Menschenrechte als Weltmission.: Herausgegeben:Isensee, Josef 9783428129195, 3428129199

Von Anbeginn erheben die Menschenrechte Anspruch auf universale Geltung - über alle Grenzen der Kontinente, der Staaten

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Menschenrechte als Weltmission.: Herausgegeben:Isensee, Josef
 9783428129195, 3428129199

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 54 BARDO FASSBENDER · OTTO DEPENHEUER CHRISTIAN WALDHOFF

Menschenrechte als Weltmission Herausgegeben von JOSEF ISENSEE

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

B. Fassbender · O. Depenheuer · Ch. Waldhoff

Menschenrechte als Weltmission

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 54

BARDO FASSBENDER · OTTO DEPENHEUER CHRISTIAN WALDHOFF

Menschenrechte als Weltmission Herausgegeben von JOSEF ISENSEE

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-12919-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort des Herausgebers Die Menschenrechte sind die mächtigste politische Idee der Gegenwart. Geschöpfe der europäischen Aufklärung, erheben sie von Anfang an den Anspruch auf universale Geltung, über alle Grenzen der Kontinente, der Staaten und Kulturen hinaus. Im Lichte der Idee stellt sich die Menschheit als rechtliche Einheit dar. Ihr Siegeszug erscheint unaufhaltsam. Nahezu alle Staaten und internationale Organisationen erkennen sie an. Ein immer dichteres Netz von menschenrechtlichen Deklarationen, Konventionen und Verfassungsgesetzen umspannt den Erdball. Die Menschenrechte erscheinen heute als säkulare Heilslehre, als globale Zivilreligion. Deren Verbreitung und Durchsetzung gilt den westlichen Staaten unter der Hegemonie der USA als die neue Weltmission. Diese hat die christliche Weltmission weitgehend abgelöst, und, was von dieser noch übriggeblieben ist, neigt ihrerseits dazu, sich in den Dienst jener zu stellen. Die neuen Weltmissionare sind von keinerlei Zweifel an ihrer Sendung angefochten. Mit heiligem Eifer und aufklärerischer Penetranz belehren und bedrängen sie die noch unbekehrten und unaufgeklärten, die verstockten und rückfälligen Staaten. Sie locken mit Entwicklungshilfe und drohen mit politischer Isolation, wirtschaftlichem Boykott, humanitärer Intervention. „Eine Gesellschaft, in der keine Garantie der natürlichen und bürgerlichen Rechte besteht und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung“, so 1789 die französische Nationalversammlung in ihrer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Diese war darauf angelegt, die ganze Menschheit zu belehren. Gleichwohl bezog sie sich in erster Linie auf die künftige Verfassung Frankreichs. Diese sollte auf ihren Prinzipien aufbauen. Heute folgen ihnen alle Verfassungsgesetze der europäisch-atlantischen Staatenfamilie. In den nationalstaatlichen Verfassungsgesetzen nimmt die Idee der Menschenrechte die positive Gestalt der Grundrechte an und erlangt über sie den höchstmöglichen

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Vorwort des Herausgebers

Grad an Klarheit und normativer Kraft. Die staatlichen Grundrechte entfalten ihre Wirksamkeit innerhalb des jeweiligen Staatsgebietes. Sie stoßen aber an die Grenze ihrer Möglichkeiten, wenn sie sich auf die Außenpolitik, die herkömmliche Domäne der Staatsraison, erstrecken sollen, wo weder der einseitige Rechtsbefehl noch die einseitige Rechtsbindung etwas ausrichten. Noch heikler steht es mit der Auslegung und Durchsetzung der Menschenrechte auf überstaatlicher Ebene. Den globalen Menschenrechtsgewährleistungen fehlen jene institutionellen Voraussetzungen, denen die staatlichen Grundrechte ihre rechtliche Wirksamkeit verdanken, insbesondere die demokratische Legitimation, die gewaltenteilige Organisation, die Verrechtlichung der Entscheidungsprozesse. Je höher die Menschenrechte auf internationaler Ebene verortet sind und je weiter ihre verbindliche Interpretation dem Einfluß verfassungsstaatlicher Institutionen entrückt ist, desto „politischer“, normativ ausgedünnter, inhaltlich undeutlicher, juridisch prekärer wird die Anwendung. Gleichwohl beanspruchen die internationalen Menschenrechtsgewährleistungen, auf die innere Ordnung der Staaten einzuwirken, und diese öffnen sich deren Einfluß. Die Zeit ist reif für kritische Reflexion über die Gründe und Grenzen des menschenrechtlichen Universalismus. Fällig ist eine zweite Aufklärung, welche die Produkte der ersten Aufklärung kritisch hinterfragt. Das gilt für ihre Substanz, die immer schwieriger zu erfassen ist, weil sich die Menschenrechte in internationalen Texten rasch vermehren, zusätzliche Inhalte annehmen, unterschiedliche Interessen bedienen und in innere Widersprüche geraten. Zu fragen ist, ob, wieweit und unter welchen Bedingungen die genuin europäischen (genauer: europäisch-atlantischen) Menschenrechte sich auf außereuropäische Kulturen übertragen lassen, wo der geistige Nährboden fehlt, in dem die Menschenrechte geboren und gewachsen sind: die durch Antike und Christentum geprägten Ideen von Würde und Personsein des Menschen und die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, aber auch Aktivität, Fortschrittsstreben und Emanzipationsdrang, Scheidung von Recht und Moral, von Gesetz und Gewissen, von Staat und Religion, die Säkularität des Staates. Der Universalitätsanspruch der Menschenrechte läßt den Eigenwert der außereuropäischen Kulturen nicht gelten, sofern sie „westlichen“ Denk- und Lebensfor-

Vorwort des Herausgebers

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men nicht kompatibel sind. Der Rationalismus und der Individualismus, aus denen er sich speist, ist blind gegenüber Religion und Tradition, gleichgültig gegenüber „vormodernen“ Grundbedürfnissen nach Vertrautheit, Geborgenheit und Orientierungssicherheit. Die Aufsätze des vorliegenden Sammelwerks sind hervorgegangen aus Vorträgen in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft auf deren Generalversammlung in Fulda am 1. Oktober 2007. Bonn, im Mai 2008

Josef Isensee

Inhalt Idee und Anspruch der universalen Menschenrechte im Völkerrecht der Gegenwart Von Professor Dr. Bardo Fassbender, München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die innerstaatlichen Grundrechte als Maßstab der Außenpolitik? Von Professor Dr. Christian Waldhoff, Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Risiken und Nebenwirkungen menschenrechtlicher Universalität Von Professor Dr. Otto Depenheuer, Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Idee und Anspruch der universalen Menschenrechte im Völkerrecht der Gegenwart Von Bardo Fassbender, Mçnchen I. Auf dem Zauberberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Die Epochenwende des Jahres 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Die „International Bill of Human Rights“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Menschenrechte der „zweiten“ und „dritten Generation“ . . . . .

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V. Der Schutz der Menschenrechte als gemeinsame Angelegenheit der Staatengemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Die Durchdringung des Völkerrechts durch die Menschenrechtsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Das Problem der Universalität der Menschenrechte . . . . . . . . . . .

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VIII. Versuch einer Bilanz in Thesen und Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Auf dem Zauberberg Thomas Mann läßt bekanntlich in seinem „Zauberberg“ Hans Castorp den Italiener Lodovico Settembrini treffen, der sich selbst als einen „Humanisten“, „homo humanus“, vorstellt. Nach knapp zweiwöchigen Begegnungen und Gesprächen mit Settembrini faßt Hans Castorp dessen Weltanschauung mit den folgenden Worten zusammen: „Nach Settembrini’s Anordnung und Darstellung lagen zwei Prinzipien im Kampf um die Welt: die Macht und das Recht, die Tyrannei und die Freiheit, der Aberglaube und das Wissen, das Prinzip des Beharrens und dasjenige der gärenden Bewegung, des Fortschritts. ( . . . ) Gar kein Zweifel, welcher der beiden Mächte endlich der Sieg zufallen würde, – es war die der Aufklärung, der vernunftgemäßen Vervollkommnung. Denn im-

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mer neue Völker raffte die Menschlichkeit auf ihrem glänzenden Wege mit fort, immer mehr Erde eroberte sie in Europa selbst und begann, nach Asien vorzudringen.“ Der Tag des vollen Sieges der Wohlgesinnten, jener, welche das Licht erhalten hatten, werde „auf Adlersschwingen kommen und anbrechen als die Morgenröte der allgemeinen Völkerverbrüderung im Zeichen der Vernunft, der Wissenschaft und des Rechtes; die heilige Allianz der bürgerlichen Demokratie werde er bringen, ( . . . ) mit einem Worte die Weltrepublik“.1 Vor bald hundert Jahren, im Juli 1913, begann Thomas Mann die Arbeit am „Zauberberg“. Hat Settembrini, die Stimme des aufgeklärten, lateinischen Europa, mit seinen fortschrittsfreudigen Prophezeiungen Recht behalten? Die Antwort lautet wohl: Ja und nein. Die Weltrepublik steht noch aus, ist jedenfalls nicht förmlich konstituiert. Große retardierende Momente – Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus, der „Kalte Krieg“ –, die Settembrini nicht voraussah, haben im zwanzigsten Jahrhundert ihren Lauf aufgehalten. Doch sind heute, verglichen mit dem Zustand von 1913 oder gar dem des Jahres 1795, in welchem Kant seine Schrift „Zum ewigen Frieden“ veröffentlichte, wesentliche ihrer Elemente tatsächlich verwirklicht. „Die Hauptsache ist, daß über den positiven Rechten der Nationalstaaten ein höher-gültiges, allgemeines sich erhebt“, sagt Settembrini über das Völkerrecht.2 Daß es ein solches Recht gibt, wird nicht mehr ernsthaft bestritten. Die Staatsform der Demokratie, und zwar der Demokratie „im westlichen Sinne“, ist als Ideal weltweit unangefochten. Recht, Freiheit, Wissen, Fortschritt und Vernunft sind universell anerkannte politische Leitbegriffe, mag ihr Pathos bemüht werden oder nicht, mag ihre Herkunft noch bekannt oder schon vergessen sein. Die ursprünglich religiöse und philosophische Idee der Menschenrechte, die mit den genannten Begriffen untrennbar verknüpft ist oder sogar als ihr Fundament angesehen werden kann, 1 Thomas Mann, Der Zauberberg (zit. nach der Frankfurter Ausgabe, Frankfurt a.M. 1981), S. 222 (= 4. Kap., „Aufsteigende Angst. Von den beiden Großvätern und der Kahnfahrt im Zwielicht“). 2 Ebd. S. 538 (= 6. Kap., „Noch jemand“).

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hat sich nicht nur als Prinzip politischer Ordnung behauptet, sondern ist prägender Bestandteil zunächst des positiven nationalen, dann, in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, auch des internationalen Rechts geworden. Schon 1814 schrieb Joseph von Görres über den Grundrechtsteil der nachnapoleonischen Charte constitutionnelle: „An den ersten zwölf Artikeln, enthaltend die öffentlichen Rechte [der Franzosen], ist nichts auszusetzen; es ist, was die Zeit nun ganz allgemein als recht und wahr anerkennt, wie die moralischen Maximen gut und löblich, wenn sie nur im Leben geehrt und geachtet werden, und ihnen Folge geleistet wird.“3 Inzwischen ist die Behauptung des zweiten Artikels der französischen Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers von 1789, der Endzweck aller politischen Vereinigung sei die Erhaltung der natürlichen und unabdingbaren, unverjährbaren Menschenrechte,4 einerseits vom Verfassungsrecht der Mehrzahl der heute existierenden Staaten der Erde und andererseits vom Völkerrecht rezipiert worden. Von maßgeblicher praktischer Bedeutung für diesen noch nicht abgeschlossenen Prozeß der Internationalisierung der Menschenrechte war die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika, die für ihr eigenes, von Europa rezipiertes Ideengut universale Geltung beanspruchten und diesen Anspruch dank ihrer faktischen Machtstellung im internationalen System nach 1945, aber auch dank einer unvorhersehbaren weltweiten Attraktivität der Menschenrechtsidee durchzusetzen vermochten. Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bilde die Grundlage der Freiheit, der Gerechtig3 Joseph von Görres, Romantische Schriften (1814): Die neue französische Constitution. Zit. nach: Jakob Baxa (Hg.), Gesellschaft und Staat im Spiegel deutscher Romantik, Jena 1924, S. 393 ff. (394) (Hervorhebung hinzugefügt). Text der Charte constitutionnelle française vom 4. Juni 1814 in: Wilhelm Altmann (Hg.), Ausgewählte Urkunden zur ausserdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, 2. Aufl. Berlin 1913, S. 217 ff. 4 „Le but de toute association politique est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l’homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté et la résistance à l’oppression.“ Text der Erklärung in: Fritz Hartung (Hg.), Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, 4. Aufl. Göttingen 1972, S. 45, 47.

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keit und des Friedens in der Welt,5 heißt es am Anfang der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, worauf Art. 1 Satz 1 der Erklärung bestimmt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“6 Eine heute entworfene Charta der Vereinten Nationen würde mit großer Wahrscheinlichkeit wie das Grundgesetz mit einem Katalog von Menschenrechten eröffnet werden, welche für die völkerrechtliche Rechtsetzung, Vollziehung und Rechtsprechung verbindliche Maßstäbe setzten. II. Die Epochenwende des Jahres 1945 Für die Geltung der Menschenrechte im Völkerrecht bildet der 26. Juni 1945 die entscheidende Zäsur, der Tag, an dem in San Francisco die einundfünfzig Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen die Charta der Weltorganisation annahmen. Im zweiten Absatz der Präambel der Charta bekundeten die „Völker der Vereinten Nationen“ ihre Entschlossenheit, ihren „Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person, an die gleichen Rechte von Männern und Frauen ( . . . ) erneut zu bekräftigen“, und sich gemeinsam um die Erreichung dieses Zieles zu bemühen.7 Gemäß Artikel 1 Nr. 3 der Charta ist es eines der Ziele der Vereinten Nationen, „eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um ( . . . ) die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen“.8 Besondere Aufgaben zur 5 „Whereas recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and peace in the world . . .“. 6 „All human beings are born free and equal in dignity and rights.“ 7 „We the Peoples of the United Nations Determined ( . . . ) to reaffirm faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person, in the equal rights of men and women ( . . . ) Have Resolved to Combine our Efforts to Accomplish these Aims“. 8 „The Purposes of the United Nations are: ( . . . ) 3. To achieve international co-operation ( . . . ) in promoting and encouraging respect for human rights and for fundamental freedoms for all without distinction as to race, sex, language, or religion“.

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Förderung dieser Zusammenarbeit und zur Verwirklichung der Menschenrechte wurden der Generalversammlung (Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Charta), dem Wirtschafts- und Sozialrat (Art. 55 Buchst. c, Art. 62 Nr. 2 und Art. 68) und dem Treuhandrat (Art. 76 Buchst. c) übertragen. Seit dieser Zäsur ist der einzelne Staat nicht mehr der einzige Garant der Grund- und Menschenrechte seiner Angehörigen. Vielmehr wurde die völkerrechtliche Rechtsordnung zum Anwalt des Individuums gegenüber den Staaten (und insbesondere dem jeweiligen Heimatstaat des einzelnen) erhoben, zuvörderst in den Interessen, die allen Menschen kraft ihres Menschseins gemeinsam sind: Leben, Gesundheit, Freiheit. Noch der Satzung des Völkerbundes von 1919 war ein solches Bekenntnis zu universalen Menschenrechten fremd gewesen. Die im Völkerrecht des neunzehnten Jahrhunderts fest etablierte Ansicht, die Garantie von Grund- und Menschenrechten sei eine rein innerstaatliche Angelegenheit, gehöre zur domaine reservé eines jeden Staates, gehe also die anderen Staaten und die Staatengemeinschaft grundsätzlich nichts an, hatte den Ersten Weltkrieg unbeschadet überstanden. Bezeichnenderweise finden sich in der Völkerbundsatzung menschenrechtliche Verbürgungen, insbesondere die Garantie der Gewissens- und Religionsfreiheit, nur im Artikel über die Mandatsgebiete, also die unter die Aufsicht des Völkerbundes gestellten früheren Kolonien des Osmanischen Reiches und Deutschlands. Nur um die Völker, die es noch nicht zu eigener unabhängiger Staatlichkeit gebracht hatten, durfte sich das Völkerrecht in paternalistischer Weise kümmern: „Das Wohlergehen und die Entwicklung dieser Völker bilden eine heilige Aufgabe der Zivilisation“ (Art. 22 Abs. 1 der Völkerbundsatzung).9 Dagegen wurden den der Hoheitsgewalt der Mitglieder des Völkerbundes unterstehenden Personen „angemessene und menschliche Arbeitsbedingungen“ nur unter dem Vorbehalt der Bestimmungen besonderer völkerrechtlicher Verträge zugesagt (Art. 23 Buchst. a).

9 Vgl. Bardo Fassbender, Paternalismus und Selbstbestimmung im Völkerrecht, in: Michael Anderheiden u. a. (Hg.), Paternalismus und Recht, Tübingen 2006, S. 299 – 311 (304 f.).

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Welche Zäsur für den Platz der Menschenrechte im Völkerrecht das Jahr 1945 markiert, wird noch deutlicher, wenn man das seinerzeit weltweit führende englischsprachige Lehrbuch des Völkerrechts von Oppenheim / Lauterpacht zur Hand nimmt. Die 6. Auflage erschien, von Hersch Lauterpacht bearbeitet, im Jahr 1947.10 Unter den in Teil I, Kapitel 1 des Buches systematisch dargestellten International Persons, den Subjekten des Völkerrechts, taucht das Individuum nicht auf; es werden hier ausschließlich Staaten, Staatenverbindungen und staatsähnliche Gebilde behandelt. Während der erste Teil des Lehrbuchs den Titel The Subjects of the Law of Nations trug, war der zweite Teil korrespondierend mit The Objects of the Law of Nations überschrieben. Den das Völkerrecht hervorbringenden und es tragenden Kräften wurden in dieser Systematik die Gegenstände völkerrechtlicher Regelung gegenüberstellt – im ersten Kapitel des zweiten Teils das Staatsgebiet, im zweiten Kapitel die Hohe See, im dritten schließlich – aus heutiger Sicht erstaunlicherweise – der einzelne Mensch. „But what is the normal position of individuals in International Law, if they are not subjects thereof? The answer can only be that, generally speaking, they are objects of the Law of Nations.“11 Dies ergebe sich insbesondere aus der völkerrechtlichen Anerkennung der Personalhoheit der Staaten über ihre Angehörigen sowie ihrer Territorialhoheit, die sich auch auf die Fremden auf ihrem Gebiet erstrecke. Die von einzelnen Autoren – Lauterpacht nennt hier die kontinentaleuropäischen Gelehrten Bluntschli, Martens, Fiore und Fauchille12 – vertretene Ansicht, allen Menschen stünden von Völkerrechts wegen bestimmte Grundrechte zu („certain fundamental rights usually referred to as rights of mankind“), wird als nicht von der Rechtspraxis der Staaten getragen zurückgewiesen: Es sei nämlich allgemein anerkannt, daß ein Staat seine eigenen Staatsangehörigen sowie Staatenlose nach Belieben behandeln dürfe, und daß die Art und Weise, wie er sie behandele, prinzipiell das Völkerrecht nicht interessiere.13 Lauterpacht sah aber, als er 10 L. Oppenheim, International Law: A Treatise. Bd. I: Peace. 6. Aufl. hg. von H. Lauterpacht, London / New York / Toronto 1947. 11 Ebd. S. 582 (Hervorhebung im Original). 12 Ebd. S. 583 Anm. 5. 13 Ebd. S. 583: „For it is generally recognised that a State is entitled to treat both its own nationals and stateless persons at discretion and that the

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diese Zeilen im Jahre 1946 schrieb, bereits voraus, daß sich dieser Rechtszustand unter dem Einfluß der neuen UN-Charta ändern könne: „It is possible that the Charter of the United Nations, with its repeated recognition of ,human rights and fundamental freedoms‘, has inaugurated a new and decisive departure with regard to this abiding problem of law and government.“14 III. Die „International Bill of Human Rights“ Am 10. Dezember 1948 nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris mit 48 Ja-Stimmen bei acht Enthaltungen (nämlich der kommunistischen Staaten sowie Saudi-Arabiens und Südafrikas) die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an.15 Der italienische Philosoph Norberto Bobbio nannte die Erklärung „etwas völlig Neues in der Geschichte der Menschheit“, denn mit ihr sei zum ersten Mal ein System von grundlegenden Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens in freier Entscheidung angenommen worden – von der Mehrheit der auf der Erde lebenden Menschen, vertreten durch ihre Regierungen. „Mit dieser Erklärung wird ein Wertesystem universal, und zwar nicht im Prinzip, sondern faktisch, denn der Konsens wurde als Regelung für das Zusammenleben der künftigen Gemeinschaft aller Menschen und Staaten formuliert.“16 Den historischen Grund der Allgemeinen Erklärung benennt ihre Präambel schon im zweiten Absatz: Die Nichtbeachtung und Verachtung der Menschenrechte habe zu Akten der Barbarei geführt, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllten. Mit diesen „barbarous acts“ waren in erster Linie die Verbremanner in which it treats them is not a matter with which International Law, as a rule, concerns itself.“ 14 Ebd. S. 585. 15 Resolution 217 A (III) der UN-Generalversammlung vom 10. Dezember 1948, United Nations Year Book 1948 – 49, S. 535. Deutsche Übersetzung in: Christian Tomuschat (Hg.), Völkerrecht, 3. Aufl. BadenBaden 2005, Nr. 11. 16 Norberto Bobbio, Presente e avvenire dei diritti dell’uomo, in: La comunità internazionale XXIII (1968), S. 3 – 18 (3); deutsche Übersetzung in: ders., Das Zeitalter der Menschenrechte, Berlin 1998, S. 17 f.

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chen der nationalsozialistischen Führung Deutschlands gemeint, die soeben erst in den Nürnberger Prozessen voll in das Licht der Weltöffentlichkeit gezogen worden waren.17 Die Formulierung vermittelt aber auch eine ganz grundsätzliche Erkenntnis, fußend auf historischer Erfahrung, die zu der Allgemeinen Erklärung und der durch sie eingeleiteten und bis heute andauernden Entwicklung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes geführt hat – die Erkenntnis nämlich, daß es nicht ausreicht, die Grund- und Menschenrechte eines Volkes allein der betreffenden nationalen öffentlichen Gewalt anzuvertrauen. „Die Regierung ist eingesetzt, um dem Menschen die Nutzung seiner natürlichen und unabdingbaren Rechte zu verbürgen“, hieß es etwa im Artikel 1 der französischen Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1793.18 Was aber, wenn die Regierung eine systematische Unterdrückung dieser Rechte betreibt und einem technisch und organisatorisch überlegenen Staatsapparat gegenüber auch ein verfassungsrechtlich garantiertes Widerstandsrecht19 diese Unterdrükkung nicht zu hindern vermag? Für diesen Fall, so die Erkenntnis der Schöpfer der Allgemeinen Erklärung von 1948, bedarf es einer übernationalen Garantie und möglichst auch institutionellen Sicherung der Menschenrechte. Zugleich wurde mit einer international bill of rights den Staaten ein Standard vor Augen gestellt, ein Ausdruck des weltzivilisatorisch erreichten Erwartungshorizonts, an dem sich ihre Rechtsetzung und Rechtspraxis orientieren und messen lassen sollten. Es sei, schreibt der Zürcher Staats17 Am Vortag, dem 9. Dez. 1948, hatte die Generalversammlung die „Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ (BGBl. 1954 II, S. 729) angenommen. Vgl. Bardo Fassbender, Die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, in: Die Politische Meinung, 51. Jg., H. 434 vom Jan. 2006, S. 57 – 63. 18 „Le gouvernement est institué pour garantir à l’homme la jouissance de ses droits naturels et imprescriptiles.“ Hartung (N 4), S. 49, 50. 19 Vgl. Art. 35 der Französischen Erklärung von 1793 (Hartung [N 4], S. 49, 54 f.): „Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, so ist die Erhebung (l’insurrection) des Volkes und jedes einzelnen Teiles desselben das heiligste seiner Rechte und die höchste seiner Pflichten.“ Die Grenzen des Widerstandsrechts zeigt auf: Christian Tomuschat, Das Recht des Widerstands nach staatlichem Recht und Völkerrecht, in: Horst Albach (Hg.), Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat, Göttingen 2007, S. 60 – 95.

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und Völkerrechtslehrer Daniel Thürer, eine allgemein anerkannte Tatsache, daß das Völkerrecht in der Gestalt, die es nach dem Zweiten Weltkrieg gefunden habe, „den Staaten und ihren Verfassungen“ die Aufgabe des Menschenrechtsschutzes als eine „elementare Rahmenbedingung“ vorgebe. Es sei keine Verfassung mehr denkbar, die nicht zumindest einen Kerngehalt des internationalen Menschenrechtsschutzes verwirkliche. „Das Völkerrecht beinhaltet insofern eine substanzielle Legitimationsgrundlage des staatlichen Verfassungsrechts.“20 In dreißig Artikeln proklamierte die Generalversammlung klassische Freiheitsrechte (wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, die Gewissens- und Religionsfreiheit, die Meinungsund Informationsfreiheit) auf der einen Seite und wirtschaftliche und soziale Rechte (wie das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung) auf der anderen. Der Katalog ist umfangreich, spezifische Schrankenregelungen fehlen.21 Die Generalversammlung konnte sich diese Großzügigkeit leisten, weil Einvernehmen darüber bestand, daß die Erklärung keine völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechte hervorbringen sollte – dies wurde später zu vereinbarenden Verträgen vorbehalten –, sondern vielmehr als „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal (a common standard of achievement)“ anzusehen war, wie es die Präambel der Erklärung selbst sagte. Heute werden viele Artikel der Erklärung als Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts anerkannt, insbesondere das Recht auf Leben, das Verbot der Folter, der Sklaverei und des Sklavenhandels, der Schutz vor willkürlicher Verhaftung sowie das Verbot einer Diskriminierung aus rassischen Gründen.22 Unter ausdrücklicher Berufung auf die Allgemeine Erklärung unternahmen es die Mitglieder des Europarates im Jahre 1950 mit 20 Vgl. Daniel Thürer, Kosmopolitisches Staatsrecht, Zürich / Berlin 2005, S. 6. 21 Näher Bardo Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt in internationalen Menschenrechtsverträgen, in: Eckart Klein (Hrg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, Berlin 2006, S. 73 – 114 (79 – 82). 22 Vgl. Christian Tomuschat, Human Rights: Between Idealism and Realism, 2. Aufl. Oxford 2008, S. 37.

