Materialien aus dem Katechumenen-Unterricht [2. Aufl. Reprint 2019] 9783111465425, 9783111098548

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Materialien aus dem Katechumenen-Unterricht [2. Aufl. Reprint 2019]
 9783111465425, 9783111098548

Table of contents :
Vorwort zur ersten Auflage
Vorwort zur zweiten Auflage
Inhalt
Berichtigungen
Einleitung
Das erste Hauptstück
Das zweite Hauptstück
Das dritte Hauptstück
Das vierte Hauptstück
Das fünfte Hauptstück

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Materialien aus dem Katechurnenen-Unterricht von

Dr. H. Eltester.

Zweite Auflage, herausgegeben und ergänzt von

H. Hitler.

Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer. 1888.

Vorwort zur ersten Auflage. ^)ie nachfolgenden Aufzeichnungen verdanken ihren Ur­ sprung der Aufforderung jüngerer Freunde, welche längere

Zeit meinem Katechumenen-Unterricht beigewohnt haben: so­ dann der Bitte früherer Schüler und sonstiger Gemeinde­ glieder. Ich gebe in ihnen den Unterricht, nicht, wie ich meine,

sondern so, wie ich denselben

daß er ertheilt werden müsse,

ertheilt habe.

Wie sich von selbst versteht, nicht buchstäblich.

Denen gegenüber, welche ich jetzt als Leser vor mir habe,

mußte ich zusammendrängen,

was ich ehedem des Breiteren

auseinander zu legen hatte.

Andererseits habe ich gemeint,

ein oder das andere weiter

verfolgen zu sollen,

Jugendunterrichte rathsam war.

als es im

Aber im großen und ganzen

habe ich so unterrichtet ; es ist der von mir verarbeitete Stoff;

es ist die Methode, der ich gefolgt bin. Ich durfte mich so weit einlassen, weil ich durch das Zu­

sammentreffen von mancherlei Umständen meist reifere Schüler vor mir hatte: in den oberen Abtheilungen (ich habe, um die

zu große Ungleichheit zu vermeiden, regelmäßig in je zwei,

IV

Vorwort zur ersten Auflage.

ausnahmsweise auch in drei Stufenklassen unterrichtet) Jüng­ linge und Jungfrauen von 16, 17, ja selbst 18 Jahren; aber

auch von den Zöglingen der Volksschulen,

sammten Verhältnisse

wegen

in

welche ihrer ge-

jüngerem Alter confirmirt

werden mußten, ist es mir gelungen, einen guten Theil na­ mentlich der Mädchen bis zum vollendeten löten Jahre im Katechumenen - Unterricht den segensreichen Einfluß

Ich kann nicht genug

festzuhalten.

hervorheben,

welchen gerade diese

Frist auf die geistige und sittliche Entwicklung der Betreffen­

hat,

den gehabt

und wie ich diese verhältnißmäßig reiferen

Zöglinge der Volksschule häufig erschlossener für die göttliche Wahrheit und fähiger für das Durchdenken derselben gefun­ als manche der obern Klassen, deren Lebensver­

den habe,

hältnisse ein anderes erwarten ließen.

Freilich die alte Er­

fahrung, daß religiöses Verständniß nicht an das Wissen ge­ bunden ist.

Nur, was sich allein mit den Jahren entwickeln

kann, wird nicht vor den Jahren da sein.

Jedem Kundigen wird in den nachfolgenden Ausführun­ gen

das Unsystematische

Katechismus;

und

auffallen.

selbst innerhalb

Ich

folge

einfach

dem

desselben habe ich das

Material nicht immer an einem Orte und in einem Zu­

sammenhänge behandelt, sondern häufig einen und denselben Gegenstand je nach seinen verschiedenen Beziehungen vertheilt, und jegliches da angeknüpft, wo sich für ein lebensvolles Ver­ ständniß

der

oder

die

geeignetsten

Anküpfungspunkte

dar­

boten; und bin so selbstverständlich auf manches mehrfach zu­ rückgekommen.

Das ist ein gewußter und gewollter Mangel.

Unser Katechumenen-Unterricht ist

offenbar nicht

dazu

da,

systematische Erkenntniß zu vermitteln, für welche auch unsere

reifsten Katechumenen nicht reif sind, und die meisten es nie Er soll den frommen Sinn beleben und das Nach­

werden.

denken wecken, daß die also Unterwiesenen fähig werden, sich

danach an der Hand der Schrift und mit Hülfe des öffent­ lichen Gottesdienstes

im Leben zurechtzufinden.

selbstständig

Und er wird das am wirksamsten thun, je mehr er nicht an und

das Schema

knüpft.

das System,

sondern an das Leben an­

Auch hilft es gar nichts das Ganze als Ganzes zu

geben, und jedes Einzelne in Beziehung mit diesem zu setzen. Selbst

größtentheils

das Ganze

doch

wieder in Einzelnheiten auf

und nehmen sich Einzelnes heraus, von

die Jugend, lösen sich

Erwachsenen, geschweige

die

nur etwas,

dem Ganzen

und haben in der That

wo sie das thun.

Daß es

darum im Unterricht nicht an Gedankenzusammenhang fehlen

versteht sich von selbst:

darf,

tischer.

nur ist es eben kein systema­

Jenen wird man auch hier nicht vermissen; und ebenso

wenig kann der Ueberblick verloren gehen, wo der Katechis­

mus der Faden ist, welchem ich folge.

Nicht

minder

bewußt und gewollt ist der Mangel an

imb

an Gleichmäßigkeit der Ausführung in

Vollständigkeit

diesen Aufzeichnungen.

Man

wird

in

ihnen manches ver­

gebens suchen, was sonst in keinem.Handbuche oder Leitfaden

für den Katechumenen-Unterricht fehlt.

Aber ich schreibe eben

keinen Leitfaden, sondern gebe „Materialien aus dem Unter-

terricht^, wie ich und

nach

meiner

denselben unter Eigenthümlichkeit

früheren Schülern zur Erinnerung,

bestimmten Verhältnissen ertheilt

habe:

meinen

andern, die nach diesem

Büchlein greifen möchten, zu einiger Anregung, vielleicht auch

zur Verständigung

über

die hier vertretene Richtung.

Im

übrigen habe ich schon bei der Predigt Vollständigkeit und Gleichmäßigkeit sehr oft als gleichbedeutend mit langer Weile

gefunden.

Vollends

soll

man

im

Jugendunterrichte

nicht

vergessen, daß nichts mehr ermüdet, als, wenn man lang und

breit erörtert, was schon bekannt oder an sich verständlich,

höchstens mit wenigen Worten beiläufig abzumachen ist

Die

dadurch bewirkte Unaufmerksamkeit ist gewiß nachtheiliger, als

vermeintliche Lücken; und viel fördernder, als alles "durch­ zunehmen", ist es, Wichtiges, sei es, daß es an sich zu den

„Haupt-Stücken" gehört, sei es, daß es in einer bestimmten

Zeit

oder in einem bestimmten Kreise und unter gewissen

Umständen in das Gewicht fällt und die Gemüther selbst der Jugend bewegt — eingehend zu behandeln. ■

Nicht gewollt

dagegen ist der Mangel an Ungleichmäßigkeit im Styl.

ist die Folge der körperlichen Beschwerden,

Er

unter denen ich

das Folgende niedergeschrieben habe, und deren Spuren ich nicht immer habe verwischen können. —

Ich habe von Anfang an, reformirten Gemeinde der

dem

lutherischen

auch, als ich noch bei der

heil. Geist-Kirche fungirte, nach

Katechismus

unterrichtet.

Zuerst,

weil

sämmtliche Zöglinge sowohl der Volksschule als auch der höhern Schulen in

demselben unterwiesen waren,

besser hielt, das,

und ich es für

woran schon so viele Zeit und Mühe ver­

wendet war, zu verwerthen, und auf der vorhandenen Grund­

lage fortzubauen, als ein Neues anzufangen. Aber, je länger, je mehr habe ich mich in diesen Katechismus eingelebt und

bin dergestalt mit ihm verwachsen, daß ich mich schwer von ihm getrennt haben würde.

Ob das mit einem andern auch

der Fall gewesen sein würde?

Was mir

den

lutherischen

Katechismus so

werth macht,

ist einmal die Art,

auf die Schrift zurückweist

überall

oder

wie

er

vielmehr aus ihr

heraus redet; andererseits die Abwesenheit von all' und jedem

beengenden Dogmatismus.

an's Herz Legung,

Es ist weit mehr eine paränetische

als eine dialektische Begriffsbestimmung;

und läßt, wie die Schrift, in hohem Maße der Freiheit und

der Eigenthümlichkeit des Denkens Raum.

Dazu kommt das

Ahnungsvolle, ich möchte sagen, Prophetische in ihm; kraft

dessen er oft weit mehr sagt, als er bewußterweise beabsich­ tigt, und es möglich macht, an Luthers Wort zu entwickeln,

was über Luthers (jedenfalls über den

staben hinausgeht.

„lutherschen") Buch­

Ich verweise insbesondere auf die Erklä­

wie auf das 4te und 5te Haupt­

rung

zum 3ten Artikel,

stück.

Ich wäre ein sehr unglücklicher Mensch gewesen, wenn

ich

einer

nach

tungen mus,

der

neumodischen

dogmatisirenden

oder Gefangennehmungen des

Bearbei­

lutherischen Katechis­

oder auch nach der sehr sorgsamen und wohlgemeinten

und doch völlig mißglückten Zusammenarbeitung des lutheri­

schen und des Heidelberger Katechismus (dieser Musik gleich­ zeitig aus zwei disparaten Tonarten), wie sie im badischen und

noch

mehr im rheinischen Katechismus vorliegt,

hätte

unterrichten oder vielmehr diese Begriffsbestimmungen hätte

einlehren sollen. Aus

dem

Gesagten

ergiebt

sich

schon,

daß

ich dem

lutherischen Katechismus nicht knechtisch gefolgt bin. Ein evan­ gelischer Mensch soll keines Menschen, keines Buches Knecht sein; ebenso wenig soll er Knechte, sondern Freie in Christo,

Glieder der evangelischen Kirche erziehen.

auch nicht kritisch zersetzt.

Aber ich habe ihn

Ich habe an ihm entwickelt, was

ich für Wahrheit halte; und auch, wo ich von ihm abweichen

mußte, die Uebereinstimmung stärker betont, als die Differenz; und nie unterlassen, zu zeige«, was Luther eigentlich meint, und was auch in dem, was ich für Vergängliches und Ver­

gangenes halte, das Unvergängliche und Bleibende sei.

Das

ist überhaupt meine Stellung zu der überlieferten Lehre ge­

wesen. dig

Es liegt auf der Hand, daß niemand, welcher leben­

in der Entwicklung

lehren kann.

unserer Kirche steht,

jene

einfach

Ebenso wenig darf man jedoch dieselbe igno-

riren, so lange sie noch nicht bloß von so vielen Einzelnen geglaubt wird, sondern auch unsere Agenden und Gesangbücher

und mittelst derselben den öffentlichen Gottesdienst in dem

Maße durchzieht, als es der Fall ist. daß

man

die

Da bleibt nur übrig,

künftigen Glieder der Kirche die überlieferte

Lehre verstehen lehrt, damit sie nicht Fremdlinge seien im Gottesdienste, und damit sie sich untereinander verstehen. Zu­

dem gehört es ohne Zweifel zur Jugend,

sittlichen Erziehung der

daß sie lerne mit Ehrfurcht auf das schauen,

durch Jahrtausende

der Halt und

was

der Trost der Menschen

gewesen ist, und an dessen Ausbildung und gedankliche Aus­ prägung die Christenheit ihre besten Kräfte gesetzt hat.

Für

alles dieses bietet der lutherische Katechismus eine Handhabe,

wie ich eine bessere nicht weiß. —

Aber noch nach einer anderen Seite hin habe ich Ver­ ständigung gesucht: nämlich gegenüber den mannigfachen Zwei­

feln in unserer Zeit.

Auch die kann man ja nicht ignoriren.

Die Jugend unserer städtischen Gemeinden mit ihnen bekannt, theils wird sie es.

ist theils

schon

Schweigt die Unter­

weisung über sie, so entsteht leicht der Schein, als hätte der

Glaube diesen Zweifeln nichts entgegenzusetzen, und als würde

Wahrheit vorenthalten: während häufig schon die bloße Mit­ theilung

über

das

Vorhandensein

derartiger

Zweifel

Widersprüche gegen die christliche Wahrheit genügt, müther über jene zu beruhigen.

die Aufgabe des Unterrichts sein,

und

die Ge­

Andererseits kann es nicht

die jugendlichen Gemüther

zum Richten und Verdammen anzuleiten; zumal sie dabei viel­ fach

diejenigen richten müßten,

Liebsten sind.

die ihnen die Nächsten und

Ich habe die von mir Geleiteten am besten

gegen alles, was sie

im Glauben irre machen könnte,

zu

schützen gemeint, wenn ich ihnen die dem Irrthum zu Grunde liegende Wahrheit zeigte und sie den Punkt finden ließ,

der Irrthum anfängt, reiner Irrthum zu sein;

wo

im übrigen

sie auf die Möglichkeit und beziehungsweise Berechtigung ver­

schiedener Ansichten aufmerksam machte.

Kurz,

was ich er­

strebt habe, ist Verständigung über den Glauben im Glauben gewesen:

Friede der Gemüther, Friede in den Gemeinden.

Je mehr ich, ohne eigentlich jemals durch schroffe Gegensätze hindurch

Zeit

gegangen zu sein,

an mir selbst die Kämpfe der

reichlich habe durchkosten niüffen;

je mehr ich andere

unter ihnen leiden sah und wahrnehmen mußte, wie sich die einen in dem vergeblichen Bemiihen, zu glauben, was sie nicht

glauben,

verzehren, die andern sich in Zweifeln verbluten,

und wie durch das alles die Kirche ebenso zerspalten wird, wie die Herzen zerrissen, gequält und öde sind: um so mehr

habe ich getrachtet, die Jugend vor diesen aufreibenden Käm­

pfen zu bewahren,

und sie darum über alles,

was trennt,

über alle meine und anderer Ansichten hinaus, allein zu dem

zu führen gesucht, in welchem wir doch alle zusammen kom-

men müssen,

welcher uns alle zusammenbringt,

wir Ruhe finden für die Seele.

in welchem

Diejenigen, denen dasselbe

Ziel vor Augen schwebt, werden auch, wenn sie im Einzelnen

anderer Meinung sind oder überhaupt einer anderen Richtung

angehören, in dem Nachfolgenden finden, was sie freut, viel­ leicht auch einiges, was sie fördert. —

Die Ausführungen über das erste Hauptstück und, damit zusammenhängt,

gedenke ich,

was

wenn Gott Leben und

Kraft verleiht, später zu geben. —

H. E.

Potsdam im März 1868.

Vorwort zur zweiten Auflage. Sein Vorwort zur ersten Auflage der Materialien vom März 1868 schließt Eltester mit der Zusage, dieselben, wenn

Gott Leben und Kraft verleihe, durch Ausführungen über das erste Hauptstück zu vervollständigen.

vor Ablauf

eines

Jahres

Leider ereilte ihn schon

am 8. Januar 1869

der Tod.

Nichtsdestoweniger hatte er bereits die ersten 4 Gebote und

das 6 te bearbeitet und, wiewohl mit Bleistift geschrieben, um seinem geschwächten Körper Anstrengung zu ersparen, doch

druckreif hinterlassen.

Die Hinterbliebenen glaubten dennoch,

die Herausgabe dieses Bruchstücks Vorbehalten zu sollen, bis

es als Ergänzung einer etwa nöthig werdenden zweiten Auf­

lage der Materialien erscheinen könne.

Nachdem nun dieser

Zeitpunkt eingetreten ist, hat es der Herausgeber im Einverständniß mit den Hinterbliebenen für Pflicht gehalten, durch

Hinzufügung der noch fehlenden Gebote, so wie des Schlusses und der Bedeutung des Gesetzes, das Werk des Entschlafenen,

soweit möglich, zu dem zu gestalten, was es nach der Absicht

des Verfassers werden sollte: eine Darlegung des gesammten

von ihm im Katechumenenunterricht bearbeiteten Stoffes. Auch das 4te und 6te Gebot bedurften noch je eines Zusatzes aus

Gründen, welche an den entsprechenden Stellen darzulegen sein werden.

Sämmtliche Ergänzungen sind, soweit sie sich

nicht schon durch ihren Inhalt als solche geben, durch einen

Stern neben der Ueberschrift erkennbar gemacht. keit, mit welcher sich das Werk,

Die Stetig­

wie langsam auch,

beinah

zwei Jahrzehnte hindurch verbreitet hat, und das uns wieder­ holt ausgesprochene Bedauern, daß dasselbe (seit etwa 2 Jah­

ren) nicht mehr zu haben sei, die freundliche Aufnahme ins­ besondere, welche die von Eltester bearbeiteten Gebote fanden,

als sie in der Zeitschrift für praktische Theologie (herausge­ geben von D. Ehlers, Frankfurt a. M., Diesterweg, VII. Jahr­ gang f.) einzeln abgedruckt wurden,

ermuthigen die Hinter­

bliebenen zu der Hoffnung, daß auch diese zweite ergänzte

Auflage sich einen Kreis von Freunden erwerben werde.

Das

wird um so mehr der Fall sein, je mehr erkannt wird, was vielleicht der Titel allzu wenig ahnen läßt, daß nämlich das Werk nicht nur den Religionslehrern in Schule und Kate­

chumenenunterricht, sondern auch jedem gereiften Christen, der nach Verständigung über unsern Christenglauben und unsre

Christenpflichten ringt, ein Wegweiser und Rathgeber werden

Gerade das war Eltester's Ziel, in dem verwirren­

möchte.

den Widerstreit der Meinungen auf religiösem Gebiete und in den Zweifeln unsrer Tage durch

seine Gabe gebildeten

Laien, einen Führer darzubieten, der ihnen den Weg zwischen dem Irrewerden an der Religion überhaupt und engherzigem Buchstabenglauben

bittet

der

finden

hälfe.

Herausgeber um

Für seine

freundliche

Ergänzungen

Da er

Nachsicht.

weder den Unterricht des Verfassers genossen noch je ihn hat

predigen hören, kann er für seine Berechtigung zu diesen Er­ gänzungen nur geltend machen, daß er, nachdem er erst nach

dem

Tode

durch

die

des

Verfassers

sein

geworden,

Schwiegersohn

Stellung zu seinen Hinterbliebenen,

durch

eine

zwanzigjährige Wirksamkeit in der Gemeinde des Verstorbenen und vor allem durch Beschäftigung mit seinen Schriften, durch

welche er schon als Jüngling, ohne ihn zu kennen, angezogen

wurde, sich in Sinn und Geist des Verfassers hineingelebt hat,

so wie es seine Eigenart ermöglichte.

Aufzeichnungen

aus Eltesters Katechummenunterricht, für deren Mittheilung ich

den Freunden an dieser Stelle herzlich danke,

mit Freuden benutzt;

habe ich

doch waren sie zu bruchstückartig, als

daß ich mich an das Einzelne hätte binden können oder sagen

dürfte, ich gäbe im wesentlichen das, was und wie es Eltester seinen Katechumenen gegeben. anmaßen,

Am wenigsten durfte ich mir

die urwüchsige Weise

eines

so

durch und durch

eigenartigen Mannes nachahmen zu wollen.

Doch habe ich

mich stets mit seiner ganzen Denkweise

verwachsen ge­

fühlt, daß meine Weise,

so

auf religiösem Gebiete

zu

fühlen

und zu denken und das innerlich Durchgearbeitete darzulegen,

wenigstens zu der seinigen kaum irgendwo in Gegensatz stehen

Als Leser habe auch ich mir meine früheren Con­

dürfte.

firmanden als gereifte Christen gedacht, hoffe aber, daß das

ganze Werk auch schon den jungen Christen bei Gelegenheit der Einsegnung als paffender Lebensführer mit auf den Weg gegeben werden kann.

Möchte es

in seiner neuen Gestalt

die alten Freunde wiederfinden und neue erwerben, und mit dazu

helfen,

Evangelium,

daß unserm Volke

sein

größter Schatz,

das

zu immer lebendigerem Bewußtsein und Ver­

ständniß komme!

Potsdam im Januar 1888. Anm.

Der Herausgeber.

Für die häufigen Anführungen aus Luthers Werken ist einmal die

dem Herausgeber leider nicht zu Gebote stehende Leipziger Ausgabe, sonst dagegen die Ausgabe von Walch (Halle 1739 s.) benutzt worden.

Die Stellen sind im all­

gemeinen durch je zwei deutsche Ziffern bezeichnet worden, von denen sich die erste

auf den Theil, die zweite auf die Seite bezieht.

Inhalt Einleitung.......................................................................................................................

Seile 1

Das erste Hauptstück (Eintheilung derGebote)...........................

7

Das erste Gebot. Grober Götzendienst............................................................................................. Heiligenverehrung................................................................................................. Pantheismus und Materialismus..................................................................

10 24 27

Feiner Götzendienst (Gott fürchten, lieben undvertrauen)...........................

30

Das zweite Gebot. Gottes Namen.............................. Was heißt: Gottes Namen mißbrauchen?................................................. Luthers Erklärung zum zweiten Gebot:

37 43

Vom Fluchen...................................................................................................... Vom Schwören................................................................................................. Vom Zaubern u. dgl.......................................................................................... Zauberei und Wunder........................................................................................

47 50 59 67

Vom Lügen mibTrügen im Namen Gottes...............................................

69

Das dritte Gebot. Jüdische mld christliche Auffassung des Feiertags (Sonntagsruhe) ... 80 Pflicht und Segen deS Kirchenbesuchs.......................................................... 91 Das Kirchenjahr................................................................................................. 97 Evangelische Gottesdienstordnung........................................................................101 Evangelischer und katholischer Gottesdienst...................................................... 104

Das vierte Gebot. Pflichten der Kinder gegen Vaterund Mutter.................................................. 107 Pflichten der Eltern gegen dieKinder........................................ 113

Herrschende und Dienende........................................................................ * . • 117 Obrigkeit und'Unterthanen....................................................................................122 Pflichten gegen das Vaterland..................................................................... 126 Das fünfte Gebot. Dürfen wir Thiere tödten?..................................................................................... 128

XV

Inhalt.

Seite

Heiligkeit des Menschenlebens................................................................................ 131

Nothwehr................................................................................................................... 132

Duell........................................................................................................................133 Krieg............................................................................................................................ 135 Todesstrafe............................................................... •............................................136

Außerordentliche Nothlagen

. ............................................................................ 137

Selbstmord............................................................................................................... 139

Selbstaufopferung ........................................................ 144 Fahrlässige Tödtung, Todtschlag, Mord.......................................................... 144 Luthers Erklärung und Neutestamentliche Auslegung zum fünften Gebot

(Matth. 5, 20-22).................................................................................... 145 Der heilige Zorn (Röm. 12, 19—21)...............................................................148

Das sechste Gebot. Heiligkeit, Bestimmung

und sittliche Grundlageder Ehe (Monogamie) 150

Die christliche Ehe............................................................................................. 154 Unauflöslichkeit der Ehe und Ehescheidung...................................................... 155 Form der Eheschließung (kirchliche und bürgerliche)......................................... 157 Werth der kirchlichen Trauung............................................................................ 159 Mischehen....................................................................................................................161 Kindererziehung in Mischehen (gesetzliche Bestimmungen über deren Re­

ligion)

........................................................................................

....

163

Das siebente Gebot.

Arten der Uebertretung......................................................................................... 165 Ausgleichungsversuche zwischen Arin und Reich . ......................................... 167 Kommunismus........................... 168 Sozialismus............................................................................................................... 170 Christlicher und Staatssozialismus................................................................... 171 Stellung des Christen zum Eigenthum .......................................................... 172 Arten des Eigenthumserwerbs: Arbeit......................................................................................................... 175 Kauf, Erbe, Schenkung (Armenpflege)...............................................................177 Zins, Wucher ........................................................................................................... 178 Glücksspiel, Kartenspiel.........................................................................................179 Verwerthung des Eigenthums................................................................................ 180 Das achte Gebot.

Falsches Zeugniß wider den Nächsten (Luthers Erklärung) .... 181 Vom falschen Zeugnißreden oder Lügen überhaupt (Begründung der Wahrheitspflicht, Nothlüge) ..................................................... 186 Rechte und falsche Wahrhaftigkeit........................................................................191 Das neunte und zehnte Gebot. Untrennbarkeit beider..............................................................................................192 Luthers Erklärungen..............................................................................................193 Bekämpfung der bösen Lust (Zustands- und Thatsünde; Zusammenhang

aller Sünden untereinander; Spielen mit der bösen Lust; die rechten

XVI

Inhalt. Leite

Gegenmittel; Nothwendigkeit der Hebung im Guten; Wesen der Tugend)

194

Schluß der Gebote. Ursprüngliche Stellung der Schlußworte Zusammenhang des sittlichen Verhaltens mit Glück und Unglück ...

198 199

Drohung und Verheißung als Erziehungsmittel Das Leiden des Frommen Bedeutung des Gesetzes

201 202 203

Das zweite Hauptstück. Vom Apostolischen Glaubensbekenntniß 205 Der erste Artikel Ich glaube

211 —

an Gott u. s. w

225

Von der Schöpfung Von der Erhaltung

229 235

Von der Vorsehung Von den Kreaturen, insbesondere dem Menschen Von den Engeln Vom Teufel

240 245 250 252

258

Der zweite Artikel Von der Person Jesu Christi Sein Name ............................................................................ Seine Würde: er ist des „Menschen Sohn", der „Christus" Er ist Gottes eingeborner Sohn Die Deutungen. Jesus der vollkommenste Mensch Jesus der größte Prophet Jesus das Person gewordene Wort Jesus Gott, der Sohn,

— 260 261 267 269 274 281 282

empfangen vom h. Geiste Die Wunder Jesu, gelitten, gekreuzigt,

288 294 305 309

...................................................................

gestorben, begraben, niedergefahren zur Hölle, auferstanden, aufgefahren gen Himmel, sitzet zur Rechten Gottes, von dannen er wiederkommen wird Das Werk Jesu nach der Erklärung Luthers Jesus hat mich erlöst; von allen Sünden, vom Tode,

310 317 325 327 332 340 341 342 346

von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber; auf daß ich sein eigen sei

348 349 355

XVII

Inhalt.

Seite

Der dritte Artikel................................................................................................. 357 Vom heiligen Geiste.............................................................................................358 Von der Wirksamkeit des h. Geistes nach der Erklärung Luthers. . . 362

Die Wirksamkeit des h. Geistes an den Einzelnen............................. 362 Die Wirksamkeit des h. Geistes au der Kirche.............................. ....

364

Der h. Geist beruft u. s. w. die Einzelnen in derChristenheit.... Der h. Geist beruft u. s. w. die Christenheit durch die Einzelnen . .

366 369

.

Von der Kirche.......................................................................................................... 370 Von den Eigenschaften der Kirche. — Einheit............................................. 372 Heiligkeit................................................................................................................... 381 Allgemeinheit.......................................................................................................... 388 Sekte und Kirche.................................................... ,.............................................. 391 Von der Vergebung der Sünden....................................................................... 392 Von den letzten Dingen...................... 395 Vollendung der Kirche .........................................................................................395 Auferstehung des Fleisches.................................................................................... 397

Von denGnadenmitteln

......................

