species is characterized by the presence of a certain structure common in all instances of the type. This structure is such that it necessarily defeats the ability of any methodology to accomplish what it literally announces itself to be able to accomplish. At the same time, this same discursive structure sustains or creates a set of illusions (in the form of literary effects) to the effect that the method in question can indeed accomplish what it claims to be able to do" (Id. 1986, S.35, als Programm für eine neue Historiographie wissenschaftlicher Methodenkonzeptionen vgl. Id. 1984). 69 Vgl. auch die Kritik an der Kombinatorik zur Auffindung wissenschaftlicher Ergebnisse. So äußert Mach die Vermutung (vgl. Id. 1896, S.302), daß der bissige Spott, mit dem Swift in Gullivers Reisen das Entdecken mit Hilfe einer Entdeckungsmaschine, die vorgegebene Elemente kombiniert, parodiert, auf Bacon gemünzt sei — knapp zehn Jahre früher hat Pfeirce in derselben Stelle eine Verspottung von Aristoteles' und Bacons Organon gesehen (vgl. Id. 1976, S.625). Nicht ganz 130 Jahre früher hat Lichtenberg in einem Fragment mit dem, eine Kontraktion aus Sterne und Swift darstellenden Titel Lorenz Eschenheimer s empfindsame Reise nach Laputa (in Id. 1844, S.199ss)

die „Uni versalkurbelmethode" parodiert und zugleich auf zwei zeitgenössische „deutsche Gelehrte" in diesem Zusammenhang angespielt (S.200). Vermutlich handelt es sich um eine Anspielung auf Lamberts Dianoiologie aus seinem Neues Organon (Id. 1764) und auf Gottfried Ploucquet, etwa auf seinen Methodus calculandi in Lo*icis, praemittur commentatio de Arte characteristica

(1764). — Die Forschung ist in der

Frage nach der direkten Vorlage bei Swift noch zu keinem klaren Ergebnis gekommen. Einschlägige Untersuchungen zum historischen Hintergrund und den Absichten seiner Wissenschaftskritik haben zwar ergeben, daß er direkten Bezug nimmt auf die Philosophical Transactions der Royal Society for the Progress of Science. I m einzelnen

wurden konkrete Bezüge jedoch lediglich für die von Swift dargestellte Gruppe der Experimentatoren nachgewiesen (vgl. Nicholson/Mohler 1937, auch Nicholson 1956, S. 110-54, Potter 1941). Im Hinblick auf die fragliche Stelle ließe sich auf Vickers 1968 zurückgreifen, der den Bezug zu Bacon zu belegen versucht, auf Renaker 1979, der einen stärkeren Bezug zu den Cartesianern sieht, oder auf Probyne 1974, der einen Einfluß von John Wilkins' An Essay Toward a Real Character, and a Philosophical

Language nahelegt. Den Untersuchungen gelingt es jedoch nicht, einen Bezug zu anderen Quellen auszuschließen: so könnte es sich z.B. auch um eine Anspielung auf Galilei 1632, S. 114, handeln (zu entsprechenden Stellen bei Lukrez, Cicero und Bentley vgl. Ehrenpreis 1955, S.99s). - Zu weiteren kritischen Bemerkungen zur Kombinatorik vgl. u.a. Helmholtz' „Letternkasten" (Id. 1877, S.185), auch Stöhr 1905, S. 167; oder die Erzählung Die Universalbibliothek von Kurd Laßwitz (zu diesem Motiv bei Leibniz vgl. Blumenberg 1981 und Id. 1981b, Kap.X). 70 Zur Geschichte der mit diesen Begriffen verknüpften Konzeptionen vgl. u.a. Bundy 1927 und 1930, Engeil 1981, Vietta 1986; in diesem Zusammenhang vgl. auch

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

Zweifellos hat die Absage an die Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs entscheidende Impulse aus der Auseinandersetzung mit Bacon und seinen vermeintlichen oder selbsternannten Nachfolgern erhalten; es ist daher von nebensächlicher Bedeutung, ob die alten wie neuen Kritiker Bacons seiner Auffassung immer gerecht werden. 71 In jüngerer Zeit finden sich zwar vermehrt Ansätze, die Bacons ,Induktivismus 4 in die Nähe eines hypothetico-deductive approach rücken; 72 den Hauptstrom der Rezeption faßt Larry Laudan jedoch mit Recht wie folgt zusammen: „The vagaries of Bacon's reputation are as curious as the man himself [...]. Generally, however, modern historians of method tend to treat Bacon as an uninteresting and rather simple-minded inductivist, thus accepting Koyré's view that it is ,une plaisanterie 4 to think that Bacon had anything to do with modern science or philosophy. 44 7 3 die diversen Genie-Konzeptionen, dazu u.a. Zilsel 1926, Tonneiii 1973, Becker 1981, Schmidt 1985. 71 Nach Lakatos 1971, S. 102, ist es im wesentlichen Popper zu danken, daß „unter den Wissenschaftstheoretikern [...] die Baconsche Methode nur mehr von den provinziellsten und ungebildetsten ernst genommen44 wird. Bei dieser Behauptung Lakatos' bleibt unklar, ob die ,Baconsche Methode4 - wie sie Popper versteht - auch tatsächlich die Baconsche Methode ist (vgl. hierzu neben Anm.II.72 Grünbaum 1976 und 1978; auch Cohen 1971). 72 Mit Deutungen der Induktion bei Bacon — speziell mit der Medawars - setzt sich kritisch Mary Horton auseinander (vgl. Ead. 1973/74). Sie resümiert ihre Interpretation wie folgt (S.256) : „In other words what Bacon seems to be heading towards is the method of testing and correcting theories by a continual process of conducting new experiments on hypotheses derived from those theories — including those crucial experiments of which Bacon was particular fond. This is the very method that lies at the centre of the hypothetic-deductive approach, and which the critics of inductivism maintain the inductive method lacks.44 (Zu einem exegetischen Einwand gegen Hortons Deutung Harré 1974/75). In ähnliche Richtung weist die Deutung bei Hesse 1964 sowie der Vergleich von Bacon und Popper bei Urbach 1982, jüngst Id. 1987 (zur anhaltenden Diskussion der Deutung der Induktion bei Bacon auch Malherbe 1985 und Geldsetzer 1985). Hierher gehört fernerhin L. Jonathan Cohens Verteidigungsversuch Baconscher Wahrscheinlichkeit

gegenüber Pascalscher Wahrscheinlichkeit

(vgl. u.a. Id.

1970, 1977 und 1980, auch Id. 1980d). - Häufig wurde die ,Baconsche Methode4 in enger Verbindung mit Newtons Methodenvorstellung gesehen, was ihr zusätzlich Autorität verlieh (vgl. u.a. Pemberton 1728, S.l-26, Maclaurin 1748, S.59/60, Bloch 1908, S.421ss, More 1934, S.48, 180, 497). Diese Deutung war allerdings nahezu immer umstritten, vgl. z.B. Brewster 1855, Vol.2, S.325-30, wo nicht nur die Vorstellung induktiven Entdeckens kritisiert, sondern auch der Einfluß Bacons auf Newton für bedeutungslos gehalten wird. Als offensichtlicher Berührungspunkt zwischen beiden gilt häufig Newtons Verwendung des Ausdrucks „experimentum crucis44. Bei Bacon findet sich dieser Ausdruck allerdings nicht, sondern lediglich „instantiae crucis44 (vgl. Bacon 1620, Lib. Sec. Aph. XXXVI). Dagegen heißt es bereits bei Hooke 1665, S.54: „This Experiment therefore will prove such a one as our thrice excellent Verulam calls Experimentum Crucis [.. .]. 44 73

Laudan 1968, S. 19/20. Zur Bacon-Rezeption im 19. Jahrhundert vgl. Yeo 1985, auch Rashid 1985; eine Ausnahme ist die differenzierte Whewells, vgl. Elkana 1986b. - Ein Beispiel für eine abweichende Rezeption findet sich bei Coleridge 1818. Seinen Vergleich zwischen Piaton und Bacon beschließt Coleridge wie folgt (S.46/47) : „From all that has been said, it seems clear, that the only difference between Plato and Bacon

2. Das induktionslogische Argument

85

Vorausgesetzt, induktive Schlüsse werden überhaupt als problematisch und rechtfertigungsbedürftig angesehen, 74 dann kann für die zweite Annahme des induktionslogischen Arguments, die Unbegründbarkeit induktiver Schlüsse, auf Poppers „ L ö s u n g " 7 5 sowohl des logischen als auch des psychologischen Induktionsproblems zurückgegriffen werden, 7 6 auch wenn der Zweifel an der Induktion — folgt man Richard Popkin - sich bis auf Sextus Empiricus zurückverfolgen läßt. 7 7 Ob Popper allerdings nicht nur einen Nachweis der Unbegründbarkeit induktiver Schlüsse zu geben versucht hat, sondern das induktionslogische Argument auch gegen die Möglichkeit der was, that, so speak in popular language, the one more especially cultivated Natural Philosophy, the other Metaphysics. [...] but far from disagreeing, as to the mode of attaining the Truth [scil. as manifested in the world of intellect - Plato; as manifested in the world of sense - Bacon], far from differing in their great views of the education of the Mind , they both proceeded on the same principles of unity and progression ; and consequently both cultivated alike the Science of Method , such as we have described." Zum Hintergrund dieser Rezeption vgl. Levere 1981, Kap.4; zu Bacons Auseinandersetzung mit Piaton vgl. Anderson 1948, S.127ss, dazu Rossi 1957, S.191ss. 74 Vgl. bereits Reichenbach 1930/31, S. 186-88 (Reichenbach hat später diese Auffassung aufgegeben und eine pragmatische Rechtfertigung zu geben versucht; vgl. Anm.II.107), oder Mally 1938, S.72, wo es heißt: „Induktion ist wie Wahrnehmung nicht logisch zu widerlegen, nicht logisch zu begründen und bedarf wie die Wahrnehmung keiner solchen Begründung. Ihre Rechtfertigung liegt im selbstgewissen Erleben sinnhafter Strebungen und ihrer nähernden Erfüllung." Fernerhin Edwards 1949, Ayer 1956, S.71ss, Strawson 1952, Kap.9, S.233s; zur Kritik an Strawsons Auffassung u.a. Salmon 1957 (dazu Strawson 1958) sowie Id. 1967, S.48-52, sowie die Erörterung bei Schlesinger 1980 und die Erwiderung bei Strawson 1980. 75 Seit einiger Zeit spricht Popper von einer „positiven" und „negativen Lösung" des „logisch^nethodologischen Problems der Induktion" (vgl. Popper 1934, S.226 [=Zusatz (1968)1 dazu auch Lakatos 1971, S. 107, Anm.122). Vgl. auch Bartley 1982b, S.264, 277 und 282. 76 Die loci classici dieses Nachweises finden sich bei Popper 1934, S.3-6, und zum psychologischen Induktionsproblem S.374ss, vgl. weiterhin Popper 1971, Id. 1974b, vor allem S. 1013-27, und - schon ein wenig ungehalten - Id. 1984 (dazu erläuternd Pähler 1986, S.159ss); fernerhin das neue Argument bei Popper/Miller 1983 sowie Popper 1985 (dazu Redhead 1985, Howson/Franklin 1985, Dunn/Hellmann 1986, Gillies 1986, Rivadulla 1987b, Ellis 1988, Chiara/Gillies 1988 und Popper/Miller 1987). - Poppers Erörterung des psychologischen Induktionsproblems dürfte kaum zufriedenstellend sein; denn er zeigt mit seinen Argumenten und Annahmen lediglich, daß eine Induktion ohne Hintergrundvermutungen nicht möglich sei; nun gehört die Leugnung vorliegender Hintergrundvermutungen keineswegs generell zu den notwendigen Bestandteilen der psychologischen Induktion 4 — mithin trifft Poppers Kritik nur dann, wenn eine solche Annahme gemacht wird (vgl. auch Jones 1982). Zu Poppers Kritik am logischen Induktionsproblem vgl. weiter unten im Text (zu neueren, wenig überzeugenden Einwänden gegen Poppers Induktionskritik Rivadulla 1987). - Zum Hintergrund der Behandlung des Induktionsproblems bei Popper vgl. Bartley 1974 sowie Berkson/Wetter sten 1982. Zur Unbegründbarkeit von Induktionsschlüssen vgl. auch die zur Logik der Forschung kontemporären Ausführungen bei Dingler 1926, passim, bei Feigl 1934 und bei Kraft 1925, Kap.III (als überarbeitete und veränderte zweite Auflage Kraft 1973). 77

Vgl. Popkin 1979; fernerhin Milton 1987 (zur Interpretationskontroverse um die Induktionskritik bei Sextus Empiricus, dort S.56/57), auch Hacking 1975.

86

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

Rationalisierung des Auffindens von Theorien gerichtet hat, ist nicht eindeutig entscheidbar. 78 Sieht man einmal von dem Rückgriff auf Poppers „Lösung" des Induktionsproblems ab, so läßt sich für die zweite Annahme des induktionslogischen Arguments in dem Fall, daß Schlüsse von B-Termen auf T-Terme zu ziehen sind — also Schlüsse der A r t (3) —, noch ein anderes Stützungsargument entwerfen. Dieses Stützungsargument beruht auf der Annahme, daß das Vorliegen eines induktionslogischen Auffindungsverfahrens für Theorien, die wesentlich T-Terme aufweisen, zugleich bedeutet, daß solche Theorien induktiv bestätigbar sein müssen. M i t dem Problem, wie mit Hilfe eines induktiven Bestätigungsbegriffs Theorien bestätigbar sind, die wesentlich T-Terme aufweisen, hat sich ausführlich Stephen F. Barker auseinandergesetzt. 79 Barkers Diskussion von Lösungsvorschlägen legt die Vermutung nahe, daß für T-Term-Theorien kein induktiver Bestätigungsbegriff formuliert werden kann. Bei Barkers eigenem Vorschlag ist zwar unklar, ob er nicht auch als induktiv gelten kann, 8 0 doch weist er so gravierende Mängel auf, daß er kaum als angemessen gelten kann und mithin die Vermutung nicht widerlegt. 81 Sollte sich dieses Stützungsargument erhärten lassen, so wäre mit ihm ebenfalls ein Nachweis für die zweite Annahme des induktionslogischen Arguments erbracht — ein Nachweis indes, der eingeschränkter ist als ein erfolgreicher Rückgriff auf die Unbegründbarkeit induktiver Schlüsse. Sollte diese Vermutung entkräftet werden können — wofür jüngere Studien zu sprechen 78

Wenn das hier dargestellte induktionslogische Argument korrekt ist, dann überrascht es, daß Popper zwar den Nachweis für die zweite Annahme dieses Arguments liefert, aber anscheinend keinen Gebrauch von diesem Argument bei der Begründung seiner Auffassung der Nichtrationalisierbarkeit des Auffindens von Theorien macht. Denn aus dem induktionslogischen Argument folgt mit Sicherheit, daß das Auffinden von Theorien nicht rationalisierbar ist, so daß die in der folgenden Popper-Passage ausgedrückte Unsicherheit damit unvereinbar ist (Popper 1935, S. 170) : „Unterscheidet man mit Reichenbach Auffindungs-und Rechtfertigungsverfahren, so muß man ihm zustimmen, daß das erstere nicht rationalisierbar sein dürfte(Hervorhebung von mir; die des Originals wurden weggelassen). Mit dieser einschränkenden Formulierung soll vermutlich der durch das „kaum" ausgedrückten Unsicherheit in der folgenden Stelle Reichenbachs Rechnung getragen werden (Id. 1935, S. 172) : „[...] das Auffindungsverfahren [...] ist allerdings kaum rationalisierbar, so wenig wie das Rätselraten." Ohne die Philologie dieser Stelle zu sehr strapazieren zu wollen, ist doch erwähnenswert, daß das „kaum" in diesem Kontext in zweifacher Weise gedeutet werden kann: zum einen als Einschränkung der Sicherheit, mit der die strikte Nichtrationalisierbarkeit behauptet wird, zum anderen als Einschränkung der Rationalisierbarkeitsbehauptung selbst, z.B. in der Weise wie: ,Ich vermute, daß nur wenig (kaum etwas) vom Entdeckungszusammenhang rationalisierbar sein wird 4. Diese letzte Deutung würde nicht ausschließen, in Reichenbach einen Vertreter der partiellen Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs zu sehen, vgl. Anm.1.62 und 1.255. 79

Vgl. Barker 1957, Kap.V-VII.

80

Vgl. Barker 1957, Kap.VIII und IX.

81

Einige Mängel werden bei Salmon 1959 und Harré 1962, S.416-20, erwähnt.

2. Das induktionslogische Argument

87

scheinen82 —, dann wäre allerdings noch kein induktives Auffindungsverfahren zur Rationalisierung des Entdeckungszusammenhangs gewonnen. William Rozebooms „ontological induction" ist anscheinend der einzige elaboriertere Versuch, einen explizit induktiven Weg zur Auffindung bzw. Konstruktion von Dispositions-, aber auch von T-Termen zu charakterisieren. 83 Abgesehen von interessanten und u.U. weiter verfolgenswerten Aspekten, weist dieser um viel Klarheit bemühte Vorschlag eine Reihe von Mängeln auf, die bislang nicht behoben werden konnten. Dazu gehört u.a. das Problem der Unterscheidung artifizieller Klassen von solchen, die eine ontologische Induktion im Sinne Rozebooms zu sichern vermögen, 84 oder die nur skizzenhaft ausgeführten Überlegungen zu der entscheidenden „structural covariation" als Grundlage der ontologischen Induktion bei T-Termen. 85 Rozebooms Vorschlag hat offenbar weder durch Kritik noch durch Fortführung Resonanz in der wissenschaftstheoretischen Diskussion gefunden. A m ehesten lassen sich Berührungspunkte seines Vorschlags mit speziellen Überlegungen zur Begriffs- und Indikatorenbildung bei gegebenen statistischen Datenmengen in den soziologischen und psychologischen Wissenschaften feststellen. Für die weitere Erörterung des induktionslogischen Arguments soll das Problem der Konstruktion von Theorien, die wesentlich T-Terme aufweisen, zunächst ausgeklammert werden, da eine Überschneidung zwischen dem induktionslogischen und dem T-Term-Argument besteht: Das induktive Auffinden von T-Terme aufweisenden Theorien bzw. das induktive Auffinden von T-Terme aufweisenden Theorien ist jeweils ein Sonderfall des einen oder des anderen Arguments. A u f das T-Term-Argument gehe ich im folgenden Kapitel ein. Die Zurückweisung des induktionslogischen Arguments kann sich gegen seine beiden Annahmen richten. Die Bedenken gegen die Abstützung der zweiten Annahme richten sich gegen den Versuch,die Unmöglichkeit induktiver Schlüsse nachzuweisen. Diese Bedenken beziehen sich zunächst auf die Formulierung des Induktionsproblems, für die zu Beginn dieses Kapitels ein Beispiel gegeben wurde. Entscheidend sind bei dieser Formulierung die Begriffe Gehaltserweiterung und Wahrheitskonservierung. Bislang ist es nicht gelungen, einen Nachweis der Unbegründbarkeit von Induktionslogiken zu liefern, dessen Überzeugungs82

Vgl. Niiniluoto/Tuomela 1973 und Niiniluoto 1976. Vgl. Id. 1961. Rozeboom greift in Id. 1972 auf seine Überlegungen zurück. Wichtig bei der Beurteilung von Rozebooms Vorschlag ist seine Semantikkonzeption sowie seine Auffassung von wissenschaftlichen Theorien, vgl. hierzu Id. 1956, 1960 und 1962. 84 Rozeboom 1961, S.367. 85 Rozeboom 1961, S.370-75. 83

88

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

kraft letztlich nicht darauf zurückgeht, daß (versteckt) auf eine Bestimmung dieser beiden Begriffe zurückgegriffen wird, nach der sie nicht unabhängig voneinander sind. In diesem Fall ist der Nachweis der Unbegründbarkeit einer Induktionslogik nicht mehr als eine zuweilen etwas umfängliche und komplizierte Klärung der Abhängigkeit zwischen den Begriffen der Gehaltserweiterung und der Wahrheitskonservierung. Wird beispielsweise der Begriff der Wahrheitskonservierung unter Bezugnahme auf eine Klasse logischer Systeme (oder einer Klasse logischer Schlußformen usw.) und der Begriff der Gehaltserweiterung ex negativo durch dieselbe Klasse bestimmt, dann ist das Suchen nach einem induktionslogischen System, das sowohl wahrheitskonservierend als auch gehalterweiternd sein soll, offensichtlich vergeblich. Eine nicht-triviale Lösung des Induktionsproblems hätte mithin die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Induktionslogik bei voneinander unabhängig bestimmten Begriffen der Gehaltserweiterung und der Wahrheitskonservierung nachzuweisen. Diese Überlegungen führen zu zwei Fragen, auf die ich in diesem Zusammenhang lediglich hinweisen kann. Die erste Frage lautet: Handelt es sich noch um das (eigentliche, traditionelle, entscheidende) Induktionsproblem, wenn die Begriffe der Gehaltserweiterung und der Wahrheitskonservierung so bestimmt werden, daß aus ihrer Bestimmung bereits die Unbegründbarkeit einer wahrheitskonservierenden und gehaltserweiterenden Induktionslogik folgt? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es zweierlei: erstens, einer historischen Untersuchung des Induktionsproblems; 86 zweitens, einer Erörterung 86 Hierzu auch die Bemerkung bei Agassi 1968b, S.459: „It seems strange that there is a problem [of induction] so very important that dozens of books and papers in the learned periodicals appear yearly in attempts to offer new solutions to it and to debate existing solutions to it, yet there is practically no discussion of the problem itselÇ its formulation, its significance [...]" (Hervorhebung von mir). Hiervon nimmt Agassi auch Popper nicht aus (ebd.) : „In his classical work, The Logic of Scientific Discovery , Popper briefly states the problem [of induction] and does not discuss it at all. His statement is technical and unusual (though it was usual in the eighteenth century), with the result that quite a number of philosophers have misread his solution as a solution to the problem of induction as they see it, not as he sees it. " Und Kyburg 1985, S. 125, bemerkt zu Recht: „There is no widespread agreement on what inductive logic is [...]". Im vorigen Jahrhundert findet sich eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Deutungen des Induktionsproblems; so z.B. unter Anknüpfung an Überlegungen von Jakob Friedrich Fries die weitgehend unbekannt gebliebenen Induktionskonzeptionen Ernst F. Apelts (Id. 1854) und Matthias Schleidens (Id. 1843, Einleitung, dazu auch Buchdahl 1973) oder die in jüngerer Zeit häufig diskutierte Konzeption Whewells (hierzu u.a. Laudan 1971, Hesse 1974d, S.205-08, Butts 1973 und 1977, Fisch 1985b). Kaum weniger unterschiedlich fallen die expliziten oder zumeist impliziten Versuche der Abgrenzung von Induktion und Deduktion aus, die hier nicht dokumentiert zu werden brauchen. Erwähnenswert ist, daß mit „Induktion" nicht nur einzelne Schlußformen o.dgl., sondern der gesamte Forschungsprozeß bezeichnet wird (vgl. z.B. Gibson 1908). Auf der anderen Seite war keineswegs klar, was unter Deduktion zu verstehen sei - und das nicht allein, wenn man an die notorischen Interpretationsprobleme denkt, die Bacons (vgl. Anm.II.72), Descartes' (vgl. u.a. Clarke 1977) und Newtons' Verwendung des

Ausdrucks deducere aufgibt — ex Phaenomenisper Argumentum Inductionis deducitur

2. Das induktionslogische Argument

89

der Zulässigkeit und des Nutzens von Problemverschiebungen* 1 oder der Verteidigung eines terminologischen Konservativismus.™Die zweite Frage lautet: Wie sollten die Begriffe der Wahrheitskonservierung und der Gehaltserweiterung definiert werden, wenn sie unabhängig voneinander sein sollen? Auch wenn sich bei der Erörterung der ersten Annahme des induktionslogischen Arguments herausstellen wird, daß es für die Frage nach der Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion nicht entscheidend ist, möchte ich doch andeuten, weshalb eine Induktionslogik bzw. eine induktionslogisch konzipierte Methodologie der Theoriekonstruktion bei unabhängig voneinander definierten Begriffen der Wahrheitskonservierung und der Gehaltserweiterung nicht unmöglich zu sein braucht. Die folgende Illustration ist zwar im Hinblick auf die Konzipierung einer Induktionslogik oder einer induktionslogischen Methodologie der Theoriekonstruktion belanglos, aber sie vermag am leichtesten das Argument zu veranschaulichen. Es sind parakonsistente logische Systeme entwickelt worden, in denen die folgenden beiden Formeln nicht gelten 89 : wie es z.B. in einem unveröffentlichten Manuskript Newtons (zit. bei Pampusch 1974, Anm.9, S.299), ,,[t]hese principles [the laws of motion] are deduced from pnaenomena & made general by induction [...]" wie es in einem seiner Briefe aus dem Jahr 1713 an R. Cotes (Edleston [ed.l 1850, S. 156) heißt; oder „the truth of general laws deduced by legitimate induction from observations sufficiently numerous" wie Herschel (zit. bei Good 1987, S.9) formuliert. Bei Descartes findet sich zudem das Problem der Deutung seiner enumeratio sive inductio; in Id. 1701, Reg.7, 7, scheint er zumindest drei Arten der Induktion zu unterscheiden (zum Streit um Descartes' hypothetische' Methode vgl. Laudan 1966, Rogers 1972 und Grene 1985, S.53-S7; auch Gueroult 1954, S. 12 ss, Martinet 1974, Clarke 1982, Kap. 5 und 6). Orientiert man sich an neueren Bestimmungen der Deduktion - etwa am Begriff des logischen Schließens oder am Folgerungsbegriff (Gentzens oder Tarskis, allerdings findet sich die gegenwärtig übliche modelltheoretische Definition erst bei Kemeny 1948; zu den Fruharbeiten Tarskis Etchemendy 1988, S.64-78, und Hodges 1985/86, S.135ss) - , dann scheint eine allgemeine Unterscheidung zwischen Induktion und Deduktion erst mit Bolzanos Überlegungen zur „Ableitbarkeit" und „Abfolge" gegeben zu sein (vgl. Scholz 1937, S.246-67, Buhl 1961, Berg 1962, S.116ss, und Id. 1987, George 1983 und 1986; bei Thiel 1980 wird zu zeigen versucht, daß Leibniz die modelltheoretische Charakterisierung logisch gültiger Schlüsse für die kategorische Syllogistik vorweggenommen hat). 87 Wie Lakatos hervorhebt, können Problem Verschiebungen unter bestimmten Umständen positiv bewertet werden. - Zwei neuere Beispiele sind Maxwell 1979, S.632, für den das Induktionsproblem lautet: „How can it be rational for scientists to act as if they knew on a priori grounds that the universe is simple, when all a priori knowledge is impossible?", oder Stegmüller 1983, S.242, für den es „in nichts anderem als in der Lösung des Inkommensurabilitätsproblems" besteht (vgl. dagegen Id. 1986, S.347ss). 88 Eine Formulierung der Position des „terminological conservativism" findet sich bei Heinrich Gomperz (Id. 1941, S. 157): „In using a term keep as close as possible to its traditional meaning!" Diese Aufforderung wird durch die Annahme fundiert (ebd.) : „You cannot make discoveries by changing the meaning of terms." 89 Ein bekanntes Beispiel ist Ackermann 1956. Zu weiteren Beispielen vgl. Serebrjannikov 1970, Kap.II, Costa 1974, Czermak 1977, Costa/W^lf 1979, zu einem Überblick über parakonsistente Systeme Arruda 1980; fernerhin Batens 1980, Rescher/Manor 1970, Rescher 1973, Kap. IV und V, Id./Brandom 1980 (dazu kritisch Makinson 1982);

90

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

(4)



(5)

(ß^

λ

—Ά) A

Β Β)

Oder es wurden logische Systeme konzipiert, in denen beispielsweise das „implicational law of over-completeness" und andere Varianten dieses Gesetzes nicht gelten 9 0 :

(6)

A

(--,A^

B)

Der Verzicht auf die Geltung von (4), (5) oder (6) kann unterschiedlich motiviert sein, etwa dadurch, daß solche Formeln Schlüsse erlauben, die als paradox empfunden werden, 91 aber auch durch die Absicht, z.B. eine dialektische Logik oder eine Modallogik zu konzipieren 92 oder die Verwendung bestimmter Konzeptionen zu ermöglichen, 93 schließlich aus methodologischen Erwägungen. 94 Logische Systeme, in denen z.B. (4), (5) oder (6) gelten, sind bei entsprechender Bestimmung des Begriffs der Gehaltserweiterung im Hinblick auf logische Systeme, in denen diese Formeln nicht gelten, gehaltserweiternd. Selbstverständlich sind derartige logische Systeme keine potentiellen induktionslogischen Systeme, da bei einem induktionslogischen System die Geltung anderer Formeln erwartet wird — Formeln, die beispielsweise Schlüsse der A r t (1) oder wesentlich komplexere Schlüsse dieser A r t sichern 4 . Das nach einer unabhängigen Definition der Begriffe der Wahrheitskonservierung und der Gehaltserweiterung entscheidende Problem besteht mithin darin, material angemessene und formal darstellbare induktionslogische Systeme zu entwerfen. Bekanntlich ergeben sich bei solchen Versuchen eine Vielfalt technischer Probleme, und es liegen recht unterschiedliche Intuitionen zur Beurteilung ihrer materialen Angemessenheit vor. 9 5 So ließe sich weitere Hinweise finden sich in der umfangreichen Bibliographie zu „relevant logics" bei Anderson/Belnap 1975 und 1980. - Bolzanos Folgerungsbegriff läßt z.B. eine Ableitung aus widersprüchlichen Prämissen ebenfalls nicht zu (vgl. Anm.II.86). 90 Vgl. das „two-valued discursive system of the sentential calculus: D " bei Jäskowski 1948. Vgl. auch Anm.II.89. 91 Vgl. z.B. Schtschegolkowa 1972, Wessel 1980 - Vgl. Bennett 1969. 92 Vgl. z.B. Routley/Meyer 1976 sowie Routley 1979 (dazu Bentham 1979); Schotch/Jennings 1980. 93 Als ein Beispiel vgl. Meyer/Routley/Dunn 1979 (zudem Anm.II.89). 94 Die methodologischen Erwägungen beziehen sich dabei häufig auf den Umgang mit inkonsistenten Theorien; z.B. Wessel 1980, S.1441/42, Batens 1985. Vgl. aber auch Waters 1987 sowie Anm.II.89. — Loparic/Costa 1986 untersuchen, inwieweit sich Induktionslogiken auch auf der Grundlage nicht-klassischer deduktiver Logiken aufbauen lassen. 95 Zur Evaluation verschiedener Konzeptionen induktiver Logiken - wenn auch mit unterschiedlichen Evaluationskriterien - vgl. u.a. Adler 1980 (dazu Bogdan 1980), Adler 1976 und die Beiträge in dem Sammelband Bogdan (ed.) 1976, sowie L.J. Cohen 1980 (auch Id, 1977 und 1976).

2. Das induktionslogische Argument

91

vermutlich mit Hilfe relativ unkomplizierter, aber nicht durchweg intuitiv unumstrittener Regeln verhindern, daß ein induktionslogisches System letztlich zu beliebigen empirischen Verallgemeinerungen führt, weil es beispielsweise Schlüsse der folgenden Art nicht zu unterbinden vermag:

(7)

(x) (..B ] x ν B2x..)

Schwieriger wird es hingegen sein, eine Art Analogon zu Goodmans Paradoxic (für Bestätigungs- und Bewährungsbegriffe) 96 zu verhindern, auch wenn dies keineswegs das intrikateste Problem für eine induktionslogische Heuristik darstellt:

(B ìx ì,...,B ix m,B2x l,...,B 2x n,....)

(8)

(χ) (. .Β1 χ Λ Β2χ ν - Β2Χ Λ Β3χ..)

Bei (8) sollen (Β 2 χ χ , ... , Β 2 χ η ) aus logischen oder empirischen Gründen gelten, während B2x n+k (wobei k > 0 ) nicht aus logischen Gründen gelten darf. Nelson Goodman hat mit Ausnahme seines eigenen Lösungsvorschlags nicht nur keinen weiteren akzeptiert, 97 sondern er hat mit anderen die Auffassung vertreten, daß seine Paradoxie auch einen deduktiven (analytischen) Bestätigungsbegriff vor Probleme stellt 98 — eine Auffassung, der allerdings auch heftig widersprochen wurde. 99 Für eine induktionslogische rationale Heuristik 96

Goodman 1955, S.98/99. Die Diskussion der Goodman-Paradoxie bis zum Beginn der siebziger Jahre stellt Lenzen 1974, Kap.V, dar. 98 Vgl. Goodman 1955, S.7/8 ( = Vorwort zur 3. Aufl.[1973]), vgl. auch Vincent 1962, S. 162/63 (dazu Kyburg 1970, S.158), Levison 1974. 99 Vgl. z.B. die Auseinandersetzung zwischen Kurt Hübner und John Watkins (Hübner 1978, S.267-77, Watkins 1978, S.400-05, jüngst hierzu Watkins 1984, S.313-15). Fernerhin Bartley 1968, S.54-57, Id. 1981 und 1982, S. 169-73, Feyerabend 1968/69 (dazu Foster 1969/70), Giedymin 1964, Musgrave 1978. David Miller löst die Goodman-Päradoxie für Poppers Methodologie (der Theorieevaluation) mit dem etwas zu eleganten Hinweis (Miller 1980, S.126, auch Id. 1982b, S.38^0): „[...] if decisions have to be empirical then we should not allow disputes on which no empirical decision is possible. We may not have any strict empirical reason for preferring one of ,A11 emeralds are green4 and ,A11 emeralds are grue'". Akzeptiert man diesen Vorschlag Millers, dann bereitet die Goodman-Paradoxie allerdings auch keiner induktionslogischen Konzeption Probleme. 97

92

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

ließe sich zwar prinzipiell auf Goodmans Lösungsvorschlag zurückgreifen, doch ist dieser kaum weniger als andere Vorschläge umstritten. 100 Im Hinblick auf eine induktionslogische Heuristik ist u.U. problematisch, daß Goodmans Vorschlag von vornherein ausschließt, daß eine solche Heuristik semantisch kreativ sein kann; 1 0 1 in jedem Fall scheint es nicht akzeptabel zu sein, daß dieser Vorschlag eine verschärfte Variante der Paradoxie, die auf Hempel zurückgeht, 102 nicht zu vermeiden vermag. Zur Illustration des Arguments braucht an dieser Stelle auf alternative Vorschläge nicht weiter eingegangen zu werden. 103 Die Gehaltserweiterung ist nur der eine Aspekt der Induktion. Der andere Aspekt ist die Sicherung des wahrheitskonservierenden Charakters bzw. irgendeiner schwächeren Form der Geltungssicherung oder Rationalität gehaltserweiternder Schlüsse. Es liegen eine Vielzahl von Versuchen zur Rechtfertigung induktionslogischer Regeln oder Systeme vor, die aus unterschiedlichen Gründen heftig umstritten sind. Zu nennen sind Richard Braithwaites predictionist justification, 104 Max Blacks self-supporting justification ,105 Arthur Paps analytical justification, 106 sowie Reichenbachs, 107 R.S. Mc100 Zur Kritik vgl. u.a. Kutschera 1972, S. 149ss, und Id. 1978, Swinburne 1973, auch Schurz 1983. Zu verschiedenen Konzepten der Projizierbarkeit und ihren Vor- wie Nachteilen vgl. Earman 1985. — Ulrich Will hat dieses Problem explizit zum Ausgangspunkt seines Versuchs einer Rechtfertigung der Induktion genommen (Will 1985, Kap.2) und damit die Bindung der Induktion an gesetzesartige Annahmen von „nomischer Notwendigkeit" begründet (Id. 1985, Kap.9). 101 Vgl., wenn auch in einem anderen Kontext, F. Wilson 1983, S.377/78. 102 Vgl. Hempel 1960, S.88. 103 In diesem Zusammenhang vgl. neben Harré 1959 und Schlesinger 1961 vor allem Friedman 1972,1973 und 1975. 104 Vgl. Braithwaite 1958, Kap.VIII (dazu Kyburg 1958/59, Coburn 1961). Braithwaite bezieht sich bei seinem Vorschlag explizit auf Peirce. Im Zuge seiner Wiederentdeckung wurde Peirces Rechtfertigungsversuch häufig erörtert, vgl. u.a. Lenz 1964, Cheng 1969, Kap.I-VIII, Koehn 1973, Delaney 1973, Merrill 1975, Laudan 1973 (dazu Rescher 1978b, S.l-17), Levi 1980, Madden 1981, Hacking 1981, Riemer 1988. 105 Vgl. Black 1958 (auch Id. 1959, 1966/67, 1967 und 1969), zur Kritik u.a. Achinstein 1961/62 und 1962/63 (dazu Black 1962/63), fernerhin McGowan 1967, Johnson 1971/72, Kasher 1972. — Zu einer weiteren Variante von „inductive justification" vgl. Will 1947 (dazu Wang 1950 und Will 1950). 106 Vgl. Pap 1962, Kap. 13 (dazu kritisch Schagrin 1963/64). Päps „analytical justification" ist nicht mit der Strawsons zu verwechseln (vgl. Anm.II.74). 107 Vgl. Reichenbach 1938, Kap.V, 39, S.339^8, sowie Id. 1940. Eine frühe Lösungsidee findet sich bei Reichenbach 1932/33, S.421ss (zur Beziehung zur Auffassung Feigls vgl. Feigl 1936; als Vorläufer findet sich Ramsey 1926; zum neokantianischen Einfluß auf Reichenbachs Induktionsprinzip Kamiah 1985); zur Kritik vgl. u.a. Skyrms 1965 und 1968. Salmon hat verschiedentlich versucht, Reichenbachs Lösungsidee zu verbessern, vgl. neben Id. 1955,1961 (dazu die anschließende Diskussion zwischen Stephen Barker, Richard Rudner und Salmon S.257-64) und Id. 1963 (dazu Hacking 1965) sowie vor allem Id. 1966 und 1968. In der Diskussion des zuletzt genannten Vorschlags hat Ian Hacking gezeigt, daß unter Akzeptation bestimmter Anforderungen als notwendig und hinreichend, es Salmon nicht gelungen ist, eine Recht-

2. Das induktionslogische Argument

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Gowans 1 0 8 oder Nicholas Reschers 109 pragmatic justifications, für die Herbert Feigls Unterscheidung zwischen validation und vindication eine allgemeine Charakterisierung darstellt. 1 1 0 Faßt man die entscheidenden Einwände zusammen, die gegen die hier aufgeführten Versuche erhoben werden und die nicht auf die monierte Bestimmung der Begriffe der Wahrheitskonservierung und der Gehaltserweiterung zurückzuführen sind, dann lassen sich im wesentlichen drei Haupttypen von Einwänden unterscheiden 111 : (a) die vorgeschlagenen Rechtfertigungsversuche gelten als nicht ausreichend, um ausschließlich miteinander vereinbare induktionslogische Regeln zu rechtfertigen; (b) den gerechtfertigten induktionslogischen Systemen werden kontraintuitive Grundannahmen oder Konsequenzen vorgehalten; (c) es wird ihnen vorgeworfen, die Standards für einen akzeptablen Rechtfertigungsversuch nicht zu erfüllen. Einwände des ersten Typs sind entscheidend, da ihre Auswirkungen als schlagend gelten; Einwände des zweiten Typs sind wichtig, doch ist ihre Schlagkraft zumindest unsicher, da ein argumentativer Rahmen zur Evaluation von Kritiken fehlt, die auf Intuitionen rekurrieren; Einwände des dritten Typs sind zwar nicht zu vernachlässigen, doch hängt ihre Plausibilität von den für die Rechtfertigung von Induktionen zugrunde gelegten und akzeptierten Standards ab. Die Einwände des dritten Typs bedürfen noch eines weiteren Kommentars. Für die Plausibilität der Einwände dieses Typs scheint als allgemeine Maxime akzeptabel zu sein, daß die für die Rechtfertigung induktionslogischer Regeln angeführten Standards nicht strenger als die sein müssen, die die Rechtfertifertigung vorzulegen, die stark genug ist, um allein Reichenbachs Induktionsregel zu rechtfertigen (vgl. Hacking 1968, dazu Salmon 1968b; zu Salmons gegenwärtiger Beurteilung der Diskussion vgl. u.a. Id. 1982); zur neueren Erörterung vgl. u.a. Jones 1979 und Clendinnen 1977 - in Id. 1982, auch Id. 1983, hat F. John Clendinnen einen neuen pragmatischen Vorschlag vorgelegt, der weniger als der Reichenbachs zu rechtfertigen versucht (dazu Derksen 1986 sowie Clendinnen 1986). An Reichenbachs Rechtfertigungsidee knüpft Oliveira 1985, S. 140ss, an. - Ein weiterer pragmatischer Rechtfertigungsversuch findet sich bei Will 1985, der u.a. an L. J. Cohens,Methode der relevanten Variablen4 anknüpft. Vgl. auch Anm.II.l 10. 108 Vgl. McGowan 1967, dazu Sloman 1967 und recht wohlwollend Griffin 1969. 109 Vgl. u.a. Rescher 1973b, Kap.II (dazu u.a. Gomberg 1975), sowie Id. 1980. 110 Vgl. Feigl 1950b, auch Id. 1961b (eine frühe Formulierung findet sich bei Feigl 1934, S.27/28; dort wird „the principle of induction [...] as a pragmatic or operational maxim " skizziert). Später heißt es bei Feigl 1969, S. 11 : „But I am no longer sure that it [seil, pragmatic justification] really solves the basic problem of induction.4' Vgl. auch Katz 1962 (dazu Clendinnen 1965). - Zum Vorwurf der Zirkularität der Vindikation vgl. Amico 1986; zur Kritik von Vindizierungsargumenten Piller 1987. 111 Vergleichende und evaluierende Untersuchungen von Induktionskonzeptionen sind relativ selten (vgl. Anm.II.95). Das liegt zum einen daran, daß noch immer die Rechtfertigung und nicht die Evaluation von Induktionskonzeptionen im Vordergrund steht, und zum anderen daran, daß die theoretische Diskussion von Evaluationskriterien für Induktionskonzeptionen noch weitgehend aussteht.

94

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

gung deduktionslogischer Systeme zu erfüllen vermag. 1 1 2 N i m m t man Abschied von der Hoffnung auf eine wie auch immer gestaltete Letztbegründung logischer Systeme, 113 vielleicht mit Ausnahme eines minimallogischen Systems 114 — wobei auch hierfür die Rechtfertigung eher einer vindication ähneln dürfte, d.h. einer Rechtfertigung durch den Nachweis der Adäquanz und Alternativlosigkeit als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Ziels —, so ist die Vermutung plausibel, daß es letztlich vom Verhalten der Verwender (induktions-)logischer Systeme abhängt, ob diese als wahrheitskonservierend angesehen und behandelt werden. Für nicht allzu umfassend konstruierte (induktions-)logische Systeme heißt das, daß keine Situation einzutreten braucht, in welcher der Verwender eines solchen Systems gezwungen wäre, das von ihm favorisierte (induktions-)logische System als nicht wahrheitskonservierend anzusehen und aufzugeben. Das schließt nicht aus, daß es tatsächlich aufgegeben wird oder daß zu diesem Zweck sogar Verwerfungsregeln konzipiert werden. Es ist mithin entweder zu zeigen, daß ein gewünschtes (induktions-)logisches System nur als ein in diesem Sinn zu umfassendes System konstruiert werden kann — darauf zielen die Einwände des ersten, oben unterschiedenen Typs - , oder aber, daß die unterstellten, relativ starken Varianten holistischer Wissenschaftsauffassung unhaltbar sind. Bei der Diskussion holistischer Wissenschaftsauffassungen, wie die nicht zuletzt durch A d o l f Grünbaum 1 1 5 wiederbelebte Diskussion der Duhem-Quine-These, sind zwar — neben interpretatorischen und philosophiehistorischen Fragen 1 1 6 — eine 112

Die Annahme liegt den Überlegungen bei Carnap 1968 wie bei Haack 1976 zugrunde. Beide sehen parallele Schwierigkeiten bei der Begründung deduktiver wie induktiver Schlüsse. Vgl. auch Haack 1982 zu Dummett 1973. 113 Vgl. Lenk 1968, 1970 und 1981, die Beiträge in Gethmann (Hrg.) 1982, auch Simons 1987; zum Konventionalismus in der Logik auch Giannoni 1971b. 114 Vgl. im Hinblick hierauf die Erörterung eines „umfassenden kritischen Rationalismus" bei Bartley 1962, Kap.V.4, S. 170-85 (dazu u.a. Klowski 1973 und 1973b); zur neueren Diskussion Derksen 1980 (dazu Bartley 1980), Bartley 1982, S. 174-86, Id. 1984d (vgl. auch Anm. VI.54). — Nicht nur gegen einen „Pankritizismus" Bartleyscher Provenienz, sondern auch gegen Quines Auffassung, daß jeder Satz prinzipiell revidierbar sei, wurde eingewandt, daß dies nicht für das „law of contradiction" etwa Aristoteles' -ι (a λ a) bzw. (3x) (Ρ χ λ - . Ρ χ) (vgl. Rescher 1969, S. 143; zu Aristoteles' principium contractionis Zwergel 1972) — gelte, so u.a. bei Vermazen 1967/68, Sheehan 1973, Putnam 1978 (sein „minimal principle of contradiction"), Kordig 1981, Sober 1981; vgl. aber auch Tuschling 1988. 115 Vgl. Grünbaum 1960, auch schon Id. 1959. Er ist in späteren Arbeiten mehrfach auf die Duhem-Quine-These zurückgekommen (u.a. in Id. 1962, 1966 und 1969). 116 Schwerpunkt der interpretatorischen Untersuchungen ist die Frage, welche Variante der These Duhem selbst vertreten hat (vgl. Anm.II.117). Auf die Bedeutung Neuraths für diese These wird bei Hegselmann 1979, S.40, hingewiesen (vgl. auch Koppelberg 1987, S.21ss); zu Carnaps Auffassung Id. 1934, S.246; zu Einsteins vgl. Hentschel 1987; vgl. auch Weyl 1927, S. 111. Zu ersten Hinweisen auf die Rezeption des Konventionalismus im Ersten Wiener Kreis (Neurath, Hahn, Frank) vgl. Haller 1985. - Quine (vgl. Id. 1988, S.l 18) verdankt Hempel und Frank den Hinweis auf Duhem.

2. Das induktionslogische Argument

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Reihe von Annahmen mehr oder weniger heftig umstritten, 117 darunter auch solche, die für die Rechtfertigung gehaltserweiternder logischer Systeme relevant wären, doch vermag der Hinweis auf die Diskussion der Duhem-QuineThese und holistischer Wissenschaftsauffassungen zu belegen, daß der Aufbau eines wahrheitskonservierenden induktionslogischen Systems nicht von vornherein ohne Chancen sein muß — und mehr braucht an dieser Stelle nicht gezeigt zu werden. Das Argument ließe sich ausbauen, wenn die Voraussetzung problematisiert wird, daß induktionslogische Systeme denselben Standards der Wahrheitskonservierung wie deduktionslogische Systeme zu genügen haben. Nach einem Hinweis von Feyerabend gilt eine solche Voraussetzung zumindest für die „älteren Induktivisten" nicht, deren Ziel gerade nicht darin bestand, eine „Methode der Wissenschaftserweiterung zu finden, die in jeder möglichen Welt funktioniert, sondern in der besonderen Welt, in der wir leben. Darin waren sie" — wie Feyerabend kommentiert — „realistischer als ihre Nachfolger, die eine logisch einwandfreie Methode auch schon für faktisch brauchbar hielten." 1 1 8 Verbindet man diesen Hinweis mit einer Bemerkung von Ferdinand S.C. Schiller, so läßt sich aus der Sicht des Aufbaus einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. einer Methodologie der Theoriekonstruktion den induktionslogischen Versuchen eher der Vorwurf machen, nicht so sehr darauf geachtet zu haben, fruchtbare „methods of discovery" zu finden, als vielmehr, dem „demonstrative ideal of proof" so nahe wie möglich zu kommen. 1 1 9 Die Zielkollision, die sich hieraus für eine wissenschaftliche Heuristik ergibt, ist offensichtlich — nämlich die Kollision des Ziels der Wahrheitskonservierung mit dem der Fruchtbarkeit der vorgeschlagenen Heuristik bzw. Methodologie. 120 Die oben angesprochene Gegenläufigkeit von Logik und Kreativität beinhaltet mithin nicht nur den Aspekt der Gegenläufigkeit 117

Vgl. neben den bei Harding (ed.) 1976 abgedruckten Untersuchungen Quine 1969, Einleitung, Seamon 1965, Laudan 1965, Quinn 1969 sowie 1974 (dazu Tuana 1978 und Quinn 1978), Leplin 1972, Goosens 1975, Yoshida 1975, Hollinger 1978, Balestra 1979, Vuillemin 1979 (dazu Quine 1986, S.619-22), Krause 1981, Ariew 1984. In einigen der genannten sowie in einer Reihe weiterer Untersuchungen werden zugleich methodologische Lösungsvorschläge angeboten und diskutiert, so z.B. bei Lakatos 1970, S. 180-88, Glymour 1975 und Id. 1980, Kap.5 (dazu Worrall 1982b), Worrall 1978b, Koertge 1978, Dorling 1979 (dazu Readhead 1980; zum Hintergrund des Vorschlags von Dorling, seinem Bayesian Personalism, und zum Vergleich mit Poppers Falsifikationismus Dorling 1981 und Miller 1981), Darden 1983. Aus der Sicht einer strukturalistischen Rekonstruktion von Theorien werden „Rangordnungen zwischen Revisionsalternativen" bei Stegmüller 1986, Kap. 7, und Gähde/Stegmüller 1986 eingeführt (dazu Quine 1986, S.137s) 118

Feyerabend 1977c, S.29/30. Vgl. Schiller 1917, S.253/54. 120 Vgl. Schillers Bemerkung (Id. 1917, S.282) : „Methods that succeed must have value, a greater thing then,validity', however far and however boldly they departed from the canons of formal proof". 119

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

von Rationalisierung und Kreativität, sondern auch den der Gegenläufigkeit von Sicherheit und Kreativität. Das Ergebnis der Argumentation lautet mithin, daß sowohl Gehaltserweiterung als auch Wahrheitskonservierung — im Fall ihrer unabhängigen Definition — von vornherein kein unerreichbares Ziel zu sein brauchen. Daß dieses Ziel bislang nicht in zufriedenstellender Weise erreicht worden ist und die Vermutung besteht, daß es niemals erreicht werden wird, mag die Arbeit an induktionslogischen Systemen frustrieren, ist aber kein Nachweis der Unmöglichkeit induktiver Schlüsse im Rahmen einer Methodologie der Theoriekonstruktion. Bei der Erörterung des Aufbaus einer Methodologie der Theoriekonstruktion ist zu beachten, daß selbst dann, wenn eine akzeptable Induktionslogik — sei es als Auffindungslogik, sei es als Bestätigungslogik — als möglich zugestanden wird oder gar vorliegt, damit noch keineswegs eine induktiv verfahrende Methodologie der Theoriekonstruktion oder Theorieevaluation konzipiert oder akzeptiert zu werden braucht. Neben Argumenten für die Möglichkeit einer induktiv verfahrenden Methodologie sind somit noch Argumente für die Wahl einer so verfahrenden Methodologie erforderlich. Wie eine induktiv verfahrende Methodologie begründet gewählt werden kann, hängt nicht zuletzt davon ab, was die Analyse des Aufbaus von Methodologien hinsichtlich der Relevanz empirischer und quasi-empirischer fundierender Annahmen erbringt. 121 Das Vorliegen von empirischen oder quasi-empirischen fundierenden Annahmen ist nicht gleichbedeutend damit, daß die auf diese Weise fundierte Methodologie z.B. der Theorieevaluation mit einem Bestätigungsbegriff synthetischen Charakters' 122 ausgestattet ist, mithin induktiv verfährt. Für den Fall aber, daß eine Methodologie durch empirische oder quasi-empirische Annahmen fundiert wird, besteht auch die Möglichkeit, für eine induktive Methodologie zu argumentieren. Denn die für eine Methodologie der Theorieevaluation mit synthetischem Bestätigungsbegriff' oder für eine Methodologie der Theoriekonstruktion mit einem induktiven Auffindungsverfahren erforderlichen Annahmen sind a limine nicht weniger plausibel als empirische oder quasi-empirische Annahmen, die sich zur Fundierung einer Methodologie als erforderlich herausgestellt haben. 123 Im Fall einer Methodologie der Theotiekonstruktion besteht selbst dann noch eine Argumentationsmöglichkeit, wenn sich empirische oder quasiempirische Annahmen als nicht erforderlich für den Aufbau einer Methodologie der Theotieevaluation herausstellen. Denn die induktiven Auffindungsverfahren einer Methodologie der Theoriekonstruktion können auf 121

Einen solchen Zusammenhang hat jüngst auch Albert 1987, S.6, hergestellt. Diese Bezeichnung erklärt sich aus Popper 1934, S.209/10. 123 Inwieweit empirische oder quasi-empirische Annahmen zur Fundierung einer Methodologie erforderlich sind, wird in Kapitel IV.4 geprüft. 122

2. Das induktionslogische Argument

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empirischen Annahmen beruhen, die von einer ihr zugeordneten Methodologie der Theorieevaluation mit einem analytischen Bestätigungsbegriff' beurteilt werden. 124 Das Resümee der Erörterung der zweiten Annahme des induktionslogischen Arguments lautet, daß der Nachweis der Unmöglichkeit einer induktionslogisch verfahrenden wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion von Annahmen abhängt, die nicht geteilt zu werden brauchen und die auch nicht allgemein geteilt werden. Ein zwingender, nichttrivialer Nachweis der Unmöglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion auf der Grundlage der zweiten Annahme des induktionslogischen Arguments liegt nicht vor. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die Diskussion zur Induktion gegenwärtig ein wenig erfreuliches Bild bietet und wenig Anlaß für eine optimistische Beurteilung des tatsächlichen Aufbaus einer induktionslogisch orientierten Methodologie der Theoriekonstruktion gibt. Wenn die praktische Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion mit der konstruktiven Lösung des Induktionsproblems verknüpft wird, dann dürften für viele Kritiker die Erfolgsaussichten einer solchen Methodologie — trotz ihrer vielleicht zugegebenen theoretischen Möglichkeit — kaum besser als zuvor sein. Diesem Zweifel tragen die Bedenken gegen die erste Annahme des induktionslogischen Arguments Rechnung. Die erste Annahme des induktionslogischen Arguments, also die Annahme, daß eine partielle Rationalisierung — wenn sie überhaupt möglich ist — nur induktionslogisch erfolgen kann, beruht zumindest auf der Voraussetzung, daß mit der partiellen Rationalisierung des Entdeckungszusammenhangs eine Art Wahrheitsgarantie bzw. Geltungsrelevanz verknüpft wird, d.h., daß die mittels einer entsprechenden Methodologie gewonnenen Theorien bei ihrer Evaluation in der nachgeordneten Methodologie der Theorieevaluation besser abschneiden als die, die nicht mit Hilfe einer solchen Heuristik gefunden worden sind. 1 2 5 Zum einen ist es fraglich, ob diese Voraussetzung ausreicht, um die erste Annahme des induktionslogischen Arguments plausibel zu machen. Denn hieraus kann auch der Schluß gezogen werden, daß das heuristische Kriterium der Bestätigung, das von Lakatos und anderen entwickelt wurde, induktiv ist. 1 2 6 Allerdings läuft diese Frage letztlich darauf hinaus, ob man eine Definition der Begriffe „Entdeckungszusammenhang", „geltungsrelevant" und „induktiv" wählt, nach der „geltungsrelevant" und „induktiv" koextensiv sind. Da ein Streit über die,richtige' Definition dieser Begriffe wenig ergiebig ist, komme ich zum zweiten, entscheidenden Einwand. 124

Vgl. Kapitel IV. 1. Zur Bestimmung der Beziehung von Methodologien der Theoriekonstruktion zu Methodologien der Theorieevaluation vgl. Kapitel III.3. 125 Vgl. auch die Formulierung bei Durban 1966, S. 192. 126 Vgl. hierzu S.254ss sowie Anm. VI.229.