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der Europäischen Menschenrechtskonvention23, „die ersten Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung aufgeführter Rechte zu unternehmen“ (Präambel, letzter Absatz). Auf der universellen Ebene dauerte der Prozeß der Einigung auf verbindliche Verträge zum Schutz der Menschenrechte dagegen sehr viel länger, denn hier fehlte das den Europaratsstaaten „gemeinsame Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit“. Vielmehr mußten die westlichen Staaten Kompromisse mit zwei großen anderen Gruppierungen suchen, den kommunistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion sowie den Entwicklungsländern, die nach und nach ihre Unabhängigkeit erlangten. Erst 1966 kam es zur Annahme der beiden UN-Menschenrechtspakte, des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte24 einerseits und des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte25 andererseits. Zehn weitere Jahre vergingen, bis die nötige Zahl von Ratifikationen erreicht worden war und die Pakte in Kraft treten konnten. Der erste Pakt machte die überwiegende Zahl der Freiheitsrechte der Allgemeinen Erklärung völkerrechtlich verbindlich, während der zweite Pakt die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Erklärung aufgriff, sie aber grundsätzlich nicht als einklagbare Individualrechte ausgestaltete, sondern den Vertragsstaaten nur entsprechende „Bemühensverpflichtungen“ auferlegte. Während es in Art. 2 Abs. 1 des ersten Paktes heißt, jeder Vertragsstaat verpflichte sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen unterschiedslos zu gewährleisten, enthält der entsprechende Artikel des zweiten Paktes nur die Verpflichtung jedes Vertragsstaats, „unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln ( . . . ) die 23 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. Nov. 1950, BGBl. 1952 II, S. 685. Bekanntmachung der ab dem 1. Nov. 1998 auf Grund des Protokolls Nr. 11 vom 11. Mai 1994 geltenden Fassung: BGBl. 2002 II, S. 1054. 24 United Nations Treaty Series (UNTS) Bd. 999, S. 171; BGBl. 1973 II, S. 1534; Tomuschat (N 15), Nr. 16. 25 UNTS Bd. 993, S. 3; BGBl. 1973 II, S. 1570; Tomuschat (N 15), Nr. 17.

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volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen“. Im Sprachgebrauch der Vereinten Nationen, der das anglo-amerikanische Leitbild des Menschenrechtsschutzes spiegelt, stellen die Allgemeine Erklärung von 1948 und die beiden Pakte von 1966 gemeinsam die International Bill of Human Rights dar. In der Tat bilden diese Dokumente die Grundlage zahlreicher späterer universaler Verträge über Einzelfragen des Menschenrechtsschutzes, wie die Diskriminierungsverhütung, die Rechte der Frauen, den Schutz von Kindern und Jugendlichen, Menschenrechte im Justizwesen, die Rechte behinderter Menschen, die Vereinigungsfreiheit der Arbeitnehmer und die Rechte von Staatenlosen, Asylanten und Flüchtlingen.26 Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die beiden Internationalen Pakte von 1966 von allen Staaten der Erde verbindlich angenommen worden.27 Allerdings hat die Volksrepublik China den Pakt über bürgerliche und politische Rechte zwar im Jahr 1998 unterzeichnet, bis heute aber nicht ratifiziert (er gilt nur kraft besonderer Vereinbarungen in den früheren britischen und portugiesischen Kolonien Hongkong und Macau). Die Vereinigten Staaten von Amerika wiederum konnten sich bislang nicht entschließen, dem Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte beizutreten.28 Im Vergleich weist die Liste der Ratifi26 Systematische Zusammenstellung der einschlägigen Verträge und Erklärungen in: Christian Tomuschat (Hg.), Menschenrechte, 2. Aufl. Bonn 2002, sowie in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen (mit einer Einführung von Eibe H. Riedel), 4. Aufl. Bonn 2004. Vgl. Eckart Klein, Die Vereinten Nationen und die Entwicklung des Völkerrechts, in: Helmut Volger (Hg.), Grundlagen und Strukturen der Vereinten Nationen, München / Wien 2007, S. 21 – 66 (31 ff.), sowie Norman Weiß, Menschenrechtsschutz, ebd. S. 163 – 187. 27 Der Pakt über bürgerliche und politische Rechte wurde von 160, der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 157 Staaten angenommen (Stand vom 25. Jan. 2008 bzw. 11. Okt. 2007); vgl. die Angaben auf der Homepage des Büros des Hohen Kommissars der VN für Menschenrechte: www.ohchr.org. Dagegen gehören den Vereinten Nationen gegenwärtig 192 Staaten an. 28 Die USA unterzeichneten den Pakt 1977 (in der Zeit der Präsidentschaft von J. Carter), haben ihn aber bis heute nicht ratifiziert. Weder die

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kationen der beiden Fakultativprotokolle zum Pakt über bürgerliche und politische Rechte – über die Prüfung von Individualbeschwerden (1966) sowie über die Abschaffung der Todesstrafe (1989) – deutliche Lücken auf.29 So besteht vom Standpunkt des positiven völkerrechtlichen Vertragsrechtes an der universellen oder jedenfalls quasi-universellen Geltung der Menschenrechte kein Zweifel. Im Gegensatz zur Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 58) kennen die beiden Pakte keine Kündigungsklausel, sondern nur Regeln über ihre Änderung (Art. 51 bzw. 29). Gleichwohl bleibt ein Staat frei, die Pakte nach den Normen des allgemeinen völkerrechtlichen Vertragsrechts zu kündigen, wozu es allerdings, soweit ersichtlich, bisher noch in keinem einzigen Fall gekommen ist.30 Auch im Falle einer Kündigung bliebe ein Staat an die völkergewohnheitsrechtlich garantierten Menschenrechte gebunden. Um welche Rechte es sich hierbei handelt, ist umstritten. Weitgehende Einigkeit besteht im Hinblick auf das Recht auf Leben, das Verbot der Folter, der Sklaverei und des Sklavenhandels sowie das Verbot einer Diskriminierung aus rassischen Gründen, die schon im Zusammenhang der Allgemeinen Erklärung Erwähnung fanden. Diese Rechte werden zugleich als jus cogens oder zwingende Normen des Völkerrechts im Sinne von Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention von 196931 betrachtet, von denen die Staaten als Vertragsparteien nicht abweichen dürfen.32 Ergänzend Carter-Administration noch die folgenden Regierungen unterbreiteten den Pakt dem US-Senat, um dessen verfassungsmäßige Zustimmung herbeizuführen. 29 Das erste Fakultativprotokoll wurde von 110 Staaten ratifiziert, das zweite von nur 65 Staaten (Stand vom 11. Okt. 2007 bzw. 25. Jan. 2008). 30 Im Jahre 1997 wollte Nordkorea den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte kündigen. Dem widersprach der UN-Generalsekretär unter Hinweis auf das allgemeine Vertragsrecht: Der Pakt sei kein Vertrag, aus dessen Natur ein stillschweigendes Recht auf Kündigung abgeleitet werden könne. Der UN-Menschenrechtsausschuß hat sich dieser Ansicht angeschlossen. Vgl. Eckart Klein, Universeller Menschenrechtsschutz: Realität oder Utopie?, EuGRZ 26 (1999), S. 109 – 115 (111). 31 UNTS Bd. 1155, S. 331; BGBl. 1985 II, S. 927; Tomuschat (N 15), Nr. 5.

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wird auf Rechte abgestellt, die nach den Bestimmungen des Paktes über bürgerliche und politische Rechte oder anderer Verträge auch im Falle eines öffentlichen Notstandes oder Krieges nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen (wie der nulla poena sine legeGrundsatz oder das Recht eines Menschen, als rechtsfähig anerkannt zu werden). Verglichen mit dem Inhalt der regionalen und universalen Menschenrechtsverträge ist dieser Kanon sehr klein. Viele Autoren lassen daher auch die wiederholten Bekenntnisse der Staaten zu den vertraglich geschützten Rechten als Praxis im Sinne der Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts gelten und gelangen so zu der Ansicht, die in allen großen Verträgen berücksichtigten Rechte, d. h. im wesentlichen die klassischen Freiheitsrechte, seien auch gewohnheitsrechtlich verbürgt. Von diesem Problem des (positiven) Völkergewohnheitsrechts zu trennen ist die Frage einer natur- oder vernunftrechtlichen Geltung der Menschenrechte auf der Ebene des Völkerrechts. Die völkerrechtlichen Dokumente bieten Argumente zugunsten der Annahme einer solchen Geltung, so etwa Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung („All human beings are born free and equal in dignity and rights“) oder Art. 6 Abs. 1 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte („Every human being has the inherent right to life. This right shall be protected by law“), doch vermögen sie sie als positive Rechtssätze letztlich nicht zu begründen.

IV. Menschenrechte der „zweiten“ und „dritten Generation“ Der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz ist zeitlich dem innerstaatlichen (der „westlichen“ Staaten) gefolgt.33 So bietet der Vgl. Tomuschat, Human Rights (N 22), S. 38. Für die Verfassunggebung der nach dem Zweiten Weltkrieg in die Unabhängigkeit entlassenen Kolonien, aber auch der ost- und mitteleuropäischen Staaten nach dem Ende des Kommunismus besaßen dagegen die völkerrechtlichen Texte Modellcharakter. Vgl. nur Thürer (N 20), S. 36: „Ein Blick in die Werkstätten moderner Verfassungsgebung und in Texte und Kontexte moderner Verfassungen erweist, wie omnipräsent Fundamentaldokumente der internationalen Gemeinschaft wie die Satzung der UNO oder die Allgemeine Menschenrechtserklärung der UNO sind. 32 33

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Inhalt der völkerrechtlichen Verträge zum Schutz der Menschenrechte dem Verfassungsjuristen nur wenige Überraschungen. Erst in jüngster Zeit ist das Völkerrecht selbst erfindungsreich geworden und wirkt mit Neuschöpfungen menschenrechtlicher Garantien auf das nationale Verfassungsrecht zurück. Erstes Anliegen war, wie in den europäischen und nordamerikanischen Verfassungstexten des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, auch im Völkerrecht der Schutz der klassischen Freiheitsrechte. Die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 etwa stellte in ihren Mittelpunkt: das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Diese Freiheitsrechte werden im Völkerrecht als „Rechte der ersten Generation“ (first generation rights) bezeichnet. Der wichtigste universale Vertrag, der die im zwanzigsten Jahrhundert in das nationale Verfassungsrecht verschiedener Länder eingeführten sozialen und wirtschaftlichen Rechte völkerrechtlich kodifizierte, war der schon genannte Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966.34 Hier finden sich als sogenannte „Rechte der zweiten Generation“ insbesondere: das Recht auf Arbeit, das Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, die Gewerkschaftsfreiheit, der Schutz von Familien, Müttern, Kindern und Jugendlichen, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, das Recht „eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“, das Recht auf Bildung, das Recht auf Teilnahme am kulturellen und wissenschaftlichen Leben. Einen ähnlichen Inhalt hat die Europäische Sozialcharta von 1961.35 Über den Pakt hinausgehend, proklamierte sie noch ein Recht auf Fürsorge im Falle Sie haben, ausdrücklich oder implizit, in allen modernen Verfassungen tiefgreifende Spuren hinterlassen.“ 34 Vgl. Brigitte Hamm / Alexander Kocks, 40 Jahre UN-Sozialpakt: Bilanz und Perspektiven, Friedens-Warte 81 (2006), S. 87 – 106. 35 BGBl. 1964 II, S. 1262. Ein Zusatzprotokoll von 1988 (European Treaty Series Nr. 128), das die Bundesrepublik Deutschland nicht angenommen hat, garantiert vier weitere wirtschaftliche und soziale Rechte.

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fehlender ausreichender persönlicher Mittel sowie bestimmte Rechte behinderter Menschen. Im Jahre 1996 wurde die Sozialcharta revidiert; sie enthält in ihrer neuen Fassung Verstärkungen der bisherigen sowie neue Rechte wie ein Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung.36 Wie schon ausgeführt, kennzeichnet es die wirtschaftlichen und sozialen Rechte im Vergleich mit den Freiheitsrechten, daß sie völkerrechtlich nur in sehr abgeschwächter Form als Individualrechte ausgestaltet worden sind. Im allgemeinen versprechen die Staaten lediglich bestimmte Bemühungen zur Förderung der betreffenden Rechtsposition37 „unter Ausschöpfung aller [ihrer] Möglichkeiten“ (Art. 2 Abs. 1 des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte), womit die großen Versprechen unter den Generalvorbehalt des jeweils finanziell und organisatorisch Möglichen gestellt werden. Dies entspricht durchaus einem Gebot der Aufrichtigkeit, denn „nicht alles, was erstrebenswert ist, kann man auch realisieren“ (Bobbio).38 Der Begriff der „Rechte der dritten Generation“ schließlich ist eine Sammelbezeichnung verschiedener neu proklamierter Menschenrechte, die inhaltlich keine Verbindung aufweisen.39 Das 36 Text: European Treaty Series Nr. 163 (von Deutschland nicht ratifiziert). Vgl. Kay Hailbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.), Völkerrecht, 4. Aufl. Berlin 2007, S. 157 – 264 (240 f.). 37 So heißt es zum Beispiel in Art. 12 Abs. 2 des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Hinblick auf das Recht auf Gesundheit: „Die von den Vertragsstaaten zu unternehmenden Schritte zur vollen Verwirklichung dieses Rechts umfassen die erforderlichen Maßnahmen a) zur Senkung der Zahl der Totgeburten und der Kindersterblichkeit sowie zur gesunden Entwicklung des Kindes; b) zur Verbesserung aller Aspekte der Umwelt- und der Arbeitshygiene; c) zur Vorbeugung, Behandlung und Bekämpfung epidemischer, endemischer, Berufs- und sonstiger Krankheiten; d) zur Schaffung der Voraussetzungen, die für jedermann im Krankheitsfall den Genuß medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung sicherstellen.“ 38 Vgl. Bobbio (N 16), S. 37 der deutschen Übersetzung. 39 Vgl. Eibe H. Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, EuGRZ 16 (1989), S. 9 – 21. Einige Autoren sprechen auch von „Solidaritätsrech-

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politisch vielleicht bedeutendste solche Recht ist das „Recht auf Entwicklung“ (right to development), das die Staaten der „Dritten Welt“ seit den 1970er Jahren propagiert und in der Form von Resolutionen der UN-Generalversammlung verkündet haben.40 Eine genauere Definition dieses Rechts, das nicht nur Individuen, sondern auch Völkern zustehen soll, ist bisher nicht gelungen.41 Im Kern ging es um einen gegen die Industriestaaten gerichteten Anspruch der Länder der Dritten Welt auf Entwicklungshilfe in Form von Geld, Technik und know how. Ähnlich gering ausgeprägte Konturen besitzen das früher besonders von den kommunistischen Staaten Ost- und Mitteleuropas propagierte „Recht auf Frieden“ (right to peace)42 sowie das „Recht auf eine saubere (oder gesunde) Umwelt“ (right to a clean [or healthful] environment), das zum ersten Mal in der Abschlußerklärung der Konferenz von Stockholm von 1972 formuliert wurde: „Man has the fundamental right to freedom, equality and adequate conditions of life, in an environment of a quality that permits a life of dignity and well-being.“43 Im Zeichen des stark gewachsenen Bewußtseins der globalen Umweltbedrohungen hat das letztgenannte Recht freilich an Bedeutung gewonnen und ist in die unmittelbare Nähe des (unumstrittenen) Rechts auf Leben sowie des Rechts auf Gesundheit gerückt. Neuerdings werden einzelne Aspekte des Rechts auf eine saubere Umwelt zu besonderen Rechten stilisiert oder verdichtet, zum Beispiel zu einem Recht auf sauberes Wasser (right to water). ten“ (solidarity rights). Vgl. Christian Tomuschat, „Solidarity Rights (Development, Peace, Environment, Humanitarian Assistance)“, in: Encyclopedia of Public International Law, Bd. IV (2000), S. 460. 40 Vgl. insbesondere die Resolution 41 / 128 vom 4. Dez. 1986, in deren Art. 1 es heißt: „The right to development is an inalienable human right by virtue of which every human person and all peoples are entitled to participate in, contribute to, and enjoy economic, social, cultural and political development, in which all human rights and fundamental freedoms can be fully realized.“ 41 Vgl. Tomuschat, Human Rights (N 22), S. 55 f. 42 Vgl. die Resolutionen der UN-Generalversammlung 33 / 73 vom 15. Dez. 1978 und 39 / 11 vom 12. Nov. 1984 („Declaration on the Right of Peoples to Peace“). 43 Prinzip 1 der Erklärung von Stockholm. Vgl. auch Resolution der UN-Generalversammlung 45 / 94 vom 14. Dez. 1990.

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Der Umstand, das bisher für keines der genannten „Rechte der dritten Generation“ eine völkerrechtlich verbindliche Einigung über die Berechtigten, die Verpflichteten und den genauen Inhalt des Rechts erzielt werden konnte, zeigt, daß es sich gegenwärtig nicht um individuelle Rechtspositionen handelt, sondern um einen Ausdruck von allgemeinen Zielvorstellungen der internationalen Staatengemeinschaft.44 Es ist aber charakteristisch, daß diese Ziele in der Form von Individualrechten proklamiert werden. Denn seit der Französischen und der Amerikanischen Revolution wird mit den Menschenrechten nicht nur – ja vielleicht nicht einmal in erster Linie – die Verbesserung des Loses des Einzelnen beabsichtigt, sondern die Gestaltung und Umgestaltung der Gesellschaft als ganzes. V. Der Schutz der Menschenrechte als gemeinsame Angelegenheit der Staatengemeinschaft Das hergebrachte, sozusagen historische Ziel des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes ist die Sicherung bestimmter Rechte des Einzelnen gegen den Staat, der aufgrund seiner Personal- oder Territorialhoheit Gewalt über ihn ausübt, insbesondere also den Staat der eigenen Staatsangehörigkeit. „Die Hohen Vertragsparteien“, heißt es in Artikel 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention, „sichern allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I [der Konvention] bestimmten Rechte und Freiheiten zu.“ Das Individuum wird zum Träger völkerrechtlicher Rechte erhoben, die es auch seinem Heimatstaat entgegenhalten kann. Es ist einerseits einer Staatsgewalt unterworfen, andererseits begegnet es dieser als Subjekt des Völkerrechts auf gleicher Augenhöhe. Während in und mit den nationalen Verfassungen die jeweils verfaßte Staatsgewalt an die Grund- und Menschenrechte gebunden wird, die verfassunggebende Gewalt also den pouvoir constitué verpflichtet, handelt es sich im Völkerrecht um eine Selbstverpflichtung der Staaten als Völkerrechtssubjekte, im wesentlichen 44

So Tomuschat, Human Rights (N 22), S. 59.

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durch völkerrechtlichen Vertragsschluß, in einem gewissen Umfang zudem durch eine gemeinsame Hervorbringung von Völkergewohnheitsrecht. Der praktische Wert dieser Selbstverpflichtung liegt darin, daß es sich zugleich um eine Verpflichtung den übrigen Vertragsparteien gegenüber handelt, in der Verletzung der Menschenrechte eines eigenen Staatsangehörigen also auch die Verletzung einer Rechtsposition anderer Staaten liegt, die diese mit den ihnen zur Verfügung stehenden völkerrechtlichen Mitteln geltend machen können.45 Ob ein Staat im Ausnahmefall gegen schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen in einem anderen Staat auch mit militärischer Gewalt vorgehen kann („humanitäre Intervention“), ist höchst umstritten. Hat sich ein Staat vertraglich oder gewohnheitsrechtlich verpflichtet, kann er den anderen Staaten nicht mehr den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten entgegenhalten. Soweit der Geltungsanspruch der völkerrechtlich geschützten Menschenrechte reicht, ist die Betätigung einer Staatsgewalt auch hinsichtlich der eigenen Staatsangehörigen keine innere Angelegenheit mehr, sondern eine gemeinsame Angelegenheit der Staatengemeinschaft, sei sie regional oder universal, vertraglich oder gewohnheitsrechtlich konstituiert. Auf der universalen Ebene nehmen heute besonders die Organe der Vereinten Nationen regelmäßig für sich das Recht in Anspruch, die menschenrechtliche Lage in einem Mitgliedstaat zu überprüfen und gegebenenfalls förmlich zu kritisieren. Ein großer Teil der Tagesordnung jeder Jahrestagung der UN-Generalversammlung ist der menschenrechtlichen Situation in einzelnen Ländern gewidmet. Der UN-Sicherheitsrat hat in den letzten fünfzehn Jahren mehrfach – und prinzipiell unwidersprochen – schwere Menschenrechtsverletzungen in einem Mitgliedstaat als Bedrohung des Weltfriedens im Sinne von Kapitel VII der UNCharta qualifiziert und die ihm nach diesem Kapitel zu Gebote stehenden Maßnahmen bis hin zur Autorisierung der Anwendung militärischer Gewalt getroffen.46 45 Die völkerrechtlichen Menschenrechtsverträge sehen als besonderes Mittel in der Regel die sog. Staatenbeschwerde vor. Vgl. z. B. Art. 33 EMRK: „Jede Hohe Vertragspartei kann den Gerichtshof wegen jeder behaupteten Verletzung dieser Konvention und der Protokolle dazu durch eine andere Hohe Vertragspartei anrufen.“

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Der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz ist seiner Konzeption nach subsidiär. Die vertraglich anerkannten Schutzmechanismen,47 insbesondere das Individualbeschwerdeverfahren, gehen vom Regelfall der Beachtung der Menschenrechte aus, wie sie, als zwei sich weitgehend deckende Schnittmengen, sowohl verfassungs- wie völkerrechtlich garantiert werden. Damit wird zugleich eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit mit ihren Hauptelementen der Gesetzesbindung der Verwaltung und einer unabhängigen Justiz als regelmäßig vorhanden vorausgesetzt. Die Menschenrechtsverletzung soll umgekehrt die Ausnahme, der Einzelfall sein. Wie in neuerer Zeit das Beispiel des mit Beschwerden aus Osteuropa, insbesondere Rußland, überfluteten Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zeigt, sind die völkerrechtlichen Mechanismen nicht geeignet, strukturelle Defizite auf nationaler Ebene auszugleichen. Im Falle solcher Defizite kann Abhilfe nicht von justizförmigen Behelfen, sondern nur von der Politik erwartet werden. VI. Die Durchdringung des Völkerrechts durch die Menschenrechtsidee In dem von Graf Vitzthum herausgegebenen Lehrbuch des Völkerrechts schreibt Kay Hailbronner: „Seitdem sich die Staatengemeinschaft im Jahre 1948 in einer Deklaration der UNGeneralversammlung feierlich zur Achtung der Menschenrechte bekannt hat, bilden die Menschenrechte einen wesentlichen Bestandteil der Völkerrechtsordnung. ( . . . ) Der internationale Menschenrechtsschutz hat die Entwicklung des Völkerrechts tiefgreifend beeinflußt. ( . . . ) Staatliche Befugnisse, die herkömmlich als typischer Ausfluß staatlicher Souveränität verstanden worden sind, ( . . . ) werden in zunehmendem Maße menschenrechtlich beeinflußt.“48 Der italienische Völkerrechtsgelehrte Antonio Cas46 Vgl. Heike Krieger, Der Sicherheitsrat als Hüter der Menschenrechte: Grund und Grenzen seiner Kompetenz, Friedens-Warte 81 (2006), S. 107 – 128. 47 Guter Überblick bei Theodor Schweisfurth, Völkerrecht, Tübingen 2006, S. 540 ff. 48 Hailbronner (N 36), S. 228 ff.

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sese spricht von der Menschenrechtsidee als einem „Sauerteig“, der eine Umgestaltung des Völkerrechts von einem System von Rechtsbeziehungen auf der Grundlage der Eigennützigkeit und Gegenseitigkeit zur Wertordnung einer Kollektivgütern verpflichteten Gemeinschaft bewirkt habe.49 Ähnliche Ausführungen finden sich heute in fast allen Lehrbüchern des Völkerrechts. Sie bringen zutreffend zum Ausdruck, daß der Anspruch der Menschenrechte im Völkerrecht der Gegenwart über die klassische, subsidiäre-individualschützende Funktion weit hinausgeht. Die Menschenrechte sind zum Grundsatzprogramm der Völkerrechtsgemeinschaft schlechthin geworden, ihrer Legitimation und Zielvorstellung, an der sich in zunehmendem Maße alles Völkerrecht messen lassen muß. Sucht man nach einem verbindenden Merkmal der verschiedenen Inhaltsbestimmungen eines Gemeinwohls der internationalen Gemeinschaft, so ist es der Schutz des einzelnen Menschen – vor kriegerischer Gewalt, vor Verletzungen seines Lebens, seiner Gesundheit, Freiheit und Würde im Frieden und im Krieg, vor schweren Gefährdungen seiner natürlichen Umwelt.50 Die Menschenrechte verpflichten also die Staaten nicht nur – der ursprünglichen Konzeption nach – als Inhaber der Personal- und Territorialhoheit im Hinblick auf den Umgang mit den ihrer Gewalt Unterworfenen, sondern auch als Erzeuger des Völkerrechts im allgemeinen. In Anlehnung an Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes könnte man formulieren, daß heute die Menschenrechte ihrem Anspruch nach die völkerrechtliche Rechtsetzung, Vollziehung und Rechtsprechung als vorrangig geltendes Recht binden. Wie sich dieser Vorranganspruch dogmatisch in einer Rechtsordnung begründen läßt, die traditionell von einer Gleichrangigkeit ihrer Normen und deren Änderbarkeit nach den für die einzelnen Rechtsquellen anerkannten Regeln ausgeht, ist freilich ein besonderes Problem.51 49 Vgl. Antonio Cassese, International Law, 2. Aufl. Oxford 2005, S. 396. 50 Vgl. Bardo Fassbender, Der Schutz der Menschenrechte als zentraler Inhalt des völkerrechtlichen Gemeinwohls, EuGRZ 30 (2003), S. 1 – 16 (11). 51 Überwiegend wird in der Völkerrechtslehre heute auf den Vorrang des sog. zwingenden Völkerrechts (ius cogens) rekurriert, zu dem die Ver-

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Als ein Beispiel für die Durchdringung anderer Rechtsgebiete des Völkerrechts durch die Menschenrechtsidee nennt Hailbronner „das Recht, über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und deren Aufnahme in den eigenen Staatsverband zu entscheiden“, also das Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht. Ferner werde die Ausübung diplomatischen Schutzes, ursprünglich als eine Geltendmachung eigener staatlicher Ansprüche verstanden, zu einem Instrument der stellvertretenden Ausübung individueller Rechte.52 Im Fall LaGrand interpretierte im Jahr 2001 auch der Internationale Gerichtshof eine Bestimmung des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen von 1963,53 nach welcher die Behörden des Empfangsstaates verpflichtet sind, im Falle der Festnahme oder eines sonstigen Entzugs der Freiheit eines Angehörigen des Entsendestaates die konsularische Vertretung dieses Staates unverzüglich zu unterrichten (Art. 36 Abs. 1 b), als individualrechtschützend, obwohl sie zur Zeit der Entstehung der Konvention wohl nur als Verpflichtung der Konventionsstaaten im Verhältnis zueinander verstanden worden war.54 Für das humanitäre Völkerrecht, d. h. das Recht der bewaffneten Konflikte mit dem Hauptanliegen des Schutzes der Zivilbevölkerung, hat Theodor Meron gezeigt, welchen systematischen Einfluß die Menschenrechte seit 1945 auf die Entwicklung und Interpretation seiner Normen gehabt haben, zum Beispiel die des Repressalienrechts oder des Rechts zum Schutz der Kriegsgefangenen.55 pflichtung zur Achtung grundlegender Menschenrechte gezählt wird. Eine andere Lehrmeinung geht von der Herausbildung eines (vorrangigen) Verfassungsrechts der Völkerrechtsgemeinschaft aus. Vgl. Bardo Fassbender, Grund und Grenzen der konstitutionellen Idee im Völkerrecht, in: Otto Depenheuer u. a. (Hg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, Heidelberg 2007, S. 73 – 91. 52 Vgl. Hailbronner (N 36), S. 230. 53 BGBl. 1969 II, S. 1585; Friedrich Berber (Hg.), Völkerrecht. Dokumentensammlung, München 1967, S. 884. 54 Fall LaGrand (Deutschland gegen Vereinigte Staaten von Amerika), Urteil vom 27. Juni 2001, in: Human Rights Law Journal 22 (2001), S. 36 ff. (Ziff. 77, 89), in deutscher Übersetzung auszugsweise in: EuGRZ 28 (2001), S. 287 ff. (Ziff. 77, 89).