405 Vom Worte Gottes................................................................................................. 407

Drittes Hauptstück. Vom Gebet................................................................................................................... 417 Das Gebet des Herrn............................................................................................. 419 Vom Gebet im Namen Jesu................................................................................ 423 Von den Sakramenten.........................................................................................426

Viertes Hauptstück. Von der Taufe.......................................................................................................... 437

Die Kindertage

...................................................................................................... 443

Die Nothtaufe...........................................................................................................449 Pathen...............................................................................................................449

Fünftes Hauptstück. Vom heiligen Abendmahle..................................................’............................ 451

Das Aeußerliche......................................................................................................451 Die Lehre...................................................................................................................454 Der Genuß des h. Abendmahls........................................................................... 464

Berichtigungen. Seite 181 Zeile 3 von oben lies: cm der Frucht, an dem ». s. iu., „ 204 „ 15 „ „ „ 1520, „ 220 „ 11 „ „ „ auSdrücke».

Einleitung. Der

„ Katechumenen" - Unterricht, welchen ihr hier empfangt,

will euch auf die „Einsegnung" vorbereiten,

Endschaft erreicht. In

die

mit welcher

er seine

In was sollt ihr denn da hineingesegnet werden?

christliche Kirche!

Seid ihr denn nicht jetzt schon darin?

Freilich! das ist der unermeßliche Vorzug, welchen ihr vor tausenden

eurer Altersgenossen habt („die Gnade von Gott" —

eure „Er­

wählung"), daß ihr, inmitten einer christlichen Gemeinde geboren, von eurem ersten Athemzuge an den Einfluß des Christenthums er­

fahren habt; daß ihr unter solchen aufgewachsen und erzogen seid, die es als die höchste und heiligste Aufgabe ihres Lebens betrachteten,

euch nicht bloß für dieses zeitliche Dasein, sondern auch

ewige Leben auszurüsten, und

die demgemäß

für

das

auf euch eingewirkt

haben, so daß — so viel ihr auch nachdenken mögt — ihr bei dem Rückblick aus den hinter euch liegenden Zeitraum euch schlechterdings

auf keine Zeit besinnen könnt, in der ihr nicht schon christlich ange­

faßt gewesen wäret.

Und das ganz unabhängig davon, ob ihr in die

kirchlichen Register eingetragen seid oder nicht, und gewisse Rechte noch nicht habt ausüben und an gewissen Handlungen noch nicht

habt theilnehmen können, zu denen ein reiferes Alter gehört; ja selbst,

ob ihr getauft seid oder nicht; denn auch, wenn letzteres nicht der Fall gewesen wäre (wie es ja eine große und angesehene kirchliche

Partei — die Baptisten — giebt, welche ihre Kinder nicht taufen, son­ dern warten, bis dieselben erwachsen sind): meint ihr, daß ihr darum weniger christlich beeinflußt worden wärt, daß eure Eltern euch weniger Eitester, Materialien.

2. Auflage.

1

2

Einleitung.

christlich erzogen, weniger über euch gebetet, weniger für euch gesorgt,

weniger Gottes Wort an euch gebracht hätten, oder daß das nicht vielmehr alles gerade ebenso geschehen wäre, und die Christenheit

und das Christenthum, inmitten deren ihr nun einmal, getauft oder ungetanst, seid, nnd deren Lebenslust ihr einathmet, und deren Ein­

wirkung ihr euch gar nicht entziehen könnt, ihren Einfluß gerade ebenso auf euch ausgeübt haben würden, als es jetzt der Fall ist?

Eben, weil das so ist, weil ihr, auch wenn ihr nicht durch eine beson­ dere Handlung feierlich in die Kirche ausgenommen worden wäret, euch

innerhalb derselben befinden und bewegen und geistig athmen und ihres segensreichen Einflusses theilhaftig sein würdet: eben deshalb

haben wir kein Bedenken getragen, auch diese Handlung, die Taufe,

an euch zu vollziehen als ein Zeichen der für euch bereiteten Gnade, als Sinnbild dessen, was für euch schon immer da ist, der christ­

lichen Gemeinschaft, in welcher ihr steht, wie als Unterpfand dessen, was an euch geschehen soll, uämlich, daß wir euch in Kraft

der

christlichen Gemeinde zu bewußten Gliedern derselben erziehen wollen:

gemäß dem Apostelgesch. 10, 47 ausgesprochenen Grundsatz:

„Kann

auch jemand das Wasser wehren, daß diese nicht getauft werden, welche

den heiligen Geist empfangen haben, gleich wie auch wir?" Nur, daß wir diese Handlung darum nicht als eine schon abgeschlossene ansehen konnten, und auch ihr sie nicht als eine solche ansehen dürft, weil ihr in dem Augenblicke noch kein Bewußtsein besten, was an euch

geschah,

und

was

es

bedeutete, hattet und haben konntet und

darum auch noch nicht die Zustimmung und Erklärung eures eigenen Willens abzngeben vermochtet, ohne welche niemand als ein wirk­

liches Glied der christlichen Gemeinde angesehen werden kann. soll nun

eben,

nach

vollendeter Erziehung und Unterweisung

Das im

Hause, in der Schule und hier, in der bevorstehenden Einsegnung nachgeholt werden, in welcher ihr aussprecht, daß ihr nun wißt, was

ihr in der christlichen Kirche und an derselben habt, und daß ihr ihr

angehören wollt; und die deswegen auch die Konfirmation (Be­ stätigung) genannt wird, wie ihr Konfirmanden d. i. zu Bestätigende

heißet; sofern ihr in derselben bekräftigt, was in der Taufe andere für euch gelobt haben, andererseits auch bekräftigt und durch den

über euch gesprochnen Segen besiegelt wird, was in derselben euch

Einleitung.

3

verheißen worden ist. Doch über das Verhältniß der Einsegnung zur Taufe, wie über die weitere und tiefere Bedeutung dieser selbst,

wie auch der Einsegnung, später ein mehreres.

Vorläufig genug,

wenn ihr wißt, in was hinein ihr gesegnet werdet, und warum diese Handlung Konfirmation heißt. Wie die Konfirmation auf die Taufe zurückweist, so hat der auf die Konfirmation vorbereitende Unterricht wesentlich die Einflüsse

zu seiner Voraussetzung, auf welche die Taufe hinwies, und als deren Zeichen, Verheißung und Unterpfand sie anftrat.

Ohne diese, ohne die

ihm vorangehende, wie ihn begleitende, „Zucht und Vermahnung zum

Herrn" müßte derselbe nothwendig ein anderer sein; wie erwirkungslos bleiben, jedenfalls in seinen Wirkungen gebrochen werden wird, wo die

sonstige Erziehung und Unterweisung vernachlässigt war, oder vernach­ lässigt ist. Das ist der schwere Irrthum und die arge Täuschung, denen

so manche Eltern und Erzieher hingegeben sind, daß sie für ihre Kinder und Pflegebefohlenen von dem „Prediger-Unterrichte", ja oft von

der vereinzelten Handlung der Einsegnung, wer weiß welchen Segen wünschen und erwarten, ihrerseits dagegen unterlassen, die Vor- und

Mitarbeit zu thun und die Bedingungen erfüllen zu helfen, ohne welche diese, wie jener, ihren Segen nicht entfalten können.

Der

Katechumenen-Unterricht vermag im wesentlichen nur zu sammeln, zu stärken, zu klären und zu deutlichem Bewußtsein zu bringen, was in den Gemüthern der Jugend schon ist, jedenfalls muß er Anhalts­

punkte haben, an die er anknüpfen, ein Fundament, auf dem er weiter bauen kann.

Das sind weniger bestimmte Kenntnisse oder

eine besondere Reife des Verstandes — obwohl auch diese bis zu

einem gewissen Grade erforderlich sind, und, wo hinsichtlich ihrer grobe Vernachlässigung stattgefunden hat, der Katechumenen-Unterricht mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben wird: es sind vielmehr religiöse Eindrücke, wie sie sich ohne methodistische Bearbeitung, die nirgend schädlicher, als an der Jugend, wirkt, aus dem Verkehr mit religiös gerichteten Eltern und Lehrern und aus der Theilnahme am häuslichen und öffentlichen Gottesdienst von selbst ergeben. Wo es an derartigen Eindrücken ganz fehlt, und die Seele der zu Unter­

weisenden in dieser Beziehung eine tabula rasa ist, oder wo gar Antireligiöses, niedere Erwerb- und Genußsucht, Hoffart, Gleißnerei, 1*

Einleitung.

4

Unwahrheit u. bergt, m. in den Gemüthern angelegt worden find: da vermag der Konfirmanden-Unterricht eben so wenig etwas aus­ zurichten, als man von einem Felde Brodkorn ärnten kann, das man nicht bestellt hat.

Ein gedeihlicher Konfirmanden-Unterricht

setzt die Mitwirkung von Haus, Schule, Gemeinde, vor allem des Hauses voraus. Darum gebührt auch, wenn er gelingt, diesen nicht minderer, ja oft viel größerer Dank, als er von der empfänglichen Jugend dem Prediger und Seelsorger entgegengebracht wird.

Das wird euch auch einleuchtend machen, was ich noch über euer Verhalten zu diesem Unterrichte zu sagen habe.

Derselbe fordert

von euch nicht nur Fleiß, wie jeder andere Unterricht, daß ihr das zu Lernende willig und ohne Treiber lernt; desgleichen Achtsamkeit,

daß ihr nicht bloß mit den Ohren hört, sondern mit voller Spann­

kraft der Seele auch zu verstehen sucht, was hier mit euch besprochen wird.

Das versteht sich von selbst und braucht Menschen von eurem

Alter nicht erst auseinandergesetzt zu werden: nur ist es nicht genug,

wie es bei andern Unterrichtsgegenständen allenfalls genügen kann. Denn mit dem Religions-Unterricht verhält es sich anders, als mit

anderem Unterricht.

Allerdings kommt auch bei ihm vieles vor, was

behalten, mehreres, was eingesehen und begriffen werden muß. Nur ist das alles noch nicht Religion, sondern nur der Vor- und Anbau dazu;

Religion selbst ist ein unendlich Geistigeres und Innerlicheres, näm­

lich — wie schon im grauen Alterthume das Wort erklärt wird —

das Verhältniß und Verhalten des Gemüths zu Gott, das Inne­ werden seiner Güte, Heiligkeit, Gerechtigkeit u. s. w., mit einem Worte

seines Waltens an unseren Herzen, die Hingebung unser selbst, un­ seres gesammten Dichtens und Trachtens an seinen Willen. Oder Religion ist nicht Sache des Wissens und Könnens, sondern der

inneren Erfahrung und des Gewissens. Man kann alles begriffen und behalten haben, man kann alle Geschichte wissen, die ganze Bibel auswendig können, alle Lehre des Katechismus eingesehen haben

und im Stande sein, darüber auf das geläufigste zu reden,

und

man hat möglicher Weise noch gar keine Religion, ja man kann

dabei sogar wesentlich antireligiös sein.

Und wieder: man kann

sehr fromm sein und Gott und den Herrn Jesum wahrhaft und

wirksam im Herzen haben und dabei in jenen Stücken schwach, recht

Einleitung. schwach beschlagen sein.

5

Das zeigt euch, wie ihr euch zu diesem

Unterrichte zu stellen habt.

Ihr habt ihn zu betrachten als dazu

bestimmt, nicht nur eure Kenntnisse zu bereichern und euer Ver­ ständniß zu klären, sondern vor allem euch geistig zu sammeln und

sittlich zu fördern; ihr habt zu ihm zu kommen ähnlich, wie ihr zur Kirche, zum Gottesdienste geht — denn er ist euer Gottesdienst; ihr habt jede Stunde für eine verlorne, jedenfalls für eine minder gut

angewendete zu halten, in der ihr nicht irgendwie sittlich gehoben, mit neuem Dank gegen Gott, mit neuen Vorsätzen für's Leben nach

Ihr habt vor allem zu üben, was ihr hier als recht

Hause geht.

und Pflicht, als Gottes Willen und Auftrag erkannt habt.

Dann

wird das Ziel dieses Unterrichts erreicht werden, und ihr einst als

würdige Glieder in die Gemeinde treten; dann werdet ihr auch in Bezug auf Erkenntniß und Ueberzeugung zu der Einsicht und Festig­

keit gelangen, deren der Mensch zum Frieden seiner Seele bedarf, und ohne welche er nicht zur Ruhe kommt: nach dem Worte des Herrn: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede (und an seiner Rede bleiben heißt seinem Worte gehorchen), so seid ihr meine rechten

Jünger, so werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit

wird euch frei machen" (Joh. 8, 31 s.), und dem andern:

„So je­

mand will den Willen Gottes thun, der wird erkennen, ob meine Lehre von Gott ist, oder ob ich von mir selber rede" (Joh. 7, 17). Damit der Vorrede genug und nun zur Sache.

Wir folgen in unserm Unterrichte dem kleinen lutherischen Ka­ techismus.

Es giebt eine große Zahl von Katechismen (Handbüchern

für Anfänger zum Unterricht in der Religion), theils öffentlich an­

erkannten und von der Kirche verordneten, theils privaten von ein­

zelnen Geistlichen zu ihrem Gebrauche bearbeiteten. Jene haben den Vorzug, daß sie die allgemein in der Kirche geltende Lehre ent­

halten, während diese nur die Ueberzeugungen der einzelnen Ver­ fasser bringen.

Unter den öffentlich anerkannten Katechismen nimmt

neben dem lutherischen der auf Befehl des Churfürsten Friedrich III.

von der Pfalz von 2 trefflichen Theologen, Zacharias Ursinus und

Kaspar Olevianus, ausgearbeitete und, nachdem er von einer Synode der pfälzischen Geistlichkeit gut geheißen war, im Jahre 1563 ver­

öffentlichte Pfälzische oder Heidelberger die erste Stelle ein, der ehe-

Einleitung.

6

dem nicht bloß in der Pfalz, sondern auch in andern Theilen unseres deutschen Vaterlandes in Gebrauch war und zum Theil noch ist; und

zu den Bekenntniß- oder Richtschriften der reformirten Kirche gehört. Er

enthält selbstverständlich

wie der lutherische,

stücke,

anderer mus,

nur in

Während

Erklärung.

dem Gange

wesentlichen

im

dieselben 5 Haupt­

anderer Reihenfolge und

nämlich

der

lutherische

mit

Katechis­

der geschichtlichen Entwicklung folgend, mit den

10 Geboten beginnt,

fängt

der Heidelberger mit

die allerdings für einen Christen

der Frage an,

die erste und hauptsächlichste:

„Was ist dein einziger Trost im Leben und Sterben?"

und läßt,

nachdem er darauf geantwortet, „daß ich mit Leib und Seele, beides

im Leben und Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilan­

des Jesu Christi eigen bin u. s. w.", darauf nun in 3 Theilen die Darstellung des christlichen Glaubens und der christlichen Lehre folgen, in deren erstem er von des Menschen Sünde und Elend, im zweiten

unter der Ueberschrift „von der Erlösung" von dem, was Christus ist

und für uns gethan hat (Auslegung des Apostolischen Glaubensbe­ kenntnisses), weiter von der Gerechtigkeit aus dem Glauben und den

heiligen Sakramenten handelt, endlich im 3ten unter dem Titel „von

der Dankbarkeit" das christliche Leben, die 10 Gebote und schließ­ lich das Vater unser bespricht.

Diese Anordnung hat manche Vor­

züge, wie denn überhaupt der gesammte Katechismus ein ganz vor­

züglicher ist, der namentlich durch eine schärfere Begriffsbestimmung

den lutherischen häufig übertrifft.

Bei alledem bleiben wir bei dem

letzteren, theils, weil ihr insgesammt bereits durch mehrere Jahre

hindurch darin unterwiesen seid, theils, weil er gerade durch seine minder theologische, volksthümliche Fassung fich mehr, als jener, für

den Volksunterricht eignet.

Er ist doch neben der Bibel das eigent­

liche Buch unseres evangelischen Volks, jedenfalls einer seiner größten Schätze; und ziemt jedem evangelischen Volksgenossen, selbst wenn

er für seine Person zu weiterer

wissenschaftlicher Erkenntniß fort­

schreitet, das genau zu kennen, woran sich das geistige Leben unseres Volkes genährt hat und hoffentlich noch lange nähren wird.

Das erste Hanptstück. Die heiligen 10 Gebote. 2 Mose 20 und 5 Mose 5.

In Beziehung auf die 10 Gebote findet zwischen dem luthe­

rischen und dem Heidelberger Katechismus ein Unterschied hinsicht­ lich der Zählung

statt: sofern Luther das Verbot

der Abbildung

Gottes und des Bilderdienstes nur als eine weitere Ausführung des Verbots des Götzendienstes überhaupt ansieht und es demgemäß noch

zu dem ersten Gebote hinzuzählt; durch diese Zusammenziehung der beiden ersten Gebote in eins-nun genöthigt ist, um die Zahl her­

auszubringen, das letzte Gebot, welches von der bösen Lust handelt, in

zwei zu zerlegen: „Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Hauses", —

„Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes noch seines Knechtes noch seiner Magd noch seines Ochsen noch seines Esels noch alles,

was dein Nächster hat".

Der Heidelberger Katechismus theilt da­

gegen so ab: 1. Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine andern Götter haben neben mir."

2. Gebot: „Du sollst dir auch

kein Bildni'ß noch irgendein Gleichniß von Gott machen", — und ist

dadurch in Stand gesetzt,

das letzte Gebot, welches Luther ausein­

ander schneidet, zusammen zu lassen.

Es liegt auf der Hand, daß

diese Theilung die sinnentsprechende ist.

Wie verwandt auch das

2. Gebot dem ersten sei, und wie nahe beide durch die an beide ge­ hängte und sich offenbar auf beide beziehende Drohung 2 Mose 20,

8

I. Hauptstück.

Erstes Gebot.

5. 61) u. 5 Mose 5,9.10 an einander gerückt werden: so sind sie doch ihrem Inhalte nach verschieden, und fügt das 2. Gebot zu dem

ersten offenbar ein Neues hinzu.

Während letzteres den großen,

das gesummte Gesetz und die Geschichte des israelitischen Volkes be­ herrschenden Gedanken der Einigkeit Gottes ausspricht: das Grund­

bekenntniß Israels, das jedem Israeliten im Augenblicke des Todes feierlich zugerufen wird, und mit dem er stirbt: „Schemah, Israel"

d. i. „Höre, Israel, der Herr, dein Gott, ist ein einiger Gott": — wehrt das 2. die Herabziehung des Geistigen in das Sinnliche und Materielle ab, und fordert und begründet den bilderlosen Gottes­ dienst, der nicht minder charakteristisch für Israel war, wie der

Glaube an die Einigkeit Gottes.

Mit Verwunderung bemerkten

schon die Alten diesen charakteristischen Zug: jedes Volk habe in seinen Tempeln Bilder der Gottheit, nur die Juden hätten einen leeren Tempel, einen Tempel ohne Gott, und hielten sie deshalb und nannten sie geradezu „Atheoi", Menschen, die keinen Gott haben; während

wir in diesem Gebote und der dadurch bedingten Einrichtung des

Tempels und des Gottesdienstes dem Keim nach bereits ausgesprochen

finden, was danach Christus an das Licht gebracht hat: „Gott ist ein

Geist; und, die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten" (Joh. 4, 24) .— Wie wenig liegt dagegen in den letzten Geboten (dem 9. und 10. im lutherischen Katechismus) ein innerer Grund zur Trennung: es sei denn, daß man die Verschieden­

heit des Gegenstandes, auf welchen sich die böse Lust richten kann, für einen solchen halten wollte. Nur würde man da freilich nicht mit der Zweitheilung auskommen, sondern weiter und weiter spalten

und Gebot über Gebot ausstellen müssen, soviel es Objekte des Ge­ lüstens ’) giebt.

Doch kommt bei alle dem darauf zuletzt nicht so gar

}) „Bete sie nicht an und diene ihnen nicht; denn ich der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsuchet der Väter Missethat an den Kindern bis in's 3. und 4. Glied, die mich hassen; und thue Barmherzigkeit an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten." 2) Beiläufig mag schon hier darauf hingewiesen werden, daß unter den Ob­

jekten des Gelüstens das Weib mitten unter dem, „was dein Nächster hat", Haus, Knecht und Vieh erscheint. Ein deutlicher Beweis, wie tief in jenen Tagen auch im israelittschen Volke das Weib stand, und wie es gleichfalls nur als ein Besitz angesehen ward.

9

Emtheilmig der Gebote.

vieles an.

Gleichgültig und ohne Einfluß ist allerdings diese ver­

schiedene Theilung nicht,

sie hängt zum Theil zusammen mit der

rigoristischen Weise, ist durch dieselbe bedingt und bedingt wiederum sie, mit welcher die ältere reformirte Kirche aus dem Gottesdienste

alles,

was irgend wie die Sinne fesseln konnte, hinauswies,

als

Bilder und sonstigen Schmuck, Musik bis auf den Choralgesang, ja selbst die Orgel: während Luther dagegen sich nicht nur duldsam verhielt, sondern verlangte, daß auch die Kunst, namentlich die Musik,

die er selbst liebte und pflegte, dem Gottesdienste dienstbar gemacht werden sollte.

Das kann anerkannt und über

diesen Unterschied,

der sich jetzt indeß schon sehr ausgeglichen hat, verhandelt werden: einen großen Streit darüber zu erheben, ist dagegen kein Grund;

geradezu kindisch aber und albern ist es, daher ein Motiv der Tren­ nung der beiden Confessionen herzuleiten, Geboten verschieden wären.

als welche schon in den

Die heilige Schrift in den beiden Stellen,

wo sie die Gebote aufführt, zählt diese nicht. das ist offenbar das gescheutere.

Sie schärft sie ein:

Denn nicht darauf, daß das Gebot:

„du sollst nicht todten", das 5. oder 6., das über die Ehe das 6.

oder 7. u. s. w. sind, kommt es an, und nicht deswegen wird einer,

der sie bricht, verdammt, sondern, daß

es Gottes Gebote sind.

Das ist das einzige, was wir zu bedenken haben. Eben deswegen können und wollen wir, trotzdem wir die Zäh­ lung des Heidelberger Katechismus für die sinngemäße halten,

bei

der gewohnten bleiben, da das Einlernen und Einüben der andern bis zur Geläufigkeit in der That der Mühe nicht werth ist, welche es kosten würde, und wir uns trotz dieser Mühe schließlich doch wohl

immer wieder versprechen und in zurückfallen würden.

die

altgewohnte Zählungsweise

Genug, daß wir wissen, wie die Sache steht.

Schließlich sei noch eine andere Differenz erwähnt,

die

indeß

noch weniger Wichtigkeit hat, als jene: die Verschiedenheit der An­

sichten darüber, welche Gebote auf die erste Tafel, welche auf die zweite gehören.

In der Regel spricht man der ersten Tafel 3, der

zweiten 7 Gebote (nach lutherischer Zählung) zu, und rechtfertigt

das damit,

seien.

daß 10, 3 und 7 bei den Juden die heiligen Zahlen

Andere nehmen die Theilung in 4 und 6 an.

Neuerdings

ist von einem sehr bibelkundigen Forscher darauf hingewiesen worden,

1. Hauptstück.

10

Erstes Gebot.

daß wir auch in den andern Vorschriften und Geboten, welche sich um die heiligen 10 Gebote als den Kern reihen, häufig -die Grup-

daß es sich daher wohl

Pirung von je 5 Geboten antreffen, und

rechtfertige, eine gleiche Theilung in Bezug auf die Urgebote anzu­ nehmen :

das

erste Fünfgebot enthalte die Pflichten

Einigkeit Gottes,

gegen Gott:

den bilderlosen Gottesdienst, Heilighaltung des

göttlichen Namens, Heilighaltung des von Gott eingesetzten Ruhe­ tages, Heilighaltung der Eltern als der Stellvertreter Gottes; das

zweite Fünfgebot die Pflichten gegen die Menschen: Heilighaltung

des Lebens, der Ehe, Herzens vor böser Lust.

des Eigenthums,

der Ehre,

Das hat viel für sich.

Wahrung des

Doch kommt dar­

auf nicht eben viel an, und hat die Sache überhaupt mehr ein anti­

quarisches, als ein religiöses Interesse. Erstes Gebot.

Die Einigkeit und Geistigkeit Gottes,

des Gottes der Väter,

„des Ewigen" (Jehovah oder Jahveh), der sein Volk Israel erwählt

und es aus dem Diensthause, aus Aegyptenland geführt hat: das war der große Grundgedanke, der in der Seele des „Knechtes Gottes",

des Moses, aufgegangen war, und den er in sein Volk hineinbildete und es durch denselben erst zu einem Volke, zu diesem einzigen und überaus herrlichen Volke machte.

Nehmen wir hinzu, daß dieser

einzige, über alle Welt erhabene und von ihr unterschiedene Gott,

der Schöpfer Himmels und der Erde, zugleich von vorn herein als der Heilige erfaßt wird, „ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig" (3 Mos. 11, 45. 19, 2), so haben wir die charakteristischen Züge,

die den Mosaismus weit über alle Religionen — „der Völker", auch über die ausgebildetsten und den Mosaismus nach der ästhetischen

wie nach der wissenschaftlichen Seite überragendsten, erheben und ihm den Stempel der Offenbarung aufdrücken. Es ist bekannt, wie lange es dauerte, ehe dieser Glaube die gesammte Nation durchdrang,

wie

vielmehr bis zum babylonischen

Exil, d. i. fast ein Jahrtausend, in der Masse Neigung zum Abfall blieb, sei es, daß sie gegen das 2. Gebot sich Bilder von Gott mach­ ten, wie schon in der Wüste das goldene Kalb, sei es, daß sie statt

seiner oder auch neben ihm die Götter der umwohnenden Völker an-

Grober Götzendienst.

beteten. — Wie ist, nachdem

Ursprung und Wesen.

11

die Wahrheit einmal ausgesprochen

war, eine derartige Abwendung von dieser ebenso erhabenen wie ein­ fachen Wahrheit zu den „Nichtsen", wie die Schrift sagt, d. i. zu

Gestaltungen des Gottesbewußtseins und Gottesdienstes möglich, deren Unvernunft uns nicht nur jedem sofort einleuchten zu müssen scheint, sondern, die zum Theil sogar durch ihre Widerwärtigkeit und Scheuß­

lichkeit abschrecken? Das führt auf die weitere Frage, wie überhaupt

Abgötterei — Heidenthum — möglich sei.

Auf diese Frage finden wir bereits in einem der späteren Bücher des Alten Testaments

eine befriedigende Antwort.

„Thöricht von

Natur seien zwar alle Menschen", heißt es in der Weisheit Salomonis Kap. 13, „die in der Nichtkenntniß Gottes lebten und nicht

aus den fichtbaren Gütern den, der ist, zu ersehen vermochten und nicht, aus die Werke merkend, den Meister erkannten, sondern

weder das Feuer oder den Wind oder

ent­

die schnelle Luft oder den

Kreis der Gestirne oder das gewaltige Wasser oder die Lichter des Himmels für die Welt regierende Götter hielten.