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

Zum anderen widerspricht die Voraussetzung, daß eine wissenschaftliche Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion geltungsrelevant sein muß, den Überlegungen in Kapitel 1.2. Der Verzicht auf Wahrheitsgarantie bzw. auf Geltungsrelevanz ist bereits als Konsequenz der Akzeptation der discovery-justification-Dichotomie formuliert worden. 1 2 7 Die Prüfung des induktionslogischen Arguments läßt sich wie folgt zusammenfassen: Wird die Geltungsirrelevanz einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion akzeptiert, dann ist die erste Annahme des induktionslogischen Arguments gegenstandslos; wird die Geltungsirrelevanz hingegen zurückgewiesen, dann greifen die Bedenken gegen die zweite Annahme des induktionslogischen Arguments. Das induktionslogische Argument vermag mithin nicht, die Unmöglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion aufzuzeigen.

3. Das T-Term-Argument Das dritte Argument gegen die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion, das T-Term-Argument, weist — wie bereits gesagt — Überschneidungen mit dem induktionslogischen Argument auf. In dem Bereich, in dem es sich mit dem induktionslogischen Argument überschneidet, läßt es sich als dessen Verschärfung auffassen. Das T-Term-Argument findet sich in unterschiedlichen Kontexten gegen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen oder rationalen Heuristik vorgebracht. Nach Laudan hat neben der Preisgabe jeder Art eines Infallibilismus als zweiter historisch einflußreicher Grund der Wunsch nach „,deep-structure', explanatory theories" den Versuchen einer logic of scientific discovery insbesondere im vorigen Jahrhundert ihre Plausibilität genommen. 128 Das T-Term-Argument findet sich als die Behauptung, daß „,deep-structure 4 , explanatory theories 44 nicht mittels eines rationalisierbaren Verfahrens gefunden werden können. Die Überlegungen Whewells wurden u.a. so gedeutet, daß sie sich gegen die umfassende Anwendung eines induktiven Verfahrens richten, indem sie einen Bereich aussparen, der sich in gegenwärtiger 127

Robert McLaughlins ist der Ansicht (vgl. Id. 1982, S.207/08), daß eine „logic of discovery", die bei der Gewinnung von Theorien auf zu bewahrende Merkmale abzielt, bereits induktionslogisch sei. Vgl. dagegen Kapitel III.3. 128 Vgl. Laudan 1980b, S. 188ss; zur Wiederaufnahme der Erörterung der sog. hypothetischen Methode im 19. Jahrhundert Laudan 1977b. - Zu der im diesen Zusammenhang (z.B. im Hinblick auf Newton) erörterten Konzeption von transduction bzw. transdiction im Gegensatz zur Induktion bei der Auffindung von Theorien vgl. Mandelbaum 1964 sowie McMullin 1978, S. 13-16; vgl. hierzu auch die Erörterung der vermeintlichen Unvereinbarkeit von Lockes Atomismus und seinen erkenntnistheoretischen Annahmen bei Laudan 1967 sowie Soles 1985, insb. S.36Iss, mit Hinweisen zur hypothetischen Methode und zur Analogisierung.

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Terminologie als der des Auffindens von mit T-Termen ausgestatteten Theorien beschreiben läßt. 1 2 9 Eine derartige Interpretation wirft zwei Fragen auf, die sich aufgrund der teilweise ungelösten Interpretationsprobleme, die das Werk Whewells stellt, 130 nicht ohne Schwierigkeiten beantworten lassen: erstens die Frage, inwieweit Whewell überhaupt ein Induktionsverfahren meint, von dem sich sagen läßt, daß es zur Auffindung von so etwas wie empirischen Generalisierungen führen soll; 1 3 1 zweitens die Frage, inwieweit vor dem Hintergrund der Kant-Rezeption und des „Piatonismus" Whewells eine Parallelisierung des vom induktiven Auffinden ausgesparten Bereichs mit dem gegenwärtigen Verständnis von Theorien, die T-Terme aufweisen, angemessen ist. 1 3 2 Auch die speziellen Untersuchungen zur Kontroverse zwischen Whewell und M i l l erlauben darauf keine befriedigenden Antworten. 1 3 3 Die erste Frage ist wichtig, um zu klären, ob Whewell überhaupt so etwas wie ein T-Term-Argument beabsichtigt hat und nicht z.B. ein allgemeineres Argument. Die zweite Frage ist auch für die unten folgende Erörterung des T-Term-Arguments aufschlußreich. M i t ihr wird auf das Problem verwiesen, daß der Erfolg des T-Term-Arguments auch von der vorausgesetzten und akzeptierten Konzeption wissenschaftlicher Theorien und der Charakterisierung von T-Termen abhängt. Zu den ersten, die eine Form des T-Term-Arguments in explizit wissenschaftstheoretischem Kontext und im Hinblick auf ein induktives Auffindungsverfahren verwendet haben, gehört Carnap, wie sich dem folgenden Bericht Neuraths vom Ersten internationalen Kongreß für Einheit der Wissenschaft 1935 in Paris entnehmen läßt: „Carnap [...] hat prinzipielle Zweifel daran, ob man auch Naturgesetze, in denen neue Begriffe auftauchen, mit Hilfe der Induktionsregel ableiten könne." 1 3 4 129

In diese Richtung weisen die Deutungen bei z.B. Tavanec/Svyrev 1964, vor allem S.4, ausführlicher Svyrev 1964, S.57-64. 130 Zu den Interpretationsschwierigkeiten vgl. neben Anm.II.86 die Untersuchungen bei Ducasse 1951, Heathcote 1953/54, Butts 1968 und 1973, auch Id. 1987, Ruse 1976b, Fisch 1985; Übereinstimmungen zwischen Whewells und Poppers Wissenschaftsphilosophie werden bei Niiniluoto 1978d aufgezeigt (vgl. auch Elkana 1986b). - In diesem Zusammenhang ist auch Whewells Deutung von Newtons regulae philosophandi zu beachten, vgl. Butts 1970 sowie den diesbezüglichen Vergleich von Herschel und Whewell bei D.B. Wilson 1974. 131 Nach Laudans Ansicht (vgl. Id. 1980b, S. 181 ) verneint Whewell strikt die Existenz einer „logic of discovery", während Herschel sie lediglich für irrelevant hält. Zu der Auffassung Herschels vgl. auch Nickles 1984b, S.574, Charpa 1987, S. 145/46, sowie Chain 1975, S.181ss; zu der Whewells von,Heuristik 4 vgl. Schipper 1987, S.201ss. 132 Vgl. Blanché 1935, auch Seward 1938 (sowie in Anm.II. 130 angeführte Literatur); zur größeren Bedeutung Piatons im Vergleich zu der Kants für Whewell vgl. Butts 1967; vgl. auch Buchdahl 1971. 133 Vgl. Strong 1955, Walsh 1962, Buchdahl 1971. 134 Neurath 1935, S.396.

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Später finden sich viele Beispiele, in denen die Möglichkeit eines induktionslogischen Auffindens mit dem Argument zurückgewiesen wird, daß Theorien wesentlich T-Terme aufweisen. 135 So schreibt John O. Wisdom: „ I t is impossible in principle to pass by induction from generalization to higher-level theories (involving unobservables, theoretical terms, or noninstantiative concepts), for the terms involved are not the same in the theory as in the generalizations, as they must be in inductive process." 136 Weitere Erläuterungen zu diesem Argument finden sich bei Wisdom nicht. Zwar zählt er eine Reihe von Argumenten gegen eine Induktion als „inference" auf; sie bleiben jedoch skizzenhaft 137 und sind — wie Wisdom gelegentlich selbst bemerkt — keineswegs unumstritten. So hebt er beispielsweise hervor, daß „the probabilistic inference cannot get off ground in an infinite, or even large universe, without assuming some theory about its nature; in other words — though still controversial — it is hard to see how to obviate Popper's contention that the probability is and always must be zero". 1 3 8 Ähnlich, wenn auch weniger vorsichtig als Wisdom, äußern sich Joseph Agassi 139 oder Alan Chalmers: „on any Standard probability theory, the probability of any universal statement making claims about the world is zero, whatever the observational evidence." 140 Behauptungen wie die Chalmers' sind zwar in bestimmter Hinsicht unbestritten, aber in dieser Hinsicht auch trivial, wie die seit Mitte der sechziger Jahre von Jaakko Hintikka und anderen unternommenen Versuche zeigen, induktive Systeme mit einem Wahrscheinlichkeitsmaß zu entwickeln, nach dem die Wahrscheinlichkeit derartiger Sätze nicht null sein muß. 1 4 1 Poppers „Beweis", auf den z.B. Wisdom anspielt, ist zudem detailliert untersucht und kritisiert worden. 1 4 2 Diese Hinweise besagen nicht, 135 Vgl. u.a. Wright 1957, S.206-09, Bunge 1960, Carnap 1966, S.42, 228 und 230, Hempel 1966, S.25/26, Id. 1966b, S.115, jüngst bekräftigt im Hinblick auf die computergestützte Auffindung von Theorien in Id. 1985. — Für Kenneth Schaffner (vgl. Id. 1980) ist das T-Term-Argument für eine wissenschaftliche Heuristik ein schwerwiegender, wenn auch prinzipiell überwindbarer Einwand. Wie dieser Einwand überwunden werden kann, erörtert Schaffner indes nicht (vgl. auch Id. 1985, S.4ss). 136 Wisdom 1970/71, S.282. 137 Wisdom greift an dieser Stelle offenbar auf frühere Überlegungen zurück (vgl. Id. 1952, dazu auch die Kritik bei Das 1957/58 und die Entgegnung bei Wisdom 1957). 138 Wisdom 1970/71, S.283. Wisdom bezieht sich hier vermutlich auf Popper 1963, S.214/15 (zu Carnaps induktionslogischem System) und auf den nicht datierten Anhang 4- vii zu Popper 1934, S.313-28, in dem Popper zu beweisen versucht, daß die Wahrscheinlichkeit eines „allgemeinen Gesetzes" gleich 0 ist. 139 Vgl. Agassi 1982, S.82. 140 Chalmers 1975, S. 17. 141 Vgl. Hintikka 1965 und 1966, dazu die Diskussion bei Kyburg 1970, Kap.5 und 14; eine Weiterentwicklung dieser Konzeption findet sich u.a. bei Hintikka 1971 und Hintikka/Niiniluoto 1976, Hilpinen 1971, Uchii 1973, Kuipers 1978; zu einem weiteren Vorschlag Stemmer 1971. 142 Vgl. Howson 1973, auch Price 1976 (sowie bereits die Überlegungen bei Leblanc

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daß sich die Intuition der O-Wahrscheinlichkeit von z.B. gesetzesartigen Aussagen nicht verteidigen läßt oder zu keinen ergiebigen Ergebnissen führt. 1 4 3 Den bislang erwähnten Beispielen des T-Term-Arguments ist gemeinsam, daß sie das T-Term-Argument als Sonderfall des induktionslogischen Arguments formulieren. Aufgrund der Überlegungen im vorangegangenen Abschnitt kann ich im weiteren auf die Erörterung des induktionslogischen T-Term-Arguments verzichten. Es gibt allerdings auch Varianten des T-Term-Arguments, die nicht als Sonderfall des induktionslogischen Arguments formuliert werden. Ein Beispiel liefert Mario Bunge, der dabei das Entdecken dem Erfinden einer Theorie entgegensetzt. Bunge wendet sich gegen die Auffassung, daß Theorien entdeckt und nicht erfunden werden: „The falsity of this thesis [...] can be exhibited [...] by recalling that every theory contains concepts that do not occur in the data employed in checking it. Thus continuum mechanics employs the concept of inner stress; but, since this concept is unobservable, it does not figure in the data used to support or undermine any particular hypothesis concerning the definite form of stress tensor." 144 Zwar ist das T-Term-Argument — zumindest implizit — nicht unumstritten, doch sind die Überlegungen, die dem Auffinden von neuen oder T-Termen gewidmet werden, durchweg wenig überzeugend und kaum variantenreich, so daß eine kleine Auswahl von Beispielen zur Illustration der typischen Ansätze genügen mag. So plädiert A. Cornelius Benjamin für eine (partielle) Rationalisierung des Auffindens solcher Konstrukte wie „perfect levers, perfect gases, frictionsless motion, isolated individuals, economic cities, mathematical points, lines etc." mit Hilfe induktiver oder konstruktiver Verfahren. 145 Die hier angeführten Beispiele werden zumeist als „Idealisierungen" oder „Idealtypen" bezeichnet, die auch nach Benjamin keineswegs die einzigen für Theorien charakteristischen Begriffe darstellen. 146 Zum Auffinden von „Idealisierungen" oder eines „Idealtypus" wird nicht selten ein besonderes Verfahren der Idealisierung angenommen und es wird oftmals der Eindruck erweckt, daß dieser Prozeß auch 1961). - Popper hat in Id. 1930/33, Anm. 11, S.xix/xx („Einleitung 1978") ein neues Argument angedeutet. 143 Zur Erörterung der Intuition der O-Wahrscheinlichkeit von Gesetzen vgl. u.a. Stegmüller 1971, S.69/70, Id. 1973c, S.511, Essler 1970b, S.342-51, Id. 1973, S.l 15-21, sowie Id. 1975b (dazu kritisch Hintikka 1975), Dorling 1975, S.66ss (zu Hesse 1974), sowie insb. Watkins 1984, S.68-78. - Vgl. auch die Kritik der O-Wahrscheinlichkeit, die Mary Hesse im Rahmen ihres „finitistic approach" liefert (u.a. Ead. 1971/72, S.261-74, Ead. 1969 und 1980). 144 Bunge 1970c, S.200. - Vgl. auch die Bemerkung bei Popper 1957, Anm.7, S.35. 145 Vgl. Benjamin 1934, vor allem S.233. 146 Vgl. Benjamins Unterscheidung zwischen „methods of construction" und „methods of hypothesis" in Id. 1937, Kap. IX.

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für die Konstruktion von T-Termen generell erforderlich oder wesentlich sei. So schreibt z.B. Vladimir Smirnov: „The essential role here [in the discovery of a system of theoretical objects] belongs to cognitive processes like idealization, abstraction, hypothesis." 1 4 7 Von Smirnov wird der kognitive Prozeß der Idealisierung nicht weiter charakterisiert. Nach Dimitri Gorski, der in einer Reihe von Untersuchungen den Prozeß der Idealisierung zu klären versucht hat, 1 4 8 läßt sich dieser Prozeß wie folgt beschreiben: „Eine Idealisierung ist ein intellektueller Prozeß, der aus folgenden Etappen besteht: (1) Durch die Veränderung gewisser Bedingungen, unter denen der zu untersuchende Gegenstand existiert, verringern wir deren Wirkung allmählich (manchmal vergrößern wir entsprechend). (2) Dabei wird bemerkt, daß sich gewisse Eigenschaften des zu untersuchenden Gegenstandes einheitlich verändern. (3) Wenn wir meinen, daß die Einwirkung auf den Gegenstand bis zur Null herabsank oder einen gewissen fixierten Wert erreichte, so machen wir einen gedanklichen Übergang zu einem Grenzfall und damit zu einem idealisierten Gegenstand." 149 Untersuchungen wie die Gorskis, die den Prozeß der Idealisierung analysieren, aber auch Untersuchungen, die die Struktur von Idealisierungen zu erhellen versuchen, 150 sind erst noch im Hinblick darauf zu prüfen, inwieweit die erzielten Ergebnisse gegen das T-Term-Argument sprechen oder sogar Eingang in eine wissenschaftliche Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion finden können. Zu dieser Prüfung sind die vorliegenden Untersuchungen wenig ergiebig. Das gilt auch für die Untersuchungen zu der von Max Weber inaugurierten Konzeption des Idealtypus, 151 sofern sie Idealisierung oder Idealtypenbildung überhaupt als heuristische Verfahren begreifen. 152 Unverändert gilt hierfür das wenig optimistische Urteil Paul Lazarsfelds: „ M a x Weber did spectacular work in historical sociology, a field badly neglected in recent years. But he also wrote a few pages on what he thought he did, calling his procedure the construction of ideal types. These self-declaratory statements contradict each other at any points; they have no visible relation to 147

Smirnov 1964, S.50. Vgl. Gorski 1960, auch Id. 1964. 149 Gorski 1973, S.363. 150 Vgl. auch Subbotim 1964 sowie Anm.V. 129 sowie die Resultate im Rahmen der Untersuchungen der Poznan School um Leszek Nowak (vgl. unten S.282ss). 151 Zu einer Zusammenstellung der wichtigsten Äußerungen Webers zum Idealtypus vgl. Weber 1968 und 1973. 152 Vgl. z.B. Janoska-Bendl 1965, Rogers 1969, Mommsen 1974, Prewo 1979, S.85-152. Vgl. aber auch Murphy/Mueller 1967. 148

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the actual content of his studies, and they have led to endless and confused literature which is concerned mostly with terminology and, as far as I can see, has resulted in no new investigations." 153 Die von Versuchen zur Erhellung des Prozesses der Idealisierung bzw. Idealtypenbildung im Hinblick auf das T-Term-Argument zu beantwortenden Fragen lauten: Sind Idealisierungen/Idealtypen nur vorläufige heuristische Hilfsmittel für den Aufbau von Theorien, wie gelegentlich angedeutet wird, 1 5 4 oder handelt es sich bei ihnen um „substantive conclusions rather than methodological tools", wie im Hinblick auf die Überlegungen Webers vermutet wurde? 155 Sind alle T-Terme Idealisierungen/Idealtypen und sind alle Idealisierungen/Idealtypen T-Terme? Wenn nicht alle Idealisierungen/Idealtypen T-Terme sind, welche spezifischen Züge weist dann der Prozeß der Idealisierung auf, der zu T-Termen führt? Sind Idealisierungen/Idealtypen überhaupt als Terme in wissenschaftlichen Theorien aufzufassen oder eher als „a convenient sort of shorthand employed to represent, and thus avoid using, sets of relatively complex statements"? 156 Ohne die Klärung dieser Fragen ist eine Diskussion von Verfahren der Idealisierung zur Widerlegung des T-TermArgumentes wenig erfolgversprechend. Der Rückgriff auf Idealisierungen bzw. Idealtypen ist nicht die einzige Auffassung, bei der ein Konflikt mit dem T-Term-Argument zu bestehen scheint. Folgt man z.B. der Interpretation Arthur Burks', dann lehnt auch Peirce das T-Term-Argument (implizit) ab: „The distinction he [Peirce in his early period] drew between induction and abduction corresponds to that between the descriptive, summarizing part of science and the explanatory, theoretical part: induction is an inference from a sample to a whole, while abduction is an inference from a body of data to an explaining hypothesis. In his later period Peirce widened the concept of inference to include methodological processes as well as evidencing processes: induction is the method of testing hypotheses, and abduction includes the method of discovering them." 1 5 7 Die Interpretation und Rekonstruktion der Auffassung Peirces, die in diesem Zusammenhang seinen Erklärungsbegriff, seine Realismuskonzeption, seine Wahrnehmungstheorie und nicht zuletzt seine Abduktionskonzeption umfassen müßte, wirft allerdings größere Probleme auf als eine hiervon unabhängige Erörterung des T-Term-Arguments. 1 5 8 I m Anschluß an Peirce haben David Willer und Murray Webster, ohne sich viel um die Probleme der 153

Lazarsfeld 1962, S.464 - Zur älteren Literatur auch Torrance 1974. Vgl. z.B. Watkins 1952 oder Rudner 1966, S.52; auch die Unterscheidung bei Winch 1947, der Ideal typen als „heuristic typologies" auffaßt. 155 Vgl. Parsons 1937, S.601-10. 156 Rudner 1966, S.57. - Vgl. auch Hempel 1952, vor allem S.95ss, Barr 1971. 157 Burks 1946, S.301. 158 Vgl. hierzu Danneberg 1988. 154

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

Interpretation der Konzeption Peirces zu bekümmern, die Abduktion als Verfahren des Auffmdens theoretischer Konstrukte vorgeschlagen. 159 Obwohl sie sich an Peirces Überlegungen orientieren, versuchen sie eine Konzeption zu skizzieren, die ihres Erachtens den spezifischen Erfordernissen der sozialwissenschaftlichen Begriffs- und Theoriebildung gerecht wird: „ I t will be useful to distinguish three processes which are used in concept formation and theory construction: induction , deduction , and abduction. Induction and deduction are primarily concerned with certain problems of theory development and testing [...]. Abduction is the progressive development and refining of a concept, beginning at the stage of an observable and ending with a well-defined abstract theoretical construct which is embedded in theoretical assertions." 160 In der aus drei Stufen bestehenden Entwicklung theoretischer Konstrukte aus direkt gemessenen Variablen („observables") 161 geht die Darlegung des entscheidenden Übergangs zu den theoretischen Konstrukten nicht über die Forderung hinaus, daß das Ziel des Soziologen auf der zweiten Stufe des abduktiven Prozesses der Begriffsbildung „the progressive abstraction and more theoretical formulation of that in which he is interested" sein soll, und zwar „ i n the hope of providing the most general possible statement relating the phenomena". 162 Joseph Bochehski schließlich greift zur Auffindung von Theorien, die T-Terme aufweisen, auf Induktion zurück. Er unterteilt die Induktionen, die weder im herkömmlichen Sinn mathematische Induktionen noch „vollständige" oder „summative" Induktionen sind, und die er als „,echte' Induktionen" bezeichnet, „hinsichtlich des Gegenstandes in primäre und sekundäre Induktionen. Erstere erschließen Hypothesen, bzw. Gesetze, letztere Theorien." 1 6 3 Der „Vorgang, der zur Bildung der Theorie führt", ist für Bochehski „logisch gesehen prinzipiell derselbe wie jener zur Aufstellung von Gesetzen." ^ Z w i schen einer Verallgemeinerung, die zu Gesetzen, und einer, die zu Theorien führt, sieht Bochehski die folgenden Unterschiede: „(1) Die Gesetze sind [...] direkt auf Grund von Protokollaussagen aufgestellt — die Theorien dagegen indirekt; sie gründen [ . . u n m i t t e l b a r auf den Gesetzen. (2) Die Gesetze sind Verallgemeinerungen der Protokollaussagen, d.h. sie enthalten keine außerlogischen Ausdrücke, die nicht schon in den Protokollaussagen vorhanden sind; dagegen enthalten die Theorien in der Regel neue, 159 160 161 162 163 164

Willer/Webster 1970. Willer/Webster 1970, S.754. Diese drei Stufen werden auf S.754-56 beschrieben. Willer/Webster 1970, S.755. Bochehski 1954, S.106. Bocheiiski 1954, ebd.

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in den Gesetzen, auf welche sie gründen, nicht vorhandene theoretische' Ausdrücke (wie ,Neutron 4 ,,Inflation 4 , ,unbewußt 4 usw.). Sie sind also keine bloße Verallgemeinerungen der Gesetze. 44165 Wie der Prozeß der Verallgemeinerung aussieht, der zu Theorien führen soll, findet bei Bochenski keine weitere Erläuterung. Die angesprochenen Beispiele, die für viele weitere stehen, sind offensichtlich nicht in der Lage, das T-Term-Argument ernstlich zu erschüttern. Die kritische Erörterung von Annahmen und Argumenten, die das T-TermArgument zu stützen oder zu erschüttern vermögen, steht demnach noch aus. Die Annahmen und Argumente zur Stützung des T-Term-Arguments gegen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion hängen sowohl von der Bestimmung von T-Termen als auch von Zügen der favorisierten Konzeption der Struktur wissenschaftlicher Theorien ab. Erst in einem solchen Rahmen läßt sich das T-Term-Argument sinnvoll erörtern. Es liegt die Vermutung nahe, daß es Charakterisierungen von T-Termen und wissenschaftlichen Theorien gibt, die die Argumentation für das T-Term-Argument erleichtern, während andere sie erschweren. Für die folgende Erörterung des T-Term-Arguments soll auf die sog. Standardauffassung wissenschaftlicher Theorien zurückgegriffen werden. Zweifellos hat die Standardauffassung in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich an Reputation eingebüßt — sowohl durch die Angriffe der „new philosophies of science44 als auch durch die Rekonstruktionen des „non-statement view 44 der „strukturalistischen 44 Konzeption Joseph Sneeds und Wolfgang Stegmüllers 166 — , und es gibt eine Reihe gegenwärtig diskutierter Konzeptionen, beispielsweise die von Frederick Suppe 167 oder Bas van Fraassen, 168 deren Wahl naheliegender erscheinen könnte. Für die hier getroffene Wahl sind indes die folgenden drei Überlegungen ausschlaggebend: (i) die Formulierung des T-Term-Arguments sowie die gelegentlich angedeuteten Stützungsargumente beziehen sich zumeist auf die Standardauffassung wissenschaftlicher Theorien oder sind mit ihr vereinbar; (ii) die Standardauffassung als „Statement view 44 hat in den letzten Jahren unter verstärkter Verwendung des modelltheoretischen Instrumentariums eine elaborierte Diskussion und Weiterentwicklung erfahren, so z.B. in den Arbeiten Marian Przeleckis und Ryszard 165

Bochedski 1954, ebd. Vgl. Stegmüller 1973,1974und 1979b, sowie Beiträge in Id. 1979und 1980;fernerhin Balzer 1982. Über den jüngsten Entwicklungsstand informiert Stegmüller 1986 sowie Balzer/Moulines/Sneed 1987. 167 Vgl. Suppe 1971,1972,1972b, 1974b, 1976 sowie 1979. 168 Vgl. u.a. Fraassen 1970 und 1972 (dazu Wessels 1976) sowie Id. 1980 (dazu u.a. Musgrave 1982, Minogue 1984, vgl. auch Anm.II.189 und 193). 166

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

Wójcickis 1 6 9 sowie in den Arbeiten von David Pearce und Veikko Rantala; 1 7 0 (iii) schließlich scheinen sich aus den anderen Konzeptionen keine stärkeren Stützungsargumente für das T-Term-Argument und gegen die Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion zu ergeben. Im Rahmen der Standardauffassung kann das T-Term-Argument so formuliert werden: Sind zwei Klassen von Termen der Sprache einer wissenschaftlichen Theorie charakterisiert, nämlich B(eobachtungs)- und T-Terme, dann ist es nicht möglich, das Auffinden eines theoretischen Überbaus zu rationalisieren, der zu gegebenen empirischen Generalisierungen, in denen allein B-Terme als nonlogisches Vokabular verwendet werden, paßt und bei dem (a) ein aus B - und T-Termen gemischtes bzw. (b) ein aus T-Termen allein bestehendes nonlogisches Vokabular verwendet wird. A u f zwei Annahmen bei der Diskussion des T-Term-Arguments ist noch hinzuweisen. (I) Erstens auf die Annahme, daß eine Unterscheidung zwischen B - und T Termen für wissenschaftliche Theorien vorliegt. A u f vorgeschlagene Unterscheidungen zwischen B - und T-Termen braucht erst im Zusammenhang mit Argumenten zur Stützung des T-Term-Arguments eingegangen zu werden. Die Annahme einer Unterscheidung zwischen B - und T-Termen ist hier aber unproblematisch, da es nicht um den Nachweis der Korrektheit des T-TermArguments geht, sondern um die Zurückweisung dieses Arguments über die Kritik möglicher Stützungsargumente. Der Verteidiger des T-Term-Arguments hätte zu zeigen, daß es eine akzeptable und adäquate Unterscheidung von B - und T-Termen gibt, die zudem das T-Term-Argument stützt. Für die Unterscheidung von B - und T-Termen soll als Vorannahme gelten, daß kein Term der einen Klasse ausschließlich auf der Grundlage von Termen aus der anderen Klasse explizit definiert werden kann — vom logischen Vokabular wird dabei abgesehen. Diese Vorannahme kann in zweifacher Hinsicht als zu streng erscheinen. Zum einen hat Carnap mehrfach die Möglichkeit angesprochen, daß beim Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie B-Terme („elementare Begriffe") durch T-Terme („abstrakte Begriffe") explizit definiert werden können, während der umgekehrte Fall ausgeschlossen bleibt. 171 Später heißt es bei ihm: „Ein theoretischer Term kann niemals explizit auf der Grundlage der Beobachtungs-Terme definiert werden, obwohl manchmal ein BeobachtungsTerm mit Hilfe von theoretischen Termen definiert werden kann." 1 7 2 169

Vgl. Przelecki 1964,1969 sowie 1974,1976,1976b, 1977,1979 und 1980, fernerhin Wójcicki 1978. 170 Vgl. u.a. Pfearce 1981 und 1981b sowie Pearce/Rantala 1983. - Zur Verteidigung einiger Aspekte der Standardauffassung in ihrer,nicht-positivistischen' Deutung vgl. Mundy 1987/88. 171 Vgl. Carnap 1939, Kap.24, S.84-91, sowie Id. 1938b. 172 Carnap 1966, S.233.

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Eine ähnliche Auffassung ist bereits von Campbell vertreten und von Braithwaite aufgenommen worden. 1 7 3 Es ist indes fraglich, ob es sich um adäquate Definitionen handelt, wenn man an die offensichtliche Verletzung der dritten der drei „Regeln für Definitionen" von Pascal denkt, nach der in „der Definition der Ausdrücke nur vollkommen bekannte oder schon erklärte W ö r t e r " 1 7 4 zu verwenden sind. Selbst bei einer Abschwächung dieser dritten Regel ist nach dem von Carnap vertretenen semantischen Programm ausgeschlossen, daß die zur Definition herangezogenen T-Terme bekannter als die definierten B-Terme sind. Wird hingegen diese Regel nicht akzeptiert, so bedarf es zumindest nach Carnaps späterer Position lediglich einer leichten Reformulierung der Vorannahme für die Unterscheidung von B - und T Termen, um die von Carnap erwogene Möglichkeit zu berücksichtigen. Diese Reformulierung ändert nichts an der Erörterung von Stützungsargumenten für das T-Term-Argument. Zum anderen kann die Vorannahme im Hinblick auf die jüngere Diskussion von expliziten Definitionsschemata für T-Terme als zu streng angesehen werden. 175 Diese Schemata sind allerdings nicht ohne technische Probleme und — soweit sich das abschätzen läßt — von nur sehr eingeschränktem praktischen Interesse, so daß sie kaum zu einer nennenswerten Korrektur der Vorannahme Anlaß geben. 176 (II) Die zweite Annahme, auf die im Zusammenhang mit der Erörterung von Stützungsargumenten des T-Term-Arguments hinzuweisen ist, besteht darin, daß Theorien wesentlich 177 T-Terme aufweisen und eine Methodologie der Theoriekonstruktion sich auf derartige Theorien beziehen soll. Diese Annahme bedarf keiner weiteren Rechtfertigung, denn ohne sie fehlen die Voraussetzungen für die Formulierung des T-Term-Arguments. Ein erstes Stützungsargument für das T-Term-Argument kann in dem Hinweis bestehen, daß der theoretische Überbau wesentlich aus Termen besteht, die im nonlogischen Vokabular des Unterbaus empirischer Generalisierungen, von dem aus der passende theoretische Überbau zu konstruieren ist, nicht vorkommen, und daß folglich diese Konstruktion nicht (partiell) rationalisierbar sein kann. Bei den Befürwortern des T-Term-Arguments findet sich häufig der Hinweis, daß neue, d.h. in den Prämissen nicht vorhandene Terme, nicht logisch gewonnen werden können. 1 7 8 Die Formulierung 173

Vgl. Braithwaite 1953, S.57, hier heißen Sätze der Form Β = (. .Γ,. T 2..) „définitory formulae"; auch Id. 1959, hier heißen derartige Sätze „identificatory axioms". 174 Päscal 1655, S.86. 175 Vgl. Lewis 1970 sowie Fitzgerald 1976, S.238^4. 176 Vgl. hierzu weiter unten im Text. 177 Zu einer Bestimmung des wesentlichen Vorkommens von Termen vgl. Przelecki 1977b. 178 Vgl. Anm.II.135. Vgl. auch Sharpe 1970, S.30/31, der der Ansicht ist, daß die

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

dieses Stützungsargument erinnert an ein Diktum, das gelegentlich Poincaré zugeschrieben wird, 1 7 9 nach dem in der Konklusion eines (deduktions-)logisch korrekten Schlusses kein (nonlogischer) Term auftauchen kann, der nicht bereits (explizit oder implizit) in den Prämissen des Schlusses zu finden ist. Die Zuschreibung dieses Diktums an Poincaré ist allerdings fiktiv; es findet sich bei ihm ein etwas anderes Argument in Verbindung mit der Frage nach der Ableitung eines Sollen aus einem Sein, 180 das als Poincaré Rule in die einschlägige Literatur eingegangen und wohl für das Mißverständnis verantwortlich ist. 1 8 1 Den Hintergrund für dieses Diktum bildet vermutlich eine Regel des einfachen kategorischen Syllogismus. 182 Gegen ein solches Stützungsargument läßt sich zunächst einwenden, daß es zumindest durch den Ausschluß l(ogisch)-falscher Prämissen und 1-wahrer Konklusionen einzuschränken ist; denn für jeden Satz (..Β..), dessen nonlogiAbduktion Peirces - im Gegensatz zu Deduktion und Induktion - allein zu „new concepts" führe. 179 Vgl. Kemeny/Oppenheim 1956, S.18., Anm.5. 180 Bei Poincaré soll dieses Diktum auf den Nachweis bezogen sein, daß die Wissenschaft keine Werturteile begründen kann. Bei Poincaré heißt es jedoch (Id. 1913, S.225) : „II ne peut pas y avoir de moral scientifique; mais il ne peut pas y avoir non plus de science immorale. Et la raison en est simple; c'est une raison comment dirai—je ? purement grammaticale. Si les prémisses d'un syllogisme sont toutes les deux à l'indicatif, la conclusion sera également à l'indicatif. Pour que la conclusion peut être mise à l'imperatiÇ il faudrait que l'une des prémisses au moins fût elle-même mode que sont les vérités expérimentales, et à la base des sciences, il n'y a ne peut y avoir rien autre chose. Dés lors, le dialecticien le plus subtil peut jongler avec ces principes comme il voudra les combiner, les échafauder les uns sur les autres; tout ce qu'il en tiere sera à l'indicatif. Il n'obtiendra jamais une proposition qui dira: fais ceci, ou ne fais pas cela; c'est-à-dire une proposition qui confirme ou qui contredise la morale." 181

Vgl. als gängigen Bezugspunkt die Formulierung bei Hare 1952, S. 50: „Kein Schlußsatz kann gültig aus einer Prämissenmenge gefolgert werden, die nicht mindestens einen Imperativ enthält." Hare stellt anschließend (S.52) fest, daß Poincaré das früheste Beispiel für eine explizite Formulierung dieser Regel sei. (Bereits bei Grue-Sörensen 1939 wird in diesem Zusammenhang auf Poincaré verwiesen). Die Behauptung, daß ein Sollen nicht aus einem Sein gefolgert werden kann, ist selbstverständlich wesentlich älter und wird nach der beliebtesten Belegstelle „Hume's Law" genannt (Here 1954/55, Grice 1970; aber auch Maclntyre 1959). Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß bei Black 1964, S.167, als Grund, weshalb Humes Annahme auf so breite Akzeptanz gestoßen ist, „the widespread but mistaken view that no term may occur in the conclusion of a valid argument unless it occurs, or can be made to occur by suitable definitions, somewhere in the premises", angeführt wird. Max Black fahrt fort: „If ,valid argument4 meant the same as,valid syllogism', the view would be correct — but it is easily shown not to be in general." 182 Poincarés in Anm. 11.180 zitierte Überlegungen beziehen sich explizit auf Syllogismen. Bei Dingler 1949, S. 10, heißt es: „Kommt etwa in [dem Axiom] A 1 ein Begriff vor, welcher in [dem Axiom] A nicht auftritt [...], so ist gewiss A 1 nicht aus A ableitbar [...]; denn es ist unmöglich durch rein logische Schlussoperationen, die ja nur kategoriale Umformungen sind, einen neuen Term zu gewinnen." - Jüngst hat Peter Gärdenfors eine vergleichbare Regel zur Charakterisierung nichtredundanter Erklärungsargumente vorgeschlagen (vgl. Id. 1976, S.425). Vgl. auch Wessel 1980.

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sches Vokabular allein aus B-Termen besteht, sowie für jeden Satz (.. T..), dessen nonlogisches Vokabular allein aus T-Termen besteht, gilt:

(9)

Wenn /(..Β. . ) - • ( . . Γ . ) / = 1-wahr, dann /(.. T..)/ = 1-wahr oder /(..Β..)/ = 1-falsch. 183

Zu denen, die diesem Stützungsargument (implizit) widersprochen haben, gehört Hempel. 1 8 4 Sein Hinweis auf die disjunktive Erweiterung ist schlagend. Dem T-Term-Argument wird dadurch jedoch kaum etwas an Plausibilität genommen, denn die mit Hilfe disjunktiver Erweiterung gewonnenen (Teil-) Sätze, in denen Terme vorkommen, die sich in den Prämissen nicht finden lassen, sind in einem bestimmten Sinn unwesentlich. 185 Sie sind unwesentlich in dem Sinn, daß der disjunktiv verknüpfte Teilsatz, der den fraglichen Term aufweist, auf diese Weise gleichermaßen in negierter wie unnegierter Form gewonnen werden kann. 1 8 6 Es bedarf mithin lediglich der entsprechenden Einschränkung dieses Diktums, um es als Stützungsargument für das T Term-Argument zu erhalten. 187 183 Das folgt daraus, daß beiden Sätzen kein nonlogischer Term gemeinsam ist (vgl. zu einem Beweis Robinson 1968, S.169). 184 Vgl. Kemeny/Oppenheim 1956, S.18, Anm.5. 185 Ein ähnliches Argument, wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang, findet sich bei Nagel 1961, S.353, Anm.3. 186 Ähnlich kann prinzipiell auch bei der Gewinnung einer SW/ew-Konklusion aus SWrc-Prämissen — dem Anliegen Poincarés — argumentiert werden (vgl. hierzu z.B. Hoerster 1969). Die Parallele zwischen Ethik und Theorie wird in dieser Hinsicht explizit bei Ackermann 1963/64 gezogen, der jedoch das Trivialisierungsargument übersieht. Zudem werden in dem Sein-Sollen-SchhiQ wahrheitsfunktional zusammengesetzte Sätze zugelassen, die Komponenten aufweisen, bei denen zumindest unklar ist, in welchem Sinne sie wahr oder falsch sind (vgl. zu diesem Problem bereits Jörgensen 1937/38 sowie Ross 1944, zur Diskussion den Überblick bei Iwin 1972). Hierzu gibt es eine Parallele in der Diskussion der Inadäquatheit von Signifikanzkriterien, die als Sw/îkriterien aufgefaßt werden; denn in der Hauptsache wurden zur Kritik derartiger Signifikanzkriterien Inadäquatheitsnachweise geliefert, in denen eine wahrheitsfunktionale Logik auf sinnlose Sätze angewendet wurde. Zuerst scheint dieses Problem bei Halldén 1949 mit der Einführung einer logic of nonsense berücksichtigt und bei Marhenke 1950, S. 156, gesehen worden zu sein (vgl. auch Shaw-kwei 1954, Aquist 1962). Nach Paul Marhenkes wie David Rynins (Ια. 1957, S.57/58) Hinweisen wurde erst bei Presley 1961/62 mit dem Vorschlag der Verwendung einer dreiwertigen Logik für den Nachweis der Inadäquatheit von Signifikanzkriterien die entsprechenden Konsequenzen gezogen, auch Suppes 1959 (bereits Dimitri Botschwar hat den dritten Wert seiner gegen Ende der dreißiger Jahre entwickelten dreiwertigen Logik als sinnlos oder paradoxal gedeutet, vgl. Rescher 1969, S.29ss, mit genaueren bibliographischen Angaben, sowie Sinowjew 1968, S.99ss). Vgl. auch Hempels Einwände in Id. 1964, die seinen Inadäquatheitsnachweis treffen (dazu der Vorschlag von Loftin/Beard 1974). 187 Eine grundsätzlichere Strategie zur Vermeidung des Arguments mit Hilfe der disjunktiven Erweiterung besteht darin, Schlüsse von (Α ν Β) und -> A auf Β zu unterbinden. Da es problematisch ist, derartige Schlüsse generell zu unterbinden,

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

Doch ist dadurch für das T-Term-Argument wenig gewonnen, denn dieses erste Stützungsargument wird durch seine Voraussetzungen entwertet. Die Theoriekonstruktion ist weder eine Deduktion noch — nach der Voraussetzung in Kapitel II.2 — notwendig eine Induktion. Die Übertragung dieses deduktionslogxschen Arguments auf das Auffinden von Theorien vermag das T-Term-Argument ebensowenig zu stützen wie das induktionslogische Argument Wisdoms, nach dem der induktionslogische Prozeß zu keinen neuen Termen führen kann. Das Ergebnis der Erörterung des ersten Stützungsarguments legt die Vermutung nahe, daß die Stützung des T-Term-Arguments nicht allein eine Frage logischer Argumente ist. Ein zweites Stützungsargument besteht in der Entgegensetzung von zwei Wirklichkeitsbereichen. Nach diesem Argument ist von dem Wirklichkeitsbereich aus, über den mit B-Termen gesprochen wird, der Wirklichkeitsbereich, über den mit T-Termen gesprochen wird, nicht in (partiell) rationalisierter Form erschließbar. 188 Obwohl dieses stützende Argument plausibel erscheint, ist es nicht frei von Komplikationen. Naheliegend könnte es sein, diesem Stützungsargument durch den Rückzug auf eine instrumentalistische bzw. nicht-realistische Deutung von T-Termen die Voraussetzung zu nehmen und es so zu entkräften. 189 Dieser Vorschlag hat allerdings zur Folge, daß eine wissenschaftliche Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion auf eine instrumentalistische Deutung von T-Termen festgelegt wird und damit nicht mehr an eine Methodologie der Theorieevaluation anbedarf es der Charakterisierung bestimmter Fälle, in denen Schlüsse dieser Art als problematisch erscheinen. Nimmt man das vorliegende Beispiel des Schlusses auf einen T-Term als ein solches Beispiel, dann bietet sich die folgende Strategie zum Ausschluß bestimmter Fälle des Schlusses mit Hilfe der disjunktiven Erweiterung an: (i) bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Schlüssen sind die vorliegenden Schlußsequenzen heranzuziehen; (ii) es wird die Forderung akzeptiert, intrasequentielle Inkonsistenz der Prämissen zu vermeiden. In dem vorliegenden Beispiel heißt das: In der ersten Teilsequenz wird (Α ν Β) aus A gefolgert; in der zweiten Teilsequenz wird aus (Α ν B) und —« Α Β gefolgert; A und -. A sind inkonsistent; also ist die Schlußsequenz unzulässig. (Eine vergleichbare Idee hat jüngst Hugh Rice entwickelt und ausgebaut, vgl. Id. 1986). 188

Hiermit ist nur einer von verschiedenen Fällen wiedergegeben. So ist z.B. auch möglich, daß T-Terme über ein Universum intercretiert sind, das das Universum, über das die B-Terme interpretiert sind, als echte Teilmenge umfaßt (vgl. hierzu z.B. Przelecki 1969, Kap.6, S.47-62, sowie Id. 1977). 189 Daß mit der sog. Standardauffassung sowohl eine realistische als auch eine instrumentalistische Deutung vereinbar ist, legt die Diskussion bei Nagel 1961, Kap.6, S. 106-52, nahe (zur Kritik an Nagels Auffassung vgl. u.a. Byerly 1968), vgl. auch Burian 1984, S.4-8. - Zur neueren Diskussion u.a. Feyerabend 1964 (dazu Feyerabends selbstkritische Bemerkungen in dem „Nachtrag 1977"), Morgenbesser 1969, Cornman 1975, Kap.4, S. 132-86, Musgrave 1977, Mackinnon 1979; zur Kritik an Poppers Ablehnung des Instrumentalismus vgl. u.a. Tibbetts 1972. Zu dem heftig diskutierten constructive empiricism Bas van Fraassens (Id. 1980) vgl. in diesem Zusammenhang Devitt 1984, S.126ss, Melchert 1985, McMichael 1985, Creath 1985, Leplin 1986, sowie Beiträge in Churchland/Hooker (eds.) 1985. Vgl. auch Anm.II.227.