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Auch in das internationale Handels- und Wirtschaftsrecht (ein Rechtsgebiet, das ursprünglich als einzigen „Wert“ die Mehrung von Handel und Wohlstand kannte) haben die Menschenrechte Eingang gefunden. Internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank machen die Kreditvergabe an Staaten von der Einhaltung menschenrechtlicher Verpflichtungen abhängig. Bilaterale Entwicklungshilfe wird vertraglich unter den Vorbehalt der Achtung von Menschenrechten gestellt. Eine Vorreiterrolle hat hier die Europäische Gemeinschaft gespielt, nachdem in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 die Menschenrechte ausdrücklich als Leitlinie für die Außenbeziehungen der Gemeinschaft statuiert worden waren.56 Nach Art. 5 der vierten Lomé-Konvention von 1989 steht die Achtung der Menschenrechte im Mittelpunkt der Entwicklungszusammenarbeit der EG mit den sogenannten AKP-Staaten (Afrikas, der Karibik und des Pazifik). Inzwischen werden Menschenrechtsklauseln automatisch in die Entwürfe für Verträge der EG / EU mit Drittstaaten aufgenommen, unabhängig davon, ob es sich um Handels-, Assoziierungs- oder Partnerschaftsabkommen handelt. Doch kann trotz dieser Beispiele und der in ihnen sichtbar werdenden Tendenz von einer Durchdringung des Völkerrechts in seiner ganzen Breite durch die Menschenrechtsidee noch nicht die Rede sein. Wichtige Gebiete des Völkerrechts, die in „klassischer Weise“ einerseits der Abgrenzung staatlicher Hoheitsbereiche und andererseits der Zusammenarbeit der Staaten dienen, eignen sich auch nur begrenzt für eine solche Durchdringung.

VII. Das Problem der Universalität der Menschenrechte Ungeachtet der förmlichen völkerrechtlichen Bindung fast aller Staaten der Erde an die wichtigsten universalen Menschenrechts55 Vgl. Theodor Meron, The Humanization of Humanitarian Law, American Journal of International Law 94 (2000), S. 239 – 278. 56 Vgl. Frank Hoffmeister, Menschenrechts- und Demokratieklauseln in den vertraglichen Außenbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft, Berlin / Heidelberg 1998.

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verträge und wiederholter Bekenntnisse der Regierungen zur Universalität, Unteilbarkeit und Interdependenz aller Menschenrechte57 ist das Problem des Spannungsverhältnisses zwischen universalen Menschenrechten und der Autonomie nationaler, regionaler oder religiös bestimmter (Rechts-) Kulturen bis heute ungelöst.58 Im Rahmen des heutigen Vortrages kann ich dieses Problem nur ansprechen. In verschiedenen Formen wird von Zeit zu Zeit geltend gemacht, die Menschenrechte seien eine kulturell und geschichtlich bedingte westliche Idee, ein Ausdruck westlicher Werte, eine Antwort auf eine bestimmte politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage, die sich nicht auf andere Regionen – insbesondere die islamische und arabische Welt, aber auch die asiatischen Länder – übertragen und auch temporär verallgemeinern ließe. Im positiven Völkerrecht findet diese Distanzierung ihren Niederschlag in zahlreichen Vorbehalten zu den Menschenrechtsverträgen, die sich insbesondere auf die Religions- und Glaubensfreiheit sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau beziehen. Bemerkenswert ist auch, daß sich die asiatischen Staaten sowie die islamisch-arabischen Staaten bis heute nicht entschließen konnten, den universell verbürgten Menschenrechten durch regionale Menschenrechtsverträge zu einer größeren Wirksamkeit zu verhelfen und diese Rechte damit auch politisch nachdrücklicher anzuerkennen, als dies mit der Hinterlegung einer Ratifikationsurkunde im fernen New York oder Genf der Fall ist.59 Die Literatur, die sich diesem Problem der 57 Vgl. z. B. die Abschlußerklärung der Staats- und Regierungschefs der UN-Mitgliedstaaten von 2005 (2005 World Summit Outcome), Resolution 60 / 1 der UN-Generalversammlung, Abs. 121. 58 Umfassende Untersuchung aus philosophischer Sicht: Sibylle Tönnies, Der westliche Universalismus. Die Denkwelt der Menschenrechte, 3. Aufl. Wiesbaden 2001. Vgl. auch Angelika Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes. Bürgerrechte im Spannungsfeld von Menschenrechtsidee und Staatsmitgliedschaft, Berlin 2001, insbes. S. 93 ff. („Nationaler Rechtsstaat gegen menschenrechtlichen Universalismus“) und S. 302 ff. („Das Nationalstaatsprinzip in einer menschenrechtlich-universalistisch fundierten Verfassung“). 59 Vgl. Anne-Laure Chaumette, Les droits de l’homme en Asie, in: Jean-Marc Thouvenin / Christian Tomuschat (Hg.), Droit international et diversité des cultures juridiques, Paris 2008, S. 433 – 444. Die islamischen Rechts- und Gemeinschaftsvorstellungen beschreibt als Herausforderung

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„Universalität der Menschenrechte“ oder des „kulturellen Relativismus“ aus juristischer, historischer, philosophischer und soziologischer Sicht widmet, ist mittlerweile fast unübersehbar.60 Dabei stammen nicht nur die Anhänger und Verteidiger universaler Menschenrechte vornehmlich aus Europa und Nordamerika, sondern auch ihre Kritiker, die außereuropäischen Völkern einen Raum freier Entfaltung bewahren wollen. Im Grunde geht es bei dieser Auseinandersetzung weniger um die Frage eines Ob als um die eines Wie universaler Menschenrechte. Daß es einen schützenswerten universalen menschenrechtlichen Kernbereich (wie das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf Freiheit von willkürlicher Inhaftierung) gibt, ist ungeachtet des westlichen Ursprungs der heute international verbürgten Menschenrechte auch in anderen Kontinenten und Regionen der Welt weithin unumstritten. Schon Ulrich Scheuner bemerkte, daß sich die Idee der Menschenrechte keineswegs nur auf jener christlichen Grundlage entfalten könne, auf der sie historisch gewachsen sei. „Wie jeder große Gedanke erweist sich auch die Vorstellung menschlicher Rechte nicht als so eng begrenzt und so ausschließlich an ihren geistigen Ursprung gebunden. ( . . . ) Weite Bestandteile der europäisch-westlichen Überlieferung (sind) so sehr in das moderne Bewußtsein in allgemeiner – wenn auch manchmal verflachter – Gestalt eingegangen, daß wir hier einen Gedankenkreis vor uns haben, der auch in außereuropäischen Bereichen seine Anwendung zu finden vermag.“61 für die Einheit des Völkerrechts Wolfgang Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Rechtsquellen des Völkerrechts, in: ders. (Hrg.), Völkerrecht (N 36), S. 1 – 79 (39 ff.). 60 Vgl. die Nachweise bei Klein (N 30), S. 114, sowie Jack Donnelly, Human Rights, in: John S. Dryzek u. a. (Hg.), The Oxford Handbook of Political Theory, Oxford 2006, S. 601 – 620 (618 ff.). Als wichtige Stimme aus Japan nenne ich noch: Onuma Yasuaki, Towards an Intercivilizational Approach to Human Rights: For a Universalization of Human Rights Through Overcoming of a Westcentric Notion of Human Rights, in: Asian Yearbook of International Law 7 (1997), S. 21 – 81. 61 Vgl. Ulrich Scheuner, Grundlage und Sicherung der Menschenrechte (1959), in: ders., Schriften zum Völkerrecht (hg. von Christian Tomuschat), Berlin 1984, S. 583 – 598 (592).

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Je mehr aber die abwehrrechtliche Grundlage der Menschenrechte verlassen und ihnen eine objektive, gesellschaftsgestaltende Funktion beigemessen wird, desto stärker wird das Potential eines Widerspruchs zu dem ebenfalls völkerrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht der Völker. „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung“, heißt es in dem gemeinsamen Art. 1 Abs. 1 der beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966. „Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“ Das Selbstbestimmungsrecht wurde einer Forderung der „Dritten Welt“ gemäß in die Pakte aufgenommen, die damit einen Anspruch der Völker unter kolonialer Herrschaft auf Unabhängigkeit befestigen wollte. Es war nicht daran gedacht, das Selbstbestimmungsrecht als ein Gegengewicht zu den in den Pakten statuierten Menschenrechten aufzubauen. Aus heutiger Sicht aber kann Art. 1 der Pakte auch als die Markierung einer äußersten Grenze des internationalen Menschenrechtsschutzes verstanden werden: Die Menschenrechte dürfen nicht so ausgelegt werden, als geböten sie eine völlige oder beinahe völlige Angleichung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes an den Standard der real existierenden Demokratien Europas und Nordamerikas. Ein Einfallstor für eine solche Auslegung ist zum Beispiel Art. 25 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der jedem Staatsbürger das Recht gewährt, „an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen“ sowie „bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen ( . . . ) zu wählen und gewählt zu werden“. Nach dem Wegfall des konkurrierenden kommunistischen Demokratiemodells wird dieser Artikel heute vielfach so verstanden, als gewähre er dem Einzelnen letztlich ein Recht auf ein demokratisches Regierungssystem nach europäisch-nordamerikanischem Vorbild. Wäre diese Auslegung richtig, so wäre die Autonomie eines nationalen Verfassunggebers im wesentlichen aufgehoben.

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VIII. Versuch einer Bilanz in Thesen und Fragen Am Ende meines das weitreichende Thema naturgemäß nicht erschöpfenden Vortrags möchte ich – wiederum ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit – versuchen, einige (teils bilanzierende) Thesen und Fragen zur Idee eines universalen Schutzes der Menschenrechte mit den Mitteln des Völkerrechts zu formulieren, wie sie mit der UN-Charta vor gut sechzig Jahren proklamiert worden ist. 1. Die Menschenrechtsidee hat im Völkerrecht nach dem Zweiten Weltkrieg einen ungeahnten Siegeszug erlebt. Mit Eckart Klein halte ich es „für schwerlich denkbar, daß die Menschheit hinter diesen Entwicklungsstand wieder generell zurücktreten wird“.62 Es ist nicht zu hoch gegriffen, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen. Diente das klassische Völkerrecht des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts vornehmlich dem Interesse der Staaten (und mittelbar der staatlich verfaßten Völker), so wurde im Zeitalter der Vereinten Nationen das Interesse des Individuums zum letzten und höchsten Zweck des Völkerrechts erhoben. Vielleicht lag hierin aber eine Überforderung des Völkerrechts, dem man eine so hehre Aufgabe und Verantwortung übertrug, ohne es mit den zu ihrer Erfüllung notwendigen Mitteln auszustatten.63 Insbesondere sind die tatsächlichen Möglichkeiten des Individuums, seine Rechte völkerrechtlich durchzusetzen, noch immer sehr begrenzt. Ob und inwieweit sich der Einzelne vor innerstaatlichen Gerichten unmittelbar auf die völkerrechtlichen Verbürgungen berufen kann, hängt von dem jeweiligen nationalen Recht ab.63a Auf universaler Ebene kann das Individuum seine Menschenrechte nach wie vor nicht in einem gerichtlichen Verfahren geltend machen.

Klein (N 30), S. 115. Vgl. auch die Überlegungen zum Problem der Effektivität des Völkerrechts bei Schweisfurth (N 47), S. 634 ff. 63a Vgl. exemplarisch zur Rechtslage in den USA: Bardo Fassbender, Can Victims Sue State Officials for Torture?, Journal of International Criminal Justice 6 (2008), S. 347 – 369. 62 63

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2. Die normative Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes ist heute von einer gewissen Erschöpfung gekennzeichnet. Mit großem Eifer ist auf universaler und regionaler Ebene ein völkerrechtlicher Vertrag nach dem anderen entworfen und in Kraft gesetzt worden. Bekannte Rechte wurden sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt wie ihren Träger differenziert und spezifiziert, und neue Rechte hervorgebracht. Selbst den Regierungen ist der Überblick über die sich vielfach überschneidenden und teilweise auch widersprüchlichen Gewährleistungen verloren gegangen. Weniger wäre mehr gewesen. Die Klarheit des Programms der Allgemeinen Erklärung von 1948 ist einer eher diffusen normativen Gemengelage gewichen. Die Staatengemeinschaft sollte sich auf die effektive Durchsetzung eines Kernbereichs der Menschenrechte konzentrieren, anstatt immer neue Rechte zu proklamieren. 3. Diese normative ist zugleich auch eine programmatische Erschöpfung. In den Sinn kommt das Bild eines Gebirgswanderers, der nach einem langen, beschwerlichen, doch mit Geschicklichkeit, Beharrlichkeit und auch Glück bestandenen Weg in die Höhe, in die Richtung eines ihm verheißenen Gipfels, nun nicht mehr so recht weiter weiß, zumal sich seine Erwartung, die Welt um ihn werde immer schöner, nicht bewahrheitet hat. Norberto Bobbio hat die Geschichte des Menschenrechtsschutzes einmal sehr knapp so beschrieben: „Die Menschenrechte entstehen als universale Naturrechte, sie entwickeln sich weiter zu spezifischen [nationalen] positiven Rechten und realisieren sich schließlich als universale positive Rechte.“64 Die Wanderung hat danach im achtzehnten Jahrhundert begonnen; sie dauert nun mit einer gewissen Finalität, jedenfalls Folgerichtigkeit, schon zweihundertfünfzig Jahre an. Die universalen positiven Rechte sind da und ausgefeilt, doch nun wohin sich wenden? Der Ausbau der völkerrechtlichen Institutionen und Verfahren zum Schutz der Menschenrechte (wie die Gründung eines internationalen Menschenrechtsgerichtshofs mit einer Zuständigkeit für die Entscheidung über Individualbeschwerden) erscheint vielen als die nächste konsequente Etappe. Andere zweifeln: Ist es noch derselbe, vor so langer Zeit eingeschlagene Weg? Stimmen die Ausgangs64

Bobbio (N 16), S. 21 der deutschen Übersetzung.

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koordinaten noch? Müßte womöglich, um das angestrebte Ziel zu erreichen, ein ganz anderer Weg gefunden und beschritten werden? 4. Wenn es richtig ist, daß die „Humanisierung des Völkerrechts“65 durch die Menschenrechte in dem auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Zeitalter nicht allein der Unwiderstehlichkeit einer Idee zuzuschreiben ist, sondern auch der tatsächlichen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Macht der westlichen Staaten, besonders der USA, so ergibt sich die Frage, wie sich der Aufstieg neuer Mächte im internationalen System, die ihrer Tradition und Geschichte nach weit weniger individualistisch geprägt sind, auf den Stellenwert der Menschenrechte auswirken wird. Mit anderen Worten: Hat sich die Menschenrechtsidee in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich in der Weise universalisiert, daß sie durch eine relative weltpolitische Schwächung ihrer Ursprungsländer nicht beschädigt werden wird? Ist es dem Westen gelungen, andere Erdteile von der Idee so zu überzeugen, daß diese „selbsttragend“ geworden ist, oder wird sie als ein octroi empfunden, dessen man sich, sobald man es nur kann, wieder entledigt? Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang lautet: Werden die systematischen und schweren Menschenrechtsverletzungen, welche die Bush-Administration in ihrem „Krieg gegen den Terrorismus“ gebilligt und gefördert hat,66 eine Episode bleiben, oder sind sie – zusammengesehen mit der gegen internationale Menschenrechtsinstitutionen (Internationaler Strafgerichtshof, UN-Menschenrechtsrat) und -normen (Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, Kinderrechte-Konvention, Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen) gerichteten amerikanischen Politik – Ausdruck einer tieferen Entfremdung der USA von der Menschenrechtsidee, die globale Folgen haben wird? Vgl. oben N 55. Es genügen die Stichworte „Abu Ghraib“, „Guantánamo“ und „black sites“ (geheime CIA-Gefängnisse außerhalb der USA). Vgl. etwa die scharfe Kritik des Präsidenten der American Society of International Law, Professor José E. Alvarez: Torturing the Law (Again), in: ASIL Newsletter 23 (2007), Nr. 4, S. 1 ff. 65 66

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5. Zu einem nicht geringen Teil müssen die Menschenrechtsverträge als ein Ausdruck symbolischer Politik angesehen werden. Die Bindung eines weiteren Landes an einen Vertrag wird als großer Fortschritt gefeiert, so als habe dieser förmliche Schritt auf die tatsächliche Lage in dem Land einen maßgeblichen Einfluß. Nimmt man eine der Sammlungen der Menschenrechtsverträge zur Hand und liest die Dokumente in der Annahme, die Rechtswirklichkeit entspreche ihren Verbürgungen auch nur ungefähr, so muß man sich als ein Bewohner der besten aller denkbaren Welten fühlen. Der Schutz der Menschenrechte ist aber weithin nur semantischer Natur. Mit anderen Worten: Man macht sich etwas vor, wenn man den hohen Ratifikationsstand der universalen Menschenrechtsverträge für bare Münze nimmt.67 Wenn in einem Land eine rechtsstaatliche Kultur und rechtsstaatliche, effektive Institutionen fehlen, wenn die Menschen nicht einmal von den ihnen zustehenden Rechten wissen, bleibt die Bindung an einen Vertrag wirkungslos.68 6. Wenig beachtet und untersucht sind die zahlreichen Vorbehalte, welche die Staaten bei der Ratifizierung menschenrechtlicher Verträge angebracht und damit die Bindung auch an zentrale Verbürgungen für sich ausgeschlossen haben. Viele Vorbehalte dürften unwirksam sein, da sie mit dem Ziel und Zweck des Vertrags unvereinbar sind,69 doch halten sich die Staaten mit der Erhebung von Einsprüchen gegen diese Vorbehalte sehr zurück. Jedenfalls ist das Netz menschenrechtlicher Vertragspflichten in Folge der Vorbehalte viel lückenhafter, als oft angenommen wird. 67 Analyse der Ratifikationspraxis und ihrer Bedeutung für die tatsächliche Umsetzung der menschenrechtlichen Verpflichtungen: Anja Jetschke, Weltkultur versus Partikularismus: Die Universalität der Menschenrechte im Lichte der Ratifikation von Menschenrechtsverträgen, Friedens-Warte 81 (2006), S. 25 – 49. 68 In noch grundsätzlicherer Weise hat Reinhard die Frage aufgeworfen, ob nicht der „europäische Staat in der außereuropäischen Welt weitgehend gescheitert (ist), und zwar am Fehlen soziokultureller Infrastruktur europäischer Art, ohne die er offensichtlich nicht funktioniert“. Vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, München 1999, S. 481. 69 Vgl. Art. 19 Buchst. c der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969; BGBl. 1985 II, S. 926.

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7. Für die Rechtswirklichkeit des Menschenrechtsschutzes dürfte heute die Rolle nichtstaatlicher Organisationen und der international verbreiteten Massenmedien bedeutender sein als die der völkerrechtlichen Regelwerke. Diese bieten den Organisationen und Journalisten freilich einen wesentlichen Bezugspunkt. Es ist bekannt, daß die KSZE-Schlußakte von Helsinki und die nachfolgenden Dokumente des KSZE-Prozesses den Bürgerrechtsgruppen der damaligen Ostblockstaaten wichtige Argumentationshilfen boten und so zur Überwindung der kommunistischen Diktaturen beitrugen. Im Alltag der Einforderung der Menschenrechte verlieren die feinen, in den Rechtsabteilungen der Außenministerien ersonnenen vertraglichen Distinktionen ihre Bedeutung und tritt der ursprüngliche programmatische Charakter der Menschenrechte wieder hervor, der so undifferenzierte, doch machtvolle Postulate wie das des Artikels 3 der Allgemeinen Erklärung von 1948 ermöglichte: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ 8. Die völkerrechtlich geschützten Menschenrechte beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Staat und Individuum. Wird die Rolle des Staates durch eine Privatisierung öffentlicher Aufgaben und Betätigungen oder eine Deregulierung, das heißt eine Rücknahme der staatlichen Normierung von Lebensbereichen und -sachverhalten, begrenzt, verringert sich auch der Anwendungsbereich der Menschenrechte. Diese Beschränkung des Schutzbereichs läßt sich durch dogmatische Figuren wie die Drittwirkung der Grundrechte nicht kompensieren. Bemühungen im Rahmen der Vereinten Nationen, multi- (oder trans-) nationale Unternehmen unmittelbar an die Normen der internationalen Menschenrechtsverträge zu binden oder kraft Völkerrechts eine Haftung der Unternehmen für von ihnen zu vertretende Menschenrechtsverletzungen zu begründen, sind bisher erfolglos geblieben.70 Das ist nicht erstaunlich, weil eine solche Bindung wesentliche strukturelle Änderungen des Völkerrechts voraussetzte, nämlich im Kern die Erhebung der Unternehmen zu eigenen Völkerrechtssubjekten. Je mehr sich der Staat zurückzieht, 70 Überblick über die Entwicklung in den letzten zehn Jahren: John Gerard Ruggie, Business and Human Rights: The Evolving International Agenda, American Journal of International Law 101 (2007), S. 819 – 840.

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um so weniger kann er im Bereich der Menschenrechte auch seine Schutzfunktion ausüben. „Die Wirtschaft ist das Schicksal“, formulierte Walther Rathenau 1921; das Wort gilt heute im globalen Maßstab, und eben auch für die Frage des tatsächlichen Genusses der menschenrechtlichen Verbürgungen durch die Mehrzahl der die Erde bewohnenden Menschen. *** Im „Zauberberg“ läßt Thomas Mann Naphta, den großen Antipoden Settembrinis, die Ideen und Träume der Aufklärung verhöhnen: „Das Wirklichkeitsergebnis der gepriesenen Französischen Revolution sei der kapitalistische Bourgeoisstaat – eine schöne Bescherung! die man in der Weise zu verbessern hoffe, daß man den Greuel universal mache. Die Weltrepublik, das werde das Glück sein, sicher!“71 Schneidend hält Naphta dem Italiener vor: „Es ist geschehen um Ihre Humanität, seien Sie dessen versichert, – geschehen und getan. Sie ist schon heute nur noch ein Zopf, eine klassizistische Abgeschmacktheit, ein geistiges Ennui, das Gähnkrampf erzeugt“.72 Die Entwicklung der letzten hundert Jahre hat im wesentlichen Settembrini Recht gegeben. Doch ist der Fortschritt, an den er als Repräsentant seines Zeitalters glaubte, kein Automatismus der Weltgeschichte, und bleiben die von Naphta scharfsinnig formulierten Gefährdungen der Idee der Humanität präsent, einer Idee, zu der als zentrales Element die Menschenrechte gehören.

71 Thomas Mann, Der Zauberberg (N 1), S. 970 (= 7. Kap., „Die große Gereiztheit“). 72 Ebd. S. 980.

Die innerstaatlichen Grundrechte als Maßstab der Außenpolitik? Von Christian Waldhoff, Bonn I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Verfassungsrechtsdogmatische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Außenpolitik als rechtlich faßbare Kategorie? . . . . . . . . . . . . . .

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2. Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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a) Die universalistische Idee der Menschenrechte . . . . . . . . . .

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b) Beispiele für aktive „Menschenrechtspolitik“ und ihr Scheitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Die Auslandsgeltung der deutschen Grundrechte . . . . . . . . . .

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4. Grundrechtsbindung der „freien“ Außenpolitik? . . . . . . . . . . .