Wenn sie näm­

lich, von ihrer Schönheit ergötzt, solche für Götter hielten, so hätten sie einsehen sollen, um wie viel besser ihr Gebieter ist; denn der Ur­

heber der Schönheit schuf sie; und wenn sie von deren Kraft und Wirksamkeit betroffen waren, so hätten sie von ihnen merken sollen,

um wie viel mächtiger der sei, der sie bereitet.

Denn aus der Größe

und Schönheit der Geschöpfe wird vergleichungsweise

der Urheber

derselben erkannt. — Aber dennoch trifft diese geringerer Tadel, denn auch diejenigen irren leicht, welche Gott suchen und finden wollen:

denn, indem sie mit seinen Werken umgehen und

sie untersuchen,

werden sie überwältigt durch den Anblick, weil schön ist, was man sieht.

„-------- Unselig aber sind, und ihre Hoffnung ruhet auf Todtem, welche Götter nennen die Werke von Menschen-Händen, Gold und Silber,

der Kunst Gebilde und Abbildungen von Thieren oder einen un­ nützen Stein,

das Werk alter Hand."')

Und nun folgt angelehnt

an Jesaias 41, 7 u. 44,12—17, Jeremias 10, 3—5 eine schlagende

Darstellung der Nichtigkeit und des Widersinns dieses Götzendienstes, 9 Anmerkung des H erausgebers: So wörtlich. Der Sinn: das Werk altväterischer Hand, d. h. von den Vorfahren oder in alten Zeiten gemacht; ähn­ lich Luther.

1. Hauptstück.

12

Erstes Gebot.

die noch heute nachdenkenden Heiden gegenüber (wie z. B. in Ost­

indien) selten ihre Wirkung verfehlt: wie zuerst der Meister aus Eisen eine Axt schmiede und bilde sie mit Hämmern und fertige sie mit seinem kräftigen Arm und hungere dabei, bis er nimmer könne,

und dürste, bis er matt werde; wie dann der Holz-Zimmerer in den

Wald gehe und haue einen handlichen Baum, der gewachsen und vom Regen groß gezogen sei.

Den zirkle er ab und bilde aus ihm

irgend ein nützlich Geräth für's Leben, und die Spähne zünde er an

und backe sich Brod dabei und brate sich Fleisch, sättige und wärme sich und spreche: „Hojah! ich bin warm geworden, ich sehe meine Lust an dem Feuer!" Aber das übrige davon, was zu gar nichts nütze sei, das krumme und schiefe und ästige Holz — das schnitze er

zu seinem Gott; male es fein an roth und schön; und, wo ein Fleck sei, streiche er es zu, mache ihm auch ein sein Haus, damit es nicht

naß werde, und hefte es mit Eisen an die Wand, damit es nicht

Und dann falle er vor ihm nieder und bete es an für seine

falle.

Güter, sein Weib und seine Kinder, und schäme sich nicht, indem er

das Leblose anrede.

Um Gesundheit rufe er das Schwache an, und

um glückliche Reise, das nicht gehen kann, und für Erwerb und Ge­ schäft und glückliche Handlung bitte er das Kraftloseste um Kraft.

Es ist hier zunächst zu bemerken, daß diese Unterscheidung und

tiefe Unterordnung derer, welche Menschen-Gemächte für Gott halten gegen diejenigen, welche Gottes Kreatur anbeten, ihre volle Anwendung

nur da findet, wo die Bilder eben als solche göttlich verehrt werden,

wie das allerdings bei roheren Heiden und leider auch Christen häufig

genug geschieht: daß dagegen, wo das Bild Bild bleibt, da mit der Bildnerei eine höhere und sittlichere Weise des Gottesbewußtseins und der Gottesverehrung verbunden sein kann, als sie hie und da bei Anbetung von Gegenständen der Natur „Gottes Kreatur" statt­

findet.

Ich erinnere an den reinen Naturdienst, von dem Thierdienst,

geschweige dem Fetischdienst der Negervölker, gar nicht zu reden, die dem ersten, dem besten, woran gerade ihre Aufmerksamkeit haftet, von dem sie irgend einmal andächtig berührt worden sind, göttliche

Kräfte, Gottheit zuschreiben. Dies vorweg, beachte man, wie der heilige Schriftsteller auch in dem Heidenthum den in der Tiefe zu Grunde liegenden Zug nach

Grober Götzendienst.

Ursprung und Wesen.

13

Gott anerkennt und von etlichen Gestalten desselben sogar mit einer

gewissen Hochachtung redet.

Wie der Apostel Paulus, nachdem er

die Atheniensischen Gottesdienste durchwandert und dabei auf einen Altar mit der Ueberschrist „dem unbekannten Gotte" getroffen war,

den Athenern das Zeugniß giebt, daß sie „Götterfürchtende" seien und, „ohne es zu wissen, Gott dienten" (Apostelgesch. 17, 22 f.), und,

darauf gestützt, ihnen diesen unbekannten Gott verkündet: so hebt auch

unser Verfasser die dem Heidenthum, der Abgötterei, trotzdem er sie verwirft, noch innewohnende Wahrheit hervor.

Auch das Heiden­

thum ist Religion, der Götzendienst noch Gottesdienst, nur ist es ein

steckengebliebenes Sehnen und Suchen nach Gott, eine gefangen ge­

nommene und gefesselte Religion.

„Denn auch die wohl irren können,

die Gott suchen und gern fänden: Denn, indem sie mit seinen Ge­

schöpfen umgehen und ihnen nachdenken, werden sie „gefangen im

Ansehen"'), weil die Kreaturen so schön sind, die man sieht" (v. 6 u. 7).

Das enthüllt eben so das Wesen, wie den Ursprung

„Abgötterei".

Gott, so

der

In jedem Menschen ist, wie die Abhängigkeit von

das Bewußtsein dieser Abhängigkeit von einem Höheren

außer ihm und die Sehnsucht nach demselben potentiä d. i. als Keim und Trieb

und

wirksame Anlage

vorhanden.

Drängen und Treiben in ihm widerstehen:

Er

kann

diesem

los wird er es nicht.

Aber auch, wo er ihm nachgiebt, strebt und sucht, kommt er nicht immer und sofort zum Ziele.

Der Zug nach oben wird theils ab­

geschwächt theils auch abgelenkt durch die sinnlichen Eindrücke, welche

diese Welt auf ihn macht, in der, hinter welcher und durch die hin­ durchdringend er Gott suchen und finden soll: er aber vermag sich nicht über sie zu erheben, durch das unmittelbar in der Anschauung Gegebene nicht durchzuarbeiten, sondern, überwältigt hier „von der Schönheit", da von der Furchtbarkeit der Erscheinung, der sinnlichen

Lust oder sinnlichen Qual, bleibt er bei diesem zunächst Liegenden stehen, und betet, Gott suchend, in Wirklichkeit das Geschöpf an. Die Einsicht in diesen Ursprung des Götzendienstes — nicht, wie

es

häufig

geschieht,

aus bloßer Unwissenheit und Unkultur,

wobei derselbe leicht als etwas Unschuldiges, ja Naives

erscheint,

l) So Luther; eigentlich „überredet" mit dem Nebenbegriff der Täuschung.

14

1. Haiiptstück.

Erstes Gebot.

sondern aus mehr oder minder verschuldeter') Abschwächung, Ablen­

kung und Verdunklung des

durch über­

sittlich religiösen Triebes

schießende Sinnlichkeit, sinnliche Lust oder Unlust — diese Erkennt­ niß ist zu wichtig, als daß wir sie nicht noch in nähere Betrachtung

ziehen sollten.

Wir knüpfen diese Betrachtung an eine unserer äl­

teren Dichtungen.

In Tiecks Phantasus in dem allbekannten Mär­

chen vom „gestiefelten Kater" wird uns das mit menschlichem Ver­

ständniß und menschlicher Sprache ausgestattete Thier vorgeführt,

wie es, den Gesang der Nachtigall vernehmend, in den Ausruf aus­ bricht: was singt die prächtig! wie müßte die nicht erst schmecken!

Hier ist nicht bloß die ächt dichterische Weise zu bewundern, mit

welcher das Durchbrechen des wesenhaft Thierischen (in dem gestie­ felten Kater) durch das dazu gedachte Menschenartige dargestellt ist, sondern es ist auch das allgemein gültige Gesetz zu beachten, welches in der dichterischen Umhüllung uns vorgeführt wird.

Der „Kater"

hört auch den lieblichen Gesang der Nachtigall; aber, wo der für Schönheit empfängliche Mensch den Tönen lauscht, weckt diese Lieb­ lichkeit in dem Thiere nur den Gedanken an Jagd und Fraß! So nimmt überhaupt jedwedes Wesen, jeder Mensch die Vorgänge und

Gegenstände außer ihm je nach den ihm einwohnenden Trieben, den

ihn beherrschenden Neigungen und Leidenschaften auf.

Wozu wir

innerlich gar keine Beziehung oder, wie wir sagen, wofür wir kein

Interesse haben, das nehmen wir entweder gar nicht wahr — es ist für uns so

gut wie gar

nicht

vorhanden:

oder, wenn sich das

Gegenständliche so überwältigend aufdrängt, daß wir gewissermaßen darauf gestoßen werden, so nehmen wir zwar wahr, um was wir

nicht herum können, aber wir sehen es einseitig falsch und verzerrt. So ist es auch mit der Religion.

Unablässig dringt Gottes Offen­

barung in der Welt, in den Werken seiner Hand, wie in den von ihm geleiteten Geschicken sowohl des einzelnen Menschen als auch der ge-

sammten Menschheit — in der Geschichte — auf uns ein: und in jedem geistig gesunden Menschen regt sich der Trieb nach Gott, das Be*) Weisheit 13, v. 8. 9: doch damit sind sie nicht entschuldigt.

Denn haben

sie so viel mögen erkennen, daß sie die Kreatur hochachten, warum haben sie nicht

vielmehr den Hen'n derselben gefunden? digung haben.

Röm. 1, 20: also, daß sie keine Entschul­

Grober Götzendienst.

Ursprung und Wesen.

15

wußtsein der Abhängigkeit von einem Höheren, die Sehnsucht danach

— das Gewissen.

„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und

die Feste verkündet seiner Hände Werk."

„Ihn predigt Sonnen­

schein und Sturm, ihn preist der Sand am Meere.

Bringt, ruft

auch der geringste Wurm, bringt unserm Schöpfer Ehre."

Andrer­

seits: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so verlangt meine Seele nach Gott, nach

dem lebendigen Gott."') Dessenungeachtet

kommt es nicht immer zu dem erwarteten Resultat.

Da steht der

Baum in seiner Pracht, da prangt die Saat, von denen der Dichter sagt, sie rufen, daß sie Gott gemacht! Tausende gehen an ihnen vor­

über — ihre Gedanken sind auf wer weiß was anderes gerichtet —

sie nehmen sie im buchstäblichen Sinne des Wortes nicht wahr, ge­ schweige, daß sie den Ruf vernehmen, der von dort her zu ihnen her­

überklingt.

Aber auch, die sie wahrnehmen, die sinnend bei ihnen

verweilen, wie verschieden lautet die Sprache, je nachdem die Weise ist, mit welcher die Menschen die Welt anschauen, das Organ, das

sie derselben entgegen tragen.

Die grünende Saat, der blühende

Baum — er redet dem, der, wie alles, so auch sie nur mit dem

Magen ansieht, nur von Genuß, dem Gewinnsüchtigen von Ertrag, dem Aesthetischen von Schönheit, Farben und Form, dem verständig nachdenkenden Menschen von Ursach und Wirkung, Naturgesetz und Naturzusammenhang; und nur dem Frommen spricht er von Gott.

Und auch diesem noch redet er verschieden, lauter oder minder laut, deutlich oder undeutlich, über alles Stoffliche, Irdische und Zeitliche

erhebend oder das Göttliche in das Kreatürliche, das Geistige in das

Stoffliche, das Ewige in das Werdende hinabziehend und mit ihnen vermischend, je nachdem der fromme Sinn der allein wirkende, und

je nachdem er rein war.

Wie unser Heiland spricht: „Selig sind, die

reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen" (Matth. 5,8). Ein unreines Herz vermag ihn nicht zu schauen; es findet ihn nicht: und, wo Gott sich ihm zeigt, da sieht es ihn entstellt und verzerrt. Das ist es, was Paulus Röm. 1, 18 f. ausführt, und worauf

sich die Strenge seines Urtheils gründet, welches er über die Ab­

götterei , das Heidenthum ausspricht.

„Gottes Zorn vom Himmel

') Ps. 19, 2. — Lied Bert. Gsb. 84: Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht. - Ps. 42, 2. 3.

16

I. Hauptstück.

Erstes Gebot.

her", sagt er, „werde offenbar wider jegliche Gottlosigkeit und Un­

gerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit durch Ungerechtigkeit aufhalten. Denn, was man von Gott wissen kann'), ist ihnen offen­ bar, denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn sein unsichtbares Wesen d. i. seine ewige Kraft und Gottheit wird seit der Schöpfung der

Welt an den Werken geschaut, „so man des wahrnimmt (nooumena,

d. h. so man sie mit dem nous erfaßt): also daß sie keine Entschul­ digung haben".

Das letztere haben sie eben nicht gethan; sondern,

„obschon sie wußten, daß ein Gott ist, haben sie ihn nicht als solchen

geehrt und ihm gedankt.

Darum sind sie in eitle Gedanken verfallen,

und ihr unverständiges Herz ist verfinstert.

Indem sie sich für weise

hielten, sind sie zu Thoren geworden und haben die Herrlichkeit des

unvergänglichen Gottes mit der Aehnlichkeit eines Bildes von einem vergänglichen Menschen und von Vögeln und Thieren und Würmern

vertauscht."

Das ist nach Pauli mit der unsrigen übereinstimmenden

Darstellung der Ursprung des Götzendienstes.

Die Menschen haben

Gott nicht mit dem nous, der höchsten, geistig-sittlichen Potenz, der Vernunft und dem Gewiffen, gesucht, sondern sind ihren niederen Trieben (der sarx oder denr Fleische) gefolgt und haben denen ge­ stöhnt: da ist ihnen das Gottesbewußtsein verdunkelt und das Gottes­

bild entstellt worden, daß auch die weisesten unter ihnen Gott nur

im Bilde und unter der Hülle der Kreatur zu verehren vermochten.

Also der Götzendienst, die Abgötterei sind nicht nur aus Dumm­ heit entstanden — sind es doch gerade die Kulturvölker, die wir dem­ selben hingegeben finden, während das in jeder Beziehung weit hinter ihnen zurückgebliebene Volk Israel, in seinen hervorragenden Männern immer, und schließlich auch das gesummte Volk, die Einigkeit und

Geistigkeit des heiligen Gottes festhält: — sondern sie sind aus Ver­

dunklung und Ueberwältigung des religiös sittlichen Triebes durch die niederen Triebe des Menschen, aus überschießender Sinnlichkeit, mit

einem Worte, aus Verschuldung, aus Sünde hervorgegangen. Darum wirken sie auch so verderblich, Sünde mehrend und erzeugend, ein. Wie überhaupt Irrthum und Sünde Zusammenhängen und sich gegenseitig bedingen und fördern: so ist das namentlich der Fall, wo die höchste, l) Luth. Denn, daß man weiß, daß Gott sei.

Ursprung der Vielgötterei.

17

die Gotteserkenntniß getrübt und entstellt ist.

Die in den Staub ge­

zogene Religion vermag immer weniger über den Staub zu erheben;

Götter, welche die Sinnlichkeit gemalt und ihnen ihre Züge, Züge oft der entfesseltsten, niedrigsten Lust, aufgedrückt hat, —sind außer Stande, das, was sie erzeugt hatte, zu bändigen; ihr Kultus selbst dient dazu, die in ihnen vergötterten unsittlichen Triebe zu rechtfertigen und zu mehren: wie Paulus an der angeführten Stelle (Röm. 1,

24—32) diese sich immer steigernde Wirkung des Götzendienstes aus Sünde in Irrthum, aus Irrthum in immer größere Sünde beschreibt

und eine Schilderung von dem sittlichen oder vielmehr unsittlichen Zustande des Heidenthums seiner Zeit entwirft, die man beinah ver­ sucht sein könnte für übertrieben zu halten, wenn nicht die heid­

nischen Schriftsteller jener Tage ’) sie mehr als bestätigten, und unsere

eigne Bekanntschaft mit den Heidenvölkern der Gegenwart dasselbe zeigte. — Doch hierauf kommen wir später noch einmal zurück: an

dieser Stelle scheint es angemessen, unsere bisherige Betrachtung über

das Wesen und die Erscheinung des Götzendienstes selbst noch ein weniges weiterzusühren.

Als das Wesen des Götzendienstes ist uns bisher entgegenge­ treten das Steckenbleiben des religiösen Triebes in der Welt, die damit verbundene Vermischung des Göttlichen mit dem Kreatürlichen,

des Ewigen mit dem Zeitlichen, schließlich die Anbetung des Ge­ schaffnen statt des Schöpfers, und dies alles in Folge und Kraft der

das Höhere und Höchste in dem Menschen, die Vernunft und das Gewissen, überwältigenden sinnlichen Triebe

und Eindrücke.

Aus

derselben Quelle ergiebt sich mit Nothwendigkeit auch die Zersplitte­

rung des Götzendienstes in Vielgötterei, sowie das Haften an Ab­ bildungen und Gleichnissen, der fast in allen Gestalten desselben vor­ kommende Bilderdienst.

Die sinnlichen Triebe und Eindrücke sind

eben nicht eins, sondern unendlich verschieden, ja nicht selten einander

widersprechend.

Eben so wenig ist für den, welcher sein Augenmerk

auf die Erscheinung gerichtet hat, die Welt eine, sondern ein solches Gemisch des Verschiedenartigsten, ein Convolut mit einander ringen­ der und sich gegenseitig bekämpfender und vernichtender Mächte und Seneka, Horaz, Ovid, Persius, Juvenalis. Eltester, Materialien.

2. Auflage.

18

1. Hauptstück.

Erstes Gebot.

Kräfte, daß noch heuteMelfach die ganze Stärke monotheistischen Glaubens dazu gehört, um von der Einheit Gottes her an die Ein­ heit der vielgetheilten Welt zu glauben und den gejammten Welt­

verlauf, den physischen, wie den sittlichen, als ein organisches Ganzes

zu erfassen.

Ist es nicht natürlich, daß, wo das Gottesbewußtsein

geschwächt und nicht bloß dies, sondern abgelenkt und mit dem sinn­

lichen Eindruck vermengt und verworren ist, wo, um mit dem Buche

der Weisheit zu reden, die Gott suchende Seele gefangen genommen ist im Ansehn, dieweil die Kreaturen so schön sind, die man sieht: daß da von dieser Uebergewalt der sinnlichen Erscheinung her das Gottesbewußtsein zerrissen und zerspalten wurde? Was

nur den

Menschen mächtig ergreift, das hält er für Gott; die Stelle, den Ort,

an dem er sich religiös angeregt fühlt, für einen Wohnsitz Gottes. Der Wind, der im Walde rauscht, regt ihn an und spricht zu ihm mit Sehnsucht und Ahnung weckender Stimme: im Baum, im Wald wohnt Gott. Doch auch die Steppe, die Wüste mit ihrem Schweigen,

mit ihrer Einsamkeit, mit dem Sternenheer über ihm stimmt ihn religiös: und er spricht: „Gewißlich ist der Herr an diesem Orte" (1 Mos. 28, 16): aber ist es derselbe Gott, der hier und da so ver­ schieden erscheint? Derselbe, der aus den Wolken mit Blitz und

Donner redet, und der das Meer bewegt, derselbe, der in der Sonne, und der im Monde wohnt, der versengende Glut, und der erquickende

Kühle sendet, der wachsen läßt, und der verdirbt, der schafft, und der

zerstört? So zersplittert sich das mit dem Weltbewußtsein verworrene Gottesbewußtsein, so spaltet es sich selbst da, wo, sei es als Er­ innerung an frühere bessere Erkenntniß, sei es als Errungenschaft kräftigeren religiösen Triebes, eine Ahnung des Monotheismus, der

Gedanke ursprünglicher Einheit der Gottheit sich vorfindet.

Die

Religion der Inder, wie der Perser, führen ja beide alles Sein

schließlich auf ein Einiges, jene auf den Bram, diese auf die ansangs­ lose Zeit (die Zervane Akarene) zurück.

Aber, so wie sie beginnen,

das Religiöse auszugestalten, zerlegen jene den einheitlichen Bram in den Brama (die schaffende), den Wischnu (die erhaltende), den Schiva (die zerstörende Weltkraft) und dann weiter in immer weitere Götter: während der Parsismus bekanntlich in Dualismus fällt,

indem er aus der anfangslosen Zeit in der Zeit den Gott des Guten

Arten des Götzendienstes.

19

Bilder- und Thierdienst.

und des Lichts (den Ormuzd) und den Gott der Finsterniß und des

Bösen (den Ahriman) entstehen läßt. Wie eine derartig im Sinnlichen befangene Religiosität sich nicht zu einer rein geistigen Anbetung erheben konnte, wie sie viel­ mehr der sinnlichen Stützen bedurfte und darum, wo ihr dieselben

nicht unmittelbar in den vergötterten Naturgegenständen gegeben

waren, zu Abbildungen, weiterhin zum Bilderdienste gelangte, das bedarf keiner weiteren Besprechung.

Ebenso wenig wird es Wunder

nehmen, daß je nach dem minderen oder mehreren Schönheitssinn eines Volkes diese Abbildungen mehr oder minder ansprechend aus­ fallen, in einzelnen Fällen, wie unter den Griechen, den höchsten Grad der Schönheit erreichen, in anderen, bei Indern und Mexi­

kanern, den slavischen Völkern, zu wahren Karrikaturen werden. Man mag über die Wunderlichkeiten, ja Scheußlichkeiten, Produkte

einer verzerrten Phantasie, die einem dabei begegnen, staunen; aber man vermag von dem querköpfigen, eckigen, überhaupt unkünstlerischen

Standpunkte ihrer Erzeuger aus selbst fie noch

zu begreifen.

Es

sind eben Bilder, die etwas anderes vorstellen, hinter denen ein Gedanke ist, den nur die ungelenke Hand, die nach dem Ungeheuren greifende Einbildungskraft so ungeschickt darstellte.

Schlechthin un­

begreiflich dagegen selbst auf dem niedrigsten Standpunkt erscheint ein Kultus, den wir noch dazu bei Nationen, die in andrer Beziehung zu den kultivirtesten gehören, finden: der Thierdienst.

Wie, fragt

sich jeder, wie vermag ein Mensch vor einem Thiere, der vernunft­

begabte vor einem brutum, einem Ochsen zu knieen? Da ist, um nicht den Faden zu verlieren, sestzuhalten: daß auch hier das Thier ursprünglich Bild war, Symbol der erzeugenden, ernährenden, hei­ lenden oder auch der zerstörenden und vernichtenden Kräfte: und Vorgänge in der Natur, die man im Thier abgebildet oder auch

verkörpert sah.

Wie Griechen und Römer ihren Götterbildern Ge­

stalten von Thieren beifügte», dem Zeus den Adler, der Athene die Eule, dem Mars den Wolf u. s. f., um in diesen Attributen gewisse Eigenschaften der Gottheit zu bezeichnen, wie Aron und später Jero-

beam keinen Anstoß nahmen, die Kraft Jehovahs unter dem Bilde eines

Stieres

darzustellen, wie

bei den Kananitern Moloch

in

Menschengestalt mit einem Stierhaupte auftritt, wie Inder und 2*

20

1. Hauptstück.

Aegypter den Göttergestalten

Erstes Gebot.

Thierköpfe')

aufsetzen: so

ist

ohne

Zweifel auch das lebende Thier ursprünglich nur als den Göttern

geheiligt, ihre Kraft und Wirksamkeit ausdrückend, mit einem Worte

als Bild der Gottheit angesehen worden, bis auch hier allmählich

das Bild und der durch dasselbe bezeichnete Gegenstand in einander verschwommen, und eigentliche Thier-Anbetung sich einschlich.

haben ohne Zweifel selbst da noch

Doch

die Wissenden, die ägyptischen

Priester, mit denen sich Herodot besprach, und von denen Pythagoras

lernte, Bewußtsein von der Sachlage gehabt und die Kenntnis der­ selben als Geheimlehre fortgepflanzt. Unter den. mannigfachen Gestalten des Götzendienstes werden

wir am

frühsten bekannt, und sind wir am vertrautesten mit dem

der alten Griechen und Römer.

Wir kennen denselben theils aus

den Schriften theils aus den Kunstwerken der Alten, die beide zu dem Ausgezeichnetsten gehören, was die Menschheit hervorgebracht. Die Kunstwerke, von denen leider nur spärliche und auch diese oft nur in Bruchstücken auf uns gekommen sind, haben eine Schönheit, die wohl

immer als unübertroffen und als Muster dastehen wird, an deren Anschauung sich schon mehr, als einmal, der Sinn späterer Zeiten für Schönheit neu entzündet und genährt hat.

Die Schriften aber bilden

In ihrer klaren nüchternen Weise erziehen sie uns zu einer kernigen Er­

recht eigentlich die Grundlage aller unserer höhern Bildung.

fassung der Welt und der Weltverhältnisse, namentlich der bürger­ lichen , welche uns in ihnen noch in einfacher, übersichtlicher Gestalt

entgegentreten; begeistern uns durch die Schilderung der Großthaten jener Völker, durch die Beispiele der Tapferkeit und Vaterlandsliebe, welche sie vorführen; zeigen uns in den älteren Zeiten eine Frömmig­ keit, die trotz der mit ihr verbundenen Verirrungen uns mit Hoch­ achtung vor dieser das gesammte Sein und Leben jener Alten durch-

') Hinsichtlich der Aegypter ist die Sache nicht ganz sicher.

Nicht, daß nicht

auch bet ihnen derartige Bilder sich finden, sie kommen sogar häufig und in man­ nigfacher Weise vor.

Nur die Bedeutung ist zweifelhaft, sofern neuere Forscher

diesen Thierköpfen auf Menschenleibern nicht sowohl die Kraft des Bildes als viel­ mehr der Buchstaben zuschreiben, der erste Buchstabe int Namen des Thieres ist auch der erste Buchstabe int Namen der Gottheit.

Arten des Götzendienstes.

Griechen und Römer.

21

dringenden „Götterfürchtigkeit", wie Paulus es ausdrückt (Apostelgesch.

17, 22), erfüllt, zumal wenn wir damit die Gleichgültigkeit und Mattigkeit vergleichen, die trotz unsres Christenthums unsre Zeit be­ herrscht.

Kein Wunder, daß wir über dieses Heidenthum und von

ihm aus, welches die Mehrzahl unter uns allein kennt, über alles Heidenthum milder urtheilen, als die Sache zuläßt; und nicht bloß,

wie billig, die vielfachen Reste der Wahrheit und Keime reinerer Entwicklung dieser hellenischen Götterlehre und Gottesverehrung un­

befangen anerkennen, sondern über die Schönheit, in der sie uns entgegentreten, die Nachtseite, die auch nicht fehlt, mehr, als gut

thut, übersehen, ja, daß manche sogar geneigt sind, in einseitiger

ästhetischer Betrachtung dieses Hellenenthum, wenn nicht geradezu

über das Christenthum zu stellen, so doch auf Kosten des Christen­ thums zu erhöhen.