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schließbar ist, die eine realistische Deutung von T-Termen vorsieht; und er gerät offensichtlich in Konflikt mit dem Ziel einer Methodologie der Theoriekonstruktion, wenn für einen Realismus aufgrund seiner heuristischen Vorteile geworben wird. 1 9 0 Es empfiehlt sich daher, das zweite Stützungsargument ohne den Rückgriff auf eine bestimmte Deutung von T-Termen zurückzuweisen. Von dem Argument, daß von einem Wirklichkeitsbereich ausgehend ein von diesem unterschiedener nicht in partiell rationalisierter Form erschlossen werden kann, sollte als Stützungsargument für das T-Term-Argument erstens erwartet werden, daß es ein Ontologiekriterium liefert, das die gemeinten Wirklichkeitsbereiche zu trennen ermöglicht; zweitens, daß aus der vorgenommenen Unterscheidung folgt, daß das partiell rationalisierte heuristische Erschließen von Termen aus Termen unmöglich ist, die über einen anderen Wirklichkeitsbereich definiert sind, während z.B. ein partiell rationalisiertes Erschließen von Termen aus Termen, die über denselben Wirklichkeitsbereich wie die zu erschließenden definiert sind, möglich oder zumindest nicht aus denselben Gründen unmöglich ist. Die Beiträge zur Diskussion einer Unterscheidung von B - und T-Termen, die sich bei ihren Unterscheidungen explizit oder implizit auf die Denotationsbereiche beider TermSorten einlassen und die zwei diskontinuierlich unterschiedene Wirklichkeitsbereiche annehmen, haben bislang wenig Hoffnung aufkommen lassen, daß sich ein effektives und (in der Standardauffassung) akzeptables Kriterium finden läßt. Derartigen Versuchen am nächsten kommen Vorschläge, ein solches Kriterium in der Beobachtbarkeit zu sehen, wie es auch der Grundintention des Logischen Empirismus entspricht. Die Vorschläge etwa in den Arbeiten Carnaps, 191 oder aus jüngerer Zeit von James Cornman 1 9 2 sind auf ausführliche und in ihrem destruktiven Kern auf weitgehend akzeptierte Kritik gestoßen. 193 Auch wenn vermutlich nicht richtig sein dürfte, daß die sog. Standardauffassung wissenschaftlicher Theorien mit der erfolg190

Vgl. die Argumentation bei Worrall 1982, vor allem S.206ss; in diesem Zusammenhang auch Zahar 1979. 191 Zur Beobachtbarkeit bei der Bestimmung von B-Termen vgl. u.a. Carnap 1956, S.209, 212 und 571, Id. 1959, S.33; die Nichtbeobachtbarkeit bei T-Termen findet sich u.a. bei Carnap 1956, S.209, auch Id. 1963b, fernerhin bei Scheffler 1964, S. 164-67. 192

Ein ausgearbeiteter Vorschlag liegt bei Cornman 1968 vor (dazu die Kritik von Machamer 1971 und die Replik bei Cornman 1971), eine modifizierte Fassung bietet Cornman 1971b, S.64-77 (dazu Tuomela 1973, S. 14-16, Ostien 1975). Zu weiteren Bestimmungen vgl. Werth 1980, Newton-Smith 1981, S.22s, Rynasiewicz 1984. 193 Kritiken mit unterschiedlich weitreichenden Konsequenzen finden sich bei Feyerabend 1960b sowie in einer Reihe seiner weiteren Arbeiten (kritisch hierzu z.B. Kordig 1970, Pilot 1974), bei Maxwell 1962, Achinstein 1965 und 1968, Spector 1966. Vgl. auch die Kritik an der für Fraassens Konzeption wichtigen Unterscheidung von beobachtbar! unbeobachtbar u.a. bei Foss 1984 (dazu Bourgeois 1987), Grimes 1984, Sober 1985, vgl. auch Beiträge in Churchland/Hooker (eds.) 1985. Eine exponierte Rolle

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

reichen Klärung des Beobachtbarkeitsbegriffs steht und fallt 1 9 4 — denn die angesprochene Grundintention für eine kriteriologische Bestimmung der Unterscheidung zwischen B - und T-Termen kann aufgegeben werden, ohne damit zwangsläufig auch das verfolgte empiristische Programm zu verabschieden —, so scheint die Wahl anderer Kriterien, die auf eine diskontinuierliche Trennung (zumindest) zweier Wirklichkeitsbereiche abzielen, im Rahmen der sog. Standardauffassung (und der mit ihr verbundenen Semantikkonzeption) kaum erfolgversprechend zu sein. 195 Überlegungen dieser Art weisen das ontologische Argument zur Stützung des T-Term-Arguments zwar nicht endgültig ab; es fehlt ihm jedoch so lange an erhoffter Stützungskraft, wie es kein akzeptables Ontologiekriterium aufzubieten vermag. Ein erfolgreiches Ontologiekriterium muß zudem nicht automatisch auch ein Stützungsargument für das T-Term-Argument sein. Selbst dann, wenn ein erfolgreiches Ontologiekriterium zur Verfügung stehen sollte, ist damit noch nicht klar, weshalb lediglich ein partiell rationalisierter „Sprung" von einem Wirklichkeitsbereich in einen anderen nicht möglich sein soll, während Intuition, Imagination oder Erraten diesen „Sprung" prinzipiell zu vollziehen vermögen. Hierzu bedarf es — neben einem Ontologiekriterium — einer Erklärung. Die Schwäche des ontologischen Stützungsarguments — bei einem erfolgreichen Ontologiekriterium — wird darin bestehen, daß es zu stark sein wird, wenn es das T-Term-Argument zu stützen vermag. Ein weiteres Stützungsargument für das T-Term-Argument bezieht sich auf die Leistungen, die T-Terme im Unterschied zu B-Termen (im Rahmen einer Theorie) zu erbringen vermögen oder erbringen sollen. Das dritte Stützungsargument beruht mithin auf der Annahme, daß diese Leistungen von der Art sind, daß sie ein partiell rationalisiertes Auffinden von T-Termen ausspielt in diesem Kontext das Problem der Theorienbeladenheit von Beobachtungen. Einen Überblick über die Diskussion bis zum Ende der sechziger Jahre findet sich bei Suppe 1974, S. 192-99. Ein Großteil der Erörterungen gilt dabei den einschlägigen Überlegungen Hansons (Id. 1958, Kap.I, auch 1967 und 1969), die vor allem bei Kordig 1971 und 1971b kritisiert werden; diese Kritik hat eine anhaltende Diskussion ausgelöst, vgl. u.a. Brown 1972, Gale/Walter 1973 (auf die Kordig 1973 repliziert), Bogdan 1974, Machamer 1975, Galle 1983, Weckert 1986. Zur Diskussion dieses Problems vgl. fernerhin Shimony 1977, Holman 1979, Shapere 1982b, Fodor 1984, sowie Brown 1977 und 1979 (dazu Siegel 1983b und Brown 1983). Zu den relativ seltenen Untersuchungen von Fallbeispielen vgl. u.a. Rehbock 1975 und Rupke 1976, zur vermeintlichen Entdeckung des Bathybius haeckelii; fernerhin Baxter/Farley 1979, Mey 1981. - Vgl. auch Hacking 1983, Galison 1987; sowie Anm.IV.82 und V.241 194 Vgl. z.B. Bar-Hillel 1960, S.74: „The whole burdon of Carnap's ingenious construction rests on the notion of observability." Ähnlich auch Barker 1971, S. 10, Feigl 1970, S.7. Dagegen die Bemerkung bei Kyburg 1970, S.492. - Zu einem abwägenden Vergleich der,empiristischen' mit den naturalistischen' und pragmatischen' Auffassungen vgl. Sklar 1985b. 195 Vgl. hierzu Rozeboom 1970, S.205/06; auch Carnap 1966, S.226/27.

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schließen. Nun treffen die Versuche, T-Terme durch spezifische Leistungen grundsätzlich gegenüber B-Termen im Rahmen der sog. Standardauffassung auszuzeichnen, auf Einwände, die denen recht ähnlich sind, die im Rahmen des ontologischen Stützungsarguments bereits erörtert wurden. Betroffen ist dieses Stützungsargument von Hempels Dilemma des Theoretikers: „ I f the terms and princples of a theory serve their purpose they are unnecessary [...]; and if they do not serve their purpose they are surely unnecessary. But given any theory, its terms and principles serve their purpose or they do not. Hence, the terms and principles of any given theory are unnecessary." 1 9 6 Die bislang vorgelegten Versuche, T-Termen Leistungen zuzusprechen, die als wesentlich für wissenschaftliche Theorien gelten können und die T Terme nicht überflüssig machen, sind im Rahmen der sog. Standardauffassung zumindest im Hinblick auf ihre Brauchbarkeit als Stützungsargument für das T-Term-Argument nicht erfolgreich. 197 Ebenso wie beim vorangegangenen ontologischen Stützungsargument sollte auch das methodologische Stützungsargument nicht nur eine Charakterisierung der T-Termen zugeschriebenen spezifischen Leistungen erbringen, sondern es müßte aus dieser Charakterisierung die Unmöglichkeit einer partiell rationalisierten Konstruktion von T-Termen geschlossen werden können. Sollten T-Terme methodologisch überflüssig sein, so verliert dieses Stützungsargument offensichtlich seine Relevanz für das T-Term-Argument. 1 9 8 Gegenwärtig steht das methodologische Stützungsargument nicht besser da als das ontologische. Das methodologische Stützungsargument enthält allerdings einen Hinweis, der es interessanter als das ontologische erscheinen läßt. Eine Methodologie der Theorieevaluation, die eine Methodologie der Theoriekonstruktion orientiert, könnte Anforderungen an eine Theorie stellen, die ausschließen, eine derartige Theorie partiell rationalisiert zu konstruieren; diese Anforderungen können sich beispielsweise auf die T-Terme von Theorien beziehen. Auch wenn es im Rahmen der sog. Standardauffassung 196

Hempel 1958, S. 186. Vor dem Hintergrund von Hempels Dilemma des Theoretikers findet sich eine Verteidigung von T-Termen bzw. der Auffassung, „that the goals of science cannot really be achieved by purely empirical laws, but only by introducing and employing theories containing so called theoretical terms (such as ,electron4, ,gene4,,refractory goal response4) which are not explicitly definable on the basis of observational concepts44 (S.l/2) im Rahmen des von Bunge charakterisierten „critical scientific realism44 bei Tuomela 1973. Eine elaborierte Verteidigung eines „scientific instrumentalism" liefert Cornman 1972 (geringfügig modifiziert auch in Id. 1975, Teil I, Kap.4, S.132ss.; zur Kritik Tuomela 1978). — Zur Unentbehrlichkeit von T-Termen im Hinblick auf induktive Systematisierungen vgl. u.a. Lehrer 1969, Niiniluoto 1972 (dazu Kaufman 1974 und Niiniluoto 1974); auch Kyburg 1978 (dazu Niiniluoto 1978). 198 Die Unentbehrlichkeit von T-Termen ist als Voraussetzung des T-Term-Arguments angenommen worden. 197

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

wissenschaftlicher Theorien nicht gelingen sollte, eine Charakterisierung spezifischer Leistungen von T-Termen zu geben, die das T-Term-Argument zu stützen vermögen, so ist nicht ausgeschlossen, daß eine Methodologie der Theorieevaluation Anforderungen vorsieht — seien sie nun auf die Standardauffassung bezogen oder nicht —, die den Anschluß einer Methodologie der Theoriekonstruktion ausschließen. Für die Stützung des T-Term-Arguments ist allerdings mit dieser Möglichkeit wenig erreicht: Es mag Methodologien der Theorieevaluation geben, die den Anschluß von Methodologien der Theoriekonstruktion verhindern, doch ist damit weder gezeigt, daß dies für alle Methodologien der Theorieevaluation gilt, noch daß es gerade eine solche Methodologie ist, von der sich zeigen läßt, daß sie grundsätzlich gewählt werden sollte. Ein weiteres Argument zur Stützung des T-Term-Arguments hängt mit der partiellen Interpretation von T-Termen nach der sog. Standardauffassung und der in diesem Zusammenhang favorisierten Semantikkonzeption zusammen. Dieses Stützungsargument besagt, daß von empirischen Generalisierungen ausgehend und bei vorgegebener intendierter (vollständiger) Interpretation der B-Terme, die Konstruktion eines passenden theoretischen Überbaus deshalb nicht partiell rationalisiert werden kann, weil nicht gewährleistet ist, daß eine Interpretation dieses Überbaus mitkonstruiert wird, die im Rahmen der für ihn intendierten Interpretationen liegt. Dieses Stützungsargument kann sich auf einen Beweis John Winnies berufen, der im Rahmen der Standardauffassung unter bestimmten Voraussetzungen und mit Hilfe zweier Theoreme zeigt, daß „the fact that an empirical interpretation of observation terms is taken fixed, does not rule out numerical interpretations for the theoretical terms" 1 9 9 — wobei numerische Interpretationen der T-Terme des theoretischen Überbaus als nichtintendiert gelten sollen. Wenn also die vollständig interpretierten B-Terme nichtintendierte Interpretationen von T-Termen nicht zu verhindern vermögen, dann ist auch nicht gewährleistet, daß eine partiell rationalisiert konstruierte Interpretation des theoretischen Überbaus sich im Rahmen der intendierten Interpretation befindet. Winnies Beweis ist unter den gegebenen Voraussetzungen offenbar korrekt, obwohl Pearce und Rantala auf ein Gegenbeispiel hinweisen, das sie als einen 199 Winnie 1967, S.225. Vgl. auch Przelecki 1977, S.84/85. - Vgl. die Bemerkung bei Quine 1964b, S.329: „Kurz und allgemein kann man die Stärke des LöwenheimSkolem-Theorems so ausdrücken: die enge logische Struktur einer Theorie - die Struktur, die sich in den Quantoren und satzlogischen Verknüpfungen widerspiegelt - reicht nicht aus, um die Objekte der Theorie von den positiven Zahlen zu unterscheiden". Zur Deutung der Konsequenzen dieses Theorems vgl. u.a. Resnik 1966, Klenk 1976. Winnies Beweis zeigt, daß dieses Ergebnis für den theoretischen Überbau einer Theorie auch dann noch erreicht werden kann, wenn die B-Terme dieser Theorie entsprechend der Intention interpretiert sind. Vgl. auch die Hinweise in Anm. V.250 zu Putnams,modelltheoretischem4 Argument.

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Hinweis auf die mögliche formale Inkorrektheit dieses Beweises deuten; 200 ihr Gegenbeispiel wird jedoch zumindest durch die Voraussetzungen ausgeschlossen, die Winnie für seinen Beweis annimmt. 2 0 1 A u f das von Winnie erzielte Resultat sind verschiedene Reaktionen möglich. Es ist dafür argumentiert worden, daß es eigentlich nicht kontraintuitiv sei; 202 durch Kritik und Korrektur der Voraussetzungen des Beweises kann versucht werden, das Resultat abzuschwächen; 203 es wurden explizite Definitionsschemata für T-Terme entworfen wie von David Lewis, 2 0 4 dessen Vorschlag allerdings kontraintuitive Konsequenzen besitzt, 205 oder wie von Paul Fitzgerald, 206 dessen Vorschlag Zuflucht zu notorisch problematischen nichtwahrheitsfunktionalen Verknüpfungen nimmt; schließlich kann man zur Umgehung der Folgen von Winnies Beweis sich einer intensionalen Metasprache versichern, in der die zur Gewährleistung intendierter Interpretationen erforderlichen Einschränkungen formuliert werden, wie dies Raimo Tuomela vorgeschlagen hat 2 0 7 — eine Idee, die indes bereits von Carnap erwogen und verworfen wurde. 2 0 8 Auch dieses Argument erreicht das Ziel der Stützung des T-Term-Arguments nicht. Zum ersten wird das Resultat von Winnies Beweis für die Standardauffassung selbst — wie die verschiedenen Versuche seiner Vermeidung belegen — als problematisch angesehen. Zum zweiten ist nicht einsichtig, weshalb — wie dieses Stützungsargument implizit annimmt — bestimmte, außerhalb der Theorie formulierte nähere Festlegungen der intendierten Interpretationen wie aber auch andere Restriktionen eine Methodologie der Theoriekonstruktion nicht ergänzen dürfen oder nicht in ihr berücksichtigt werden können. Zum dritten schließlich ist eine Voraussetzung des semanti200 vgl Pearce/Rantala 1982, S.46. 201 Eine etwas dunkle Bemerkung bei Pearce/Rantala 1982b, Anm.l, S.447, scheint die Bedenken gegen die formale Korrektheit des Beweises von Winnie wieder zurückzunehmen. 202 Vgl. insb. Przelecki 1976b. 203 Ein Beispiel gibt David Lewis in seiner Kritik (Id. 1970, S.435). 204 Vgl. Lewis 1970, auch Id. 1972. 205 Vgl. Fitzgerald 1976, S.242; zur weiteren Kritik Kuhn 1983, S.678. 206 Vgl. Fitzgerald 1976. 207 Ygi Tuomela 1972b, S. 173/74 (dazu auch die Auseinandersetzung zwischen Przelecki 1974c und Tuomela 1974). 208 Die Möglichkeit, T-Terme metasprachlich einzuführen, hat Carnap erwogen, aber aus pragmatischen Erwägungen der Verständlichkeit einer solchen Metasprache wieder fallengelassen (vgl. Id. 1939, S.85, diesem Argument schließt sich Hempel 1963, S.696, an). - Es gibt ei ne Reihe weiterer Ideen zu einer Konzeption der Bedeutungszuweisung (an T-Terme), die von den hier genannten abweichen, aber bislang nur wenig ausgearbeitet sind, so etwa Ideen zur „semantischen Analogie", z.B. Spector 1966 (dazu kritisch Carloye 1972) oder zu Seilars Überlegungen Brown 1986 - abwägend Sklar 1980.

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

sehen Stützungsarguments nicht korrekt. Einer Methodologie der Theoriekonstruktion geht es zunächst nicht um die Konstruktion eines passenden theoretischen Überbaus und einer intendierten Interpretation dieses Überbaus, sondern um die Konstruktion eines passenden theoretischen Überbaus, der eine intendierte Interpretation nicht von vornherein ausschließt. 209 Zudem wird bereits im Rahmen der ,Standardkonzeption' der Modell- bzw. Analogiebeziehung zwischen Theorien — wie sie sich etwa bei Braithwaite formuliert findet 2 1 0 — eine heuristische Aufgabe bei der Bildung von T Termen eingeräumt. 211 Zwar ist auch diese ,Standardkonzeption' auf heftige Kritik gestoßen, 212 doch bleibt die Erörterung heuristischer Aspekte bei der (T-)Termbildung davon unberührt. 213 In diesem Zusammenhang läßt sich ein weiteres Stützungsargument formulieren, das an die Forderung anschließt, nicht nur einen passenden, sondern auch einen bestimmten theoretischen Überbau zu konstruieren. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gehört es zum Bestand wissenschaftstheoretischer Überlegungen und Beobachtungen, daß die jeweils vorliegenden empirischen Daten nicht ausreichen, um nur eine Theorie, einen theoretischen Überbau, eindeutig auszuzeichnen. Diese Beobachtung findet sich bei Maxwell 214 ebenso wie bei Hertz, 2 1 5 Peirce 2 1 6 und Duhem. 2 1 7 Bei Poincaré heißt es z.B.: 209

Vgl. z.B. die Beobachtung bei Omeljanowski 1962, S. 1015: „Der mathematische Apparat der physikalischen Theorie, der ein bestimmtes System von Abstraktionen darstellt, besitzt relative Selbständigkeit und eine eigene Logik der Entwicklung. Infolgedessen erscheinen bestimmte Begriffe unter gewissen Voraussetzungen in der physikalischen Theorie zunächst in der Form mathematischer Abstraktionen, und erst später wird der physikalische Sinn der mathematischen Begriffe erschlossen, d.h. wie man sagt, die physikalische Interpretation der mathematischen Begriffe gefunden." Ähnliche Äußerungen sind häufig, vgl. Born 1954, S.177, Wessels 1977, S.232s. Nahezu alle Varianten dieser Auffassung lassen sich bei Dirac finden, z.B. Id. 1931, S.60, oder Id. 1978, S.3, fernerhin Mehra 1972 (zu Diracs hiermit zusammenhängendem ästhetischen Kriterium für den mathematisch-formalen Teil einer Theorie vgl. Kragh 1979). Dabei kann der Versuch, eine solche Theorie in befriedigender Weise physikalisch zu interpretieren, auch zu ihrer Modifikation führen; vgl. zu eifern Fallbeispiel die Untersuchung bei Christidis et al. 1987. Zur heuristischen Rolle von physikalisch nicht gedeuteten mathematisierten Teilen von Theorien vgl. auch die Hinweise bei Zahar 1973 und vor allem Id. 1979. - Vgl. auch unten S.311. 210 Vgl. Braithwaite 1953, Kap.3 sowie Id. 1954. - Zur Diskussion von Modellen bzw. Analogien als heuristische Mittel vgl. Kapitel 1.3, S.42-54. 211 Vgl. Braithwaite 1962. 212 Vgl. neben Spector 1965/66 die Kritik und Erörterung bei Achinstein 1964b, 1965/66 und 1968, S.227-58 (hierzu auch die Auseinandersetzung zwischen Girili 1971, Achinstein 1972 und Girili 1972); auch Bunge 1973d. 213 Vgl. z.B. die Überlegungen bei Thagard 1983, S.170ss, Id. 1984/85, Rothbart 1984b, S.610ss, oder Cohen 1986; Danneberg 1989c. - Langley/Simon/Bradshaw/ Zytkow 1987, Kap. 4,5 und 8; Holland/Holyoak/Nisbett/Thagard 1986, Kap.3 und 4. 214 Vgl. Maxwell 1873, §831 (dazu auch Turner 1956). 215 Vgl. Hertz 1894, Einleitung, S. 1^9 (dazu z.B. Alexander 1964, S.409-13). Ulrich Majer hat die Auffassung von Hertz als eine Unterdeterminiertheit von Theorien im

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„Immer, wenn das Prinzip der Energie und das Prinzip der kleinsten Wirkung befriedigt ist, so ist nicht nur eine mechanische Erklärung möglich [...], sondern immer eine unendliche Anzahl solcher Erklärungen. Vermöge eines wohlbekannten Lehrsatzes von Königs über die Gelenksysteme ist man imstande zu beweisen, daß man auf unendlich viele verschiedene Arten alles nach dem Vorgange von Hertz durch starre Verbindungen erklären kann, oder durch zentral wirkende Kräfte. Man könnte ohne Zweifel ebenso leicht beweisen, daß sich alles durch einfache Stöße erklären läßt." 2 1 8 Und auch Ludwig Boltzmann ist diese Beobachtung geläufig: „Es ist sogar die Möglichkeit zweier ganz verschiedener Theorien denkbar, die beide gleich einfach sind und mit den Erscheinungen gleich gut stimmen, die also, obwohl total verschieden, beide gleich richtig sind." 2 1 9 Obwohl mithin Boltzmann mit dieser Beobachtung vertraut ist, unterscheidet er dennoch an anderer Stelle zwei „Darstellungsweisen" physikalischer Theorien, d.h. hier der Mechanik, die seiner Ansicht nach prinzipiell gleichberechtigt sind: die „deduktive" und „induktive".Er unternimmt sogar den Versuch, einen rein „induktiven" Aufbau der Mechanik zu skizzieren, 220 der von „direkt beobachteten Erscheinungen" 221 seinen Ausgang nehmen und zu theoretischen Prinzipien führen soll. Zwar versieht Boltzmann seinen, wie er selbst betont, lückenhaften Versuch eines solchen Aufbaus mit einem Hinweis auf die Schwierigkeiten, mit denen sich ein solcher Versuch konfrontiert sieht, doch beendet er seine Überlegungen mit der Aufforderung, diese Lücken zu schließen. 222 Auch wenn sich bereits bei Duhem 2 2 3 gute Gründe dafür finden, „daß die axiomatische Grundlage der theoretischen Physik nicht aus der Erfahrung erschlossen, sondern frei erfunden werden m u ß " , 2 2 4 — wie es bei Einstein heißt — scheint diese Beobachtung als Stützungsargument erst mit Einstein virulent geworden zu sein — nicht zuletzt aufgrund der Verknüpfung mit der Entwicklung der Relativitätstheorie: Hinblick auf alle möglichen Erfahrungen gedeutet (vgl. Id. 1983), die Wittgenstein im Tractatus übernommen habe (vgl. auch Ια. 1985). 216 Vgl. Pfeirce in Wiener (ed.) 1958, S.290. 217 Vgl. Duhem 1906 (zum Problemhintergrund dieser Untersuchung Martin 1976), auch Id. 1908 (zu Duhems Auffassung u.a. Ciavelin 1964, Lloyd 1978, Musgrave 1981 sowie Martin 1987; zur Geschichte des apparentias salvare auch MittelstraB 1962, Id. 1978, sowie Krafft 1973). - Zu Berkeley vgl. Newton-Smith 1985. 218 Poincaré 1905, S. 168. 219 Boltzmann 1899, S.216 (zu Boltzmanns Auffassung neben Curd 1978 auch Hiebert 1980 und Miller 1984b). 220 Boltzmann 1899b, S.271ss. 221 Boltzmann 1899b, S.272. 222 Boltzmann 1899b, S.301/02. 223 Vgl. Duhem 1906, Kap.7 und 8. 224 Einstein 1933, S. 116.

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II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

„Die Naturforscher jener Zeit [seil, des 18. und 19. Jahrhunderts] waren [...] zumeist vom Gedanken durchdrungen, daß die Grundbegriffe und Grundgesetze der Physik nicht im logischen Sinne freie Erfindungen des menschlichen Geistes seien, sondern daß dieselben aus den Experimenten durch ,Abstraktion 4 — d.h. auf einem logischen Weg - abgeleitet werden könnten. Die klare Erkenntnis von der Unrichtigkeit dieser Auffassung brachte eigentlich erst die allgemeine Relativitätstheorie; denn diese zeigte, daß man mit einem von dem Newtonschen weitgehend abweichenden Fundament dem einschlägigen Kreis von Erfahrungstatsachen sogar in befriedigenderer und vollkommenerer Weise gerecht werden konnte, als es mit Newtons Fundament möglich war. Aber ganz abgesehen von der Frage der Überlegenheit wird der fiktive Charakter dadurch völlig evident, daß zwei wesentlich verschiedene Grundlagen aufgezeigt werden können, die mit der Erfahrung weitgehend übereinstimmen. Es wird dadurch jedenfalls bewiesen, daß jeder Versuch einer logischen Ableitung der Grundbegriffe und Grundgesetze der Mechanik aus elementaren Erfahrungen zum Scheitern verurteilt ist. 4 ' 2 2 5 Diese Beobachtung ließe sich noch verschärfen, indem auf Quines These der Unterbestimmtheit wissenschaftlicher Theorien unabhängig von einer Relativierung auf die jeweils vorliegenden empirischen Daten zurückgegriffen wird. 2 2 6 Da diese These heftig umstritten ist 2 2 7 und die Position des T-Term-Arguments nicht verstärkt, soll sie im weiteren unberücksichtigt bleiben. Einsteins Argument läßt sich wie folgt rekonstruieren: Von gegebenen Erfahrungstatsachen ausgehend lassen sich nicht nur logisch vereinbare Theorien unterschiedlicher logischer Stärke konstruieren, sondern darüber hinaus Theorien, die logisch unvereinbar oder gar — in einer bestimmten, Einsteins Intention allerdings wohl nicht entsprechenden Lesart des Arguments — inkommensurabel sind. Ferner handelt es sich nicht nur um eine logische Möglichkeit, sondern zumindest seit der allgemeinen Relativitätstheorie um ein wissenschaftshistorisches Faktum. Eine Logik des Entdeckens, die diesem Sachverhalt Rechnung trägt, ist unmöglich bzw. nutzlos, denn sie führt zu unvereinbaren oder gar inkommensurablen Theorien. Diesem Argument liegt offenbar die Annahme zugrunde, daß eine Logik des Entdeckens, die zu unvereinbaren oder inkommensurablen Theorien führt, keinen Regelgehalt besitzt, d.h. keine spezifischen Restriktionen für das Auffinden von Theorien beinhaltet, die sie von einem nichtlogischen Auffinden unterscheidet und Grund ihrer Wahl sein kann. 225 Einstein 1933, ebd.; hierzu auch Frank 1949c. Erhellend für Einsteins Konzeption der Theoriekonstruktion ist Holton 1981. Merkwürdigerweise übersieht Holton in seiner sehr ausführlich gehaltenen Untersuchung gerade dieses Argument Einsteins. 226 Vgl. Quine 1970, auch Id. 1975 und 1981b. 227 Kritisch sind z.B. English 1973, Boyd 1973 und vor allem Wilson 1980; fernerhin Newton-Smith 1980 und 1983, Harman 1979, Gibson 1986 und 1986b (dazu Quine

4. Das Prognose-Argument

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Dieses Problem und die daran geknüpfte Argumentation vermag allerdings ebenfalls nicht das T-Term-Argument zu stützen. Einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion geht es weder um die Konstruktion der richtigen noch um die Konstruktion jeder möglichen Theorie. Ihr geht es allein um die Konstruktion einer passenden Theorie, die bestimmten, in der ihr zugeordneten Methodologie der Theorieevaluation festgehaltenen Anforderungen genügt. Daß eine bestimmte Theorie und nicht durchweg eine Vielzahl unvereinbarer Theorien konstruiert wird, wird durch inhaltliche Restriktionen verhindert, die in einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion festgehalten sind, oder durch die konkreten Bedingungen der Situation, in der eine solche Heuristik bzw. Methodologie angewendet wird. 2 2 8 Zur Stützung des T-Term-Arguments habe ich fünf Argumente zumeist unter Bezug auf die sog. Standardauffassung wissenschaftlicher Theorien erörtert. Als Ergebnis dieser Erörterung läßt sich festhalten: Die erörterten Stützungsargumente befinden sich entweder gegenwärtig in einem Zustand, der eine abschließende Würdigung ihrer Stützungskraft zwar nicht zuläßt, sie aber gleichwohl als wenig aussichtsreich erscheinen läßt; oder sie erlauben nicht, einen Nachweis für die Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion durch die Abstützung des T-Term-Arguments zu liefern, weil sie von Voraussetzungen ausgehen, die nicht zwingend sind.

4. Das Prognose-Argument Das letzte Argument, das gegen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion erörtert werden soll, ist das Prognose-Argument. Im Hinblick auf die Prognostizierbarkeit des Gegenstandes einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion stehen sich zwei anscheinend unvereinbare Behauptungen gegenüber. Zum einen heißt es: „The invention must be acknowledged to be unpredicable, a quality which is assessed by the intensity of the surprise it might reasonably have aroused. The unexpectedness corresponds precisely to the presence of a logical gap between the antecedent knowledge from which the inventor started and consequent discovery at which he arrived." 2 2 9 1986, S.155ss), Horwich 1982, Sklar 1982, Bergström 1984, Hesse 1981, Wendel 1986, Jardine 1986, Kap. VII; ebenso Anm. V. 181. 228 Vgl. weiter unten im Text. 229 Polanyi 1957/58, S.93.

120

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

Zum anderen wird behauptet: „ M a n kann — wenn auch formal — unvoraussehbare Lösungen des betreffenden Problemtyps voraussehen, und zwar sowohl im Rahmen des angegebenen Begriffssystems als auch in verschiedenen (noch unbekannten) solcher Systeme." 230 Das Prognose-Argument läßt sich so formulieren 231 : Wenn ein mechanisierbares, rationalisierbares Verfahren des Auffindens von Theorien oder Problemlösungen möglich ist, dann ist unser zukünftiges (tentatives) wissenschaftliches Wissen prinzipiell auch prognostizierbar. Da unser zukünftiges (tentatives) wissenschaftliches Wissen (prinzipiell) nicht prognostizierbar ist, kann auf die Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion geschlossen werden. Hier kommt es nicht darauf an, welchen Status das prognostizierte Wissen besitzt, d.h., ob es lediglich bekannt, ob es allgemein akzeptiert oder ob es wahr sein soll. Offenbar wird die Prognose eines zukünftigen Wissens desto schwieriger, je anspruchsvoller die Aussage sein soll, die dabei über seinen Status gemacht wird. Aufgrund der Akzeptanz der Geltungsirrelevanz einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion kann das PrognoseArgument nur von einer recht anspruchslosen Variante im Hinblick auf den Status des prognostizierten Wissens ausgehen. 232 Als eine der grundlegenden Leistungen Poppers gilt, den Nachweis für die Unmöglichkeit einer Prognose unseres zukünftigen Wissens gegeben zu haben. 233 Von Popper wird dieser Nachweis im Vorwort zu seinem Historizismus-Buch angedeutet, 234 wobei zur Ergänzung auf eine ältere und eine jüngst erst erschienene Arbeit Poppers verwiesen werden kann. 2 3 5 So originell Pop230

Polikarov 1966, S. 120. Das Prognose-Argument weist Überschneidungen mit dem Zufallsargument auf (vgl. Kapitel II.l, auch weiter unten im Text). Bei Finocchiaro 1973, S.35s, wird auf dieses Argument zurückgegriffen, um zu zeigen, daß wissenschaftliche Entdeckungen keine Erklärung (im Sinne Hempels) zulassen. - Eine Art Vorläufer für dieses Argument findet sich bei Herschel 1830, S.97, wo es im Bezug auf Regeln der Analyse komplexer Phänomene heißt: „Such rules, could they be discovered, include the whole of natural science." 232 Levin 1974 versucht zu zeigen, daß das Prognose-Argument schon dann hinfallig wird, wenn man auf die Prognose der Wahrheit der Entdeckung verzichtet. Diese Behauptung ist nicht richtig, denn das Prognose-Argument führt auch dann noch zu denselben inakzeptablen Ergebnissen, wie am Beispiel des Problems der Prognose künstlerischer Werke deutlich wird. Das Prognose-Argument ist generell unabhängig von der Wahrheit der prognostizierten Entdeckung, Problemlösung oder Theorie. 233 Zu dieser Einschätzung vgl. z.B. Schäfers 1973, S.32, oder Watkins 1972, S. 174-79. 234 Popper 1957b, S.XI/XII. 235 Gemeint sind Popper 1950/51 sowie das lange angekündigte Postscript: After Twenty Years (vgl. Popper 1982, S.41-85, insb. S.62-77). - Eine Reihe weiterer Argumente findet sich bei Rescher 1983. 231

4. Das Prognose-Argument

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pers Nachweis sein mag, so wenig ist die Annahme der Unmöglichkeit der Prognostizierbarkeit unseres zukünftigen Wissens neu. Diese Annahme ist als Argument schon früher eingesetzt worden — zum Teil sogar in dem Zusammenhang, in dem es Poppers selbst verwendet. Ein Beispiel bietet Neurath. 2 3 6 Für die Erörterung des Prognose-Arguments erübrigt sich — wie deutlich werden wird — eine ausführliche Darstellung und Erörterung der Argumentation Poppers. Die Kritik an Poppers Argumentation hat allerdings gezeigt, 237 daß der „Sachverhalt" der Nichtprognostizierbarkeit unseres zukünftigen Wissens nicht — wie Rolf Gruner meint — „so einleuchtend" ist, „daß er nicht weiter erläutert und verdeutlicht zu werden braucht". 2 3 8 Drei Einwände, die prima facie gegen das Prognose-Argument sprechen, werde ich erörtern und zurückweisen, bevor ich zeige, daß das Prognose-Argument nicht gegen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion spricht. Der erste Einwand beruht auf dem Hinweis, daß es offenkundig so etwas wie eine Wissenschaftsprognostik als entwickelte Disziplin mit einer Vielzahl von vorgeschlagenen und teilweise auch erprobten Methoden gibt. 2 3 9 Der zweite Einwand beruht auf dem Hinweis, daß es theoretisch prognostizierbare Entdeckungen gibt — beispielsweise die vorausgesagten Entdeckungen von Elementen nach dem Periodensystem. Beide Einwände zielen am Kern des Prognose-Arguments vorbei. Selbst dann, wenn sich die Bemühungen zu einer Wissenschaftsprognostik nicht in der Extrapolation vermeintlicher Trends z.B. in der Organisation, dem Kräftepotential usw. der Wissenschaften erschöpfen, sondern sich auf Merkmale der zu erstellenden Produkte einlassen, wird nahezu ausschließlich das zeitlich mehr oder weniger fixierte Erreichen sehr allgemein charakterisierter wissenschaftlicher Leistungen zu prognostizieren versucht, nicht aber spezifische Merkmale der wissenschaftlichen Produkte. 2 4 0 236

Vgl. z.B. Neurath 1921, S.23, wo es im Hinblick auf die Prognostizierbarkeit von Phasenabläufen heißt: „Neues voraussagen, heißt das Neue bereits besitzen. Wenn Richard Wagner in seiner Jugend seine zukünftigen Opernleistungen hätte schildern können, dann wären sie bereits dagewesen." Später heißt es bei Neurath (Id. 1931, S.397, auch Id. 1931b, S.130, sowie Id. 1936b, S.404): „Die Einheitswissenschaft formuliert Aussagen, ändert sie ab, macht Voraussagen; sie kann aber ihren kommenden Zustand nicht selbst antizipieren." - Auf die Unprognostizierbarkeit verweist auch Rossman 1931, S.14. Bereits Emil Capitaine (Id. 1895, S.14) schreibt: „Nun ist aber dieses Ergebnis, nämlich das Neue, ganz unabhängig von dem Willen des Betreffenden, er kann es nicht voraussehen, denn was er voraussieht, kann nur ein Bekanntes sein" 237

Kritisch zu diesem Nachweis ist Urbach 1978, S. 127-29. Gruner 1956, S.208. 239 Vgl. u.a. Dobrov 1968, Kap.7, S.217-50, und Id. 1968b, S.57ss, Solla Price 1963, Nikolajew 1977, auch Rescher 1978. 240 Zu den bekanntesten dieser Prognose-Methoden zählt die Delphi-Methode (vgl. 238

122

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

Obwohl dieser erste Einwand fehlgeht, verweist er auf die Klärung der Frage, welche Merkmale ausschlaggebend sind, wenn unser zukünftiges (tentatives) Wissen prognostiziert werden soll. Dem zweiten Einwand gegenüber ist zu bedenken, daß es bei dem Prognose-Argument nicht um solche Entdeckungen geht, die nach einer Theorie o.dgl. erwartet oder prognostiziert 4 werden können. In diesem Fall ist man in gewisser Hinsicht bereits im Besitz dieses Wissens, wobei allerdings die Prognose des Zeitpunkts des Bekanntwerdens, Auffindens o.dgl. im allgemeinen nicht auch aus der Theorie gewonnen werden kann. 2 4 1 Die Zurückweisung dieses Einwandes ist vermutlich eine Frage der Definition: Es soll angenommen werden, daß es ich um ein zukünftiges Wissen handelt, das nicht aus einer bereits bekannten Theorie gefolgert werden kann, das also neu ist z.B. in dem intuitiven Sinn, wie ihn Peter Kapitza und viele andere charakterisieren: „ I would like to define a ,new4 phenomenon that can neither be forseen nor explained on the basis of existing theoretical concepts.44 2 4 2 Diese Charakterisierung ist sicherlich mehrdeutig und vermutlich auch inadäquat. 243 Auch ohne eine adäquate Definition der Neuheit läßt sich diesem u.a. Helmer 1966). Neuere Arbeiten sowie eine ausführliche Bibliographie zu dieser Methode finden sich in dem Sammelband Linstone/Turoff (eds.) 1975. — Die Verfahren der Wissenschaftsprognostik sind häufig kritisiert worden. Diese Kritik reicht von Einwänden gegen die (statistischen) Verfahren zur Trendextrapolation bis zu grundsätzlichen methodischen Bedenken (zu letzteren z.B. Hübner 1971). 241 Die Einschränkung ist erforderlich, wenn nicht ausgeschlossen wird, daß eine Theorie ihre Akzeptanz oder Ablehnung zu prognostizieren vermag. Vgl. als Beispiel die von Rudolf Hilferding, Rosa Luxemburg und Nikolai Bucharin vertretene Auffassung, daß die „politische Ökonomie44 als Theorie (bzw. als Wissenschaft) mit der Ablösung der kapitalistischen Gesellschaftsformation ebenfalls zu bestehen aufhöre und durch eine ,Theorie4 abgelöst werde, die lediglich speziell auftretende technische4 Probleme zu lösen habe, z.B. Probleme der Wirtschaftsrechnung. Daß es sich dabei um eine erfolgreiche Prognose handelt, wird zumindest in einigen Analysen sozialistischer Wirtschaftssysteme nicht geteilt (vgl. etwa Brus 1966). Vgl. aber auch Bartley 1984, S.XIV: „[...] aus [...] Theorien selbst können wir keine Widerlegungen dieser Theorien ableiten oder vorhersagen (vorausgesetzt natürlich, sie sind konsistent).44 Allerdings muß „Ablehnung44 bzw. „Zurückweisung44 nicht gleichbedeutend mit „Widerlegung44 sein. - Vgl. in anderem Zusammenhang auch Anm.IV.93. 242 Kapitza 1962, S.4. Zur Diskussion derartiger Vorschläge vgl. auch Rodnyi 1969, vor allem S.178ss. Solche Bestimmungen sind keineswegs neu. Die älteste, die mir greifbar ist und die explizit im Zusammenhang mit der Entdeckungsproblematik steht, findet sich bei Hoppe 1870, S.25: „Somit ist es [...] wesentlich das Ableitbare, was das ,Finden4, und es ist das Nichtableitbare, was das ,Entdecken4 unbekannter Beziehungen kennzeichnet.44 Vergleichbar hiermit ist auch die Verwendung des Ausdrucks „Überraschung 44 bei Peirce etwa in Id. 1903, S.371 [CP 5.197] oder bei Wittgenstein 1921, S.74/75, wo es heißt: „Es ist möglich, [...], von vornherein eine Beschreibung aller ,wahren4 logischen Sätze zu geben.44 [6.125] „Darum kann es in der Logik auch nie Überraschungen geben.44 [6.1251 ] Als Grund führt er im weiteren allerdings an: „In der Logik sind Prozeß und Resultat äquivalent. (Darum keine Überraschung.)44 [6.1261]. 243 Vgl. die Entdeckung des Positrons, bei der es — folgt man der Untersuchung

4. Das Prognose-Argument

123

Hinweis aber entnehmen, daß der Kern des Prognose-Argumentes durch den zweiten Einwand nicht berührt wird. Der letzte Einwand ist von den drei prima facie naheliegenden Einwänden gegen das Prognose-Argument der interessanteste und komplexeste. Es ist mehrfach daraufhingewiesen worden, 2 4 4 daß es zu einer Vielzahl simultaner (synchroner), aber unabhängiger Entdeckungen in der Wissenschaftsgeschichte gekommen ist, sowie darauf, daß sich für viele Entdeckungen unabhängige Antizipationen finden lassen. 245 William Ogburn und Dorothy Thomas haben 1922 eine Liste von rund 150 Beispielen simultaner Entdeckungen erstellt. 246 Eine umfangreiche Liste, die allerdings lediglich im französischsprachigen Raum Resonanz gefunden hat, 2 4 7 ist bereits 1904 von F. Mentré veröffentlicht worden. 2 4 8 Diese Listen sind von späteren Autoren ergänzt und fortgeschrieben worden. Robert Merton hat schließlich durch eine Reihe von Argumenten die Behauptung zu stützen versucht: „all scientific discoveries are in principle multiples, including those that on the surface appear to be singletons." 2 4 9 Das Vorliegen simultaner Entdeckungen wird nicht nur konstatiert oder wie von Charles Darwin mit Verwunderung notiert, 2 5 0 sondern auch als HinHansons (Id. 1961/62 sowie Id. 1963, S.139, auch Moyer 1981, S.1121) - zwar eine Theorie gab, nämlich die Diracsche Elektronentheorie, aus der diese Entdeckung abgeleitet werden konnte, die jedoch bei der Entdeckung des Positrons keine Rolle gespielt hat. - Bei Hausmann 1975 wird die Nichtprognostizierbarkeit zum Kriterium der Neuheit, auch Id. 1979/80. Für Kekes 1966, S.299-301, sind „novelty" und „a priori unpredictability" (im Gegensatz zu „a posteriori unpredictability") Kriterien für Emergenz. Vgl. auch Koertge 1975, S.450-55. 244 Eine Liste von Vorläufern gibt Merton 1961, S.476. Diese Liste ist, obwohl sehr lang, unvollständig: Hier seien lediglich Goethe für den Anfang und Peirce für das Ende des vorigen Jahrhunderts, Flögel 1760, S. 11, für das 18. Jahrhundert genannt. 245 Zum letzteren vgl. z.B. Boring 1927 mit Beispielen aus der physiologischen Psychologie. 246 Vgl. Ogburn/Thomas 1922. - Zu synchronen Entdeckungen im medizinischen Bereich vgl. Stern 1927, S.l 11-17. 247 Vgl. Picard 1928, S.37^1. 248 Vgl. Mentré 1904. 249 Merton 1961, S.477 (vgl. auch Solla Price 1963, S.77ss. sowie Anm.II.270); zu Mertons Auffassung auch Id. 1957,1961b und 1963. 250 So stellt Darwin fest, ohne daraus Folgerungen zu ziehen, daß Goethe, Erasmus Darwin und Geoffrey Saint-Hilaire „zu dem gleichen Schluß in bezug auf die Artenentstehung kamen". Darwin fahrt fort (Id. 1872, S. 13) : „Das ist ein merkwürdiges Beispiel dafür, wie sich gleichartige Ansichten gleichzeitig bilden." Zusammen mit Alfred Wallace liefert Darwin selbst ein Beispiel für eine synchrone Entdeckung (vgl. hierzu u.a. Beddall 1968, Fichman 1981, Kleiner 1981); allerdings ist auch bei diesem Beispiel die hinreichende Übereinstimmung beider Entdeckungen ebenso umstritten (vgl. hierzu u.a. Kottier 1985) wie die Frage ihrer Unabhängigkeit, bzw. der Priorität Darwins hinsichtlich des Prinzips der Divergenz, das eine entscheidende Rolle bei der natürlichen Selektion spielt (vgl. Brackman 1980 und Brooks 1984, dagegen aber Schweber 1980 und Kohn 1981; jüngst dazu Kottier 1985 und Beddall 1988). Zu dieser synchro-

124

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

weis und Ausgangspunkt für eine Argumentation gegen die Zufälligkeit von Entdeckungen genutzt. Und Peter Urbach hat in der Tat diese Argumentation — wenn auch nicht ganz überzeugend — gegen Poppers „Theorie wissenschaftlicher Kreativität" gewendet. 251 Die in erster Linie gegen das Zufallsargument gerichtete Kernannahme des Arguments von der Simultanität von Entdeckungen (bzw. Erfindungen) läßt sich der folgenden Überlegung Norbert Wieners entnehmen: „ N u n ist der Vorgang des Erfindens sehr verwickelt und wird sogar von den Erfindern selbst oft nicht allzu klar verstanden. Sicher spielt ein gut Teil Glück dabei mit, aber er ist nicht völlig dem Zufall unterworfen. Die Erscheinung, daß eine Erfindung durch mehrere Erfinder ohne gegenseitige Beziehung gleichzeitig und in sehr verschiedenen Teilen der Welt gemacht wird, ist zu häufig, als daß man sie als bloßen Zufall ansehen könnte." 2 5 2 Das Simultanitäts-Argument wurde auf verschiedenen Wegen — insbesondere über eine Kritik der Wissenschaftsgeschichtsschreibung vom Carlyle-Typ 253 und vom Standpunkt der great-man theory of History 254 — benutzt, um den Blick auf Faktoren zu richten, von denen eine Beeinflussung der wissenschaftlichen Entwicklung vermutet wird. 2 5 5 Es handelt sich dabei um Faktoren, deren Einfluß nicht von vornherein als unbestimmbar und unprognostizierbar gilt. 2 5 6 nen Entdeckung heißt es bei Himmelfarb 1959, S.204/05: „It is apparent that it was not the coincidence of the discovery that is surprising, but rather the fact that the coincidence was so long delayed." Vgl. auch die Bemerkung bei McKinnery 1972, S. 155: „Wallace's discovery was not an example of mere chance or accident, but, quite the contrary, a matter of achieving a long-sought goal. The real wonder in this matter is not that Wallace discovered natural selection in 1858, but that he did not so much sooner." 251 Vgl. Urbach 1978b, S. 116/17. 252 Wiener 1952, S.47. 253 Zum Hintergrund vgl. die Geschichtsauffassung bei Carlyle 1841. 254 Spencer 1873, vor allem Kap.2 und 3. Spencer, der eine solche Auffassung ablehnt, wird in diesem Punkt bei James 1880 kritisiert (vgl. auch James 1890). - Bei Hook 1943, S.70-129, werden die Auffassungen Spencers, Engels' und Plechanows als „sozialer Determinismus" kritisiert. Vgl. auch die Erörterung der Auffassungen Carlyles und Plechanows bei Rotenstreich 1971. - Jacob Burckhardt führt als Kriterium der „historischen Größe" von Individuen ihre „Einzigartigkeit, Unersetzlichkeit" (Id. 1905, S.153) an. „Erfinder und Entdecker" sind nach Burckhardt „keine großen Männer", da man bei ihnen „das Gefühl" habe, „sie wären ersetzlich und Andere wären später auf dieselben Resultate gekommen" (S.155). Während die „historischen Wissenschaften" nicht mit „Größen" aufwarten können, sind in den Naturwissenschaften nach Burckhardt Kopernikus, Galilei und Kepler „groß", die aber auch „bereits in die Reihe der Philosophen treten" (S. 157). Ähnliche Entgegensetzungen finden sich bei Solla Price 1963, S.81, bei Gaston 1973, S.4. Vgl. dagegen Stent 1972. 255 Ein frühes Beispiel findet sich bei Monte 1900/01; dort werden auch die,großen Entdeckungen4 von Marx („The Materialist Conception of History", „The Law of Surplus Value" und „The Class Struggle") als Mehrfachentdeckungen gesehen. 256 Vgl. auch die Bemerkung bei Merton 1965, S.223, die allerdings in einem etwas anderen Zusammenhang steht.

4. Das Prognose-Argument

125

Wie auch immer das Simultanitäts-Argument gegen das Prognose-Argument im einzelnen ausgeführt werden mag, seine Schwierigkeiten beginnen bereits mit der Feststellung simultaner Entdeckungen. 257 Probleme ergeben sich bei der Feststellung der sachlichen Übereinstimmungen vermeintlich simultaner Entdeckungen, worauf Kuhn explizit 2 5 8 und Merton implizit durch die Beschreibung des Matthew-Effect 259 hinweisen. Welche Kriterien erlauben es festzustellen, daß etwas Bestimmtes gefunden worden ist? 260 Inwieweit muß hierzu der Entdeckende wissen, was er — aus heutiger Sicht gesehen — entdeckt hat und wieviel muß er über seine Entdeckung wissen, damit man sagen kann, daß er eine bestimmte Entdeckung gemacht hat? 261 Muß der Entdeckende seine Entdeckung akzeptieren oder kann er sie verworfen haben und dennoch als ihr Entdecker gelten? 262 Die genannten Fragen zielen auf das Problem, daß es im nachhinein leicht ist, Parallelentdeckungen zu behaupten bzw. zu konstruieren, daß es aber unklar ist, anhand welcher wissenschaftshistoriographischer Konzeption und anhand welcher Identitätskriterien derartige Behauptungen überprüfbar und diskutierbar sind. Keine geringeren Probleme wirft die Feststellung der Anti257 Vgl. auch die Bemerkung bei Bunan 1980, S.327: „Sometimes the very existence of such cases [of simultaneous discoveries] is thought to support the idea of a logic of discovery taken narrowly; recognition of the extremely contextual character o f problem structure provides a helpful antidote to this temptation." — Zur weiteren Diskussion von simultanen Entdeckungen und ihren Problemen vgl. Buchholz 1974, Musgrave 1976b, S.195, Constant 1978, Brannigan 1981, Lamb/Easton 1984, auch Simonton 1978 und 1979 (dazu Westrum et al. 1979 und Brannigan/Wannerl983). 258 Vgl. Kuhn 1962, Kap.6, S.79-95, Id. 1962b und 1959. Vgl. auch Elkana 1970 (auch Id. 1974b). 259 Vgl. Merton 1968. 260 Vgl. auch Elkana 1981, S. 11 Is. Ein Beispiel ist die Entdeckung des Positrons. Vor seiner Entdeckung durch C.D. Anderson 1932 ist - seit Nebelkammern mit einem Magnetfeld konstruiert wurden - immer wieder beobachtet worden, daß elektronenähnliche Spuren in die,falsche 4 Richtung gehen. Erklärt wurde dies damit, daß es sich um Elektronen handle, die in die entgegengesetze Richtungen gingen, und nicht dadurch, daß durch das Magnetfeld eine Ablenkung im umgeKehrten Sinn als bei Elektronen stattfindet (dazu u.a. Moyer 1981). - Zu einem weiteren Beispiel vgl. die Entdeckung des Uranus durch die Beobachtungen William Herschels bzw. durch Berechnungen Anders Johann Lexells. 261 Vgl. Kuhn 1962b, S.243, auch Jason 1979. - Ein Beispiel ist die Frage, wann wenn überhaupt - Faraday über ,den' Feld-Begriff verfügt hat. Wenn man die Forschung betrachtet - etwa Agassi 1971, Berkson 1974, Gooding 1980 und 1981, Williams 1964 - , dann können die Antworten kaum stärker divergieren; wenn man die Auseinandersetzungen betrachtet - z.B. Williams 1975 und 1978, Agassi 1978 - , dann wird deutlich, welche Rolle bei der Beantwortung einer solchen Frage die leitenden wissenschaftshistoriographischen Annahmen spielen. 262 Z.B. die Überlegungen Keplers zum Brechungsgesetz; vielleicht auch zu einer allgemeinen Gravitationstheorie im Vorwort zur Astronomia Nova (eine Deutung dieser immer wieder Interpretationen herausfordernden Überlegungen findet sich bei Goldbeck 1896, vgl. auch Elena 1983); oder Robert Boyle als Entdecker von „Boyle's Law", vgl. u.a. Webster 1965, Agassi 1977, Shapin 1988.