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a) Die Protagonisten einer inhaltlichen Verfassungsbindung der Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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b) Das Problem der Grundrechtsbindung nichtformalisierter Rechtsakte – die Balance zwischen Grundrechtsbindung und dem Maß der Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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c) Die Gefahr der Verwechselung von Menschenrechten und Grundrechten bei der Anwendung von Art. 1 Abs. 2 GG

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III. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Es gehört zum Traditionsbestand politischer Theorie, die Außenpolitik als Sondergewalt von den mehr oder weniger rechtsgebundenen Gewalten zu sondern und ihre Eigengesetzlichkeit zu betonen. In der Übersteigerung führt dies bis zu der Verortung

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von Außenpolitik als „permanentem Ausnahmezustand“.1 Bei John Locke wird sie im zwölften Kapitel des Second Treatise of Government als „Federative Power“ bezeichnet und in seine gesellschaftsvertragliche Doktrin eingeordnet: „Es gibt noch eine andere Gewalt in jedem Staat, die man natürlich nennen könnte, weil sie jener Gewalt entspricht, die jeder Mensch von Natur aus vor dem Eintritt in die Gesellschaft besaß. Obwohl nämlich in einem Staatswesen die Mitglieder in ihrem Verhältnis zueinander immer einzelne Personen bleiben und als solche auch kraft der Gesetze der Gesellschaft regiert werden, bilden sie doch der übrigen Menschheit gegenüber einen einzigen Körper, der sich, wie zuvor jedes seiner Glieder, weiterhin der übrigen Menschheit gegenüber im Naturzustand befindet. . . . So betrachtet also, ist die ganze Gemeinschaft gegenüber allen anderen Staaten oder Personen, die sich außerhalb ihrer Gemeinschaft befinden, ein einziger Körper im Naturzustand. Darin liegt deshalb die Gewalt über Krieg und Frieden, über Bündnisse und alle Abmachungen mit allen Personen und Gemeinschaften außerhalb des Staatswesens, und man kann, wenn man will, von einer föderativen Gewalt sprechen.“2

Die Staaten untereinander befinden sich also im Naturzustand. Entscheidend sind dann die Ausführungen Lockes zur Rechtsbindung, die sich nur zum Teil auf seine Beschränkung des Gesellschaftsvertrages auf die innere Organisation des Gemeinwesens gründet: „Und obwohl es für den Staat von großer Bedeutung ist, ob diese föderative Gewalt gut oder schlecht ausgeübt wird, kann sie doch sehr viel weniger leicht durch im voraus gefaßte, stehende, positive Gesetze geleitet werden als die Exekutive. Es bleibt deshalb notwendigerweise der Klugheit und Weisheit derer überlassen, in deren Händen sie liegt, sie zum öffentlichen Wohl auszuüben. Denn die Gesetze, welche die Beziehungen der Untertanen untereinander betreffen und ihre Handlungen lenken sollen, können ihnen zwar als Richtschnur dienen – wie 1 Näher Walter Kälin, Verfassungsgrundsätze der schweizerischen Außenpolitik, ZSR 1986 II, S. 249 (269 ff.); Josef Hofstetter, Die Bedeutung rechtlicher Normen in der Außenpolitik, 1990, S. 4 ff.; zu Carl Schmitts außenpolitischer Konzeption siehe Claudius R. Köster, Außenpolitik und Politikbegriff bei Carl Schmitt, 1998. 2 John Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of Government), übersetzt von Dorothee Tidow, hg. von Peter-Cornelius MayerTasch, 1983, S. 112.

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man sich aber Fremden gegenüber zu verhalten hat, hängt zum großen Teil von deren Handlungen ab und von der Mannigfaltigkeit ihrer Absichten und Interessen. Es bleibt deshalb weithin der Klugheit derjenigen überlassen, welchen diese Gewalt übertragen wurde, sie nach bestem Vermögen zum Wohl des Staates zu gebrauchen.“3

Die auswärtigen Beziehungen, modern gesprochen: die Außenpolitik, wird so als vorrangig situationsbezogene Tätigkeit zur Prärogative des Herrschers bzw. seiner Exekutive4, das (Außen-) Politische avanciert als rechtlich ungebundene Sphäre zum Gegenbegriff des Rechts5 – eine bemerkenswert politische und bemerkenswert moderne Deutung6. Im konstitutionellen Staatsrecht gehörte die gesamte Sphäre des Auswärtigen im dualistischen Ansatz zur Prärogative des Monarchen.7 Bis in die gegenwärtige Staatsrechtslehre hinein wird die „auswärtige Gewalt“ zumindest terminologisch gesondert behandelt, und es wird stets darauf hin3 John Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of Government), übersetzt von Dorothee Tidow, hg. von Peter-Cornelius MayerTasch, 1983, S. 113; vgl. dazu etwa Meinhard Schröder, Nationale Souveränität und internationale Politikverflechtung, in: Politische Bildung 17 (1984), S. 67 (68). 4 John Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of Government), übersetzt von Dorothee Tidow, hg. von Peter-Cornelius MayerTasch, 1983, S. 123 ff. 5 Vgl. allgemein Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders. / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 163, Rdnr. 12, 19; Kay Hailbronner, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), S. 7 (12): „Die auswärtige Gewalt gilt als Inbegriff politischer Machtausübung.“ 6 Folke Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, 1973, S. 41 ff. 7 Vgl. Hans D. Treviranus, Außenpolitik im demokratischen Rechtsstaat, 1966, S. 34; Wilhelm G. Grewe, Zum Verfassungsrecht der auswärtigen Gewalt, AöR 112 (1987), S. 521 (523 ff.); kritisch differenziert dazu Udo Di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 27, Rdnr. 68 ff.; Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 285 ff.; Völker Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 77 ff., weist darauf hin, daß in der letztlich auf die Federalist-Papers zurückreichenden und von ganz anderen legitimatorischen Voraussetzungen ausgehenden amerikanischen Tradition von vornherein die gemeinsame Verantwortung von Parlament und Regierung bestimmend gewesen sei.

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gewiesen, daß hier keine gleichwertige, die Dreigewaltenteilung ergänzende Staatsfunktion beschrieben und gedeutet werde, sondern daß das Gewaltenteilungsschema gleichsam „quer“ zu der verfassungsrechtlichen Regelung der Außenbeziehungen liegt.8 Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen gestehen dem staatlichen Handeln mit Außenbezug Besonderheiten zu, die sich in einer Variation der Abgrenzung von Legislative und Exekutive (so etwa im Pershing-Beschluß von 19849), in erweiterten Einschätzungsspielräumen der nach außen handelnden Staatsorgane (so etwa im C-Waffenbeschluß von 198710 oder im Bodenenteignungsurteil von 199111) oder in sonstigen Facetten äußert.12 Dieser Feststellung ist ein anderer Befund gegenüberzustellen: Der „Grundrechtskonstitutionalismus“, die „vollständig gebundene Staatsgewalt in der Grundrechtsrepublik“.13 Die das Grundgesetz regierenden Grundrechte (Carlo Schmid) finden in der Bindungsklausel des Art. 1 Abs. 3 gerade keine territoriale Begrenzung.14 „Im Verfassungsstaat gibt es keine rechtsfreie Politik. 8 M.w.N. Folke Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, 1973, S. 33 ff.; Kay Hailbronner, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), S. 7 (9); Rüdiger Wolfrum, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), S. 38 (39); Udo Di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 27, Rdnr. 68; Gernot Biehler, Auswärtige Gewalt, 2005; Volker Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 1 ff.; rechtsvergleichend Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 370 ff. 9 BVerfGE 68, 1. 10 BVerfGE 77, 170. 11 BVerfGE 84, 90; vgl. auch die Entscheidung zum sog. Seeschiffzweitregister BVerfGE 92, 26 (41 f.). 12 Vgl. insgesamt etwa Folke Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, 1973; Henning Schwarz, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Außen- und Sicherheitspolitik, 1995; Kay Hailbronner, Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), S. 7 (19 ff.). 13 Bernhard Kempen, Grundrechtsverpflichtete, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd.. 2, 2006, § 54, Rdnr. 1. 14 Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 109, 118; Volker Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 384; vgl. auch BVerfGE 100, 313 (362 f.) – Abhöraktionen deutscher Geheimdienste im

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Auch die Gesetzgebung und die gesetzesfreie Verwaltung sind rechtlich gebunden durch die Normen der Verfassung.“15 Das Bonner Grundgesetz hat erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte die gesamte Staatsgewalt explizit an die Grundrechte gebunden.16 In Art. 1 Abs. 3 GG wurde der seit dem konstitutionellen Zeitalter offene Streit des Umfangs der Grundrechtsbindung positivrechtlich entschieden und durch die Aufrichtung der insofern einzigartigen Verfassungsgerichtsbarkeit institutionell unterfüttert.17 Die in Frankreich18, den USA und in der Schweiz19 je unterschiedlich vertretene Lehre vom nicht rechtsgebundenen und nicht gerichtlich überprüfbaren Regierungsakt paßt nicht in das System des Grundgesetzes20, die Lückenlosigkeit des Grundrechtsschutzes gehört zu den Essentialien der Verfassungsordnung. Man mag es drehen und wenden wie man will: Eine Befreiung bestimmter staatlicher Agenden von den Grundrechten ist von Verfassungs wegen schlicht nicht vorgesehen.21 Ausland: Bestimmung der räumlichen Reichweite der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 3 i.V.m. Art. 25 GG. 15 Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders. / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 163, Rdnr. 20. 16 Hans H. Klein, Grundrechte am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 6, Rdnr. 47; zur Grundrechtsbindung der auswärtigen Gewalt ebd., Rdnr. 50. 17 Insofern für die Grundrechtsbindung der auswärtigen Gewalt statt anderer Wolfgang Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 1992, § 117, Rdnr. 35. 18 Catharina Lodemann, Die Geschichte des französischen acte de gouvernement, 2005. 19 Georg Müller, Reservate staatlicher Willkür – Grauzonen zwischen Rechtsfreiheit, Rechtsbindung und Rechtskontrolle, in: Festschrift für Hans Huber, 1981, S. 109 (110 f.). 20 Christian Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 3, Rdnr. 234; zu dieser Lehre etwa Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1980, S. 685 f. 21 Für grenzüberschreitende Sachverhalte Peter Badura, Der räumliche Geltungsbereich der Grundrechte, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 2, 2006, § 47, Rdnr. 13.

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Diese Dichotomie zwischen strukturell kaum bindbarer Außenpolitik sowie umfassender und lückenloser (Grund-)Rechtsbindung jeglicher Staatsgewalt22 erweist sich bei näherem Hinsehen als vielschichtig: Was heißt überhaupt Außenpolitik? Muß hier nicht differenziert werden zwischen Rechtshandeln i.e.S. – etwa dem Abschluß völkerrechtlicher Verträge, der Beteiligung an inter- oder supranationaler Rechtssetzung – und einer „freien“ Außenpolitik der politischen Beziehungspflege, die zwar systematisch auch als Rechtshandeln in einem weiteren Sinne zu charakterisieren ist, bei dem es sich jedoch um nichtformalisiertes Handeln etwa zur Vorbereitung konkreter Rechtsakte handelt? Inwieweit spielt die gewaltenspezifische Wahrnehmung der „auswärtigen Gewalt“ eine Frage für die Rechts- und Grundrechtsbindung? Vor dem Generalthema „Menschenrechte als Weltmission“ wird zu klären sein, ob eine aktive „Menschenrechtspolitik“ das gleiche ist wie eine Bindung der Außenpolitik an die Grundrechte. Und schließlich auf der anderen Seite des Tableaus: Was bedeutet überhaupt „Grundrechtsbindung“? Legt man das mehrdimensionale, letztlich auf die Smend-Schule zurückreichende Grundrechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts mit der starken Betonung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte23 zugrunde, stellt sich die Frage der Spezifika der Grundrechtsbindung des staatlichen Handelns mit Auslandsbezug innerhalb der unterschiedlichen Grundrechtsdimensionen. Da Grundrechte spätestens seit 1951 als voll-judizielle Rechtssätze verstanden werden müssen, hängt mit unserer Fragestellung das Problem des Verhältnisses zwischen dem „Ob“ und dem Maß der Bindung zusammen: Fragen nach der Grundrechtsbindung staatlichen Handelns unter dem Grundgesetz können nicht mehr ohne die untrennbar damit zusammenhängende Frage nach der verfas22 Vgl. etwa auch Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 285. 23 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), S. 1; Robert Alexy, Grundrechte als subjektive Recht und objektive Normen, ebd., S. 49; Horst Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993; Bodo Pieroth / Bernhard Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 23. Aufl. 2007, Rdnr. 57 ff.; Friedhelm Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 2007, § 5; zur Kritik Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989.

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sungsgerichtlichen Kontrolldichte angegangen werden. Diese Fülle grundlegender verfassungsrechtlicher Fragestellung ruft nach Abschichtung. Im Folgenden soll daher zunächst der in der Themenstellung verwendete Begriff der „Außenpolitik“ näher konturiert werden, um auf den so umgrenzten Bereich die ebenfalls noch entfaltungsbedürftige Universalität der Menschenrechte und die Bindungsfrage exakter anwenden zu können.

II. Verfassungsrechtsdogmatische Verortung 1. Außenpolitik als rechtlich faßbare Kategorie? Außenpolitik ist zunächst keine rechtliche Kategorie, sondern ein Politikfeld: Es umschreibt dasjenige politische Handeln eines Staates, das sich mit den Beziehungen zu anderen Staaten sowie zu inter- und supranationalen Organisationen befasst.24 Demgegenüber hat in Verfassungen die sog. auswärtige Gewalt eine mehr oder weniger umfassende Normierung gefunden. Diese erstreckt die bundesstaatliche Kompetenzabgrenzung auf die staatlichen Kontakte nach außen, wenn Art. 32 Abs. 1 GG normiert: „Die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten ist Sache des Bundes.“ Die Organkompetenz nach dieser Festzurrung der Verbandskompetenz legt Art. 59 Abs. 1 GG fest: „Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er beschließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten.“ Das Erfordernis eines Bundesratifikationsgesetzes nach Abs. 2 dieser Vorschrift stellt 24 Juliane Kokott, Der Begriff „politisch“ im Normzusammenhang nationalen und internationalen Rechts, ZaöRV 51 (1991), S. 603, beschäftigt sich demgegenüber vorrangig mit einem entsprechenden Tatbestandselement in Rechtsnormen; vgl. auch die Umschreibung bei Wilhelm G. Grewe, Art. „Außenpolitik“, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 1, 7. Aufl. 1985, Sp. 439: „Außenpolitik ist die Gesamtheit über die eigenen Hoheitsgrenzen hinausgreifenden Aktivitäten, mit denen Staaten – oder andere im internationalen Kräftespiel handlungsfähige Organisationen – ihre Interessen waren und ihre Ziele verfolgen, mit denen sie ihre territoriale Integrität und ihre politische Unabhängigkeit schützen, ihre wirtschaftliche Existenz sichern und ihren Wohlstand mehren, ihre Ideale und ihren geistigen und kulturellen Rang fördern.“

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die notwendige demokratische Legitimation her und dient der Kompatibilität völkerrechtlicher Verträge mit der innerstaatlichen Rechtsordnung.25 In den Art. 23 bis 26 GG schließlich werden Sondervorschriften für den europäischen Integrationsprozeß, für die Übertragung von Hoheitsrechten auf inter- oder supranationale Organisationen, über die Einbeziehung bestimmter Teile des Völkerrechts in die innerstaatliche Rechtsordnung und als ausdrückliche inhaltliche Determinante des staatlichen Handelns nach außen das Verbot des Angriffskrieges und den Handel mit Kriegswaffen normiert. Lediglich Art. 32 Abs. 1 GG mit seiner Kompetenzzuordnung zum Bund umfaßt dasjenige, was jenseits des Staatsrechts als „Außenpolitik“ beschrieben wird; die anderen aufgeführten Normen treffen mehr oder weniger punktuelle Regelungen in diesem weiten Feld, die aber weit entfernt von einer materiellen Durchnormierung der Außenpolitik durch die Verfassung sind26. Diese Abstinenz kann letztlich nicht verwundern27: Albert Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, 1975, S. 215. Zum vorwiegend kompetenzrechtlichen Gehalt der verfassungsrechtlichen Regelungen der Außenbeziehungen Meinhard Schröder, Nationale Souveränität und internationale Politikverflechtung, in: Politische Bildung 17 (1984), S. 67 (68); Kay Hailbronner, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), S: 7 (14): „Dem Grundgesetz können nur vereinzelt ausdrückliche . . . verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Ausgestaltung der auswärtigen Beziehungen entnommen werden. In welcher Weise zur Erreichung welcher Ziele die Bundesregierung außenpolitisch tätig wird, ist daher eine vom Grundgesetz dem Inhaber der auswärtigen Gewalt überantwortete Frage politischer Zweckmäßigkeit. Dafür gibt es mehrere Sachgründe: – die Unvorhersehbarkeit außenpolitischer Entwicklungen; – die Komplexität internationaler Beziehungen; – die enge Verknüpfung mit fremder Herrschaftsgewalt und der daraus resultierende Zwang zum politischen Kompromiß und zur Suche nach dem politisch Erreichbaren. Daraus ergibt sich ein breiterer Handlungsspielraum als in der Innenpolitik, wo wir es ausschließlich mit der deutschen Rechtsordnung unterworfenen Akteuren zu tun haben.“ Für die Schweiz ist aus der Bundesverfassung von 1874 Art. 2 zu erwähnen, der die „Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes nach außen“ zum Staatszweck erklärt; dazu eingehender Walter Kälin, Verfassungsgrundsätze der schweizerischen Außenpolitik, ZSR 1986 II, S. 249 (289 ff.); diese „Außenstaatszielbestimmung wurde in Art. 2 Abs. 1 in der totalrevidierten Bundesverfassung von 1999 übernommen und in dessen 25 26

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Der Verfassung geht es um Entscheidungen der Verbands- bzw. Organkompetenz sowie um die Koordination von Völker- und Landesrecht. Lediglich die stark entstehungszeitlich geprägte Verbotsnorm des Art. 26 GG enthält konkrete inhaltliche Direktiven für die Außenpolitik.28 Für den übrigen Bereich – und es stellt keine Übertreibung dar zu behaupten, daß dies quantitativ den Großteil von Außenpolitik ausmacht – gilt der Satz: Politik ist nicht Verfassungsvollzug.29 Politik und somit Außenpolitik ist nicht die Umsetzung von Staatszielbestimmungen oder sonstigen Handlungsanleitungen oder inhaltlichen Postulaten der Verfassung.30 Politik hat einen Eigenstand gegenüber einer inhaltlichen Determination durch Rechtstexte: Politik als Gestaltung.31 Materielles Verfassungsrecht darf auch nicht als Optimierungspostulat fehlverstanden werden. Die Verfassung als Rahmenordnung für die Politik gibt – von den wenigen konkreten Gesetzgebungsaufträgen abgesehen – kein Optimierungsziel für die Politik vor.32 Abs. 4 um das Bemühen um eine „friedliche und gerechte internationale Ordnung“ ergänzt. 27 Vgl. zu strukturellen Grenzen einer Normierung von Außenpolitik mit im Ergebnis anderem Tenor auch Walter Kälin, Verfassungsgrundsätze der schweizerischen Außenpolitik, ZSR 1986 II, S. 249 (278 ff.). 28 Vgl. auch Ulrich Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 455 (482). 29 Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders. / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 162, Rdnr. 20, 43 ff. 30 Eingehend Hans D. Treviranus, Außenpolitik im demokratischen Rechtsstaat, 1966, S. 2 und durchgehend; vgl. auch Gerhard Schmid, Rechtlich festgelegte Ziele und Verfahren – Gedanken zu ihrer Bedeutung für die schweizerische Außenpolitik, in: FS für Dietrich Schindler, 1989, S. 789 (790). 31 Vgl. Juliane Kokott, Der Begriff „politisch“ im Normenzusammenhang nationalen und internationalen Rechts, ZaöRV 51 (1991), S. 603 (642 ff.), mit dem Hinweis auf die Unterscheidung von Carl Bilfinger zwischen Politik und rechtlicher Bindung (ders., Betrachtungen über politisches Recht, ZaöRV 1 (1929), S. 57 (59); zu dem politischen Element in internationalrechtlichen Vorschriften auch Wilhelm Wengler, Der Begriff des Politischen im internationalen Recht, 1956. 32 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 11 (17 f.); abgewogen kritisch Peter Badura, Grundrechte als Ordnung

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Der Bereich des Politischen ist vielmehr insofern „frei“, als daß er kraft seiner unmittelbaren oder mittelbaren demokratischen Legitimation sich vor dem Volk, nicht vor der Verfassung zu rechtfertigen hat, wenn die durch das Grundgesetz gesteckten äußersten Grenzen eingehalten werden.33 Gerade die Außenpolitik ist in diesem Zusammenhang mit Recht als prototypisch bezeichnet worden.34 Die Vermischung dieser im Ausgangspunkt klaren Abschichtungen gehört zu den Grundübeln bundesrepublikanischer Politik; der Mißbrauch verfassungsrechtlicher Vorgaben im politischen Diskurs geht nicht nur regelmäßig wegen fehlender Sachkenntnis derjenigen, die solche instrumentalisieren, schief; er verfehlt vielmehr schon im Ansatz die grundgesetzliche Konstruktion zwischen verfassungsrechtlicher Bindung und autonomer Entscheidung. In diesem Zusammenhang ist ein wichtiger Unterschied zwischen Innen- und Außenpolitik zu beachten: Innenpolitik (i.w.S.) ist stets recht unmittelbar auf die Schaffung konkreter formalisierter Rechtssätze gerichtet, idealerweise also auf Gesetzgebung hin orientiert. Der Grund liegt in der Funktion des Rechts als (verfassungsrechtlich gefordertes) Steuerungsinstrument den Bürgern gegenüber. Steuerung ist notwendigerweise mit Eingriffen verbunden die formalisierte Rechtsakte erzwingen. Das politische Vorfeld solcher Rechtsetzungsakte bedarf daher kaum der inhaltlichen rechtlichen Bindung, da die juristische Auseinandersetzung sich auf die Ergebnisse der formalisierten Rechtsetzungsvorgänge stürzen kann.35 Die Außenpolitik demgegenüber ist nicht in gleichem Maße auf den Zielpunkt formalisierter Rechtsetzung orienfür Staat und Gesellschaft, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 20, Rdnr. 9 f.; ferner Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: FS für Josef Isensee, 2007, S. 325 (332). 33 Vgl. Hans D. Treviranus, Außenpolitik im demokratischen Rechtsstaat, 1966, S. 7 ff. 34 Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders. / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 162, Rdnr. 12. 35 Vgl. in etwas anderem Zusammenhang Christian Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: FS für Josef Isensee, 2007, S. 325.

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tiert, das Gesetz als entscheidender Bestimmungsfaktor tritt zurück.36 Der völkerrechtliche Vertrag oder die Beteiligung an übergeordneten Rechtsetzungsvorgängen sind nur eine mögliche Variante von Außenpolitik.37 Auch wenn es zu Vertragsschlüssen kommt, steht zumindest nach der klassischen Variante der Außenpolitik das Individuum nicht im Zentrum der Regelungen. Außenpolitische Regierungsakte besitzen von vornherein eine geringe Grundrechtsrelevanz.38 Regierungsakte an sich, außenpolitische Regierungsakte im Besonderen sind formal-rechtlich schwer faßbar, in gewisser Weise und bis zu einem gewissen Punkt formenresistent.39 Unsere Fragestellung kann daher zugespitzt werden: Erträgt der an den Wirkmechanismen der innengerichteten kodifikatorischen Vollverfassung des Grundgesetzes ausgerichtete 36 Grundlegend Ulrich Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 455 (462 ff. und durchgehend); vgl. auch Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1980, S. 688 f.; Bd. III / 1, 1988, S. 1344; Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 358. Gleichwohl existieren Spezialmaterien, in denen auch Außenhandeln einfachgesetzlich normiert ist; dies betrifft dann regelmäßig die staatliche Reglementierung privaten Handelns; paradigmatisch erscheint hier das Außenwirtschaftsrecht, vgl. dazu nur Reiner Schmidt, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 65 (74 ff.); Brun Otto Bryde, Außenwirtschaftsrecht, in: Achterberg / Püttner / Würtenberger (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 1, 2. Aufl. 2000, § 5; Gernot Biehler, Auswärtige Gewalt, 2005, S. 113 ff. 37 Es soll allerdings nicht verkannt werden, daß in der Gegenwart die internationale Koordination, die dann zu innerstaatlichen Rechtsetzungsakten führt, an Bedeutung gewinnt; dies steht zumindest teilweise in Zusammenhang mit Entwicklungen, daß innerstaatliche nicht (mehr) durchsetzbare politische Programme über die „Bande“ außenpolitischer „Koordination“ oder Absprachen wieder in die Innenpolitik eingeführt werden; der gesamte sog. Bolgna-Prozeß und die darauf aufbauende Umstrukturierung der deutschen Universitäten aber auch alle Rechtsetzungsvorgänge im Umfeld von „Basel II“ stellen schlagende Beispiele dar. Die ehedem klare Abgrenzung zwischen „innen“ und „außen“ verwischt dadurch. 38 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1327. 39 Bernhard Kempen, Grundrechtsverpflichtete, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 2, 2006, § 54, Rdnr. 39.