Da möge man bedenken, daß trotz dem allen,

was sie auszeichnet, die griechische Götterlehre eine Verdunklung und Entstellung der Wahrheit war, die bereits in den verhältnißmäßig

reinsten Zeiten neben dem Bessern auch alle die Keime der Entsitt­

lichung und des völligen Verderbens in sich trug, welchem wir später dieses hochbegabte Volk, wie alle geistig von ihm beeinflußten Völker,

rettungslos hingegeben sehen.

Recht angesehen, gleicht schon in diesen

Zeiten die griechische Mythologie einer Wiese, die aus ihrer Ober­ fläche mit Gras und Blumen prangt, Blumen, wie man sie so nicht wieder findet; aber wehe dem, der seinen Fuß auf sie setzt: er ver­

sinkt in die bodenlose Tiefe.

Daß aus uns das griechische Heiden­

thum bei unserm Verkehr mit ihm diese Wirkung nicht hat, liegt

einfach daran, daß wir eben nicht auf demselben fußen, sondern es

lediglich aus der Ferne, von dem festen Boden unserer reineren

Gotteserkenntniß aus anschauen.

Für uns ist diese Mythologie nicht

mehr Religion, sondern Gegenstand der Reflexion, ihre Göttergestalten

sind uns lediglich poetische Figuren, mit denen wir in Dichtung und Prosa spielend verkehren, ihre Göttergeschichten Märchen und Allego­ rien, an denen wir uns, wie an anderen, ergötzen, ihre Götterbilder

vollends Statuen, Abbildungen schönster Menschen.

auch die Wirkung, die sie auf uns ausüben.

Dem entspricht

Wenn wir im Homer

von der leidenschaftlichen Theilnahme der Götter an den Kämpfen der Griechen und Trojaner lesen, wie sie sich untereinander erzürnen

1. Hauptstück. Erstes Gebot.

22

und ausschelten, in eigner Person an Gefahren theilnehmen und da­ bei menschlich Schläge und Wunden erleiden; wenn wir uns ausmalen,

wie, von Diomedes Lanze getroffen, Ares aus dem Kampfe weicht

und dabei vor Schmerz, wie 10,000 Männer, schreit, desgleichen

Aphrodite mit ihrer Verwundung zu Vater Zeus eilt und ihm wei­ nend ihren blutenden Finger zeigt, und der ihr znspricht: „Siehst du wohl, Töchterchen, das kommt davon": — ja, so will ich den

unter uns sehen, der bei der unendlichen Anmuth und Naivität, mit

der uns das alles vorgeführt wird, bei diesen Geschichten etwas an­ deres, als reine Freude an der Darstellung, empfindet.

Nicht minder

die häuslichen Scenen im Olymp: wie Here zankt, und Zeus brummt, ob er sie wieder einmal, wie vordem, zwischen Himmel und Erde

aufhängen solle, und allen Göttern bange wird, bis Hephästos mit freundlichem Zuspruch dazwischentritt und mit seinen lahmen Füßen von einem zum andern hinkt und einschenkt, und nun alle Götter

in

unauslöschliches Gelächter über den geschäftigen Mundschenken

ausbrechen: so macht das auf uns keinen andern Eindruck, als jede

andre gut dargestellte komische Scene.

Anders das griechische Volk:

Für dieses waren diese Geschichten Realitäten, sie glaubten daran, zu diesen parteiischen Göttern flehten sie, diese tief in das Mensch­

liche herabgezogenen Götter waren ihre Vorbilder.

Das mußte ent­

sittlichend wirken, um so mehr, je anmuthiger es dargestellt war.

Das

war der Grund, warum bereits 400 Jahre vor Christo Plato den Homer aus dem Jugend-Unterrichte, dessen Grundlage er bildete,

unbedingt entfernt wissen wollte: für seine Zeit mit vollem Recht.

Das ist die Ursache, warum auch die erste Christenheit sich zu dieser Mythologie und ihren Erzeugnissen in Wort und Bild so ganz anders verhält, als wir, nämlich lediglich ablehnend.

Sie stand einem noch

lebendigen Heidenthum gegenüber, dessen furchtbaren Einfluß sie rings um sich sah, dessen verführende Kraft sie theilweise an sich selbst er­ fahren hatte.

Für sie war ein Absehen von dem religiösen Gehalte

nicht möglich; sie mußte bekämpfen, meiden, von sich stoßen, unter Umständen vernichten, was eben noch Gewalt über die Gemüther

hatte.

In diesem Verfahren nichts, als Fanatismus, sehen, ja davon

wohl gar Veranlassung nehmen, über Barbarei des Christenthums

zu deklamiren, wie das mitunter von enragirtcn Philologen und

Die Götter Griechenlands (Schiller).

23

Aesthetikern geschieht, heißt die Weltlage verkennen oder das künstle­

rische oder antiquare Interesse über das religiöse stellen. Hier dürfte der Ort sein, noch einige Worte"über eim'vielan-

gefochtenes Gedicht von Schiller „die Götter Griechenlands" zu sagen. Man wirst demselben bekanntlich vor, daß es unchristlich eine reine

Apotheose des Heidenthums enthalte.

Was ist davon zu urtheilen?

Es ist einseitig, sofern es nur die Lichtseiten des Heidenthums her­ vorhebt: aber es ist nicht nur hochpoetisch, sondern auch, wenn man

auf den Grund sieht, tief christlich.

Ich wenigstens habe dasselbe nie

lesen können, ohne dabei an den Spruch zu denken:Wie der Hirsch schreit'nach frischem Wasser, so schreit meine Seele nach Gott, nach dem

lebendigen Gott (Ps. 42, 2. 3).

Man vergegenwärtige sich die Zeit, in

welcher das Gedicht geschrieben ist, und den Zustand des kirchlichen Christenthums in ihr.

Es ist die Zeit des Zopfes und der Per­

rücken, unschön, wie nicht leicht eine zweite. bis

zum Uebermaß langweilig war

Und unschön, eckig und

auch die Form,

in

der

das

Christenthum damals auftrat, in der es in gelehrter Weise, wie von den Kanzeln, verkündet wurde.

Konnte diese Weise eine Dichterseele

Aber nicht bloß unschön war das Christenthum, sondern

fesseln?

es war auch, wenige Kreise ausgenommen, todt.

Ein reiner Ver­

standeskram, eine wässrige Moral, wenn es hoch kam, der eiserne Imperativ

des kantischen ernsten, aber starren Pflichtgebots.

Und

diesem Zustand des Religiösen oder, wie wir besser sagen, der Dog­ matik und Moral entsprach auch die sonstige Wissenschaft, nament­

lich die Naturwissenschaft.

Nur Mechanismus und Schematismus,

keine Ahnung von organisch wirkenden Kräften, von lebendigem Zu­ sammenhang, geschweige von der fort und fort in der Welt schaffen­

den, alles in ihr durchdringenden Wirksamkeit Gottes; recht eigent­ lich Gott im Himmel ein leerer Gedanke, hienieden die entgötterte

Natur,

der lediglich durch das Gesetz der Schwere sich bewegende

Erdball.

Ist es da ein Wunder, wenn der Dichter, ich sage, der

Dichter, dieser Dichter, solcher Dürre und Oede gegenüber weh-

muthsvoll nach einer Zeit schaut, in der ihm noch Religion, warme, alles

durchdringende und belebende Religiosität im

höchsten Anmuth

immerhin

und Schönheit entgegentrat,

wenn

Gewände

er

der

in deren

einseitigem Preise bewußt oder unbewußt die tiefe Sehn-

1. Hauptstück. Erstes Gebot.

24

sucht seiner Seele nach einem lebensvollen Christenthum in einer seiner selbst würdigen Gestalt ausströmt?

Ein Freund des „kirch­

lichen" Christenthums seiner und auch unserer Zeit war Schiller nicht, aber ein christlicher Dichter ist er darum doch, auch da, wo er

es selbst nicht weiß, der in seiner hohen Begeisterung für das Gute, Wahre und Schöne mehr in unsrem Volke für das Christenthum gewirkt hat, als alle seine kirchlichen Verächter. —

Auch in unsern Tagen finden wir das Heidenthum nicht nur

außerhalb, sondern auch innerhalb der christlichen Kirche.

Zuerst in

der römischen in der Weise, wie die Heiligen angerufen, ihre Re­

liquien und Bilder verehrt werden.

Zwar die offizielle Lehre der

Kirche ist verhältnißmäßig rein: sofern dieselbe die Anrufung der

Heiligen nicht zur Religionspflicht gemacht hat, sondern sie nur für

nützlich gehalten wissen will und von den Heiligen nur sagt, daß sie für uns bitten, wie das ja auch lebende Menschen thäten; und

daß nicht sie, sondern Gott durch sie und um ihretwillen Wohlthaten

erzeige; sofern sie auch bei den Bildern Bild und Gegenstand unter­ scheidet und die Verehrung nicht auf diese, sondern auf den oder die Heilige, welche sie darstellen, und mittelst derselben auf Gott bezogen wissen will, sich auch über die Wunder der Heiligen und ihrer Re­

liquien sehr vorsichtig ausdrückt und dieselben nicht ihnen, den Hei­ ligen, sondern Gott zuschreibt, der sie auf Bitten der Heiligen ge­ than, sofern endlich im Gottesdienst verschiedene Formeln für die Gebete an Gott (Herr erbarme dich unser) und die Bitten an die

Heiligen (ora pro nobis: bitte für uns) vorgeschrieben und im Schwange

sind.

Das sind bedeutende Zugeständnisse, die man dem Protestan­

tismus gemacht hat, um diesen Aberglauben zu beschönigen; römisch bleibt jedoch, daß die Heiligen als Mittelspersonen zwischen Gott und Menschen angesehen und angerufen werden, was mit den „le­

benden Brüdern" nicht geschieht.

Desto schlimmer steht es mit den

innerhalb der Kirche verbreiteten Vorstellungen, wie mit der von

der Kirche geduldeten, ja begünstigten Praxis: dem plumpen Aber­ glauben, daß jeder Heilige im Himmel sein eigenes Departement

habe, ein bestimmtes Patronat über gewisse Menschen und Gegen­ stände, so daß man in allen Leibes- und Seelennötheir sich nur an

den bestimmten Heiligen wenden dürfe, um Befreiung von diesem

.Heiligenverehrung der römischen Kirche.

25

Uebel zu erlangen: dem Wahne, daß gewisse Gnadenbilder noch jetzt

ausgezeichnete Beweise hoher Wunderkräfte geben, die Augen bewegen, mit dem Kopfe nicken und Thränen vergießen,

wie der heilige

Januarius alljährlich thut; dem Wallfahren zu gewissen Gnaden­

örtern nach Loretto und Einsiedeln und dem schönen Kredit, in welchem einzelne Bilder und Reliquien von Heiligen stehen, dem

Ausstellen und Herumtragen derselben in feierlicher Prozession bei

öffentlichen, wie häuslichen Unglücksfällen, wie Pest, Feuersbrunst und Wassersnoth, in der Erwartung besonderer, außerordentlicher

Wirkungen; dem Gebrauche, bei der Weihung der Kirchen Reliquien

in den Altären zu deponiren *) u. a. m.

Hinsichtlich der Reliquien

hat die Synode von Trient zwar verfügt, daß nicht ohne Vorwissen

der Bischöfe und des Papstes neue Heiligenbilder und Reliquien in den Wunderruf gebracht werden sollen: darum sind derselben nicht

Ja, in Rom besteht noch jetzt eine eigne Con-

weniger geworden.

gregation, welche sich mit Untersuchung, Autorisation und selbst Ver­ sendung von Reliquien an die Kirchen und ausgezeichnete Personen

beschäftigt und in dieser Weise dafür sorgt, daß es nirgends an den­

selben fehle. — Im südlichen Deutschland und in der Schweiz findet man nicht leicht eine größere Kirche ohne Skelette von Heiligen in

ganzer Figur und in Särgen von Glas ’). „Die römisch-katholische Kirche", — sagt ein namhafter evange­ lischer Theologe, dem auch die vorstehende Schilderung entnommen

ist, — „ist in demjenigen, was sie durchgängig in der Wirklichkeit aus den Heiligen gemacht hat, in das Heidenthum zurückgesallen,

und die schwache Gränze, welche sie zwischen Gott und ihnen statuirt in der verschiedenen Anrusungsformel, ist wahrhaftig nicht hinreichend,

eine innige Vermischung heidnischer und christlicher Elemente der

Andacht zu verhüten.

Was man besonders von den Schutzheiligen

und ihren öffentlichen Darstellungen in dieser Kirche hält, steht in der

auffallendsten Aehnlichkeit mit demjenigen, was die Schutzgötter bei

den Heiden waren.

Halte Latium den Saturnus, Kreta den Jupiter,

Samos die Juno, Rom den Mars, Athen die Minerva, Cyprus die ]) In einer Kapsel, Kappa, woher der Name Kapelle kommt. 2) Marheineke in seiner christlichen Symbolik, herauögegeben von Stephan Matthies und W. Vatke; Berlin 1848. S. 209—210..

1. Hauptstück.

26

Erstes Gebot.

Venus, Ephesus die Diana zu ihren Schutzgöttern, so haben in der römisch-katholischen Kirche die einzelnen Staaten

und

Provinzen,

Städte und Mönchsorden, Brüderschaften und selbst einzelne Gegen­

stände, wie Felder und Brücken, ihre besonderen Schutzheiligen und

Patrone.

Der Apostel Jakobus hat das Schutzpatronat von Spanien,

Andreas von Polen und Rußland, Petrus und Paulus von Nom,

die heiligen drei Könige von Köln, der heilige Januarius von Neapel; der heilige Christoffel ist der Patron der Seefahrer, Lukas der Patron der Künstler, Nepomuk steht auf allen Brücken, und wie ragt voll­ ends der heilige Franciscus von Assisi hervor, wie wird er von den einzelnen als Schutzpatron verehrt! Es kommen hiezu die heiligen

Frauen, deren Patronat gar vielfältig gesucht wird, die zahllosen

Märtyrer, welche als Heilige verehrt sind; den Heiligen als Schutz­ patronen sind Berge, Wälder, Quellen, selbst Theater geheiligt, wie

das berühmte Carlo-Theater in Neapel; an Wegen und Landstraßen erheben sich ihre Standbilder in Holz und Stein, ihre Reliquien dienen als Amulette, mit Abbildungen ihrer Wunderkuren sind die

Wände der Kirchen erfüllt, von ihnen sind überall die Kirchen selber benannt."

„Diese Andacht hat nicht mehr zum Gegenstände die

wirkliche Heiligkeit derer, welche als Heilige verehrt werden sollen,

nicht die Erinnerung daran durch theure Zeichen und Spuren ihres

Daseins und Wirkens auf Erden, nicht die reine Huldigung gegen ihre Verdienste, sondern weit mehr wenigstens den persönlichen Vor­ theil und Nutzen, den sie dem Anrufenden gewähren, so daß schon Luther sagte: wo der Nutzen und Hülfe, beide leiblich und geistlich,

nicht mehr zu hoffen ist, werden sie die Heiligen wohl mit Frieden lassen: denn umsonst oder aus Liebe wird ihrer niemand viel gedenken,

achten noch ehren."

Ist das schon in denjenigen Gegenden der

römischen Kirche der Fall, die von dem nahen Protestantismus be­

einflußt sind, so findet es in einem noch gesteigerten Grade in fern abliegenden Ländern z. B. dem ehemals spanischen Amerika statt.

Hier ist,

wie alle Berichte übereinstimmen, die Vorstellung

von

einer Vorsehung, die als einheitliche und ungeteilte Macht über den

Menschen waltet, völlig verloren gegangen; sie ist dem „Gläubigen" eine Vielheit von Mächten und Organen, deren jede er nach ihrer speziellen Macht und Wirksamkeit behandelt, je nachdem der Fall ist,

27

Pantheismus und Materialismus.

bald diesem bald jenem Heiligen oder Heiligenbilde seine Anliegen vorbringt, sein Licht anzündet, goldene Ketten, Gewänder, Weihge­

schenke, Abbildungen kranker Gliedmaßen in irgend welchem bildsamen Stoff, eine silberne Rippe, ein kupfernes Bein, eine Nase und Ohr u. s. w. verspricht, und im Fall der Gewährung und Genesung auch

vor dem Heiligen aufhängt: wo nicht, sein Versprechen zurücknimmt

und sich an einen andern wendet: denn der Mangel an Erkenntlich­ keit und gutem Willen muß bestraft werden; gerade, wie. es

der

schlimmste Götzendiener mit seinem Götzen treibt. — Von diesem Rückfalle in das polytheistische Heidenthum ist in

unsrer Kirche natürlich keine Rede, dagegen droht.ihr von einem

philosophischen Heidenthum Gefahr, dem Pantheismus und dem Materialismus.

Unter dem ersteren versteht man diejenige Auf­

fassung Gottes, welche, den Unterschied zwischen Gott und Welt auf­

hebend, die Welt selbst, das Weltall für Gott (pan-theos) hält. wird angeschaut als

das

Gott

die Welt durchdringende Leben, das in

allem, nur in verschiedener Weise, erscheint, so daß alles an der

Göttlichkeit — dem Gottsein Theil hat, welches im Feuer leuchtet, in der Blume duftet, im Vogel singt, im Tiger brüllt, im Menschen denkt.

Gott ist nicht der persönliche ewigseiende Gott, der Schöpfer

der Welt, sondern er ist ein werdender, der sich in und mit der Welt entwickelnde, werdende, bis er endlich im Menschen „zu sich selbst kommt", Person wird.

richtig

Daß bei einer solchen Lehre, wenn sie folge­

durchgeführt wird,

auf der Hand.

keine Religion

ist, liegt

mehr möglich

Eben so hört dabei bei folgerichtigem Denken jede

Unterscheidung von Gut und Böse, jede Sittlichkeit auf.

Denn, wo

Gott in allem, und alles nur eine Erscheinung seiner ist, wie kann da noch von Bösem die Rede sein? — sondern nur von mehr oder-

minder Entwickeltem, Kräftigerem, Angenehmen oder Unangenehmen, Häßlichem oder Schönem hätte man ein Recht zu sprechen.

Dessen

ungeachtet findet sich — und sogar tiefe, innige — Religiosität und

Sittlichkeit bei pantheistischen Anschauungen. die Menschen selten folgerichtig denken.

Der Grund ist, daß

Cs ist unglaublich, welche

Widersprüche der Mensch in sich vertragen kann, und

in welchem

Maße ein gesunder Sinn selbst arge Irrthümer des Verstandes

praktisch unschädlich macht.

Ein namhafter liebenswürdiger Denker

28

1. Hauptstück.

Erstes Gebot.

des vorigen Jahrhunderts, Jakobi, bekannte in dieser Beziehung von sich selbst, daß er seinem Kopfe nach ein Heide, in seinem Herzen

ein Christ sei.

Darauf hin sollen wir auch mit den Menschen ver­

fahren und bei unsrem Urtheil über sie nicht bloß, was sie sagen, sie meinen, — oder, wie Gott, „das Herz an­

sondern auch, was sehen".

Zumal auch vieles für Pantheismus ausgegeben wird und

so aussieht, was

er ganz und gar nicht ist, sondern ächt christlich

die Behauptung des lebendigen Waltens Gottes in der Welt, andrer­ seits die Ablehnung beschränkender menschlicher Prädikate oder solcher, die dafür gehalten werden, in ihrer Anwendung aus Gott.Z

Wer

betet, ist kein Pantheist, kann keiner sein, und wenn er und die halbe

Welt ihn dafür hält.

Bei alle dem bleibt, daß auch der nur theo­

retische Pantheismus ein gefährlicher Irrthum ist.

Schlimmer noch und verderblicher wirkend, als der Pantheis­ mus, ist der neuerdings wieder aufgekommene und mit vieler Zuver­ sicht und großem Geschrei verkündete Materialismus.

Pantheismus — immer bei

Wenn

der



das

folgerichtiger Durchführung

Dasein eines von der Welt unterschiedenen persönlichen Gottes in Abrede stellt,

beziehungsweise

unmöglich

macht,

so

läugnet

der

Materialismus Gott überhaupt, ja jedes Uebersinnliche, selbst den menschlichen Geist.

Ausschließlich von der sinnlichen Erfahrung aus­

gehend und diese allein

als Erkenntniß gelten lassend,

erkennt

er

2) Lediglich aus diesem Grunde weigern sich viele, welche übrigens mit Gott ganz, wie mit einem persönlichen, umgehen, das Prädikat der Persönlichkeit auf ihn zu übertragen. Persönlichkeit sei ein Beschränkendes: denn sie sei nicht möglich ohne ein Anderes außer Einem, im Unterschiede von welchem, beziehungsweise tut Gegensatze zu ihm, das persönliche Wesen sich eben als solches erfasse. Gott, der alles in allem erfülle, könne nicht gedacht werben mit einem Anderen außer ihm, zu welchem als einem Zweiten er sich nur als der Erste verhielte. Und wenn doch, so sei das gerade der Beweis, daß er nicht in sich selbst schon persönlich sei, sondern es erst an und mit diesem Anderen werde. Das ist jedoch nicht richtig. Es liegt keineswegs so, daß das Bewußtsein der Persönlichkeit erst mit der Unter­ scheidung von einem Anderen entstehe, in dieser Unterscheidung sein Wesen und seine Wurzel habe. Das ist bei uns so, Persönlichkeit an sich wurzelt vielmehr in der Selbstbestimmung und ist in ihrer höchsten Potenz geradezu identisch mit

derselben. „Gott ist persönlich" heißt: er ist im vollen Sinne und ganzen Um­ fange causa sui. Er nur bestimmt sich selbst und dann auch alles Andere außer ihm, sein Werk. —

Pantheismus und Materialismus.

29

nur, was er mittelst derselben wahrnehmen kann, die ewige, in allem Wechsel ewig dieselbe Materie, als Grund alles Seins und Geschehens

an.

Kraft und Stoff: das ist alles, außerdem existirt nichts: was

wir außerdem für seiend halten, das sogenannte Uebersinnliche ist entweder nichts, oder es ist materiell, eine Aeußerung oder Funktion

der Materie.

Selbst unser Denken ist nur eine Thätigkeit, eine

Ausstrahlung, Secretion des Gehirns, Secretion der Haut ist.

trinkt und verdaut.

ähnlich wie der Schweiß

Der Mensch ist und denkt, wie er ißt und

Bei gesunder Kost und normalem Körperzustande

denkt und empfindet und strebt er richtig; bei mangelhafter und

falscher Ernährung und gestörter Gesundheit werden alle diese Funk­ tionen abnorm. dumm.

Wer seinen Leib stets nur mit Kartoffeln füllt, wird

Und das alles mit einer Zuversicht und Selbstgefälligkeit

und einer so souveränen Verachtung jedes andern Standpunktes, als hinge von dieser Lehre das Heil der Welt ab.

Es kann ja sein,

daß in Folge jener bereits erwähnten ungemeinen Jnconsequenz der

meisten Menschen auch bei Denkern dieser Art, sei es als Rest frü­

herer besserer Denkungsart, sei es als Anflug von außen her oder als Wirkung unverwüstlicher ursprünglicher Gutartigkeit, noch Spuren von Gemüth und Gewissen sich erhalten haben.

Nur die Lehre bringt

es nicht. Diese ist das Unwürdigste und Verderblichste, was je ge­ dacht worden ist, der reine Todtschlag alles Höheren im Menschen, ein Attentat gegen die „Menschheit". Wenn es möglich wäre, daß diese Lehre jemals die allgemeine Ueberzeugung und Besitz der ge­

jammten menschlichen Gesellschaft in der Weise und dem Sinne werden könnte, in welchem es die Religion gewesen ist und, Gott sei Dank, noch immer wesentlich ist, so wäre das der Anfang nicht der angestrebten hoch gepriesenen Humanität, sondern der reinen Bestia­ lität.

Wie wir das ja sehen, wo diese Lehre in die rohe und un­

gebildete Masse fällt.

Zum Glück wird nicht nur dieses, sondern

auch das wissenschaftlich Unhaltbare, die Oberflächlichkeit des Denkens, das Willkürliche in der Deduktion, die Widersprüche, in denen sich

diese Lehre trotz alles Scheines von Wissenschaftlichkeit und aller uns hier und da begegnenden wirklichen Gelehrsamkeit bewegt, mehr und mehr erkannt: und beginnen alle wirklichen Denker sich derselben zu schämen. — Damit sollen die Verdienste, welche sich manche dieser

1. Hauptstück.

30

Erstes Gebot.

Materialisten durch ihre Entdeckungen und Forschungen innerhalb

ihrer Spezialgebiete erworben haben, nicht geläugnet werden.

Hier

ist nur die Rede von dem System, von diesem wird behauptet, daß

es nicht nur ein unsittliches und verwerfliches, sondern

auch ein

wissenschaftlich unhaltbares, eine Schmach namentlich für unser deut­ sches Denken ist.

Doch weder jenen polytheistischen Kultus noch diese pantheisti­ schen und materialistischen Verirrungen allein haben wir in's Auge

zu fassen: man kann auch gegen das erste Gebot sündigen, wenn man sein Herz aus sündige Weise an die Kreatur hängt, wenn man

irgend etwas, was nicht Gott ist, mehr liebt, ehrt, fürchtet, sucht

oder mehr darauf vertraut, als auf Gott, mit einem Worte, wenn

man sein Herz an die Kreatur hängt auf eine Weise, die sich nicht

geziemt. Denn „also" sagt Luther in seinem großen Katechismus „ist es um alle Abgötterei gethan; sie stehet nicht allein darin, daß man ein Bild aufrichtet und anbetet, sondern vornehmlich im Herzen,

welches Hülfe und Trost sucht bei den Kreaturen und sich Gottes nicht annimmt, noch so viel Gutes sich zu ihm versieht, daß er wolle helfen, glaubt auch nicht, daß von Gott komme, was ihm Gutes widerfährt." — Und abermals: „Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat, verlässet

und brüstet sich darauf so steif und sicher, daß er auf niemand nichts giebt.

Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißet Mammon,

d. i. Geld und Gut, darauf er alle sein Herz setzet, welches auch der allergemeinste Abgott ist auf Erden." In diesem Sinne spricht auch die Schrift (Phil. 3, 19) von

Leuten, denen der Bauch ihr Gott ist: und nennt den Geiz Abgötterei (Kol. 3, 5): obwohl es noch keinem eingefallen ist, vor seinem Geld­

sack zu knien oder seinen Bauch anzubeten: sondern nur ihr Dichten und Trachten ist auf sündige Weise hie auf den Genuß dort aus den Be­

sitz gerichtet.

So kann zuletzt alles, auch, was an sich ein Gut ist und

Berechtigung hat, guter Name, Ehre, Gesundheit, Liebe der Menschen, Gunst der Gebietenden, Wirksamkeit zu einem Abgotte, d. i. zu etwas,

was uns von Gott abführt, werden, wenn man es auf eine selbst­

süchtige, leidenschaftliche Weise liebt oder sucht: so kann man seine besten Gedanken, seine Ideale vergöttern und Wissenschaft und Kunst

31

Gott fürchten, lieben und vertrauen.

auf eine götzendienerische Weise pflegen.