126

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

zipation von Entdeckungen auf 2 6 3 — das gilt nicht nur dann, wenn Wissenschaftler und Wissenschaftshistoriker von einer Art precursitis befallen zu sein scheinen. 264 W I . B . Beveridge hat dieses Phänomen in einen Phasenablauf gestellt und zu deuten versucht: „ I t has been said that the reception of an original contribution to knowledge may be divided into three phases: during the first it is ridiculed as not true, impossible or useless; during the second, people say there may be something in it but it would never be of any praticai use; and in the third and final phase, when the discovery has received general recognition, there are usually people who say that it is not original and has been anticipated by others." 2 6 5 Es gibt sicherlich eine Vielzahl von Motiven, die die Suche nach Vorläufern und Antizipationen beflügeln; 266 systematische Untersuchungen zur Vorläuferbeziehung sind bislang durchweg Desiderat. 267 Das Problem der Antizipation — teilweise gilt das auch für das Problem simultaner Entdeckungen — wird noch komplizierter, wenn es von dem Versuch der (methodologischen) Evaluation der an der Vorläuferbeziehung beteiligten Theorien überlagert wird. Ein hierfür einschlägiges und rege diskutiertes Beispiel ist der Vergleich von Lorentz' und Poincarés Relativitätstheorie mit der Einsteins. 268 263 Zu einer sehr scharfen Kritik an Konzeptionen der Vorläuferschaft vgl. Canguilhem 1966. 264 Ein einschlägiges Beispiel ist die Vorläuferermittlung zu Darwins Theorie, vgl. aus der kaum mehr zu überblickenden Literatur Osborn 1894, Thomson 1909, Zirkle 1941 und 1946, sowie die Untersuchungen in Glass (ed.) 1959; vgl. auch La Vergata 1985, S.911-13. - Schwierigkeiten bereitet aber auch ein auf den ersten Blick und für die gängige Wissenschaftsgeschichtsschreibung so unproblematisches Beispiel wie die ,Wiederentdeckung4 der Mendelschen Gesetze zu Beginn dieses Jahrhunderts, vgl. hierzu Olby 1979, Kottier 1979, Brannigan 1979, Brannigan/Wanner/White 1981 und Brannigan 1981, Kalmus 1983 sowie Meijer 1985, auch Heimans 1971, Stern/Stern 1978; zum ,Vergessen4 und ,Wiederentdecken4 wissenschaftlicher Ergebnisse vgl. Huxley 1986. 265 Beveridge 1950, S. 113. 266 So kann der Hinweis auf,Vorläufer 4 als Voraussetzung der Akzeptanz wissenschaftlicher Überlegungen gelten; als Beispiel vgl. Brush 1957, S.280, zu der Ignorierung der Überlegungen von John Herapath und J.J. Waterston zur kinetischen Gastheorie. - Eine andere Art der Vorläufersuche, bei der vermutlich politisch-strategische Motive dominieren, findet sich z.B. bei Philipp Lenards Hinweis auf die Arbeiten des frühverstorbenen Friedrich Hasenöhrl als Vorläufer für Einsteins Relativitätstheorie, bzw. für das, was Lenard an dieser Theorie akzeptabel erscheint (vgl. Id. 1930, S.318, auch schon Id. 1921, dazu bereits Laue 1922; zu Hasenöhrl vgl. Swenson 1979, S. 167-71; zum Hintergrund für diese Art der Vorläufersuche u.a. Beyerchen 1977, Kap.5, Richter 1980, sowie Kleinert/Schönbeck 1978 und Kleinert 1979). 267 Zu einem ersten Versuch vgl. Sandler 1979. 268 Vgl. die großzügige, aber auch hilflose Reaktion im Briefwechsel zwischen Born und Einstein auf Edmund Whittakers Zuschreibung der Relativitätstheorie an Poincaré und Lorentz (vgl. Whittaker 1953, S.27: „the Relativity Theory of Poincaré and Lorentz 44, sowie Einstein/Born/Born 1969, Brief 102, S.263ss, Brief 103, S.266s, und Brief 104, S.272ss, auch Borns Darstellung in Id. 1956 ist wenig überzeugend). Später sind hierzu eine Fülle ausführlicher wissenschaftshistorischer und wissenschaftstheo-

4. Das Prognose-Argument

127

Doch selbst dann, wenn die Fragen der Feststellung und Beurteilung von Antizipationen und simultanen Entdeckungen befriedigend geklärt sind und noch immer eine signifikante Zahl simultaner und antizipierter Entdeckungen verbleibt, stellt sich die Frage, ob hierfür Einflußfaktoren verantwortlich gemacht werden können, die auch eine Prognose unseres zukünftigen (tentativen) Wissens erlauben. Die bisherigen Antworten auf diese Frage sind wenig befriedigend. In der Regel finden sich lediglich Andeutungen über vermutete notwendige Bedingungen wie: ,Erst nachdem dies und jenes eingetreten war, war die Zeit reif für . . — wobei derartige Urteile ausnahmslos post festum gefällt werden. Oder es wird auf Einflüsse verwiesen wie „Zeitgeist", 2 6 9 „the superorganic" 270 oder „the relentless pressure of accumulating knowledge", 2 7 1 die sicher nicht diese Prognoseleistung zu erbringen vermögen. 272 Es besteht gegenwärtig keine Veranlassung, die Beschreibung dieser Schwierigkeit bei Ogburn und Thomas für überholt zu halten: „Our analysis and the list of multiple inventions indicates the great importance of the state of culture as a factor in the origin of inventions. While it is true that inventions are in large part culturally determined, this fact does not mean that we can at the present stage of our information predict a particular time. In some cases the probability of predicting an invention is strong as, for instance, in the case of the steamboat [...]. But in most cases we do not know fully enough the cultural situation determining the invention. To say that culture is a determining factor in inventions does not tell us what are the particular cultural elements and conditions." 2 7 3 Resümierend kann festgehalten werden: Der dritte Einwand ist zu schwach, um das Prognose-Argument — sofern es gegen die Möglichkeit eiretischer Untersuchungen erschienen, allerdings ohne durchgehend übereinstimmende Resultate, vgl. u.a. Holton 1960 und 1964, Scribner 1964, Keswani 1964/65 (dazu Dingle 1965/66), Goldberg 1967,1969 und 1970/71, Giannoni 1971, Schaffner 1969c, 1970 und 1976b, jüngst Giedymin 1982 und Nersessian 1986. 269 Vgl. Boring 1956, auch Id. 1950 und 1963. 270 Vgl. Kroeber 1917, vor allem S.196-208; bereits hier heißt es (S.199/200): „The whole history of inventions is one endless chain of parallel instances." - Nach Georg Friedrich Nicolai findet die „Gleichzeitigkeit der Erfindungen" darin eine Erklärung, daß die „gesamte Menschheit" ein „Organismus" sei (vgl. Id. 1919, S.496ss). 271 Ihde 1948, S.429. 272 Eine Erklärung hat auch Donald Campbell im Rahmen seiner Konzeption von „blind-variation-and-selectiven-etention" Prozessen als Grundlage für alle „genuine increases in knowledge" (Id. 1974, S.421) zu geben versucht (S.435): „ I f many scientists are trying variations on the same corpus of current scientific knowledge, and if their trials are being edited by the same stable external reality , then the selectea variants are apt to be similar, the same discovery encountered independently by numerous workers." - Zu weiteren Erklärungsversuchen vgl. u.a. Naville 1880, S. 114-17, Duhem 1906, S.345^8, Nash 1963, S.333^3, Lakatos 1971b, S.77/78 (dazu Urbach 1978b, S. 118/19), Gay 1978, Brannigan/Wanner 1983; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bestimmung der evolutionären Universalis bei Parsons 1964, S.491. 273 Ogburn/Thomas 1922, S.91.

128

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

ner wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion ausgespielt wird — zu erschüttern. Dieser Einwand bringt zwar das Zufalls-Argument in Bedrängnis, aber damit nicht mehr als ein mögliches Stützungsargument für das Prognose-Argument. Die Auswirkungen auf das Prognose-Argument selbst sind harmlos, da das Prognose- Argument das Zufalls-Argument nicht impliziert. Das Prognose-Argument verfehlt aus einem anderen Grund das gesteckte Ziel. U m diesen Grund deutlich zu machen, soll das Prognose-Argument wie folgt dargestellt werden. Es sei angenommen, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt t x die Prognose einer Entdeckung P Ebekannt ist: b ( P E , / j ) . Wenn es sich um eine erfolgreiche Prognose handelt, dann ist zu fordern, daß zu einem Zeitpunkt t- die Entdeckung E bekannt ist: b A l s o ist in diesem Fall zu fordern: (10)

IHPEA)

-

)/ = l-wahr

Es gilt aber auch:

(11)

/b(PE,/i)-

( £ , 0 / = l-wahr

Das Prognose-Argument läßt sich nun wie folgt formulieren: N i m m t man für das Vorliegen einer tatsächlichen Prognose an, daß

(12)

t { cfj

vorliegt, dann handelt es sich entweder nicht um eine Prognose, weil aufgrund von (11) in (10) t x = /jgilt, oder aber (10) ist widersprüchlich. Es gibt zwei kritische Aspekte des so formulierten Prognose-Arguments, auf die zu seiner Zurückweisung zurückgegriffen werden kann. Der erste Aspekt betrifft die Zusatzannahme, die erforderlich ist, um das PrognoseArgument gegen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion zu richten. Diese Zusatzannahme beruht auf einer Konfusion von Herstellen, Auffinden usw. auf der einen und Prognostizieren auf der anderen Seite. Angenommen, es läge ein vollständig mechanisiertes Regelsystem zur Auffindung bzw. Konstruktion von Theorien vor. Die Kenntnis der Regeln dieses Systems erlaubt noch keine Prognose über das Ergebnis ihrer Anwendung. Es ist zwar prognostizierbar, daß die Anwendung der Regeln zu einem bestimmten Ergebnis führt, doch muß die-

4. Das Prognose-Argument

129

ses Ergebnis dann bereits vorliegen und es wird lediglich prognostiziert, daß durch die Anwendung des Regelsystems dieses Ergebnis erzielt werden wird. Die Anwendung eines solchen Regelsystems ist genauso wenig eine Prognose wie das Aufstellen einer Prognose selbst. Der zweite Aspekt betrifft den Kern des Prognose-Arguments, wie er mit (10) bis (12) wiedergegeben ist. Die Darstellung der Prognoseleistung, die von P E erwartet wird, ist mit (10) nur unvollständig wiedergegeben. Eine vollständigere Wiedergabe könnte wie folgt aussehen, wobei e eine Beschreibung der zum Zeitpunkt t- erfolgten Entdeckung ist: (13)

/MiVi)^

(b(£,/j)A(3e) ( b ( ^ ) A (/b(e,t.)/ = 1-wahr) λ (nicht l b { E , t ) = 1-wahr))/ = 1-wahr

Dasselbe gilt hingegen nicht für (11). Dadurch aber kann (12) gelten, ohne daß es zu einem Widerspruch kommt. Die Reformulierung von (10) durch (13) kann unter anderem so gedeutet werden, daß bei der Prognose einer zukünftigen Entdeckung lediglich einige Züge dieser Entdeckung prognostiziert werden, die selbstverständlich bei der Prognose bekannt sind (d.h. es gilt (12)). Zugleich aber werden in Verbindung mit diesen Zügen weitere Züge prognostiziert, die zum Zeitpunkt der Prognose nicht bekannt sind, die aber im Zusammenhang mit den bekannten Zügen einer zukünftigen Entdeckung stehen. Man kann auch sagen, daß die bekannten Züge einer Entdeckung, die prognostiziert wird, lediglich Indikatoren der prognostizierten Entdeckung sind. Die eingetretene und beschriebene Entdeckung e ist identifiziert, wenn — neben anderen Anforderungen — gilt:

(14)

/b(^)-+

= 1-wahr

Ebenfalls eine lediglich notwendige Bedingung dafür, daß die Entdeckung eingetreten ist, die prognostiziert wurde, ist: (15)

nicht /b(£,/j)

b(e,/j)/ = 1-wahr

Diese Charakterisierung, die noch zu verfeinern wäre, wenn bestimmte kontraintuitive Gegenbeispiele ausgeschlossen werden sollen, reicht aus, um eine Parallele zu dem von Hanson für eine logic of scientific discovery aufgestellten Ziel zu ziehen. 274 274

Vgl. das Zitat auf S.23 von Kapitel I.

130

II. Rationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs

Eine Methodologie der Theoriekonstruktion ist danach nicht an der Auffindung einer bestimmten Theorie orientiert, sondern am Auffinden von Theorien, die bestimmte Merkmale aufweisen, d.h., sie ist orientiert an Theorien bestimmter Art. 275 Damit ist auch eine Lösung für das sog. Menon-Paradoxon bei Piaton gegeben. 276 In diesem Kapitel wurden vier Argumente gegen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion erörtert. Zwar hat keines dieser vier Argumente Erfolg, doch hat jedes von ihnen auf Aspekte der Struktur und des Aufbaus einer Methodologie der Theoriekonstruktion aufmerksam gemacht. Im folgenden Kapitel werden diese Aspekte im Rahmen allgemeiner Überlegungen zur logischen Struktur und zum Aufbau von Methodologien aufgenommen.

275 Vgl. auch Stenner 1964, vor allem S.417, Laszlo 1973. - Obwohl das Prognose-Argument sich bereits dann zurückweisen läßt, wenn mit einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion lediglich eine partielle Rationalisierung angestrebt wird, sollte hier gezeigt werden, daß die Vermeidung des Prognose-Arguments nicht zwingend eine Beschränkung auf die Partialität der Rationalisierung erforderlich macht. 276 Nach diesem Paradoxon wissen wir bei der Suche nach einer Problemlösung, wonach wir suchen oder wir wissen es nicht. Im ersten Fall gibt es kein Problem, im zweiten wird es keine Lösung geben. Aus der ersten Annahme folgt offensichtlich nicht zwingend, daß sich eine potentielle Lösung für ein Problem so vorab charakterisieren lassen muß, daß sie bereits bekannt ist (vgl. auch Bradie 1974, Simon 1976, Nickles 1980, S.37, Id. 1980b). Dieses Paradoxon scheint philosophisch nur selten sonderliches Interesse geweckt zu haben (vgl. etwa Bacon 1605, S.391, dazu auch Wolff 1910, S.8/9), und eine mit der hier gewählten Lösung vergleichbare Lösung wurde häufig wie selbstverständlich angenommen (vgl. z.B. Natorp 1887, S.258). Die Aufmerksamkeit hat dieses Paradoxon in der jüngeren Diskussion hauptsächlich durch Michael Polanyis Behauptung gefunden, die einzige Lösung bestehe in der Annahme eines bestimmten „impliziten Wissens", das Wissenschaftler bei der Suche von Problemlösungen besäßen (vgl. Id. 1966, S.28ss, auch Id. 1966b, S.97ss, Id. 1968; ein weiterer Lösungsvorschlag findet sich bei Blackwell 1981, S. 199/200). Ausführliche Erörterungen dieses vermeintlichen Paradoxons bieten Petrie 1981, der zu einer Lösung kommt, die mit der hier vertretenen vereinbar ist, sowie Welbourne 1986.

ΠΙ. Struktur und Arten von Methodologien sowie Formen ihrer Anwendung und Empfehlung Die beigefügte Arbeit soll eine Vorstellung von unserem Fortschritt bei der Simulierung menschlicher Problemlösungsprozesse durch Computer vermitteln [...] wir erreichten eine recht beachtliche Verbesserung der Problemlösungsleistung [...] in einem Fall stellte die Maschine einen eindrucksvoll einfachen Beweis anstelle eines viel komplizierteren in der Principia her [...] die Maschine braucht etwas weniger als fünf Minuten, um den Beweis zu finden. Es empfiehlt sich, die Schuljungen das nicht wissen zu lassen. Mich entzückt ihr Beispiel von der Überlegenheit Ihrer Maschine im Vergleich zu Whitehead und mir. Ich bin auch ganz einverstanden, daß man diese Tatsache vor Schuljungen verbergen sollte. Wie sollte man von ihnen erwarten, daß sie Rechnen lernen, wenn sie erfahren, daß Maschinen so etwas besser können! 1 Jam sumere licebit artem hoc praestantiorum esse 1) quo patentiores régulas completitur, i.e. quarum applicatio pluribus in occasionibus vtilis, immo necessaria est, quo completior ipsa est, regularum sufficientium breue tarnen compendium, 2) quo fortiores et grauiores régulas exhibet, i.e. quas nunquam sine malori detrimento negligas, 3) quo exactiores eas exponit et accuratiores, 4) quo magis prespicuas, 5) quo certiores et ex veris principiis, animabus regularum, deriuatas, 6) quo magis allicientes ad dirigendas ex suis praescriptis actiones et ipsam praxin, [...]. 2

1

Das erste Zitat stammt aus einem Brief Herbert A. Simons an Russell, der mit diesen Auslassungen und undatiert in Russell 1969, S. 171, abgedruckt ist. Die gekürzt zitierte Erwiderung Russells vom 21. September 1957 findet sich an gleicher Stelle. In diesem Brief bezieht sich Simon vermutlich auf den von ihm, Newell und Shaw entwickelten Logical Theorist.

Der Logical Theorist ist ein Vorläufer des General Problem Solver

(vgl. Anm.1.125). Zu diesem Briefwechsel vgl. auch Clark 1975, S.684. - Vgl. jüngst auch die Bemerkungen bei Michie/Johnston 1984, S.94-96, allerdings ohne auf den Russell-Simon-Briefwechsel anzuspielen. 2

Baumgarten 1750, §70, S.29/30.

132

III. Struktur und Arten von Methodologien

1. Struktur von Methodologien: Ziele, Konditionen und Mittel In diesem Kapitel wird zunächst die logische Struktur von Methodologien analysiert. Die Ausführlichkeit dieser Analyse wird durch zwei Absichten bestimmt: Zum einen die Absicht zu zeigen, daß eine Methodologie der Theoriekonstruktion die in den vorangegangenen Kapiteln formulierten Anforderungen zu erfüllen vermag — das geschieht in Kapitel III.2; zum anderen die Absicht, Aspekte des Aufbaus von Methodologien zu untersuchen — das geschieht in Kapitel IV. Der Analyse der Struktur von Methodologien sollen einige Vorbemerkungen vorausgehen. Lediglich erwähnen möchte ich die Diskussion, die sich mit definitorischen Fragen des Methoden- und Methodologiebegriffs beschäftigt. 3 Das, was im folgenden unter „Methodologie" verstanden wird, soll die Erörterung von Aspekten der Struktur und des Aufbaus von Methodologien deutlich machen. Methodologien gelten in der Regel als normativ, weisen mithin Normen, Imperative, Aufforderungssätze o.dgl. auf. 4 Für die weitere Erörterung wird die Frage nach Art und Grad ihrer normativen Verbindlichkeit ausgeklammert: ob sie Gebots-, Empfehlungs- oder Ratschlagscharakter besitzen — oder wie auch immer die Gradation der Verbindlichkeit von Methodologien aussehen mag. Die Art und der Grad der Verbindlichkeit könnte sich z.B. an der Stärke der Sanktionen bemessen, die für eine Verletzung ihrer Normen vorgesehen sind. 5 Da weder die Art oder der Grad der Verbindlichkeit einer normativen Methodologie noch die Sanktion irrationalen methodologischen Handelns, d.h. anerkannte methodologische Normen verletzendes Handeln, Gegenstand dieser Untersuchung ist, soll angenommen werden, daß normative Methodologien den geringsten Grad einer akzeptierten Skala von Verbindlichkeit beanspruchen oder zuerkannt erhalten. Wolfgang Stegmüller hat gegen die Wahl des Begriffs „methodische Regel" zu bedenken gegeben, daß von einer Regel nur dann zu sprechen sei, „wenn der dagegen Verstoßende einen Fehler begeht. Dies ist offenbar nicht der Fall" — so Stegmüller —, „wenn der eine ,methodische Regel' Verletzen3 Literaturhinweise zu dem fortwährenden Bemühen um eine angemessene Bestimmung des Begriffs der Methodologie, der wissenschaftlichen Methode, der methodischen Regel usw. finden sich u.a. bei Materna 1965, S.9-12, Parthey 1966, Apostol 1966, Bellmann/Laitko 1969, Heitsch 1971 und 1976, Lang 1973, Id./Wächter 1978. Zur Unterscheidung von „method" und „technique" vgl. Rudner 1966, S.4/5. 4 Über die terminologische Vielfalt und einige Kriterien zur Abgrenzung von „Aussagesätzen", „deklarativen Sätzen" usw. vgl. z.B. Segeth 1974, S.32—43. 5 Vgl. hierzu u.a. Black 1958b (dazu Moline 1959), Ganz 1971, zum Sanktionsbegriff Hart 1961, S.83/84, sowie Savigny 1976, S.24-27, und Id. 1983, § 5; zur Diskussion von Normbegriffen, insb. im Zusammenhang mit dem Sanktionsbegriff vgl. Eichner 1981 sowie Weinberger 1974.

1. Struktur von Methodologien: Ziele, Konditionen, Mittel

133

de trotzdem eine wichtige Entdeckung macht. Man sollte daher einfach von methodischen Empfehlungen reden. Solche werden in gewissen Fällen nützlich sein, in anderen nicht." 6 Nach der vorangegangenen Bemerkung zur Art und zum Grad der Verbindlichkeit normativer Methodologien ist gegen eine solche terminologische Empfehlung prinzipiell nichts einzuwenden. I m Hinblick auf zwei Aspekte sollten allerdings Stegmüllers Überlegungen überdacht werden. Erstens: Im Rahmen vermutlich jeder Methodologie wird es methodologische Regeln geben, deren Verletzung keineswegs ausschließt, den in ihr definierten Erfolg, d.h. die in ihr vorgegebenen Ziele, zu erreichen. Insofern ist Stegmüller zuzustimmen. In einer Methodologie kann es indes auch Regeln geben, die konstitutiven Charakter besitzen. Das sind Regeln, deren Befolgung notwendig ist, um Theorien im Rahmen einer Methodologie der Theorieevaluation bestimmte evaluative Prädikate verleihen zu können. Hierfür kann — wenn auch stark vereinfacht — Poppers methodologische Forderung nach strengen Tests als Beispiel dienen. 7 Die permanente Verletzung dieser Regel, z.B. indem — wie Popper Induktivisten zu unterstellen pflegt — bekannte Tests repetiert, nicht aber variiert werden, verhindert in seiner Methodologie die Zuschreibung eines bestimmten evaluativen Prädikats an die auf diese Weise getestete Theorie. 8 N u n ist es in Poppers Methodologie ausgeschlossen, daß die permanente Verletzung dieser methodischen Regel eine hochbewährte Theorie ermöglicht. Zwar kann es sich herausstellen, daß die so getestete Theorie sich bewähren läßt, doch setzt das nicht zuletzt die Befolgung genau der Regel voraus, die zuvor fortwährend verletzt worden ist. I n diesem Sinn ist die Verletzung dieser Regel im Rahmen von Poppers Methodologie in der Tat ein Fehler. Derartige konstitutive Regeln kann es auch in einer Methodologie der Theoriekonstruktion geben. Hier wären es genau die Regeln, die sichern, daß eine Methodologie der Theoriekonstruktion an eine vorgegebene Methodologie der Theorirevaluation anschließbar ist. 9 6 Stegmüller 1979d, S.23, auch Id. 1980b, S.170. In Id. 1983, S.241 und Id. 1986, S.355, spricht Stegmüller von „strategischen Maximen". 7 Vgl. u.a. Popper 1963c und 1963d, S.388ss. 8 Zur Diskussion vgl. Musgrave 1975, Grünbaum 1976, Howson 1977, Urbach 1981; fernerhin Franklin/Howson 1984 (dazu Collins 1984). 9 Hugh G. Petrie hat zwischen „constitutive rules" und „strategy rules" unterschieden, von denen die letzteren als die »günstigsten4 vor dem Hintergrund der ersteren gewählt werden (vgl. Id. 1968). - Dudley Shapere propagiert eine Wissenschaftstheorie, die zwar normativ sein, aber keine unverletzlichen Prinzipien aufweisen soll, d.h. Prinzipien, deren Aufgabe der Preisgabe der wissenschaftstheoretischen bzw. methodologischen Konzeption,..in der sie wesentlich vorkommen, entspricht (vgl. Shapere 1980, S.63). Shaperes Überlegungen sind an dieser Stelle ziemlich unklar und wohl auch nicht unproblematisch (vgl. Losee 1986). Die hier vertretene Position weicht davon wie folgt ab: Methodologien weisen in dem Sinn unverletzliche Prinzipien auÇ daß ihre Verletzung bzw. Aufgabe zur Preisgabe der betreffenden Methodologie führt

134

III. Struktur und Arten von Methodologien

Zweitens: Stegmüllers Auffassung ist auch dann zu modifizieren, wenn sie nicht auf eine bestimmte Methodologie bezogen wird und wenn man eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Zielsetzungen hegt, die Methodologien orientieren. Die eine Methodologie der Theorieevaluation orientierenden Zielsetzungen — Wahrheit, Problemlösungsvermögen von Theorien o.dgl. — können als Explikate eines recht vagen und unter Umständen gerade deshalb auf breitem Konsens beruhenden Ziels aufgefaßt werden. Hält man die Beziehung zwischen den expliziten Zielsetzungen einer Methodologie der Theorieevaluation und dem Explikandum nicht für definitorisch oder die Argumente für die Adäquatheit der Explikation für anzweifelbar, dann ist nicht einzusehen, weshalb die Verletzung der Regeln einer Methodologie ein Fehler sein muß, wenn sich der Erfolg in Begriffen des vagen Explikandums dennoch einstellt. Es gibt indes noch eine andere Perspektive als die Entwicklung der Wissenschaft und ihre Ergebnisse, aus der in einer bestimmten Situation dennoch von einem Fehler gesprochen werden kann. Diese Perspektive rückt die Funktion in den Blick, die Methodologien bei der Definition der sozialen Rolle des Wissenschaftlers besitzen können. Danach ist es möglich, daß die Verletzung der Regeln einer Methodologie, die in der relevanten sozialen Bezugsgruppe Anerkennung genießt und der Bestimmung des Autostereotyps der Wissenschaftlerrolle dient, einen sozialen Fehler darstellt. A u f Situationen, in denen die Gefahr derartiger Fehler wahrgenommen werden, verweisen Fälle, in denen Wissenschaftler Sanktionen der relevanten Bezugsgruppe antizipierend methodologische Camouflage betreiben, um die Aussichten für die Akzeptanz ihrer Ergebnisse zu verbessern oder um die Anerkennung ihrer Wissenschaftlerrolle nicht einzubüßen. 10 Neben Fragen nach der Art und dem Grad der Verbindlichkeit von Methodologien werden auch Probleme ausgeklammert, die sich aus der Wahl einer Normenlogik, einer Aufforderungslogik, einer deontischen Logik o.dgl. für die Analyse der Struktur von Methodologien ergeben können. Bei der folgenden Untersuchung wird auf einen solchen logischen Apparat im wesentlichen aus zwei Gründen verzichtet. Der erste Grund besteht darin, daß die entsprechenden Logiken durchweg nicht frei sind von bestimmten kontraintuitiven Konsequenzen (,Paradoxien'), die als inakzeptabel angesehen wer(zur Preisgabe von Methodologien vgl. weiter unten in diesem Kapitel). Soll die Preisgabe einer Methodologie, rational 4 erfolgen, dann bedarf es eines entsprechenden Meta-Kriteriums der Rationalität'. Meta-Kriterien der Rationalität können ebenfalls unverletzliche Prinzipien aufweisen. Es wird allerdings nicht angenommen, daß in der Hierarchie von Meta-Kriterien das zu einem bestimmten Zeitpunkt höchstrangige Meta-Kriterium unverletzliche Prinzipien aufweist oder aber aufweisen muß. D.h., es wird die Möglichkeit von vornherein offengehalten (vgl. Kapitel VI), daß die Frage, ob ein gegebenes Meta-Kriterium selbst rational ist, nicht wiederum mit einem nationalen' Meta-Kriterium beantwortet werden muß, sondern anhand von Kriterien oder Erklärungen, die keine Rationalitätskriterien sind. 10 So unter Umständen bei Darwin, vgl. Anm.II.67.

1. Struktur von Methodologien: Ziele, Konditionen, Mittel

135

den. 11 Der zweite Grund besteht darin, daß für die Aspekte der Struktur von Methodologien, auf die sich die folgende Untersuchung konzentriert, ein entsprechender logischer Apparat entbehrlich ist. Die Aspekte der logischen Struktur von Methodologien, die im Vordergrund stehen sollen, betreffen in erster Linie die fundierenden Annahmen und nur in zweiter Linie die — wenn man so will - Oberflächenstruktur von Methodologien. Diese Unterscheidung führt zur Frage nach der Adäquatheit von (bedingten) Aufforderungen z.B. der folgenden schematischen Form 1 2 :

(1)

( Π TS (!wj £ z } ))

Bei einer Aufforderung der Form (1) soll für \mx so etwas stehen wie: „Wende das Mittel m- an!". Als Resultat dieser Ausführung liegt dann die Realisierung des Mittels vor, also m{. Das Ziel, das durch die Ausführung von \mx erreicht werden soll, ist ζ·. Π bezeichnet die Applikationsbedingungen für die Ausführung von \mx und gegebenenfalls für die Erreichung von ζ·. ^ und ^ sind hier nicht weiter charakterisierte Verknüpfungen einer Aufforderungslogik. Unterschieden werden soll zunächst zwischen Anwendbarkeitsbedingungen und Applikationsbedingungen. Anwendbarkeitsbedingungen sind solche Bedingungen, die jede Regel (o.dgl.) einer bestimmten Methodologie voraussetzt oder erfüllen muß; diese Bedingungen werden im weiteren zumeist ignoriert. Applikationsbedingungen sind demgegenüber solche Bedingungen, die nicht von allen Regeln einer bestimmten Methodologie vorausgesetzt oder erfüllt werden müssen und die daher in den Regeln explizite Erwähnung finden sollten. Bei Aufforderungen der Form (1) ist es möglich, daß /Π/ = 1-wahr ist. Die Aufforderung ist dann bedingungslos, aber allein hinsichtlich der Applikationsbedingungen, nicht hinsichtlich der Anwendbarkeitsbedingungen. Die Adäquatheit von Aufforderungen der Form (1) besteht darin, daß die Basisannahme einer solchen Aufforderung, nämlich

(2)

(Π->

(m{

- *

Zj))

11 Zu diesem Argument Bunge 1973c, S.64. — Ein kritischer Überblick über eine Reihe von Normenlogiken findet sich bei Kalinowski 1971, Iwin 1972 und 1975; auf neuere Probleme einer ,deontischen Logik4 weist auch Stegmüller 1975, S. 156-75, hin. Zu einer Reihe von ,Päradoxien' auch Van Fraassen 1973 (dazu Beatty 1973). 12

Zur Bestimmung der Adäquatheit einer bedingten Aufforderung Segeth 1967, S.793, Id. 1974, S.50ss, ebenso Bauer et al. 1968, S.228 (Segeth gehört zu den Mitarbeitern an diesem Buch). - Die Auffassung von Normen oder Aufforderungen als eine Art Mittel-Ziel-Beziehung findet sich auch in der soziologischen und psychologischen Literatur erörtert, vgl. als ein Beispiel Secord/Backman 1964, S.463.

136

III. Struktur und Arten von Methodologien

empirisch oder logisch (definitorisch) wahr ist. Dabei ist von vornherein auszuschließen, daß / ( Π λ m^/ = 1-falsch ist. Die Festlegung, daß eine Aufforderung der Form (1) adäquat ist, wenn eine Basisannahme der Form (2) empirisch wahr ist, stellt in der Regel eine zu starke Forderung dar. Sie läßt sich abschwächen, indem gefordert wird, daß die (1) zugeordnete fundierende Basisannahme nach Evaluation gemäß den Kriterien eines gewählten Bewertungsmaßstabes Präferenz gegenüber konkurrierenden Annahmen erfährt. Inwieweit eine Methodologie auf empirische oder quasi-empirische fundierende Basisannahmen zurückgreift, wird im Zusammenhang mit Aspekten der Geltungssicherung und damit des Aufbaus von Methodologien in Kapitel IV erörtert. Bei der Verbindung von (1) mit (2) kann ein Problem auftreten, das sich anhand eines ähnlichen Vorschlages von Bunge diskutieren läßt. 13 Bunge führt als Analogon zu (1) ein: (3)

Zj per m i

Die Regel der Form (3) kann gelesen werden als: „ U m z- zu erreichen, tue m j " Das Analogon (3) zu (1) läßt sich nach Bunge mit Hilfe einer metasprachlichen Regel aus einem Analogon zu (2) (4)

mi -> Zj

gewinnen. 14 Aus (4) wird nach Bunge nun aber nicht nur (3) gewonnen, sondern auch: (5)

—t Zj per - . m-

Gegen die Gewinnung von (5) aus (4) formuliert Wolfgang Segeth Bedenken. 15 Aufgrund seiner Überlegungen kommt Segeth zu dem Vorschlag, anstelle von (4) (6)

m. fa «- zj)

(7)

Ein Zurückgreifen auf (7) anstelle von (2) erscheint nicht als erforderlich, da im Zusammenhang mit der Erörterung der Struktur von Methodologien die Gewinnung von (5) neben (3) aus (4) weder plausibel noch erwünscht ist. Die Auffassung, daß sowohl (3) als auch (5) aus (4) gewonnen werden können, scheint sprachlich naheliegend zu sein, da die wortsprachliche Formulierung von (3) — „ U m z-zu erreichen, tue m·}" — ebenso wie die wortsprachliche Formulierung von (5) - „ U m z- zu vermeiden, tue mi nicht!" - als Formulierung einer hinreichenden Bedingung für das Vorliegen oder NichtVorliegen von Zj erscheinen. Tatsächlich jedoch liegt im zweiten Fall lediglich die Angabe einer notwendigen Bedingung vor; erst mit Hilfe zusätzlicher Annahmen wird aus (5) die Angabe einer hinreichenden Bedingung. Eine solche zusätzliche Annahme ist in der Bemerkung Bunges versteckt, 16 nach der er bei dem gewählten Beispiel, das die hier erörterte Beziehung veranschaulichen soll, davon ausgeht, daß bei der Erreichung des angestrebten Ziels nur zwei Variablen vorliegen: die Zielvariable und eine zu beeinflussende Mittelvariable. M i t Hilfe dieser zusätzlichen Annahme kann der Übergang von (4) zu den Regeln (3) und (5) in der Tat vollzogen werden. Das Problem besteht allerdings darin, daß diese zusätzliche Annahme für die Fundierung von (3) und (5) wertlos ist, wenn sie willkürlich gemacht wird, und sie zeigt, daß (4) allein nicht (3) und (5) fundiert, wenn sie empirisch begründet sein soll. Das Problem entsteht mithin zum einen dadurch, daß mit „per" nicht zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen unterschieden werden kann, wenn nicht die fundierenden Basisannahmen bekannt sind, zum anderen besteht es aber auch darin, daß die Basisannahme (4) nach Bunge nicht die folgende Aufforderung zu gewinnen erlaubt: (8)

per —«Zj

Die Forderung nach der Gewinnung von (8) aus (4) ist auf den ersten Blick unplausibel, da ihr eine Vertauschung von Mittel und Ziel zugrunde zu liegen scheint. Hinsichtlich umfangreicher und komplexer Regelsysteme — wie es Methodologien im allgemeinen sein dürften — ist die Forderung jedoch nicht unplausibel, und zwar aus zwei Gründen. 16

Vgl. Bunge 1967, S.64.

138

III. Struktur und Arten von Methodologien

Erstens kann für eine Methodologie diese Forderung berechtigt sein, wenn in einer bestimmten Situation, die in den Applikationsbedingungen festgehalten ist, die Verhinderung eines Teilziels die Anwendung eines Mittels verhindert, so daß in dieser Situation ein anderes Teilziel erreicht werden kann. Der mit der Forderung nach (8) auftretende Eindruck einer Ziel-Mittel-Vertauschung ist vor dem Hintergrund von zwei Arten der Ziel- und Mittelfestlegung zu sehen. Die erste Art, die bei der Unplausibilität der Gewinnung von (8) aus (4) implizit angenommen wird, ist regelbezogen. Im Hinblick auf diese Art der Festlegung liegt mit der Forderung nach (8) eine Ziel-Mittel-Vertauschung vor. Die zweite Art der M i t t e l - und Zielfestlegung erfolgt methodologiebezogen. Der Kontext, durch den Mittel und Ziel festgelegt werden, besteht nicht mehr in einer einzelnen Regel, sondern in der gesamten Methodologie. In einer Methodologie, in der (8) Bestandteil eines mehr oder weniger eng verknüpften Systems von Regeln ist, kann (8) akzeptabel sein. Zweitens braucht es in einer Methodologie nicht nur Mittel und Ziele zu geben, sondern es können auch Konditionen vorliegen, die methodologiebezogen weder Mittel noch Ziele sind. Ersetzt man m und ζ durch k — das heißt wortsprachlich: „ U m die Kondition ^ z u realisieren, realisiere die Kondition fcj!" bzw.: „ U m die Realisierung der Kondition A^zu verhindern, verhindere die Realisierung von k f " —, dann wird ebenfalls der Eindruck einer nicht akzeptablen Ziel-Mittel-Vertauschung vermieden. Beide Gründe werden durch die Erörterung einiger Aspekte der Struktur von Methodologien anschaulicher. Für die Untersuchung der Struktur einer Methodologie können drei Bestandteile unterschieden werden: (I) Zielbeschreibungen, (II) Konditionen, (III) Mittelangaben. M i t der Beschränkung auf diese drei Bestandteile von Methodologien werden weitere nicht ausgeschlossen. (I) Eine Methodologie besteht aus einer Zielbeschreibung Z , die in der Regel in eine Menge von Teilzielbeschreibungen Ζ = (ζ,, ... , z n ) zerlegt vorliegt oder zerlegbar ist. Als notwendige Bedingung dafür, daß eine Zielbeschreibung Zj eine Teilzielbeschreibung von Ζ ist und damit (z,, ... , z n ) angehört, kann die folgende Forderung gelten, wobei Ζ konsistent und für zausgeschlossen sein soll:

(9)

/Z

Zj/ = 1-wahr

Eine formal korrekte und intuitiv befriedigende Bestimmung, die sowohl hinreichende als auch notwendige Bedingungen für das Vorliegen einer Teilzielbeschreibung Zj für Ζ angibt, ist kompliziert und ihr Erfolg keineswegs gewiß, wie sich aus wissenschaftstheoretischen Bemühungen um vergleichbare Bestimmungsversuche ablesen läßt. Eine befriedigende Bestimmung stellt (9)

1. Struktur von Methodologien: Ziele, Konditionen, Mittel

139

schon deshalb nicht dar, weil mit (9) nicht ausgeschlossen wird, daß der folgende Satz gilt:

(10)

Wenn / Z zj = 1-wahr und z- e ( ζ , , . . . , z n ), dann gibt es ein zi9 so daß / Z zj = 1-wahr ist, aber nicht z{ e (ζ,, . . . , z n ) gilt.

Die Erfüllbarkeit von (10) kann leicht gezeigt werden, indem man annimmt, daß Zj definiert ist als 00

νζπ+ι

Danach kann jede beliebige Zielbeschreibung z n + 1 in jeder Menge von Teilzielbeschreibungen auftauchen, wenn auch nur als definierender Bestandteil einer Teilzielbeschreibung, die eine tatsächliche Teilzielbeschreibung z j5 also eine Teilzielbeschreibung aus ( z 1 , . . . , z n ) aufweist. Da die Teilzielbeschreibung z n + 1 — nahezu 17 — beliebig gewählt werden kann, kann sie nicht zu der Menge intendierter Teilzielbeschreibungen gehören. Wissenschaftstheoretische Diskussionen vergleichbarer Probleme — wenn auch im Zusammenhang mit anderen Fragestellungen — stützen die Vermutung, daß eine Reihe von Vorschlägen zur Behebung dieser Inadäquatheit — so etwa der Vorschlag, auf Teilzielbeschreibungen zurückzugreifen, die ,einfach' sind — selbst nicht frei von Inadäquatheiten sein wird. Da eine formal befriedigende Lösung des Problems der Bestimmung von Teilzielbeschreibungen für die weiteren Überlegungen nicht vorausgesetzt wird, genügt die Annahme, daß die Menge der intendierten Teilzielbeschreibungen für ein Ziel Ζ im konkreten Fall vollständig angegeben vorliegt oder daß ein einigermaßen praktikables (intuitives) Identifikationskriterium für die Zugehörigkeit einer Teilzielbeschreibung zu der Menge der intendierten Teilzielbeschreibungen zur Verfügung steht. (II) Eine Methodologie kann weiterhin aus einer Menge von Konditionen K = {k v ... , k m) bestehen. Als ein Element von Κ (in bezug auf Z) soll k h (zunächst) wie folgt bestimmt sein:

(12)

17

Es gibt ein z j5 das eine Teilzielbeschreibung von Ζ ist, so daß (zj k h) oder (ν λ k h z·) gilt, wobei ν g ( Ζ U Κ U Μ ) ist.

Einschränkungen liegen nur insoweit vor, als die Vereinbarkeit von zi und z n + , gefordert wird.

140

III. Struktur und Arten von Methodologien

M i t M ist in ( 12) die Menge der Mittel (in bezug auf A^und Z) einer Methodologie, die unter (III) näher erläutert wird, gemeint. Nach (12) soll es möglich sein, daß ν = k h ist. Weder muß für jede Teilzielbeschreibung von Ζ eine Kondition aus ( & , , . . . , k m) vorliegen, noch muß für eine Kondition aus ..., k m) nur eine Teilzielbeschreibung aus ( z , , . . . , z n ) gegeben sein. Im Anschluß an die Charakterisierung der Beziehung von Ζ und Κ durch (12) lassen sich Begriffe einführen, die für Κ , für £ h oder für zwei Mengen von Konditionen K x und K 2 die Beziehungen zu einem vorgegebenen Ζ zu beschreiben erlauben; solche Begriffe sind z.B. „vollständig im Hinblick auf Z " , „redundant im Hinblick auf Z " oder „ i m Hinblick auf Ζ gleichwertig mit". Da bei der weiteren Erörterung der logischen Struktur und des Aufbaus von Methodologien diese Begriffe nur am Rande eine Rolle spielen, soll ihre explizite Einführung hier unterbleiben und stattdessen auf die parallelen Bestimmungen für M unter (III) verwiesen werden. Entscheidend ist, daß die Zielbeschreibung Ζ einer Methodologie die gegebenenfalls vorgesehene Konditionenmenge Κ immer logisch unterdeterminiert, d.h. daß Ζ mit unterschiedlichen, aber zulässigen Konditionenmengen logisch vereinbar ist, und daß Ζ nicht nur eine einzige Konditionenmenge festlegt. 18 Diese Konditionenmengen können unvereinbar sein, insbesondere dann, wenn neben logischen (definitorischen) auch empirische oder quasiempirische Verknüpfungen zugelassen werden. Gegebenfalls lassen sich die vorliegenden Konditionenmengen im Hinblick auf Ζ ordnen. Aus (9) und (12) geht nicht hervor, worin der Unterschied zwischen einer Kondition k h der Menge {k v ... , k m) und einer Teilzielbeschreibung z-} aus (zj, ... , z n ) besteht, denn (12) wird — allein genommen — auch von jeder Teilzielbeschreibung erfüllt. Der Unterschied zwischen Konditionen und Teilzielen besteht darin, daß jene in einer Methodologie nicht als zu erreichende Ziele bewertet bzw. festgelegt werden. Zwischen einer Kondition und einem Teilziel braucht in einer Methodologie kein formal feststellbarer Unterschied zu bestehen. Es bedarf der gesonderten Kennzeichnung innerhalb oder außerhalb der Methodologie. Die Unterscheidung zwischen Teilzielen und Konditionen läßt sich bei einer vorliegenden Methodologie unterschiedlich vornehmen, ohne daß ihre Struktur hinsichtlich der Beziehung zwischen Teilzielen und Konditionen eine Änderung erfährt. Allerdings erhält man bei unterschiedlichen Bewertungen unterschiedliche Methodologien. Die Unterscheidung zwischen Teilzielen und Konditionen führt auch zu einem Unterschied zwischen der Preisgabe einer Kondition und der Preisgabe eines Teilziels: Dieses bedeutet die Preisgabe der Methodologie (einschließlich ihrer Deutung der Teilziel-Konditionen-Verteilung), jenes ihre Korrektur 18 Theoretisch denkbar, praktisch aber ausgeschlossen ist bereits der Fall, daß jK —> Z/ = 1-wahr und jZ -> Kj = 1-wahr gilt. Vgl. Krüger 1979, Mittelstraß 1984b, S. 131, Laudan 1984b, S.35.

1. Struktur von Methodologien: Ziele, Konditionen, Mittel

141

oder Modifikation. Die Korrektur einer Methodologie liegt dann vor, wenn zu einer mit der ursprünglichen Konditionenmenge unvereinbaren Konditionenmenge übergegangen wird; ihre Modifikation liegt dann vor, wenn zu einer von der ursprünglichen Konditionenmenge unterschiedlichen, aber mit ihr vereinbaren Konditionenmenge übergegangen wird. 1 9 Die Bestimmung (12) des Vorliegens einer Kondition für eine Teilzielbeschreibung aus Z, bzw. einer Konditionenmenge für Z, weist nicht nur die gleiche Schwierigkeit auf, die bei der Bestimmung der Teilzielbeschreibung aus Ζ auftritt, sondern darüber hinaus noch eine weitere. Bei der Bestimmung (12) läßt sich im Fall der Bedingung (zk h) nicht nur wie bei (9), der Bestimmung der Teilzielbeschreibung, argumentieren, sondern es versagt hier zudem die Lösung, die sich bei der Bestimmung der Teilzielbeschreibung von Ζ noch angeboten hat. Die Übertragung der Lösung für Ζ auf die Bestimmung einer Kondition würde die gerade eingeführte Unterscheidung zwischen der Preisgabe einer Methodologie durch die Preisgabe von Teilzielen und der Korrektur oder Modifikation einer Methodologie durch die Preisgabe von Konditionen zunichte machen. Die zusätzliche Schwierigkeit tritt bei der Bedingung (ν λ k h z·) als Möglichkeit der willkürlichen Verstärkung des Konjunktionsgliedes auf 2 0 : (13)

Wenn /(k h z·)/ = 1-wahr und k h e (k l9..., fc m), dann gibt es ein k x, so daß j{k x -> z·)/ = 1-wahr ist, aber nicht k {e(k l9... ,k m) gilt.

Die Erfüllbarkeit von ( 13) ist leicht ersichtlich, wenn man als k h beispielsweise annimmt: 19 Vgl. dagegen Popper 1934, S.26: ,^Wir werden [...] - ähnlich, wie wir das Schachspiel durch seine Regeln definieren würden - auch die Erfahrungswissenschaft durch methodologische Regeln definieren." Nach dieser Bestimmung bedeutet jede Modifikation oder Korrektur an einer Methodologie zugleich ihre Aufgabe. Die zitierte Stelle hat Carnap in seiner Rezension zum Anlaß für die Vermutung genommen, daß nach Popper methodologische Regeln „analytisch" seien, vgl. Carnap 1935b, S.293. Carnap selbst hat zumindest in Id. 1936, S.19, deutlich gemacht, daß für ihn methodologische Regeln „realwissenschaftliche Darstellungen" sind; so heißt es im Zusammenhang mit der Frage nach der Bewährung eines Satzes: „Die Schilderung dieses Verfahrens ist keine logische, sondern eine realwissenschaftliche (psychologisch-soziologische) Darstellung. (Man mag sie auch methodologisch nennen, besonders wenn sie in der Form von Vorschlägen oder Regeln auftritt.)." Diese Sicht steht der Neuraths zumindest zu diesem Zeitpunkt recht nahe (vgl. z.B. Neurath 1936). Das scheint Dirk Koppelbergs (1987, S.54 und Anm.100, S.320/21) gegen Rainer Hegselmann (Id. 1985) vertretene These zu schwächen, daß der entscheidende Unterschied zwischen Carnaps und Neuraths Auffassung - dessen Vorläuferschaft zu einer naturalisierten Erkenntnistheorie Koppelberg hervorhebt (S.22/23) - Neuraths „Naturalismus" sei. 20 Der Übersichtlichkeit halber formuliere und diskutiere ich das Problem der willkürlichen Verstärkung von k h nur für den Fall von ν = k h.

142 (14)

III. Struktur und Arten von Methodologien

khAkm+l

Dabei soll (14) nicht 1-falsch sein. (13) zeigt, daß keine Kondition, die mit einer tatsächlichen Kondition aus einer der zulässigen Konditionenmengen für Ζ vereinbar ist, durch (12) als Kondition für Ζ ausgeschlossen wird. Damit ist die Bestimmung der Konditionen für Ζ auch in dieser Hinsicht (intuitiv) inadäquat. Für beide Schwierigkeiten der Bestimmung von A^läßt sich ein Lösungsweg angeben, der Aussicht auf Erfolg besitzt. Die erste Schwierigkeit ist analog der Schwierigkeit, die (10) und (11) für die Bestimmung der Teilzielbeschreibung darstellen. Sie kann z.B. mit Hilfe der Idee der Isoliertheit 21 einer Kondition in einer Methodologie bzw. in einer Konditionenmenge für Ζ ausgeräumt werden. 22 Dieser Begriff soll wie folgt bestimmt sein: Eine Kondition k ist in einer Methodologie isoliert genau dann, wenn es unter den Applikationsteilen der Aufforderungen (bzw. Annahmen) der Form (1) (bzw. (2)) dieser Methodologie keinen Applikationsteil gibt, in dem k als Bedingungskomponente vorkommt. Dieser Schritt zur Lösung der ersten Schwierigkeit führt zur zweiten Schwierigkeit. Selbst wenn es gelingt, k als isoliert zu identifizieren, so ist nach der zweiten Schwierigkeit die Möglichkeit gegeben, k aus der Isoliertheit zu befreien, indem Applikationsteile von Regeln der Methodologie, in der k auftritt, durch k verstärkt werden. Solange eine derartige willkürliche Verstärkung nicht ausgeschlossen werden kann, läßt sich die Feststellung der Isoliertheit einer Kondition und der sich anschließende Ausschluß dieser Kondition immer unterlaufen — und damit der Versuch zur Behebung der ersten Schwierigkeit. Der nächste Schritt des Lösungsweges soll dieses Problem beseitigen. Dieser Schritt ist wie folgt aufgespalten: Für den Fall, daß /(k { a k h z·)/ = 1-wahr ist und k x in dem Sinn überflüssig ist, daß l(k h Zj)/ = 1-wahr gilt, kann der Vorschlag Keith Lehrers zur Bestimmung überflüssiger Prämissen Anwendung finden. 23 Für den Fall, 21 Neurath hat versucht, die Idee der „Isoliertheit von Aussagen" zu nutzen, um ein Kriterium zur Ausgrenzung „metaphysischer Aussagen" (in einer „Enzyklopädie") als sinnlos zu gewinnen. Er hat allerdings kein derartiges Signifikanzkriterium zu präzisieren versucht (vgl. Neurath 1936; der Ausdruck „Isoliertheit" stammt in diesem Zusammenhang von Karl Reach, vgl. Neurath 1935b, S.17, auch Id. 1938, S.484). 22 Das ist nicht die einzige Variante, um die erste Schwierigkeit zu vermeiden. Eine andere besteht darin, durch die Wahl einer Handlungslogik diese Möglichkeit auszuschließen, vgl. z.B. Wright 1980, S.32/33. 23 Vgl. Lehrer 1973. Es gibt eine Reihe von Versuchen, Relevanzkriterien im Rahmen der klassischen Logik zu formulieren, die überflüssige Prämissen oder triviale Bestandteile von Konklusionen zu vermeiden versuchen. Vgl. z.B. Gärdenfors 1976, oder Körners Kriterium, vgl. Id. 1955, S.63, und Id. 1979 (dazu vor allem Cleave 1973/74, kritisch Briskman 1974/75, jüngst Schurz 1983).