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deutsche Verfassungsrechtler ein zumindest faktisches materielles (Verfassungs-)Rechtsvakuum im Bereich dieser „freien“ Außenpolitik? 2. Menschenrechtlicher Universalismus und nationale Grundrechte Die universalistische Prägung der Menschenrechte und mittelbar damit vielleicht auch der Grundrechte fordern im hiesigen Zusammenhang eine genauere Betrachtung dieses Grundzuges, um daran anschließend die Fragestellung auf die Grundrechte des Grundgesetzes zu beziehen. a) Die universalistische Idee der Menschenrechte Die Idee der Menschenrechte besitzt einen universalistischen Anspruch, d. h. sie begnügt sich nicht mit einer Geltung der Verbürgungen in einem konkreten Staatsverband oder Herrschaftsbereich, sondern impliziert ein missionarisches Element.40 Das ist bemerkenswert, stellt sich die Französische Revolution doch als Akt nationaler Selbstbestimmung dar, mit dem ein Volk sich die Grundlagen seiner Existenz festlegte.41 Prototyp dieses Universalismus ist die Déclaration des droits de l‘homme et du citoyen vom 26. August 1789, die ihren Inhalt sogleich mit „dem Stempel des Exportgutes“42 versieht: Das wird schon im Begriff „Men40 Weiterführend aus politikwissenschaftlicher bzw. philosophischer Perspektive Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1985; Norbert Brieskorn, Menschenrechte, 1997, S. 163 ff.; Christoph Menke / Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2007; Ablehnung einer juristischen Relevanz der Fragestellung bei Theodor Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, 2004, Rdnr. 26; Aufzeigen der Relevanz demgegenüber bei Karl-Peter Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtsvergleichung, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 16, Rdnr. 16 ff.: „grundrechtlicher Universalienstreit“. 41 Meinhard Schröder, Nationale Souveränität und internationale Politikverflechtung, Politische Bildung 17 (1984), S. 67. 42 Matthias Herdegen, Der Universalitätsanspruch des Rechtsstaates: Menschenrechtsmission? in: Pawlowski / Roellecke (Hg.), Der Universali-

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schenrecht“ deutlich; es wird in der religiösen bzw. pseudoreligiösen Bezugnahme auf die „Gegenwart und unter dem Schutz des allerhöchsten Wesens“ konsequent fortgesetzt und in universalistischen Formulierungen wie dem berühmten Art. 16 der déclaration gebündelt, wenn dort festgestellt wird: „Eine Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte gesichert noch die Gewaltenteilung festgelegt ist, hat keine Verfassung.“ Diese Formulierung deutet bereits darauf hin, daß die Rechtfertigung des modernen Staates auch wesentlich von der Garantie von grundlegenden Rechten geprägt ist.43 Auch durch das Postulat der Volkssouveränität in Art. 3 der Erklärung wird über einen reinen Grundrechtskatalog hinausgegangen. Der (pseudo-)religiöse Charakter der Menschenrechte in der Französischen Revolution wird bildmächtig in Vervielfältigungen der Déclaration mittels einer Ikonographie, die an biblische Gesetze, insbesondere die Zehn Gebote des Alten Testaments erinnert.44 So verwundert die Apostrophierung der Déclaration als „Credo du nouvel âge“ durch Jules Michelet kaum.45 Der universalistische, in dem Begriff Menschenrechte zum Ausdruck kommende Anspruch der Nationalversammlung war sogleich erfolgreich, wie das gewaltige Interesse und die Rezeption im Ausland deutlich machten.46 Damit grenzt sich die französische Rechteerklärung – trotz der unbestreitbaren Vorbildwirkung jener – markant von den nordamerikanischen Vorbildern ab, die in nüchtern-weiser Selbstbeschränkung zunächst gerade kein missionarisches Programm für sich in Anspruch nehmen47: „Das Verständnis der Grundrechte als Protätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, 1996, S. 117 (118); Thomas Würtenberger, Von der Aufklärung zum Vormärz, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 2, Rdnr. 8, spricht von „politischem Katechismus“. 43 Winfried Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, AöR 114 (1989), S. 537 (539). 44 Vgl. Klaus Herding / Rolf Reichardt, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, 1989, S. 46 und öfter sowie die Abbildung nach S. 32 bei Alfred Voigt, Geschichte der Grundrechte, 1948. 45 Norbert Brieskorn, Menschenrechte, 1997, S. 11. 46 Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat, 2001, S. 1, 158 ff. 47 Louis Henkin, Revolutionen und Verfassungen, in: Preuß (Hg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994, S. 213 ff.; Werner Frotscher / Bodo

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grammsätze, als Ansporn für den Gesetzgeber, im Sinne der Grundrechte zu handeln, bedeutete zugleich, daß die Grundrechte nicht als unmittelbar anwendbare, justitiable Rechtsnormen verstanden wurden und es anders als in den USA nicht zur Herausbildung des Vorrangs der Verfassung einschließlich des richterlichen Prüfungsrechts kam.“ Bemerkenswert ist somit, daß die missionarische Ausrichtung solcher Rechte ihre juristische Substanz verdünnt, letztlich wahrscheinlich ihre innerstaatliche Effektivität behindert, während eine an einen institutionellen Rahmen, letztlich also an eine wie auch immer gefaßte Staatlichkeit gebundene Ausführung die judizielle Aktivierung befördert. Diese Unterscheidung darf nicht mit der – unter dem Grundgesetz obsoleten48 – Grundfrage eines vorstaatlichen Grundrechtsverständnisses (so in Frankreich und v.a. in den USA) versus staatlicher gewährter Grundrechte (so die Doktrin des deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts) verwechselt werden, wie die völlig unterschiedliche Ausrichtung der beiden für die Grundrechtsentwicklung zentralen westlichen Verfassungsstaaten gezeigt hat. Die Entwicklung der Grundrechte im konstitutionellen staatsrechtlichen System ist ohnehin andere Wege gegangen: Als staatlich gewährte Rechte war ihre Geltungskraft von vornherein nicht auf den Gesetzgeber bezogen, beschränkte sich vielmehr auf die Umreißung des Bereichs der „Gesellschaft“ um damit diejenigen Sachbereiche zu definieren, in denen durch „Eingriffe in Freiheit und Eigentum“ der Gesetzesvorbehalt ausgelöst wird. Daneben gab es eine ausgeprägte Schicht von „Verheißungsnormen“, welche politische Programme und Zusagen ohne weiteren juristischen Gehalt enthielten, die die Appellfunktion der konstitutionellen Grundrechte abbildeten.49 Diese appelPieroth, Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 2007, Rdnr. 60; zur langfristigen „missionarischen“ Attraktivität der amerikanischen Verfassungehalte vgl. jetzt David Armitage, „The Declaration of Independence“. A Global History, 2007. 48 Horst Dreier, in: ders. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb., Rdnr. 69 f.; zur Diskussion und Problematik in Bezug auf wirkliche Menschenrechte eingehend Winfried Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, AöR 114 (1989), S. 537 (559 ff.). 49 Allgemein Wolfgang von Rimscha, Die Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, 1973; Ulrich Scheuner, Die rechtliche Trag-

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lative Schicht, die noch in den Weimarer Grundrechtsformulierungen präsent scheint, ist spätestens durch die vollständige Juridifizierung der Grundrechte unter dem Grundgesetz, nicht zuletzt durch die juridische Grundrechtseffektuierung durch das Bundesverfassungsgericht endgültig marginalisiert worden.50 Für die Gegenwart ist ferner zu konstatieren, daß „Menschenrechtsmission“ des Staates nicht mit Grundrechtsgeltung zu identifizieren ist: „Während die Grundrechte Ausdruck legitimationsstiftender Domestizierung und Fürsorge staatlicher Gewalt sind, gilt die Frage nach der Menschenrechtsmission der ,aggressiven‘ Seite einer sich als Rechtsstaat verstehenden Ordnung: Hier geht es um die Durchsetzung menschenrechtlicher Gehalte nach außen, gegenüber anderen Mitgliedern der Völkergemeinschaft.“51 Deutschland ist nicht verpflichtet, Grundrechte im Ausland durchzusetzen.52 „Die territoriale Begrenzung des Grundrechtsweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert, FS für Ernst Rudolf Huber, 1973, S. 139; Rainer Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus, Der Staat 18 (1979), S. 321; Dieter Grimm, Die Entwicklung der Grundrechtstheorie in der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts, in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 308; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, 1766 – 1866, 1988, S. 132 ff.; Rüdiger Suppé, Die Grund- und Menschenrechte in der deutschen Staatslehre des 19. Jahrhunderts, 2004; Thomas Würtenberger, Von der Aufklärung bis zum Vormärz, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 2, Rdnr. 17 ff.; Jörg-Detlef Kühne, Von der bürgerlichen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg, ebd., § 3; am Beispiel von Vorgaben für die Besteuerung Christian Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, 1997, S. 223 ff. 50 Instruktiv zu dieser als „Fortschrittsgeschichte“ interpretierten Entwicklung Brun-Otto Bryde, Programmatik und Normativität der Grundrechte, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 17, Rdnr. 4 ff. 51 Matthias Herdegen, Der Universalitätsanspruch des Rechtsstaates: Menschenrechtsmission? in: Pawlowski / Roellecke (Hg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, 1996, S. 117; kritisch zur Funktionalisierung von Menschenrechten (nicht Grundrechten) als völkerrechtliche Eingriffstitel Josef Isensee, Weltpolizei für Menschenrechte, JZ 1995, S. 421. 52 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1233.

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schutzes ist ebenso Gebot staatlicher Selbstbehauptung wie staatlicher Selbstbescheidung.“53 Der Gegensatz zwischen der ursprünglich (christlich oder aufgeklärt) virulenten naturrechtlichen Begründung eines Menschenrechtsuniversalismus und mehr oder minder normorientierter Geltung muß heute Ausgangspunkt jeder Betrachtung der Maßstäblichkeit von Grundrechten für das Außenhandeln des Staates sein. b) Beispiele für aktive „Menschenrechtspolitik“ und ihr Scheitern Die aufgezeigten historischen Unterschiede in den verschiedenen Menschenrechtsverbürgungen haben sich bis in die Gegenwart verwischt. Scheint der Bezug auf die Déclaration von 1789 in der französischen Außenpolitik eher zur Staffage verkommen oder dient sie als Reservoir großer Gesten, hat sich der „missionarische Drang“ der Vereinigten Staaten in dieser Frage gesteigert54, um etwa in der letztlich gescheiterten Menschenrechtspolitik Jimmy Carters in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zu kulminieren. „Die Menschenrechte als außenpolitisches Ziel“55 waren zunächst vom Kongreß in seinen Auseinandersetzungen mit dem Präsidenten über die außenpolitische Linie angesichts des Vietnam-Krieges gehoben worden56, bevor Carter mit ideologischem Impetus eine Menschenrechtspolitik aus Überzeugung initiierte57. 53 Josef Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 32 (1974), S. 49 (63). 54 Überblick über die Entwicklung vom missionarischen Eifer der Gründungsväter, die isloationistische Politik in Teilen des 19. Jh., menschenrechtliche Postulate im Zusammenhang mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg bis zu den Initiativen des Kongresses seit 1973 bei Christoph Müller, Menschenrechte als außenpolitisches Ziel, 1986, S. 28 ff.; zu den religiösen Bezügen dieses Missionsdrangs Manfred Brocker, Demokratischer oder christlicher Missionarismus in der US-amerikanischen Außenpolitik? in: ders. / Stein (Hg.), Christentum und Demokratie, 2006, S. 212. 55 So der Titel der Untersuchung von Christoph Müller, 1986. 56 Einzelheiten bei Christoph Müller, Menschenrechte als außenpolitisches Ziel, 1986, S. 32 ff. 57 Ebd., S. 80 ff.

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Die Sachgründe des recht frühen Scheiterns dieser Politik spielen in unserem Zusammenhang keine Rolle, als entscheidender Punkt für unsere Fragestellung bleibt jedoch festzuhalten, daß dieser Politikansatz nicht durch die amerikanischen Grundrechte verfassungsrechtlich angeleitetet war. In der amerikanischen Verfassungstradition wird das Verfassungsrecht der auswärtigen Gewalt als bundesstaatliches Problem und v.a. als Kompetenzproblem zwischen Präsident und Kongreß wahrgenommen58; den Grundrechten fehlt ohnehin weitgehend jeder programmatische Gehalt, jede objektiv-rechtliche Dimension im deutschen Verständnis59. Streitigkeiten in Bezug auf auswärtige Angelenheiten werden oftmals der political-question-doctrin unterworfen.60 Der Kongreß hat zwar versucht durch Gesetz den Präsidenten als den Hauptakteur der Außenpolitik einzufangen; dies bedeutete jedoch weder eine verfassungsrechtliche Bindung noch einen entscheidenden Rekurs auf Postulate der nationalen Verfassung in den politischen Debatten – wobei zugestanden sei, daß in den aktuellen Auseinandersetzungen über humanitäre Interventionen die Ebenen (politisch wie rechtlich) nicht mehr sauber auseinandergehalten werden.61 58 Laurence H. Tribe, American Constitutional Law, second ed., 1988, S. 219 ff., 353 ff.; Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 366 ff. m. w. N.; zur bundesstaatlichen Problematik vgl. bereits Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist-Artikel, hg. von Adams / Adams, 1994, S. 251 ff.; ferner Karl Carstens, Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihrer Verwirklichung, 1954, S. 151 ff. 59 Werner Heun, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 80 (89 f.); Brun-Otto Bryde, Programmatik und Normativität der Grundrechte, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 17, Rdnr. 22 f.; Rainer Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, ebd., § 19, Rdnr. 37 f. 60 Laurence H. Tribe, American Constitutional Law, second ed. 1988, S. 220; Juliane Kokott, Der Begriff „politisch“ im Normzusammenhang nationalen und internationalen Rechts, ZaöRV 51 (1991), S. 603 (644 ff.). 61 Vgl. Nico Krisch, Amerikanische Hegemonie und liberale Revolution im Völkerecht, Der Staat 43 (2004), S. 267; ferner etwa die Werke Michael Ignatieffs und hier als deutsche Übersetzung vorrangig: Die Politik der Menschenrechte, 2002; ferner: ders., Empire lite. Die amerikanische Mission und die Grenzen der Macht, 2003; ders., Das kleinere Übel, 2005;

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3. Die Auslandsgeltung der deutschen Grundrechte Unter Auslandsgeltung deutscher Grundrechte soll hier präzisierend die Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt bei Sachverhalten mit grenzüberschreitendem Charakter, mit Auslandsbezug verstanden werden62; hinzu tritt die grenzüberschreitende grundrechtliche Schutzpflicht. Dabei wird zu differenzieren sein hinsichtlich der jeweils betroffenen Grundrechtsdimension und hinsichtlich der Art und Struktur von Staatsgewalt, die der Bindung unterworfen werden soll. Im Folgenden soll unter Auslandsgeltung die Wirkweise der Grundrechte als Schranken für die nach außen gerichtete Staatstätigkeit verstanden werden, während anschließend – den Kern des Themas betreffend – die programmatische Schicht behandelt werden wird.63 zum Ganzen auch ders. (Hg.), American Exceptionalism and Human Rights, 2005. 62 Vgl. insgesamt je unterschiedlich Meinhard Schröder, Zur Wirkkraft der Grundrechte bei Sachverhalten mit grenzüberschreitenden Elementen, in: Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer, 1981, S. 137 ff.; Markus Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988; Gunther Elbing, Zur Anwendbarkeit der Grundrechte bei Sachverhalten mit Auslandsbezug, 1992; Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: ders. / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 1992, § 115, Rdnr. 82 ff.; Rainer Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, 1994; Dagmar Coester-Waltjen / Herbert Kronke / Juliane Kokott, Die Wirkkraft der Grundrechte bei Fällen mit Auslandsbezug, 1998; Matthias Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Loseblattsammlung, Stand: 49. Lfg. März 2007, Art. 1 Abs. 3, Rdnr. 71; Peter Badura, Der räumliche Geltungsbereich der Grundrechte, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 2, 2006, § 47; Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 118 ff.; Muna A. Yousif, Die extraterritoriale Geltung der Grundrechte bei Ausübung deutscher Staatsgewalt im Ausland, 2007; vergleichend Thomas Giegerich, Grund- und Menschenrechte im globalen Zeitalter: Neubewertung ihrer territorialen, personalen und internationalen Dimension in Deutschland, Europa und den USA, EuGRZ 2004, S. 758; zu der anders gelagerten Problematik der exterritorialen Geltung von Menschenrechten Thilo Rensmann, Die Anwendbarkeit von Menschenrechten im Auslandseinsatz, in: Weingärtner (Hg.), Einsatz der Bundeswehr im Ausland, 2007, S. 49. 63 Unterscheidung auch bei Walter Kälin, Verfassungsgrundsätze der schweizerischen Außenpolitik, ZSR 1986 II, S. 249 (353).

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Auch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten gelten die Grundrechte, sofern deutsche Staatsgewalt handelt: Die deutsche Staatsgewalt ist nicht nur im Inland grundrechtsgebunden, sondern insgesamt, auch wenn sie – ausnahmsweise – im Ausland handelt (Handlungsort im Ausland) oder die Wirkungen im Ausland eintreten (Erfolgsort im Ausland).64 Insofern ist das Territorialitätsprinzip relativiert. Freilich hat das Bundesverfassungsgericht schon sehr früh anerkannt, daß hier Besonderheiten gelten. Wenn Deutschland völkerrechtliche Verträge mit auswärtigen Staaten abschließt, die – wie etwa Doppelbesteuerungs- oder Investitionsschutzabkommen – Rechtspositionen des einzelnen Bürgers betreffen und die unmittelbar anwendbar sind, handelt deutsche und damit grundrechtsgebundene Staatsgewalt. Allerdings liegt es in der Natur vertraglicher Vereinbarungen, daß eine Seite der anderen Seite gewöhnlich nicht den Inhalt des Vertrags diktieren kann. Insofern reduziert sich der grundrechtliche Verpflichtungsgehalt auf eine „Bemühenslast“: Die deutsche Vertragsseite muß versuchen, möglichst viel grundrechtliche Substanz durchzusetzen.65 Anders gewendet: Die Grundrechtsbindung verliert ihre Striktheit, da die deutsche Staatsgewalt allein volle Grundrechtsverwirklichung nicht garantieren kann. Verfassungsgerichtlich ist dies alles ohnehin nur eingeschränkt überprüfbar. In der frühen Entscheidung zum Saar-Statut hat das Bundesverfassungsgericht am Beispiel der Grundrechtsbindung beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge die sog. Annäherungstheorie entwickelt: Verfassungskonform ist ein Vertragsergebnis, bei dem die deutsche Seite wenn auch nicht den voll verfassungsmäßigen Zustand, wohl aber – soweit dies politisch erreichbar war – eine Annäherung an diesen Zustand erreicht hat.66 Die Grundrechts64 BVerfGE 6, 290 (295); 57, 1, (23); Michael Sachs, in: ders. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, 4. Aufl. 2007, Einführung, Rdnr. 28a; vor Art. 1, Rdnr. 19; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1225, 1230 ff.; Philip Kunig, in: von Münch / Kunig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 1, Rdnr. 53. 65 Für die Doppelbesteuerungsabkommen näher entfaltet bei Moris Lehner / Christian Waldhoff, in: Kirchhof / Söhn / Mellinghoff (Hg.), Einkommensteuergesetz. Kommentar, Loseblattsammlung, Stand: 177. Lfg. Juli 2007, § 1, Rdnr. A 183 ff.

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bindung ist in diesen Fällen aufgrund der außenpolitischen Sachzwänge charakteristisch abgeschwächt. Inzwischen wird dies terminologisch anders begründet – in der Sache hat sich wenig geändert.67 Ist ein Deutscher durch ausländische Staatsgewalt beeinträchtigt, kann er sich dieser gegenüber nicht auf Art. 1 Abs. 3 GG berufen; zu erwägen sind jedoch Schutzansprüche gegenüber der deutschen Staatsgewalt.68 Die ohnehin völkerrechtlich nicht geforderte Pflicht des Staates, seinen Staatsangehörigen diplomatischen Schutz im Ausland zu gewährleisten69, kann jedoch nicht in einen Anspruch auf konkrete Handlungen des Heimatstaates gerichtet sein, sondern lediglich auf ermessensfehlerfreie und völkerrechtskonforme Ausübung staatlichen Schutzes. Das wird im Ergebnis regelmäßig sehr wenig sein. Die Schutzpflicht krankt bei Außensachverhalten noch mehr als bei rein innerstaatlicher Anwendung70 an der unvermeidbaren, durch das demokratische Verfassungsprinzip und konkrete Sachzwänge bedingten Einschätzungsprärogativen des Verpflichteten. Im Rahmen dieser Abschichtungen ist schließlich noch auf das sachlich nächste und dogmatisch brisanteste Problem hinzuweisen, der nach wie vor ungelösten Frage der Grundrechtsbindung bei deutscher Mitwirkung an Rechtsakten der Europäischen Union.71 66 BVerfGE 4, 157 (169 f.); 12, 281 (290 ff.); 14, 1 (7 f.); 15, 337 (284 ff.); 18, 353 (365 ff.); 27, 253 (281 f.); insgesamt Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1364 ff., auch zu den späteren Veränderungen dieses Ansatzes. 67 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1231, 1365: „favor conventionis“, d. h. Rücksichtnahme auf die Rechtsordnung der Vertragspartner und auf das Völkerrecht. 68 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1246; Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 129 ff.; Volker Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 385 ff. 69 Karl Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl. 2004, Rdnr. 881. 70 Vgl. nur Hans D. Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, in: FG zum 50jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2001, S. 35 (49); Friedhelm Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 2007, § 5, Rdnr. 6. 71 Matthias Herdegen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und die Bindung der deutschen Verfassungsorgane an das Grundgesetz, EuGRZ 1989,

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Die Verhandlung und die Abstimmung des deutschen Fachministers im EG-Ministerrat ist Ausübung deutscher Staatsgewalt und unterfällt damit automatisch der Rechtsbindung aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 3 GG. Die Probleme beginnen bei der Bestimmung des Maßes dieser Grundrechtsbindung.72

4. Grundrechtsbindung der „freien“ Außenpolitik? „The Changing Structure of International Law“73, der Strukturwandel der internationalen Beziehungen74 hat den nun zu betrachtenden Bereich der „freien“, man könnte auch sagen „klassischen“ Außenpolitik tendenziell verkürzt. Dadurch, daß zunehmend auch das einzelne Individuum in den Blick der Völkerrechtsordnung gelangt ist, daß sich das Völkerrecht vom Staatenrecht zum Menschheitsrecht fortzuentwickeln begonnen hat75, hat sich strukturell der Druck der Rechtfertigung und auch das Maß der rechtlichen Bindung außenpolitischer Entscheidungen erhöht76. Folge ist zunächst eine stärkere Einbindung des Parlaments in außenpolitische Prozesse.77 Das erscheint folgerichtig, wird so doch der zentrale verfassungsstaatliche Legitimationsmechanismus auch für die Außenpolitik aktiviert.78 Damit verS. 309 (313 f.); ders., Grundrechtsschutz bei der deutschen Mitwirkung an EG-Rechtsakten, in: FS für Georg Ress zum 70. Geb., 2005, S. 1175. 72 Matthias Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Loseblattsammlung, Stand: 49. Lfg. März 2007, Art. 1 Abs. 3, Rdnr. 89. 73 So der Titel der wegweisenden Arbeit von Wolfgang Friedmann, 1964; dazu Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 187 ff. 74 Vgl. Alfred Verdross / Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, §§ 14 ff. 75 Vgl. in der Rückwirkung auf das Staatsrecht Thomas Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), S. 41 (52 ff.). 76 Rüdiger Wolfrum, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), S. 38 (43). 77 Vgl. die allerdings nicht mehr ganz aktuelle politische Analyse bei Hans D. Treviranus, Außenpolitik im demokratischen Rechtsstaat, 1966, S. 34 ff.

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bunden ist eine Verschiebung völkerrechtlichen Geschehens fort von der Pflege staatlicher Souveränität hin zu völkerrechtlichem Menschenrechtsschutz.79 Fraglich bleiben die Auswirkungen auf die inhaltliche Determination außenpolitischen Handelns durch die nationale Verfassung. Legt man den oben zugeschnittenen Bereich „freier“ Außenpolitik ohne Rechtsetzung, ohne bzw. im Vorfeld des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge und ohne bzw. im Vorfeld der Mitwirkung an internationalen Rechtsetzungsprozessen zugrunde, wird die Frage einer Maßstäblichkeit der Grundrechte des Grundgesetzes zumindest im juristischen Schrifttum kaum noch erörtert. Die begrenzte Direktivkraft der wenigen expliziten inhaltlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben (Art. 23, 24, 26 GG; das Friedens-, früher auch das Wiedervereinigungsgebot der Präambel)80 stellt eine Warnung dar: „Deutlicher als im binnenstaatlichen Bereich reduziert sich hier die Verfassung auf ihren Grundgedanken, auf die Begrenzung der Ausübung von Herrschaft durch Recht.“81 a) Die Protagonisten einer inhaltlichen Verfassungsbindung der Außenpolitik Recht pauschal82 für eine grundrechtliche Bindung der Außenpolitik haben sich bereits vergleichsweise früh Hans-Peter Bull in 78 Vgl. näher Udo Di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 27, Rdnr. 73; Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 285 ff. 79 Hans H. Klein, Grundrechte am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 6 Rdnr. 28. 80 Vgl.etwa die begriffliche Zusammenfassung als „auswärtige Staatszwecke“ bei Volker Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 192 ff. 81 Reiner Schmidt, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 65 (66); Meinhard Schröder, Nationale Souveränität und internationale Politikverflechtung, in: Politische Bildung 17 (1984), S. 67 (72). 82 Auf die „auswärtige Gewalt“ bezogen explizit auch Hans H. Klein, Grundrechte am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 6,

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seiner Staatsaufgabenlehre 197383 und Albert Bleckmann in seinem Lehrbuch „Grundgesetz und Völkerrecht“ 1975 ausgesprochen, bei den Konkretisierungen dann jedoch stets nur unmittelbar rechtsrelevantes außenpolitisches Handeln herangezogen84. Der politisch-programmatische Bereich bleibt damit unterbelichtet. Präzeptor einer inhaltlichen Bindung der nationalen Außenpolitik an die materielle Verfassungsordnung, vornehmlich damit an die nationalen Grundrechte ist Christian Tomuschat in seinem wegweisenden Staatsrechtslehrerreferat von 1977.85 Unter dem Leitaspekt der „Außenwirkung der materiellen Verfassungsordnung“ ist er der erste und weitgehend auch der einzige, der auch eine inhaltliche Verfassungsbindung der genuin programmatischen Aspekte auswärtigen Handelns deutscher Staatsgewalt näher begründet: Es spreche – auch jenseits der expliziten Verfassungspostulate – „nur wenig für die Annahme, die auswärtige Gewalt solle über einen lediglich durch die Sachzwänge der internationalen Kompromißsuche eingeengten Freiraum verfügen. Enklaven rechtlich ungebändigter Opportunität fügen sich nur schwer in die Struktur einer Verfassungsordnung ein, welche die Grundideen der politischen Gemeinschaft im Sinne eines materiellen Leitplans zum Ausdruck bringt. Staat und Verfassung bilden eine dialektische Einheit und dürfen nicht etwa als Gegensatz zwischen einer vitalistischen Naturexistenz und einer normativen Rdnr. 50; symptomatisch in diesem Zusammenhang auch die ausgesprochen pauschale Außenwahrnehmung der deutschen Rechtslage durch Walter Kälin, Verfassungsgrundsätze der schweizerischen Außenpolitik, ZSR 1986 II, S. 249 (276 f.): „In der Bundesrepublik Deutschland z. B. gilt der Grundsatz, daß auch die auswärtige Gewalt an sich in vollem Ausmaß an die Grundrechte gebunden ist . . .“. 83 Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 282 f., unter der Prämisse, daß „Außenpolitik heute zunächst und wesentlich Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln und Absicherung der eigenen Sozialordnung gegen störende Einflüsse von außen“ darstelle. 84 1975, S. 227 ff., 241 ff.; vgl. auch die recht offene Haltung bei Christian Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 2, Rdnr. 124 ff., Art. 1 Abs. 3, Rdnr. 234; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1230 ff., 1366 ff. 85 Bekräftigt in Christian Tomuschat, Diskussionsbemerkung, VVDStRL 56 (1997), S. 114 f.