Das ist der sogenannte „fei­

nere" Götzendienst des Herzens, der freilich in einer andern Gestalt austritt, als jener „gröbere", der Kniee beugt, und dem er — wir

erinnern uns — die Wege bereitet; aber er ist nicht um ein Haar besser, ist eben so unsittlich und wirkt eben so entsittlichend und for­ dert, wenn auch in anderer Form, dieselben entsetzlichen Opfer, wie

jener.

Oder zerfleischt nur der Heide seinen Leib und verstümmelt

seine Glieder, schlachtet Menschen,

bringt sich und seiner Kinder

Leben und Unschuld seinem Götzen dar? Läßt denn nicht auch der

Geizige seinen Leib brennen und opfert seine Gesundheit, seine Ehre,

das Wohl der Seinen auf, nur, um Geld zusammen zu scharren?

Und was thut der Spieler, der Trinker? was der Vergnügungs­ süchtige?

Wie viele Hekatomben nicht von Thieren,

sondern von

Menschen hat Herrschbegierde und Ehrgeiz auf den Schlachtfeldern

geopfert? wie viele Brandopfer Fanatismus angezündet? Wie ost ist Ehre, Tugend, Gewissen um der Gunst der Mächtigen willen weg­

geworfen, Freundschaft, Liebe, geschworne Eide, Religion, Gott um

das gnädige Lächeln eines Menschen, wie wir, verrathen worden? Täusche man sich nicht: getrieben

wird,

der Götzendienst, welcher in dieser Weise

ist eben so schlimm, wo nicht schlimmer und —

da wir die Wahrheit wissen und Gott kennen, verantwortlicher, als irgend ein andrer; und haben wir allen Grund, immerdar der Warnung

hannes

eingedenk

zu sein,

sein Sendschreiben

mit

welcher

der Apostel Jo­

an seine Gemeinde — Christen und

nicht Heiden — schließt: „Kindlein, hütet euch vor den Abgöttern!"

(1. Joh. 5, 21.) Das erste Gebot wird erfüllt, wenn wir „Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen." Das ist richtig, wenn man es richtig versteht, wenn man nämlich dieses dreifache nicht als ein dreifaches, sondern als ein einfaches auffaßt, in welchem jedes dieser drei mit den

andern innerlich verbunden und so geeint ist, daß nie eins ohne die andern ist. Die höchste Furcht nicht ohne die höchste Liebe und das höchste Vertrauen, in denen sie wurzelt, und von denen sie durchdrungen und getragen wird, die höchste Liebe nie ohne die höchste Furcht und

das höchste Vertrauen, und das höchste Vertrauen nie ohne die höchste Furcht und die höchste Liebe.

Wo man dagegen diese Einheit löst

1. Hauptstück.

32

Erstes Gebot.

und läßt die drei drei sein: da wird die Erklärung falsch, und taugt

keins der genannten etwas, noch auch sie alle zusammen. Zuerst: Furcht, in der nicht zugleich Liebe und Vertrauen ist, ist nicht die rechte Furcht; weit entfernt, Gott zu ehren, gereicht sie vielmehr ihm, wie uns, zur Unehre: und zwar um so mehr, je mehr

sie buchstäblich Gott über „alle Drnge" fürchtet. Was heißt denn fürchten? Sich von einem Menschen oder Dinge etwas Uebles versehen! So fürchtet der Mensch Leiden, Krankheit,

Noth, Schande,

ein reißendes Thier,

einen gewaltigen Menschen.

Und über dies alles soll er nun Gott, die Strafe Gottes fürchten?

Heißt das nicht Gott in die Reihe der Uebel stellen, wo nicht ihn zum größten aller Uebel machen? — Wovon man Unangenehmes, Wider­

wärtiges, Böses erwartet, dem geht man möglichst aus dem Wege, flieht es.

So meidet auch Gott, wer ihn nur als einen Gegenstand

der Furcht kennt.

Wo der wahrhaft Gottesfürchtige sich nach Gott

sehnt, sein Wort gern hört und lernt: läuft dieser vor allem, was

Gottesdienst heißt, als drohte ihm ein Schade, entzieht sich nicht bloß

der aufdringlichen und salbadrigen Erinnerung an Gott, wie wir alle thun, sondern jeder Mahnung an Gott, jeder Verkündigung seines

Wortes.

Und wo er derselben nicht entgehen kann, da widerstrebt

er inwendig, sucht den Eindruck los zu werden, den unwillkommenen Gedanken an Gott sich aus dem Sinn oder, wie wir sagen, in sich todt zu schlagen.

Die Furcht schlägt in Feindschaft um — Furcht

und Haß sind überhaupt nur die entgegengesetzten Pole einer und derselben Regung.

Niemand hasset, befehdet und verfolgt, wovor er

nicht irgendwie Furcht hat:

andererseits wird man noch immer, was

einem Uebles droht, bekämpfen und, wo man ihm nicht entgehen kann, zu vernichten suchen.

So nimmt schon das schwächste Thier, wenn es

in die Enge getrieben wird, eine drohende Haltung an und setzt sich,

wenn es kann, zur Wehr: so bäumt sich auch in dem Menschen die Furcht und Angst gegen den unwillkommenen, lästigen und quälenden

Gottesgedanken auf, und erzeugt in ihm jene Feindschaft gegen Gott,

von der die Schrift sagt, daß wir uns alle von Natur unter der­ selben befinden und in ihr verharren, bis wir durch Christum mit

Gott versöhnt sind (Röm. 5, 10; Kol. 1, 21).

Freilich sind die

wenigsten sich dessen bewußt, schon darum nicht, weil auch die Furcht

Gott fürchten, lieben iirtb vertrauen.

33

selten unvermischt auftritt; am wenigsten haben wir, die wir immer

schon unter dem Einfluß des Christenthums leben, ein klares Be­ wußtsein von der Feindschaft des natürlichen Menschen; daß sie dessen ungeachtet auch in uns spurweise vorhanden ist, des werden wir inne werden, wenn wir in ernstem und gewissenhaftem Nach­

denken uns klar zu machen suchen, was der eigentliche und letzte Grund unserer Abneigung gegen gewisse Dinge und Persönlichkeiten ist, denen wir im Grunde nichts anderes vorzuwerfen haben, als,

daß sie uns den Gottesgedanken in seinem ganzen Ernste nahebringen. Andererseits zeigen gerade in unseren Tagen nicht selten Beispiele,

bis

zu

welchem

Hasse

bewußten

gegen Christenthum,

Religion,

Gott diese in der Furcht wurzelnde Abneigung des Menschen gegen

das Göttliche führen kann. — Das ist und wirkt die Furcht vor Gott über alles ohne Liebe Zustand,

von welchem

in

und Vertrauen — ein

vollem Maße

gilt,

daß

entsetzlicher

„die Furcht

Pein hat" (1. Joh. 4, 18).

Anders diejenige Furcht vor Gott, die in der Liebe und in dem Vertrauen wurzelt und von ihnen durchdrungen ist. Giebt es eine

solche?

Die Ehrfurcht, welche wir als Kinder gegen unsre Eltern

empfinden, bildet sie vor; in dem Glauben an Christus, der uns zu Kindern Gottes macht, wird sie uns zu Theil.

Allerdings auch ein

Kind, das GotteSkind fürchtet den Vater. Es wird ihm nur mit Ehrfurcht nahen, mit Ehrerbietung von ihm sprechen, mit heiliger Scheu zu dem Heiligen emporschauen: aber es flieht nicht vor ihm, weil es sich keines Ueblen von ihm versieht: es flieht nicht, wenn er kommt, wie eine gescheuchte Katze, in den Winkel; sondern es sehnt sich

nach ihm, eilt ihm entgegen, hängt an seinem Halse, dessen Liebe und

Güte es erfahren.

Es ängstigt sich auch nicht vor Gottes Zorn,

noch bebt es, wo es etwa gefehlt hat, vor der Strafe; denn es weiß, „der Vater wird sich nicht ungeberdig stellen" und, wenn er straft,

um das Kind zur Erkenntniß seines Unrechts zu führen, auch das

in Liebe und aus Liebe und in einer Weise thun, daß dem Kinde kein Uebles geschieht, sondern die Züchtigung lediglich zu einer Hülfe

und Unterstützung im Guten dient.

Es denkt gar nicht an Strafe.

Woran es denkt, was es scheut, ist, daß es den Vater betrüben, diesem Vater Schmerz oder Kummer bereiten könnte. (ältester Materialien. 2. Auflage.

Wie sollte ich 3

1. Hauptstück. Erstes Gebot.

34

solches Unrecht thun und wider den Herrn, meinen Gott, sündigen!

davor fürchtet es sich mehr, als vor allem anderen; und läßt lieber alles über sich ergehen, als daß es wissentlich „in eine Sünde willigte,

noch thäte wider Gottes Gebot" (Tob. 4, 6; 1 Mos. 39,9).

Und in dieser Gottesfurcht weiß es auch nichts von der Pein, die sonst der Furcht beiwohnt, aus welcher der Mensch, der sich nach Gott immer nur umschaut, wie der Knecht nach dem Stecken des

Gebieters, nimmer herauskommt.

Im Gegentheil: diese Furcht be­

seligt es: wie wir ja auch Menschen gegenüber erfahren, daß wir uns nicht Wohler, nicht glücklicher fühlen, als, wenn wir einen haben, an dem wir mit ganzer ungeteilter Ehrerbietung emporzuschanen

vermögen. Gleicherweise ist auch unsre Liebe zu Gott nur dann die rechte, wenn sie mit der höchsten Furcht und dem höchsten Vertrauen ver­

bunden ist.

Von dem Vertrauen versteht sich das von selbst.

Wie

kann, wie wird man wohl lieben, wem man mißtraut?

Aber auch von der Furcht läßt es sich mit leichter Mühe nachweisen. Aller­ dings sagt die Schrift, Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die

völlige Liebe treibet die Furcht aus; wer sich fürchtet, ist nicht völlig

in der Liebe (1 Joh. 4, 18).

Und ist das ja, wie sie es meint,

vollkommen wahr und soll wahr bleiben.

Dennoch haben auch wir

Recht und werden trotz des scheinbaren Widerspruchs mit dem Buch­

staben der Schrift auch von dieser Recht bekommen, wenn wir be­ haupten, Furcht — nämlich in unserem Sinne — ist doch in der Liebe, ja es giebt keine wahre, reine, geistige Liebe, als welche in

der Furcht, der Ehrerbietung, dem Respekte vor dem, welchen man liebt, wurzelt und davon getragen wird. Das gilt unter allen Um­ ständen und für alle Verhältnisse, von den über uns gestellten, den eigentlichen „Respektspersonen" herunter bis zu denen, die in jeder

Beziehung unter uns sind, unsren Zöglingen, unsren Schülern, den

unmündigen Kindern. Das mag manchem zunächst sonderbar vor­ kommen und namentlich in den genannten selbst wohl ein gewisses Lächeln erregen, wenn sie hören und sich vorstellen, daß wir, die

Eltern, Lehrer, Erzieher, Respekt vor ihnen haben sollen.

Dessen­

ungeachtet ist es so: freilich vermögen wir es nicht vor ihnen, wie sie sind, wohl aber müssen wir es vör dem, wozu sie bestimmt sind.

Gott fürchten, lieben und vertrauen.

35

Wehe dem Lehrer, dem Vater, der Mutter, die der Bestimmung ihrer

Kinder zu dem Höchsten, der Theilnahme am Heile in Christo, am

Himmelreiche

vergäßen,

den

Keim

nicht

achteten,

welchen

sie

dazu in sich tragen, geschweige denselben verletzten und tödteten! Das ist der Grund, weshalb selbst rohere Menschen nicht leicht in

Gegenwart von Kindern ihre Roheit zeigen mögen und, die sich sonst

vor nichts und niemandem scheuen, Kindern, ihren Kindern gegen­ über sich einigermaßen zügeln.

Das ist das sichere Merkmal, woran

wir überall wahre und falsche Liebe unterscheiden können.

Wer die

Achtung gegen uns verletzt — sei es, daß er sich in unsrer Gegen­

wart gehen läßt, sich Leichtfertigkeiten und Unwürdigkeiten erlaubt,

uns zu Unrecht und Sünde verleiten will, sei es, daß er uns schmeichelt und dadurch seine Nichtachtung bezeugt, des Liebe zu uns ist eine Heuchelliebe oder, wenn sie wirklich von ihm empfunden wird, doch

keine wahre Liebe, sondern eine sinnliche Leidenschaft, welche, je maß­ loser und heftiger sie auftritt, um so weniger diesen heiligen Namen verdient.

Ebenso ist es mit unsrer Neigung zu andern.

Auch hier

gilt: wen wir nicht achten, in wessen Nähe wir uns nicht unwill­ kürlich sittlich gehoben und durch den Gedanken an ihn gebessert

fühlen, für den empstnden wir keine reine Zuneigung, und wir haben

allen Grund, unsre Liebe zu ihm und unsre Freundschaft mit ihm zu überwachen, daß sie uns nicht in das Verderben führe. — Es bedarf keiner längeren Ausführung, daß das Gesagte auch auf die

Liebe zu Gott Anwendung finde, daß auch hier die höchste Liebe nur

da eine reine sein und wirklich ihn lieben werde, wenn sie mit der Ehrfurcht verbunden ist, welche das Wesen des Heiligen fordert, jede andere dagegen, wo nicht erheuchelt, so doch mit unlauteren, selbstsüchtigen und sinnlichen Elementen vermischt sein und nicht Gott,

sondern etwa den Gaben, die er giebt, den Gütern, die wir von ihm erwarten, unserm Wohlbefinden, Genuß u. s. w. gelten werde. Es fragt sich nur, ob es denn eine solche Liebe zu Gott ohne die Ehrfurcht vor ihm wirklich gebe. Da brauchen wir nur auf die zahllosen aufmerksam zu machen, die die Liebe zu Gott und den

lieben Gott beständig im Munde führen, sich auch äußerlich an ihn

halten und selbst fleißig in frommen Uebungen sind, im übrigen aber lassen sie Gott, wie man sich ausdrückt, „einen guten Mann" 3*

36

1. Hailptstück. Erstes Gebot.

sein, der sie um's Himmelswillen nicht ernstlich auf die Probe stellen darf, ohne daß sie murren; auf die andern, die sich in schwärme­

rischen Liebesgesühlen ergehen, im übrigen aber dem Gottesgedanken

keinen oder einen gar geringen Einfluß auf ihr sittliches Verhalten einräumen; endlich auf die, welchen die Liebe zu Gott und der Eifer für seine Sache sogar den erwünschten Vorwand giebt, in majorem

Dei gloriam „zur größeren Ehre Gottes" seinen eigenen Geboten zu widersprechen: die brauchen wir nns nur vorzuführen und uns die unglaubliche Duselei der einen, die sittliche Schlaffheit und den

abscheulichen Mißbrauch der andern vor Augen zu halten, um zu erkennen, wie noth es in unsren Tagen thut, daß ihnen die Furcht

Gottes gepredigt werde: Wenn ihr Gott liebt, so haltet seine Gebote; wo nicht: „irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten; was der Mensch säet, das wird er ärnten" (Gal. 6,7). Endlich giebt es auch, wie wir alle wissen, ein sehr starkes und

festes und dabei wahrhaft gotteslästerliches Vertrauen.

Wenn der

italienische und spanische Bandit, ehe sie auf Raub ausgeheu, zuvor Messe hören oder vor irgend einem Bilde eine Kerze anzünden und

nun fest darauf vertrauen, daß der Raub gelingen, und sie kein Schade

treffen werde, wer will in Abrede stellen, daß das Gott nicht ehre,

sondern schände? Wenn der Vorwitzige das thut, was unser Heiland, als der Versucher an ihn herantrat, ablehnte, daß er sich nämlich ohne Noth in Gefahr begeben und unberufen und ungeheißen vom Tempel

springen solle, da er sich ja darauf verlassen könne, daß Gott ihn schützen werde: so erkennt jedweder, daß solch ein Uebermuth ebenfalls

nicht Gottvertrauen, sondern, wie es der Heiland nennt, ein Gott­ Nicht minder, wo -einer träge die Hände in den Schoß

versuchen ist.

legt, statt seine Pflicht zu thun, und denkt, Gott soll ihn nähren, oder ein anderer in heilloser Ueberschätzung seiner selbst und Ver­

kennung des,

was ihm Noth, erwartet, Gott solle und werde auf

sein Gebet hin, bloß, weil er so zuversichtlich, eigentlich unkindlich und aufdrängerisch ist, seinen heiligen Rathschluß ändern und nahezu

seine Weltordnung auf den Kopf stellen: so ist auch das ein solches,

welches wir trotz aller wirklichen oder eingebildeten Festigkeit des Vertrauens nicht loben, sondern ernstlich tadeln werden. Fragen wir aber, was das sei, was in allen diesen Fällen ein derartiges falsches

Gott fürchten, sieben und vertrauen.

37

Vertrauen aufkommeu läßt, beziehungsweise ein ursprünglich richtiges verdirbt: so ist es das, daß solches Vertrauen der Furcht und der

Liebe Gottes ermangelt.

Wer Gott fürchtet, wird ihm nicht zumuthen,

Unlauteres und Sündiges zu unterstützen: wer Gott liebt, nichts

Eigenwilliges und Selbstsüchtiges bei ihm suchen. trauen und in seinem Berufe bleiben.

Er wird Gott ver­

Er wird sich gewissenhaft

fragen, ist das Gottes Gebot und Rath, ist das Pflicht? Dann wird

er furchtlos stehen, wohin ihn Gott gestellt, ausrichten, was ihm Gott befohlen, ertragen, was ihm Gott auferlegt: gewiß, daß Gott

diejenigen, welche seine Wege gehen, auf diesen Wegen behütet und ihnen nichts geschehen läßt, als, was zu ihrem zeitlichen und ewigen

Frieden dient').

Zweites Gebot. Du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen miß­

braucht (2 Mose 20, 7). — Hier kommt es auf zwei Worte an: 1) was der Name Gottes

sei, 2) wodurch derselbe gemißbraucht werde.

Unter dem Namen Gottes verstehen wir jede Bezeichnung Gottes

in weiterem Sinne, alles, was dazu bestimmt ist, an ihn zu erinnern, insbesondere, was zum gottesdienstlichen Gebranch ausgesondert ist, alles Heilige; so daß man das 2. Gebot auch so ausdrücken kann:

du sollst das Heilige heilig halten.

In diesem Umfange umfaßt der

Name Gottes a. eigentliche Namen, Worte, mit denen wir Gott be­

nennen, b. heilige Dinge, c. heilige Handlungen.

Das Gebot be­

zieht sich auf alle drei. Die Araber nennen Gott das Wesen von tausend Namen, um damit seine über alle menschliche Rede erhabene Herrlichkeit zu be­ zeichnen.

Wer kann den Reichthum der Liebe, Weisheit, Macht,

■') Nom. 8, 38. 39. Ich bin gewiß u. s. w. Sieb > Ein' feste Burg ist unser Gott — Und wenn die Welt voll Teufel wär' u. s. w. Luther auf dem Wege nach Worms: Und wem, in Worms soviel Teufel wären, als Ziegel anf den Dächern rc.

1. .Hauptstück. Zweites Gebot.

38

kurz des Wesens Gottes ausreden?

Diese Fülle des Wesens Gottes,

die unendliche Mannigfaltigkeit seiner Osfendarungen und Beziehungen zu uns bringt es mit sich, daß auch wir zahllose Bezeichnungen für

Gott haben und

bedürfen.

Diese Bezeichnungen sind in mannig­

facher Hinsicht verschieden, sofern die einen Gott auf eine ursprüng­

liche Weise bezeichnen

und so gut wie ausschließlich von ihm ge­

braucht werden, wie Gott, Jehovah (der Ewige), der Allmächtige

u. s. s., andere dagegen uneigentlich erst von Menschen und mensch­

lichen Verhältnissen her auf Gott übertragen worden sind oder über­

tragen werden, als: Vater, Herr, König — der Gerechte, der Weise ii. a. mehr.

Andererseits freilich werden auch jene Namen,

lich in gewissen Beziehungen und

natür­

sich von selbst verstehenden Be-

gränzungen, ab und zu wieder auf Menschen übertragen, wie, wenn

nicht bloß wir, sondern auch die heilige Schrift Fürsten und

Ge­

waltige Götter, die Götter der Erde nennt (Ps. 82, 6; Joh. 10, 34f.), oder wenn wir von einem allmächtigen Minister sprechen:

so daß

der Unterschied ein fließender ist. — Ein anderer Unterschied ist der des Umfanges, daß etliche Gottesnamen Gott auf eine umfassendere

Weise bezeichnen, als andere, die nur einzelne Beziehungen hervor­ heben, — oder des gemüthlichen Gehalts, daß in etlichen die Innig­ keit unseres Verhältnisses zu Gott stärker hervortritt:

wie denn in

beider Beziehung der Ausdruck Vater »der Vater im Himmel eine

andere Tragkraft hat, als, wenn wir sagen:

weiser, Gerechter u. dgl. m.

Allmächtiger oder All­

Endlich findet noch

ein bedeutender

Unterschied, daß ich so sage, in der Nähe oder Ferne der Beziehung

statt, daß ein Theil der Gottesnamen Gott direkt und unmittelbar bezeichnet, andere dagegen erst durch eine Umschreibung,

maßen ans einem Umwege zu ihm führen.

gen sind:

der Himmel, die göttliche

gewisser­

Dergleichen Bezeichnun­

Vorsehung,

das

allwaltende

Schicksal und andere, namentlich in den Schwüren häufig angewendete Umschreibungen.

Alles dieses ist nicht ohne Bedeutung; vielmehr

hängt von dem richtigen Gebrauch dieser verschiedenen Bezeichnungen

in hohem Grade das Angemessene oder Unangemessene, das Ergrei­ fende oder Kaltlassende unserer religiösen Aussprache ab.

Nur in

einem Stücke findet kein Unterschied statt: Alle diese Namen sind

gleich heilig, weil sie insgesammt Bezeichnungen des Heiligen, Gottes

Gottes Nomen.

Falsche Unterscheidungen.

39

sind, die Heiligkeit aber nicht im Laute, sondern nur in der Bezie­ hung auf das Heilige liegen kann.

Trotzdem werden auch in dieser

Hinsicht öfter recht verhängnißvolle Unterscheidungen gemacht.

grellsten tritt uns das bei den Juden entgegen, welche denjenigen Namen,

Am

bekanntlich

unter welchem sich Gott dem Moses offenbart,

den Bundesnamen „Jehovah", für einen heiligeren, als alle anderen, ja für den ausschließlich

heiligen hielten und darum bis auf den

heutigen Tag, um ihn nicht zu entweihen, überhaupt nicht in den

Mund nehmen wollen.

Noch heute sprechen rechtgläubige Juden den

Namen Jehovah niemals aus, sondern, wo Jehovah steht, da lesen

und sprechen sie statt dessen Adonai (mein Herr).

Da ist richtig

die Heiligkeit in die Lautverbindung gesetzt: während man sich an­

drerseits dem Wahn hingiebt, sich bei Dingen, welche zum Gebrauche

gegeben sind, durch Nichtgebrauch am sichersten vor Mißbrauch zu schützen ').

Je häufiger, wenn auch nicht gerade in dieser Weise,

derartige Unterscheidungen auch unter uns gemacht werden, und je

wichtiger sie sind, insbesondere für die Lehre vom Eide, bei der wir nochmals auf dieselben zurückkommen werden, um so mehr betonen

wir: hierin d. i. in Bezug auf die Heiligkeit ist kein Unterschied, sondern jede Bezeichnung Gottes ist als solche gleich heilig.

Jeder

Laut unsrer Zunge, jedes Wort unsrer Sprache, welches es sei, und welche Bedeutung es sonst im profanen Gebrauche habe, wird Gott

damit angerufen,

der Ewige damit bezeichnet,

so sind sie heilige

Gottesnamen; und umgekehrt: jedes andere Wort, welches sonst in der Regel, ja fast

ausschließlich von Gott und göttlichen Dingen

gebraucht wird und dadurch einen gewissen Charakter der Heiligkeit angenommen hat, es verliert diesen Charakter, so wie es eben nicht

mehr aus Gott bezogen wird 2).

Denn Gott ist der Heilige, und die

Beziehung auf ihn macht den Namen heilig, nicht der Laut. Entsprechendes gilt auch von den heiligen Dingen.

Keins der­

selben ist an sich heilig, sondern jedes derselben wird geheiligt durch

') Bekanntlich die Weisheit des unnühen Knechtes, der sein Pfund, um es »licht zu verlieren, vergräbt (Matth. 25, 14 s.).

-) Z. B. wenn wir Vvu denen sprechen, deren Gvtt ihr Bauch ist: oder wenn wir von den Göttern der Heiden reden und deren Namen anrufen, die für uns nichts sind.

1. Hauptstück.

40

Zweites Gebot.

den Gebrauch, zu dem es bestimmt ist, durch die Beziehung auf Gott,

den religiösen Zweck, welchem es dient.

Dadurch sind sie andrerseits

alle gleich heilig, und ist trotz aller sonstigen Unterschiede unter ihnen

in dieser Beziehung kein Unterschied, soll auch ein solcher nicht ge­

macht werden.

ja unmöglich

Nehmen wir z. B. die kirchlichen Gebäude, so ist es

die unendliche Verschiedenheit zu übersehen,

unter ihnen stattfindet.

welche

Sie springt in die Augen und ruft die

Frage auf, welche unter diesen alten und neuen, schönen oder minder

schönen Kirchen die älteren, die schöneren, die prachtvolleren, weiter die den religiösen resp, confessionellen Charakter am bestimmtesten

ausprägenden, die angemessensten seien.

Wenn dagegen einer fragen

wollte, welche von zwei oder mehreren Kirchen die heiligere sei, so wird jedermann staunen.

Die Frage hat ein für allemal keinen

Raum, mindestens auf evangelischem Boden.

Auf römischem möchte

es allenfalls sein: sofern hier in der That einem oder dem andern

kirchlichen Gebäude durch den besonders heiligen Heiligen, dem es geweiht ist, oder dessen Reliquien in ihm aufbewahrt werden, oder

durch ein in ihm vorhandenes besonders wunderkräftiges Bild der Charakter besonderer Heiligkeit aufgedrückt werden könnte. uns Evangelische hat das doch keinen Sinn.

Aber für

Desgleichen die sonstigen

heiligen Geräthe, Gewänder, Leuchter, Becken, Abendmahlsteller, Kelche u. dgl. mehr: so ist es ohne Zweifel interessant, unter Umständen belehrend und für die Geschichte einer Kirche vollends wichtig, wenn

uns da ab und zu uralte, kostbare, durch die Schicksale, die sie er­ litten, oder die Personen, die sie besessen, ausgezeichnete, künstlerisch

bedentende oder sonst irgendwie merkwürdige Geräthe begegnen: aber in religiöser Beziehung werden wir auf alles solches keinen Werth legen, und unsre Andacht, sei es durch den mehr oder minder kost­ baren Stoff, sei es durch die besonders schöne Arbeit und ähnliches

weder gemehrt noch gemindert finden.