1. Struktur von Methodologien: Ziele, Konditionen, Mittel

143

daß zwischen k [ 9 k h und z- nicht wie im ersten Fall eine logische, sondern eine empirische Beziehung vorliegt, wäre auf ein Konzept der Optimierung von Methodologien zurückzugreifen. Die Idee, die diesem Vorschlag im Fall empirischer Beziehungen zugrunde liegt, geht davon aus, daß eine Verstärkung — wie sie in (13) und (14) gegeben ist — zugleich eine Erhöhung des Aufwandes zur Realisierung des entsprechend verstärkten Applikationsteils einer oder mehrerer Regeln der betreffenden Methodologie darstellt. Von den Kriterien der gewählten Konzeption der Optimierung einer Methodologie hängt es ab, wann ein erhöhter Aufwand vorliegt, der sich in dem Ausschluß einer Kondition niederschlagen kann. Die gewählte Konzeption der Optimierung, die gegenüber alternativen Optimierungskonzeptionen den Vorzug erhält, entscheidet demnach darüber, was als willkürliche Verstärkung in einer Methodologie anzusehen ist, und im Fall des Vorliegens empirischer Beziehungen zwischen k i 9 & h und z-, welche Konditionen tatsächlich zu einer zulässigen Konditionenmenge im Hinblick auf Ζ gehören. 24 Welcher Konzeption der Optimierung von Methodologien man auch den Vorzug geben mag, für sie ist in jedem Fall die Festlegung der Ziele entscheidend, die durch die zu optimierende Methodologie zu erreichen sind. Aus diesem Grund kann bei der Lösung der Schwierigkeit, die bei der Bestimmung der Teilzielbeschreibung auftritt, nicht auf die Idee der Optimierung von Methodologien zurückgegriffen werden. Für eine einzelne Kondition aus ( / : , , . . . , k m) kann nach der Bestimmung (12) gelten, daß sie hinreichend für die Erreichung eines einzelnen Teilziels aus (z,, ... , z n ) ist. Aber wohl nur theoretisch vorstellbar ist eine Methodologie, bei der zumindest für eine ihrer zulässigen Konditionenmenge gilt: (15)

K->

Ζ

Methodologien, bei denen (15) vorliegt, können nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Es besteht auch kein Grund, der einen solchen Ausschluß im Hinblick auf eine Methodologie der Theoriekonstruktion erforderlich macht, da durch das Vorliegen von (15) — wie aus der in Kapitel III.2 vorgelegten Bestimmung der Erfolgsgarantie hervorgeht — der von einer Methodologie der Theoriekonstruktion erwartete Verzicht auf Erfolgsgarantie nicht beeinträchtigt zu sein braucht. In der Regel wird allerdings das vorliegende Wissen um relevante Konditionen für die zu erreichenden Ziele in einer interessanten Methodologie immer nur unvollständig sein. 25 24 Der Versuch der Festlegung der Menge (£,,... , k m) mit Hilfe einer Konzeption der Optimierung (von Methodologien) muß nicht unbedingt nur zu einer einzigen Kon ditionenmenge fuhren. - Vgl. unten S. 150/51. 25 Auf verschiedene Arten von Bedingungen und Bedingungskomplexen gehe ich nicht weiter ein, vgl. ausführlich Wright 1951, Kap.III.2, sowie Id. 1957, S.40-84.

144

III. Struktur und Arten von Methodologien

A m Ende der Behandlung dieses Bestandteils von Methodologien soll der Hinweis auf Ordnungsstrukturen für die durch die Vereinigung der Zielmenge (z,, ... , z n ) und einer Konditionenmenge (£,, ... , k m) gebildete Menge W stehen. Die Ordnung der Menge W, die grundlegend ist, ist ihre pragmatische Ordnung. 2 6 Eine pragmatische Ordnung wird durch die zeitliche Abfolge der Realisierung vorgegebener Konditionen und der Erreichung beschriebener Teilziele konstituiert. Die Menge W kann prinzipiell durch eine Relation R so geordnet sein, daß in Weine Reihe konstituiert wird, und zwar genau dann, wenn die Relation R transitiv, irreflexiv und konnex in Wist. Es spricht jedoch mehr für die Annahme, daß Methodologien in der Regel so strukturiert sind, daß in W lediglich eine durch zwei Relationen R} und R2 gestiftete Quasireihe vorliegt. Es ist in diesem Fall möglich, daß es in W Elemente gibt, die pragmatisch weder vor- noch nachgeordnet sind, sondern als pragmatisch gleichgeordnet angesehen werden, und zwar zumeist aufgrund fehlender Kenntnis weiterer pragmatisch relevanter Verknüpfungen innerhalb von W. Eine derartige Quasireihe wird durch Rl und R2genau dann gestiftet, 27 wenn Rl transitiv, (total-)reflexiv 28 und konnex ist, während R2 transitiv, aber lediglich /i'-irreflexiv und Ä'-konnex ist:

(16)

Ä 2 ist (in W) R'-irreflexiv, wenn beim Vorliegen von / ^ ( x j / ) , wobei x,y e W, nicht Ä 2(;t,j>) vorliegt.

(17)

R2 ist (in W) Λ - k o n n e x , wenn beim NichtVorliegen von ^ ' ( x , ^ ) , wobei x,ye W, R2(x,y) oder vorliegt.

Doch selbst die Annahme des Vorliegens einer pragmatischen Ordnung in einer Methodologie in der Form einer Quasireihe kann für W noch unangemessen sein. Von vornherein ist keineswegs zu erwarten, daß es zwei Relationen R} und i? 2 für Wgibt, die konnex bzw. Ä'-konnex sind. Daher ist die Annahme angemessener, daß W lediglich partiell durch eine oder mehrere (unverbundene) Reihen oder Quasireihen geordnet werden kann. W könnte beispielsweise in drei elementfremde Teilmengen W x, W^und W z aufgespalten sein, für die jeweils durch die Relationen R} und ideine Quasireihe konstitu26 Dieser Begriff stellt eine Anlehnung an das „Prinzip der pragmatischen Ordnung" dar, das Hugo Dingler (u.a. Id. 1964, S.26) formuliert hat. Zu einer Formulierung dieser Ordnung auch May 1956, S. 133/34: „In allen Fällen, wo eine erste Handlung A erst die Bedingung schafft, daß eine Handlung Β ausgeführt werden kann, ist die Ordnung eindeutig gesichert. Wir wollen eine solche Reihenfolge als pragmatische Ordnung' der Handlung bezeichnen". Vgl. Wohlrapp 1978, aber auch die Bemerkungen bei Kambartel 1984. 27 Vgl. Hempel 1952, S.57/58, Stegmüller 1970, S.31-33. 28 Vgl. Stegmüller 1970, S.31, Anm.4.

1. Struktur von Methodologien: Ziele, Konditionen, Mittel

145

iert ist, nicht dagegen z.B. für die Vereinigungsmenge von W x und W 2.29 Das gleiche gilt auch dann, wenn die Menge W mit der Menge M , der Menge der Mittel einer Methodologie, vereinigt wird, auf die im folgenden als einem dritten Bestandteil von Methodologien eingegangen werden soll. (III) Als dritten und letzten Bestandteil kann eine Methodologie eine Menge von Mittelangaben M = ( m ] 9 . . . , m k ) oder kurz: von Mitteln, aufweisen. Die Menge von Mitteln M * , aus der eine von einer Methodologie vorgesehene Mittelkollektion Mittel aufweist, läßt sich so bestimmen: Für jedes Mittel m·, das der Menge M * = (m* 9 ... 9 m k ) angehört, gilt: (i) daß zumindest eine Kondition & h aus einer Konditionenmenge ( k l 9 . . . , k m ) dieser Methodologie oder zumindest ein Teilziel aus (z l 9 . . . , z n ) durch den Einsatz von m* realisiert bzw. erreicht w i r d ; 3 0 ( i i ) daß m* pragmatisch mit keinem Mittel aus {m\ 9... 9 m* k) unvereinbar ist. Während durch die Bedingung (i) festgelegt wird, wann ein Mittel m* zu der Menge von Mitteln gehört, die alle die Mittel umfaßt, die eine Kondition aus einer zulässigen Konditionenmenge Κ zu realisieren oder ein Teilziel aus Ζ zu erreichen vermögen, wird durch die Bedingung (ii) festgelegt, wann ein Mittel m* zur Vereinigungsmenge M * der Mittel unterschiedlicher, aber vereinbarer Mittelkollektionen M 1 , M 2 . . . gehört. Der in der Bedingung (ii) verwendete Begriff der pragmatischen Unvereinbarkeit zweier Mittel kann als eine Abwandlung des Begriffs der einfachen Unvereinbarkeit zweier Mittel eingeführt werden. Der Begriff der (einfachen) Unvereinbarkeit zweier Mittel m g u n d m h soll wie folgt bestimmt sein: (18)

Wenn (m g Vj) und (m h v-)9 wobei v i5 Vj e ( Ζ υ Κ ) sind, dann sind m g und m h (im Hinblick auf Ζ und K) unvereinbar genau dann, wenn - . ( m g a m h ) gilt.

Für die Bestimmung des Begriffs der pragmatischen Unvereinbarkeit greife ich auf das Schema des bedingten Mitteleinsatzes — vergleiche (1) und (2) — zurück: (Π^ (m g Vj)) und (Π, -> (m h Vj)), wobei v^vj e(Z \J K) 29

Das stellt zugleich eine Kritik an Forderungen zur internen Ordnung von Methodologien dar, die sich oftmals als zu anspruchsvoll erweisen. So fordert Segeth von einer anwendbaren und zweckentsprechenden „Folge von Regeln" nicht nur, daß der Bedingungsteil A, der ersten Regel dieser „Folge" den „tatsächlichen Bedingungen entspricht, und der Zielteil Z r „den beabsichtigten Zwecken entspricht", sondern auch (Id. 1967, S.800): „Von zwei mittelbar aufeinander folgenden Regeln R n und R n + 1 dieser Folge stimmt der Zielteil Z n von R n mit dem Bedingungsteil von R n + 1 überein." Vgl. auch Id. 1974, S. 106, wo sich kleine Verfeinerungen finden, sowie Bauer et al. 1968, S.230ss. 30 Je nach der Art der Verknüpfung kann diese Forderung auch abgeschwächt werden. Zur Erreichbarkeit vgl. Kapitel VI.l.

146

III. Struktur und Arten von Methodologien

gilt, v i = Vj zulässig ist und TTj sowie U- logisch wahr sein können. Die Bestimmung lautet nun:

(19)

Zwei Mittel mg und mh sind (im Hinblick auf Ζ und K) pragmatisch unvereinbar genau dann, wenn erstens m g u n d mh unvereinbar und zweitens / H -> ü j / = 1-wahr oder / ü j = 1-wahr sind. 31

M i t dieser Bestimmung der pragmatischen Unvereinbarkeit und der in der Bedingung (ii) geforderten pragmatischen — und nicht lediglich einfachen — Unvereinbarkeit wird dem Umstand Rechnung getragen, daß pragmatisch (teil-)geordnete Methodologien an irgendeiner Stelle ihrer pragmatischen Ordnung einen Mitteleinsatz vorsehen können, der einen vorangegangenen, aber keineswegs redundanten Mitteleinsatz wieder aufhebt, also mit diesem einfach unvereinbar ist. Einige Aspekte der Bestimmung der pragmatischen Unvereinbarkeit lassen sich an einem Fragment einer fiktiven Methodologie illustrieren:

(20) (21) (22)

(k i Λ k 2 Λ k } -*

(23)

(z, -> (m } λ m 4 - >

(24)

(Π,

(m,

(Π2 -

(m 2 -»

(z 2

(m 5

fc,)) k 2)) z, ) z 2 )) kj)

Für dieses Beispiel soll -.(ra 2 λ m5) gelten. Die Mittel m2 und m5 sind pragmatisch unvereinbar, wenn / Π 2 / = 1-wahr ist. I m anderen Fall sind ra2und m5 pragmatisch vereinbar, wenn Π 2 = k x vorliegt. Liegt dagegen Π 2 = m, λ z 2 vor, dann bedeutet dies entweder, daß -.z 2 oder - , ( m 1 A z 2 ) gilt, z.B. weil /z 2 / = 1-falsch oder weil /m, λ z 2 / = 1-falsch ist — d.h., daß (21) oder (21) und (24) überflüssig sind, weil nicht applikabel - , oder es bedeutet, daß m2 und m5 pragmatisch unvereinbar sind. Die Unterscheidung zwischen Mitteln und Konditionen läßt sich vermutlich nicht allgemein charakterisieren. Ihr liegt die Idee zugrunde, daß die Angabe eines Mittels die Angabe einer Art direkter Handlungsanweisung darstellt, während die Angabe von Konditionen keine Angabe direkter Handlungsanweisungen beinhaltet, so daß durch den Rückgriff allein auf die Re31

L-falsche Applikationsteile sollen ausgeschlossen sein.

1. Struktur von Methodologien: Ziele, Konditionen, Mittel

147

geln der Methodologie, in denen ihre Konditionen aufgestellt und verknüpft werden, ihre Realisierung — beim Vorliegen der Anwendungsbedingungen — nicht gewährleistet zu sein braucht. A m leichtesten läßt sich diese Unterscheidung anhand eines Beispiels aufzeigen. Es könnte beispielsweise die nichttriviale Erhöhung des Falsifizierbarkeitsgrades einer Theorie eine Kondition darstellen, da solche Erhöhungen des Falsifizierbarkeitsgrades von Theorien in der Regel kompliziert und schwer zu finden sind und damit keine direkte Handlungsanweisung darstellen. Dagegen könnte die triviale Erhöhung des Falsifizierbarkeitsgrades ein Mittel sein, da hierfür eine direkte Handlungsanweisung gegeben werden kann, nämlich die Vergrößerung des logischen Gehalts der betreffenden Theorie durch irgendeinen beliebigen falsifizierbaren Satz, der nicht von der Theorie logisch impliziert wird. Aufschlußreich ist die folgende Asymmetrie: Die Forderung nach der Erreichung oder der Vermeidung einer Kondition bzw. eines Teilzieles kann Einfluß daraufhaben, ob es sich um ein Mittel oder eine Kondition handelt. So könnte etwa die Verwerfung einer ,falsifizierten' Theorie und die Zurückweisung immunisierender oder konventionalistischer Strategien ein Mittel sein, während die Beibehaltung einer falsifizierten' Theorie und ihre Harmonisierung mit Hilfe immunisierender Strategien bei Ausschluß des Verfahrens der Bedeutungsveränderung eine Kondition sein könnte. Die Unterscheidung von Mitteln und Konditionen kann von Methodologie zu Methodologie unterschiedlich ausfallen: Sie ist kontextabhängig. Sie ist aber auch personenabhängig, d.h. abhängig von den jeweils vorliegenden Kenntnissen und Fertigkeiten derjenigen, für die ein Mittel eine direkte Handlungsanweisung sein soll. Für die Untersuchung der logischen Struktur und des Aufbaus von Methodologien ist es nicht entscheidend, daß der Unterschied zwischen Mitteln und Konditionen in der bezeichneten Weise relativiert ist. M i t der Frage der Unterscheidung zwischen Mitteln und Konditionen hängt allerdings ein Problem zusammen, das interessanter ist als die Unterscheidung selbst. Es ist das Problem der Unsicherheit bei der Anwendung methodologischer Regeln, da „mit den Regeln nicht auch ihre Anwendung" bzw. die „Sicherheit" ihrer Anwendung gegeben ist und „ihre glückliche Anwendung auf einem richtigen Gefühl beruht", wie schon Schleiermacher bemerkt hat. 3 2 Dieses Problem findet sich von Schleiermacher bis Feyerabend erörtert, und es gibt Anlaß zu recht unterschiedlichen Folgerungen, 33 auch wenn diese bislang noch nicht im Detail analysiert worden sind. In jedem Fall liegt hierin bereits ein Grund dafür, daß (methodologische) Regeln die Kon32

Schleiermacher 1974, S.78 und 87, sowie Id. 1977, S.81. Für die Evaluation von Theorien ist dies zumindest implizit Thema bei Kuhn 1977b, Pfera 1988; in einem anderen Zusammenhang Ryle 1945/46. In diese Richtung ließe sich auch Lewis Carrolls,Paradox' in What the Tortoise Said to Achilles (Id. 1895) deuten. - Vgl. auch Anm.VI.61. Allerdings werden aus diesem Problem häufig unzulässige Folgerungen gezogen; vgl. Danneberg/Müller 1984b. 33

148

III. Struktur und Arten von Methodologien

struktion, Bewertung oder Wahl von Theorien nicht zu determinieren, sondern lediglich anzuleiten vermögen. 34 Einige Hinweise sollen die Komplexität dieses Problems verdeutlichen. Die Sicherheit der Anwendung einer (methodologischen) Regel der Form (1) kann auf vielfältige Weise beeinträchtigt sein. Die folgende Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie zeigt aber, daß dieses Problem differenzierter als bisher zu analysieren ist: (a) der Applikationsteil und die Anwendbarkeitsbedingungen einer Regel können vage und unterbestimmt sein, und in der Tat ist es nicht möglich — worauf in unterschiedlichen Zusammenhängen z.B. Kant, Wittgenstein und Michael Polanyi 35 hingewiesen haben —, den Applikationsteil und die Anwendbarkeitsbedingungen einer Regel durch weitere Regeln so weit zu bestimmen, daß jegliche Applikations- und Anwendbarkeitsunsicherheit ausgeschlossen wird. Dabei ist allerdings zu beachten, daß dies nur für Regeln zutrifft, für die keine uneingeschränkte Anwendung gilt, bzw. beansprucht wird. Für die Regeln einer Methodologie wird man davon ausgehen können, daß lediglich ihre eingeschränkte Anwendung beansprucht wird; (b) der Applikationsteil einer Regel kann sich im Hinblick auf den Bereich, in dem die Regel Geltung beansprucht, als zu weit gefaßt herausstellen; (c) die Regel kann unsicher sein, wenn sie lediglich einen zu realisierenden Zustand angibt, d.h. eine Kondition, zu dessen Realisierung das „Gefühl" die Mittel zu wählen hat; (d) aber auch bei vorgegebenen Mitteln (direkten Handlungsanweisungen) kann z.B. ihre Identifikation oder ihre Réhabilitât intersubjektiv unsicher sein; (e) die Verknüpfung zwischen der empfohlenen Zustandsrealisierung und der Zielsetzung der Regel kann die Unsicherheit mangelnder Erfolgsgarantie oder -aussieht besitzen — sei es z.B. daß keine hinreichende Kondition zur Erreichung der Zielsetzung vorliegt, daß die Verknüpfung nur als empirisch, aber ausnahmslos, oder daß sie nur als probabilistisch vermutet wird. Eine Vielzahl weiterer Möglichkeiten ergibt sich, wenn das Problem nicht für einzelne Regeln, sondern für Regelsammlungen, also Methodologien, betrachtet wird: (f) ihre Anwendung kann unsicher sein, weil sie nicht eindeutig pragmatisch geordnet sind. Hier gibt es — wie oben gezeigt wurde — eine Reihe verschiedener Möglichkeiten; (g) Methodologien können gegenläufige Regeln aufweisen, bei denen eine 34

Das wird etwa bei Berkson 1979 hervorgehoben; vgl. auch Albert 1987, S.90. Vgl. z.B. Id. 1946, S.14: „The application of rules must always rely ultimately on acts not determined by rule." Vgl. Kant 1781/87, A 133/B 172. 35

1. Struktur von Methodologien: Ziele, Konditionen, Mittel

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Lösung des entstehenden Optimierungsproblems allein Ausdruck nicht vorgeschriebener Präferenzen ist. Nach dieser Abschweifung komme ich auf die Erörterung des Vergleichs unterschiedlicher Mittelkollektionen zurück. Es ist offensichtlich, daß den in einer Methodologie festgelegten Zielsetzungen Ζ und den angenommenen Konditionen £ unterschiedliche, miteinander pragmatisch vereinbare Mittelkollektionen zugeordnet sein können. Dabei gilt: Zwei Mittelkollektionen M 1 und M 2 sind im Hinblick auf Ζ und Κ pragmatisch vereinbar genau dann, wenn kein Mittel aus ... , m m i t keinem Mittel aus (m],..., m\) pragmatisch unvereinbar ist. Ebenso wie die Konditionenmenge Κ in einer Methodologie gegenüber Ζ unterdeterminiert ist, ist auch die in einer Methodologie verwendete Mittelkollektion gegenüber Ζ und Κ unterdeterminiert. 36 Es kann wünschenswert sein, Möglichkeiten zur Diskriminierung pragmatisch vereinbarer Mittelkollektionen zu besitzen. Eine derartige Möglichkeit eröffnet z.B. der Begriff der Vollständigkeit einer Mittelkollektion im Hinblick auf Ζ und K. 37 Eine Mittelkollektion M ist im Hinblick auf (k {, ... , k m) vollständig genau dann, wenn jedes k h, wobei k h e (k {, ... , k m), allein durch den Einsatz von Mitteln aus M direkt oder indirekt, d.h. über andere Konditionen, realisiert werden kann. 3 8 Ein ähnlicher Vollständigkeitsbegriff, wie er für Mittelkollektionen angegeben ist, läßt sich auch für Konditionenmengen formulieren. Es können drei Vollständigkeitsbegriffe für Methodologien unterschieden werden: ein interner und zwei externe. Der interne Vollständigkeitsbegriff faßt die Vollständigkeitsbegriffe für Mittelkollektionen und Konditionenmengen zusammen. Der erste externe Vollständigkeitsbegriff bezieht sich auf die Anwendungsbedingungen von Methodologien: hiernach ist eine Methodologie vollständig, wenn sie alle Anwendungsbedingungen, für die sie ausgeschrieben ist, mit ihren Regeln zu erfassen vermag. Der zweite externe Vollständigkeitsbegriff bezieht sich auf die möglichen Handlungen im Hinblick auf den Anwendungsbereich einer Methodologie: hiernach ist eine Methodologie vollständig, wenn es keine indifferenten Handlungen im Hinblick auf die Normierungen 36

Hier gilt - jeweils entsprechend - die in Anm.III. 18 angeführte Ausnahme. Ist M durch Ζ determiniert, so ist M auch durch Κ determiniert oder Κ weist im Hinblick auf Ζ redundante Bestandteile auf. 37 Die folgenden Bestimmungen sind der Einfachheit halber immer nur auf Κ bezogen, obgleich sich aus den oben dargestellten Beziehungen eine Vielzahl von Bestimmungen ergeben, auf die es jedoch für die weiteren Überlegungen nicht ankommt: z.B. „vollständig im Hinblick auf ein Κ, das hinsichtlich Ζ vollständig ist"; „vollständig im Hinblick auf ein Κ, das hinsichtlich Ζ nonredundant ist". Das gleiche gilt, wenn man Ζ mit einbezieht: „vollständig im Hinblick auf Ζ und Κ"; usw. 38 Es lassen sich unterschiedliche Begriffe der Vollständigkeit bestimmen, die sich hinsichtlich der Art der geforderten Verknüpfungen unterscheiden.

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III. Struktur und Arten von Methodologien

gibt, die eine Methodologie vorsieht. 39 Für die im folgenden eingeführten Begriffe läßt sich ähnlich verfahren. Eine weitere Möglichkeit der Diskriminierung liefert der Begriff des redundanten Mittels und der darauf aufbauende Begriff der redundanten Mittelkollektion: Ein Mittel m- aus M = (m ì9 ... , mk) ist im Hinblick auf (/:,, ... , k m) und im Hinblick auf die Restmenge {M-{m·}) redundant genau dann, wenn es zu m- keine Kondition Abgibt, wobei k he(k x, ... , k n), zu deren Realisierung der Einsatz m i führt und die nicht schon durch ein Mittel m-, wobei m- e ( m , , . . . , mk) und m{ =j= mrealisiert werden kann. 4 0 Eine Mittelkollektion M ist im Hinblick auf Κ nonredundant genau dann, wenn M kein redundantes Mittel aufweist. Als letztes soll zur Diskriminierung von Mittelkollektionen noch der Begriff der Gleichwertigkeit zweier Mittelkollektionen bestimmt werden: Wenn zwei Mittelkollektionen M 1 und M 2 gleich mittelstark im Hinblick auf ... , k m) sind, dann wird jede Kondition k-, wobei k- e (k x, ... , k m), die durch Mittel aus M 1 realisiert werden kann, auch von Mitteln aus ^ r e a l i s i e r t werden können, und vice versa. 41 Die zur Diskriminierung pragmatisch vereinbarer Mittelkollektionen einer Methodologie bestimmten Begriffe der Vollständigkeit, der Redundanz und der Gleichwertigkeit haben ihren Ort in einer Konzeption der Optimierung von Methodologien. Die durch eine Konzeption der Optimierung angestrebte Evaluierung von Methodologien zielt auf die Feststellung eines optimalen Nutzens. Dieser optimale Nutzen ist bestimmt durch das Verhältnis von Erfolg und Kosten bei der Zielerreichung. Sowohl im Hinblick auf die Kosten als auch im Hinblick auf den Erfolg sind Mittelkollektionen — aber auch ein Verbund aus Konditionenmenge und Mittelkollektion - diskriminierbar. Von den oben eingeführten Begriffen, die durch weitere zu ergänzen wären, sind „Vollständigkeit" und „Gleichwertigkeit" der Feststellung des Erfolges, „Redundanz" der Feststellung der Kosten zugeordnet. 42 Eine Konzeption der Optimierung weist nicht nur zusätzliche Kriterien, die der sensibleren 39 Vgl. z.B. Materna 1965, S.28: „Eine vollständige Methode muß offenbar Befehle für beide Fälle enthalten: sowohl für den Fall der Präsenz als auch der Nichtpräsenz einer bestimmten Eigenschaft; die Bedingung des einen von diesen Imperativen muß offenbar eine Negation der Bedingung des anderen Imperativs sein." 40 Ähnlich die Bestimmung des „irrelevanten Vorkommens eines Operators in einer Methodologie M " bei Materna 1965, S.25. 41 Der Grund für die Angabe lediglich einer notwendigen Bedingung besteht darin, daß die Angabe einer hinreichenden und notwendigen Bedingungen auf den Begriff der Anwendbarkeit einer Mittelkollektion zurückgreifen müßte. 42 Die Einordnung der eingeführten Begriffe in eine Konzeption der Evaluation von Methodologien und ihre Zuordnung zur Feststellung von Erfolg und Nutzen hat z.B. zur Folge, daß die Bestimmung der gleichen Mittelstärke zweier Mittelkollektionen

2. Struktur von Methodologien der Theoriekonstruktion

151

Feststellung von Erfolg und Kosten dienen, sondern auch ein ,Verrechnungsmaß' für den zu erzielenden Erfolg und die zu erwartenden Kosten auf, und sie beruht auf der Entscheidung, ob größtmöglicher Erfolg oder geringstmögliches Kostenrisiko angestrebt wird. 4 3 Konzeptionen der Optimierung sind indes nur eine Möglichkeit, um Methodologien zu evaluieren und zu verbessern. Weitaus größere Aufmerksamkeit hat in diesem Zusammenhang der Rückgriff auf Wissenschaftsgeschichte gefunden. 44 Als nächstes soll auf die Anforderungen an eine Methodologie der Theoriekonstruktion vor dem Hintergrund der in diesem Kapitel erörterten und dargestellten Aspekte ihrer Struktur eingegangen werden.

2. Struktur von Methodologien der Theoriekonstruktion Die in Kapitel I I unternommene Zurückweisung von Argumenten, aus denen die Unmöglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion gefolgert wird, hat entweder vorab von Merkmalen Gebrauch gemacht oder solche Merkmale nahegelegt, die sich im wesentlichen durch die beiden folgenden Forderungen ausdrücken lassen: Eine Methodologie der Theoriekonstruktion scheint möglich zu sein, wenn sowohl auf Geltungsrelevanz bzw. Wahrheitsgarantie als auch auf Erfolgsgarantie verzichtet wird. Der Verzicht auf Geltungsrelevanz bzw. Wahrheitsgarantie — der nur selten für eine Methodologie der Theoriekonstruktion explizit gefordert wird 4 5 — findet sich bereits in Kapitel 1.2. als Konsequenz der Akzeptanz der Unterunter Vernachlässigung der Redundanz oder Nonredundanz von Mittelkollektionen vorgenommen wird. 43 Auf die Möglichkeit der Optimierung von Methodologien wird nur selten und dann zumeist am Rande hingewiesen (z.B. bei Bellmann/Laitko 1969, S.23). Obwohl Nicholas Maxwell von der vielversprechenden Frage ausgeht (Id. 1972) : „Do we have any reason for holding that Popper's revised methodological rules give us better hope of realizing the fundamental aim of science than other sets of rules?", scheitert sein Beantwortungsversuch aufgrund nur sehr vager Vorstellungen über die Struktur und den Aufbau von Methodologien und einer nur oberflächlichen Untersuchung von Poppers Methodologie. Die meisten Hinweise auf die Optimierung von Heuristiken finden sich im Hinblick auf die Optimierung entsprechender Computerprogramme (zum vermutlich ersten Beispiel vgl. Groot 1965 [holländisch zuerst 1946]), die allerdings nur selten auf Probleme einer Methodologie der Theoriekonstruktion übertragbar sind. — Vgl. auch Pähler 1986, Kap.4, mit dem allerdings nicht immer unproblematischen Versuch der Fundierung methodologischer Regelungen unter „wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive", sowie den Ansatz zu einer Cost-Benefit-Ana\yse methodologischer Probleme bei Radnitzky 1987. 44 Vgl. Kapitel VI. 45 Die Forderung des Verzichts auf Wahrheitsgarantie findet sich explizit bereits bei Carmichael 1922, S.20 und 44.

152

III. Struktur und Arten von Methodologien

Scheidung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang formuliert; man kann ihn auch als Ausdruck der Unmöglichkeit einer induktionslogischen Methodologie der Theoriekonstruktion deuten. 46 Der Verzicht auf Erfolgsgarantie beim Auffinden von Theorien oder Problemlösungen trägt dem häufig betonten, zumeist als unerklärbar empfundenen Moment der Intuition o.dgl. Rechnung. 47 Die Einsicht in den für eine Heuristik im allgemeinen und für eine Methodologie der Theoriekonstruktion im besonderen angenommenen Verzicht auf Erfolgsgarantie findet sich zumeist nur en passant erwähnt und nur selten näher begründet. 48 Ein typisches Beispiel für eine Formulierung des Verzichts auf Erfolgsgarantie bietet die Bestimmung des Heuristischen Algorithmus durch Johannes Müller: ,,a) Es muß eine endliche Menge von Vorschriften (Operatoren) zur Ausführung von Operationen angegeben werden. b) Es muß die Abfolge angegeben sein (sofern diese nicht gleichgültig ist), in der die Operatoren anzuwenden sind, d.h. die Operatoren menge wird im allgemeinen eine bestimmte Struktur besitzen. c) Es müssen Kriterien bzw. Normen formuliert sein, die entscheiden lassen, ob die η-te Operation abgearbeitet ist und zur n l - t e n übergegangen werden kann. d) Die Anwendung einer solchen Operatorenmenge, so wie sie zunächst formuliert werden kann, führt nicht sicher zum Ziel, ihre Anwendung erhöht aber die Wahrscheinlichkeit, daß eine annehmbare Lösung in annehmbarer Zeit gefunden w i r d . " 4 9 In Müllers Bestimmung des „Heuristischen Algorithmus" entsprechen die Anforderungen a) bis c) den Anforderungen an einen (herkömmlichen) Algorithmus, während das unter d) aufgeführte Merkmal das Charakteristikum des „Heuristischen Algorithmus" ausmachen soll. Es bleibt bei den Überlegungen Müllers allerdings unklar, weshalb das Fehlen von Erfolgsgarantie erforderlich und wie dieser Verzicht realisiert sein kann. Einen Grund für das Fehlen von Erfolgsgarantie gibt J.A. Ponomarjov: „Den Beziehungen zwischen den einzelnen [heuristischen] Regeln jedoch fehlt eine [der Formulierung der Regeln] analoge Exaktheit; der Komplex solcher [heuristischer] Regeln ist kein Algorithmus im strengen Sinn [...]. Das 46

Vgl. Kapitel II.2. Vgl. die Erörterung in Kapitel II. 1. 48 Es gibt aber auch Beispiele dafür, daß der hier einer Methodologie der Theoriekonstruktion abverlangte Verzicht auf Erfolgsgarantie einer logic of discovery negativ vermerkt wird, auch wenn es unklar ist, auf welchen Begriff von logic dabei rekurriert wird. So schreibt Dudley Shapere 1974, S. 167: „[...] such a name [seil.,logic of discovery'] is misleading, in as much as there is no guarantee that following this principle [scil. a principle of the logic of discovery] - or even any such principle - will necessary eventuate in a solution of the problem." 49 Müller 1966, S.126(aufS. 136 finden sich Gründe für die Wahl des Ausdrucks „Algorithmus"). Vgl. auch Heitsch 1971, S.452. 47

2. Struktur von Methodologien der Theoriekonstruktion

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Fehlen von festen Verbindungen innerhalb des Komplexes heuristischer Regeln (Heuristiken) führt dazu, daß die heuristische Suche zwar nicht wie die systematische den Erfolg garantiert, daß aber die Klasse von Aufgaben, deren Lösung Computern übertragen werden kann, wesentlich erweitert w i r d . " 5 0 Die von Ponomarjov angeführte fehlende „Exaktheit" der Verbindung der einzelnen Regeln innerhalb einer Heuristik kann — wie sich den Überlegungen des vorangegangenen Kapitels entnehmen läßt — auf verschiedene Aspekte der logischen Struktur einer Methodologie der Theoriekonstruktion verweisen. Das heißt aber auch, daß verschiedene Gründe für das Fehlen von Erfolgsgarantie vorliegen können und daß eine wissenschaftliche Heuristik bzw. Methodologie der Theoriekonstruktion auf verschiedenen Wegen einen Verzicht auf Erfolgsgarantie zu leisten vermag. Die Unterscheidung heuristischer Regelsysteme von Algorithmen dient häufig dazu, den Anwendungsbereich einer wissenschaftlichen Heuristik einzuschränken bzw. näher zu spezifizieren. Hierzu kann z.B. auf eine Unterscheidung von Problemarten zurückgegriffen werden: auf der einen Seite Probleme, die,mechanisch 4 ,,nichtkreativ' zu lösen sind, d.h., für die ein Algorithmus vorliegt, und auf der anderen Seite Probleme, die,nichtmechanisch', ,kreativ' zu lösen sind, d.h., für die ein Algorithmus nicht vorliegt. Diese Unterscheidung schließt nicht aus, daß für die zuletzt genannte Art ein Algorithhmus gefunden werden kann, der diese in,nichtkreativ' zu lösende Probleme transformiert. Ein frühes Beispiel ist die Unterscheidung zwischen „schematischer" und „schöpferischer Arbeit" von Georg Klaus: „Das Vorliegen eines Algorithmus für eine Klasse mathematischer Aufgaben nimmt der Lösung dieser Aufgaben den Charakter des Schöpferischen. [...] Existenz eines Algorithmus heißt in unserer Zeit, Möglichkeit der Übertragung der Aufgabe an eine Maschine. Das aber wiederum heißt letztlich, Umsetzung der ehemals geistigen Tätigkeit in eine Liste von Bedienungsvorschriften für eine — und sei es noch so komplizierte — Maschine." 51 Eine große Anzahl späterer Bestimmungen von,kreativ' und,nichtkreativ' zu bearbeitenden Problemen haben sich an einer vergleichbaren Idee orientiert und sie zu verallgemeinern versucht. 52 Die Gegenüberstellung von algorithmisch und allein heuristisch lösbaren Aufgaben findet sich bei Newell, Shaw und Simon 5 3 oder bei Walter R. Reitman. 5 4 Bei diesen Beispielen wird 50

Ponomarjov 1969, S.286. Klaus 1961, S.169. 52 Vgl. z.B. Pärthey/Vogel/Wächter 1970, S. 11/12, Autorenkollektiv 1975, S.334/35. Cackowski 1969, S.280: „Mit,kreatives Problem' meine ich eins, das zu einem gegebenen Zeitpunkt mit keinem vorhandenen Algorithmus gelöst werden kann." Vgl. auch Id. 1978, S.49/50, sowie Sivilov 1978. - Eine elastische, aber wenig präzisierte Unterscheidung wird in Höwing et al. 1981, S. 11-28, versucht. 53 Vgl. Newell/Shaw/Simon 1958. 54 Vgl. Reitman 1959. 51

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III. Struktur und Arten von Methodologien

zugleich der Verzicht auf Erfolgsgarantie bei allen allein heuristisch lösbaren Problemen angenommen. Die Kritik hat jedoch schon bald zu mehr oder weniger einschneidenden Modifikationen dieser Gegenüberstellung geführt. I m Zuge einer verhalteneren Kritik wurde die strikte Entgegensetzung von algorithmisch und heuristisch zu lösenden Aufgaben abgeschwächt oder als nicht hinreichend differenziert betrachtet; im Zuge einer radikaleren Kritik wurde nahegelegt, auf den Begriff des Algorithmus zur Charakterisierung des Anwendungsbereichs einer Heuristik gänzlich zu verzichten. Die im folgenden zitierten Ausführungen von Martin Strauss sind ein Beispiel dieser Kritik: „[...] der Begriff,Problem 4 [wird] u.a. durch die Bedingung bestimmt, daß kein A Igorithmus bekannt ist, mit dessen Hilfe das intendierte Ziel in einer endlichen Anzahl von Schritten erreicht werden kann. — Von einem Algorithmus kann man jedoch nur in Hinsicht auf eine formalisierte Theorie sprechen. Dadurch wird der Anwendungsbereich des Begriffs ,Problem 4 in einer der Praxis keineswegs entsprechenden Weise eingeengt, nämlich im wesentlichen auf gewisse Gebiete der Mathematik und Metamathematik, z.B. auf Entscheidbarkeitsprobleme. Hält man sich andererseits strikt an die genannte Bedingung, so wird der Umfang des Begriffs,Problem 4 fast grenzenlos, da ihr gemäß jede Frage, für die algorithmische Lösungsverfahren nicht bekannt sind, zum Problem erklärt wird, darunter alle Fragen, für die nichtalgorithmische Lösungsmethoden bestehen.44 5 5 Andere Bestimmungen bzw. Einschränkungen des Anwendungsbereichs einer wissenschaftlichen Heuristik, die nicht auf den Algorithmus-Begriff zurückgreifen, sind vorgelegt worden, obwohl es fraglich ist, inwieweit sie erfolgreicher sind. 56 Für die logische Struktur und den Aufbau einer Methodologie der Theoriekonstruktion verliert diese Fragestellung an Gewicht, wenn davon ausgegangen wird, daß alle im Rahmen einer solchen Methodologie behandelbaren Probleme nur ohne Erfolgsgarantie bearbeitet werden können und daß zur Bestimmung des Begriffs der Erfolgsgarantie für eine Methodologie der Theoriekonstruktion nicht auf den Begriff des Algorithmus zurückgegriffen zu werden braucht. Damit stellt sich die Frage, wann eine Methodologie der Theoriekonstruktion einen Verzicht auf Geltungsrelevanz bzw. auf Wahrheits- und Erfolgsgarantie leistet. Für den in einer Methodologie MT = ( Ζ υ Κ U M) vorliegenden Verzicht auf Wahrheitsgarantie lassen sich zwei Varianten unterscheiden: der Verzicht auf den Anspruch auf Wahrheit und der Verzicht auf Wahrheitsgarantie. Der Verzicht auf den Anspruch auf Wahrheit liegt in einer Methodologie MT = ( Ζ υ Κ U M) genau dann vor, wenn es kein z- e Ζ gibt, das das (Teil-)Ziel der Wahrheit darstellt. 55

Strauss 1970b, S.38. Vgl. aus der Vielzahl von Vorschlägen z.B. den bei Feitscher 1970; oder die Unterscheidung von „well-defined 44 und „ill-defined problems" bei Reitman 1965 und Id. 1964, S.282/83. 56

2. Struktur von Methodologien der Theoriekonstruktion

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Schwächer als der Verzicht auf den Anspruch auf Wahrheit ist der Verzicht auf Wahrheitsgarantie: Der Verzicht auf Wahrheitsgarantie liegt in einer Methodologie MT = ( Ζ U Κ U M) genau dann vor, wenn Z- G Ζ gilt und z- das (Teil-)Ziel der Wahrheit ist, aber kein Satz der A r t (s z·) logisch aus MT abgeleitet werden kann, dessen Implikans s als Komponenten allein Mittel aus M vorsieht. 57 Sowohl bei der Bestimmung des Verzichts auf den Anspruch auf Wahrheit als auch bei der Bestimmung des Verzichts auf Wahrheitsgarantie wird deutlich, daß für eine Methodologie der Theoriekonstruktion keine prinzipiellen Schwierigkeiten bestehen, beiden Verzichtsanforderungen zu genügen. Von einer Methodologie der Theoriekonstruktion M T X wird zusätzlich gefordert, auf Geltungsrelevanz zu verzichten. Auch diese Forderung läßt zwei Varianten zu: nämlich den Verzicht auf den Anspruch auf Geltung und den Verzicht auf Geltungsrelevanz. Beide Varianten stellen Verallgemeinerungen eines Verzichts des Anspruchs auf Wahrheit bzw. auf Wahrheitsgarantie dar: Der Verzicht auf den Anspruch auf Geltung liegt in einer Methodologie der Theoriekonstruktion M T K = ( Z U K (J M ) genau dann vor, wenn es kein Zj gibt, wobei Zj g Ζ , das der Evaluation von Theorien dient. Da angenommen wird, daß eine Methodologie der Theoriekonstruktion auf Geltungsanspruch verzichtet, verzichtet sie a fortiori auf den Anspruch auf Geltungsrelevanz. Diese Annahme ist bis in die jüngste Zeit nicht unumstritten. Damit ist solange kein Problem gegeben, wie es sich um Versuche handelt, zu zeigen, daß über die hier vorgenommene Bestimmung hinaus eine Methodologie der Theoriekonstruktion auch Geltungsanspruch erheben kann, da vom Erfolg dieser Versuche die Möglichkeit einer MTK unberührt bleibt. Zum Problem wird die Frage nach dem Geltungsanspruch einer MTK dann, wenn diese Frage mit dem (philosophischen) Interesse an dem Aufbau einer solchen Methodologie verknüpft wird. Genau diese Verknüpfung unternimmt Laudan, wenn er im Rahmen einer wissenschaftsphilosophie-historischen Skizze den Verzicht auf Geltungsanspruch mit der erkenntnistheoretischen Irrelevanz einer Methodologie der Theoriekonstruktion begründet. Er beschließt seine Untersuchung mit der herausfordernden Frage: „Why should the logic of discovery be revived?" 58 Laudans Herausforderung besteht — wie es Nickles formuliert 59 — darin, zu zeigen, daß eine MTK per se „epistemic force" besitzt, d.h. Geltungsanspruch und Geltungsrelevanz. M i t der hier vorgeschlagenen Bestimmung des Geltungsanspruchs und der an eine 57 Wird für eine Methodologie auf eine Unterscheidung zwischen Mitteln und Konditionen verzichtet, dann wäre die Bestimmung entsprechend anzupassen. 58 Laudan 1980, S. 182. 59 Vgl. Nickles 1985, S. 179.

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III. Struktur und Arten von Methodologien

MT Κ gerichteten Forderung, auf Geltungsanspruch zu verzichten, scheint die Trennung einer MTK ν on einer MTE vollzogen zu sein, die Laudans Einwand zum Tragen kommen läßt. 6 0 M i t der per-se-These hat sich insbesondere Nickles auseinandergesetzt und eine Gegenposition formuliert. 61 Im Rückgriff auf die Geschichte von Wissenschaftsphilosophie und illustriert anhand von wissenschaftshistorischen Beispielen versucht Nickles zu begründen, daß eine adäquate Rechtfertigung wissenschaftlicher Theorien „discoverability" bzw. „potential discovery" impliziere. 62 Erläuternd heißt es bei ihm: „Regardless of how the ideas originally occurred and to whom, and regardless of what use of them was made in the meantime, the question is whether we could have generated the problem solution,rationally', had we known then what we know now. [. ..] so I claim that a fully adequate justification is potentially a discovery (the claim is discoverable'). In short, much of the classical intuition is preserved: proper justification does not require that actual historical discovery be of a certain kind but only that the claim ultimately be shown discoverable , i.e., generatable, from nature as we understand it, without new hypothetical commitments. Generational justification is not identical with discovery, as it were, but with discoverability." 63 Nickles' Konzeption der generational justification , auch wenn sie bislang nur rudimentär vorliegt, vermag Laudans generelle These zwar zu widerlegen, sie stellt aber nur eine von verschiedenen Möglichkeiten dar, eine M T K mit Geltungsrelevanz zu verbinden. Das wird deutlich, wenn eine MTK nicht isoliert, d.h. als nicht unabhängig von einer ihr zugeordneten und nachfolgenden Methodologie der Theoritevaluation betrachtet wird. Eine Methodologie der Theoriekonstruktion, die isoliert keinen Anspruch auf Geltungsrelevanz erhebt, kann im Verbund mit einer Methodologie der Theorieevaluation auf verschiedene Weise Geltungsrelevanz besitzen — und demnach im Sinne Laudans von philosophischem Interesse' sein. Der Verzicht auf Geltungsrelevanz liegt bei einer MT Kim Hinblick auf eine ihr zugeordnete Methodologie der Theorieevaluation MTE genau dann vor, wenn es keinen Satz der Art (5 t) gibt, der logisch aus dem Verbund von MTK und MTE abgleitet werden kann und für dessen Implikans ^ gilt, daß in ihm ausschließlich Konditionen oder (Teil-)Ziele von M T K vorkommen, und dessen Implikat t irgendeine Kondition oder ein (Teil-)Ziel aus MTE aufweist, das der Evaluation von Theorien dient.

60

Die Überlegungen bei Goldman 1983 lassen sich, obwohl Laudans Bedenken unerwähnt bleiben, als Verteidigung des erkenntnistheoretischen Interesses lesen. 61 Zur weiteren Diskussion vgl. McLaughlin 1982 (dazu Laudan 1983b, McLaughlin 1987 und Nickles 1985, S.191ss) sowie insb. Kelly 1987. Auch Lugg 1985, S.215. 62 Vgl. Nickles 1984b, 1984c sowie 1985, S.196ss; auch Id. 1987. 63 Nickles 1984b, S.20.