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Überschicht verstanden werden. In diesem Sinne muß auch die Außenpolitik unter der Geltung der Fundamentalunterscheidung stehen, wie sie vor allem aus Art. 1 und 20 ihren Niederschlag gefunden haben. ,Innen‘ und ,außen‘ dürfen nicht auseinanderfallen.“86 Tomuschat ist viel zu klug, um einen zentralen Einwand nicht sogleich zu antizipieren: „Dem möglichen Mißverständnis, hier würde einem missionarischen Drang das Wort geredet, die Welt mit einem ,Modell Deutschland‘ zu beglücken, sei sogleich entgegengetreten. Die Legitimation, verfassungsrechtliche Postulate auch in der auswärtigen Politik als Direktiven zu betrachten, kann sich nicht aus einer angenommenen Überlegenheit des Grundgesetzes, sondern nur aus der Evidenz und Allgemeingültigkeit seiner Aussagen für die menschliche Existenz schlechthin ergeben.“87 Tomuschat sieht auch in aller Klarheit die Gefahr des Umschlagens von Politik in Recht, glaubt jedoch über die Mehrdimensionalität der Grundrechte jenseits ihrer reinen Abwehrfunktion ein entscheidendes Argument für seine Bindungsthese zu finden: „Auch die Ergebnisse der neueren Grundrechtsdiskussion sind für das Thema nicht gleichgültig. Solange die Grundrechte als bloße Abwehrrechte verstanden wurden, bestand kein Anlaß, die Frage nach der Außenwirkung der Verfassung anders als in den Kategorien des Schrankendenkens zu erörtern. Sind hingegen die Grundrechte objektive Sinnprinzipien und setzen sie damit Richtpunkte für die gesamte Staatstätigkeit, so brechen die ehemals sicher scheinenden Grenzen auf und sind grundrechtsfreie Tätigkeitsbereiche der Staatsgewalt prinzipiell nicht mehr vorstellbar.“88 Diese Argumentation wird – wie in einer neueren 86 Christian Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7 (43); vgl. dens, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 172, Rdnr. 65: „Glaubwürdigkeit“ des Regierungshandelns als zentraler Topos; ganz ähnlich Walter Kälin, Verfassungsgrundsätze der schweizerischen Außenpolitik, ZSR 1986 II, S. 249 (282): „Auf Dauer läßt sich z. B. die Trennung zwischen Freiheit im Innern und grundrechtsungebundenem Handeln nach außen nicht aufrechterhalten, ohne daß die innere Ordnung Schaden nehmen wird.“ 87 Ebd., S. 44. 88 Ebd., S. 45.

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Veröffentlichung deutlich wird – mit dem Bedürfnis nach inhaltlicher Bindung der Außenpolitik gestützt: „Die dabei einzuschlagende Politik kann nicht in bloßer unterwürfiger Respektierung der fremden Ordnungen . . . bestehen, sondern verlangt, soweit die rein ökonomische Dimension verlassen wird, nach inhaltsbestimmenden Leitzielen. Derartige Leitziele werden für die Bundesrepublik insbesondere durch die Grundrechte gebildet.“89 b) Das Problem der Grundrechtsbindung nichtformalisierter Rechtsakte – die Balance zwischen Grundrechtsbindung und dem Maß der Bindung Der entscheidende verfassungsrechtsdogmatische Ansatzpunkt ist die Frage der Art und des Maßes der Grundrechtsbindung von Regierungshandeln im Bereich der Außenpolitik.90 Die Selbstverständlichkeit der Bindung jeglicher staatlicher Gewalt an die Grundrechte angesichts von Art. 1 Abs. 3 GG versperrt den Blick für die Vielfalt und die Abschichtungen der angesprochenen Bindung.91 Gerade im Bereich der so heterogenen „zweiten“ Staatsgewalt, die mit der unspezifischen Sammelbezeichnung „Exekutive“ umrissen zu werden pflegt, offenbart sich dies in aller Deutlichkeit. Gewöhnlich sind die Überlegungen zur Grundrechtsbindung auf die klassische Vollzugsverwaltung dem Bürger 89 Christian Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 172, Rdnr. 63 f. 90 Für das Regierungshandeln allgemein Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1980, S. 689. 91 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1320 f.; Peter Badura, Der räumliche Geltungsbereich der Grundrechte, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 2, 2006, § 47, Rdnr. 14; auch die Änderung des in Art. 1 Abs. 3 GG ursprünglich verwendeten Begriffs „Verwaltung“ in „vollziehende Gewalt“ durch Verfassungsnovelle 1956 um auch die Bundeswehr in die volle Grundrechtsbindung einzubeziehen, mit der eine inhaltliche Änderung nicht herbeigeführt werden sollte hat das Problem nicht offengedeckt: „Die eigentlichen Probleme des Ob und Wie der Bindungswirkung in den unterschiedlichen Bereichen der ,Zweiten‘ Gewalt sind auch nach der Verfassungsänderung geblieben.“ Stern, a. a. O., S. 1321.

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gegenüber zugeschnitten. Die Grundrechtsbindung der vollziehenden Gewalt wird im Wesentlichen als Komponente des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung wahrgenommen.92 Die Forderung spitzt sich damit zu: „Die Vielfalt exekutivischer Funktionen, Handlungsweisen und Organisationsformen muß . . . ihren Widerhall auch in der Bindungsklausel des Art. 1 Abs. 3 GG finden.“93 Außenpolitisches Regierungshandeln ist im Ausgangs- und Regelfall bürger- und damit gesetzesfern.94 Es kann sich nicht einseitig durchsetzen, sondern ist in die Sachgesetzlichkeiten internationalen Austausches eingebunden.95 Die Abwehrdimension der Freiheitsrechte verblaßt damit bis zur Unkenntlichkeit.96 Es bleiben die programmatischen, die objektiv-rechtlichen Grundrechtsschichten. Angesichts der Rechtssatzferne der Außenpolitik können jedoch auch die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte nicht die gleiche Wirkung wie nach innen erfüllen; die Ausstrahlungswirkung, die mittelbare Drittwirkung und ähnliche Figuren sind stets an dem Bürger gegenüber anzuwendende Rechtssätze gebunden und implizieren eine kontrollierende Gerichtsbarkeit. Damit tritt ein weiteres Zentralproblem jeglicher Grundrechtsanwendung hervor: Grundrechte stellen sprachlich Lapidarfor92 Philip Kunig, in: von Münch / Kunig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 1, Rdnr. 61; zur Vernachlässigung der staatsrechtswissenschaftlichen Befassung mit Rechtsformen von Regierungshandeln als Folge dieses auf das konstitutionelle Staatsrecht zurückreichenden Faktums Ulrich Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 455 ff. 93 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1323. 94 Damit soll nicht verkannt werden, daß aktuell etwa sog. Smart Sanctions des UN-Sicherheitsrats gerade auf die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten hin angelegt sind und damit das hier zugrundegelegte Bild von Außenpolitik relativieren; vgl. zu der Problematik nur im Zusammenhang mit EG-rechtlichen Implikationen Christoph Möllers, Das EuG konstitutionalisiert die Vereinten Nationen, EuR 2006, S. 426. 95 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, S. 1361 ff. 96 Vgl. auch Matthias Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Loseblattsammlung, Stand: 49. Lfg. März 2007, Art. 1 Abs. 3, Rdnr. 72: Differenzierung der Schutzintensität.

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meln dar.97 Entscheidend ist ihre inhaltliche Konkretisierung. In der klassischen Eingriffs-Abwehrdimension bewältigt zumindest das Bundesverfassungsgericht diese Aufgabe. Die Konkretisierung der objektiven, programmatischen Gehalte ist demgegenüber wesentlich heikler.98 Kommt die Besonderheit außenpolitischen Handelns hinzu, daß stets die Sachgesetzlichkeiten der internationalen Politik dominant bleiben, daß kein Staat gegen den Willen eines anderen Staats oder Völkerrechtssubjekts seinen Willen einseitig durchsetzen kann, sondern daß nach wie vor das völkerrechtliche Reziprozitätsprinzip den Funktionskern internationaler Beziehungen bildet99, verschwimmen etwaige inhaltliche Direktiven bis zur Unkenntlichkeit.100 Der „Ermessens97 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 115; vgl. insgesamt auch Martin Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 1992, § 110, insbes. Rdnr. 52 ff. 98 Für hiesige Fragestellung klar erkannt bei Ulrich Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 455 (482): „Soweit die rechtliche Bindung der Regierung reicht, ist ihr Handeln grundsätzlich richterlicher Prüfung unterworfen . . .“ Allgemein für die Grundrechte Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994 (Taschenbuchausgabe), S. 471: „Rechtliche Bindung impliziert unter dem Grundgesetz richterliche Kontrolle.“ 99 Dazu grundlegend Bruno Simma, Das Reziprozitätsprinzip in der Entstehung des Völkergewohnheitsrechts, 1970; ders., Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, 1972; im hiesigen Zusammenhang Christian Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7 (48); zur Diskussion über dieses „Bauprinzip des Völkerrechts“ bei den Beratungen derjenigen Grundgesetzartikel, die in ihrer Gesamtheit die „Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ abbilden, des „Außenstaatsrechts“ jetzt Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 63 ff. 100 Eindringlich Matthias Herdegen, Der Universalitätsanspruch des Rechtsstaats: Menschenrechtsmission? in: Pawlowski / Roellecke (Hg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, 1996, S. 117 (123): „Dabei geht es zwar um verfassungsrechtliche Leitlinien; aber ein rechtlich faßbares oder gar justiziables Verhaltensgebot für die Außenpolitik im Sinne eines ,Verfassungsaltruismus‘ oder einer menschenrechtsorientierten Staatszielbestimmung für die auswärtigen Angelegenheiten läßt sich daraus kaum ableiten. Für verbindliche Handlungsanweisungen bieten das Rechtsstaatsprinzip und seine verfassungsrechtlichen Ausprägungen zu wenig an Substanz. . . . Aber eine Gesamtschau dieser Normen

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spielraum“, die Einschätzungsprärogativen der Akteure gewinnen ein Gewicht, das objektive grundrechtliche Postulate in einem Maße verdünnen, daß es nur noch mit Bedenken gestattet, von einer Direktivkraft der Verfassung in Bezug auf außenpolitisches Handeln zu sprechen.101 Die Wege zu solchen Zielen sind derart vielfältig, daß die Zielvorgabe als solche wenig aussagt oder bewirkt, der politische Ermessensspielraum dominierend bleibt.102 Dieser Befund verstärkt sich, zieht man die nach der Logik der deutschen Grundrechtsordnung unvermeidbare Verfassungsgerichtsbarkeit hinzu. Inhaltliche Grundrechtsbindung der Außenpolitik ist nicht ohne verfassungsjudizielle Kontrolle zu haben. Eine drohende Verschiebung im Gefüge der Funktionenordnung wird damit dominant103. Die wenig konturierte Konkretisierung trägt . . . wenig mehr als die Festlegung der Regierung auf eine Außenpolitik gegenüber fremden Staaten, die der Einhaltung der Menschenrechte hohes Gewicht einräumt. Eine Determinierung der Abwägung mit gegenläufigen Belangen wird damit nicht in greifbarer Weise gesteuert.“ Ähnlich Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 1367: „Aber die Beachtung der Grundrechtsnormen bedeutet in dieser Hinsicht eine Bindung nach Art einer Richtlinie, eines Grundsatzes.“ 101 Treffend Gerhard Schmid, Rechtlich festgelegte Ziele und Verfahren – Gedanken zu ihrer Bedeutung für die schweizerische Außenpolitik, in: FS für Dietrich Schindler, 1989, S. 789 (790): „Nun ist die Steuerung durch rechtssatzmäßig festgeschriebene Zielnormen unter verschiedenen Gesichtspunkten alles andere als einfach. Das liegt vornehmlich an der Gepflogenheit, ganze Zielbündel von hohem Abstraktionsgrad wenigstens verbal zu harmonisieren – bei deren Umsetzung in politische Aktionen und rechtssatzmäßige Festschreibung beginnen dann erst die eigentlichen Probleme. Im Bereich der Außenpolitik besteht gegenüber einer Determinierung der Politik durch normative Vorgaben größere Skepsis als auf anderen Politikfeldern.“ 102 Meinhard Schröder, Nationale Souveränität und internationale Politikverflechtung, in: Politische Bildung 17 (1984), S. 67 (72); im Ergebnis gar nicht weit entfernt Walter Kälin, Verfassungsgrundsätze der schweizerischen Außenpolitik, ZSR 1986 II, S. 249 (285): „Diese Normenkomplexe vermögen – soweit es um verbindliche Schranken und Sperren oder positive Gebote und Zielsetzungen geht –, außenpolitisches Handeln in der Regel nur relativ schwach zu normieren; sie setzen aber der Außenpolitik vielfältige Wegweiser und Richtpunkte, welche die zuständigen Staatsorgane auf eine bestimmte Richtung festlegen und die Behörden zu ihrer Konkretisierung verpflichten.“

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objektiver Grundrechtsgehalte in der Abwägung mit anderweitigen politischen Interessen geriete in die Hände der Dritten Gewalt. Diese ist damit nicht nur überfordert, sie mutierte entgegen allen Erwartungen der Verfassung zum Letztentscheider der Außenpolitik. Das kann nicht gemeint und gewollt sein.104 Diese Überlegung zeigt endgültig das Scheitern einer inhaltlichen Bindung der Außenpolitik in ihrer Gesamtheit an die Grundrechte des Grundgesetzes. Der im Ergebnis offene Interessenausgleich mit sicherlich nicht an das Grundgesetz gebundenen ausländischen oder internationalen Akteuren weist auf einen prozeduralen Ausgleich hin. Nicht einseitige inhaltliche Determination, die ohnehin asymmetrisch bliebe, da der jeweils andere Akteur gerade dieser Bindung nicht unterliegt, sondern die Herstellung von Gerechtigkeit, von „richtigen“ Entscheidungen im prozeduralen Ausgleich internationaler Kontakte und Verhandlungen ist der vorgezeichnete Weg. Nicht inhaltliche Vorbestimmung, sondern institutionell richtige Zuordnung muß die Devise lauten.105 103 Allgemein und grundsätzlich zu diesem Problem Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), S. 1 (26 ff.). 104 Insofern verwundert es auch nicht, daß vor allem im schweizerischen Schrifttum, auf dem Hintergrund der begrenzten Kompetenzen des Bundesgerichts als Verfassungsgericht, die hier kritisierte Position mit großer Deutlichkeit vertreten wird, insbesondere bei Walter Kälin, Verfassungsgrundsätze der schweizerischen Außenpolitik, ZSR 1986 II, S. 249 (insbes. 349 f.): „Weite Bereiche außenpolitischen Handelns werden nun allerdings in der Schweiz im Anschluß an die französische Lehre als Regierungsakte bezeichnet, d. h. als Bereiche behördlichen Handelns, die von jeglicher gerichtlichen Prüfung ausgenommen sind. . . Der Hinweis auf die alleinige Verantwortung der Regierung für Akte der Außenpolitik ist ein Gewaltenteilungsargument und impliziert, daß sich solche Verfügungen zur gerichtlichen Überprüfung nicht eignen; er bedeutet aber nicht den Ausschluß jeglicher Rechtsbindung.“ Zum Zusammenhang Georg Müller, Reservate staatlicher Willkür – Grauzonen zwischen Rechtsfreiheit, Rechtsbindung und Rechtskontrolle, in: FS für Hans Huber, 1981, S. 109 (110). 105 Sehr klar Kay Hailbronner, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), S. 7 (11): „Angesichts einer Internationalisierung vieler Lebensbereiche unter Inanspruchnahme neuer Rechtsformen undquasi-rechtlicher Absprachen kann es kaum befriedigen, daß das Parlament von der wesentlichen politischen Kontrolle im Bereich der auswärtigen Gewalt ausgeschlossen bleibt. Die Konsequenz kann aber nicht sein,

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Auch Tomuschat gesteht letztlich zu, daß die Frage primär „verfassungsprinzipiellen Rang“ habe.106 Die von ihm angesprochene Glaubwürdigkeitsfrage, Widersprüche zwischen dem Handeln „innen“ und „außen“ zu vermeiden, ist jedoch eine genuin politische Frage – strukturell ähnlich wie Probleme, welche unter den Schlagwörtern von der „Widerspruchsfreiheit“107 oder „Einheit der Rechtsordnung“108 verhandelt werden. Die „Konsistenz des Verfassungsgefüges als Wertordnung für die gesamte Staatstätigkeit“ fordert die menschenrechtliche Orientierung letztlich als „Legitimitätsbegründung auch nach innen“109. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß durch die gemäßigte, allerdings zunehmend Gewicht erlangende Einbeziehung völkerrechtlicher Standards in die nationale Verfassungsordnung über Art. 25 GG und die Völkerrechtsoffenheit des Grundgesetzes durchaus äußerste und für alle Beteiligten gleichermaßen geltende inhaltliche Vorgaben existieren.110 Das Bundesverfassungsgericht hat jüngst mangelnde politische Kontrolle durch stärkere gerichtliche Kontrolle zu ersetzen. Gerade weil es sich hier um zentrale politische Weichenstellungen handelt, muß über Wege nachgedacht werden, die politische Kontrolle zu verstärken.“ Auch Gerhard Schmid, Rechtlich festgelegte Ziele und Verfahren – Gedanken zu ihrer Bedeutung für die schweizerische Außenpolitik, in: FS für Dietrich Schindler, 1989, S. 789, geht von der „Unterscheidung zwischen Zielnormen und Verfahrensvorschriften“ für das Problem aus und räumt im Ergebnis den Verfahrensnormen Vorrang für die Außenpolitik ein, ebd., S. 798. 106 Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7 (49). 107 In der Judikatur prägend BVerfGE 98, 83 (97 f.); kritisch etwa jüngst Ulrich Jan Schröder, Von Lenkungssteuern und Eisenbahnkreuzungen, ZG 22 (2007), S. 236. 108 Maßgebend Karl Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935; zur ideen- bzw. dogmengeschichtlichen Entwicklung Manfred Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995. 109 Matthias Herdegen, Der Universalitätsanspruch des Rechtsstaates: Menschenrechtsmission? in: Pawlowski / Roellecke (Hg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, 1996, S. 117 (122 f.). 110 Vgl. Kay Hailbronner, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, VVDStRL 56 (1997), S. 7 (16); für die Schweiz ganz ähnlich Walter Kälin, Verfassungsgrundsätze der schweizerischen Außenpolitik, ZSR 1986 II, S. 249 (365); Josef Hofstetter, Die Bedeutung rechtlicher Normen in der Außenpolitik, 1990, S. 21 ff.; zurückhaltend Hans D. Treviranus, Außenpolitik im demokratischen Rechtsstaat, 1966, S. 4.

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entschieden, daß der Staat des Grundgesetzes die elementaren Grundsätze des Völkerrechts – gemeint ist wohl das sog. ius cogens – auf seinem Territorium garantieren müsse, „soweit es dem in den Art. 23 bis 26 sowie den Art. 1 Abs. 2, 16 Abs. 2 Satz 2 GG niedergelegten Konzept des Grundgesetzes entspricht“.111 c) Die Gefahr der Verwechselung von Menschenrechten und Grundrechten bei der Anwendung von Art. 1 Abs. 2 GG Ein auf der Hand zu liegen scheinendes Gegenargument könnte Art. 1 Abs. 2 GG sein: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Einzelne Autoren112 sehen darin in der Tat „einen bindenden Verfassungs(dauer)auftrag“113, eine „politische Handlungsanleitung“114, eine „Staatszielbestimmung für die deutsche Außenpolitik“115 bzw. eine „Richtlinie für die Außenpolitik“116. Nicht nur an dieser Stelle sollte man den WortBVerfGE 112, 1 (25). Vgl. zur Diskussion auch den Überblick bei Jürgen Valentin, Grundlagen und Prinzipien des Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes, 1991, S. 134 ff.; Ralph Alexander Lorz, Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis und die Philosophie der Freiheit Kants, 1993, S. 246 ff.; Philipp Frhr. von Hodenberg, Das Bekenntnis des deutschen Volkes zu den Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG, 1997. 113 Erhard Denninger, in: ders. u. a. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar (Alternativkommentar), 3. Aufl. 2001 ff., Art. 1 Abs. 2,3, Rdnr. 6. 114 Philip Kunig, in: von Münch / Kunig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 1, Rdnr. 38, 45. 115 Ebd., Rdnr. 45. 116 Christian Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 2, Rdnr. 139; zurückhaltender Matthias Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Loseblattsammlung, Stand: 49. Lfg. März 2007, Art. 1 Abs. 2, Rdnr. 52: „Das Menschenrechtsbekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG verpflichtet die Organe der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere die Bundesregierung zur Berücksichtigung der Menschenrechte in der Verfolgung außenpolitischer Ziele. Allerdings ist diese Verpflichtung von sehr schwacher normativer Steuerungskraft. Denn sie läßt der auswärtigen Gewalt einen 111 112

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laut des Grundgesetzes ernst nehmen: Menschenrechte sind nicht Grundrechte117. Das wird noch deutlicher durch die verwendete Formulierung, daß diese Menschenrechte „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“ sein sollen, d. h. durch die Inbezugnahme ihres universellen Charakters. Durch die Formulierung „unverletzlich und unveräußerlich“ wird ein konkreter historischer Zusammenhang zu den naturrechtlich inspirierten Rechteerklärungen vom Ende des 18. Jh. hergestellt. Das Bekenntnis zu den internationalen Menschenrechten bildet – zusammen mit entsprechenden Formulierungen in der Präambel118 – einen Teil des Ensembles der völkerrechtsfreundlichen Normen der Verfassung. Die „offene Staatlichkeit“119 wird an völkerrechtliche Standards gebunden und auf eine spezifische Weise konstitutionalisiert – in Art. 23 GG finden wir eine Parallele für die europäische Integration: einerseits eine Staatszielbestimmung zugunsten der Integration, das allerdings nur in einem inhaltlich konturierten Rahmen mit gewissen Mindeststandards. Von ihrer Schutzthematik her gesehen bilden die in Art. 1 Abs. 2 GG angerufenen Menschenrechte und die positivierten Grundrechte des Grundgesetzes sich schneidende Kreise120; der Sache nach handelt es sich um völlig äußerst weiten, letztlich nicht justiziablen Spielraum bei der Abwägung im Kraftfeld widerstreitender außenpolitischer Belange.“ 117 Klare Trennung etwa auch bei Karl-Peter Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung – Die Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, AöR 114 (1989), S. 391; Winfried Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, ebd., S. 537. Es stellt eine terminologische Unsitte mit Verwirrungspotential dar, daß die „Jedermannrechte“ in Entgegensetzung zu den sog. Bürger- oder Deutschenrechten oft auch als „Menschenrechte“ bezeichnet werden. 118 Zu den normativ-programmatischen Problemen des Friedensbekenntnisses der Präambel Dietrich Murswiek, in: Dolzer / Vogel / Graßhof (Hg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetze, Loseblattsammlung, Stand: 131. Lfg. September 2007, Präambel, Rdnr. 280 ff. 119 Begriffsprägend Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 33 und durchgehend; aktuelle kritische Bestandsaufnahme bei Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 220 ff. 120 Matthias Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Loseblattsammlung, Stand: 49. Lfg. März 2007, Art. 1 Abs. 2, Rdnr. 8.