In dieser Beziehung werden

wir nur eins fordern, daß die der Gottesverehrung dienenden Geräthe sauber und würdig seien, und wir bei ihnen weder durch ihre auf­

fallende Mißgestalt noch durch ihre gegen unsre häuslichen und sonstigen Gewohnheiten abstechende Aermlichkeit, wo nicht gar Unsauberkeit,

verletzt werden, weil solches Mißachtung des Zweckes, dem sie dienen, verrathen würde.

Im übrigen aber werden wir von Christen ver-

41

Heilige Dinge und Hmidlnngen.

langen, daß sie mit derselben Andacht Gottes Wort in der unschein­ barsten Dorfkirche, wie in dem geschmücktesten Dome, anhören, das

heilige Abendmahl mit derselben Inbrunst aus

einem zinnernen

oder hölzernen Becher, wie aus einem goldenen, mit Edelsteinen verzierten Kelche, empfangen, und die Taufe aus irdener Schüssel, ja aus dem Bache ebenso für Taufe halten und heiligen, wie die aus

dem kostbarsten Becken, mit einem Worte auf alle diese Dinge im Gottesdienste selbst kaum achten, geschweige ihnen religiösen Werth beilegen.

Wo nicht, werden wir einem solchen die ersten Elemente

evangelischen Verständnisses, wenn nicht der Frömmigkeit, absprechen.

Denn das, was allein alle diese Dinge heiligt, ist ja in allen Fällen dasselbe. Mit dem Gesagten scheint einigermaßen ein Ausspruch Christi

im. Widerspruch zu stehen, nach welchem es beinahe aussieht,

als

solle es doch gewisse Dinge geben, denen an sich eine größere Heilig­

keit zukomme, die von ihnen aus auf andre übergeht, Matth. 23,16 f.:

„Wehe euch, verblendete Leiter, die ihr sagt: wer da schwöret beim Tempel, das ist nichts (d. h. der Eid verbindet nicht); wer aber

schwöret beim Golde am Tempel, der ist schuldig (d. i. verpflichtet, den Eid zu halten).

Ihr Narren rc."

Was will der Herr?

vergleiche die verwandte Stelle Matth. 5, 33 f.

Man

In dieser redet er

gegen die leichtfertige und frevelhafte Unterscheidung, durch welche sich die Leute von ihrem Eide, überhaupt von der Pflicht der Wahr­ haftigkeit los zu machen suchten, indem sie nur diejenigen Eide für vollgültige gelten lassen wollten, welche bei dem einen Namen Jehovah geschworen wären, alle andern dagegen, bei denen dieser Name nicht ausdrücklich genannt, sondern in irgend welcher Weise umschrieben worden sei, entweder als gar keinen Eid oder doch nur als einen

minder verbindlichen ansahen. Dem tritt er entgegen, indem er lehrt: Eid sei Eid, und einer so verbindlich, beziehungsweise so verdammlich, wie der andre, gleichviel, wobei er geschworen worden. Denn, was auch im Schwure genannt werde, durch den Schwur selbst

erhalte es die Beziehung auf Gott und werde zu einem Namen Gottes.

Darum, wer da schwört bei dem Himmel, der schwört bei

dem Stuhle Gottes und dem, der darauf sitzt" (Matth. 23, 22).

Ganz dasselbe führt er Matth. 23 in Beziehung auf die weiteren

42

I. Hauptstück.

Zweites Gebot.

Unterscheidungen an, welche die Lügenhaftigkeit und Spitzfindigkeit der Pharisäer zwischen dem Schwören beim Tempel und beim Golde am Tempel machte: nur, daß er hier diese Unterschiede nicht bloß als

gottlose (Ihr Narren ’) rc.), sondern auch als gedankenlose und dumme

darstellt (Ihr Blinde).

An sich sei ein Eid, wie der andre; wenn

man aber einmal einen Unterschied der Heiligkeit machen wolle, so sei klar, daß er gerade umgekehrt gemacht werden müsie, als es seitens

der Pharisäer geschehe.

Sofern nämlich der Tempel, desgleichen der

Altar ein für allemal Gott geweiht seien, dagegen das Gold

und

das Opfer erst durch die Hineinnahme in den Tempel und das Aus­

legen auf den Altar als auch zu gottesdienstlichen Zwecken bestimmt bezeichnet würden, während sie sonst eben Gold, eine Münze, ein

Barren, ein werthvolles Gefäß, das Opfer ein Thier oder ein Theil desselben oder eine Frucht wären, die auf den Markt gebracht oder zur Speise verwendet würden.

Immer also sei es die Beziehung

aus Gott, mit dem einzigen Unterschied, daß sie bei den ein für alle­

mal zum Gottesdienst bestimmten Dingen (Tempel, Altar, heilige Geräthe) immer schon gegeben, bei den andern (Gold am Tempel, Opfer, dem in den heiligen Gerüchen befindlichen Wasser, beziehungs­

weise Brot und Wein) jedesmal erst neu eintretend ist.

Und zwar tritt

sie dadurch ein, daß diese letzteren Dinge in die zum Gottesdienste,

zur Taufe und Abendmahl ausgesonderten Geräthe gethan werden.

Es würde ermüden, wollten wir in ähnlicher Weise noch für

die heiligen Handlungen nachweisen, daß auch bei ihnen kein Unter­ schied der Heiligkeit statthabe, weder, wenn wir sie unter einander

vergleichen, noch auch, wenn wir die verschiedenen Formen in's Auge fassen, welche bei den einzelnen vorkommen.

Mag die eine vor der

andern erbaulicher, feierlicher, ergreifender sein, weil sie dem Centrum des religiösen oder individuellen Lebens näher liegt, oder auch, weil

sie seltener und mit besonderer Zurüstung gefeiert wird, heilig sind sie alle, und isset und trinket sich nicht bloß, der das Gericht, welcher das Abendmahl mißbraucht, sondern auch,

wer

mit der Taufe

Schacher treibt3) oder den Eid bricht. — Desgleichen die verschie­ denen Formen, die mannigfach abweichenden Gebräuche, welchen wir *) „Narr" ober „Thor" bedeutet dem Ebräer so viel, als „Gottloser". 2) Vergl. S. 45 und das 4. Hauptstück unter IV. (Pathen).

Was hecht: Gottes Namen mißbrauchen?

43

im einzelnen bei diesen Handlungen begegnen: nun so sind diese

allerdings nicht gleichgültig, sondern sei es an sich, sei es örtlich, zeitlich, die einen vor den andern angemessener, erwecklicher, würdiger.

Und wird es darum überall Pflicht sein, auch hierin nach dem Besten zu streben und auf das Ziemende zu halten.

Aber eine heilige Hand­

lung darum, weil sie in einer minder angemessenen, uns fremden,

ja sogar befremdenden und abstoßenden Gestalt uns entgegentritt, — darum für nicht heilig halten, sie verachten, wohl gar entweihen: das würde doch ebenso Mangel an Einsicht in diese Dinge, wie an wirklicher Frömmigkeit, verrathen. Man denke nur an die mannig­ fachen ungehörigen Zuthaten, die sich ab und zu an den Eid gehängt

haben, oder an die sehr befremdende und unser Gefühl verletzende Weise, in der noch über die römische Kirche hinaus die griechische Kirche das Abendmahl begeht

ist deshalb ein solcher Eid kein Eid,

das Abendmahl kein Abendmahl? Darf jener gewissenlos geschworen,

dieses leichtfertig begangen werden?

Wir kommen zu der zweiten Frage, wie und wodurch der Name Gottes gemißbraucht,

das Heilige entheiligt werde? Die häufigste

Antwort darauf ist: wenn man denselben zu oft braucht! Wie oft soll man ihn denn brauchen? Das führt zu dem bereits erwähnten Irrthum der Juden, daß sie, um den Namen Gottes nicht zu miß­

brauchen, das ihnen anvertraute Pfund vergruben, denselben gar nicht brauchten. Das ist Thorheit, und das Nichtige daran nur dies, daß bei fortwährendem in dem Munde Führen des göttlichen Namens

der Verdacht nahe liegt, als könne kein Ernst dahinter sein. Aber das ist doch nicht nothwendig, wenn es gleich öfter zutrifft. Der

Religionslehrer spricht unzähligemal in einem Athem

den Namen

Gottes aus, der Prediger, welcher das Abendmahl verwaltet, wieder­ holt unaufhörlich die Einsetzungsworte: wer darf sagen, daß sie nicht

bei der Sache feien; während ein anderer Gottes Wort und Namen

nur einmal in den Mund nimmt, und es ist eine Lästerung, nur einmal zum Abendmahl geht, und es ist ihm Gericht! — Nicht minder

unzutreffend ist eine andere nicht selten gehörte Antwort:

*) Die Griechen feiern das Abendmahl mit Brod und Wein: aber sie brocken jenes in diesen und reichen dann beides löffelweise dar.

44

1. Hauptstück.

Zweites Gebot.

das Heilige werde entweiht, Gottes Name gemißbraucht, wenn man

ihn brauche, wo er nicht hingehört! Fragt sich: wo gehört Gott nicht hin? wo ist er nicht gegenwärtig? wo bedürfen wir seiner nicht und dürfen ihn nicht anrufen? „Wo soll ich hingehen vor deinem Geist,

wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da: bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da" (Ps. 139, 7. 8).

Wenn man also noch in der Hölle Gott bußfertig

anrufen darf, wo ist ein Ort, wo eine Gelegenheit auf Erden, wo man es nicht dürfte, vorausgesetzt, daß es in der rechten Weise ge­ schieht? Aber der Herr tadelt doch die Pharisäer, daß sie an den

Ecken stehen und beten? Doch nur, weil sie es in Heuchelei thaten, um mit ihrer Frömmigkeit zu prunken. Desgleichen, als vor etlichen

Jahren ein junger Fanatiker mit seiner frommen Schar in einem öffentlichen Vergnügungslokal, einer Tabagie sich hinpflanzte und anhub, fromme Gesänge zu singen, und dafür erduldete, was er ver­

diente: da hat niemand weder sein Singen noch auch das Singen an diesem Orte getadelt.

Wäre er mit den ©einigen allein gewesen,

oder wäre ihm die Aufforderung der Versammelten entgegengekommen, wer hätte etwas Arges darin gefunden? Sondern, was man tadelte

und mit Recht als einen schnöden Mißbrauch des Heiligen betrachtete,

das war die aufdringliche Weise, die herausfordernde Schaustellung des Heiligen. — Von beiden Antworten weg wird man also nach einer genügenderen suchen müssen. Dieselbe wird gefunden, wenn man nur

den Wortlaut des Gebotes in das Auge faßt, wie dasselbe gemeinhin

gefaßt ist: Du sollst den Namen deines Gottes nicht unnützlich führen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen miß­

braucht. ') Also der Name Gottes wird gemißbraucht, wenn man ihn

unnütz, das ist ohne Nutzen führt, ohne den Nutzen, zu welchem er

gegeben ist: zur religiösen Erhebung, zur Erbauung, zum Heil der Seelen. — Das geschieht zunächst, wenn er gedankenlos gebraucht wird, z. B. wenn einer Gottes Wort liest, Gebete aufsagt, Religions­

übungen mitmacht, ohne daß Herz und Seele dabei ist.

kommt? Ein frommer Mann

hat einmal gesagt:

Ob das vor­

es gäbe keinen

') In manchen Bibelansgaben und Katechismen steht beidemal „mißbraucht"; auch im ebräischen Urtext steht beidemal der gleiche Ausdruck (De Wette: zur Un­ wahrheit auosprechen).

WciS heisst: Gottes Nomen mißbrauchen?

45

ärgeren Märtyrer, als das „Vater unser".

Und Gott weiß, und

wir auch können es möglicherweise an uns

selbst merken, daß

Recht hat.

er

Daß da doch jeder, der dem Heiligen naht, von ihm

Gebrauch macht, daran gedenke, daß es unsere erste unnachläßliche

Pflicht sei, uns zusammenzufassen, unsere Gedanken zu sammeln und mit voller ungeteilter Kraft auf das, was vor uns liegt, zu richten!

Möge niemand vergessen, daß es keine ärgere Herabsetzung des Hei­

ligen und Nichtachtung Gottes giebt, als wenn man ihm und seinen Handreichungen in dieser mehr als bequemen, schlaffen und zerflos­

senen Weise naht, wie es leider manche thun! Wo bleibt da das erste Gebot, welches Luther mit Recht bei jedem folgenden wiederholt und der Erklärung desselben voranstellt: wir sollen Gott über alle

Dinge furchten und lieben, daß wir u. s. w.—? Das Heilige wird

entheiligt, wenn man es zu andern Zwecken braucht, als, wozu es bestimmt ist, zur Erbauung, zur Erhebung der Seele, z. B. wenn

man in die Kirche geht, „nm den Kaiser zu sehen" oder sonst wie die Schaulust

zu befriedigen,

den Anzug

der

geputzten Leute

zu

mustern, den eignen zur Schau zu stellen, und was dergleichen mehr ist.

Wozu ist das Gotteshaus da? Wenn du die Neugierde befrie­

digen, sehen und gesehen werden willst, geh' auf die Parade: wenn du aber die Kirche betrittst, dann laß dergleichen dahinten! Am häu­

figsten wird gegen diese so einleuchtende Wahrheit bei sogenannten großen Trauungen gefehlt und zwar von solchen, von denen man es am wenigsten erwarten sollte, der sonst so sittsamen weiblichen Jugend, die aber bei dieser Gelegenheit oft nicht sittsam erscheint, über der

übergroßen Schaulust oft sogar des äußeren kirchlichen Anstandes vergißt. — Schlimmer freilich, als dieses, was

zu

einem guten

Theile auf Unbedacht zurückgeführt werden kann, ist die Benutzung des Heiligen lediglich als Mittel zu sernabliegenden Zwecken, selbst wenn sie nicht, was das abscheulichste ist, — in reiner Heuchelei ge­ schieht: als die nicht selten vorkommende Ausnutzung der Taufe zur

Erlangung

von Geldunterstütznngen

seitens

der

Pathen

oder die

Anwendung des heiligen Abendmahls als liebe Arznei und letztes Mittel in Sterbensnöthen: ein Mißbrauch, der neben sonstigem Aber­

glauben an die magische Wirkung des Abendmahls öfter vorkommt, als man glaubt.

I. Hauptstück. Zweites Gebot.

46

Diese Beispiele genügen wohl, um zu zeigen, wie noth auch in

unsern Tagen noch die Einschärsung dieses Gebotes thut, wie dringend

an die ernsten Folgen zu erinnern ist, welche seine Uebertretung, vor allem die muthwillige und heuchlerische nach sich zieht.

Nicht, daß

man, wie sonst wohl, um die Menschen zu warnen, die Fälle auf­ zählt, wo arge Flucher, Gotteslästerer und andere „von der Hand des Herrn getroffen", die einen vom Blitz erschlagen,

andre vom

Schlage gerührt oder sonst wie plötzlich „in ihren Sünden fortgerafft

worden seien".

Denn so erschütternd dgl. ist, wo es vorkommt, so

tritt es einerseits nicht immer ein,

fromme,

andrerseits werden

gottesfürchtige Menschen oft

ihnen jedenfalls seligen — Tode weggenommen.

es uns wohl zu richten?

doch auch

genug von einem jähen — Zuletzt aber: ziemt

Darum bleibt das Wort: „denn der Herr

wird den nicht ungestraft lassen,

der seinen Namen mißbraucht",

nicht minder ernst und nicht minder wahr.

Nur, daß wir statt jener

— ich wiederhole es — erschütternden, aber in manchen Fällen mehr

als zweifelhaften, einzelnen äußeren Vorkommnisse, vielmehr die nie

ausbleibenden innern Folgen in's Auge fassen,

welche die Entwei-

hnng des göttlichen Namens, der Mißbrauch des Heiligen nach sich zieht: die Schwächung seiner Wirkung auf das menschliche Gemüth, die wachsende Verhärtung des Herzens, kraft deren der Mensch allem

Heiligen vollkommen stumpf gegenüber steht und zuletzt selbst da von demselben keines Eindrucks mehr fähig ist, wo er gebrochenen Her­

zens sich nach einem solchen sehnt.

Oder warum können viele in

dem Gottesdienste gar nicht mehr aufmerksam sein, selbst wenn sie wollen? Warum vermögen sie selbst

beim Gebete nicht gesammelt

zu bleiben und den Trost zu finden, den sie suchen? Sie haben sich

durch Mangel an ernster Fassung, da, — wo

waren,

diese Unachtsamkeit und

sie derselben fähig

dies zerflossene Wesen anerzogen!

Jene andern aber: ob wohl so viele leichtsinnige Eheschließungen und in Folge des unglückliche Ehen vorkommen würden, wie es leider der Fall ist, wenn man. bei den Eheschließungen, denen man beige­

wohnt, den ganzen Ernst der Sache empfunden hätte? — Ob nicht

mancher noch in Todesnöthen gefaßter sein würde, wenn er jeder

Leichenfeier so beigewohnt hätte, wie es sich ziemt, und nicht mancher manche eben nur abgemacht, ein andrer die ernste Feier, — wie ein

Luthers Erklärung.

Fluchen.

47

Schaustück, behandelt hätte? Von dem offenbar heuchlerischen Miß­ brauche des Heiligen gar nicht zu reden.

Luthers Erklärung zum zweiten Gebot. I.

Fluchen.

Es wird mit dem Worte ein zwiefaches bezeichnet, das scharf unterschieden werden muß, ein Thun der Roheit und ein Thun der

Bosheit.

Unter jenem verstehen wir das Ausstößen von allerhand

jachen und wilden Redensarten, welche ursprünglich Anrufungen Gottes, insbesondere Verflnchungsformeln, d. i. Formeln waren, in denen

Schaden und Verdammniß, sei es auf den Redenden, sei es auf andre

herabgerufen wird,

die aber diesen Sinn allmählich verloren haben

und lediglich zu Ausdrücken ungezügelter Heftigkeit und Ungeberdigkeit geworden sind. Wer z. B., der da sagt: „Gott verdamm' mich",

oder: „hol' ihn der Teufel", will damit wirklich den Wunsch ausge­ sprochen haben, daß Gott ihn verdammen, jenen der Teufel holen

möge? Welcher andere, der mit einem Kreuz-Donnerwetter dazwischen fährt, denkt nur daran, daß das ursprünglich bedeutet hat, daß Gottes Donner und Wetter ihn oder andre treffen möge? Ja, manche dieser Redensarten sind sogar im Laufe der Zeit, sei es überhaupt, sei es im Munde einzelner zu reinen Interjektionen geworden, in denen sich

nichts von Zorn und Haß, im Gegentheil Zuneigung, freilich eine etwas derbe Frende und Verwunderung ausspricht.

Nichtsdestoweniger ist es nicht schön.

Es ist in allen Fällen

unüberlegt, ungeschlacht und roh und verträgt sich nicht mit der Haltung, die dem Christen geziemt. Nicht umsonst pflegt man zu sagen, dieser oder jener flucht, wie ein Landsknecht oder ein Fuhr­ mann, und deutet damit an, daß sich diese Unart höchstens bei solchen

entschuldigen lasse, deren gesammte Lebensart und Umgebung bessere Gesittung auszuschließen scheint, bei — wie man sich ausdrückt — „gemeinen Menschen".

Aber der Christ ist nie — wenigstens soll er

es nicht sein — ein gemeiner Mensch, sondern selbst, wenn er der geringsten einer im Volke ist, ist und bleibt er „vornehmer Leute Kind", nämlich „Gottes Kind" und Christi Mitbruder (vergl. 1 Petr. 2, 9), und soll und wird sich danach halten. Einem Christen schwebt Christus vor, ja wohnt ihm inne, wie ihn der Prophet nach Matth. (12, 19. 20;

48

I. Hauptstück.

Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.

vergl. Jes. 42,2) schildert: Er wird nicht zanken n. s. w. — Ein Christen­ haus ist ein stilles Haus, ein Christ — ohne Zwang und falsche Würde — ein gehaltener Mann, vor allem das Weib schweigsam und

voll milder Rede.

Wo man einen noch weithin hört, wo er flucht

und schreit, da ist das ein Zeichen, daß in diesem Stück der Geist Christi noch nicht durchgedrungen ist, möge er im übrigen ein sehr

redlicher, ja ein gottesfürchtiger Mann sein.

Es ist aus diesen Sach­

verhalt um so mehr aufmerksam zu machen, je häufiger man in der Beurtheilung dieser Dinge auch einer falschen Prüderie begegnet, die Silben sticht und selbst solche Ausdrücke zu Todsünden stempelt, die

in der That nichts, als Interjektionen, sind.

Der ist einfach zu er­

widern, daß in vielen Fällen ein rechtschaffener Fluch mehr von ge­ sunder Frömmigkeit in sich trage, als ein weinerliches, geschweige ein heuchlerisches Gebet. —

Anders steht es mit dem Fluchen, welches den Gegensatz vom

Segnen bildet, die Herabrufung des göttlichen Zorns, der göttlichen Strafe und Rache auf irgend jemanden, dem wir meinen Ursache

zu haben zu zürnen.

Das ist immer eine Entweihung des göttlichen

Namens, ja eine Beleidigung Gottes.

Man denke, der heilige Gott,

der Vater der Liebe und des Erbarmens soll sich hergeben, unsre unheiligen Rachegelüste zu befriedigen! Sagt man, davon sei keine Rede, sondern nur von einem heiligen Zorne,

der frei von jeder

persönlichen Gereiztheit nur den Frevel, die Gottlosigkeit nicht unbe­ straft lassen wolle, dessen sich die Ruchlosen schuldig machen: so ist

zu erwidern: es giebt keinen heiligen Zorn, als welcher eins ist mit

der

erbarmenden Liebe.

Dazu,

selbst

im

besten Falle:

wer bist

du, daß du an Gottes Statt verdammst? Was gegen ihn gefrevelt wird, überlaß ihm zu räche»! Du hast es nur mit dem zu thun,

was gegen dich gesündigt ist, und da ziemt dir, der du selbst der Gnade bedarfst und nur von ihr lebst, selbst

den schwersten Ver­

gehungen gegenüber nur zu vergeben und um Gnade und Vergebung

zu bitten, also zu segnen, — nach dem Worte deines Meisters: Seg­

net, die euch fluchen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen

(Matth. 5, 44), und der Mahnung des Apostels: Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn, denn es steht

geschrieben u. s. w. (Röm. 12, 19—21). — Darum schadet auch,

Fluche» (iiitd Roheit oder Bosheit).

Der Bann.

wer flucht, immer nur sich selbst'), nie einem andern.

49

Der Gott,

der segnen will, kann wohl Gebete erhören, aber nie einen Fluch"). Ob das nicht doch Ausnahmen erleidet? Mindestens Sirach 3,

11 scheint eine solche zu begründen: „Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißet sie nieder/'

Danach

scheint in der That Eltern die Berechtigung, wie zu segnen, so auch

zu fluchen, zugesprochen, und, wenn sie letzteres thun, diesem Fluchen ebenso Kraft und Wirkung beigelegt zu werden, wie ihrem Segnen.

Aber auch hier bleibt: wer einem andern flucht, sündigt; und machen Eltern, die Stellvertreter Gottes, die Abbilder seiner Liebe, davon am wenigsten eine Ausnahme/ Ein seinen Kindern fluchender Vater ist das widernatürlichste und entsetzlichste, was es giebt.

Eben des­

halb wird auch in der Regel etwas ganz entsetzliches geschehen sein,

und werden Kinder auf das unerhörteste gegen die Eltern gefehlt haben, ehe diese, welche doch sonst ihr Herzblut für die Kinder lassen, dazu

kommen,

ihren

nicht der Fall ist,

Fluch

auf die Kinder zu legen.

Wo das

sondern schuldlosen Kindern von gottlosen und

verblendeten Eltern geflucht wird, da gilt von diesem Fluche, was

in der Schrift überhaupt von unverdienten Flüchen gesagt ist.

Die

Kinder werden dann wohl über die irregehenden Eltern zu trauern,

im übrigen aber sich nicht zu ängstigen, sondern auf Gottes Segen

zu hoffen haben. — Nicht am seltensten ist gegen dieses Gebot in Sachen des Glau­

bens gefehlt worden, wo Abfall vom Glauben oder sonst Frevel gegen denselben vorzuliegen schien.

Ein Beispiel davon bieten uns bereits

die Apostel, Luk. 9, 54, welche, als einst ein samaritischer Flecken

aus Religionsgründen ihnen und ihrem Meister die sonst über alles heilig gehaltene Gastfreundschaft verweigerte, Jesum fragten, ob sie nicht Gott anrufen sollten, wie Elias gethan, daß er Feuer vom Himmel fallen lasse und diese Frevler vertilge.

Aber eben da steht auch das

Urtheil des Herrn über dergleichen Flüche:

„Wisset ihr nicht, wes

t) Sir. 27, 28. Wer einen Stein in die Höhe wirst, beut fällt er auf ben Kopf. 2) Spruch. Sal. 26, 2. Wie ein Vogel dahin fährt, unb eine Schwalbe fliegt, also ein unverdienter Jlnch trifft nicht. El fester, Materialien.

2. Auflage.

1. Hauptstück.

50

Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.

Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten."

Nicht zu verwechseln mit dem Fluchen und Verfluchen ist die Excommunication oder der kirchliche Bann.

Zwar ist beides that­

sächlich häufig genug mit einander verbunden gewesen, wie denn die Bannflüche der Päpste in dieser Beziehung Beispiele in Fülle dar­ bieten; aber an und für sich sind beide durchaus verschieden.

An

sich ist die Excommunication nichts, als die Ausschließung jaus der kirchlichen Gemeinschaft, beziehungsweise von besonderen Rechten und

Thätigkeiten derselben, wozu eine kirchliche Gemeinschaft an und für

sich ebenso berechtigt ist, wie jede andre Gemeinschaft in Beziehung auf sie und ihre Rechte und Thätigkeiten.

Es kommt nur darauf

an, warum und durch wen diese Ausschließung geschieht. — Daß sich an diese Ausschließung der Gedanke der Verdammniß gehängt,

ist lediglich eine Eigenthümlichkeit der römischen Kirche, welche sich für die allein seligmachende hält.

persönliche Frevel

Die Verfluchungen aber sind der

der betreffenden Päpste, Bischöfe u. s. w.

Das

ärgste in dieser Beziehung bietet die Bannbulle dar, in welcher Papst

Clemens VI. (13. April 1346) den Kaiser Ludwig, den Baier, excom-

municirte, die alles enthält, was giftigster Haß und äußerster Fana­ tismus nur immer ersinnen kann (Gieseler 2, 3; S. 72 f.). 2. Vom Schwören.

1. Was schwören heißt, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Es ist die feierliche Anrufung Gottes als Zeugen der Wahrheit unsrer

Aussage oder der Aufrichtigkeit unsres Versprechens.

Jenes ist der

Aussage- (Zeugen-, Reinigungs-, Manifestations-) Eid, dieses

der

Versprechungs- (Huldigungs-, Fahnen-, Amts-) Eid oder das Gelübde. 2. Luther sagt, daß wir nicht bei dem Namen Gottes schwören

sollen.

Wir aber haben gesehen,

daß

immer bei dem Namen

Gottes geschworen wird, weil auch, was sonst im Eide — Himmel,

Erde, Leben u. s. w. — genannt werde, solches durch den Eid selbst die Richtung auf Gott erhalte und zu seinem Namen werde.