2. Struktur von Methodologien der Theoriekonstruktion

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Konditionen oder (Teil-)Ziele sind nicht per se geltungsrelevant oder geltungsirrelevant; das sind sie erst dann, wenn sie mit einem (Teil-)Ziel in bestimmter Weise verknüpft sind, das die Geltung von Theorien bestimmt, oder wenn sie selbst explizit als geltungsrelevant gedeutet werden. 64 Diese Bestimmung besitzt eine Reihe von Konsequenzen. Die Frage, ob es eine eigenständige ,Logik des Entdeckens' gibt, 6 5 läßt sich in der gestellten Weise nicht beantworten, da sie auf als epistemisch gedeutete (Teil-)Ziele und als geltungsrelevant verknüpfte Konditionen zu relativieren ist. Jede MTE besitzt heuristische Kraft zumindest in dem Sinn, daß sie Vorgaben für eine MTK liefert, die angeschlossen werden kann. Jede MTK kann Geltungsrelevanz besitzen, wenn sie entsprechend mit einer MTE verknüpft ist. Aufgrund des hier skizzierten systematischen Zusammenhangs zwischen einer Methodologie der Theoriekonstruktion und der Theorieevaluation erklärt sich, was anhand von wissenschaftshistorischen Beispielen der Theorieentdeckung immer wieder behauptet und zu belegen versucht wird, 6 6 nämlich daß heuristische Verwendung und Geltungsrelevanz oftmals nicht getrennt sind. 67 Für die Auseinandersetzung zwischen Laudan und Nickles besagen diese Überlegungen, daß der jeweilige Rückgriff auf Wissenschaft und Wissenschaftsphilosophie nicht ausreicht, um die Frage der Präferenz von Geltungsrelevanz oder -irrelevanz einer MTK definitiv zu beantworten. Diese Frage ist in dem Sinn normativ, daß es der expliziten Formulierung und Anwendung eines Kriteriums bedarf, das die ,normative Kraft' historischer Befunde sowohl in Wissenschaft als auch in Wissenschaftsphilosophie herstellt. 6 8 Es läßt sich eine MTE konzipieren, die auf die Entdeckung von Theorien rekonstruierend anwendbar ist und bei der die erfolgreiche Rekonstruktion Geltungsrelevanz besitzt; es läßt sich die Vorstellung einer Μ Γ £ verteidigen, die dazu führt, daß eine MTK (isoliert) geltungsrelevant ist. Damit wird deutlich, daß Nickles der Herausforderung Laudans durch die Formu64

Vgl. Kapitel III.3.c), insb. S.179. Vgl. Kapitel 1.2, S.22ss. 66 Vgl. Kapitel 1.3, S.53/54, zur Geltungsrelevanz heuristischer Modellbildung und Analogisierung; weitere Beispiele finden sich u.a. bei Achinstein 1970 sowie in den Untersuchungen Jon Dorlings (u.a. Id. 1970/71,1973,1973/74); auch Lugg 1985. 67 Bei derartigen Hinweisen ist zu beachten, wie der historische Entdeckungszusammenhang einer Theorie abgegrenzt wird. Die Behauptung, während der Entdeckung einer Theorie käme es zu geltungsrelevanten heuristischen Überlegungen, verliert ihre Pointe, wenn der Entdeckungszusammenhang bis zur fertigen und akzeptierten Theorie als einheitlich strukturiert unterstellt wird. Ebenso zu beachten ist, daß ein Mittel heuristisch sein kann, während das erzielte Ergebnis geltungsrelevante Merkmale aufweist, die aber nicht an die Art der heuristischen Auffindung gebunden sind. Die Geltungsrelevanz bezieht sich auf das Ergebnis, nicht aber auf den heuristischen Auffindungsweg; ein Beispiel hierfür sind heuristische Modellbildung und Analogisierung sowie die Evaluation von Theorien aufgrund vorliegender Modell- oder Analogiebeziehungen (vgl. Danneberg 1989c). 68 Vgl. Kapitel VI. 65

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III. Struktur und Arten von Methodologien

lierung einer anderen Methodologievorstellung begegnet. Im Hinblick auf seine Methodologievorstellung wird man Laudan zustimmen können, daß eine MTK isoliert betrachtet keinen Geltungsanspruch erhebt und damit a fortiori keine Geltungsrelevanz. Zwingend sind seine Überlegungen in diesem Rahmen jedoch schon dann nicht mehr, wenn eine MTK in systematischer Verbindung zu einer MTE betrachtet wird - eine Verbindung, die sich bereits dann empfiehlt, wenn die Frage untersucht wird, wann eine Methodologie der Theoriekonstruktion rational ist. 6 9 Die Bestimmungen des Verzichts auf Wahrheitsgarantie und Geltungsrelevanz führt zur Diskussion des Verzichts auf Erfolgsgarantie, denn beide Bestimmungen lassen sich als partielle Bestimmungen des Verzichts auf Erfolgsgarantie auffassen, nämlich als den Verzicht auf Erfolgsgarantie bei der Erreichung des Ziels der Wahrheit und der Geltungsrelevanz. Es gibt demnach eine Reihe von Erfüllungsmöglichkeiten für den Verzicht auf Erfolgsgarantie in einer Methodologie der Theoriekonstruktion. U m so strenger die Anforderungen sind, die an das Vorliegen von Erfolgsgarantie gerichtet werden, d.h., um so strenger die Bestimmung der Erfolgsgarantie ist, desto leichter vermag eine MTK einen Verzicht auf Erfolgsgarantie zu verwirklichen. Zu den weniger strengen Bestimmungen gehört z.B.: Eine Methodologie der Theoriekonstruktion MTK = (Z U Κ U M) weist Erfolgsgarantie genau dann auf, wenn es ein Zj gibt, wobei Zj e Ζ gilt, für das ein Satz der Art (s -> z·) aus MTK logisch abgeleitet werden kann und dessen Implikans s als Bedingungskomponenten allein Mittel aus M vorsieht. 70 Erheblich strenger ist die folgende Bestimmung des Vorliegens von Erfolgsgarantie: Eine Methodologie der Theoriekonstruktion MTK = (Z U K U M) weist Erfolgsgarantie genau dann auf, wenn für jedes z-, wobei z-e Ζ gilt, ein Satz der Art (s z·) aus MTK logisch abgeleitet werden kann, dessen Implikans s als Bedingungskomponenten allein Mittel aus M vorsieht. Die beiden formulierten Bestimmungen von Erfolgsgarantie können anhand des oben angeführten Illustrationsbeispiels — (20) bis (24) 71 — veranschaulicht werden. In dem Illustrationsbeispiel seien Γ^ und Π 2 logisch wahr. Offenbar gibt es dann kein z j5 wobei z- e (z l,z 2), für das ein Satz der Art (s Zj) logisch aus (20) bis (24) abgeleitet werden kann und dessen Implikans als Bedingungskomponenten allein Mittel aus (m x,m 2,m3,mA,m5) aufweist. Damit leistet das als Illustrationsbeispiel verwendete Fragment einer fiktiven Methodologie einen Verzicht auf Erfolgsgarantie sowohl im Sinn der strengeren als auch der weniger strengen Bestimmung. 69

Vgl. Kapitel III.3.b). Simon 1973, S.473/74, scheint eine solche weniger strenge Bestimmung für erforderlich zu halten, um die Annahme eines Induktionsprinzips zu vermeiden. 71 Vgl. oben S. 146. 70

2. Struktur von Methodologien der Theoriekonstruktion

159

Sollte hingegen das Illustrationsbeispiel durch eine weitere Regel ergänzt werden, die durch einen Satz der folgenden Art fundiert wird: (25)

(Π3 -

(iw6-*

*,))

wobei / Π 3 / = 1-wahr sein soll, dann besitzt diese Methodologie sowohl im strengeren als auch im weniger strengen Sinn Erfolgsgarantie. Die vorgelegten Bestimmungen von Erfolgsgarantie lassen sich sowohl weiter verstärken als auch weiter abschwächen. Abschwächen bzw. verstärken lassen sich beide Bestimmungen, etwa indem bei dem Satz der A r t (s z·) zugelassen oder ausgeschlossen wird, daß sein Implikans s als Bedingungskomponenten neben Mitteln aus M auch Konditionen aus Κ aufweisen kann. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Deutung des ,Implikationspfeils' bei einem Satz der Art (s z·) auf die Deutung als logische Implikation zu beschränken oder durch die Zulassung von empirischen oder quasi-empirischen Verknüpfungen zu erweitern. Die Frage, ob eine Methodologie der Theoriekonstruktion einen Verzicht auf Erfolgsgarantie zu leisten vermag, hängt zunächst von der Stärke der Bestimmung des Begriffs der Erfolgsgarantie ab. Die Überlegungen zu Aspekten der logischen Struktur von Methodologien haben deutlich gemacht, daß eine Methodologie — und damit auch eine Methodologie der Theoriekonstruktion — in unterschiedlicher Weise auf Erfolgsgarantie verzichten kann: Das reicht von den verschiedenen Arten der Unsicherheit bei der Anwendung ihrer Regeln bis hin zu den unterschiedlichen Formen ihrer pragmatischen Ordnung. Das legt die Vermutung nahe, daß eine Methodologie der Theoriekonstruktion bei jeder intuitiv akzeptablen Bestimmung von Erfolgsgarantie dem Verzicht auf Erfolgsgarantie Genüge leisten kann. Die Frage nach der Möglichkeit einer Methodologie der Theoriekonstruktion — u.a. gemessen an der Erfüllbarkeit eines Verzicht auf Erfolgsgarantie — wird damit durch die komplexere Frage abgelöst: Wieviel,Erfolgsgarantie' vermag eine Methodologie der Theoriekonstruktion zu gewährleisten, wenn sie Einwänden gegen die Möglichkeit einer partiellen Rationalisierung des Entdeckungszusammenhangs entgehen will, und wieviel ,Erfolgsgarantie' sollte eine solche Methodologie aufweisen, damit ihre Wahl und Befolgung — vor dem Hintergrund bestimmter Annahmen — mehr Erfolg verspricht als ein Verzicht auf diese Methodologie? Die Entscheidung über die Stärke des Verzichts auf Erfolgsgarantie, den eine Methodologie der Theoriekonstruktion leisten sollte, läßt sich mithin nicht unabhängig von den Zielen und Bedingungen ihrer praktischen Verwendung fällen. Im letzten Teil dieses Kapitels sollen dementsprechend nicht mehr die theoretischen Gründe für den Verzicht auf Erfolgsgarantie behandelt werden, sondern die praktischen Gründe, die mit den zu lösenden Problemen und den

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III. Struktur und Arten von Methodologien

gegebenen Problemsituationen zusammenhängen. Es gibt für den praktischen Verzicht auf Erfolgsgarantie im wesentlichen zwei Gründe: Der erste Grund besteht in der Knappheit des zur Verfügung stehenden Zeitbudgets; der zweite Grund, der zumindest für eine Methodologie der Theoriekonstruktion immer vorliegen dürfte, besteht in der Beschränkung des vorliegenden, problembezogenen Wissens, weshalb die von einer solchen Methodologie zu lösenden Probleme immer opak sind. Beide Gründe lassen sich anhand der Erörterung zweier unterschiedlicher heuristischer Strategien verdeutlichen. Zugleich soll geprüft werden, welche dieser beiden Strategien sich für eine Methodologie der Theoriekonstruktion empfiehlt. Dem heuristischen Auffinden von Problemlösungen stehen — grob gesagt — die folgenden beiden Strategien zur Verfügung: zum einen die sogenannte Labyrinthstrategie, 12 zum anderen die sogenannte Selektionsstrategie. Bei der Labyrinthstrategie liegen in der Regel wohldefinierte und im Prinzip vollständig generierbare potentielle Problemlösungen vor, die einen wohlgeordneten Suchraum bilden. Die Labyrinthstrategie besteht allgemein gesagt darin, daß alle Lösungsmöglichkeiten grundsätzlich gleichrangig sind und der geordnete Suchraum gemäß seiner Ordnung und in zufälliger Reihenfolge abgesucht wird. Entsprechend der Ordnung des Suchraums gibt es für diese Strategie zwei naheliegende Substrategien. In der folgenden Darstellung dieser beiden Substrategien bezeichnet der Ausdruck „nodes" die Ecken in der graphentheoretischen Darstellung des Lösungsraums eines Problems in Gestalt eines baumartigen Graphen: „ I f we expand the nodes in the order in which they are generated, we have what is called a breadth-first process. I f we expand the most recently generated nodes first, we have what is called a depth-first process. Breadth-first and depth-first methods can be called blind-search procedures since the order in which nodes are expanded is uneffected by the location of the goal." 7 3 Gelegentlich finden sich Ansätze zu einer Methodologie der Theoriekonstruktion skizziert, die an einer Art Labyrinthstrategie orientiert zu sein scheinen. So beispielsweise in Arbeiten zur „systematischen Heuristik" von Johannes Müller, 7 4 zur „divergent-convergent method" von Asari Polikarov 7 5 oder zur „morphologischen Methode" von Fritz Zwicky. 7 6 Die ge72

Zur Geschichte des Begriffs des Labyrinthmodells Ducrocq 1955, S. 139ss. Nilsson 1971, S.44. 74 Vgl. die im Literaturverzeichnis angegebenen Untersuchungen von Johannes Müller. 75 Vgl. Polikarov 1974 (hier finden sich auch weitere Hinweise zu Arbeiten Polikarovs). 76 Vgl. Zwicky 1957. - In der späteren, ausführlicheren und populären Darstellung wächst sich die „morphologische Methode" zu einer Art Allheilmittel für sämtliche Probleme aus (vgl. Id. 1966). 73

2. Struktur von Methodologien der Theoriekonstruktion

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nannten Ansätze lassen sich vielleicht am ehesten als Nachfolger des sog. Lui to-Programms 77 ansehen.78 Ebenfalls eine Art Labyrinthstrategie für das Auffinden von „Naturgesetzen" imaginiert Werner Leinfellner in der Form des „Modells einer Induktionsmaschine". Dieses „Modell" beschreibt Leinfellner wie folgt: „ I m Programm dieser Maschine müßte zunächst die logische Form der generellen (All-)Aussagen enthalten sein, d.h. die Form der S T -Sätze, weiters ein Zufallsfaktor. Der Zufallsfaktor bedeutet, daß der Erkenntnisvorgang nicht rationalisierbar ist. Die Maschine müßte dann wahllos aus den eingegebenen empirischen Aussagen Allaussagen erzeugen, d.h. Aussagen S T . [...] Hat die Induktionsmaschine eine gewisse Anzahl von Aussagen S T wahllos aufgestellt, dann muß unter diesen zusätzlich mit Hilfe eines Auswahlverfahrens (Filter) eine Auslese getroffen werden. Die Auslese erfolgt nach dem Grad der Bestätigbarkeit. Wird eine Aussage sehr hoch bestätigt, dann kann sie als Naturgesetz über einen Basisbereich D, angesehen werden, wenn sie einer Hypothese H, angehört. Das bedeutet, daß auf die eine oder andere Weise das formale Aufbauschema einer Hypothese (oder gegebenenfalls einer Theorie) im Programm einer Induktionsmaschine enthalten sein muß. Man kann jetzt genau angeben, was solch eine Maschine leisten könnte und was nicht. Sie könnte, wenn in ihrem Programm das formale Aufbauschema einer Hypothese oder Theorie, einer zugrundeliegenden Logik, ein Zufallsfaktor und ein Filter enthalten sind, Naturgesetze, die über einen bestimmten Bereich Dj gültig sind, erzeugen. Sie wird dazu unter Umständen, da sie nach einer Zufallsstreuung vorgeht, viel länger brauchen als ein Wissenschaftler. Sie kann im besten Fall ihr Programm selbst verbessern, aber das Produkt jahrtausendelanger europäischer Entwicklung, die Form der theoretischen Wissenschaften, muß ihr vorgegeben werden." 79 Es soll angenommen werden, daß die verschiedenen Formen genereller Aussagen in dem von Leinfellner skizzierten Programm erschöpfend berücksichtigt werden können und daß es über einen akzeptablen Begriff der Bestätigbarkeit und Bestätigung verfügt. Nach Leinfellners Bestimmung des Begriffs der Hypothese wird diese als „zwei Sätze oder Satzklassen angesehen, die durch eine deduktive (oder wahrscheinlichkeitstheoretische) Ableitungsbeziehung zusammengehalten [werden]: S h | — S e , bzw. S T | — S o " , 8 0 b z w . nach Leinfellners Bestimmung der Hypothesenhierarchie im einfachen Fall: S T , ι — S 0 . u n d S T I — S 0 , wobei S 0 , = S T ist. 81 Drei Einwände legt dieses Modell nahe. Erstens: Die in dem Zitat an ein Naturgesetz gerichtete Forderung, einer 77

Hierzu Kapitel 1.3, S.31/32. Explizit auf Lullus bezieht sich Polikarov 1974, S.214. 79 Leinfellner 1965b, S.85/86. 80 Leinfellner 1965b, S.97. | — steht dabei für „ist deduktiv ableitbar aus" (vgl. dort S.218). 81 Leinfellner 1965b, S.lOlss. 78

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III. Struktur und Arten von Methodologien

„Hypothese H , " anzugehören, bedeutet, daß der so konzipierten „Induktionsmaschine" eine Hypothese (im Sinne Leinfellners) vorgegeben sein muß, der das Naturgesetz „angehören" kann — die Auffindung ist mithin eher theory-driven als data-driven. 82 Zweitens: Leinfellner sieht zwar die Gefahr eines extremen Zeitaufwandes einer derartigen Maschine beim Auffinden von „Allaussagen", die in bestimmter Weise qualifiziert sind; er erkennt aber nicht, daß die von ihm beschriebene Maschine nicht das Auffinden von Aussagen ermöglicht, die T-Terme aufweisen. Dieser Einwand wiegt schwer, da Leinfellner sich ohne nennenswerte Abweichungen an die Analyse wissenschaftlicher Theorien des späten Carnap anlehnt. 83 Drittens: Der „Zufallsfaktor" — wie er in dieser „Induktionsmaschine" vorgesehen ist — „bedeutet" nicht nur, „daß der Erkenntnisvorgang nicht rationalisierbar ist", sondern er stellt den stärksten Ausdruck einer Nichtrationalisierbarkeit dar; eine Abschwächung dieses „Zufallsfaktors" durch heuristische Restriktionen wird von Leinfellner nicht in Erwägung gezogen.84 Das Problem dieser, an einer Labyrinthstrategie orientierten „Induktionsmaschine" besteht mithin darin, daß zu gegebenen „empirischen Aussagen" unbegrenzt viele Allaussagen konstruierbar sind. 85 Sowohl der Anfang an irgendeiner Stelle dieses Suchraums als auch der Abbruch der Suche an einer anderen Stelle, nachdem ein Teilraum abgesucht wurde, sind heuristisch unmotiviert und erfolgen allein aus Gründen der Begrenztheit des zur Verfügung stehenden Zeitbudgets. Demgegenüber werden in der zweiten, oben unterschiedenen heuristischen Strategie, der Selektionsstrategie, Einschränkungen des potentiellen Suchraums durch heuristische Restriktionen vorgenommen. Diese Selektionen innerhalb des potentiellen Suchraums erfolgen aufgrund von Annahmen, d.h. aufgrund heuristischen Wissens über das zu erreichende Ziel, also über die zu erreichende Problemlösung, und über die Wege zur Erreichung dieses Ziels. Ohne ausführlich die Vor- und Nachteile der Labyrinth- und der Selektionsstrategie abzuwägen, läßt sich dafür argumentieren, daß sich für eine Methodologie der Theoriekonstruktion die Orientierung an der Selektionsstrategie empfiehlt. Der für diese Empfehlung ausschlaggebende Einwand gegen die Labyrinthstrategie ist — neben den von ihr vorausgesetzten Anforderungen an die Aufbereitung des Suchraums — die Überforderung des verfügbaren Zeitbudgets, die nur durch heuristisch willkürliche Setzung des Anfangs und des Endes der Absuche des Suchraums vermieden werden kann. Diese Strategie ist mithin im Hinblick auf die Probleme, mit denen es eine Methodologie 82

Vgl. Langley 1981, Langley/Simon/Bradshaw/Zytkow 1987, S.23ss. Leinfellner 1965b, S.139ss, vgl. auch Id. 1965. 84 Zu einer Kritik an dieser imaginierten „Induktionsmaschine", die in einem anderen Zusammenhang steht, vgl. Kronthaler 1984, S.287ss. 85 Vgl. Kapitel II.3, S. 116-119. 83

2. Struktur von Methodologien der Theoriekonstruktion

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der Theoriekonstruktion zu tun hat, unrealistisch, da sie in der Regel zu hohe Anforderungen an die Aufbereitung des Suchraums stellt, und suboptimal, da sie der Begrenztheit des Zeitbudgets willkürlich nachkommt und dabei das vorliegende heuristische Wissen ignoriert. Daß die Labyrinthstrategie unrealistisch ist, beruht auf einem speziellen Aspekt einer Methodologie der Theoriekonstruktion: Sie hat es mit Problemarten zu tun, die durchweg opak sind, so daß der ihnen zuzuordnende Suchraum sich nicht wohldefiniert aufbereiten läßt. Dieser Unterschied zwischen Problemarten ist häufiger bemerkt worden, doch nur selten sind die Konsequenzen für heuristische Programme gezogen worden. 86 Zwei Varianten der Selektionsstrategie lassen sich im Anschluß an die beiden Einwände gegen die Orientierung einer Methodologie der Theoriekonstruktion an der Labyrinthstrategie unterscheiden. Der ersten Variante zufolge liegt ein vollständig spezifizierter Suchraum der Problemlösungen vor, für dessen Absuche zielorientierte Selektionsregeln zur Einschränkung des Zeitaufwandes aufgestellt werden. 87 Diese Variante der Selektionsstrategie wird häufig wegen ihrer unrealistischen Annahme über den Suchraum abgelehnt. So kritisiert beispielsweise Wenjamin Puschkin Programme wie den General Problem Solver mit dem Argument, daß bei derartigen Programmen die Heuristik lediglich als Einschränkung des vorgegebenen Suchraumes der Lösungsmöglichkeiten aufgefaßt werde. Der von Puschkin angekündigte ,heuristische Automat (HA)' soll demgegenüber eine „Strategie" realisieren können, „die nur ihrer äußeren Form nach als Durchlaufen eines Labyrinths angesehen werden kann. Die Arbeit auf der Basis eines Modells der Situation befreit den H A von der Notwendigkeit eines definierten Zustandsraumes. Er kann Aufgaben lösen, deren Suchraum unbestimmt ist." 8 8 In den seltensten Fällen kann für die Probleme, mit denen eine Methodologie der Theoriekonstruktion konfrontiert wird, ein wohlbestimmter Suchraum vorgegeben werden. Vielmehr wird man es mit weitgehend unstrukturierten Problemen und damit mit einem nur in Ausschnitten näher bekannten Suchraum zu tun haben. 89 Bei der zweiten Variante einer Selektionsstrategie 86 So unterscheidet z.B. Polikarov 1966, S. 119, in diesem Sinn zwischen „regulären" und „irregulären" Problemen; vgl. auch die Unterscheidung zwischen „ill-structured" und „ well-structured problems" bei Simon 1973. 87 Einer der ersten, der diese Variante des Selektionsmodells allgemein diskutiert hat, ist W Ross Ashby (vgl. Id. 1956). Ashby erörtert dort (S.226ss) Selektionsmöglichkeiten, die sich zwar auf Probleme beziehen, die prinzipiell nach der Labyrinthstrategie behandelt werden können, bei denen aber eine solche Behandlung zuviel Zeit beansprucht. 88 Puschkin 1969, S.332 (knappe Erläuterungen sowie Hinweise auf weitere Arbeiten Puschkins finden sich dort S.329-33). 89 Vgl. die Kritik bei Maull 1980 an Schaffner 1980.

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III. Struktur und Arten von Methodologien

dienen mithin die Selektionsregeln nicht nur der Einschränkung des Zeitaufwandes, sondern sie liefern zudem Einschränkungen für einen nur in Umrissen bekannten Suchraum und strukturieren teilweise erst die durch diese Restriktionen gewonnenen Teilräume. Für eine Reihe von Situationen oder Problemkonstellationen besitzt selbst diese zweite Variante der Selektionstrategie zu wenig heuristische Kapazität. Ihr liegt in der Anwendung auf eine Methodologie der Theoriekonstruktion die Annahme zugrunde, daß es eine Art Überproduktion potentieller Lösungsvorschläge gibt. Selbst von dem nur in vagen Umrissen bekannten Suchraum ist danach immer weit mehr bekannt als gebraucht wird. Oder wie es Poincaré pointiert formuliert hat: „Erfinden heißt [...] auswählen." 90 Thomas Nickles hat in einer Reihe von Untersuchungen auch zu Fallbeispielen diesen Aspekt anhand von empirischen und theoretischen constraints detailliert behandelt. 91 Die Suchraumeinschränkung ist mithin eine Vorab-Selektion. Bereits Hermann Lotze hat angenommen: „ I m übrigen können keine Regeln gegeben werden, die den erfindenden Gedankengang in der Bildung der Hypothesen unterstützen, sondern nur einige, die ihn beschränken," 92 Die Beschränkung ist jedoch nicht die einzige heuristische Tätigkeit im Rahmen einer Methodologie der Theoriekonstruktion, wenn es um komplexe und opake Probleme geht. Der andere Aspekt besteht in der Suchraumexpansion, d.h. in der Erweiterung des nur in vagen Umrissen bekannten Suchraums. 93 Die dritte Variante einer Selektionsstrategie umfaßt mithin sowohl Selektions- als auch Expansionsregeln. Für den Aspekt der Suchraumexpansion lassen sich erneut zwei Strategien unterscheiden: eine konservierende und eine modifizierende. Die konservierende Strategie führt zu einer Suchraumexpansion, welche die Selektionsregeln, die constraints der Auffindung, bewahrt. Dies ist nur dann möglich, wenn der Suchraum durch die Selektionsregeln nicht vollkommen bestimmt ist, und das ist bei den hier interessierenden wissenschaftlichen Problemen und dem Auffinden von Lösungen zumeist der Fall, auch wenn es Gegenbeispiele gibt. Die modifizierende Strategie führt zu einer Suchraumexpansion unter Verletzung von vorliegenden Restriktionen, die den Suchraum eingrenzen. Im Gegensatz zur bewahrenden Strategie ist die modifizierende nicht an die Voraussetzung eines unvollkommen bestimmten Suchraumes gebunden. 94 Heuristische Verfahren sind in der Regel nicht 90 Poincaré 1908, S.40. Auch Peirce geht von einer Überproduktion aus (hierzu Danneberg 1988); vgl. auch die Bemerkung bei Popper 1930/33, S.28, sowie Caws 1969. 91 Vgl. u.a. Nickles 1978. 92 Lotze 1883, S.85/86 (§86). 93 Das betont auch Landa 1969. - Beide Aspekte auch bei Whewell 1837, S.318. 94 Jüngst hat James Blachowicz zwischen suchraumeliminierenden und -korrigierenden Entdeckungsprozessen unterschieden und ihnen die Idee einer „weakly gene-

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung

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perse bewahrend oder verändernd. A m Beispiel von Modellbildung und Analogisierung als Verfahren der Expansion des Suchraumes läßt sich das anhand von Fallbeispielen illustrieren. 95 Weder die Labyrinthstrategie noch die Selektionsstrategie vermögen Erfolg zu garantieren. Bei beiden Strategien führt das begrenzte Zeitbudget zu einer Einschränkung der Erfolgsgarantie: Bei einer Labyrinthstrategie wird die Einschränkung willkürlich vorgenommen; bei einer Selektionsstrategie wird zwar das vorhandene heuristische Wissen für die Einschränkung zu verwerten versucht, doch schließt das aufgrund des begrenzten heuristischen Wissens keineswegs den Konflikt mit dem verfügbaren Zeitbudget aus. I m Fall einer Methodologie der Theoriekonstruktion sind die zu lösenden Probleme zudem in der Regel opak. Die Erfolgsaussichten werden demnach auch dadurch eingeschränkt, daß der Suchraum nur in vagen Umrissen bekannt ist. Es empfiehlt sich daher eher die Orientierung an einer Selektionsstrategie, wobei es zumeist erforderlich sein wird, neben Selektionsregeln auch Expansionsregeln zu berücksichtigen.

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung von Methodologien a) Die Beziehung zwischen Methodologien der Theoriekonstruktion und der Theorieevaluation Ausgangspunkt dieses Kapitels ist die Frage nach der Rationalität einer Methodologie der Theoriekonstruktion, bzw. nach der heuristischen Rationalität. 96 Diese Frage kann auf zweifache Weise verstanden werden: zum einen als Frage nach der Rationalität heuristischer Vorgehensweisen im Rahmen einer Methodologie der Theoriekonstruktion, zum anderen als Frage nach der Rationalität einer Methodologie der Theoriekonstruktion. Der folgende, auf den ersten Blick naheliegende Vorschlag einer Bestimmung der Rationalität eines konkreten heuristischen Vorgehens ist aus verschiedenen Gründen inadäquat: Ein heuristisches Vorgehen ist rational genau dann, wenn durch dieses Vorgehen die Konstruktion einer Theorie bzw. Problemlösung erreicht wird. rati ve" und einer „strongly generative logic" zugeordnet (Id. 1987). Auf die bewahrende Strategie der Suchraumexpansion geht er allerdings nicht ein. 95 Vgl. Danneberg 1989c. 96 Vgl. zu diesem Ausdruck Bernays 1969, S. 175. Dort heißt es: „Indem wir die Koppelung von Rationalität und Gewißheit fallenlassen, gewinnen wir unter anderem cue Möglichkeit, die heuristische Rationalität zu würdigen, die in der wissenschaftlichen Erkenntnis eine wesentliche Rolle spielt."

166

III. Struktur und Arten von Methodologien

Dieser Vorschlag ist schon deshalb inadäquat, weil in ihm auf eine zu wenig spezifizierte Zielsetzung für das heuristische Vorgehen zurückgegriffen wird. Ein dementsprechend modifizierter Bestimmungsvorschlag wäre: Ein heuristisches Vorgehen ist im Hinblick auf eine Methodologie der Theoriekonstruktion MTK rational genau dann, wenn durch dieses Vorgehen die Konstruktion einer Theorie bzw. Problemlösung erreicht wird, welche die in der MTK als (Teil-)Ziele festgelegten Merkmale aufweist. Doch auch dieser Bestimmungsvorschlag ist inadäquat; gegen ihn läßt sich ein Einwand erheben, der auch schon den ersten Vorschlag trifft. Beide Bestimmungsvorschläge haben zur Folge, daß jedes heuristische Vorgehen, durch das die in einer Methodologie der Theoriekonstruktion festgelegten (Teil-)Ziele erreicht werden, als rational einzustufen ist. Diese Konsequenz weist beide Bestimmungsvorschläge als zu weit aus. In diesem Sinn hat Jörgen Jörgensen bemerkt: „[...] if ,rational 4 is defined as expediency with regard to the attainment of a prescribed aim, e.g. a scientific theory, then every factor that is fit to further attainment of this is eo ipso,rational 4 [...]. In this sense even the most fantastic factors may be ,rational 4 elements in the development of science.44 9 7 Den zu wenig einschränkenden Charakter beider Bestimmungsvorschläge illustriert das in Kapitel II. 1 erörterte Intuitions-, Zufalls- und Unerklärbarkeitsargument. Die gegen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Heuristik bzw. einer Methodologie der Theoriekonstruktion gewendeten exemplarischen wissenschaftshistorischen Fälle einer als irrational empfundenen Situation des Auffindens von Theorien müßten nach beiden Bestimmungsvorschlägen als rationales heuristisches Vorgehen gedeutet werden. Der Streit zwischen Befürwortern und Gegnern einer Rationalisierung des Entdeckungszusammenhangs verlöre sich in einem alles übergreifenden Begriff von,rational 4 oder,irrational 4 . Beide Bestimmungsversuche sind jedoch nicht nur zu weit. Sie sind auch zu eng, denn es wird jedes heuristische Vorgehen ausgeschlossen, dem kein Erfolg beschieden ist. Diese Konsequenz gerät in Konflikt mit dem einer Methodologie der Theoriekonstruktion abverlangten Verzicht auf Erfolgsgarantie. Die Schwierigkeiten der beiden bisherigen Vorschläge lassen sich durch den folgenden Bestimmungsvorschlag vermeiden: Ein heuristisches Vorgehen ist im Hinblick auf eine MTK rational genau dann, wenn es den Normen, Regeln und Kriterien dieser MTK entspricht. 98 97

Jörgensen 1957-59, S.44. Dieser Bestimmungsvorschlag deckt sich in etwa mit Simons Bestimmung des Begriffs „logical44 (Id. 1973, S.473) : „We commonly call a process,logical4 when it satisfies norms we have established for it; and these norms derive from our concern that the rocess be efficacious or efficient for accomplishing the purpose for which it was estalished. A logic of scientific method, then, is a set of normative standards for judging 98

C

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung

167

Die Rationalität eines heuristischen Vorgehens ist durch die von einer Methodologie der Theoriekonstruktion vorgesehene Zielsetzung bestimmt, auf die nach der Erörterung der logischen Struktur von Methodologien ihre Normen, Regeln und Kriterien bezogen sind. Wann ist nun aber eine Methodologie der Theoriekonstruktion, d.h. ihre Zielsetzung rational? Diese Frage ist von der Frage ihrer Optimierung zu unterscheiden: Während sich die Frage der Optimierung einer Methodologie nach ihren Zielsetzungen richtet, 9 9 richtet sich die Frage ihrer Rationalität auf ihre Zielsetzungen. Die Antwort besteht darin, die Rationalität einer Methodologie der Theoriekonstruktion MTK von einer Methodologie der Theorieevaluation MTE abhängig zu machen: Eine MTK ist im Hinblick auf eine Methodologie der Theorieevaluation MTE rational genau dann, wenn für die Menge der (Teil-)Ziele dieser MTK gilt, daß sie eine Teilmenge der Konditionen und (Teil-)Zielsetzungen einer Methodologie der Theorieevaluation ist. 1 0 0 Die Bezugnahme nicht allein auf die (Teil-)Zielsetzungen einer Methodologie der Theorieevaluation, sondern auch auf ihre Konditionen ermöglicht, daß eine Methodologie der Theoriekonstruktion hinsichtlich der Bewertung von (Teil-)Zielsetzungen relativ unabhängig gegenüber einer MTE ist: In einer MTK können mithin Konditionen der ihr zugeordneten MTE als (Teil-)Ziele bewertet auftreten. Es müssen weder alle (Teil-)Zielesetzungen einer zugeordneten MTE in der MTK als (Teil-)Ziele bewertet, noch müssen sie überhaupt — auch nicht als Konditionen — in nichttrivialer Weise berücksichtigt sein. Diese Unabhängigkeit einer MTK von einer Methodologie der Theorieevaluation ermöglicht es, daß mit einet MTK auch im Verbund mit einer ihr zugeordneten MTE keine Geltungsansprüche verknüpft zu sein brauchen, d.h., daß sie auf Geltungsrelevanz verzichten kann. Entsprechend der Bestimmung des Verzichts auf Anspruch auf Geltungsrelevanz weist eine geltungsirrelevante Methodologie der Theoriekonstruktion keine relevante (Teil-) Zielsetzung bzw. keine relevante Kondition auÇ die — in einer nachgeordneten Methodologie der Theorieevaluation — der geltungsrelevanten Evaluation von Theorien dient. Die relative Unabhängigkeit beider Arten von Methodologien bedingt auch eine entsprechende Unabhängigkeit bei ihrer Preisgabe: Eine MTK kann aufgegeben werden, ohne daß damit auch die ihr zugeordnete MTE aufgegeben werden muß. Gleiches gilt auch umgekehrt — the process used to discover or test scientific theories, or the formal structure of the theories themselves." 99 Vgl. Kapitel III.l,S.149ss. 100 Diese Zusammenbindung von MTK und MTE scheint den Überlegungen Guttings zu entsprechen (vgl. Id. 1980b und 1980c), die seine früheren Auffassungen korrigieren.

168

III. Struktur und Arten von Methodologien

nämlich dann, wenn in einer MTK allein Konditionen aus der ihr zugeordneten MTE als (Teil-)Ziele bewertet werden. Es lassen sich strengere Forderungen an die Rationalität einer MTK richten, so z.B. die, daß es sich bei den als (Teil-)Ziele bewerteten Konditionen um Konditionen handelt, die in der zugeordneten MTE zentral und nicht peripher sind. Zur Bestimmung der Rationalität einer MTK sollte man es bei der recht schwachen Beziehung zu einer MTE belassen, die der obige Bestimmungsvorschlag vorsieht, während stärkere Beziehungen zwischen einer MTK und einer ihr zugeordneten MTE der Charakterisierung einer Konzeption der Optimierung sozusagen zweiter Stufe vorbehalten bleiben könnten, d.h. einer Optimierungskonzeption, die eine MTK nicht (nur) im Hinblick auf die in ihr festgelegten Zielsetzungen, sondern auch im Hinblick auf eine ihr zugeordnete MTE bewertet. A n die Bestimmung der Rationalität einer MTK schließt sich die Frage an, wann eine Methodologie der Theorieevaluation rational ist; also die Frage, wann die in ihr zu erreichenden (Teil-)Zielsetzungen rational gewählt sind. In Kapitel V I . l wird auf diese Frage eingegangen. Zur Bestimmung der Beziehung zwischen einer MTK und einer MTE läßt sich eine Parallele zur Unterscheidung zwischen der Angabe von Regeln zur Lösung von „Bestimmungsaufgaben" und zur Lösung von „Beweisaufgaben" ziehen. 101 Aufschlußreich sind dazu die Überlegungen Paul Bernays' in seiner Rezension von Pólyas How To Solve It , die die Frage betreffen, wann ein Problem des Beweisens in ein Problem des Auffindens übergeht: „ I n allen diesen Fällen [konstruktive Existenzbeweise und Beweis des Pythagoräischen Satzes] ergibt sich der Übergang zu einem Problem des Auffindens dadurch, daß die Aufgabe des Beweisens in bestimmter Art festgelegt wird. Es scheint nun, daß dieses Moment der bestimmteren Abgrenzung überhaupt das Wesentliche der hier in Rede stehenden Unterscheidung ausmacht. Nämlich sobald wir die Beweismöglichkeiten, die wir in Betracht ziehen, so einengen, daß die Beweisführung in einem präzise festlegbaren Rahmen zu erfolgen hat, so wird ja ein Beweis seinerseits zu einem mathematischen Gegenstand, welcher [...] als ein zu findender Gegenstand betrachtet werden kann. [...] Die Lösung einer Aufgabe des Beweisens läßt sich somit zerlegen in das Aufsuchen eines geeigneten Beweismodus, durch dessen Festlegung jene Aufgabe auf eine solche des Findens hinaus kommt, und dann die Lösung dieser Aufgabe des Findens. Es liegt hier also etwas vor, was man, in Analogie zu einer Bezeichnungsweise der mathematischen Logik, eine Aufgabe zweiter Stufe nennen könnte, nämlich eine Aufgabe, welche darin besteht, wiederum eine (für einen gewissen Zweck geeignete) Aufgabe aufzustellen." 102 101

Zur Unterscheidung von „Bestimmungs-" und „Beweisaufgaben" vgl. Pólya 1945, S.66-69. 102 Bernays 1947, S. 185/86.

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung

169

Eine,Methodologie' zur Lösung von „Bestimmungsaufgaben" könnte danach unter bestimmten Voraussetzungen in eine ,Methodologie' des Beweisens übergehen. Die Entwicklung bestimmter Algorithmen zum Beweis von Theoremen, d.h. zur Auffindung von Beweisen und Theoremen, wäre ein Beispiel. Wenn Bernays jedoch mit der Behauptung fortfährt, daß dieser „Sachverhalt [...] nicht auf den Fall speziell des mathematischen Beweises beschränkt" 1 0 3 ist, dann trifft das insofern nicht für die Beziehung zwischen einer MTK und einer MTE zu, als für eine MTK der „Beweismodus" nicht angegeben, bzw. die „Aufgabe zweiter Stufe" aus verschiedenen, bereits angesprochenen Gründen nicht gelöst werden kann. Es bedürfte der Spezifizierung von Merkmalen (im Rahmen einer MTE) der aufzufindenden Theorie oder Problemlösung, die ihre Geltung zuverlässig indizieren und für deren Konstruktion die Befolgung einer Methodologie größere Gewähr als ihre Ignorierung bietet. Zwar ist es nicht ausgeschlossen — wie die Erörterung von Argumenten gegen die Möglichkeit einer MTK erbracht hat —, daß beide Bedingungen erfüllt sein können; es besteht vorab aber auch wenig Grund für die Annahme, daß sie jemals erfüllt sein werden. Auch wenn Bernays' Überlegungen sich nicht auf die Beziehung zwischen einer MTK und einer MTE übertragen lassen, so legen sie doch nahe, die Beziehung zwischen beiden Methodologiearten aus der Sicht einer MTE zu prüfen. Eine MTE besitzt — folgt man dem Bestimmungsvorschlag für die Rationalität einer MTK — heuristische Kraft. 104 Das heißt, daß sie Elemente einer MTK ζ nthält, die sich ihr zuordnen lassen. Die heuristische Kraft kann bei Methodologien der Theorieevaluation unterschiedlich stark ausgeprägt sein. In der Regel läßt sich vermuten, daß eine MTE um so mehr heuristische Kraft besitzt, desto spezifizierter die in ihr vorgesehenen Konditionen sind und desto mehr offene Merkmale von Theorien sich bei ihren Konditionen berücksichtigt finden. ,Offene' Merkmale sind intra- und intertheoretische Merkmale von Theorien, die sich durch eine Analyse allein der Theorien feststellen lassen und die daher am ehesten durch eine MTK beeinflußbar sind. Diese Auffassung von der in Methodologien der Theorieevaluation angelegten heuristischen Kraft steht im Gegensatz zu der Auffassung Lakatos', die er in einem Hinweis zu der folgenden Skizze des Entwicklungsgangs der Auffassungen von Methodologien der letzten dreihundert Jahre formuliert: „ M a n hatte damals [im Zusammenhang mit den Methodologien des 17. und 18. Jahrhunderts] die Hoffnung, daß eine Methodologie einem Wissenschaftler mechanische Regeln zur Lösung von Problemen an die Hand geben würde. Diese Hoffnung ist heute aufgegeben: Moderne Methodologien oder 103

Bernays 1947, S. 185. Hieraus erklärt sich auch, weshalb Albert 1982, S.56, behaupten kann, daß die Methodologie Poppers eine „,Logik der Entdeckung' im Sinne einer rationalen Heuristik" sei. 104

170

III. Struktur und Arten von Methodologien

,Forschungslogiken' bestehen bloß noch aus einer Reihe (nicht eng verknüpften und keinesfalls mechanischen) Regeln zur Einschätzung (appraisal) fertiger, schon artikulierter Theorien." 1 0 5 In der Anmerkung zu der zitierten Passage finden sich die für die Auffassung Lakatos' entscheidenden Ausführungen: „Dies ist eine höchst wichtige Verschiebung im Problem einer normativen Wissenschaftstheorie. Der Ausdruck ,normativ' bezeichnet nicht mehr Regeln, mit deren Hilfe man Lösungen erreicht, sondern nur noch Hinweise für die Bewertung bereits vorhandener Lösungen. So wird die Methodologie von der Heuristik getrennt, in ähnlicher Weise, wie man Werturteile von Sollsätzen trennt." 1 0 6 Im Gegensatz zu der von Lakatos formulierten und von ihm im großen und ganzen 107 begrüßten ,Problemverschiebung' werden mit der hier vorgeschlagenen Bestimmung der Rationalität einer MTK beide Arten von Methodologien wieder näher zusammengerückt. Der Grund für die von Lakatos angesprochene Trennung von Methodologie und Heuristik läßt sich — historisch gesehen — in dem gescheiterten Versuch vermuten, die MTK, d.h. die Heuristik, mit Wahrheits- und Erfolgsgarantie auszustatten. A u f den ersten Aspekt — die Wahrheitsgarantie — ist Laudan in seinem knappen historischen Abriß zur Problemgeschichte einer logic of discovery eingegangen.108 Im Zuge dieser problemgeschichtlichen Darstellung hat er zu zeigen versucht, daß die älteren Ansätze zur Etablierung einer logic of discovery ihre Aufgabenstellung in der Geltung garantierenden Erzeugung infallibler Theorien gesehen haben. Orientiert einerseits an infalliblen Theorien sowie eingeschränkt andererseits angesichts der beschränkten Gültigkeit retroduktiver oder reduktiver Schlüsse schien allein eine logic of discovery das Kunststück vollbringen zu können, infallible Theorien zu erzeugen und ihren Geltungsanspruch abzusichern. Nach Laudan hat die Preisgabe des Infallibilismus zu einer Problemverschiebung geführt, durch die die Frage nach einer logic of discovery vehement an Relevanz einbüßt hat. Auch wenn eine so gedrängte Darstellung wie die Laudans zwangsläufig verkürzt — so hat beispielsweise Peirce trotz seines Fallibilismus eine logic of discovery vertreten 109 —, kann man mit 105

Lakatos 1971b, S.57. Lakatos 1971b, Anm.2, S.57. 107 Bei Lakatos 1971b, Anm.5, S.77 heißt es: „Ich möchte hier festhalten, daß ich immer Zweifel daran hatte, ob diese (zweifellos progressive Problemverschiebung) nicht etwas zu weit gegangen ist. Sie ist in der Philosophie der Mathematik eher noch mehr als in der Philosophie der Wissenschaften betont worden. Pólya folgend habe ich die Ansicht vertreten, daß es wohl so etwas wie eine Rumpelkammer für eine,echte4 Heuristik geben könnte, die rational und nichtpsychologisch ist." Auch Lakatos 1976. Zum Vergleich zwischen Lakatos' und Pólyas Konzeption Feferman 1981, auch Marchi 1980, S.448/49. 108 Vgl. Laudan 1980b. 109 Vgl. Danneberg 1988. - Laudan bemerkt zu Recht (Id. 1980b, S. 178): „Except in 106

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung

171

Laudan festhalten, daß mit dem Verzicht auf Wahrheits- und Erfolgsgarantie eine wissenschaftliche Heuristik ihren Zweck in den Augen ihrer älteren Vertreter zu verfehlen schien und statt dessen der Rückzug auf eine Methodologie angetreten wurde, die lediglich Bewertungen vorliegender Theorien anzuleiten vermag. Zwar sind nicht zuletzt auch dank der Arbeiten Lakatos' in jüngerer Zeit verstärkt Fragen einer Heuristik ins Blickfeld der Wissenschaftstheorie gerückt, allerdings — soweit es z.B. Lakatos und die Anhänger einer Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme betrifft — in einer Deutung, die den zitierten Ausführungen Lakatos' entspricht: Die Heuristik ist methodologisch allein deshalb interessant, weil sie eine Rolle bei der Evaluation von Theorien bzw. Forschungsprogrammen spielt. 110 Demgegenüber re-etabliert die hier vorgenommene Bestimmung der Beziehung zwischen einer MTK und einer MTE die Eigenständigkeit einer wissenschaftlichen Heuristik als MTK, wiewohl im Hinblick auf eine MTE.

b) Formen der Anwendung und Empfehlung

von Methodologien

Lakatos' zitierter Hinweis führt zu einer weiteren Fragestellung. In seinem Hinweis werden zwei Ebenen miteinander verknüpft, indem zwei Gegensatzpaare aufgestellt und parallelisiert bzw. analogisiert werden: (i) „Werturteile" versus „Sollsätze" und (ii) „Bewertung vorliegender Lösungen" versus „Regeln, mit deren Hilfe man Lösungen erreicht". Diese Verknüpfung und Parallelisierung beruht auf einer aufschlußreichen Konfusion. Methodologien der Theorieevaluation geben Anleitungen zur Bewertung der Güte von Theorien — oftmals im Vergleich mit anderen Theorien; Methodologien der Theoriekonstruktion geben Anleitungen zur Auffindung von Theorien. Darin besteht offenbar nicht der Unterschied zwischen beiden Methodologien. Lakatos könnte den Unterschied zwischen HandlungsarAeiiungen und BewertungsaxAeitungen meinen. Bewertungsanleitungen sollen so charakterisiert sein, daß ihr Vollzug zu einem Werturteil führt, während Handlungsanleitungen so charakterisiert sein sollen, daß ihr Vollzug zu irgendeinem Ergebnis führt, nur nicht zu einem Werturteil. In einer Methodologie der Theorieevaluation dienen derartige Handlungsanweisungen z.B. dem Aufweis bewertungsrelevanter Merkmale von Theorien. Eine solche Unterscheidung ist zwar für die Analyse von Methodologien wichtig, aber es ist very special circumstances, infallibilism leeds ineluctably to generationism (although not vice versa) and to the obliteration of any significant distinction between the logics of discovery and justification". Ausnahmen lagen z.B. vor, wenn die Ansicht vertreten wurde, alle Konsequenzen einer Theorie (praktisch) priifen zu können, oder aber wenn man meinte, alle in Frage kommenden Theorien sukzessive ausscheiden zu können (z.B. durch entsprechende Experimente). 110 Vgl. Kapitel V I , S.254/55

172

III. Struktur und Arten von Methodologien

auch offensichtlich, daß bei dieser Deutung Lakatos' Ausführungen nicht mehr korrekt sind. Denn eine Methodologie (der Theorieevaluation) weist neben Bewertungsanleitungen immer auch zumindest implizite Handlungsanleitungen auf und Poppers Methodologie der Theorieevaluation, das Paradigma der Ausführungen Lakatos', weist derartige Handlungsanleitungen explizit auf. Der Unterschied zwischen Heuristik, also einer MTK, und Methodologie, also einer MTE, kann demnach nicht mit der so gedeuteten Unterscheidung zwischen „Sollsätzen" und „Werturteilen" übereinstimmen. Eine dritte Deutung dessen, was Lakatos an der betreffenden Stelle meinen könnte, beruht auf der Entgegensetzung des empfehlenden Charakters einer ΜΤΚηηά des nichtempfehlenden Charakters einer MTE. In der Tat kann eine MTE nichtempfehlenden Charakter besitzen und dies entspricht auch Lakatos' eigenen Vorstellungen über den normativen Charakter von Methodologien. 111 Lakatos' Parallelisierung impliziert, daß eine MTKmxv empfehlend sein kann. Die Konfusion wird deutlich, wenn zwischen zwei Ebenen des empfehlenden Charakters einer ,Heuristik' bzw. einer ,Methodologie' unterschieden wird: einem inneren und einem äußeren. Eine Methodologie besitzt inneren empfehlenden Charakter, wenn ihre Anleitungen zu Ergebnissen — Theorien bzw. Werturteilen — führen, die empfehlenden Charakter besitzen. Eine Methodologie weist äußeren empfehlenden Charakter auf, wenn ihre Wahl empfohlen wird. A u f den ersten Blick scheinen innerer und äußerer empfehlender Charakter von Methodologien nicht unabhängig voneinander zu sein. Es gibt jedoch jeweils Interpretationen der folgenden Kombinationsmöglichkeiten, die beide unabhängig voneinander machen. Nach der ersten Kombinationsmöglichkeit ( 1 ) besitzt eine Methodologie {MTK wie MTE) sowohl inneren als auch äußeren empfehlenden Charakter. Diese Kombinationsmöglichkeit, also MTK 1 und MTE\ ist unbestritten. 111 Vgl. auch Anm.HI. 115. Es ist behauptet worden, daß eine Trennung von Bewertung und Empfehlung unzulässig oder unplausibel sei (vgl. z.B. Quinn 1972, S.143, Stegmüller 1973, S.296; zu einer „prescriptivist definition of,better'" in Anlehnung an Hare vgl. Smyth 1972/73, dazu Castaneda 1973/74 und Silverstein 1973/74). So fragt z.B. Smart 1972, S.269: „What is the point of saying that a scientific research programme is a good one if this is not meant as advice to follow it or to do likewise?" Husain Sarkar hat die Situation mit der Beurteilung von Handlungen anhand einer ethischen Konzeption verglichen (vgl. Id. 1978, S.478/79, und Id. 1980, S.371/72). Wird nach einer solchen Konzeption eine bestimmte Handlung gegenüber einer anderen als ,besser' beurteilt, so sei es - wie Sarkar meint - „bizarre", wenn man diese ethische Konzeption akzeptiert, die Beurteilung aber nicht als Empfehlung auffaßt oder ausspricht. Wenn man annimmt, daß es sich dabei nicht um eine Definitionsfrage oder eine Frage des vorherrschenden Sprachgebrauchs handelt, dann ist es m.E. sowohl im Hinblick auf eine ethische Konzeption als auch im Hinblick auf eine Methodologie durchaus plausibel, eine Bewertung entsprechend der akzeptierten Konzeption vorzunehmen, ohne zugleich in einer konkreten Handlungssituation aus dieser Bewertung Wahl- oder Entscheidungskonsequenzen zu ziehen oder zu empfehlen und ohne damit die akzeptierte Konzeption aufzugeben.

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung

173

Nach der zweiten Kombinationsmöglichkeit ( 2 ) besitzt eine Methodologie lediglich äußeren empfehlenden Charakter. Für eine MTE 2 läßt sich das so interpretieren, daß ihre Wahl zwar empfohlen wird, doch die unter ihrer Anleitung unternommenen Bewertungen von Theorien keine empfehlende Kraft zuerkannt erhalten, d.h., mit ihnen werden keine Verhaltens-, Wahl- oder Entscheidungskonsequenzen hinsichtlich der bewerteten Theorie, z.B. ihre Verwerfung, verknüpft. 1 1 2 Für eine MTK 2 läßt sich diese Kombinationsmöglichkeit so interpretieren, daß ihre Wahl zwar empfohlen wird, aber es gegenwärtig keine (akzeptierte) Methodologie der Theorieevaluation gibt, die ihr zugeordnet werden kann. 1 1 3 Nach der dritten Kombinationsmöglichkeit ( 3 ) besitzt eine Methodologie inneren empfehlenden Charakter, aber keinen äußeren. Es handelt sich um Methodologien, also MTK? und MTE?, die als Methodologien nicht empfohlen werden, deren Anleitungen aber zu Ergebnissen — Theorien bzw. Bewertungen von Theorien — führen, die empfohlen werden. Auch für diese Kombinationsmöglichkeit gibt es eine sinnvolle Interpretation, wie an späterer Stelle deutlich werden wird. Unberücksichtigt kann die vierte Kombinationsmöglichkeit bleiben, nach der eine Methodologie weder inneren noch äußeren empfehlenden Charakter besitzt. Zur weiteren Differenzierung von Methodologien führt das zweite von Lakatos aufgestellte Gegensatzpaar, nämlich ,vorhandene' versus ,zu erreichende Lösungen'. Bei Methodologien kann zwischen ihrer prospektiven und ihrer retrospektiven Anwendung unterschieden werden. Bei der prospektiven Anwendung einer Methodologie der Theoriekonstruktion M7Xpgeht es um das Auffinden einer Theorie t, d.h., t liegt zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht vor: MTK

P

(26)

\

1

Bei der prospektiven Anwendung einer Methodologie der Theorieevaluation MTE ? liegt eine Theorie t bereits vor, während die Beurteilung dieser Theorie W{t) aussteht: MTE ρ (27)

112

W(t)

Kordig 1968 bezweifelt diese Möglichkeit (in einer Kritik an Toulmin 1967b), ohne jedoch hinreichend zwischen der Empfehlung einer Methodologie und dem empfehlenden Charakter einer Methodologie zu unterscheiden. 113 Vgl. zu einem Beispiel Kapitel IV.3.