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verschiedene Normgruppen121. Wenn Matthias Herdegen davon spricht, durch Art. 1 Abs. 2 GG „öffne“ sich die grundgesetzliche Ordnung dem völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz122, ist das zumindest mißverständlich. Die Grundrechte des Grundgesetzes gewinnen ihre Bedeutung durch die Zentralnormen des Art. 1 Abs. 3 und 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, d. h. durch die Anordnung der umfassenden Grundrechtsbindung der Staatsgewalt sowie durch ihre Einfügung in eine voll ausgebaute, in der Tendenz auf Grundrechtsaktivierung hin angelegte Verfassungsgerichtsbarkeit. Art. 1 Abs. 2 GG stellt demgegenüber – ähnlich wie es mit guten Argumenten auch für den Menschenwürdesatz des Abs. 1 vertreten wird123 – eine „Grundrechtszielbestimmung“ dar124. Grundrechte sind auf den institutionellen Rahmen der Verfassung angewiesen, um ihre Funktion – die dadurch mitkonstituiert wird – erfüllen zu können125. Menschenrechte sind von vornherein nicht 121 Jost Delbrück, Menschenrechte im Schnittpunkt zwischen universalem Schutzanspruch und staatlicher Souveränität, in: Schwartländer (Hg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 11 (insbes. 19 ff.). Nur so kann die verfassungsrechtsdogmatische Diskussion einer Berücksichtigung völkerrechtlichen Menschenrechtsstandards bei der Auslegung und Konkretisierung der Grundrechte des Grundgesetzes verstanden werden, vgl. statt vieler nur Karl-Peter Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung – Die Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, AöR 114 (1989), S. 391. 122 Ebd., Rdnr. 22. 123 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip, JZ 2003, S. 809; Horst Dreier, in: ders. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1, Rdnr. 123 ff. 124 Josef Isensee, Posititivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 2, 2006, § 26, Rdnr. 105: „Akklamation“; vgl. auch das Konzept von Volker Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 378 ff., der die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG als Grundnorm und Ausgangspunkt jeglichen Grundrechtsschutzes sieht, das Bekenntnis zu universellen Menschenrechten in Abs. 2 als Herstellung von Komplementarität zum internationalen Menschenrechtsschutz deutet um durch Abs. 3 die verbindliche Grundrechtsordnung zu schaffen. 125 Vgl. Frank Hennecke, Die verfaßte Staatlichkeit als Bedingung der Grundrechtsgeltung, in: FS für Ernst-Wolfgang Böckenförde, 1995, S. 299; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte? in: Gosepath / Lohmann (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 233 (241 f.); Robert Alexy, Die Institutionalisie-

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anwendbar wie innerstaatliche Grundrechte. Die zahlreichen ideen- und rezeptionsgeschichtlichen Bande zwischen den beiden Ebenen126 dürfen diese prinzipielle Trennung nicht wegwischen. Die normative Funktion von Grundrechtszielbestimmungen entspricht derjenigen von Staatszielbestimmungen überkommenen Zuschnitts: Bei der Anwendung von Recht fließen sie im Rahmen der Methodik in Auslegungs- und Konkretisierungsvorgänge ein.127 Das setzt jedoch eine grundrechtliche Anwendungssituation, d. h. den Individualbezug im konkreten Fall voraus. Umgekehrt kann dieser Bezug nicht kompensiert werden, etwa um außenpolitische Entscheidungen ohne unmittelbaren Individualbezug verfassungsgerichtlich überprüfbar zu machen. Die Beschwörung der Menschenrechte in Art. 1 Abs. 2 GG ist durch die Realisierung in Art. 1 Abs. 3 bis Art. 19 sowie das Vorhalten einer grundrechtsorientierten Verfassungsgerichtsbarkeit erfüllt.128

rung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat, ebd., S. 244 ff. 126 Vgl. nur Karl Doehring, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 2004, Rdnr. 545 f. 127 Vgl. zu der Problematik menschenrechtskonformer Auslegung deutscher Grundrechte BVerfGE 19, 342 (347 f.); 111, 307 – „Görgülü“ sowie dazu Karl-Peter Sommermann, Völkerrechtlich garantierte Menschenrechte als Maßstab der Verfassungskonkretisierung, AöR 114 (1989), S. 391; Eckart Klein, Urteilsanmerkung, JZ 2004, 1176; Hans-Joachim Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 2004, 683; Klaus Grupp / Ulrich Stelkens, Zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention bei der Auslegung deutschen Rechts, DVBl. 2005, 133. 128 Josef Isensee, Posititivät und Überpositivität der Grundrechte, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 2, 2006, § 26, Rdnr. 107; ähnlich Voker Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 197: „Das in Art. 1 Abs. 2 GG angesprochene Bekenntnis des Deutschen Volkes ist aspiratorisch auf Kristallisierung der unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechte in rechtlich bindenden Normen gerichtet. Solche rechtlich bindenden Normen für den deutschen Staat formulieren die Grundrechte der Art. 2 ff. i.V.m. Art. 1 Abs. 3 GG.“

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III. Ausblick Was bleibt nach diesen Abschichtungen und Klarstellungen? Die „innerstaatlichen Grundrechte als Maßstab der Außenpolitik“ enden in einer kaum zufälligen verfassungsrechtsdogmatischen Aporie. Im Bereich „freier“ Außenpolitik kann ihre Geltung nur bei weitgehender Auflösung des Maßes der Bindung – und d. h. stets: verfassungsgerichtlicher Kontrolle – durchgehalten werden. Dieses Maß der Bindung modelliert die strikte und ausnahmslose Geltungsanordnung von Art. 1 Abs. 3 GG im Hinblick auf die Funktionenordnung wie auf die unterschiedlichen Sachgesetzlichkeiten einzelner Politikfelder. Jenseits ihrer Rahmenfunktion und ihrer abgestuften Geltungskraft bei Rechtsetzungsakten mit Auslandsbezug führt die Berufung auf Grundrechte bei außenpolitischem Handeln zu einer Verwischung der Funktionsbereiche von Verfassungsrecht und Politik, zu einer „Juridifizierung der Politik und zu einer Politisierung der Justiz“.129 Das politische Argument, das sich politisch rechtfertigen muß, wird relativiert; auf der anderen Seite wird die Normativität der innerstaatlichen Grundrechtsordnung in der Tendenz beschädigt.130 Außenpolitik hat sich innerhalb des politischen Funktionsrahmens, d. h. vor dem Wähler zu rechtfertigen, sofern die Grenzen der Verfassung eingehalten bleiben. Um beide Funktionsbereiche nicht zu beschädigen, darf die Differenz zwischen Außenpolitik und Grundrechtsbindung nicht harmonisierend geglättet werden. Außenpolitik als Verfassungsvollzug ist noch sehr viel mehr zum Scheitern verurteilt als die Herleitung sonstiger politischer Ziele aus dem Grundgesetz. Die Grundrechte des Grundgesetzes haben Funktion und Bedeutung letztlich erst durch ihre institutionelle Verklammerung mit der historisch wie vergleichend vorbildlosen Verfassungsgerichtsbarkeit und damit mit einem immer noch genuin staatlichen Kontext erlangt. Diese 129 Formulierung nach Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders. / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 163, Rdnr. 20. 130 Zur „Rhetorik des moralischen oder wertbezogenen Elements“ in außenpolitischen Debatten auch Walter Kälin, Verfassungsgrundsätze der schweizerischen Außenpolitik, ZSR 1986 II, S. 249 (277 f.), mit letztlich anderen Schlußfolgerungen, als sie hier vertreten werden.

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Verklammerung steht jedoch von vornherein in einem nicht auflösbaren Spannungsverhältnis zu universalistischen oder missionarischen Postulaten. Der universalistische Anspruch der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 – wie gezeigt in einem genuin nationalen Kontext entstanden – diente auch dazu, ein durch die hinweggefegte, allerdings ohnehin brüchig gewordene religiöse Legitimation von Herrschaft entstandene Lücke inhaltlich zu füllen. Nicht nur der Inhalt, sondern auch Anspruch und Inszenierung deuten in diese Richtung. Der Gedanke liegt nicht fern, das die Leere nach der Beseitigung der überkommenen religiösen Konnotationen von Recht und Herrschaft hier sublimiert wurde – ebenso wie in der Gegenwart der postreligiösen Gesellschaften Werte und Wünsche auf die Verfassung projiziert werden, die Verfassung als Instrument des Ganzheitlichen und des Ganzen gedeutet wird131 und diese damit letztlich unter einer Überfrachtung leidet. Die Ängste vor Phänomenen wie „Globalisierung“132 und die damit verbundenen Unübersichtlichkeiten bewirken ein Übriges. Der Mangel an vorverfassungsrechtlicher Wertorientierung führt zu einer Wertaufladung der Verfassung, auch in dem hier herangezogenen Beispiel einer verfassungsrechtlichen Determination der Außenpolitik. Die Voraussetzungen des Verfassungsstaats im Sinne Böckenfördes werden durch ihre Einbeziehung in die Verfassung selbst letztlich beschädigt und relativiert. Bestimmte Vakua der säkularisierten Gesellschaft sollen so durch eine Ausdehnung der Verfassung aufgefüllt werden. Durch einen solchen „ganzheitlichen“ Ansatz wird die – trotz aller 131 Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders. / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 192, § 163, Rdnr. 46; zum historischen Kontext der Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes und ihrer Entfaltung Walter Schmidt, Grundrechte – Theorie und Dogmatik seit 1946 in Westdeutschland, in: Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 188; zur Parallelität und zu den Wechselwirkungen zwischen dem wertbetonten Grundrechtsdenken der (frühen) Bundesrepublik und international- und völkerrechtlichen Entwicklungen jetzt umfassend Thilo Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007. 132 Vgl. statt aller Nachweise nur die instruktive Studie zur historischen Dimension dieses sich hinter dem Schlagwort verbergenden Prozesses Jürgen Osterhammel / Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung, 3. Aufl. 2006.

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Grauzonen und Dialektik – bewährte Ausdifferenzierung zwischen der politischen und der staatsrechtlichen Sphäre verwischt und damit beide Funktionsbereiche auf Dauer beschädigt. Selbst wenn man semantisch auf einer Verfassungsrechtsbindung auch der programmatischen Schichten der Außenpolitik beharren sollte, bleibt an Rechtsbindung in der Substanz nichts übrig.

Risiken und Nebenwirkungen menschenrechtlicher Universalität Von Otto Depenheuer, Kæln

I. Indikation: Zweifel an den Menschenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Wirkstoff: die Idee der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Individualität und Rationalität als Konstitutionsprinzip . . . .

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2. Der Anspruch auf Universalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Wirkungsweise: „macht euch die Erde untertan“ . . . . . . . . . . . . . .

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1. Rationale Infragestellung des Gegebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Der Preis der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Nebenwirkungen: Selbstzweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Trennung von Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Postmoderne Verunsicherung des individuellen Selbstbewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Risiken: partikularer Widerstand gegen universale Missionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die Logik des menschenrechtlichen Universalismus . . . . . . .

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2. Missionierung durch Belehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Polemogene Implikationen der Menschenrechte . . . . . . . . . . . .

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a) Menschenrechtliche Aufladung des Völkerrechts . . . . . . .

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b) Humanitäre Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Dosierungsanleitung: geduldiges und gewaltfreies Überzeugen

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1. Geduld im Überzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Überzeugen ohne Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Indikation: Zweifel an den Menschenrechten Die Idee der Menschenrechte bestimmt in ungebrochenem Glanz Identität und Selbstverständnis der westlichen Verfassungsstaaten: an der rechtlichen Gewährung und effektiven Gewährleistung von Freiheit und Demokratie will man sich selbst messen lassen und mißt die anderen Staaten. Diese zerfallen aus dieser Perspektive in zwei Gruppen: zur „Koalition der Willigen“ zählen die Staaten, die Demokratie und Menschenrechte zur Grundlage ihrer Staatlichkeit bereits gemacht haben oder jedenfalls aufrichtig versprechen, es künftig ernsthaft anzugehen. Diese können sich politischer Unterstützung, großzügiger Entwicklungshilfe und freundschaftlichen Beistands erfreuen. Distanzierung, Mahnung bis hin zu wirtschaftlichen Sanktionen und humanitären Interventionen – fein abgestuft nach dem politischen Gewicht der Probanden – sind hingegen für die Unwilligen in Sachen Menschenrechte reserviert. Die ganze Welt mit Freiheit und Demokratie zu beglücken, ist gegenwärtig das hehre Ideal aller westlichen Politik einschließlich des auch in dieser Hinsicht etwas verunglückten zweiten Irakkriegs. Und unbestreitbar vermag dieser Elan menschenrechtlicher Missionierung auf eine stolze politische Erfolgsgeschichte zurückzublicken: seit dem zweiten Weltkrieg ist die Welt normativ überzogen mit zahlreichen Konstitutionalisierungen des Menschenrechtsschutzes im nationalen und internationalen Recht. Nur bei der effektiven Umsetzung hapert es da und dort noch etwas – aber das mag hier auf sich beruhen. Zugrunde liegt dieser Menschenrechtspolitik des Westens die Gewißheit, daß Freiheit und Gleichheit des Individuums politisch wahr und historisch notwendig sind: „Allein im Glanz ihrer Majestät und der Herrschaft der Wahrheit über die Menschen“ regieren die Menschenrechte in den Verfassungen, aufgeschrieben „zur Belehrung der ganzen Welt“, wie es Emile Boutmy1 etwas pathetisch formulierte. Im Kern aber gilt bis heute ebenso unausgesprochen wie unangefochten die Losung: „An den Menschenrechten – dieser reifsten und edelsten Frucht westlichen Staats1 Emile Boutmy, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek, 1902 zit. nach: Bryde, Handbuch der Grundrechte I, 2004, § 17, Rn. 15.

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denkens – soll die ganze Welt genesen“. Überall, am besten sofort, sollen Freiheit und Menschenrechte, Markt und Demokratie durchgesetzt werden. Zweifel an der Idee und der Exportierbarkeit der Menschenrechte werden selten formuliert.2 Zu evident scheint die historische Entwicklung der letzten 200 Jahre die Universalität der Idee zu bestätigen.3 Die Menschenrechte als gute Medizin einer noch nicht ganz gesunden Welt zu verstehen, soll hier und heute ebensowenig in Zweifel gezogen wie erst recht die „Majestät und Wahrheit“ der Grundrechte beleidigt werden. Aber wie jede gute Medizin soll man vor der Einnahme bekanntlich den Beipackzettel lesen, in dem man einiges über Risiken und Nebenwirkungen nachlesen kann. Ebenso wie die pharmazeutisch-medizinische Terminologie den Aufklärungseffekt geheimnisvoll überlagert, werden auch die Nebenwirkungen der Verpflanzung der Menschenrechte in andere Kulturen nur selten offen thematisiert. Was medizinisch sinnvoll sein kann, nämlich durch Nicht-Lektüre des Beipackzettels sein physisches Wohlbefinden nicht um den Preis psychischer Nebenwirkungsphobie zu befördern, kann politisch gefährlich werden. Offenbar wollen nicht alle Menschen dieses Erdkreises „Brüder“ werden und sich menschen- und freiheitsrechtlich beglücken lassen. Zumindest diese Erkenntnis hat der 11. September 2001 erbracht. Zur Vergewisserung der Frage nach den Risiken und Nebenwirkungen menschenrechtlicher Universalität soll in einem ersten Abschnitt der Wirkstoff der Menschenrechte in Erinnerung gerufen und sodann in einem zweiten Abschnitt dessen befreiende Wirkungsweise skizziert werden. Der dritte Abschnitt ist der Darstellung einiger der bisher schon bekannten Nebenwirkungen vorbehalten, der das menschenrechtliche Selbstbewußtsein vor allzu großer Abgehobenheit schützen und auf dem Boden der Tatsachen halten bzw. zurückholen sollte. Im vierten Abschnitt 2 Vgl. aber Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, 1996, S. 71 ff. 3 Stationen der Entwicklung: Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987, S. 86 ff.; Wolfgang Reinhard, Die abendländischen Grundlagen der modernen Menschenrechte, in: Monika Rappenecker (Hg.), Das Recht, Rechte zu haben, 2004, S. 25 ff.

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geht es um die Risken menschenrechtlicher Missionierungsaktivitäten, die von der harmlosen Belehrung bis hin zu fragwürdigen polemogenen Implikationen reichen. Um die darob zu erwartenden Abwehrreaktionen der menschenrechtlichen Heiden dieser Welt im Zaum zu halten, widme ich den abschließenden fünften Abschnitt der Dosierungsanleitung der menschenrechtlichen Medizin, die – um das Ergebnis schon anzudeuten – zwar regelmäßig, aber immer mäßig verabreicht werden sollte. II. Wirkstoff: die Idee der Menschenrechte 1. Individualität und Rationalität als Konstitutionsprinzip Die Menschenrechtsidee verdankt sich zwei sich wechselseitig bedingenden wie verstärkenden Konstitutionsprinzipien: Individualität und Rationalität (Vernunft). Italienische Renaissance und deutsche Reformation dürfen als die historischen Paten dieser vielleicht größten Revolution des Denkens gelten: die Entdeckung des Individuums und mit ihm die Umstellung des politischen Denkens von der Kategorie vorgegebener Kollektive auf durch Individuen rational geschaffene und durch sie legitimierte Einheiten. Der Individualismus sowohl als Lebenseinstellung wie als Typus des Denkens wurde nach und nach für die politische Theorie dominant. Jakob Burckhardt hat in seinen Betrachtungen zur „Kultur der Renaissance in Italien“ diesen Umbruch des Denkens plastisch auf den Punkt gebracht:4 während der mittelalterliche Mensch sich „nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen“ kannte, erwachte mit der beginnenden Neuzeit das Bewußtsein eigener Persönlichkeit als einer allen anderen gegenüber besonderen, von diesen scharf zu unterscheidenden Individualität des Einzelnen. Das Prinzip der Individualität und sein stetiger Begleiter – der Modus der Rationalität – durchdringt seither alle Lebensformen, im sittlichen ebenso wie im geselligen Leben. Gegenüber Schranken und Gesetzen aller Art hat der neuzeitliche Mensch „das Gefühl eige4 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien [2. Aufl., 1869], in: Gesamtausgabe, Bd. V, 1930, S. 95.

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ner Souveränität“. Er bestimmt selbständig und nach Vernunftgründen, ob er sich zu überkommenen Traditionen, Gebräuchen und Bindungen bekennt, sie übernimmt und sich in sie einfügt – oder sie ablehnt und verwirft: „hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – läßt die Geschichte Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms sagen. 2. Der Anspruch auf Universalität Dieser rationale Keim der Idee individueller Menschenrechte versteht sich – zu recht – als universal. Sie beruht auf einer einzigen ontologischen und unbestreitbaren Voraussetzung: der Existenz von Menschen, die sich ihrer selbst bewußt sind.5 Diese universale Größe des sich selbst bewußt-seienden „Ich“ wurde zum einzig legitimen Argumentationsmuster und prägte derart die Neuzeit. Das Individuum bildet den einzigen rationalen Baustein der politischen Theorie, die mit seiner Hilfe die soziale Wirklichkeit zu verstehen und rekonstruieren sucht. Der juristischen und politischen Vernunft stehen andere Argumentationsmodi nicht mehr zur Verfügung. Allerdings steht dem Rationalitätsgewinn eine nicht ungefährliche erkenntnistheoretische Verkürzung empirischer Realität gegenüber. Der individualistisch geprägte Rationalismus reduziert den Menschen auf sein nacktes bloßes Menschsein. Das bedeutet zwar einerseits universelle Anschlußfähigkeit: Überall, wo es Menschen gibt, verfügen sie der Idee nach über natürliche Rechte, und zwar nur deswegen, weil sie Menschen sind. In dieser Voraussetzungsarmut liegt die ungeheure Leistungsfähigkeit und zugleich der universale Anspruch der Idee der Menschenrechte. Aber in dieser Welt hat bekanntlich alles seinen Preis: der universalen Leistungsfähigkeit der Menschenrechtsidee korrespondiert eine immanente Ignoranz gegenüber kontingenten Gegebenheiten der empirischen Wirklichkeit, die – auf das Prokrustesbett der rationalen Konstruktion gespannt – das Destruktionspotential des individualistisch geprägten Rationalismus freisetzen kann: die Entlegitimierung von allem empirisch Gegebenem. 5 Exemplarisch das berühmte Resumée René Descartes: „Ich denke, also bin ich“ [in: Discours de la méthode (1637), IV. 1.].

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III. Wirkungsweise: „macht euch die Erde untertan“ 1. Rationale Infragestellung des Gegebenen Die Reduktion des Menschen auf sein nacktes Menschsein reißt das Individuum – zunächst nur methodisch, sodann aber auch in der Praxis – aus allen seinen kontingenten sozialen Bindungen heraus: die überkommenen Institutionen, Einrichtungen und sozialen Einheiten, in die jeder Mensch unverfügbar „geworfen“ (Heidegger) ist, müssen systematisch ausgeblendet werden, um Freiheit und Gleichheit aller Menschen postulieren zu können.6 Nur unter dieser Voraussetzung kann Friedrich Schiller emphatisch dichten: „Alle Menschen werden Brüder“. Derart werden die Menschen aus ihren kulturellen Prägungen, religiösen Überzeugungen, familiären Traditionen „herausgedacht“ und ihnen gegenübergestellt. Die zahllosen kontingenten Bindungen, in denen sich der Mensch unbefragt vorfindet, werden, selbst wenn man die vorgegebenen Einheiten sympathisch findet, derart unter steten Rechtfertigungszwang gestellt: sie müssen die Probe auf ihre Existenzberechtigung vor dem „Tribunal der Vernunft“ beweisen, um legitim sein und dem freien Individuum Bindungen zumuten zu dürfen.7 Alles, was ist, soll ein schlechtes Gewissen haben, bis es rational rekonstruiert und in dieser Form legitimerweise (noch) sein darf. In der Folge dieser Umbasierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf das Individuum kam es allmählich zu jener Entzauberung der Welt und zu jenem Ende der großen Erzählungen8, als deren Folge in der Gegenwart die dunklen Wolken der Sinnlosigkeit des Daseins, des Nihilismus und der Dekadenz in den „fortgeschrittenen Industrienationen“ immer mehr den Horizont der Moderne bilden.

6 Vgl. Panajotis Kondylis, Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, 1992, S. 114; Enzensberger (N 2), S. 73 f.: „Der Universalismus kennt keine Differenz von Nähe und Ferne; er ist unbedingt und abstrakt.“ 7 Zur rationalistisch-individualistischen Struktur des modernen Denkens: Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 14 ff. 8 Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien, 1999 [orig.: La Condition postmoderne: Rapport sur le savoir, Paris 1979].

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2. Der Preis der Moderne Im historischen Rückblick zeigt sich das Verwüstungspotential des individualistisch geprägten Rationalismus: von den „Progressiven“ regelmäßig als Triumph gefeiert, von den Konservativen immer als Verlust beweint, konnten zahlreiche tradierte, sinnspendende soziale Einheiten vor dem Forum der Vernunft nicht bestehen. Die Einheit des Christentums zerbrach in der Reformation („Hier stehe ich, ich kann nicht anders“), die Einheit der christlichen Monarchien in Europa zerbröselte vor dem Ansturm der demokratischen Idee, die Einheit und Souveränität des Staates wird zunehmend menschenrechtlich aufgebrochen und die Einheit der Korporationen (Zünfte, Innungen) wurde durch die Idee individueller Freiheitsrechte (Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit) im Mark getroffen. Und selbst die Familie – die „natürliche Grundlage der menschlichen Gemeinschaft“ – wird heute immer mehr als modular mehr oder wenig beliebig zusammensetzbares Sozialgebilde ausgestaltet: Schwulen- und Lesbenehe sind rechtlich anerkannt, für polygame Verbindungen gibt es schon Vorbilder im Lande, allein die Sodomie hält ein künftig noch zu erschließendes Emanzipationspotential vor. Und das alles – versteht sich – mit Kündigungs- und – neuerdings propagierten – siebenjährigen Auslauffristen. Fazit: Menschenrechtlich basierter Individualismus und Rationalismus haben das Potential zu tendenziell totaler Dekonstruktion des Gegebenen und – angesichts der Schwäche vorgegebener und verbindlicher Orientierungsmuster religiöser Provenienz – nahezu beliebiger Rekonstruktion aller Sozialgebilde. Die Menschenrechtsidee erfüllt sich in der modularen Pluralität aller Lebensverhältnisse, auf daß dem Individuum ein möglichst unbegrenzter Entfaltungsraum mit vielfältigsten Wahlfreiheiten eröffnet sei. Dieses Destruktionspotential ist freilich nur die andere Seite des ungeahnten Innovationspotentials, das das moderne Weltverständnis freisetzte: der zu zahlende Preis für Offenheit und Flexibilität, Neugier und Wißbegier, die zahllose Erfindungen und Entdeckungen ermöglichte, von denen die moderne Welt bis heute zehrt und die die individualistisch-rationalistisch geprägte Neuzeit bis heute kennzeichnen. Dekonstruktion und Rekonstruktion sind die Lebensgesetze der modernen, menschenrechtlich basierten Welt.

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IV. Nebenwirkungen: Selbstzweifel 1. Trennung von Recht und Moral Das die Neuzeit bestimmende Prinzip der rationalen Dekonstruktion und Rekonstruktion hat über die Individualisierung – tendenziell – zur Modularisierung aller Lebensbereiche geführt: von Gott führt ein direkter Weg zu den Menschenrechten, vom Naturrecht ein entsprechender zum positiven, jederzeit änderbaren Recht; von der Wahrheit des Glaubens zur „Wahrheit“ des Friedens; vom Glauben zur Vernunft, vom Mythos zur Rationalität, vom Staat zum Vertrag, von der Wahrheit zur Mehrheitsentscheidung, von der Ehe als Bund zur Ehe als Vertrag. Praktischer Endpunkt der historischen Entwicklung ist – wenig erstaunlich – der frühneuzeitliche Ausgangspunkt der theoretischen Überlegung: das von allen sozialen Bindungen vereinzelte und isolierte Individuum, das sich erst mittels Rechtsaktes zur staatlichen Gemeinschaft zusammenfindet, ist weithin Realität. Doch der darin liegende moralische Anspruch an den mündig gedachten Bürger ist groß, für viele zu groß. Nicht jedem gelingt der Sprung aus der unverschuldeten Unmündigkeit zur selbstbewußten Mündigkeit. Freiheitsrechte und Demokratie sind keine Garanten für Zufriedenheit, Glück und Sinnerfüllung. Erst allmählich wurde bewußt, daß der rationale Verfassungsstaat auf Voraussetzungen beruht, die jenseits seiner Wirksamkeit liegen. Und vielen Beobachtern scheinen diese Voraussetzungen zunehmend und unumkehrbar zu erodieren. Empirisch bieten die freiheitlichen Staaten des westlichen Kulturkreises tatsächlich Anlaß zur kritischen Reflexion: der Lebenskult individueller Selbstentfaltung wird begleitet von Dekadenz und Gleichgültigkeit, Relativismus und Orientierungslosigkeit. Freiheitskult führt zu Gemeinwohlvergessenheit, Grundpflichten gegenüber der Gemeinschaft werden als Zumutung verstanden, bereits der Gedanke an ein „Bürgeropfer“ gerät zum Skandal.9 Die Realität menschenrechtlicher Freiheit in den entwickelten Staaten des Westens stellt sich von außen betrachtet – nicht ganz zu Unrecht – als wenig vorteilhaft und erstrebens9 Vgl. Otto Depenheuer, Das Bürgeropfer im Rechtsstaat, in: Depenheuer u. a. (Hg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 43 ff.

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wert dar: die Leistungsgesellschaft mutiert zur egoistischen Spaßgesellschaft, ungezügelte Freiheit führt zum Lebensüberdruß, Selbstbehauptung weicht Dekadenz, die demographische Selbsterhaltungsfähigkeit schwindet. Die allenthalben erhobenen Forderungen nach einer neuen Moral der Verantwortung bleibt folgenlos, da auch sie – dem Gesetz der Moderne folgend – individueller Zustimmung oder Ablehnung unterliegen. Und eine verbindliche Moral für alle würde eine zentrale menschenrechtliche Errungenschaft der Neuzeit zunichte machen: die moderne, Freiheit ermöglichende Trennung von Recht und Moral. 2. Postmoderne Verunsicherung des individuellen Selbstbewußtseins Das Innovationspotential individueller Freiheit hat zweifellos Wohlstand, Erkenntnisse und Entdeckungen historisch singulärer Art ermöglicht. Aber der moderne Optimismus an die Machbarkeit der Welt wird immer mehr durch postmoderne Selbstzweifel zersetzt: der aufgeklärte Zauberlehrling wird die Geister, die er gerufen, nicht mehr los. Die grandios gescheiterten Großprojekte des modernen Rationalismus – der Rassenwahn der Nationalsozialisten ebenso wie der rationale Erlösungsglaube der Kommunisten – haben das Zerstörungspotential eines orientierungslosen Rationalismus ins Bewußtsein gehoben und die „Dialektik der Aufklärung“ sichtbar werden lassen.10 Heute läßt das Potential individueller Freiheit – ungebremst sich selbst überlassen – die Möglichkeit der Selbstzerstörung am Horizont aufscheinen: die Existenz von Massenvernichtungswaffen und die Möglichkeiten der Biotechnologie lassen den modernen Menschen an seinen eigenen Errungenschaften zweifeln: „Dürfen wir alles, was wir können“? fragt eine sich ihrer selbst unsicher gewordene Fortschrittsidee. Der moderne Mensch bekommt immer mehr Angst vor seinen eigenen Möglichkeiten und sucht – ebenso verzweifelt wie vergeblich – Schutz vor den Optionen und dem Kontingenten: Fundamentalismus ist die nicht zufällige Antwort auf die 10 Vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz, 1992, S. 46 ff.; Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 1969.