Niemand

schwört bei den Wolken über uns, sondern bei dem Throne Gottes (Matth. 23, 22), niemand bei dem Sande, dem Lehm, dem Erdkloß unter unsern Füßen, sondern bei der Erde, die uns ernährt, und

Schwören.

Gegen Abschwächung und Vorbehalt.

51

welche er regiert; niemand bei den Gaffen, Häusern, Schornsteinen

von Jerusalem, Mekka, Rom, sondern bei der gottgeweihten IStadt.

Desgleichen, wer bei seinem Haupte, seinem Leben schwört, schwört

bei der Macht, die über ihm ist: denn „du vermagst nicht ein ein­ ziges Haar auf demselben weiß oder schwarz zu machen" (Matth. 5, 36),

du deines Lebens Länge nicht eine Spanne hinzuzusetzen.

Das gilt selbst

von solchen Eiden, welche kaum danach aussehen, unschuldige Namen zu sein scheinen; als: wenn ein König bei seiner Krone, der türkische Sul­ tan bei seinem Säbel, der Araber bei seinem Barte schwört.

Aber auch

da schwören jene bei der ihnen von Gott verliehnen Macht (der tür­

kische Sultan wird bei seiner Thronbesteigung mit dem Säbel um­ gürtet, wie unsre Fürsten gekrönt werden), dieser aber schwört bei der gottgeheiligten, priesterlichen und männlichen Würde.

Was diese

Beziehung aus Gott gar nicht hat, derselben gar nicht fähig ist und

sich doch an Gottes Stelle setzt, das ist ein Götze.

Wie denn mit

manchem, z. B. mit der Ehre und dem Ehrenwort, häufig schier ein

Götzendienst getrieben wird.

Aus diesem Grunde fordert die Schrift

sogar, daß man nur bei dem Namen Gottes und bei keinem andern schwören solle (vergl. Jak. 5, 12).

Und in der That ist solches jeden­

falls das würdigste und heilsamste.

Denn obschon jene Umschrei­

bungen dasselbe sagen, und dieselbe verpflichtende Kraft haben, wie

die ausdrückliche Nennung Gottes: so hängen sie doch

mehr oder

weniger bald mit einem Mangel an Würdigkeit zum Eide, daß man sich nicht recht getraut zu schwören, bald mit der Lust zu Ausflüchten zusammen.

Sie sind bewußte oder unbewußte Versuche, den Eid

abzuschwächen.

Unter allen Umständen gilt auch vom Schwören das

Sprüchwort des Herzogs Georg von Sachsen: Gerade aus giebt die besten Renner. 3. Alle Eide, mit welchen Worten und in welcher Form sie geschworen werden, haben vor Gott und vor Menschen dieselbe un­

bedingte Verbindlichkeit, und ist es vergeblich, wenn man meint, sich durch irgendwelche Kniffe und Kunstgriffe von derselben losmachen zu können. 4. Der Eid wird geleistet und gilt in dem Sinne, in welchem

er uns abgesordert wird, und ist es nicht gestattet, statt dessen einen andern in

ihn hineinzulegen.

Gedankenvorbehalte (reserva-

1. Hauptstück.

52

Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.

tiones mentales), wie sie innerhalb des Jesuitenordens gelehrt und ver­

theidigt werden, daß man jeden Eid schwören könne, wenn man nur bei sich selber etwas anderes denke, heben jede Treu und Glauben

auf und sind vor Gott und Menschen verdammlich. 5. Der Eid ist das Bekenntniß unsres Glaubens an einen

lebendigen, allwissenden, heiligen Gott, der Meineid und Eidbruch straft.

Darum soll mau niemanden zum Eide zulassen oder nöthigen,

welcher offen ausspricht, daß er überhaupt an keinen Gott glaubt.

Einem solchen ist vorzuhalten, daß, wenn er, zur Aussage der Wahr­ heit aufgefordert, lügt oder sein Versprechen bricht, doch ebenso werde bestraft werden, als, wenn er geschworen hätte. Weil der Eid Bekenntniß des Glaubens ist, so soll er auch dem

Glauben gemäß sein.

Es ist ungehörig, Leute zu Eiden zu nöthigen,

die ihrem Glauben widersprechen oder denselben ihrer Ansicht nach

nicht voll ausdrücken. 6. Der Eid ist unter Umständen ein ebenso nothwendiger Ausdruck lebendigen Glaubens, wie das Gebet. Wer könnte es z. B. tragen, in die Ehe zu treten, ohne daß er dem Gatten, der Gattin feierlich vor Gott Treue gelobte?

Ein solches Gelübde vor Gott ist

aber ein Eid, wenn es gleich nicht in der hergebrachten Form ge­

richtlicher Eide auftritt. Nicht minder geloben (schwören) wir bei Aufnahme in die Gemeinde Gehorsam dem göttlichen Wort und treues Halten an der Gemeinde, bei Uebernahme des Predigtamtes

gewissenhafte Verwaltung des Amtes u. s. f., und niemand möchte ohne solches feierliche Gelübde in Gemeinde oder Amt eintreten

wollen: es würde ihm etwas fehlen, er würde sich gepreßt und ge­ hemmt fühlen, wenn er nicht aussprechen dürfte, wovon doch seine Seele voll. Desgleichen ist der Huldigungseid, den ein Volk, der Krönungseid, den ein Fürst bei seiner Thronbesteigung leistet, — ihr

feierlicher Bund vor Gott — naturgemäß, Ausdruck des Bewußtseins, daß ihr Verhältniß ein von Gott geordnetes sei, und daß sie Gott von demselben werden Rechenschaft zu geben haben.

7. Trotz dieser inneren Nöthigung des Glaubens bei feierlichen

Gelegenheiten zu feierlicher Anrufung Gottes, der ja unser Zeuge ist, als Zeugen, Helfers, Richters unsrer Aussage oder unsres Versprechens,

hat es einzelne Christen gegeben und giebt es noch mehrere christ-

Nochwcudigkeit beü Eides (gegen Quäker und Meuiioiiiten).

53

liche Parteien (Quäker und Mennoniten), welche den Eid verwerfen, weil sie der Meinung sind, daß ihn Christus (Matth. 5, 34) ver­

boten habe. Dagegen hat die christliche Kirche im ganzen von je her mit großer Einmüthigkeit den Eid nicht nur gestattet, sondern ihn insbesondere der Obrigkeit gegenüber für Pflicht erklärt, indem

sie der Ueberzeugung ist, daß Christus ihn gar nicht verboten haben

könne, ihn vielmehr selbst geleistet habe (Matth. 26, 63 f.).

Ihre

Gründe sind außer dem an und für sich entscheidenden Beispiele Christi: a. die bereits besprochene Begründung des Eides im Glauben, wie in frommer Liebe; b. die Weife, wie die heilige Schrift, auch

die Neuen Testaments von dem Eide redet (Ebr. 6, 13—18).

Es ist

unmöglich, daß ein Apostel oder eines Apostels Schüler sich so hätte ausdrücken können, wenn in der ersten Gemeinde auch nur entfernt

die Erinnerung an ein solches Verbot des Herrn vorhanden gewesen wäre. Endlich c. die häufigen Stellen, in denen insbesondere der Apostel Paulus in feierlicher Weise Gott zum Zeugen anruft (Röm.

1, 9; 9, 1. Gal. 1, 20).

8. Auch Matth. 5, 34 hat der Herr Christus nicht den Eid, sondern, wie wir bereits früher, insbesondere bei der Vergleichung

mit Matth. 23, 16 f., festgestellt haben, die ruchlosen Unterscheidungen,

welche man seiner Zeit hinsichtlich der Verbindlichkeit der Eide machte, überhaupt den Mißbrauch, welchen Lügenhaftigkeit und Leichtsinn mit dem Eide trieben, verboten; wie, wenn noch heute Leute mit der Wahrheit warten, bis man sie durch Abforderung besonderer Betheurung „auf Ehre" oder „sag' mal wahrhaftig" in die Enge treibt; wenn andere im Handel und Wandel, im gewöhnlichen geschäftlichen

Betriebsverkehr fort und fort mit Betheurungen, ja Schwüren um sich

werfen und damit verrathen, daß man ihnen nur das, was sie in solcher Weise betheuren, und auch das nicht einmal glauben könne; wenn ungerechtfertigtes Mißtrauen unaufhörlich Betheurungen fordert, und was dergleichen mehr ist. Was der Herr verlangt, ist unbe­ dingte Wahrhaftigkeit, eine Wahrhaftigkeit, die nicht bloß den Eid,

sondern jedes Wort, wie einen Eid, hält, für die es aus diesem Grunde gar nicht erst besonderer Betheurungen bedarf, weder, um die Wahrheit zu sagen, noch, um Glauben zu finden, der es daher

auch, wo nicht besondere Veranlassungen zu feierlicher Behandlung

54

1. Hauptstück.

Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.

der Sache vorliegen, gar nicht in den Sinn kommt, feierliche Be­

theurungen, sei es selbst zu geben, sei es von einem andern zu fordern, ja, die solches nicht einmal leidet.

Ich wenigstens habe immer —

und ich denke, jeder wahrhaftige werde es thun — wo einer anhub, zu betheuren und zu schwören, dem Schweigen geboten und mich be­ ziehungsweise von ihm gewandt, weil ich gedachte an das Wort:

Ein Mann ein Wort, ein Wort ein Mann; wer aber viel schwört, der lügt viel, oder, wie der Herr sagt, aber freilich nur in diesem Sinne es meint: Ja ja, nein nein, was darüber ist, das ist vom

Uebel. 9. Mit allen diesen Auswüchsen haben die vorher erwähnten feierlichen Anrufungen Gottes in feierlicher Stimmung bei festlicher

Gelegenheit, hat auch der Eid vor Gericht nichts zu thun: Derselbe tritt nicht in den Dienst der Unwahrhaftigkeit und der Lüge, sondern der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Er ist auch nicht ein Ausdruck

unbrüderlichen Mißtrauens, das wäre er nur, wenn er bloß von An­

rüchigen und Zweifelhaften gefordert würde; aber er wird von allen verlangt, ja in gewissen Fällen ist es sogar eine Auszeichnung und

Anerkennung der Glaubwürdigkeit eines Menschen, wenn einer zum

Eide verstattet wird.

Er ist die an alle herantretende Mahnung

an den Ernst der Sache und an die Verantwortung vor Gott. Er ist ein Dienst der Liebe, der Unbedachtsamkeit und Schwäche geleistet,

daß sie sich nicht durch Nebendinge zerstreuen, durch Nebenrücksichten verlocken lasse. Er ist Geängsteten eine Stütze und eine Hülfe in Erfüllung schwerer Pflicht. Sind doch die Fälle nicht selten, daß Christen genöthigt sind, sei es durch ihre Aussagen als Zeugen, sei

es durch ihr Verdikt als Geschworene Schweres über ihre Mitmenschen zu verhängen, Veranlassung zur Fällung eines Todesurtheils zu geben.

Wie wird da nicht mancher nur in seinem Eide Kraft und

Ruhe gefunden haben! Aus allen diesen Gründen darf und soll der Christ den gerichtlichen, wie jeden andern von der Obrigkeit gefor­ derten Eid, mit gutem Gewissen und mit derselben Freudigkeit leisten, mit welcher er in der Kirche die feierlichen Gelübde ablegt, welche

dort gefordert werden.

Er denke nur daran, daß Gott nicht bloß

will, daß er gepredigt, und der Glaube bekannt, sondern auch daß Recht und Gerechtigkeit — sein Recht — geübt werde, und daß es

55

Nothwendigkeit des Eides (gegen Quäker und Memwniten).

übel um die Verkündigung des Evangeliums stehen würde, wo in

einem Lande nicht Recht gesprochen, und Gerechtigkeit — und zwar im Aufschauen zu ihm — aufrecht erhalten wird.

Er lasse sich nicht

durch die scheinbare Geringfügigkeit der Gegenstände stören, um die

es sich handelt, daß — wie manche häufig klagen — um jede Kleinigkeit geschworen wird.

Was ist klein? Auch eine Million, um derentwillen

es diesen klagenden allenfalls werth erscheinen dürste zu schwören, ist schließlich Tand der Erde.

Sodann aber wird niemals weder die

Million noch der Heller, die unterschlagene Nadel oder die gestohlene

Gans beschworen, sondern beschworen wird immer nur die Wahrheit der Aussage im Dienste der Gerechtigkeit, und diese ist niemals klein. Wer dieser mit einfältigem Herzen dient, dient immer auch Gott. 10. Es ist nicht genug, daß man im allgemeinen den Eid als

gerechtfertigt erkennt, er mnß auch im einzelnen ein rechter und untadelhafter sein. Vom Aussageeide wird gefordert, daß er „niemand zu Gunsten,

niemand zu Leide" die Wahrheit sage und zwar die ganze Wahr­ heit und nichts, als die Wahrheit; daß der Schwörende sich durch nichts

in der Welt verleiten

lasse, weder von der ihm bekannten

Wahrheit etwas auszulassen noch auch hinzuzusetzen.

Mag er dieses

oder jenes thun, in beiden Fällen schwört er falsch, und die Strafe,

göttliche und menschliche, wird nicht von seinem Haupte bleiben.

Es ist

nicht immer so leicht, diese Forderungen zu erfüllen, als es aussieht, auch, wenn man den Willen dazu hat: sofern sich unsre Wissenschaft von den Dingen fast immer zusammensetzt aus dem, was wir selber wahrgenommen haben, und dem, was andre über denselben Gegen­

stand zu uns gesprochen haben, und wir besonders nach längerer

Zeit oft gar nicht im Stande sind, beides von einander zu trennen und für jeden Zug des Bildes, welches wir von einem Vorgang in uns tragen, genau noch die Quelle anzugeben.

Eben so verdunkelt

und verwischt sich

Um so sorgfältiger

das Bild

durch Vergessen.

haben wir unsre Aussage zu überwachen, damit wir nicht, indem

wir als eigene Wahrnehmung geben, was nur die hinzugekommene Wahrnehmung

anderer, ja vielleicht nur deren Vermuthung oder

Urtheil war, oder durch unabsichtliche Auslassung wesentlicher Züge dem Richter ein falsches Bild von der Sache geben

und ihn zu

56

1. Hmiptstück.

Luthers Erklärung zuiu ziveiten Gebot.

einem falschen Urtheil veranlassen, jedenfalls mehr und anders aus­ sagen, als wir verantworten können.

Besinne dich, was du gesehen,

gehört, überhaupt wahrgenommen hast: das und nur das sage aus! Kannst du dich darauf nicht mehr mit Sicherheit besinnen, so erkläre

das: so beschwörst du auch nur dies, daß du der Sache nicht ganz sicher bist: und der Richter weiß, was er davon zu halten hat.

Sagst

du aber: ich weiß, wo du nicht gewiß bist; oder umgekehrt: ich weiß nicht, wo du weißt, daß du weißt: da schwörst du, wo nicht einen Meineid, so doch einen fahrlässigen Eid.

Bedenke: Fahrlässig­

keit beim Eide!! Bei Versprechungseiden oder Gelübden ist es nicht genug, daß man sie redlich meint und sie halten wolle — das versteht sich von

selbst: sondern man muß auch in sich gewiß sein, daß man sie

schlechthin — Unvorhergesehenes abgerechnet — werde halten können und sie halten dürfe.

Unbedachtes Versprechen, selbst, wo es nicht

beschworen wird, ist etwas leichtfertiges! Darfst 'bu leichtfertig sein? — Vollends, wo du gelobest vor Gott, wovon du voraus siehst, daß du schwerlich jemals, ja vielleicht niemals in die Lage kommen werdest,

dein Wort zu erfüllen, da ist im Eide selbst schon der Bruch des

Eides! Endlich darf nicht geschworen werden, was nicht gehalten wer­ den darf, z. B.: Aufruhr, Mord, kurz alles, was Sünde oder Ver­ brechen ist, wenn man es thut, was demgemäß auch den Eid, durch

welchen man sich zu dergleichen verbindet, zu einem verbrecherischen macht.

Welche Veranlassung, wenn man ein Gelübde ablegt, auf

das sorgsamste zu prüfen, was man gelobt! 11. Meineid (der falsche Eid), wie Eidbruch, sind unter allen

Umständen etwas entsetzliches.

Insofern steht die Sache für den

letzteren etwas günstiger, als bei ihm im allgemeinen die Versündi­ gung gegen den Eid nicht schon im Schwören selbst liegt, wenigstens braücht dasselbe nicht der Fall zu sein: sondern es kann der Eid

an sich selber ein aufrichtiger und ehrlicher gewesen sein, und der Bruch folgt nur

u. a. tu., nach.

durch Vergessenheit, in Folge böser Verlockung

Wo es sich so verhält, da bleibt der Eidbruch aller­

dings verdammlich, er ist indeß doch nicht die offenbare Gottesläste­

rung, welche der falsche Eid in sich schließt, sondern eher Gottver-

Meineid.

Fahrlässiger Eid.

57

Eidbruch.

in denen der Bruch eines ver­

gessenheit. — Ja, es giebt Fälle,

sprochenen Gelübdes, Eides — also Eidbruch — sogar Pflicht ist, wenn

dieselben nicht ohne neue Sünde

gehalten

werden können.

Außer den schon früher angedeuteten Fallen erinnern wir nur an das Beispiel des Herodes (Matth. 14, 1 f.).

Wer wird nicht zuge­

stehen, daß das Halten seines liederlichen und großsprecherischen Ver­

sprechens ein Schritt weiter in die Verdammniß war, und wenn er Gott fürchtete,

daß er,

trotz des Eides den Johannes nicht hätte

todten lassen dürfen, vielmehr in sich gehen und sein Versprechen

hätte zurücknehmen müssen? — Das gilt nicht bloß von gottlosen und verbrecherischen Eiden, wie dieser war: sondern auch von solchen, welche ursprünglich in gutem,

worden

sind,

aber

irrendem Gewissen

geschworen

wenn das in Gott verständigte Gewissen später zur

richtigen Erkenntniß gelangt.

Luther z. B. hatte die Mönchsgelübde

geleistet, insbesondere Ehelosigkeit gelobt.

Hat er recht oder unrecht

gethan, als er — nachdem er die Heillosigkeit des Möuchsthums er­

kannt hatte, aus dem Kloster trat und — um andern Muth zu machen

— selbst ein Weib nahm? Oder hätte er zwar andre lehren sollen,

was gegen Gott und die menschliche Natur war,

nicht zu

halten:

selber aber ehelos bleiben, wo doch sein Beispiel allein entscheidend

wirkte? Andre hierher gehörige Beispiele bietet uns die Geschichte unsres Fürstengeschlechts.

Joachim L, bei allen seinen Vorzügen

ein fanatischer Gegner der Reformation, hatte seine Söhne Joachim und Hans schwören lassen, daß sie in der römischen Kirche verharren

wollten.

Beide traten zur Reformation über.

Johann Sigismund

hatte seinem Vater unverrücktes Halten an dem Lutherthum eidlich geloben müssen: er

folgte seinem

Gewissen und

ward

reformirt!

Neuerdings hat man gegen Geistliche, welche, ihrem Gewissen fol­

gend, in einem oder dem andern Stücke von der Lehre der Kirche, auf welche sie bei ihrer Ordination verpflichtet seien, abwichen, öfter den Vorwurf

würde,

des Eidbruchs

erhoben.

Ob man

das

wohl

thun

wenn man der Vorgänge der Reformation und der andern

angeführten Beispiele eingedenk wäre, dazu sich die Weise vergegen­ wärtigte, mit welcher die Verpflichtung auf die Bekenntnisse in der Kirche seit unvordenklichen Zeiten

und

noch

heute von den Ver­

pflichtenden selbst gehandhabt worden ist und gehandhabt wird? —

58

1. Hariptstück.

Luthers Erklärung 311111 zweiten Gebot.

Mit dieser Geltendmachung des Rechtes schwer bedrängter, zu Gott

schreiender Gewissen, sich von der Unwissenheit zur Erkenntniß, von der Unnatur zur Natur, von falschem Gottesdienst zur rechten Gottes­ verehrung zu bekehren und diese Erkenntniß auch praktisch auszu­ führen: mit der Geltendmachung dieses Rechts und dieser Pflicht

soll mit nichten der Gewissenlosigkeit das Wort geredet werden, welche

darum, weil ein gottloser oder widernatürlicher Eid nicht gehalten werden darf, nun jeden Eid glaubt brechen zu dürfen, wenn es ihr aus irgend welchem Grunde beliebt.

Geht das selbst in jenen Fällen

niemals so glatt ab, wird es nur nach der gewissenhaftesten Ueber-

legung und den schwersten innern Kämpfen zulässig sein, und selbst dann noch immer ein Stachel im Gemüthe zurückbleiben: so ist das hundertfach bei dem Bruch in sich gerechtfertigter Eide der Fall,

zumal wenn einer, ungeachtet er sein Versprechen nicht hält,

die

Ehren, Würden, Vortheile festhalten will, welche er auf dieses Ver­ sprechen hin empfangen hat: dann ist doch das erste, was, ich sage gar nicht von einem gottfürchtenden Menschen, nein, von der ordi­

närsten Ehrlichkeit gefordert werden muß, daß, wer nicht leisten kann, vollends nicht leisten will, was er versprochen hat, sich derjenigen

Vortheile entäußert, welche an die Leistung geknüpft waren.

Da

den Eidbruch entschuldigen, höhere Rücksichten, politische Nothwendig­

keit u. s. w. vorschieben, heißt es doch gerade machen, wie die abessynischen Namenchristen, die, wenn sie geschworen haben, mit einem Holze über die Zunge fahrend, die Anwesenden zu Zeugen aufrufen, wie sie

ihre Zunge von ihrem Eide gereinigt hätten! „Welcher ist die Ver-

dammniß" und das Gericht der Geschichte.') dem Eidbruch nicht.

Nein, so steht es mit

Derselbe ist immer ein furchtbar Ding, bei dem

es sich um das Heil der Seele handelt.

Entweder der Eid ist gerecht­

fertigt, dann verdammt der Bruch; oder der Bruch ist gerechtfertigt,

dann thut es der Eid. —

Welche dringende Aufforderung

sowohl für diejenigen, welche

ein Gelübde leisten, als auch für die, welche ein solches auferlegen

und abfordern, auf das gewissenhafteste zu prüfen, was man gelobt

’) Man betrachte nur, wie in Frankreich wieder und wieder die Erinnerung

und das Urtheil über den „Staatsstreich" von 1851 laut wird.

Zaubern.

59

Ursprung des Glaubens daran.

oder geloben läßt, damit nicht, was bestimmt ist, Halt und Trost

für gottesfürchtige Gewissen zu sein, ein Verderben der Leute und

ein Fallstrick für das Gewissen werde! — Gerade in Glaubens­ sachen findet in dieser Beziehung noch viele Gedankenlosigkeit und Zweideutigkeit statt. — III.

Vom Zaubern und dergleichen.

Unter Zaubern versteht man den Versuch, das, was man nicht

auf natürlichem Wege, durch den Gebrauch der von Gott geordneten Mittel (Gebet, Arbeit, Sparen) erreichen kann, auf „übernatürliche"

Weise zu erlangen, sei es durch Anrufung Gottes, sei es des Teufels, sei es durch Anwendung sonstiger geheimnißvoller Mittel.

Ist auf

diesem Wege jemals etwas erreicht worden? Man würde es nicht versucht haben, wenn man nicht daran geglaubt hätte, und man würde nicht daran geglaubt haben und hie und da noch daran glauben,

wenn Zauberei und „Hexen" nicht ab und zu wirkliche, wenn auch nur scheinbare Erfolge gezeigt hätte! Worauf beruhen diese scheinbaren

Erfolge der Zauberei? a. Zuerst aus offenbarem Betrug pfiffiger oder böser Menschen, welche die Unwissenheit ihrer Zeit oder ihrer Umgebung in selbst­

süchtiger Weise ausbeuteten, und entweder ihre Mitmenschen über­ haupt betrogen oder sie hinsichtlich der Mittel, durch welche sie ihre Wirkungen hervorbrachten, z. B. kranke Thiere oder Menschen heilten, wissentlich im Dunkel ließen. So erinnere ich mich, wenn ich nicht irre, in der Beschreibung einer Reise durch den nördlichsten Theil

von Schweden gelesen zu haben, wie ein Reisender in einer Hütte

einen Beschwörer getroffen habe, welcher den Kranken zunächst durch tüchtige schweißtreibende Mittel in einen kritischen Schweiß gebracht, und dann erst seine Beschwörungen begonnen und mit vielem Geschrei

und Verrenkungen des Körpers um den Leidenden herumgesprungen sei. Der Mann, der einen intelligenten und wohlwollenden Eindruck ge­ macht, habe dann auch den Grund seines Verfahrens angegeben, daß, wenn er nicht diesen Hokus-Pokus treibe, kein Mensch irgend eine Arznei von ihm annehmen noch seinen Vorschriften gehorchen werde.

Ueberdies unterstütze der Glaube die Wirkung der Heilmittel.

Das

war ein beziehungsweise ehrlicher Beschwörer; andre haben betro-

1. Hauptstück.

60

Luthers Erklärung 311111 zweiten Gebot.

gen, sei es, um ihr Ansehn zu vermehren, sei es um sonstiger Vor­ theile willen.

b. Ein großer Theil von den — übernatürlichen Mitteln und Kräften zugeschriebenen — Erfolgen kommt auf Rechnung gewisser

Naturkräfte, deren sich die Leute selbst nicht bewußt waren, bereit

Gesetze man noch heute nur theilweise kennt: Elektrizität, Magnetis­ mus, Galvanismus.

Alle diese, weithin durch die Natur verbreitet,

ja weiter, als der ununterrichtete Mensch weiß, wirken überall in der

Welt; aber gewisse Dinge, Thiere und auch Menschen sind vorzugs­

weise Träger derselben, wie z. B. die uns allen bekannte Hauskatze in hohem Grade elektrisch ist, der elektrische Aal und der Roche da­ gegen förmlich einen elektrischen Apparat im Leibe führen, kraft dessen

sie Menschen und Thiere lähmen, ja todten können.

So ist wohl

auch in einzelnen Menschen die eine oder andere Kraft stärker ent­ wickelt, als in anderen, und sie dadurch befähigt, Wirkungen hervor­

zubringen, bereit andre nicht mächtig sind.

Namentlich gehört hier­

her der sogenannte magnetische Schlaf mit seinem Hellsehen und in die Ferne Sehen,

aus

dem wahrscheinlich zum großen Theil die

Wahrsagerei des Alterthums (der Pythia, der wahrsagenden Sklawin zu Philippi Apost. 16) beruhte.

Die Erscheinungen dieser und ähn­

licher Zustände find wissenschaftlich noch nicht hinlänglich aufgeklärt;

nur das scheint festzustehen, daß, so viel wissentlicher und unwissent­ licher Betrug, Selbsttäuschung und Täuschung anderer sich an sie an­ geschlossen hat, die Sache keineswegs auf reiner Täuschung beruht;

andererseits, daß insbesondere dieser magnetische Schlaf keine höhere Begabung, sondern eine krankhafte Störung des menschlichen Or­

ganismus ist.