174

III. Struktur und Arten von Methodologien

Bei der retrospektiven Anwendung einer Methodologie der Theoriekonstruktion MTK R liegt eine Theorie t vor; es geht um die Rekonstruktion des Auffindens dieser R(t) : MTK

R

(28)

Bei der retrospektiven Anwendung einer Methodologie der Theorieevaluation MTE K\iegt eine Theorie t und ihre Bewertung W(t) vor; es geht um die Rekonstruktion dieser Bewertung R{W(t))\ \ MTE (29)

. R(W(t))

R

; t, W(t )

Die retrospektive Anwendung einer Methodologie besteht mithin in der (auch kritischen) Rekonstruktion stattgefundener Prozesse des Auffindens bzw. der Bewertung von Theorien; die prospektive Anwendung einer Methodologie besteht demgegenüber in der Anleitung zukünftigen rationalen Handelns beim Aufstellen bzw. Bewerten von Theorien. Auch wenn eine MTK wie eine MTE sowohl prospektiv als auch retrospektiv anwendbar sind, kann ihre Aufstellung oder Empfehlung nur auf einen dieser Anwendungsbereiche beschränkt sein. Keine Methodologie ,fordert' eine bestimmte Festlegung ihrer Anwendungsart. Diese Unterscheidung von Anwendungsarten ist nicht identisch mit der von beschreibend' und,normativ' oder,kritisch'; methodologieangeleitete Rekonstruktionen können durchaus kritisch gegenüber „faktischen Genesen" sein. 114 Die Charakterisierung der Anwendungsarten von Methodologien beruht auf Vereinfachungen, die allerdings ihre Relevanz für die später erörterten Probleme der Überprüfung und Evaluation von Methodologien nicht beein114 Vgl. das bei Mittelstraß 1974, 1977, 1979, 1979b, 1981 und 1985 entworfene Programm der „rationalen Rekonstruktion". Die Unterscheidung zwischen prospektiver und retrospektiver Anwendung entspricht nicht der bei Hooker 1972. Nach Hooker erlaubt eine retrospektive Methodologie die Evaluation von Theorien im Hinblick auf die vorliegende Evidenz, während eine prospektive Methodologie angibt, welche Theorie als nächste wissenschaftlich behandelt werden sollte (vgl. auch Kapitel III.3.c). Unterschiede bestehen fernerhin zu Stegmüllers „prospektivem" und „retrospektivem Aspekt strategischer Maximen" (Id. 1983, S.241) sowie zu Husain Sarkars „backward-looking" und „forward-looking view in the theory of methodology" (Id. 1983b, S.5/6 und 147).

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung

175

trächtigen. Veranschaulichen lassen sich diese Vereinfachungen anhand der Charakterisierung von M T E ? , d.h. der prospektiven Anwendung einer Methodologie der Theorieevaluation. Nach der Charakterisierung in (27) liegt bei MTE ? eine zu bewertende Theorie bereits vor. Dieser Begriff des Vorliegens einer Theorie im Hinblick auf die Bewertung durch eine MTE vereinfacht den vorliegenden Sachverhalt; denn nicht selten muß die vorliegende Theorie für die unter Anleitung der Methodologie erfolgende Bewertung erst bearbeitet werden; das reicht von ihrer Aufbereitung, z.B. durch eine partielle Axiomatisierung und Formalisierung, über ihre Purifizierung, z.B. durch die Ignorierung von Bestandteilen, die sich einer Bewertung im Rahmen der gewählten Methodologie entziehen, bis zu ihrer Emendation, z.B. durch die Hinzunahme von Bestandteilen, die nur ,implizit' vorliegen. Ein etwas realistischeres Schema als (27) ist demnach (30), wobei t m die bearbeitete Theorie ist: MTEp (30)

' :

r

^

Verbindet man die Formen der Empfehlung — innerer und äußerer empfehlender Charakter — mit den Formen der Anwendung — prospektive und retrospektive Anwendungen — einer Methodologie, dann wird deutlich, daß Lakatos' These über die historische Entwicklung der Beziehung von Heuristik bzw. Methodologie mehrdeutig ist. Zwar weichen die einschlägigen Äußerungen Lakatos' in diesem Punkt ein wenig voneinander ab, doch ist anzunehmen, daß eine Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, also seine MTE, nach Lakatos keinen inneren empfehlenden Charakter besitzt 1 1 5 und daß sie allein für die retrospektive Anwendung vorgesehen ist. 1 1 6 Nimmt man an, daß Lakatos seine historische These in Übereinstimmung zu seiner Methodologieauffassung sieht, dann besteht diese These aus den folgenden beiden Behauptungen: Was sich in den letzten dreihundert Jahren in der Auffassung von Heuristik und Methodologie (in der Hauptsache) verändert hat, besteht zum einen in der Orientierung vom empfehlenden zum nichtempfehlenden inneren Charakter von Methodologien, zum anderen in der Orientierung von der prospektiven zur retrospektiven Anwendung von Me115 Vgl. die unterschiedlichen Deutungen bei Quinn 1972, S. 138^49, Schramm 1974, Giesen/Schmid 1974, Musgrave 1976, S.473-82, Feyerabend 1975 und 1976d, Sarkar 1978 und 1980, Raub/Koppelberg 1978, die sich zudem mit den Arbeiten Musgraves und Worralls (Id. 1976, S. 16Iss) auseinandersetzen, sowie Brown 1981. Zu den nicht einheitlichen Äußerungen Lakatos' in dieser Frage auch Musgrave 1978, S.214-18 sowie Stegmüller 1973, S.295/96. 1,6 Vgl. Kapitel VI.3.

176

III. Struktur und Arten von Methodologien

thodologien. Beide Behauptungen sind unabhängig voneinander und lassen sich auch unabhängig voneinander erörtern; diese Behauptungen sind es, die bei Lakatos konfundiert werden. Werden die drei Kombinationsmöglichkeiten der Verbindung des inneren und äußeren empfehlenden bzw. nichtempfehlenden Charakters mit den beiden Anwendungsarten einer Methodologie verbunden, dann bestehen für eine Methodologie der Theoriekonstruktion und der Theorieevaluation jeweils sechs Kombinationsmöglichkeiten, MTK\ und MTE\, wobei j = 1,2,3 und i = P,R. Eine mit (26) übereinstimmende Darstellung wäre für MTK ] ?: MTKL E(t)

(31)

Das heißt: Diese Methodologie der Theoriekonstruktion hat sowohl äußeren — MTK 1 — als auch inneren — E(t) — empfehlenden Charakter und ist für die prospektive Anwendung vorgesehen. Entsprechend gilt für MTE\, : MTE\ W E{t)

(32)

M i t (28) korrespondiert die schematische Darstellung von MTK X K \ MTK\' (33)

RE(t)

Illustriert wird diese Kombinationsmöglichkeit durch die Empfehlung einer MTK zur wissenschaftshistorischen Rekonstruktion von Prozessen des Auffindens von Theorien, die z.B. als ,rational' oder ,irrational' bewertet werden. Die entsprechende Variante einer Methodologie der Theorieevaluation, nämlich MTE l K, sieht schematisch wie folgt aus: ; MTK' : t, w(t)

R

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung

177

Diese Möglichkeit kann gedeutet werden als die Empfehlung einer normativen MTE als ,harter Kern' eines wissenschaftshistoriographischen Programms, durch das die rekonstruierten Züge der Wissenschaftsgeschichte auch bewertet werden sollen, z.B. als,rational' oder,irrational'. Ein Beispiel, auf das in Kapitel VI. 3 eingegangen wird, ist Lakatos' Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme zusammen mit seinem Meta-Kriterium zur Evaluation von Methodologien als wissenschaftshistorisches Programm, das an Wissenschaftshistoriker adressiert ist. Für die Kombinationsvarianten MTK^ und A/TÄ^erhält man eine schematische Darstellung, wenn in (31) bzw. (32) E(t) durch t bzw. W E(t) durch W(t) ersetzt wird; für die Kombinationsvarianten MTE^und M77%durch die Ersetzung von E(t) durch t in (33) bzw. von W E(t) durch W(t) in (34). Bei MTE\ handelt es sich um eine prospektiv anzuwendende Methodologie der Theorieevaluation, die empfohlen wird, aber nichtempfehlenden Charakter besitzt. Ein Beispiel ist Lakatos' Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, insofern sie (Natur-)Wissenschaftlern empfohlen wird. Bei MTE? K handelt es sich um die retrospektive Anwendung einer entsprechenden Methodologie. Ein Beispiel ist Lakatos' Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme als wissenschaftshistoriographisches Programm ohne sein Meta-Kriterium. Entsprechend werden die schematischen Darstellungen von MTK 3?, MTK? K, MTE? ? und MTE? K gebildet.

c) Arten von Methodologien Zwei Arten von Methodologien sind im Rahmen dieser Untersuchung bislang unterschieden worden. Neben (MTK) Methodologien der Theoriekonstruktion sind dies (MTE) Methodologien der Theorieevaluation. Die Methodologien der Theorieevaluation lassen die Unterscheidung verschiedener Methodologie-Arten im Hinblick auf die vorgesehenen Zielsetzungen zu. Da wenig Aussicht besteht, Methodologien der Theorieevaluation anhand ihrer Zielsetzungen vollständig und systematisch zu unterteilen, soll lediglich eine mögliche Unterscheidungsweise illustriert werden. Die erste von drei Methodologie-Arten, die sich im Rahmen einer Methodologie der Theorieevaluation unterscheiden ließen, sind (MTE S) Methodologien der Theorieselektion. Diese Art von Methodologien zielt auf eine Evaluation von Theorien im Hinblick auf ihre Selektion zur weiteren Bearbeitung im Forschungsprozeß. Ausschlaggebend sind forschungspragmatische Aspekte wie kognitive und finanzielle Ressourcen, Entwicklungsstand von Hilfsdisziplinen oder Hard-

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III. Struktur und Arten von Methodologien

ware-Kapazitäten, aber auch allgemeine ,metaphysische' Weltbildannahmen und Problemstellungen, die die Theorien nach ihrer „metaphysischen Relevanz" 117 zu selektieren erlauben. Die der weiteren Evaluation vorausgehende Theorienselektion läßt sich aufgrund ihrer geltungsirrelevanten Zielsetzung von anderen Methodologie-Arten der Theorieevaluation unterscheiden, aber auch als regelhafter Bestandteil des Entdeckungszusammenhangs ansehen und damit als eine Art Methodologie der Theoriekonstruktion. Die in Kapitel 1.2. angesprochene, durch Hansons Arbeiten zu einer logic of scientific discovery nahegelegte Trichotomisierung von Entdeckungsund Begründungszusammenhang wird aus einem Bereich der Theorieauffindung, einem Bereich der Theorieevaluation und einem, von der Theorieevaluation gesonderten Bereich der Theorieselektion gebildet, der sich zwischen Theorieauffindung und Theorieevaluation schiebt. Neben bereits erwähnten Beispielen 118 sind Guttings regulative principles, 119 Laudans context of ρursuit, 120 Holtons Themata, 121 Kekes' context of introduction 122 zu. nennen. Allerdings sind Ideen, die auf eine Methodologie der Theorieselektion verweisen, schon älter — etwa Peirces im Rahmen seiner Überlegungen zur economy of research gedeutete Abduktionskonzeption 123 oder Hermann Lotzes Überlegungen zur Beziehung von „Postulaten" und „Hypothesen". 1 2 4 Die aufgrund ihrer Struktur bestehende Möglichkeit der Konzipierung von Methodologien unterschiedlicher Zielsetzungen ersetzt eine starre Dichotomisierung oder Trichotomisierung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang und bildet zugleich den Rahmen, um derartige Unterscheidungsvorschläge zu rekonstruieren. 1 2 5 Gegen eine Methodologie der Theorieselektion ist eingewandt worden, daß sie zur unerwünschten Konzentration auf eine Theorie führe und damit alternative Forschungswege behindere. 126 Eine solche Befürchtung ist aus verschiedenen Gründen unbegründet; sie beruht auf der Annahme, daß eine Methodologie der Theorieselektion angehalten sein sollte, sehr streng zu se117

Vgl. Agassi 1964, S.119, Id. 1967, S.318, und Id. 1975; auch Kapitel IV.3, S.246. Vgl. Kapitel 1.2, S.23. 119 Vgl. Gutting 1972/73. 120 Vgl. Laudan 1977, S. 108-14. 121 Vgl. Holton 1973. 122 Vgl. Kekes 1985, S.75ss (auch Id. 1979, S.408, sowie 1980, Teil 3). 123 Vgl. Danneberg 1988, eine andere Deutung findet sich bei Rescher 1976 und Id. 1978b, Kap.I (dazu Goudge 1981, S.361ss); auch Fann 1970, S.43-51, Sharpe 1970, S..25/26, W.M. Brown 1983, Foss 1984b. 124 Vgl. Lotze 1880, S.415-17 (§275). 125 Vgl. Kapitel 1.2, S.20. 126 Ein solcher Einwand scheint bei Mott 1983, S.308, vorzuliegen; vgl. auch Musgrave 1976, S.480, allerdings in einem etwas anderen Problemkontext. Sarkar 1983b, Kap. V, sieht dieses Problem generell bei einer MTE, und er schlägt vor, Wissenschaftlergruppen sollten mit verschiedenen Methodologien arbeiten („theory of group 118

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung

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lektieren. Entscheidend bei einer Methodologie der Theorieselektion ist indes nicht die Strenge ihrer Selektion, sondern daß sie überhaupt selektiert, und zwar zielgerichtet. Dieses Ziel wird nicht zuletzt von der ihr nachgeordneten Methodologie bestimmt. Eine solche, der Methodologie der Theorieselektion nachgeordnete Methodologie soll eine (ΜΤΕ Ψ) Methodologie der wissenschaftlichen Theorieevaluation sein. Methodologien dieser Art zielen auf die Evaluation der wissenschaftlichen Güte von Theorien und sollen geltungsrelevant sein. Methodologien besitzen Geltungsrelevanz, wenn (1) ihr Ziel als epistemisch anerkannt w i r d 1 2 7 und wenn (2) ihre logische Struktur und ihr Aufbau eine Diskriminierung der zu evaluierenden Theorien im Hinblick auf das als epistemisch anerkannte Ziel ermöglicht. 128 Der erste Aspekt dieser Bestimmung ist problematisch, da es keine klare und übereinstimmende Grenzziehung zwischen epistemischen und nichtepistemischen Zielen von Methodologien gibt. 1 2 9 Während bestimmte forschungspragmatische Kriterien nicht als epistemisch gelten und Wahrheit in der Regel als epistemisches Ziel anerkannt wird, ist damit noch keine klare Grenzziehung vorgegeben. So ist es beispielsweise unklar, ob ein Ziel wie die Vergrößerung der Problemlösungskapazität von Theorien — also z.B. Laudans Konzeption 1 3 0 — zweifelsfrei als epistemisch gilt oder als epistemisch gedeutet werden kann. 1 3 1 Zum zweiten Aspekt der Bestimmung ist anzumerken, daß er sich allein auf die logische Struktur und den Aufbau von Methodologien bezieht. Er bleibt unberührt von dem Problem des immer möglichen Irrtums bei der Feststellung bestimmter Merkmale von Theorien. Methodologien der Theorieevaluation können im Prinzip weiter differenrationality"; dazu kritisch M. Martin 1987, S.255s). 127 Im Hinblick auf die Akzeptanz als epistemisches Ziel ist damit weder etwas über die Adressaten noch über den Umfang der Akzeptanz ausgesagt. 128 Voraussetzung ist, daß nicht nur das Ziel als epistemisch, sondern auch die Verknüpfungen mit sog. Wissensquellen als epistemisch relevant anerkannt sind. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen in der Wissenschaftsphilosophie, in denen die Verbindung mit,Wissensquellen4 wie Tradition, Autorität, Intuition, Evidenz, Offenbarung, Erfahrung usw. als epistemisch irrelevant kritisiert werden. 129 Bei McMullin 1984, S. 129, heißt es: „[...] the criterion for deciding whether something counts as an epistemic factor in a given case is reasonably well-defined. An epistemic factor is one which the scientist would take to be a proper part of the argument he or she is making. Other factors affecting the outcome arrived at can be described as ,ηοη-epistemic'." 130 Vgl. Laudan 1977, zur Diskussion vgl. die Hinweise in Anm. V.56. 131 Selbst dann, wenn ein Ziel oder Wert als epistemisch gilt, bedeutet dies noch nicht, daß jeder logisch verknüpfte Indikator ebenfalls als epistemisch gelten muß. Umgekehrt läßt sich kein Indikator als prinzipiell nichtepistemisch ansehen, da er aufgrund empirischer oder quasi-empirischer Annahmen mit einem epistemischen Ziel oder Wert verbunden und als epistemisch anerkannt sein kann (Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte sind nicht selten; so wird z.B. bei McMullin 1978, S.55, nahegelegt, daß für Newton eine bestimmte Theologie als ein epistemischer Indikator fungierte).

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III. Struktur und Arten von Methodologien

ziert werden. Als einen solchen Differenzierungsvorschlag lassen sich Wesley Salmons Überlegungen zu Plausibilitäts- und Bestätigungsargumenten im Hinblick auf die Anwendung von Bayes' Theorem der Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Beurteilung der Bestätigung von Hypothesen deuten. Es bedarf hierbei der Zuweisung einer Anfangswahrscheinlichkeit an die zur Beurteilung anstehende Hypothese, bevor sich die Formel des Bayes-Theorems anwenden läßt — ein bekanntlich notorisches Problem und für die Ablehnung jeglichen Bayesianismus gängiger Anknüpfungspunkt. 132 Nach Salmons ,objektivem Bayesianismus4 gibt es Plausibilitätsargumente — bezogen auf deduktive und induktive Beziehungen zu bereits vorliegenden Theorien, pragmatische Kriterien — , die eine solche Zuweisung erlauben: „Plausibility arguments embody considerations relevant to the evaluation of prior probabilities. They are logically prior to the confirmatory data emerging from the hypothetico-deductive schema, and they involve direct consideration of whether the hypothesis is of a type likely to be successful. These plausibility arguments do not, of course, contribute to a logic of discovery. They are not only admissible into a logic of justification; they are an indispensable part of it " 133 Entscheidend ist, daß damit Methodologien der wissenschaftlichen Theorirevaluation in zwei Gruppen zerfallen können: in solche, die die Anfangswahrscheinlichkeit von Hypothesen festzulegen erlauben, und solche, die die Bewertung ihrer empirischen Bestätigung anleiten. Von den Methodologien der wissenschaftlichen Theorieevaluation sollen unterschieden werden (MTE H) Methodologien der praktischen Evaluation von Theorien. Methodologien dieser Art zielen auf eine Evaluation von Theorien im Hinblick auf ihre Verwendung im Kontext praktischen Handelns. Die Unterscheidung zwischen Methodologien der selektierenden, wissenschaftlichen und praktischen Theorieevaluation ist orientiert an der intuitiven Idee zunehmend strengerer Anforderungen. Methodologien der genannten Arten können untereinander vereinbare oder unvereinbare Theorieevaluationen anleiten. 134 I m ersten Fall stiften die jeweiligen Methodologien für die evaluierten Theorien die gleichen Rangordnungen, allerdings mit dem Unterschied, daß sie nicht denselben Platz in der jeweiligen Werteskala einnehmen müssen. D.h.: Eine Theorie kann nach der Werteskala etwa einer Methodologie der wissenschaftlichen Theorieevaluation akzeptabel sein, nicht aber 132 Howson 1985, S.306, hat auf die Parallele hingewiesen, daß auch die deduktive Logik nicht über Wahrheitswerte Urteile zu fallen vermag. 133 Salmon 1966, S. 118, vgl. auch Id. 1970. 134 So unterscheidet z.B. Watkins 1984, S.156ss zwischen der Theorieselektion („to work on a theory") und der Theorieevaluation („adopting a theory") und er behauptet im Hinblick auf inkonsistente Theorien, daß diese im Sinne der Theorieselektion, nicht aber im Sinne der Theorieevaluation akzeptiert' werden können.

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung

181

im Hinblick auf die Werteskala einer Methodologie der praktischen Theorieevaluation. I m zweiten Fall stiften die jeweiligen Methodologien unterschiedliche Rangordnungen, die nur aus kontingenten Gründen übereinstimmen, sei es in der Rangordnungsfolge, sei es auf der Werteskala. D.h.: Eine Theorie kann auf der Werteskala einer Methodologie der wissenschaftlichen Theorieevaluation vor einer anderen rangieren, während dies in bezug auf die Werteskala einer Methodologie der praktischen Theorieevaluation umgekehrt ist. In der wissenschaftsphilosophischen Methodologiediskussion findet sich — wenn auch nicht in dieser Terminologie — nicht nur die Unterscheidung zwischen einer MTE S und einer MTE™, sondern auch die Unterscheidung zwischen einer MTE w und einer MTE H. 135 Ein Beispiel sind die Überlegungen Richard Rudners in seinem Aufsatz The Scientist Qua Scientist Makes Value Judgements. Auch wenn seine Überlegungen nicht in erster Linie die Unterscheidung zwischen einer Methodologie der wissenschaftlichen und der praktischen Theorieevaluation bezwecken, eignen sie sich recht gut, um diese Unterscheidung zu verdeutlichen. Rudners Überlegungen zielen — in der hier verwendeten Terminologie — darauf ab, die Relevanz einer Methodologie der praktischen Theorieevaluation herauszustellen: „[...] since no scientific hypothesis is ever completely verified, in accepting a hypothesis the scientist must make the decision that the evidence is sufficiently strong or that the probability is sufficiently high to warrant the acceptance of the hypothesis. Obviously our decision regarding the evidence and respecting how strong is ,strong enough', is going to be a function of the importance , in the typical ethical sense, of making a mistake in accepting or rejecting the hypothesis. Thus, to take a crude but easily manageable example, if the hypothesis under consideration were to the effect that a toxic ingredient of a drug was not present in lethal quantity, we would require a relatively high degree of confirmation or confidence before accepting the hypothesis — for the consequence of making a mistake here are exceedingly grave by our moral standards. On the other hand, if say, our hypothesis stated that, on the basis of a sample, a certain lot of machine stamped belt buckles was not defective, the degree of confidence we should require would be relatively not so high. How sure we need to be before we accept a hypothesis will depend on how serious a mistake would be." 137 Eine ähnliche Auffassung hat C. West Churchman vertreten. 138 Rudners Überlegungen haben eine anhaltende Diskussion ausgelöst. Die vornehmlich von Richard Jeffrey vorgebrachten Einwände besagen, daß Rudner zwei Ar135 Vgl. auch Stegmüllers Unterscheidung theoretischer und praktischer Nachfolgeprobleme zum „Hume-Problem der Induktion" (Id. 1973b, S.82ss und 537ss). 136 Vgl. Rudner 1953. 137 Rudner 1953, S.2, auch Id. 1956. 138 Vgl. u.a. Churchman 1956 und 1956b.

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III. Struktur und Arten von Methodologien

ten von Methodologien in problematischer Weise verbinde 139 : eine Methodologie wissenschaftlicher Evaluation mit einer Methodologie der praktischen Evaluation von Theorien bzw. mit einer Methodologie der Evaluation von Technologien. Jeffrey behauptet — in nuce —, daß Rudner wissenschaftliche Theorien evaluieren will, diese aber als praktische Handlungen auffasse. Er hält dem entgegen, daß der Wissenschaftler Theorien nicht im Hinblick auf praktisches Handeln zu verwerfen oder zu akzeptieren habe, sondern sie lediglich wissenschaftlich evaluieren solle. Jeffreys ,evaluativer Deskriptionismus' ist nur eine von mehreren Positionen, die man einnehmen kann, wenn man die Ansicht teilt, Rudner vermenge zwei zu unterscheidende Evaluationsziele. Andere Positionen sehen auch für Methodologien der wissenschaftlichen Evaluation die Möglichkeit der Akzeptation und Verwerfung, z.B. im Hinblick auf epistemic utilities anstatt von practical utilities. 140 Die Entgegensetzung von epistemic und practical utilities deckt sich indes nicht mit der Unterscheidung zwischen einer MTE w und einer MTE H : So können practical utilities als Konditionen in einer Methodologie der Theorieevaluation berücksichtigt sein, deren Zielsetzung ausschließlich auf epistemic utilities beruht. Umgekehrt gilt das gleiche. Ebenso ist es nicht auszuschließen, daß unter den (Teil-)Zielsetzungen einer Methodologie der Theorieevaluation sowohl epistemic als auch practical utilities nebeneinander vorkommen. Die Unterscheidung verschiedener Arten von Methodologien der Theorieevaluation beinhaltet nicht, daß vorliegende Methodologien nicht artübergreifend sind oder sein dürfen; so kann eine vorliegende Methodologie der wissenschaftlichen Theorieevaluation zugleich separate Kriterien für eine Theorieselektion vorsehen. Allerdings besteht gelegentlich Uneinigkeit darüber, welche Methodologiearten von einer vorliegenden Methodologie umfaßt werden. Ein Beispiel für diese Uneinigkeit ist die Diskussion um Poppers Methodologie der wissenschaftlichen Theorieevaluation. Umstritten ist Poppers Anspruch, 141 mit seiner Methodologie auch eine Methodologie zur Evaluation im Kontext praktischen Handelns geliefert zu haben. 142 139 Vgl. Jeffrey 1956. - Zur weiteren Diskussion vgl. Levi 1960,1962 und 1967, Leach 1968, McLaughlin 1970, Gaa 1977, Hempel 1981 (dazu Leach 1981 und Feleppa 1981). 140 Vgl. u.a. Hempel 1960, S.78s, Id. 1962, S. 149-63, und 1966, S. 132, mit Hinweisen auf die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung epistemischer von nichtepistemischen Werten; vgl. auch Anm.III.139 und 142. Vgl. auch Levi 1980b, Kap.2. 141 Vgl. z.B. Popper 1971, sowie die Erörterung der „pragmatic problems of induction" in Id. 1974b, S. 1025s. Stegmüller sieht in der Methodologie Poppers und der (rekonstruierten) induktiven Logik des (späten) Carnap sich im Hinblick auf die Unterscheidung der theoretischen und praktischen Nachfolgeprobleme zum „Hume-Problem der Induktion" ergänzende Konzeptionen; er übersieht (vgl. z.B. Id. 1973b, S.84) allerdings, daß Popper mit seiner Methodologie zumindest den Anspruch erhebt, auch das praktische Nachfolgeproblem gelöst zu haben. — Ebenso wie Popper, wenn auch mit einer anderen methodologischen Konzeption, beinhaltet die Konzeption von Isaac Levi die Einheit von praktischer und wissenschaftlicher Bewertung, vgl. z.B. Id. 1976 (dazu Backman 1983 und Kaplan 1983).

3. Arten und Formen der Anwendung und Empfehlung

183

A m Schluß steht die Frage, ob Ansprüche auf Geltungsrelevanz von Methodologien unabhängig von ihrem (inneren oder äußeren) empfehlenden Charakter sind. Für die praktische Unabhängigkeit des Anspruchs auf Geltungsrelevanz und des empfehlenden Charakters von Methodologien sprechen die folgenden Gründe 1 4 3 : Der innere und äußere empfehlende Charakter einer Methodologie ist vereinbar mit fehlender Geltungsrelevanz, wie sich dem Beispiel einer Methodologie der Theorieselektion entnehmen läßt. Ebenso ist die Geltungsrelevanz einer Methodologie mit dem Fehlen eines äußeren empfehlenden Charakters vereinbar. Als unplausibel könnte allein die Annahme erscheinen, daß die Geltungsrelevanz einer Methodologie auch mit dem Verzicht auf inneren empfehlenden Charakter vereinbar ist. Es gibt Situationen, in denen es zweckmäßig erscheint, trotz Geltungsrelevanz der Methodologie auf den inneren empfehlenden Charakter dieser Methodologie zu verzichten. Solche Situationen werden plausibler, wenn man berücksichtigt, daß der Anspruch auf inneren empfehlenden Charakter auch von Annahmen über die Adressaten und ihre Entscheidungssituationen abhängen kann, in denen mit Hilfe einer Methodologie Entscheidungen gefällt werden sollen. So könnte die konkrete Entscheidungs- und Wahlsituation des Adressaten durch einen komplexen Zusammenhang von Zielsetzungen gesteuert sein, von denen die geltungsrelevante Methodologie nur einen kleinen Teil zu repräsentieren und zu koordinieren vermag. Gelten die übrigen Zielsetzungen nicht als auf diesen Teil reduzierbar, dann wird eine geltungsrelevante Methodologie nicht umfassend genug sein, um neben Anleitungen zur Bewertung von Theorien auch Anleitungen zur Wahl von Theorien in derart komplexen Situationen zu geben (vgl. Kapitel V I . l ) . Ob sie inneren empfehlenden Charakter zugesprochen erhält, hängt demnach nicht zuletzt von Situationsbedingungen ab.

142 Vgl. kritisch zu diesem Anspruch u.a. Lakatos 1968, S.390-405, Niiniluoto/Tuomela 1973, S.203, Howson/Worrall 1974, S.368, Jeffrey 1975, S. 111/12, O'Hear 1975 und Id. 1980, S.36-42, Salmon 1981 (mit dem Vorschlag eines ,Bayesian approach' zur Analyse rationaler Entscheidungen unter Unsicherheit, vgl. auch Niiniluoto 1982), sowie jüngst die konzedierenden Ausführungen bei Watkins 1984, S.337-48; fernerhin Anm.1.18. Einen Verteidigungsversuch unternimmt Miller 1982b, S.40-42; einen vorsichtigen Modifikationsversuch Settie 1974, S.702ss (dazu zurückhaltend Popper 1974b, S. 1117/18). 143 „Praktisch unabhängig" bedeutet hier, daß es in konkreten Situationen zweckmäßig ist, das eine ohne das andere zu tun oder vorzuziehen.

IV. Der Aufbau von Methodologien

Über das Schicksal der erkenntnistheoretischen Behauptungen und Definitionen entscheidet [...] der Erfolg der deduzierten „empirischen Methode". [...] Worin besteht nun wissenschaftlicher Erfolg? Wir sind weit davon entfernt zu glauben, daß eine derartige Frage theoretisch beantwortet werden kann. Wir behaupten vielmehr, daß die Antwort davon abhängt, was man für wissenschaftlich wertvoll hält. Die Methoden-Theorie wird also zu einer Lehre, die ausgeht von gewissen wissenschaftlichen Zielsetzungen oder von wissenschaftlichen Zwecken. Solche wissenschaftlichen Zwecke und Zielsetzungen kann es sehr verschiedene geben. Eine rationale Entscheidung zwischen ihnen halte ich für unmöglich. So kann man etwa als das Ziel der Wissenschaft die Herstellung einer möglichst gesicherten Theorie sehen; ja, vielleicht sogar die Aufstellung einer absolut gesicherten Lehre. Wer derartige Ziele versucht, dem muß die Entwicklung der Physik seit der Jahrhundertwende als ein Zusammenbruch der Wissenschaft erscheinen. Gegen einen solchen Zusammenbruch kann man sich mit methodologischen Beschlüssen unschwer wehren, man beschließt, ein gewisses, als brauchbar und einfach ausgezeichnetes System unter allen Umständen festzuhalten [...]. Das ist ungefähr der Dinglersche Konventionalismus. Wir wollen uns gegenüber einer derartigen Wertung nicht in naturalistischer Weise darauf berufen, daß die heutige Wissenschaft offenbar nicht so vorgeht. Im Gegenteil, gegenüber einem derartigen naturalistischen Einwand würden wir uns auf die Seite Dinglers schlagen und ihm recht geben, daß die Festsetzung der letzten Grundlagen immer in unserer Macht steht und uns niemals in primitiver Weise durch Tatsachen aufgezwungen werden kann. Wenn wir dennoch für die moderne Naturwissenschaft plädieren, so tun wir es [...] darum, [...] weil uns die Wissenschaft so, wie sie ist, gefällt. Wir werten eben anders als Dingler. Unser Ziel ist nicht ein System sicher gegründeter Erkenntnisse, sondern unser Ziel ist, immer tiefer einzudringen in die ungeahnten Zusammenhänge der Natur; und nie sind wir sicher, einen Schritt (in der Richtung) zu diesem Ziel zu machen, als wenn uns gelingt, einen

1. Logische, empirische und quasi-empirische Verknüpfungen

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bisher für sicher gehaltenen Satz in überraschender Weise zu widerlegen. 1

1. Der Aufbau von Methodologien: logische, empirische und quasi-empirische Verknüpfungen Kernpunkt der Untersuchung des Aufbaus von Methodologien ist die Art und Weise der Verknüpfung ihrer Mittel, Konditionen und Zielsetzungen. Drei Arten von Verknüpfungen lassen sich unterscheiden 2 : - logische bzw. deflatorische, - empirische, - quasi-empirische. Erläuterungsbedürftig und auch problematisch sind die empirischen und quasi-empirischen Verknüpfungen. 3 Empirische Verknüpfungen sollen solche Verknüpfungen sein, zu deren Fundierung Annahmen verwendet werden, die nach der Methodologie, in der sie vorliegen, oder nach einer ihr zugeordneten Methodologie als empirisch gelten. Quasi-empirische Verknüpfungen sollen solche Verknüpfungen sein, die weder logische bzw. definitorische noch empirische Verknüpfungen sind. Dabei kann es sich um Verknüpfungen handeln, die aus der Sicht einer anderen, der betreffenden nicht zugeordneten Methodologie als empirisch gelten. Es gibt also zwei Möglichkeiten, daß nicht-logische Verknüpfungen einer Methodologie quasi-empirisch sind: Erstens, es handelt sich um Verknüpfungen, die durch Annahmen fundiert werden, die nicht die Anforderungen erfüllen, die diese Methodologie oder - im Fall einer geltungsirrelevanten Methodologie — die eine ihr zugeordnete Methodologie an empirische Annahmen stellt. Zweitens, es handelt sich um Verknüpfungen, die von vornherein nicht zum Anwendungsbereich dieser oder einer ihr zugeordneten Methodologie gehören, d.h., die nicht zu dem Bereich von Annahmen gehören, zu deren Evaluation diese Methodologien vorgesehen sind. Ein Beispiel können fundierende Annahmen wissenschaftshistorischer Art sein, wenn die (naturwissenschaftliche Methodologie, in der die durch sie fundierten Verknüpfungen 1

Popper 1930/32, S.364 und S.394. Die beiden ersten Verknüpfungsarten erwähnt auch Simon 1973, S.473/74. 3 Der Ausdruck „quasi-empirisch" wurde auch von Lakatos verwendet und mit einer bestimmten Auffassung von Mathematik verbunden (vgl. Lakatos 1976b). Da Lakatos später — der angeführte Aufsatz wurde 1966 geschrieben — offenbar eine etwas andere Auffassung vertritt und in diesem Zusammenhang auch nicht mehr den Ausdruck „quasi-empirisch" verwendet, habe ich diesen Ausdruck gewählt. Er findet sich auch bei Gutting 1972, S.66, allerdings im Sinn von „regulative principle". 2

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von Methodologien

vorliegen, nicht für die Anwendung auf wissenschaftshistorische Annahmen vorgesehen ist. Prinzipiell kann innerhalb der Menge der Zielsetzungen, der Konditionen und der Mittel sowie zwischen diesen Mengen eine Verknüpfung auf alle drei aufgeführten Arten erfolgen. Einschränkungen ergeben sich durch Zirkularitäts- und Adäquatheitsyrdblemz, durch die Charakterisierung eines Identifikationskerns von Methodologien, auf den sich die Deutung ihrer Veränderung als Preisgabe oder Korrektur bzw. Modifikation bezieht, und eventuell im Hinblick auf die Menge der Zielsetzungen.4 Die Zulassung empirischer und quasi-empirischer Verknüpfungen führt zu einer Reihe von Problemen. Eine Hauptgruppe bilden Zirkularitätsprob\eme. Für eine geltungsrelevante Methodologie sei eine empirische Verknüpfung wesentlich, deren fundierende empirische Annahmen durch eben diese Methodologie evaluiert und gegenüber alternativen Annahmen ausgezeichnet wird. U m ein Zirkularitätsproblem handelt es sich in diesem Fall erst dann, wenn bei der Evaluation dieser empirischen Annahme ein Teil der geltungsrelevanten Methodologie herangezogen wird, in dem die zu fundierende Verknüpfung wesentlich vorkommt. Wichtig wird diese Einschränkung insbesondere für eine Methodologie der Theoriekonstruktion MTK und die ihr zugeordnete Methodologie der Theorieevaluation MTE: Empirische Verknüpfungen können in einer MTK vorgesehen und durch empirische Annahmen fundiert sein, die durch die ihr zugeordnete MTE evaluiert und empfohlen werden, ohne daß ein Zirkel in der Rechtfertigung der Wahl und Verwendung einer derartigen empirischen Verknüpfung auftritt. Für eine Methodologie bestehen zwei Möglichkeiten, um einen drohenden Rechtfertigungszirkel bei empirischen Verknüpfungen zu vermeiden: (i) es wird versucht, sie durch logische bzw. definitorische Verknüpfungen zu ersetzen; (ii) es wird der Anwendungsbereich der betroffenen geltungsrelevanten Methodologie derart verändert, daß die betreffende empirische Annahme ihm nicht mehr angehört; die empirische Annahme wird so zu einer quasiempirischen Annahme. Ein Beispiel soll diese beiden Strategien illustrieren. Es wird behauptet, daß Poppers MTE eine Lerntheorie beinhalte, die durch die Formulierung „wir lernen aus unseren Fehlern" oder durch elaboriertere Formulierungen charakterisiert werden kann. 5 Lakatos spricht ebenfalls davon, daß seine Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme impliziere, wie wir lernen: „we learn only from a few confirming instances." 6 In nuce ist damit auch der entscheidende methodologische Unterschied zwischen den Bestäti4 5 6

Vgl. unten S.251. Vgl. z.B. Agassi 1969. In einem Diskussionsbeitrag Lakatos' in Bechler et al. 1974, S.285. Für Lakatos

1. Logische, empirische und quasi-empirische Verknüpfungen

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gw«g.skonzeptionen von Poppers und Lakatos' Methodologien der Theorieevaluation formuliert. Derartige lerntheoretische Implikationen legen die Vermutung nahe, daß die betreffenden Methodologien zumindest in Teilen durch psychologische Annahmen fundiert sind oder werden können. Wenn es sich herausstellt, daß sie psychologisch fundiert sind, oder vorgeschlagen wird, sie psychologisch zu fundieren, dann ist die Anwendung beispielsweise von Poppers Methodologie zur Evaluation psychologischer Lerntheorien — Theorien behavioristischen Zuschnitts, Assoziationstheorien usw.7 — offenkundig problematisch. Diesen Punkt übersehen William Berkson und John Wettersten, wenn sie vorschlagen, Poppers Methodologie entsprechend ihrer Genese — wie sie meinen — als psychologisch fundiert aufzufassen. 8 Aus ihrer Sicht sind die psychologischen Annahmen, die zu dieser Fundierung herangezogen werden, ihren Konkurrentinnen überlegen. Sie ignorieren allerdings das intrikate Problem, anhand welcher Methodologie derartige psychologische Annahmen zu evaluieren sind und welche MTE ihr Urteil absichert. Popper hat demgegenüber immer betont, daß ihn logische und nicht psychologische Überlegungen bei der Akzeptation seiner Methodologie geleitet haben. Sein „principle of transference" läßt sich als der Versuch auffassen, der ersten der oben aufgeführten Strategien bei der Vermeidung empirischer Annahmen zur Fundierung von Verknüpfungen in seiner Methodologie zu folgen. Dieses Prinzip lautet: „[...] what is true in logic is true in psychology. (An analogous principle holds by and large for what is usually called scientific method' and also for the history of science: what is true in logic is true in scientific method and the history of science)."9 Auch wenn nicht immer klar ist — das wird auch von Berkson und Wettersten bemerkt und moniert —, was Popper bei seinen logischen Argumenten unter „ L o g i k " versteht, so macht dieses Prinzip deutlich, daß er zu vermeiden verfehlt allerdings jede rein ,empirische' Lerntheorie das eigentliche Problem (vgl. Id. 1970, S.123, Anm.2). 7 Vgl. Hilgard/Bower 1975. 8 Vgl. Berkson/Wettersten 1982. 9 Popper 1971, S.6; auch Id. 1972d, S.67/68, und 1974b, S.1024 (auch Id. 1930/33, S.29, aazu Anm. *4). Zu einer ersten kritischen Erörterung des „Principle of Transference" vgl. Sarkar 1978b. Dabei wird auch deutlich, daß Popper sich unterschiedlich über den Status und die (meta-methodologische) Rolle dieses Prinzips äußert. - Diesem Prinzip muß nicht widersprechen, wenn Popper seine Methodologie als eine Variante evolutionärer Erkenntnistheorie deutet (z.B. Id. 1972g, S.261, vgl. auch Anm.1.155) : „The theory of knowledge which I wish to propose is a largely Darwinian theory of the growth of knowledge." Die Übereinstimmung läßt sich bei Popper nämlich prinzipiell auch als Übertragung auf den biologischen Bereich lesen, denn es heißt bei ihm auch (Id. 1968c, S.145): „The tentative solutions which animals and plants incorporate into their anatomy and their behavior are biological analogues of theories; and vice versa: theories correspond [...] to endosomatic organs and their ways of functioning."

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r u u

von Methodologien

versucht, den Anwendungsbereich seiner Methodologie der Theorieevaluation künstlich einzuschränken. ,Künstlich einschränken 4 soll dabei heißen, daß ein Bereich bei der Anwendung einer geltungsrelevanten Methodologie ausgeklammert wird, obwohl die Annahmen dieses Bereichs die Bedingungen erfüllen, die ihre Anwendung ermöglichen. Poppers Hinweis auf ein analoges Prinzip für die Wissenschaftsgeschichte macht deutlich, daß sich seine Zurückweisung nicht auf den Bereich der Psychologie beschränkt, sondern sich auch auf die Fundierung durch empirische oder quasi-empirische wissenschaftshistorische Annahmen erstreckt. 10 Beide Strategien der Vermeidung empirisch fundierter Verknüpfungen führen zu Problemen. A u f einige Probleme der ersten Strategie, nämlich der Ersetzung durch logische bzw. definitorische Verknüpfungen, wird bei der Untersuchung des Aufbaus von Poppers MTE zurückzukommen sein. A u f Probleme der zweiten Strategie soll hier kurz hingewiesen werden. Wird für die ausgesparten Bereiche eine andere geltungsrelevante Methodologie zur Evaluation herangezogen, so ist für eine erfolgreiche Lösung Voraussetzung, daß diese ergänzende Methodologie nicht selbst von entsprechenden Zirkularitätsproblemen betroffen ist. Zu begründen ist weiterhin, weshalb gerade sie aus der Vielzahl alternativer geltungsrelevanter Methodologien gewählt wird. Diese und weitere Probleme der zweiten Strategie hängen mit dem allgemeineren Problem der Evaluation von Methodologien zusammen. So kann die zur Anwendungseinschränkung einer Methodologie führende, ergänzende Methodologie sie um ihre Anerkennung und Präferenz gegenüber alternativen Methodologien bringen, wenn für die Beurteilung von Methodologien die Anwendungsbreite ein ausschlaggebendes Bewertungskriterium ist. 11 Die zweite Hauptgruppe von Problemen, die neben den Zirkularitätsproblemen bei der empirischen Überprüfung oder Fundierung von methodologischen Verknüpfungen auftreten, bilden Adäquatheitsprobleme. Die Probleme dieser Art lassen sich anhand von Versuchen verdeutlichen, empirische Verknüpfungen einer MTK experimentell zu kontrollieren. Angenommen, es soll mit Hilfe einer experimentellen Anordnung festgestellt werden, ob durch die Befolgung vorgegebener heuristischer Verfahren ausgewählte Probleme effektiver gelöst werden können als regellos bzw. mit den jeweiligen ,Privatheuristiken 4 der Versuchspersonen. In diesem Zusammenhang können Fragen des experimentellen Designs sowie der Festlegung eines Instruments zur Feststellung signifikanter Resultate ignoriert werden. Vereinfacht und unter Vernachlässigung weiterer zu kontrollierender Variablen sollen für ein solches Experiment zwei Variablen ausschlaggebend sein: die Variable des Aufwandes, die der Einfachheit halber mit dem Zeitaufwand, und die Variable des 10 Vgl. unten Anm.V.232 sowie die Diskussion von Poppers Meta-Kriterium Anm.VI.19,48 und 249. 11 Vgl. Kapitel VI. 1.

1. Logische, empirische und quasi-empirische Verknüpfungen

189

Erfolges, die der Einfachheit halber mit der Zielerreichungsvariable identifiziert sein soll. Die Kriterien für den Erfolg, d.h. für die zu findende Problemlösung, sind bei einer solchen experimentellen Anordnung in der Regel nicht nur vorgegeben, sondern mit ihnen liegt zugleich die korrekte Problemlösung als bekannt vor. Das Adäquatheitsproblem einer derartigen experimentellen Kontrolle besteht darin, daß die Güte der erzielten Problemlösungen an fest vorgegebenen Kriterien gemessen wird, obwohl eine erzielte Problemlösung bzw. ein erreichter Problemlösungsstand — entgegen den festgelegten Kriterien — ,besser4 als die vorgesehene Lösung sein kann. Zudem kann eine gescheiterte Problemlösung zur Zurückweisung vorgesehener allgemeiner Bewertungsstandards führen und damit erst die Effektivität der sie orientierenden Heuristik aufdecken; sie kann fernerhin bessere Voraussetzungen als die vorab konzipierten gelungenen' Problemlösungen für Anschlußprobleme bieten. Das letzte Beispiel läßt sich auch als Ausdruck einer nichtintendierten bzw. als Grundlage einer intendierten zukünftigen indirekten Strategie auffassen, nach der kurzfristig suboptimal verfahren wird, um langfristig ein optimales Resultat zu erzielen. Beide Aspekte — sowohl die Abhängigkeit der Effektivität einer Heuristik von den angesetzten Standards 12 als auch der Problemlösungsgehalt für nachfolgende Problemstellungen — werden von der beschriebenen experimentellen Anordnung ignoriert. Nur für sehr isolierte Problemlösungsprozesse können experimentelle Untersuchungen aufschlußreich sein; für weniger isolierte Problemlösungsprozesse, mit denen es eine MTK in der Regel zu tun hat, sind die Versuchsanordnungen solcher Experimente oftmals inadäquat und wenig aufschlußreich. Ein Schritt zur Vermeidung dieser Inadäquatheiten besteht darin, die in die Versuchsanordnung eingehenden Einschränkungen zu lockern. Zum einen ließen sich offene Problemstellungen konzipieren, bei denen Problemlösungen nicht bekannt sind oder bei denen die Möglichkeit der Berücksichtigung nicht antizipierter innovativer Problemlösungen besteht; zum anderen ließe sich die Zeitlimitierung flexibler gestalten, indem Langzeituntersuchungen vorgenommen werden. 13 In den so verbesserten Versuchsanordnungen wird es zweckmäßig sein, sich die zu prüfenden Heuristiken von entsprechend ausgesuchten oder zusammengestellten Versuchsgruppen vorgeben zu lassen, da die Kontrolle der Beibehaltung vorgeschriebener Heuristiken über einen längeren Zeitraum kaum möglich sein dürfte. Die Untersuchung nach einem bestimmten Zeitlimit abzubrechen, um zu Resultaten' zu gelangen, stellt zwar 12 Abnehmende Strenge der Standards und zunehmende Effektivität der Heuristik muß nicht immer streng monoton sein. 13

Zu in dieser Weise konzipierten Untersuchungen, die allerdings auf den künstlerischen Bereich bezogen sind, vgl. Getzels/Csikszentmihalyi 1976 (dort auch weitere Literaturhinweise).

190

IV. Der Aufbau von Methodologien

noch immer einen Einschnitt dar, der vermutlich jedoch weniger verzerrend sein wird als die Zeitbegrenzung in der eingangs beschriebenen Versuchsanordnung. Von einer solchen flexiblen empirischen (experimentellen) Untersuchung führt nurmehr ein kleiner Schritt zu einer wissenschaftshistorischen Untersuchung: Bei wissenschaftshistorischen Untersuchungen sind die orientierenden Heuristiken nur sehr schwer und oft nicht unabhängig von den aufgefundenen Problemlösungen zu ermitteln und zu rekonstruieren, während gegenwartsbezogene Untersuchungen in dieser Hinsicht geringere Schwierigkeiten erwarten; die Bewertung der erzielten Problemlösungen ist dagegen zumeist weniger umstritten als bei gegenwartsbezogenen Untersuchungen, die nicht selten auf recht unsichere Prognosen über die zukünftige Relevanz und den Erfolg der erzielten Problemlösungen angewiesen sind. 14 Von den in diesem Zusammenhang entscheidenden Unterschieden zwischen beiden Untersuchungsweisen spricht der erste für eine wissenschaftshistorische, die zweite für eine gegenwartsbezogene Untersuchung. Die Berücksichtigung empirischer oder quasi-empirischer Annahmen zur Fundierung von Verknüpfungen in geltungsrelevanten Methodologien — so läßt sich resümieren — führt zu einer Reihe von Problemen, die prinzipiell vermieden werden können, insbesondere dann, wenn die entsprechenden Zirkularitäts- und Adäquatheitsanforderungen beachtet werden. Die Konsequenz dieser Anforderungen besteht in der Regel in der Beschränkung der Verwendung empirischer sowie unter bestimmten Bedingungen auch quasiempirischer Verknüpfungen (vornehmlich) in geltungsrelevanten Methodologien. Die genannten Zirkularitätsprobleme spielen nicht nur bei experimentellen, sondern auch bei wissenschaftshistorischen Untersuchungen zur Überprüfung von Methodologien eine Rolle. Sie werden daher im Kapitel V I im Zusammenhang mit der Erörterung meta-methodologischer Kriterien zur Überprüfung von Methodologien anhand von Wissenschaftsgeschichte wieder aufgenommen und weiter analysiert. Vor einer solchen detaillierten Analyse für den wissenschaftshistorischen Bereich steht die Frage, welche Relevanz empirische oder quasi-empirische Verknüpfungen nicht nur in einer Methodologie der Theoriekonstruktion, sondern auch in einer Methodologie der Theorieevaluation besitzen. Die beiden folgenden Kapitel werden eine Antwort auf diese Frage am Beispiel von Poppers Methodologie der Theorieevaluation entwickeln.

14 Es gibt eine Anzahl weiterer Unterschiede, auf die ich hier nicht einzugehen brauche. Zu weiteren Adäquatheitsproblemen (im Zusammenhang mit wissenschaftshistorischen Untersuchungen) vgl. Kapitel VI.l. Zu Laudans ,meta^nethodologischem Naturalismus4 vgl. unten S.365-67; ein Vorschlag zur experimentellen Überprüfung von Methodologien findet sich bei Sarkar 1983b, Kap.V; vgl. fernerhin Martin 1972 und 1984.

191

2. Rekonstruktion des Aufbaus einer Methodologie

2. Rekonstruktion des Aufbaus einer Methodologie am Beispiel von Poppers Methodologie der Theorieevaluation Die folgende Rekonstruktion eines Teils der Methodologie Poppers erfolgt vor dem Hintergrund von drei Zielsetzungen: (i) die Rekonstruktion soll der Illustration von Überlegungen zur logischen Struktur und zum Aufbau von Methodologien dienen; (ii) mit ihrer Hilfe soll die Frage geprüft werden, welchen Erfolg Poppers Versuch der Beschränkung seiner Methodologie auf logische Verknüpfungen hat, d.h., inwieweit die erste Strategie zur Vermeidung empirischer bzw. quasi-empirischer Verknüpfungen erfolgreich ist; (iii) schließlich soll durch die Rekonstruktion der Einwand geprüft werden, der im Anschluß an die Unterscheidung von drei Arten der Verknüpfung von Zielen, Konditionen und Mitteln in einer Methodologie gegen die Rehabilitierung einer Methodologie der Theoriekonstruktion formuliert werden kann: Eine Methodologie der Theoriekonstruktion sei im Unterschied zu einer Methodologie der Theorieevaluation keine eigentliche Methodologie; während eine eigentliche Methodologie lediglich logische bzw. definitorische Verknüpfungen aufweise, komme eine Methodologie der Theoriekonstruktion ohne empirische oder quasi-empirische Verknüpfungen nicht aus. 15 In diesem Sinn — so ließen sich diese Überlegungen beschließen — wäre auch die Behauptung der Nichtrationalisierbarkeit des Entdeckungszusammenhangs zu verstehen, die durch eine Methodologie der Theoriekonstruktion — wie sie hier konzipiert ist — nicht in Frage gestellt werde. Weder von Popper selbst noch von anderer Seite liegt eine umfassende Darstellung seiner Methodologie vor, aus der ihre logische Struktur und ihr Aufbau zusammenhängend und explizit hervorgeht 16 — abgesehen davon, daß viele der bisherigen rekonstruktiven Untersuchungen keine ungeteilte Zustimmung gefunden haben.

a) Problemstellung

der Rekonstruktion

der Methodologie

Poppers

Ein allgemein als entscheidend anerkannter Bestandteil der Methodologie Poppers ist die Ablehnung von konventionalistischen Strategemen oder — in Anlehnung an den Sprachgebrauch Hans Alberts — von Immunisierungsstra15 Die folgende Erörterung ist unabhängig von der Frage, ob eine,eigentliche4 Methodologie überhaupt erwünscht ist. Nach Feyerabend wäre diese Frage eher zu verneinen, denn bei ihm heißt es (Id. 1978c, S.347) : „Sie [seil, die Methodologie, die Feyerabend für wünschenswert hält] löst nicht Regeln und Maßstäbe von Annahmen über die Welt, sie zeigt, wie gewisse Regeln in gewissen Welten funktionieren, und ermöglicht es uns so, sie mit Rücksicht auf ihre objektive Verwendbarkeit und nicht nur rein formal zu kritisieren." Vgl. auch unten S.241/42. 16 Die bislang umfangreichste und detaillierteste Erörterung einzelner methodologischer Regeln findet sich bei Johansson 1975.