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Zumutungen individueller Freiheit in einer komplexen Welt. Das in jüngster Zeit wiederholte Plädoyer für den Zufall soll dem neuzeitlichen Rationalismus die – unmenschliche – Spitze nehmen.11 Aber war es nicht gerade das Projekt der Moderne, den Zufall in Notwendigkeit zu überführen?12 Indizieren schon diese Fragen das Ende der Moderne? Diese andere Seite der grandiosen Idee universaler Menschenrechte läßt verstehen, daß man sie – nicht nur von außen betrachtet – mit guten Gründen auch mit kritischen Augen betrachten kann. Dieser skeptische Blick wird noch verstärkt, wenn man sich den Risiken aktiver Menschenrechtsmission nähert. V. Risiken: partikularer Widerstand gegen universale Missionierung 1. Die Logik des menschenrechtlichen Universalismus Die Idee universaler Menschenrechte ist säkularer Wahrheitsbesitz der westlichen Welt. Zur Logik universaler Wahrheitsansprüche gehört, daß sie sich nicht damit begnügen, als reine Lehre und im Bewußtsein theoretischer Richtigkeit in Distanz zum Leben zu verharren: sie wollen wirklich werden. Die Sicherheit des Wahrheitsbesitzes verpflichtet: man kann nicht in der Wahrheit sein, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen: „Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker“13 lautet der Missionsauftrag des auferstandenen Herrn. Gegenüber dem Absolut-Guten und Wahren kann es daher nur bedingungslosen Gehorsam geben.14 Wahrheitsbesitz zwingt zu Konsequenzen: er schützt vor Opportunismus, kennt aber auch keinen Kompromiß, er vermittelt Orientie11 So etwa Joschka Fischer, Wer nur den lieben Gott läßt würfeln. Das biopolitische Zeitalter bedroht das Menschenrecht auf den biographischen Zufall, FAZ 17. 2. 2001, S. 43. Dazu: Gerd Roellecke, Wenn Eltern sich für Tennis interessieren, sollen sie Tennischampions züchten dürfen: Das Klonen ist nicht unsittlich, FAZ 1. 3. 2002, S. 46. 12 Otto Depenheuer, Zufall als Rechtsprinzip. Der Losentscheid im Rechtsstaat, JZ 1993, S. 171 ff. 13 Mt 28, 19. 14 Vgl. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., 1929, S. 100.

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rungssicherheit, zwingt aber auch zur Intoleranz gegenüber der Unwahrheit. Wahrheitsgewißheit beinhaltet die Absage an jede Form von Relativierung und Kompromiß. Den Dialog mit anderen „Wahrheiten“ – die logischerweise in Wirklichkeit nur vermeintliche Wahrheiten sein können, tatsächlich aber Irrtümer sein müssen – kann sie nur als unverbindlichen Gedankenaustausch oder als Überzeugungsversuch verstehen, nicht hingegen als prinzipielle Bereitschaft zur Verständigung in der Sache: Wahrheit ist nicht kompromißfähig, sie unterwirft sich nicht Mehrheitsentscheidungen, sucht nicht an runden Tischen den Ausgleich widerstreitender Überzeugungen – sie will vielmehr universal anerkannt sein.15 Eine „Gewaltenteilung im Absoluten“, d. h. friedliches Nebeneinander unterschiedlicher Wahrheitsansprüche in einer Welt der vielen Wahrheiten, kann es nur unter bestimmten Bedingungen geben.16 So galt im primitiven und archaischen Weltbild die Wahrheit als privilegierter Besitz der eigenen Gesellschaft. „Wahrheit“ hatte hier die Bedeutung von „für uns wahr“. Ein derart exklusiver Wahrheitsbegriff blieb unberührt von der Tatsache, daß andere Menschen andere Wahrheiten vertraten. Dies änderte sich mit dem Aufkommen des universalistischen Wahrheitsbegriffs. Wahrheit begann erst jetzt ihre eigentümliche Logik zu entwikkeln:17 die objektive Wahrheit, zur Lehre systematisiert, löste sich als individueller Besitz aus ihrer gesellschaftlichen Form und griff, einmal als gültig für alle Menschen erklärt, innerlich und äußerlich über die einzelne Gesellschaften und Kulturen hinaus auf das einzelne Individuum. Die Bekräftigung der Wahrheit gegenüber dem Mitmenschen schlägt um in die Bekehrung des Fremden.18 15 Zum folgenden näher Otto Depenheuer, Wahrheit oder Frieden. Die fundamentalistische Herausforderung des modernen Staates, in: Fundamentalismus als Herausforderung von Staat, Kirche und Gesellschaft, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 33 (1999), S. 5, 16 ff. m. w. N.; zur Logik des Universalismus vgl. auch Enzensberger (N 2), S. 74 f. 16 Odo Marquard, Lob des Polytheismus, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, 1982, S. 100. 17 Zur Logik der Wahrheit am Beispiel der Position der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts zur menschenrechtlichen Freiheitsgarantie: Josef Isensee, Wahrheit und Freiheit, ARSP (Beiheft Nr. 33) 1977, S. 52 ff.

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In einem universalistischen Verständnis von Wahrheit wird ihre Gültigkeit für alle Menschen notwendig mitgedacht: sie trägt den Charakter der Notwendigkeit, kann und muß grundsätzlich von jedermann erfaßt und verstanden werden. Wird der Wahrheit dann noch die entscheidende Bedeutung für das Heil des innerweltlichen Lebens zugeschrieben, dann entwickelt sie zwangsläufig jenen Ausschließlichkeitsanspruch, an dem sich ein auf Verbreitung der Wahrheit gerichteter Missionswille entzünden kann und muß. Denn ihr gilt die Welt solange als nicht in Ordnung, solange die universale Wahrheit nicht überall öffentlich herrscht. Diese hier knapp skizzierte Logik der Wahrheit gilt unabhängig von ihren Inhalten; ihr unterliegen alle großen universalistischen Wahrheiten, seien es die religiösen des Christentums oder des Islam, seien es die profanen des Kommunismus oder der Aufklärung, aber auch die der Menschenrechte.19 Konkurrierende Verwalter universalistischer Wahrheitsansprüche sind potentiell totale Feinde. Man erkennt das an der Rücksichtslosigkeit, mit der jede universalistische Wahrheit ihre Vorgängerin vom Throne stoßen muß. Sie kann – wie der Islam – ihre Vorgänger – die monotheistischen Buchreligionen der Juden und Christen – beerben und inkorporieren, indem sie sich als deren Vollendung ausgibt. Sie kann ihre Vorgängerin aber auch zum großen Gegner der Wahrheit erklären, für die Inkarnation des Irrtums, den es auszumerzen gilt. So geht auch der Siegeszug von Demokratie und Menschenrechten in Europa einher mit einer erstaunlichen Intransigenz insbesondere gegenüber den christlichen Religionen – von den Blutbädern und Verwüstungen der französischen Revolutionen führt eine gerade Linie zum Widerstand gegenüber dem italienischen Politiker Buttiglione, der aufgrund seines offenen Eintretens für seine katholischen Überzeugungen als Kandidat für die EU-Kommission scheiterte. Der immanente Totalitätsanspruch universalistischer Wahrheitssysteme läßt also nur die Alternative zu: Sieg der eigenen Wahrheit durch Vernich18 Robert Spaemann, Ist eine nicht-missionarische Praxis universalistischer Religionen möglich?, in: FS-Nikolaus Lobkowicz, 1996, S. 41 ff. 19 Vgl. Friedrich H. Tenbruck, Wahrheit und Mission, in: ders., Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, 2. Aufl., 1990, S. 99 ff., 101 ff., 107 ff.

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tung des Gegners oder Neutralisierung der Wahrheitsfrage durch eine noch mächtigere Instanz. Letztgenannte Lösung in Gestalt des modernen Staates hat den Krieg der Religionen befrieden können. Darin liegt die fortdauernde kulturell-zivilisatorische Leistung des christlichen Abendlandes, zu der die muslimische Welt noch Anschluß finden muß. Aber läßt sich dieses Lösungsmuster auch auf die freiheitlichen Verfassungsstaaten, auf Demokratie und Menschenrechte übertragen? Fordert der freiheitliche Verfassungsstaat nicht seinerseits auch ein Tolerieren anderer Kulturen, die sich nicht der säkularen, sondern einer göttlichen oder sonstigen – etwa materialistischen – Wahrheit verpflichtet fühlen?20 Oder versteht sich der „Staat der Menschenrechte“ insoweit als kompromißlos, neutralisierungsresistent, bereit zur – notfalls auch kriegerischen – Missionierung der Feinde der Menschenrechte? Damit kommt der Modus der Mission in Sachen Menschenrechte zur Sprache. Beschränkt man sich auf friedliche Belehrung, setzt man auf völker- oder verfassungsrechtliche Selbstverpflichtung oder zieht man – notfalls – auch eine gewaltsame Implementation der Menschenrechte bei allen Völkern in Betracht?

2. Missionierung durch Belehrung Wer im Besitz der menschenrechtlichen Wahrheit lebt, kann, darf und will dieses nicht für sich behalten. Er hat das Recht und die Pflicht, anderen von der menschenrechtlicher Befreiung des Individuums Kunde zu geben. Die Menschenrechte als Belehrungsprogramm für den noch nicht erlösten Teil der Menschheit hat Tradition und ist in der Sache geboten und im Modus unproblematisch. Belehren kann man insbesondere dann erfolgreich, wenn man das eigene menschenrechtliche Beispiel als vorbildhaft darstellen kann – „Abu Ghuraib“ war insoweit ein Desaster singulären Ausmaßes.21 20 Zum Problem: Heiner Bielefeldt, Universale Menschenrechte angesichts der Pluralität der Kulturen, in: Hans-Richard Reuter (Hg.), Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Universalität einer Idee I, 1999, S. 43 ff.

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Aber der menschenrechtliche Universalismus kann sich mit bloßer Belehrung nicht zufrieden geben: er will Erfolge sehen. Was für uns wahr ist, muß – qua Universalität – auch für die anderen wahr sein gemäß dem Motto: „die Idee universaler Menschenrechte wird siegen, weil sie wahr ist.“ Dieser Satz ist nicht nur grammatisch richtig, sondern auch logisch, wenn die Voraussetzung zutreffend ist. Und weil wir davon überzeugt sind, kann man der – historisch ohnehin unvermeidlichen – Entwicklung auch schon mal ein bißchen auf die Sprünge helfen. Damit kommen wir zur problematischen Seite der Menschenrechtsexportpolitik. 3. Polemogene Implikationen der Menschenrechte Es gibt in der Welt bekanntlich auch Menschenrechtsresistenz. Die Verheißungen von Freiheit und Demokratie stoßen auf Unverständnis und feindliche Ablehnung seitens der zu bekehrenden Probanden. „Asiatische“ werden den „europäischen“ Werten entgegengehalten, die Dekadenz als Ausfluß und Wirkung der Freiheit kritisiert, die Zerstörung der eigenen Kultur und Geschichte beschworen, die religiöse Wahrheit der säkularen entgegengestellt. Wie soll man nun – diese Frage stellt sich unvermeidlich – mit den unbelehrbaren Heiden der Menschenrechte umgehen? Die Versuchung, der mündlichen Belehrung durch Aktionen auf die Sprünge zu helfen, ist groß und liegt nahe. Ein Hebel ist die menschenrechtliche Aufladung des Völkerrechts, auf deren Grundlage die menschenrechtliche Intervention gegenüber souveränen Staaten, aber auch Krieg für die Menschenrechte legitimiert werden kann: a) Menschenrechtliche Aufladung des Völkerrechts Der völkerrechtlich-dogmatische Diskurs ist seit längerem geprägt von der Hoffnung auf eine Globalverfassung, deren Geltung 21 Nach der Besetzung des Irak durch amerikanische Truppen gelangten im Mai 2004 Berichte und Fotos in die Medien, nach denen amerikanische Militär- und Geheimdienstmitarbeiter Gefangene im Abu-GhuraibGefängnis nahe Bagdad gefoltert hatten.

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nicht von den Staaten, sondern durch die „Weltgesellschaft“ selbst getragen werde.22 In einer solchen Rechtswelt löst der Weltbürger den Staatsbürger ab, ersetzt die menschenrechtliche Permeabilität die staatliche Souveränität und werden die Menschenrechte verstärkt zu Trümpfen, die gegenüber der Berufung auf das Prinzip der Nichteinmischung und der inneren Souveränität immer deutlicher stechen.23 Doch dieser atlantisch-utopische Diskurs eilt der Wirklichkeit in den meisten Teilen der Welt weit voraus. Diese pochen auf die Unverletzlichkeit der Grenzen, der Nichteinmischung oder gar auf eigene und gegenläufige Werte. Beleidigt greifen die Inhaber universaler Menschenrechtswahrheit zu stärkeren Mitteln der Mission: b) Humanitäre Interventionen Ist der staatliche Souveränitätspanzer erst einmal menschenrechtlich durchlöchert, gerät auch die humanitäre Intervention zugunsten der Menschenrechte in das Blickfeld. Unter einer humanitären Intervention versteht man das Eingreifen internationaler Akteure auch und gerade mit militärischen Mitteln und dem Ziel, in großer Zahl vorkommende Verletzungen von Menschenrechten zu unterbinden, deren Regierungen dazu nicht willens oder nicht fähig sind. Im Zielkonflikt zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Schutzpflicht soll letztere Vorrang haben. Die Vereinten Nationen haben sich diesen Grundsatz von der Verantwortung zum Schutz der Menschen offiziell zu eigen gemacht und damit das wohl ambitionierteste Moralprojekt der Moderne gestartet.24 22 Etwa: Günter Teubner, Globale Zivilverfassung: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), S. 1 ff.; Otfried Höffe, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger –Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, 2004; Bardo Faßbender, Der Schutz der Menschenrechte als zentraler Inhalt des völkerrechtlichen Gemeinwohls, EuGRZ 2003, 1 ff. 23 Vgl. Josef Isensee, Weltpolizei für Menschenrechte. Zur Wiederkehr der humanitären Intervention, JZ 1995, 421 ff.; Chistian Hillgruber, Humanitäre Intervention, Großmachtpolitik und Völkerrecht, in: Der Staat 40 (2001), S. 165 ff.

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Was sich so prächtig anhört, hat allerdings seinen Preis: die Durchbrechung des Gewaltverbots bedeutet nichts anderes als die Entbindung kriegerischer Gewalt. Schon diese Tatsache läßt den Gedanken an eine gewaltsame Durchsetzung der Menschenrechte nur als ultima ratio zu, die allenfalls bei extremen Verletzungen, etwa bei systematischem Genozid gerechtfertigt erscheinen kann.25 Überdies entbindet, ist militärische Gewalt erst einmal legitimiert, dieses Instrument die Gefahr politischer, anderweitig motivierter Instrumentalisierung und damit der Pervertierung der Menschenrechtsidee.26 Zudem ist die Tatbestandsvoraussetzung einer unmittelbaren und massiven Verletzung von Menschenrechten, nicht so einfach feststellbar. Tatsächlich bestimmen in einer von medialer Präsenz bestimmten Zeit Bilder von verfolgten, hungernden und gequälten Menschen den Entscheidungsprozeß. Dadurch entsteht die Gefahr, daß Maßnahmen selten aufgrund einer Analyse komplexer politischer, historischer und sozialer Sachverhalte getroffen werden. Und vor allem: Wo keine Kameras die Weltöffentlichkeit aufrütteln können, bleiben die Menschenrechtsverletzer ungestört von der Weltgemeinschaft unter sich. Ob der gute Zweck die Mittel heiligt, ist daher zumindest hinterfragenswert. Die vorgenannten theoretischen und praktischen Bedenken werden durch die bisherige Praxis der humanitären Interventionen eher bestätigt: deren menschenrechtliche Bilanz sieht alles andere als blendend aus. Das Kosten / Nutzen-Kalkül sollte einmal nachgerechnet werden. Tatsächlich reicht der politische Wille in der Regel nur bis zu dem von der internationalen Staatengemeinschaft gegebenen Beschluß für eine humanitäre Intervention. Die Umsetzung in der Ebene bleibt dann außerhalb der medialen Außenwahrnehmung. Vor allem aber gilt es, die unVgl. Isensee (N 23), S. 422, 425 f.; Hillgruber (N 23), S. 182 ff. Vgl. Isensee (N 23), S. 429 f. m. w. N. 26 Zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen seit dem ersten politischen Sieg der Menschenrechte in der französischen Revolution könnten sich der Sache nach als „Kreuzzüge in Sachen universaler Menschenrechte“ interpretieren lassen: von Napoleon über Wilson und Stalin zu G. W. Bush. Sie alle legitimierten Expansionspolitik mit dem Argument, daß ihr staatliches Handeln im Dienste einer universell gültigen Idee (Menschenrechte, Selbstbestimmungsrecht der Völker, proletarische Revolution) stehe. 24 25

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beabsichtigten Kollateralschäden humanitärer Interventionen zu berücksichtigen. Die Verlaufsgeschichten der humanitären Interventionen seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts – Somalia, Ruanda, Haiti, Kosovo, Afghanistan, Irak – zeigen, daß sie nur wenig von dem erreichten, weswegen sie begonnen wurden. Nicht selten richten sie mehr Schaden an als Nutzen. Und das Insistieren insbesondere der USA auf Demokratie und Freiheit all over the world hat nicht nur den Schah von Persien, Saddam Hussein und die PLO im Gaza-Streifen entmachtet, sondern die Mullah-Herrschaft im Iran, das gewaltsame Dauerchaos im Irak und die Hamas im Gazastreifen an die Macht gebracht. Einen Sieg für die Menschenrechte kann man das wirklich nicht nennen. IV. Dosierungsanleitung: geduldiges und gewaltfreies Überzeugen 1. Geduld im Überzeugen Gegenüber diesen polemogenen Implikationen der Menschenrechtsidee ist es schon ein Gebot politischer Klugheit, größtmöglichste Vorsicht walten zu lassen bei dem Projekt der globalen Implementation der Menschenrechte: Nicht alles, was inhaltlich richtig ist, was verbreitet werden soll und auch völkerrechtlich verbreitet werden darf, muß man auch jederzeit und überall umsetzen. Menschenrechtlich grundierte moralische Allmachtsphantasien verlangen den unbegrenzten Einsatz, von allen, überall und jederzeit. Doch diese Rechnung kann und wird nicht aufgehen.27 Angesichts begrenzter – moralischer, materieller und militärischer – Ressourcen mahnte schon Augustinus zu pragmatischer Vorsicht, universale Gebote zum Nennwert zu nehmen: „Alle Menschen sind in gleicher Weise zu lieben. Da man aber nicht für jedermann sorgen kann, so muß man vornehmlich für jene Sorge tragen, die einem durch die Verhältnisse des Ortes, der Zeit oder irgendwelcher anderer Umstände gleichsam durch das Schicksal näher verbunden sind.“28 Um die Idee allgemeiner Menschenliebe Vgl. Enzensberger, (N 2), S. 80 ff. In: De doctrina Christiana I c. 28. – Vgl. dazu den Kommentar von Thomas von Aquin, Summa Theologica 2 – 2 q.26 a.6. 27 28

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trotz der Unmöglichkeit praktischer Realisierung überall auf der Welt nicht aufgeben zu müssen, reduziert Augustinus sie pragmatisch auf das menschenmögliche Maß dadurch, daß er auf die Kontingenz des Schicksals und die unmittelbaren Herausforderungen der jeweiligen Lage rekurriert.29 Das je konkrete Schicksal des Ortes und der Zeit schmiedet die von ihm Betroffenen zu einer Gemeinschaft zusammen. Menschenrechte können also nicht unvermittelt real werden, sondern müssen die konkret-kontingenten politischen Gegebenheiten berücksichtigen, ihnen angemessen Rechnung tragen und sich in ihnen gemäß ihrer Logik entfalten. Nicht gegen, sondern nur über die konkreten Staaten und Kulturen kann die Idee allgemeiner Menschenrechte praktisch werden und die Idee aus dem Bereich ethischer Schwärmerei herausgeführt und in praktisch realisierbare Verpflichtungen der Staaten umformuliert werden.30

2. Überzeugen ohne Gewalt Vor allem aber unterliegt die Mission in Sachen Menschenrechte um ihrer Glaubwürdigkeit und moralischen Integrität willen einem strikten Gewaltverbot. Das Christentum hat diese Erfahrung bei der Mission im Namen Gottes schmerzlich machen müssen. Es weiß heute, daß es selbst wie alle großen Religionen der Versuchung unterlegen und nachgegeben hat, Gewalt im Namen des Glaubens zu üben und zu rechtfertigen. Fast alle Offenbarungsreligionen sind in der Geschichte dieser Versuchung erlegen.31 Die Geschichte der – christlich legitimierten – Gewalt 29 Näher: Otto Depenheuer, „Nicht alle Menschen werden Brüder“. Unterscheidung als praktische Bedingung von Solidarität. Eine rechtsphilosophische Erwägung in praktischer Absicht, in: Josef Isensee (Hg.), Solidarität und Knappheit. Zum Problem der Priorität, 1998, S. 41 ff. 30 Vgl. die „Theorie der Anknüpfung“ von Odo Marquardt (in: Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 4 ff., 14 ff.): es kommt darauf an, unter den gegebenen und unverfügbaren Bedingungen der Gegenwart das praktisch Mögliche zu tun; nicht, weil das jeweils Gegebene wahr ist, sondern weil es den Handlungsrahmen des Menschen absteckt. 31 Vgl. Karl Kardinal Lehman, Chancen und Grenzen des Dialogs zwischen den „abrahamitischen Religionen“, in: Glaube und Vernunft: die Regensburger Vorlesung, 2006, S. 97 ff.; Hans Maier, Das Doppelgesicht

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und ihrer Rechtfertigung kann auf einen langen Stammbaum zurückblicken,32 obwohl es schon früh – nämlich 1391 – mahnende Stimmen gegeben hat: „Die Menschenrechte sind die Frucht des Geistes, nicht des Körpers. Wer also jemanden zu den Menschenrechten führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung. [ . . . ] Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tode bedrohen kann.“33 Diese Mahnung erreichte die kirchliche Praxis erst später und es hat lange gedauert, bis Papst Johannes Paul II. am 12. März 2000 in Rom mit den Worten um Vergebung für die im Namen des Glaubens verübte Gewalt bat: „Herr der Welt, Vater aller Menschen, durch deinen Sohn hast du uns gebeten, auch den Feind zu lieben, denen Gutes zu tun, die uns hassen, und für die zu beten, die uns verfolgen. Doch oft haben Christen das Evangelium verleugnet und der Logik der Gewalt nachgegeben. Die Rechte von Stämmen und Völkern haben sie verletzt, deren Kulturen und religiöse Traditionen verachtet: Erweise uns deine Geduld und dein Erbarmen! Vergib uns!“34 Nun kann die Kirche heute der Gewalt um so eher entsagen, als sie über kein Gewaltpotential mehr verfügt. Das strikte Gewaltverbot gilt um so dringlicher für die Staaten dieser Welt bei der des Religiösen, 2004, S. 18. Zum Ganzen: Michael Rutz, Kulturkonflikte, Religion und Gewalt, in: Handbuch der katholischen Soziallehre [im Erscheinen]. 32 Übersicht: Dag Tessore, Der Heilige Krieg im Christentum und Islam, 2004; Arnolf Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, 2007. 33 So Kaiser Manuel II., in: Edition Manuel II. Paleologue, Entretiens avec un Musulman. 7ème Controverse, Introduction, Texte Critique, Traduction et Notes par Théodore Khoury = Sources Chretiènnes 115, Paris 1966 , S. 144 f. Zitiert von Benedikt XVI: Glaube, Vernunft und Universität, Ansprache an der Universität Regensburg am 12. Sept. 2006 (bei Austausch des Wortes „Glaube“ durch „Menschenrechte“; und „Seele“ durch „Geist“), in: Glaube und Vernunft (N 31), S. 12, 14 ff. 34 Vgl. dazu: Gerhard Ludwig Müller, Erinnern und Versöhnen: die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit, 3. Aufl., 2000, S. 30 ff.

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missionarischen Verbreitung der Menschenrechtsidee. Daher gilt: „Die Anmaßung, das, was man selbst für die Wahrheit hält, anderen gewaltsam aufzuzwingen, bedeutet, daß dadurch die Würde des Menschen verletzt und schließlich die Idee der Menschenrechte beleidigt wird. Darum ist der fundamentalistische Fanatismus eine Haltung, die in radikalem Gegensatz zum Glauben an die Menschenrechte steht. Wenn wir genau hinsehen, instrumentalisiert die Gewalt nicht nur den Menschen, sondern auch die Idee der Menschenrechte, in dem er diese zu Götzen macht, deren er sich für seine Zwecke bedient. Kein Verantwortlicher der Menschenrechtsidee kann daher der Gewalt gegenüber Nachsicht üben und noch weniger kann er sie predigen. Es ist eine Beleidigung der Idee, Gewalt im Namen der Menschenrechte zu begehen, dem Menschen im Namen der Menschenrechte Gewalt anzutun.“35 Soweit – auf die Idee der Menschenrechte umformuliert – Papst Johannes Paul II., der diese Maxime auf den katholischen Glauben bezog: danach sieht sich die katholische Kirche weiterhin im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit. Aber der Papst stellt die Mission unter die Bedingung der Gewaltfreiheit. Die Überzeugungskraft der Argumentation gilt in gleicher Weise für die säkulare Politik, die sich im Besitz der säkularen Wahrheit der Menschenrechte sieht. Sie sollte sich die Worte des katholischen Pontifex zur Mahnung dienen lassen: die universalen Menschenrechte haben Recht und sie sind im Recht, bieten aber unter keinen Umständen einen legitimen Titel zur gewaltsamen Beglükkung der menschenrechtlich noch nicht erlösten Menschheit.

35 Johannes Paul II., Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung. Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages 1. Januar 2002 (unter Austausch des Wortes „Gott“ durch „Idee der Menschenrechte“ und „Terrorist“ durch „Gewalt“ sowie die entsprechenden grammatikalischen Anpassungen), abgedruckt in: Wiener Blätter zur Friedensforschung 110 (2002), S. 1 ff.