192

IV. Der Aufbau von Methodologien

tegien. 17 A n verschiedenen Stellen beschreibt Popper Regeln des Ausschlusses immunisierender Strategien, 18 etwa die Regel, Hilfshypothesen zurückzuweisen, die den „Falsifizierbarkeitsgrad" einer Theorie, der sie zu Hilfe kommen, nicht erhöhen, sondern verringern. 19 Für die folgenden Überlegungen ist es nicht erforderlich, allen von Popper in diesem Zusammenhang formulierten Regeln zur Abwehr immunisierender Strategien nachzugehen.20 Es genügt, eine Regel sehr vereinfacht zu charakterisieren, die sich auf den entscheidenden Aspekt immunisierender Strategien bezieht. Nach dieser Regel sollen Strategien ausgeschlossen werden, die zu einer Verringerung des „Falsifizierbarkeitsgrades" einer Theorie führen. 21 Schematisch könnte die Regel wie folgt aussehen:

(1)

(Π * ( ! / * ,

In (1) bezeichnet \mx die Aufforderung, auf Immunisierungsstrategien bestimmter Art zu verzichten. Die Regel (1) stellt lediglich einen Teil des Regelzusammenhangs dar, der für den Ausschluß von immunisierenden Strategien von Belang ist. Sie findet beispielweise ihre Ergänzung durch Regeln, die festlegen, wie stattdessen mit Theorien verfahren werden soll, die Π erfüllen. Es ist daher an dieser Stelle nicht wichtig, ob es sich im Rahmen von Poppers Methodologie bei m] um ein Mittel handelt; ebenso kann auch die Unterscheidung zwischen der Nichtausführung und der Unterlassung einer Handlung vernachlässigt werden. 22 Das Ziel der Aufforderung (1) bezeichnet die Beibehaltung bzw. die NichtVerringerung des „Falsifizierbarkeitsgrades" der betreffenden Theorie. M i t der Wiedergabe dieses Regelziels als k x ist die Behauptung verbunden, daß das Ziel von (1) (lediglich) eine Kondition ist. Die Applikationsbedingungen Π von (1) umfassen das Vorliegen „falsifizierender Befunde" sowie unter Umständen weiterer Bedingungen. 17 Popper 1974b, S.983: „ I called these tactics (for historical reasons) conventional stratagems (or twists)', but my friend Professor Hans Albert has found a much better term for them. He calls them,immunizing tactics or stratagems' [...]". Vgl. aber auch Id. 1974, Anm.35, S. 160. 18 Vgl. die Auflistung und Erörterung bei Johansson 1975. 19 Vgl. Popper 1934, S.51: „Bezüglich der Hilfshypothesen setzen wir fest, nur solche als befriedigend zuzulassen, durch deren Einführung der,Falsifizierbarkeitsgrad' des Systems [...] nicht herabgesetzt, sondern gesteigert wird; in diesem Fall bedeutet die Einführung der Hypothese eine Verbesserung: Das System verbietet mehr als vorher. Anders ausgedrückt: Wir betrachten die Einführung einer Hilfshypothese in jedem Fall als Versuch eines Neubaues und müssen diesen dann daraufhin beurteilen, ob er einen Fortschritt darstellt." Vgl. auch Id. 1974, S.32. 20 Zu einer ausführlichen Kritik der Formulierung einer solchen Regel bei Popper vgl. insb. Grünbaum 1976b. 21 Die von Popper oben zitierte Formulierung wird hier ein wenig abgeschwächt. 22 Zur Bestimmung der Negation in einer Handlungslogik (bei Wright 1974) - vgl. Stock 1978/79; fernerhin Brennenstuhl 1980.

2. Rekonstruktion des Aufbaus einer Methodologie

193

Wichtig ist die vorläufige Annahme, daß diese Regel im Rahmen von Poppers Methodologie ausnahmslos gelten soll. Das heißt, daß es keine Verstärkung von Π — Π ν — gibt, so daß es in Poppers Methodologie eine Regel der folgenden Art gibt: (2)

(Tl^(\m2^kh))

In (2) ist k h irgendeine Kondition oder eventuell auch (Teil-)Zielsetzung und \m2 eine Aufforderung, aus der die Empfehlung immunisierender Strategien folgt, die also mit \mx unvereinbar ist. Die Verknüpfungen von Π , mx und k x sollen im weiteren Verlauf der Argumentation als unproblematisch vorausgesetzt werden. U m zu zeigen, daß (1) im Rahmen von Poppers Methodologie fundiert ist, muß für k x eine der folgenden Anforderungen erfüllt sein: (I) In Poppers Methodologie (i)

gibt es ein Teilziel z-, so daß (k x

z·) fundiert ist,

oder (ii) (Z ist,

k x ) gilt als fundiert, wobei Ζ die Zielsetzung der Methodologie

oder (iii) es gibt eine Kondition k h, für die (k h -> k x) als fundiert gilt und die selbst in einer fundierten Verknüpfung zur Zielsetzung der Methodologie steht — für die mithin entweder (i) oder (ii) erfüllt ist, oder (iv) es gibt eine Kondition k h, für die (k x k h) als fundiert gilt und die selbst in einer fundierten Verknüpfung zur Zielsetzung der Methodologie steht — für die mithin entweder (i) oder (ii) erfüllt ist. Die Erfüllung einer dieser Anforderungen zeigt, daß k x und — entsprechend der Voraussetzung — auch die Regel (1) im Rahmen von Poppers Methodologie als fundiert gilt. In dem vorliegenden Fall ist allerdings die stärkere Forderung zu prüfen, daß k x und mithin (1) in Poppers Methodologie logisch fundiert ist. Es bedarf daher zusätzlich der Erfüllung der folgenden Anforderung: (II) Wenn k x eine der Anforderungen unter (I) erfüllt, so müssen die dabei verwendeten Verknüpfungen ausschließlich logisch bzw. definitorisch fundiert sein. Wie läßt sich nun sowohl der Nachweis der Erfüllung von (I) und (II) durch (1) als auch der Nachweis für die ausnahmslose Geltung von (1) im Rahmen von Poppers Methodologie erbringen? Die folgende Möglichkeit läßt sich vorab ausschließen, bevor verschiedene Argumentationen für einen solchen Nachweis erörtert werden sollen.

194

IV. Der Aufbau von Methodologien

Popper betont, daß er dem „Konventionalismus" durch einen „Entschluß" zu entgehen beabsichtige. 23 Die Betonung des dezisionistischen Charakters der Rechtfertigung einer Regel der Art (1), die gegen den „Konventionalismus" gerichtet war, 2 4 läßt sich in zweifacher Weise deuten: Der „Entschluß" kann sich direkt auf (1) beziehen, d.h., daß (1) durch einen besonderen Entschluß fundiert wird. Wenn für (1) jedoch ein besonderer „Entschluß" erforderlich ist, dann wird implizit die Möglichkeit aufgegeben, eine der Alternativen von (I) zu erfüllen, da im Fall ihrer Erfüllung kein besonderer „Entschluß" für (1) erforderlich wäre. Der von Popper angesprochene „Entschluß" kann sich aber auch auf die Zielsetzung seiner Methodologie beziehen, und zwar in dem Sinn, daß der „Entschluß" zu dieser Zielsetzung die logische Fundierung von (1) durch die Erfüllung einer der Alternativen von (I) zur Folge hat. Obwohl sich Popper an dieser Stelle nicht explizit auf die Zielsetzung seiner Methodologie bezieht, nämlich die Wahrheit von Theorien oder — dynamisch ausgedrückt — die Annäherung an die Wahrheit, 25 ist wohl allein diese zweite Deutung der Intention Poppers angemessen.26 Das Fehlen einer expliziten Bezugnahme auf die Zielsetzung seiner Methodologie erklärt sich aus Poppers zur Zeit der Logik der Forschung bestehender Unsicherheit im Hinblick auf die angemessene Definition eines Wahrheitsbegriffs, der die Korrespondenzauffassung zum Ausdruck bringt und der gegenüber der Kohärenzauffassung zu bestehen vermochte, die Neu23 Vgl. Popper 1934, S.50. Später spricht Popper nicht mehr von „Entscheidungen" (oder „decisions"), sondern von „proposals". 24

Vgl. die in Anm. IV.15 zitierte Stelle. „Hauptvertreter" sind nach Popper (1934, S.47, Anm. 1) : „Poincaré, Duhem, in der Gegenwart: Dingler". Es scheint jedoch eher so zu sein, daß Dingler für Popper den Angriffspunkt darstellt (vgl. auch Id. 1930/33, S.215; zu dieser Vermutung Ströker 1968, S.506/07); kritisch zu einer derartigen Identifikation Dinglers mit dem „Konventionalismus" ist Wolters 1985b (auch Id. 1984b). - Nicht selten wird Poppers Methodologie selbst als eine Variante des Konventionalismus gesehen, so z.B. Agassi 1974c (dazu Popper 1974b, S. 1117); vgl. hierzu auch Ströker 1984 (auch Ead. 1984b). Allerdings ist zu unterscheiden zwischen einem meta^nethodologischen Konventionalismus, der die Frage der Akzeptanz einer Methodologie betrifft (vgl. Kapitel VI), und einem methodologischen Konventionalismus, der sich auf die Akzeptanz von Theorien oder,Basissätzen4 bezieht (zum sog. Basissatz-Konventionalismus Poppers vgl. Anm.IV.122). 25 Der Ausdruck „Annäherung an die Wahrheit44 findet sich in Poppers Logik der Forschung von 1934 noch nicht. In einem Zusatz von 1968 schreibt er (Id. 1934, S.96 [„ + Zusatz (1968)"]), daß ein „Hauptpunkt44 (von zweien), den er 1934 „betonte44, laute: „Das Ziel der Wissenschaft - das Wachstum unseres Wissens - besteht im Wachstum des Gehalts.44 Popper fügt hinzu, daß er später diesen Punkt weiterentwikkelt habe, und zwar durch die „Entwicklung der Beziehung zwischen dem Gehalt und dem Wahrheitsgehalt einer Theorie und deren Wahrheitsnähe oder Wahrheitsähnlichkeit (,verisimilitude4).44 In Id. 1930/33, S. 101, spricht Popper vom „Annäherungs-

charakter unserer Erkenntnis". 26

Das scheint u.a. bei Wellmer 1967, S. 102, übersehen zu werden.

2. Rekonstruktion des Aufbaus einer Methodologie

195

rath, 2 7 Carnap 28 oder Hempel 2 9 favorisierten. 30 Zudem konnte sich Popper aufgrund der Lösung des „Basisproblems" auch nicht den damaligen Opponenten der Kohärenzauffassung — vor allem Moritz Schlick 31 und Béla (von) Juhos 32 — anschließen.33 Erst mit Tarskis Vorschlag zu einer Definition des Begriffs der Wahrheit, die den Anspruch erhebt, „sachlich angemessen und formal korrekt" 3*zu sein, verwendet Popper die „Ausdrücke ,Wahrheit' und ,Falschheit' nunmehr ohne Zögern." 3 5 Eine ähnliche Reaktion läßt sich bei den meisten der früheren Anhängern einer Kohärenzauffassung der Wahrheit beobachten. 36 Popper ist zudem der Ansicht, daß mit Tarskis Definitionsvorschlag eine „Rehabilitierung" der Korrespondenzauffassung der Wahrheit 27

Vgl. Neurath 1931, 1932/33 und 1934. Vgl. Anm.IV.36. 29 Vgl. Hempel 1935 und 1935b, auch Anm.IV.36. 30 Zur Vorgeschichte der Kohärenzauffassung vgl. Khatchadourian 1961, Puntel 1978, S. 172-82, Palmer 1982, Coomann 1983, S.21-61; zur neueren Diskussion und Revitalisierung der Kohärenzauffassung vgl. vor allem Rescher 1973,1979 und 1985 (dazu Puntel 1978, S. 182-204, Yolton 1979, Airaksinen 1979, Coomann 1983, S.86ss, Bottani 1983), Lehrer 1974, insb. Kap. 7 und 8 sowie Id. 1977, Dauer 1974, Harris 1975, Bonjour 1976, Cohen 1978, Williams 1977 und 1980/81. Diese Diskussion bezieht sich allerdings zumeist auf ein erheblich weitergefaßtes Kohärenzkonzept als die Diskussion in den dreißiger Jahren. Ihr Kern ist die Opposition gegen fundamentalistische Begründungskonzeptionen und nicht durchweg die Ablehnung einer an der Korrespondenzauffassung orientierten Theorie der Wahrheit. 31 Vgl. z.B. Schlick 1934. 32 Vgl. Juhos 1934,1935 und 1937. 33 Zur Darstellung der Neurath-Schlick-Kontroverse vgl. Scheffler 1967, Kap.5, S.91-124, explizit im Hinblick auf Popper Andersson 1983; zur Diskussion dieser Kontroverse fernerhin die Beiträge in Haller (Hrg.) 1982 sowie Rütte 1979, Philippi 1986, S.xv-xxxii, Hofmann-Grüneberg 1986; auch Stegmüller 1954, Kap.III, Hung 1985 sowie Kutschera 1985. 34 Tarski 1944, S.55 — eine „sachlich zutreffende und formal korrekte Definition" wie es bei Tarski 1933, S.450, heißt. 35 Popper 1934, S.219, Anm. +1. Die Geschichte seiner Begegnung mit Tarski wird von Popper häufig erzählt und ebenso häufig hebt er die Bedeutung der „Lehre Tarskis" für seine Konzeption hervor. Sein Buch Objective Knowledge hat er Tarski gewidmet. Vgl. auch Anm.IV.39 36 Während Neurath auch in späteren Arbeiten der Kohärenzauffassung treu blieb (vgl. seine Bemerkung in Id. 1944, S.12), verließen Hempel und Carnap unter dem Eindruck der Semantikkonzeption Tarskis bald diese Position (vgl. Carnap 1936 und Hempel 1937, S.225-228; zu diesem Übergang auch die Kritik an Carnap und Hempel bei Kokoszynska 1936; erste Andeutungen finden sich bei Carnap bereits in Id. 1935, S.47/48). Zu Carnaps Übernahme der semantischen Wahrheitskonzeption Tarskis vgl. auch die Untersuchung bei Coffa 1977. Alberto Coffa arbeitet überzeugend die Kontinuität des kriteriologischen Wahrheitsbegriffs bei Carnap heraus; es findet sich bei ihm jedoch keine detaillierte Erklärung dafür, weshalb Carnap die semantische Wahrheitskonzeption integriert, obwohl gegen diese Konzeption eine Reihe von Bedenken bestanden (vgl. zu diesem Punkt auch die Erörterung des Neurath-Carnap-Briefwechsels bei Hegselmann 1985); vgl. jetzt die erhellende Untersuchung bei Coffa 1987. Neurath veranlaßte in diesem Zusammenhang Arne Naess zu einer empirischen Untersuchung über den Sprachgebrauch des Ausdrucks „wahr" (vgl. Naess 1938 und 28

196

IV. Der Aufbau von Methodologien

vorliege, 37 während er in der Logik der Forschung noch betont hat, daß in dem von ihm „skizzierten Aufbau der Erkenntnislogik [...] auf den Gebrauch der Begriffe ,wahr' und ,falsch' " verzichtet werden kann: „ A n ihre Stelle treten logische Überlegungen über Ableitbarkeitsbeziehungen." 38 Poppers philosophische Ausdeutung der Definition Tarskis ist nicht unumstritten. 39 Vor diesem Hintergrund kann mit Einschränkung der Darstellung Lakatos' zugestimmt werden: „Die Idee, daß das Ziel der Wissenschaft die Erkenntnis der Wahrheit ist, taucht in seinen [Poppers] Schriften zum erstenmal 1957 auf. In seiner Logik der Forschung kann das Streben nach der Wahrheit ein psychologisches Motiv des Forschers sein, nicht aber ein rationaler Zweck der Wissenschaft." 40 Die Einschränkung besteht darin, daß die Wahrheit schon für den Popper der Logik der Forschung der „Zweck der Wissenschaft" war, es sich dabei jedoch nicht um den unproblematischen Begriff von Wahrheit handelt, über den Popper erst mit Tarskis Wahrheitsdefinition zu verfügen glaubt, mit der er freimütig und explizit die Korrespondenzauffassung als Ziel seiner Methodologie zum Ausdruck bringen kann. 4 1 1938b, auch Id. 1953b). Vgl. auch die Kritik bei Field 1972 an Tarskis Wahrheitskonzeption, dazu McDowell 1978, Putnam 1978 (auch Hanson 1980) und Soames 1984. 37 Vgl. Popper 1961, S.l 17, 1963c, 1972e und 1976, S.35. 38 Popper 1934, S.219. - Dort, S.220, heißt es weiter: „Damit ist natürlich nicht gesagt, daß wir die Begriffe ,wahr' und ,falsch' nicht verwenden dürfen, daß ihre Verwendung etwa zu besonderen Schwierigkeiten Anlaß gibt; gerade wegen ihrer Eliminierbarkeit geben sie uns keinen Anlaß zu grundsätzlichen Fragestellungen. Der Gebrauch der Begriffe ,wahr' und,falsch' wird also durchaus analog sein dem Gebrauch von Begriffen wie ,Tautologie' [...]. Diese Begriffe sind außerempirische, logische Begriffe; [...]." (Die letzte Hervorhebung ist von mir.) In einer Anmerkung zu der zitierten Stelle meint Popper, Carnap würde solche Begriffe „syntaktische Begriffe" nennen. Popper übersieht, daß Carnap schon früh die Schwierigkeiten mit dem Begriff „wahr" gesehen hat und ihn deshalb gerade nicht als „syntaktischen Begriff" ansehen wollte (vgl. Carnap 1934, S.164,119,183 und 244, ausführlicher Id. 1934b, S.266^69). 39 Es besteht weder Übereinstimmung darüber, ob Tarskis Definition eine bestimmte Auffassung der Wahrheit favorisiere (vgl. z.B. die Bemerkung bei Goodman 1960, S.53), noch hinsichtlich der philosophischen Relevanz' dieser Definition (vgl. z.B. Black 1948, Tugendhat 1960 oder Putnam 1985/86, S.64, dagegen die Bemerkung bei Davidson 1967, S. 111 ; vgl. auch Franzen 1982). Explizit zu der Frage, ob Tarskis Wahrheitsdefinition eine Rehabilitierung der Korrespondenzauffassung im Sinne Poppers ist, vgl. Haack 1976 (dazu die knappen Bemerkungen bei Popper 1979, S.366s, sowie Jennings 1987) und Jennings 1983, allerdings ohne neue Argumente, sowie Siegel 1985. Kritisch ist in dieser Hinsicht vor allem Keuth 1978, insb. Kapitel I I (dazu Albert 1979, worauf Keuth 1982 repliziert). Vgl. auch die Bemerkung bei Quine 1986, S.493. — Die überzeugendste Argumentation für die Neutralität der Wahrheitsdefinition Tarskis findet sich bei Robinson 1985; vgl. auch Etchemendy 1988, S.52-64. 40 Lakatos 1971, S.81. 41 In einer Anmerkung zu der zitierten Stelle schreibt Lakatos (1971, Anm.27, S.81) : „Er [Popper] nennt das Streben nach Wahrheit den stärksten (nicht-wissenschaftlichen) Antrieb'". Zu der von Lakatos hinzugefügten Parenthese vgl. Popper 1974b,

2. Rekonstruktion des Aufbaus einer Methodologie

197

Abschließend kann festgehalten werden, daß zumindest aufgrund der späteren Arbeiten deutlich wird, 4 2 daß Poppers „Entschluß" nicht als besonderer „Entschluß" zur Einführung von (1) zu deuten ist. 4 3 M i t h i n bleibt zu prüfen, ob im Rahmen seiner Methodologie eine der Anforderungen unter (I) bei Berücksichtigung von (II) erfüllt wird. Bevor den Verknüpfungen von k x in Poppers Methodologie nachgegangen werden soll, gilt es, die ausnahmslose Geltung von (1) zu untersuchen. b) Die ausnahmslose Geltung einer Regel gegen die Verringerung des Falsifizierbarkeitsgrades von Theorien Die Frage nach der ausnahmslosen Geltung von (1) lautet: Was läßt sich — ausgehend von Poppers Methodologie — dagegen einwenden, wenn jemand der Ansicht ist, mit einer bestimmten Theorie eine wahre oder schützenswerte Theorie zu besitzen, und er daher (1) zwar nicht generell ablehnt, in bestimmter Weise aber eingeschränkt wissen möchte? I n diesem Fall würde für Π eine Verstärkung Π ν vorgeschlagen werden. Das führt zu einer Regel, die im wesentlichen mit (2) übereinstimmt: (3)



v

^(\m2^k2))

Die Verstärkung von Π spezifiziert in (3) die Bedingungen, unter denen (1) außer Kraft gesetzt ist; \m 2 stellt die Aufforderung der Einführung von Hilfshypothesen zum Schutz der betreffenden Theorie dar, und k 2 fordert als S. 1002/03. Lakatos bezieht sich dabei vermutlich auf die folgende Passage in der Logik der Forschung (Popper 1934, S.223): „[...] die Wissenschaft [ist] nicht nur biologisch wertvoll. Ihr Wert liegt nicht nur in ihrer Brauchbarkeit: Obwohl Wahrheit und Wahrscheinlichkeit für sie unerreichbar ist, so ist doch das intellektuelle Streben, der Wahrheitstrieb, wohl der stärkste Antrieb der Forschung." 42 Vgl. Popper 1957. 43 Die Einschränkung in dieser Aussage ist schon deswegen angebracht, weil Popper in der Logik der Forschung eine Regel „höhere[n] Typus" formuliert, die als „Norm für die Beschlußfassung der übrigen methodologischen Regeln" gelten soll (Id. 1934, S.26). Diese Norm besagt, daß die „verschiedenen Regelungen des wissenschaftlichen Verfahrens so einzurichten" sind, „daß eine etwaige Falsifikation der in der Wissenschaft verwendeten Sätze nicht verhindert wird." Der Status und die Formulierung dieser,höheren 4 Norm sind nicht klar, und es könnte der Eindruck entstehen, als ob mit dieser Regel bereits eine Regel zur Abwehr ,konventionalistischer4 Verteidigungsstrategien formuliert wird (vgl. Nola 1987, S.450), so daß (1) nun doch durch einen gesonderten „Entschluß" fundiert erscheint. Poppers Formulierung läßt aber auch eine andere Deutung zu (wobei anzumerken ist, daß eine genauere Analyse des Methodologieverständnisses Poppers in der Logik der Forschung noch immer ein Desiderat ist). Danach drückt diese,höhere4 Regel zum einen aus, daß das Ziel seiner Methodologie in der Falsifikation von Theorien besteht, und zum anderen die (relativ selbstverständliche) meta-methodologische Norm, daß die methodologischen Regeln die Erreichung dieses Ziels unterstützen sollen.

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IV. Der Aufbau von Methodologien

Ziel der Regel (3) die Unversehrtheit der betreffenden Theorie - eine Unversehrtheit, die auch um den Preis der Verringerung des „Falsifizierbarkeitsgrades" zu bewahren ist. Gegen die Einführung von (3) läßt sich zunächst einwenden, daß die Abwehr von Falsifikationen für eine Theorie durch die Hinzunahme von Hilfshypothesen nicht zum Ziel k 2 dieser Regel — der Unversehrtheit der Theorie — führen kann. Allein die Hinzunahme von Hilfshypothesen kann eine Theorie nicht vor einer Falsifikation retten. Gilt It pl = 1-wahr, wobei t die betreffende Theorie ist, und liegt ein Basissatz b vor, so daß b und ρ unvereinbar sind, also - . ( ä a ρ), dann ergibt sich bei der Hinzunahme einer Hilfshypothese h, für die It λ h b/ = 1-wahr gilt, daß die so erweiterte Theorie mit b zwar vereinbar, zugleich aber auch, daß /t Ahl = 1-falsch ist. Es muß somit auch ein Bestandteil von t modifiziert werden, damit t zusammen mit h logisch b impliziert, aber t zusammen mit h nicht mehr logisch falsch ist. Dieser Einwand läßt sich umgehen, indem die Regel (3) nicht für sondern für t* gilt, wobei für /* nicht gelten soll, daß /t* p ! = 1-wahr ist. Nur dieser theoretische Kern' t* kann nach (3) vor Falsifikationen geschützt werden und unversehrt erhalten bleiben. Zunächst sollen drei prima facie naheliegende Einwände erörtert werden, bevor der als entscheidend geltende Einwand gegen die Einführung einer Regel der Art (3) kritisch geprüft wird. Gegen die Einführung von (3) kann eingewandt werden, daß die Theorie oder die Theorien, für die diese Ausnahmeregel gelten soll, tatsächlich nicht wahr sind. Diesem Einwand läßt sich entgegenhalten: Selbst dann, wenn er berechtigt sein sollte, so kann er nicht aus Poppers Methodologie gewonnen werden. Poppers Methodologie verfügt zwar über eine Wahrheitsdefinition, nicht aber über ein Wahrheitskriterium, das diese Behauptung auch nur prinzipiell zu rechtfertigen erlaubt. Es gibt in ihr kein Kriterium, nach dem vom Vorliegen falsifizierender Basissätze definitiv auf die Falschheit einer Theorie geschlossen werden kann. 4 4 Gegen die Einführung von (3) kann vorgebracht werden, daß nicht bewiesen sei, daß die fragliche Theorie wahr ist. Für diesen Einwand gilt: Wenn im Rahmen von Poppers Methodologie nicht ,bewiesen' werden kann, daß Theorien falsch sind, so bedarf die ungleiche Verteilung der Beweislast, die dieser Einwand impliziert, einer Begründung. Gegen die Einführung von (3) scheint zu sprechen, daß grundsätzlich — wie es etwa bei Quine heißt — „keine Aussage gegen Revision geschützt" 45 sei; daß sich prinzipiell jede Annahme aufgeben läßt. Selbst wenn man voraussetzt, daß diese Behauptung akzeptiert wird, 4 6 so ist sie dennoch nicht aus44

Vgl. weiter unten S.216ss. Quine 1951, S.191. 46 Vgl. die in Anm.II.l 14 angegebene Literatur. Zu Problemen der Definition des Fallibilismus vgl. Schlesinger 1984. 45

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reichend, um (3) auszuschließen. Denn die Voraussetzung, daß jede Aussage prinzipiell einer Revision zugänglich ist, vermag noch nicht die Aufforderung zu fundieren, keine Aussage vor einer Revision zu schützen. Der eingangs von Quine zitierten Behauptung geht zudem voraus: „Eine Aussage kann als wahr gelten, was da kommen mag, wenn wir irgendwo im System hinreichend drastische Vorkehrungen vortreffen [...] werden." 47 Vor dem Hintergrund dieser Behauptung eröffnet sich sogar die Aussicht, eine Regel der Art (3) offensiv zu verteidigen. Dieser Versuch könnte über eine bestimmte Deutung der Duhem-Quine-These erfolgen. 48 So hat Jarrett Leplin vorgeschlagen, zwischen einer D-These und einer ß-These zu unterscheiden, wobei nach Leplin die D-These der Intention Duhems entspricht, während er die g-These von Quine, Lakatos und Putnam vertreten sieht. 49 In diesem Zusammenhang ist allein die ß-These von Interesse, die nach Leplin besagt: „ I f an hypothesis in conjunction with auxiliary assumptions is disconfirmed, then there exist alternative auxiliary assumption which, in conjunction with the hypothesis, entail the disconfirming evidence and whose introduction violates no principle of scientific methodology." 50 Das Problem dieser These besteht darin, daß sie offensichtlich falsch ist. Ihr widerspricht schon das Vorliegen einer Regel der Art (1). U m ihre Geltung vor solchen Gegenbeispielen zu schützen, hält es Leplin für erforderlich, „methodological principles as inductive generalizations concerning the kinds of move which in fact produce successful theories and in fact produce successful ones" 51 anzusehen. Es steht zu befürchten, daß sich eine offensive Verteidigung einer Regel der Art (3) mit diesem Vorschlag mehr Probleme einhandelt, als es Leplin wahrzunehmen scheint. 52 Im Vergleich zu den drei erörterten ist der Einwand ergiebiger, der sich an den zweiten anschließt und der davon ausgeht, daß bei der Zurückweisung des zweiten Einwandes eine Konfusion von zwei Ebenen vorliegt: zum einen der Ebene der durch logische Analyse ermittelbaren Merkmale von Theorien, in diesem Fall ihre Falsifizierbarkeit; zum anderen der Ebene der methodologisch geregelten Akzeptanz der Wahrheit oder Falschheit von Theorien, in diesem Fall ihre Falsifikation oder Verifikation. Die Erörterung dieses vierten und gewichtigsten Einwandes stellt sich als ziemlich komplex heraus. A n ihm wird deutlich werden, daß es entgegen der Annahme Poppers — die er mit 47 48 49 50 51 52

Quine 1951, S.191. Vgl. auch die in Anm.II. 117 angegebene Literatur. Vgl. Leplin 1972, S.479. Leplin 1972, S.480 (im Original ist die zitierte Stelle voll ständig hervorgehoben). Leplin 1972, S.482. Vgl. Kapitel VI.

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IV. Der Aufbau von Methodologien

Hilfe seines „principle of transference" zu kodifizieren versucht — keine reine Grundlage logischer Tatsachen gibt, auf der Methodologien bzw. methodologische Regeln aufbauen können. Gegen die These der Asymmetrie auf der Ebene der methodologisch geregelten Akzeptanz der Wahrheit oder Falschheit von Theorien sind — von wissenschaftshistorischen Einwänden abgesehen — im wesentlichen zwei Argumente im Blick auf Poppers Methodologie vorgebracht worden 5 3 : Zum einen wird argumentiert, daß jede Theorie aufgrund ihres nicht auflösbaren Verbundes mit anderen Theorien oder Annahmen in Situationen ihrer Prüfung grundsätzlich vor einer Falsifikation geschützt werden könne und daß daher eine definitive Falsifikation ebenso unmöglich sei wie eine definitive Verifikation; zum anderen wird argumentiert, daß jede Falsifikation einer Theorie immer auch die Verifikation einer anderen Aussage voraussetze. Wenn die falsifizierende Aussage selbst eine Hypothese ist — wenn auch von „niedrigerer Allgemeinheit" als die zu falsifizierende Theorie — und das im Prinzip dem Status einer Theorie gleichkomme, könne die Falsifikation einer Theorie nicht strenger als die Verifikation einer Theorie sein. 54 In der Reaktion auf solche Einwände wird eingeräumt, daß zwischen Verifikation und Falsifikation von Theorien, also auf der Ebene der methodologisch geregelten Akzeptanz, keine Asymmetrie vorliege. 55 Zugleich wird darauf insistiert, daß eine Asymmetrie zwischen der Falsifizierbarkeit und der Verifizierbarkeit von Theorien bestehe, „die in der logischen Eigenschaft von Satzarten begründet liegt"; 5 6 und es wird angenommen, daß diese Asymmetrie eine Strategie der Falsifikation gegenüber einer Strategie der Verifikation von Theorien auszeichne. A u f die beiden obigen Regeln gewendet führt das zur Auszeichnung von (1), d.h. zu ihrer ausnahmslosen Geltung, und zur Zurückweisung von (3), zumindest sofern hinter (3) eine verifikationistische Strategie steht. 53

Alan Musgrave (Id. 1973, S.394) erwähnt ein weiteres Argument, das sich auf die (Meß-)Theorien bezieht, die bei den zur Falsifikation herangezogenen Meßinstrument eingehen, und das in der Behauptung besteht, daß „these theories are fallible, even the humblest components of the,empirical basis' of science, records of scientific measurements, are themselves impregnated with fallible hypotheses." Im Hinblick auf die Formulierung der folgenden beiden Argumente, ist dieses Argument allerdings entweder ein Sonderfall des ersten oder zweiten. 54 Vgl. z.B. Achinstein 1968b, S. 167/68; Juhos 1968 und 1970, vor allem S.55ss, Lakatos 1970, Putnam 1974, Düsberg 1979; auch Rapp 1975, dazu Eichner 1976 sowie Rapp 1976 und Eichner/Habermehl 1978, schließlich Rapp 1978; fernerhin Birns 1978. Vgl. neben bereits in Anm.II. 115 und II. 117 erwähnten Arbeiten auch die Kritik bei Greiling 1937, S.138/39; zu den jüngeren Beispielen vgl. z.B. Koertge 1978 oder Jones/Perry 1982. 55 Vgl. z.B. Schmid 1972. 56 Schmid 1972, S.87. - Vgl. auch Esser 1985, S.259 und 262, in seiner Kritik an Elias 1985a. Zu der eher dekonstruktivistisch ausgefallenen Popper-Lektüre von Elias vgl. Albert 1985 und Elias' Entgegnung Id. 1985b, insb. Anm. 1, S. 268, und Anm.8, S.280.

2. Rekonstruktion des Aufbaus einer Methodologie

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Im Rahmen eines logischen Systems seien die Formen einer Individualaussage, einer singulären und universellen Aussage durch logische Beziehungen wie u.a. die folgenden bestimmt: - eine Individualaussage kann einen singulären Satz logisch implizieren; - eine Individualaussage kann mit keinem (rein) singulären Satz logisch unvereinbar sein; - eine Individualaussage kann mit einem universellen Satz logisch verträglich sein; - eine Individualaussage kann keinen (rein) universellen Satz logisch implizieren. Nimmt man die letzten beiden ,logischen Tatsachen', so kann eine durch ein solches logisches System charakterisierte Individualaussage β mit einem universellen Satz τ logisch unvereinbar sein, also t/ m (x,ß); fernerhin kann β logisch nicht τ implizieren, also / m ( ß , i ) ist nicht möglich. Diese logischen Tatsachen haben zunächst nichts mit der Frage der Asymmetrie von Falsifizierbarkeit und Verifizierbarkeit oder der von Falsifikation und Verifikation zu tun. U m eine Verbindung herzustellen, bedarf es einer Reihe von Interpretationen. Im Zuge dieser Interpretationen werden Individualaussagen als Beobachtungsaussagen, universelle Aussagen als Theorien und die Möglichkeit der Falsifizierbarkeit als logische Unverträglichkeit gedeutet. Also: Fb(t,b) genau dann, wenn t/ m (x,ß) sowie Fb = U m, β = b und τ = t. Für den Begriff der Verifizierbarkeit Vb(t,b) ergibt sich dementsprechend: Vb(t,b) genau dann, wenn / m (ß,x) sowie Vb = I m,ß

= b und τ =

Aufgrund der logischen Tatsachen und der Interpretationen ist eine Bedingung der Bestimmung von Vb(t,b) unerfüllbar, nämlich / m (ß,x). Mithin ist Vb(t,b) im Gegensatz zu Fb(t,b) unerfüllbar. Zumeist wird allerdings der Eindruck erweckt, als ob die Bestimmungen von Vb(t,b) und Fb(t,b) selbst logische Tatsachen seien. Es wird übersehen, daß diese Asymmetrie auf der Ebene logisch feststellbarer Merkmale von Theorien über die erforderlichen Interpretationen „durch außerlogische Tatsachen erzeugt" 57 wird. 5 8 A n einem Beispiel läßt sich dieser Zusammenhang schnell illustrieren. Stephan 57

Schäfer 1974, S.60, Anm.9. Bei Popper besteht kein Gegensatz zwischen der Nichtverifizierbarkeit von Theorien und der Verifizierbarkeit anderer Sätze. Dennoch scheint es bei ihm gelegentlich so zu sein, als hinge die Nichtverifizierbarkeit von Theorien von ihrer „spezifischen Allgemeinheit" ab, so daß der Eindruck entstehen könnte, Theorien „numerischer Allgemeinheit" seien verifizierbar. Der Idee, Sätze von nur „numerischer Allgemeinheit" seien verifizierbar, weil sie mit einer endlichen Anzahl singulärer Sätze logisch äquivalent sind, liegt eine im Rahmen von Poppers Konzeption unangemessene Deutung 58

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IV. Der Aufbau von Methodologien

Körner hat — wenn auch in einem anderen Zusammenhang — daraufhingewiesen, daß die Annahme, ein zeitlich und räumlich unbeschränkter Allsatz 5 9 sei mit einer endlichen Konjunktion von Es-gibt-Sätzen logisch nicht äquivalent, voraussetze, „that the number of individuals in the universe is, in some sense of the term, infinite." 6 0 Da diese Annahme durch einen ,Alles-undes-gibt-Satz' zu formulieren sei, 61 handle es sich nach einer Bestimmung von John Watkins, den Körner kritisiert, im Rahmen von Poppers Methodologie um eine,metaphysische' Annahme, die zwar „factual", d.h. wahr oder falsch, nicht aber „testable", d.h. falsifizierbar, sei. 62 In seiner Erwiderung leugnet Watkins weder, daß es einer besonderen Annahme bedürfe, um die Nichtverifizierbarkeit von Theorien zu gewährleisten, noch daß es sich dabei um eine Annahme handle, die zwar „factual", nicht aber „testable" sei. 63 Er schlägt allerdings eine Annahme vor, die noch immer,metaphysisch', aber in seiner Sicht „undeniable true" ist. Danach setze die Nichtverifizierbarkeit von „law-statements" lediglich voraus, daß „every time-stretch has a successor." Oder in einer noch schwächeren Fassung: „Every time-stretch may have a successor." 64 Es läßt sich darüber streiten, ob diese Annahme ausreicht, um die Unmöglichkeit der Verifizierbarkeit von „law-statements" zu garantieren. Entscheidend ist, daß dieses Beispiel zwei Aspekte illustriert. Erstens: Die Interpretationen, die zu den logischen Tatsachen hinzutreten und die die Bestimmungen von Fb(t,b) und Vb(t,b) erfordern, sind nicht in dem Sinn unproblematisch, daß sie allein harmlos definitorisch erfolgen (ähnliches läßt sich auch zugrunde. Diese Deutung ist unangemessen, da sie annimmt, jedes Konjunktionsglied einer solchen Konjunktion sei verifizierbar. 59 Zu einer Diskussion verschiedener Formulierungen der Allgemeinheit von Gesetzen vgl. Earman 1978. 60 Körner 1959, S.548. - Vgl. auch Schäfer 1974, S.60, Anm.9, wo als weitere „außerlogische Tatsache" angeführt wird: „Wenn die Beobachtung Tatbestände für die Stützung oder Verwerfung einer Theorie bereitstellen soll, dann kann die Form der Prüfsätze nur die der singulären Es-gibt-Sätze sein." Vgl. auch den weiter unten (S.204/05) erörterten Vorschlag Wisdoms zur Erweiterung der Falsifizierbarkeit. 61 Vgl. Körner 1959, S.548: „ A general schema for its formulation would be: For every object... there exists a further object... such that..." 62 Vgl. Watkins 1957 sowie Id. 1958; zu einer späteren, etwas modifizierten und elaborierteren Konzeption vgl. Watkins 1975. 63 Vgl. Watkins 1960. 64 Watkins 1960, S.407. An dieser Stelle heißt es auch: „Admittedly, this statement is a special case of an ,all-and-some' statement. But it is not a dubious statement which a philosopher might plausibly reject as false or meaningless. The truth of,Every timestretch may have a successor' is, I take it, simply undeniable". Eine im wesentlichen gleiche Idee findet sich - von Watkins nicht bemerkt - bereits bei Lewis 1929, vor allem S.279ss. Vgl. auch Miller 1975c, S.352. - Daß die Frage der Nichtverifizierbarkeit auf empirischen oder quasi-empirischen Annahmen beruht, läßt sich auch der Auseinandersetzung um den Vorschlag bei Malinovich 1974/75 entnehmen, vgl. Cannavo 1975/76 und Ezorsky 1975/76.

2. Rekonstruktion des Aufbaus einer Methodologie

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für β = b aufzeigen 65 ). Die logischen Tatsachen reichen allein genommen nicht aus, um die Asymmetrie von Falsifizierbarkeit und Verifizierbarkeit zu garantieren. A n dieser Stelle der Diskussion läßt sich bereits eine Tendenz bei der Bestimmung zunehmend ,konkreterer 4 Begriffe wie „Falsifizierbarkeit 44 und „Falsifikation 44 im Hinblick auf Poppers Methodologie bemerken, die darin besteht, bei den Bestimmungen unter den Alternativen solche Zusatzannahmen zu wählen, die auf der ,konkreteren 4 Ebene die auf der logischen Ebene festgestellte Asymmetrie konservieren. Eine solche Strategie wird — wie weiter unten deutlich werden wird — von Annahmen geleitet, die durch keine logische Tatsache ,aufgezwungen 4 werden. Zweitens: In dem angeführten Beispiel liegt offenbar eine im Hinblick auf Poppers Methodologie quasi-empirische Annahme vor. 6 6 Man sollte allerdings einräumen, daß das Vorliegen einer solchen quasi-empirischen Annahme noch keinen überzeugenden Hinweis für die Beantwortung der Frage darstellt, ob auch in Methodologien der Theorieevaluation — geprüft am Beispiel von Poppers Methodologie — wesentlich quasi-empirische Annahmen erforderlich sind. Es bedarf vielmehr des Aufweises, daß Verknüpfungen in Poppers Methodologie direkt eine empirische oder quasi-empirische Fundierung erfordern. U m die Relevanz der Ergebnisse der vorangegangenen Erörterung zu verdeutlichen, sollen zwei Vorstellungen über die logische bzw. definitorische Fundierung von Methodologien unterschieden werden: Nach der einen besteht eine solche Fundierung in der methodologischen Interpretation vorliegender ,logischer Tatsachen4; nach der anderen besteht sie in der logischen Rekonstruktion methodologischer Ideen. Die Interpretations-Auffassung gibt zwar einen prinzipiell möglichen Weg des Aufbaus von Methodologien wieder, doch hat die vorangegangene Erörterung nicht nur gezeigt, daß in diese Interpretation empirische oder quasi-empirische Annahmen einfließen, deren Wahl durch nicht-logische Annahmen gesteuert wird, sondern sie hat damit auch die Vermutung bekräftigt, daß die Interpretations-Vorstellung wohl kaum das tatsächliche Vorgehen beim Aufbau von Methodologien wiedergibt. Ebenso wenig wie die Interpretations-Vorstellung schließt die Rekonstruktions-Vorstellung von vornherein einen rein logisch fundierten Aufbau einer Methodologie aus; die vorangegangenen Überlegungen zeigen allerdings auch für die Rekonstruktions-Vorstellung, daß sich die methodo65 Vgl. z.B. Schurz/Dorn 1988, S. 137ss, wo die Möglichkeit alternativer Charakterisierungen der logischen Struktur von Basissätzen erörtert wird, da diese — wie die Verfasser zu zeigen versuchen — sich nach der Bestimmung durch Popper contra intentionem als nicht falsifizierbar herausstellen. Vgl. auch Anm.V. 122. 66 Für Victor Kraft etwa ist die Zukunft eine induktive „extrapolation 44 (vgl. Id. 1970, S.75); für Peter Rohs hingegen ist der Satz „es gibt eine Zukunft 44 ein „unbestreitbares Beispiel eines synthetischen Urteils apriori 44 (Rohs 1972, S.82, dazu fa-aft 1972).

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IV. Der Aufbau von Methodologien

logischen Ideen nicht allein logisch bzw.,harmlos' definitorisch rekonstruieren lassen. Wird die Rekonstruktions-Vorstellung bei der Erörterung der Asymmetrie von Falsifizierbarkeit und Verifizierbarkeit zugrunde gelegt, dann werden weitere Aspekte dieser Asymmetrie deutlich. Diese Aspekte sollen anhand von zwei Beispielen aufgezeigt werden. Das erste Beispiel bilden sogenannte ceteris-paribus-Formulierungen, d.h. Aussagen über empirische Zusammenhänge, die mit einer ceteris-paribus-Klausel versehen sind. Es sei t eine solche Formulierung, b sei ein empirischer Befund, der — ignoriert man die ceteris-paribus-Klausel — mit t unvereinbar ist. Es soll jedoch keinen empirischen Befund geben, der mit t — unter Berücksichtigung der ceteris-paribus-Klausel — unvereinbar sein kann. Damit ist U m (t,b) nicht erfüllbar und t im Sinne der obigen Bestimmung von Fb(t,b) nicht falsifizierbar. Bereits eine geringfügig hiervon abweichende Rekonstruktion von t macht die in t vorliegende Formulierung eines empirischen Zusammenhangs falsifizierbar. Diese Rekonstruktion besteht in der Zerlegung von t in einen Teil t A, der die Formulierung des betreffenden empirischen Zusammenhangs darstellt, und in t M, der die ceteris-paribusKlausel umfaßt. Die Pointe dieser Rekonstruktion besteht darin, daß t u als eine methodologische Anweisung rekonstruiert wird, die festlegt, wie t A zu korrigieren ist, nämlich durch die Bewahrung des festgehaltenen Zusammenhangs und durch die Spezifizierung des Anwendungsbereichs von t A. Einer solchen Rekonstruktion läßt sich entgegenhalten, daß die durch die ceteris-paribus-Klausel ausgedrückte methodologische Regel abzulehnen sei; und in der Tat ist diese Regel unvereinbar mit der ausnahmslosen Geltung einer Regel der Art (1). Dieser Einwand setzt mithin die logische Fundierung von (1) sowie ihre ausnahmslose Geltung voraus; er deutet bereits an — und das soll an ihm entscheidend sein —, daß nicht nur die Falsifikation von Theorien an die Akzeptanz von methodologischen Regeln gebunden ist, sondern auch schon die Falsifizierbarkeit einer Theorie. Das zweite Beispiel bezieht sich auf einen Vorschlag J.O. Wisdoms zur Reformulierung bzw. Erweiterung der Falsifizierbarkeit. 67 A u f diesen Vorschlag soll nur insoweit eingegangen werden, wie ihm eine Pointe im Rahmen der Bestimmung von Fb(t,b) abgewonnen werden kann. Die entscheidende Idee Wisdoms besteht in der Zurückweisung von β = b, indem die Falsifizierbarkeit eines Satzes nicht mehr auf Sätze mit Individualkonstanten bezogen wird, sondern die Widerlegung von Theorien, die ansonsten unfalsifizierbar sind, durch in bestimmter Weise qualifizierte universelle Sätze erfolgen kann. Die Bestimmung von Fb(t,b) entspricht in etwa der Identifizierung £/ m (x,ß) = Fb(t,b). Dabei steht die Frage, wann wir einem universellen Satz 67

Vgl. Wisdom 1962/63, 1968, 1969, 1969b und 1972; auch Bartley 1984b, S.224ss, der noch etwas weiter als Wisdom geht (vgl. S.224, Anm.23). — Zur Möglichkeit der Kritik von „Metagesetzen" vgl. auch Kamiah 1976, S.206/07, sowie Hoering 1988.

2. Rekonstruktion des Aufbaus einer Methodologie

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so viel Vertrauen schenken, daß wir durch ihn eine Theorie falsifizieren, ebenso wie die Frage, wann wir einem empirischen Befund dieses Vertrauen schenken, außerhalb der Bestimmung von Fb(t,b). Die Idee Wisdoms läßt sich radikalisieren, wenn auch auf die Identifizierung von Fb(t,b) = £/ m (x,ß) verzichtet wird. Eine solche Radikalisierung empfiehlt sich beispielsweise, wenn die Struktur der Ableitungen von empirisch prüfbaren Konsequenzen im Hinblick auf die zu prüfende Theorie nicht als deduktiv gilt. 6 8 Die Falsifizierbarkeit von t wird nicht allein in Bezug auf b, sondern im Hinblick auf b und eine Menge von Annahmen A bestimmt. Diese Annahmen können so gewählt sein, daß nach einem entsprechenden Begriff der Falsifizierbarkeit Fb(t,b/A) zwischen t und b im Hinblick auf A eine logische Unvereinbarkeit möglich wird. Es kann sich aber auch bei A um methodologische Regeln der Preisgabe von Theorien handeln, die die Preisgabe einer Theorie t regeln, obwohl diese nicht mit b im Hinblick auf A logisch unvereinbar ist. Nach dieser Sicht ist ein Satz t falsifizierbar genau dann, wenn für ihn (in bestimmter Weise qualifizierte) methodologische Regeln seiner Preisgabe vorliegen. Entsprechend ließe sich mit der Verifizierbarkeit verfahren. Diese Sicht impliziert, daß kein Satz methodologieunabhängig und -neutral falsifizierbar oder verifizierbar ist und daß jeder Satz bei entsprechender Wahl methodologischer Regeln falsifizierbar oder verifizierbar sein kann. 6 9 Ob ein Satz als falsifizierbar und nicht verifizierbar gilt, ist mithin eine methodologische Frage und Entscheidung. 70 68

Vgl. als Beispiel Hempels „provisoes" (Id. 1988, S. 151), die „«assumptions " darstel-

len, „ which are essential, but generally unstated, presuppositions of theoretical inferen-

cesEin Fallbeispiel bietet Pinch 1980 und 1985 zum konventionellen Charakter der Akzeptanz von Widersprüchen zwischen den empirischen Prüfergebnissen und der überprüften Theorie (Id. 1985, S. 184/185): „The claim of falsification or verification rests upon a decision concerning a logical relationship." Der von Trevor Pinch aus diesem Beispiel gezogene Schluß ist allerdings ein anderer als die Relativierung der Falsifizierbarkeit auf zusätzliche Annahmen (z.B. im Hinblick auf die Festlegung bestimmter Parameter zur Berechnung der erwarteten Werte) oder auf spezielle methodologische Regeln: „The claim of this paper [seil. Pinch 1985] is that to all intents and purposes logic cannot contribute very much because scientists themselves can offer differing interpretations of situations in which contradiction and consistency are to be imputed. Conclusions which appear to be simply matters of logic are in practice defeasible. [...] I f we are not bound to accept contradictions it immediately throws open the whole arena of logical decisionmaking to the sociology of knowledge." 69 Die methodologisch geregelte Falsifizierbarkeit probabilistischer Hypothesen ist hierfür ein offensichtliches Beispiel. Damit ist nichts darüber gesagt, ob es zweckmäßiger erscheint, Falsifizierbarkeitsbedingungen abzuschwächen oder zu verschärfen. So sind — um nur ein Beispiel anzuführen — unter bestimmten methodologischen Gesichtspunkten Überlegungen zu einer Konzeption,starker Falsifizierbarkeit' etwa anhand der Erfüllung von Simons F/r«