Das bedingt auch die Anwendung, welche ein Christ

davon machen kann, wovon später ein mehreres. — In früheren Zeiten nun, in welchen die Leute dem allen noch weniger auf den Grund zu sehen wußten, als jetzt, war es sehr natürlich, daß solche Menschen, welche in dieser Beziehung eigenthümlich begabt waren,

oder denen sonst wie Kräfte

zu Gebote standen, welche sie

theil­

weise selbst nicht kannten, noch die Weise ihrer Wirksamkeit wußten,

von ihren Zeitgenossen für höher begabte Wesen — Wunderthäter

oder Zauberer —

gehalten

hielten

Ergebniß

und

als

wurden

und

sich

übernatürlicher

auch

selbst

Kräfte

dafür

ansahen,

Ursprung des Glaubens daran.

Zaubern.

61

was unsre Zeit mit Recht auf natürliche Mittel und Kräfte zurück­

führt. c. Vor allem in Betracht zu ziehen ist der lange nicht genug

gewürdigte Einfluß des Geistes auf den Leib, namentlich die Ein­

wirkung krankhaft gereizter Phantasie aus die Sinne.

Zahllos sind

die Fälle, in denen heftige Gemüthsbewegungen, insbesondere Furcht, Angst, Schrecken außergewöhnliche Wirkungen auf Gesundheit und

Leben, heilsame und schädliche, hervorgebracht haben.

trägt spät

Ein Mann

in der Nacht seinen an den Füßen gelähmten Freund

über einen Kirchhof.

Da sehen sie ein Gespenst; um schneller zu

fliehen, läßt der Träger den Kranken fallen, aber siehe, dieser ist

noch vor jenem zu Hause. fahren.

Die Furcht war ihm in die Beine ge­

Ein Hofnarr hatte in guter Absicht,

Herrn durch den Schreck vom Fieber zu heilen,

Wasser geworfen.

nämlich, um seinen seinen Herzog in's

Für dieses Majestätsverbrechen wird er zum Tode

verurtheilt; doch sollte er, da er nur Schrecken erregt hatte, auch nur mit

dem Schrecken bestraft werden.

So werden denn alle bei einer Hin­

richtung vorkommenden Prozeduren mit ihm durchgemacht, als es je­ doch zum letzten kommt, der arme Sünder statt mit dem Schwerte

mit einer Bratwurst in den Nacken geschlagen. Zusammengesunkenen aufhob, war er todt.

Als man aber den

So können viele von den

Zauberwirkungen ohne Zweifel auf die Furcht,

das Grauen, das

haarsträubende Entsetzen, das diese Hexen und Zauberer um sich zu

verbreiten wußten, zurückgeführt werden.

bildungskraft

Jedermann weiß, daß Ein­

uns im Traume oder im Fieber Gestalten

vor

die

Seele stellt, uns Stimmen hören, Gespräche führen läßt, welche wir,

solange diese Zustände währen, unterscheiden vermögen.

gar nicht von der Wirklichkeit zu

Neuere Wissenschaft hat fcstgestellt, daß und

nach welchen Gesetzen bei einer krankhaft überreizten Phantasie Aehn-

liches auch im Wachen geschieht, daß die Sinne in einer Weise an­ geregt werden, daß die Kranken darauf schwören, sie Erscheinungen gesehen,

diese Menschen

haben diese

gesprochen, dies mit ihnen

geredet, ja sie mit Händen gegriffen und gefühlt: und dennoch ist alles solches nur ein innerer Vorgang ohne jede äußere Wirklichkeit.

Auf diesen Vorgängen beruht ein großer Theil, in dem einen Falle der Heiligen-Erscheinungen, in andern alle der Teufelsspuk, von denen

62

1. Hauptstück.

Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.

die Berichte des Mittelalters voll, insbesondere die Akten der Hexenprozesse strotzen. Erscheinungen

Zwar darf man bei den Teufelsgeschichten — den

des Satans,

der Bündnisse mit dem

Satan,

den

Hexenritten und Hexenfesten — nicht vergessen, daß die Geständnisse

meist durch die „Tortur" erzwungen worden sind.

Was gesteht aber

ein Mensch nicht, wo er in dieser Weise „peinlich befragt" wird! Ich wenigstens traue mir nicht so feste Nerven zu, daß ich nicht ge­

stände, wenn man es zu wissen verlangte, daß nicht Gott, sondern

ich die Welt geschaffen habe.

Andrerseits: wie kam man doch darauf,

dergleichen peinlich zu erforschen? Die Gedanken müssen also wohl schon vorher in den Köpfen gewesen sein und die Gemüther bewegt

haben.

Auch sind keineswegs alle Geständnisse erzwungen; viele sind

auch freiwillig abgelegt und in einer Weise, daß man sieht, die Be­

kennenden glauben an das, was sie berichten. — Man bedenke nur Vorgänge,

wie sie Klüden in seinem „die Quitzows in der Mark

Brandenburg" erzählt, und wie sie ohne Zweifel öfter vorgekommen sind.

In der heiligen Weihnachtsnacht um die Mitternacht geht ein

Mann tief in den Wald fern von allen bewohnten Orten, bis dahin, wo keine Glocke mehr tönt, und auch er darf nicht an Gott denken,

geschweige dessen Namen aussprechen.

Da an einem Kreuzwege zieht

er den Zanberkreis, mit Schlangenköpsen und Jltisknochen und an­

derem zauberhaften, graulichen Gethier, und

nun hebt er an, zu

zählen; — schon ist der Teufel da und sucht ihn mit allerhand Spuk

zu irren — vor- und rückwärts, dreimal bis 48, ohne sich einmal zu verzählen oder zu stocken.

Gelingt ihm das, so muß der Teufel

endlich als Sold den Heckegroschen darauf thun, zu dessen Erlangung dieser Spuk unternommen ward.

Wo nicht, durchbricht der Satan

den nicht mehr schützenden Zauberkreis und zerreißt den Menschen

in Stücke.

Wie mag ein solcher gezittert, wie mag er geschrieen,

wie mögen ihm die Haare zu Berge gestanden haben, — jedes vor­ übereilende Wild, der leise Flug der Eule, das ferne Geheul des

Wolfes malte ihm den Teufel vor; jetzt, jetzt ist er da; er schwur darauf, er hat ihn gesehen, nach ihm gegriffen; und nur, daß der Elende in seiner äußersten Noth

an Gott gedacht oder zu Gottes

Heiligen geschrieen, hat ihn gerettet.

Oder auch: es fraß ihn Bär

und Wolf, deren es ja in jener Zeit genug gab, und später Vorbei-

Zaubern.

63

Herenprozesse.

kommende fanden dann das hie und dahin gezerrte Gebein und den zerrissenen Zauberkreis: der Teufel hat ihn geholt; daß die Fährte des Raubthiers dabei war, störte den Glauben dieser Zeit nicht, der

Teufel nahm eben jede Gestalt an. Das alles hat für uns zunächst nur psychologisches und kultur­ historisches Interesse und lieft und erzählt sich jetzt ganz unterhaltend:

aber eigentlich ist es doch etwas

entsetzliches! Welche Verwüstung

und Verwilderung des Gemüths tritt uns doch in jenen Gedanken und Geschichten

entgegen.

Dieses

geflissentliche Hineinziehen

des

Heiligsten, um es zu entheiligen, welches sich in alle diesem Zauber­ spuk wiederfindet! Dieses Daransetzen nicht bloß des zeitlichen Lebens, sondern des ewigen Heils, um reich, mächtig, hieb- und schußfest zu

werden! Der feste Entschluß,

sich Gottes

und des Gedankens

an

ihn, theils für immer, theils auf längere oder kürzere Zeit zu entschlagen und es mit dem Teufel zu versuchen! Ob dieser erschien oder

nicht erschien, ist für die sittliche Beurtheilung der Sache gleichgültig;

der Bund war innerlich gemacht, das Verbrechen mit dem conatus (Versuch) vollendet. — Dazu die Erfüllung und Vergiftung der Phan­ tasie mit dem Allerscheußlichsten und Entsetzlichsten, dem Gemeinsten

und Schmutzigsten, welche wir nicht bloß bei denen finden, die diese Gedanken bis an den Wahnsinn pflegten und aus ihnen heraus Gott­ loses und Verbrecherisches vollbrachten — viele Zauberer und Hexen

sind ohne Zweifel als Verbrecher, Giftmischer, Verfertiger von schäd­

lichen Liebestränken u. s. w. gestorben — sondern auch bei denen, welche gegen dieselben auf Tod und Leben kämpften! Zwei Jahr­

hunderte hindurch lagerte der Glaube an diesen Teufels- und Zauber­ spuk, wie eine geistige Epidemie, aus der Christenheit, beschäftigte

ihre Gedanken, bestimmte ihr Handeln, machte sie gegen ihr Fleisch

und Blut wüthen.

Massenweise wurden die Hexen verbrannt;

es

gab Orte in Deutschland, vor deren Thoren die halbverkohlten Pfähle der Scheiterhaufen zu Dutzenden — wie ein Wald, sagt ein alter

Berichterstatter — standen.

Es ist festgestellt, daß über eine Million

Menschen diesem Wahne zum Opfer gefallen

sind.

Da war kein

Alter und Geschlecht, kein Rang und Stand, keine Tugend, die —

wenn der Verdacht einmal laut geworden war — gegen die Tortur

und den Feuertod schützte.

Und das ward nicht bloß von dem Pöbel

64

I. Hauptstück.

Luthers Erklärung zum zweite» Gebot.

und in Bosheit, aus Haß und gewinnsüchtiger Absicht ansgeübt:

nein, das ist das Erschütterndste dabei, ernste Richter und fromme Geistliche beschäftigten sich damit; die Erkennung von Hexen war

eine Wissenschaft, die Jagd auf sie eine Kunst geworden.

Es ist

bekannt, wie selbst die Reformatoren, Luther voran, die Bestrafung

der Hexen billigten, letzterer einen teuflischen Wechselbalg zu ersäufen

rieft).

Nicht minder bekannt ist, daß er an sich eigene Anfechtungen

und Erscheinungen des Teufels

erleiden zu müssen

gemeint hat.

Er hat heldenmüthig widerstanden — der bekannte Wurf des Tinten­

fasses auf der Wartburg gegen den Teufel ist mit nichte« der ge­ ringste Beweis seiner geistigen Tapferkeit und selbst, wenn er eine Fabel wäre, ein drastischer Ausdruck der Mannhaftigkeit, die jeder

Christ gegen dergleichen Spuk beweisen soll —: aber was er unter diesen Erscheinungen gelitten, und welch einen Schatten sie auf sein Leben geworfen: das bedenken die leichtlebigen, auf das Aeußerliche

gerichteten Kinder unserer Zeit nur selten. — Dem tiefer Blickenden stellt sich

in diesem Teufels- und Zauberspuk eine der dunkelsten

Seiten in der Geschichte des menschlichen Geschlechtes dar, und ge­ winnt er aus solcher Betrachtung den Ernst, mit welchem er alles, was nur im geringsten daran anstreist, behandelt.

Beiläufig

daß die letzte Hexe 1730 im Kanton

sei erwähnt,

Glarus verbrannt worden ist.

Dagegen trage ich

noch in eigner

Erinnerung, wie vor etwa 30—35 Jahren Fischer auf dem Putziger

Wiek in Pommern ein armes altes Weib, das durch ihre Zauberei Krankheit bei Vieh und Menschen hervorgerufen haben sollte, als

Hexe im Meere ersäuft haben. — Kommen denn noch in unsren Tagen Versuche vor, gegen welche das Verbot, du sollst nicht zaubern, geltend gemacht werden müßte?

Zuerst: der Glaube an Zauberei ist, wie das Ebenerwähnte beweist, noch nicht ausgestorben;

häufiger,

als

man

ist vielmehr nur unter anderem Namen

meint.

Wer hat nicht schon die Rede gehört,

wenn dem Unwissenden in Folge seiner Vernachlässigung sein Vieh siecht, sein Acker nicht trägt, sein Thun nicht lohnt: „das gehe nicht

mit rechten Dingen zu"!

Und allerdings kann ja nicht mit rechten

Dingen zugehen, was mit Faulheit, Ungerechtigkeit und Dummheit

zugeht: das sind Teufeleien genug, um das beste Anwesen zu rni-

Aberglaube unserer Zeit, Wahrsagen, Besprechen u. bergt.

65

niren. — Bis in die neusten Tage hinein bringen öffentliche Blätter die Nachrichten, wie bald hier bald da Abergläubische von Schatz­

gräbern sind ausgeplündert worden.

Und wenn das sich immer nur

auf den „Salier“ beschränkte: aber nein, auch in großen Städten und bei „Gebildeten"

finden sich Ansätze und Erinnerungen an

Hexerei und Zauberei: Bleigießen am Sylvesterabend, nicht bloß zum Spaß, sondern, um im Ernst die Zukunft zu erfahren, Traum­ deuten, Wahrsagen aus Kaffeegrund, aus der Hand oder von einem

Karten legenden Weibe. Es ist ein nicht seltener Mißbrauch der heiligen Schrift, daß man entweder zu einem ähnlichen Zwecke oder auch, um sich in ungewissen Fällen Rath zu holen, blind in die Bibel hineingreift und den zufällig getroffenen Spruch als einen

prophetischen ansieht oder als Entscheidung Gottes, was wir thun sollen.

Eine wahrhaft verdammungswürdige Entweihung der heiligen

Schrift und das gerade Gegentheil von dem, wofür sich dieses Ver­ fahren oft ausgiebt, vom Glauben! — Was wir von der Zukunft

zu wissen nöthig haben, wird uns noch immer verständige Ueber«

legung zeigen; was wir nicht in dieser Weise ergründen, danach sollen wir nicht forschen, sondern es Gott befehlen und im Ver­ trauen erwarten. „Es ist genug, daß jeder Tag seine eigene Plage habe" (Matth. 6, 34).

Desgleichen in wichtigen Fällen, z. B. bei Eheschließungen, statt in das Gewissen zum Orakel greifen, ist nicht um ein Haar breit besser, als Knöpfe abzählen oder Blumenblätter zupfen, und

der Unterschied nur der, daß man bei jenem Gottes Wort mißhan­ delt.

Der Leichtsinn und die Gedankenfaulheit bleibt dieselbe. —

Weiter gehört in dieses Kapitel die ganze Reihe von Besprechungen: der Rose, des Fiebers, des Blutes, von Hautauswüchsen und, was

dgl. mehr ist, welchen manche große Dinge nachrühmen und sie ganz unbedenklich anwenden. Zuerst glaube ich nicht daran.

Ich habe noch

keinen gesunden, der die Wirkung davon an sich selbst erfahren hätte,

oder wo nicht vielmehr dieselbe auf andere Ursachen zurückzuführen

gewesen wäre, beziehungsweise sich als Täuschung enthüllt hätte'). Y) Ein eklatanter Fall von der Wirkung des Besprechens wird von einem er­ zählt, der ihn mit erlebt hat. In einem Stalle wollen plötzlich die Pferde nicht fressen. Alle Mittel werden vergeblich versucht: „Sie sind behext, es liegt ein Bann El test er, Materialien.

2. Auflage.

5

66

1. Hauptstück.

Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.

Sodann sind sie gar nicht so ungefährlich, als es denen erscheint, welche sagen: man kann es ja doch versuchen, jedenfalls schadet es

nicht.

Es ist richtig, in manchen Fällen schaden sie so wenig, als

sie nützen, in andern kann das Hinzögern mit ihnen sogar den Tod bringen. Es giebt verschiedene Arten der Rose, die eine ganz ungefähr­

lich, die andere — wenn nicht rechtzeitig ärztliche Hülfe kommt — tödtlich: der Laie aber vermag die beiden nicht

zu unterscheiden.

Darum mag einer sich wohl, vorausgesetzt, daß sonst nichts Unrechtes

und Unchristliches dabei vorkommt, ohne Sünde Warzen besprechen lassen; in ernstlichen Krankheiten soll er sich nicht darauf einlassen,

sondern sofort den Arzt fragen. — Drittens habe ich dagegen, daß die eben genannte unerläßliche Bedingung selten zutrifft.

In der

Regel wird bei derartigen Besprechungen die Formel: Im Namen

des Vaters u. s. w. angewendet.

Das ist ein entschiedener Mißbrauch.

Zwar wollte es einmal ein Gemeindeglied damit vertheidigen, daß

wir doch alles im Namen Gottes thun sollen, Namen bei allem anrufen dürfen.

also

auch seinen

Gewiß bei allem, aber doch in

der Gesinnung und zu dem Ziel und Ende, wozu derselbe gegeben ist, nämlich zu unsrer geistigen Aufrichtung, zum Beten, Loben und

Danken, aber nicht, um Warzen zu vertreiben. auch

Ebenso könnte man

das heilige Abendmahl als Mittel zur Sättigung oder

Medizin gebrauchen.

als

Der Frevel ist derselbe: nur, daß wir bei dem

Abendmahl gewarnt sind, den Leib des Herrn zu unterscheiden, dort aber noch gedankenlos verfahren. — Zu erwähnen ist hier auch die Weise, in welcher Gebildete und Ungebildete sogenannten Wunder­

doktoren, klugen Schäfern und Scharfrichtern zuströmen und deren Mittel, je unverständlicher, namentlich aber, je widerwärtiger und grausiger,-um

so lieber —

mit einer Gewissenhaftigkeit brauchen,

welche einer bessern Sache werth wäre.

Diesem widersinnigen Treiben

liegt mitunter eine entfernte Ahnung der Wahrheit zu Grunde; nämlich auf bei» Stall." Der Scharfrichter wird geholt, den Bann zu lösen. Derselbe ist bereit und bittet sich nur einen Nagel von einem Sarge aus, uiib damit geht

er an's Werk. Als er den Stall verläßt, fressen die Pferde, wie ehedem. — Hinterher wird freilich kund, daß er nichts gethan, als den Pferden mit Wasser und Salz die Zähne von der Seife gereinigt, mit welcher sie der frühere Knecht, erbittert über seine Entlassung, beschmiert, und bereu ihnen widerwärtiger Ge­ schmack sie vom Fressen abgehalten hatte.

Zauberei und Wunder.

67

das durkle Bewußtsein, daß zu einem Heilkünstler eine gewisse natür­

liche Bezalmng gehört, welche, wo sie fehlt, keine Wissenschaft zu geben vermag, die andrerseits bei Nichtstudirten

in ausgezeichneter Weise

vorhanden sein kann: sodann, daß unsre gesammte Arzneiwissenschaft auf Erfahrung beruht und mit Hausmitteln begonnen hat.

man dam immerhiir —

So mag

unter Beistand kundiger Aerzte —

die

Mittel jener Leute brauchen, wo einmal ausnahmsweise ein begabter

und verständiger auftaucht, der zu sehen und zu beobachten gelernt hat.

Derohne sich dergleichen Leuten hingeben, ihretwegen wohl gar

die „ftubirten" Aerzte verachten, das zeigt eine Geringschätzung der

Wissenschaft, welche insbesondere, wenn sie bei wissenschaftlich Ge­

bildeten vorkommt, beweist, wie wenig diese in ihrer eignen Wissenschaft geleistet und gelernt haben.

Die Schrift sagt: Verachte den Arzt

und seine Kunst nicht, denn sie sind von Gott (Sir. 38). — Endlich

noch dic Frage: Darf und in wie weit darf ein Christ sich der Hülfe der sogenannten Clairvoyants bedienen, ihre Vermittlung in Krank­

heitsfällen in Anspruch nehmen und ihren Anordnungen, wenn sie ihm unzesncht entgegenkommen, folgen? Diese Frage kann verschieden

beantwortet werden, je nachdem man zu der Sache steht.

diesen Erscheinungen

nichts,

als das Spiel

Wer in

geheimnißvoller,

noch

nicht aufgeklärter Naturkräfte sieht, der mag sich unter dem Beirath

Kundiger dieser Kräfte ebenso, wie jeder anderen, bedienen, voraus­ gesetzt, das daraus den magnetisch Affizirten kein weiterer Nachtheil erwächst, fe weder in ihrer Gesundheit geschädigt, noch

durch

die

Ausmerlsankeit, welche man ihnen schenkt, ihre Seele verderbt werde. Anders desienige, welchem dieses ganze Gebiet verdächtig ist, der es als einen Tummelplatz des Aberglaubens, bewußter oder unbewußter

Täuschung ansieht. verhalten.

Der kann und darf sich nur

ablehnend dazu

Bei der hier noch herrschenden Dunkelheit ist die Sache

immer bedenklich. Es wäre noch übrig, von dem Verhältniß

der Zauberei zum

Wunder, ramentlich dem biblischen Wunder zu reden.

Bevor wir

uns baraif einlassen, müßten wir zuvor das letztere ausführlich be­

sprochen heben, was an seinem Orte geschehen soll (siehe 2. Hauptst. 2. Art.).

So können wir hier nur sagen: die Zauberei unterscheidet

sich von bim Wunder zuerst durch die jeweilen zu Grunde liegende 5*

1. Hauptstück.

68 Gesinnung.

Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.

Jene ist ein willkürliches, unsittliches und ungöttliches

Thun, ausgeübt in selbstsüchtiger, niederer, wo nicht böswilliger, sich

unter Umständen bis zum Hasse gegen die Menschheit steigernder

Absicht: Wunder dagegen werden wir nur bei solchen einräumen, deren gesummte Erscheinung auf uns den Eindruck hervorragender

Heiligkeit macht, die Gottes Wege in Lauterkeit wandeln, Menschen­ wohl in heiliger, selbstsuchtloser Liebe suchen.

Sodann unterscheiden

sie sich hinsichtlich der in ihnen wirkenden Kräfte und der von ihnen erzielten Wirkungen.

Unsre ganze Darstellung zeigt,

daß wir die

Wirkungen der Zauberei überhaupt für problematisch vielmehr aus andern Ursachen herleiten, desgl. die

halten, sie

in ihnen zur

Erscheinung kommenden Kräfte

nicht

gesunde und krankhafte ansehen.

Dem fügen wir noch hinzu, daß,

als

höhere,

eher

als un­

wo wirklich einmal eine Zauberkraft das Maß nicht bloß des Alltäg­ lichen, sondern auch des innerhalb der menschlichen Natur überhaupt Möglichen zu überschreiten scheinen sollte, wir solches nur als Folge

der einseitigen Zuspitzung einer einzelnen Kraft betrachten, den Gesammtzustand des Menschen selbst aber nach wie vor als unter dem Niveau der harmonisch ausgebildeten Menschennatur stehend halten würden.

In dem Wunder erblicken wir in der That „Kräfte" Gottes,

die zwar ebenfalls das Maß des überhaupt Menschenmöglichen und Denkbaren nicht unbedingt überschreiten, jedenfalls aber eine höhere Begabung sind, wie sie Gott nur seinen auserwählten Rüstzeugen verleiht. — In der Schrift haben wir nur einen merkwürdigen Ab­ schnitt Apostg. 19, 11—17, in welchem uns dicht bei einander der Wunderthäter (v. 11),

die

beginnenden Auswüchse

des Wunder­

glaubens (v. 12), endlich die Beschwörer (v. 13) entgegentreten. „Gott wirkte nicht geringe Thaten durch die Hände Pauli", wie sich nach der Gesammtanschauung der Schrift von selbst versteht, in bei'

Kraft des Geistes mittelst des Glaubens an Christus.

Die Menge

dagegen schreibt bereits der rein leiblichen Berührung seiner Gewänder

wunderthätige Wirkung zu; endlich die umlaufenden Juden brauchen

den Namen Jesu — den sie auch nur als den „Jesus, den Paulus predigt", zu bezeichnen wissen, den sie folglich sonst nicht kennen,

geschweige innerlich zu ihm eine Beziehung haben — als eine magisch wirkende Zauberformel.

Der Unterschied tritt hier so scharf und

Lugen und Trügen im Namen Gottes (Heuchelei).

69

kennbar hervor, daß sogar der vom bösen Geiste Besessene — einer

jener nervös zerrütteten Menschen, wie sie damals im Oriente, be­ sonders in Palästina massenhaft vorkamen — davon assizirt wird

und sich in plötzlichem Parorismus, wie sie bei dergleichen Kranken

Vorkommen, auf die Betrüger wirft und sie verwundet. IV.

Vom Lugen oder Trügen im Namen Gottes.

Unter dem Lügen oder Trügen beim Namen Gottes versteht man jede Art von Scheinheiligkeit oder Heuchelei — ein Vorwurf, welcher oft genug auch gegen die Aeußerungen einer fremdartigen, querköpfigen, exzentrischen Frömmigkeit erhoben wird.

Was sich bei uns nicht mit

der Wahrheit vertragen würde, oder auch, was uns lästig, unbequem, widerwärtig ist, das, schließen wir, könne auch bei andern nur ein

zur Schau Getragenes, Gemachtes sein, und schelten es im Gegensatz zur Frömmigkeit Frömmelei, Pietisterei, Muckerei, ohne zu bedenken, daß wir damit gegen die Betreffenden den unter allen schwersten Vor­ wurf schleudern; denn auch die Zöllner, ja die verworfensten Sünder

werden eher in das Himmelreich kommen, denn ein Heuchler (Matth. 21, 31).

Da gilt es recht sorgsam unterscheide». Die beste Gelegenheit dazu bietet der Pharisäer zur Zeit des

Herrn, diese klassische Ausgestaltung der Scheinheiligkeit, welche der Herr selbst Heuchler gescholten hat: „Wehe euch Schristgelehrten und

Pharisäern, ihr Heuchler" (Matth. 23), deren Namen die sprüchwörtliche Bezeichnung für jede Art von Heuchelei geworden ist, und die dennoch bei weitem nicht alle Heuchler waren: man denke nur

an Paulus (Apostg. 22, 3; 23, 6; 26, 5; Phil. 3, 5 s.), an Simon Zelotes'), welcher der äußersten Partei unter den Pharisäern ange­ hörte (Apostg. 1, 13), an die Urgemeinde zu Jerusalem mit der starken

Vertretung der pharisäischen Richtung in ihr! Was machte da den Unterschied und war am Pharisäismus das Heuchelwesen? Die Pha­

risäer, wie die etwas nach ihnen und int Gegensatz zu ihnen ent­ standenen Sadduzäer, waren religiös politische Parteien (eine Ver­ bindung

auf dem Boden

des theokratischen Judenthums eben so

natürlich, als unberechtigt und unerquicklich, wo sie uns heute auf ]) Zelotes = Eiferer; so auch Matth. 10, 4 Simon, der Kananites oder Ka-

nanäus, nicht: Simon von Kana, sondern: Simon, der Eiferer, von dem ebräischeu Jtannah = Eiferer.

70

1. Hauptstück.

Erklärung Luthers zum zweiten Gebot.

dem Boden des Christenthums entgegentritt).

Die Pharisäer, eine

Vereinigung von Männern aus dem ganzen Volke, Priester und

Nichtpriester, Gelehrte und Ungelehrte, Vornehme und Geringe, bilde­

ten die gesetzesfromme, heidenfeindliche, nationale Partei, die den alten Glauben und den alten Staat — das Gesetz wieder zurück­ führen wollte, unangesehen die gänzlich veränderte Weltlage.

Zur

Zeit der Makkabäischen Erhebung, in welcher sie unter dem Namen

der Chasidim („Fromme") austraten, die Träger dieser Erhebung, waren sie noch geraume Zeit nachher der Kern der Nation.

Ihre

spätere Entartung ist, obschon nicht ausschließlich, ihrem Auftreten

als Partei zuzuschreiben. — Nichts verdirbt ursprünglich reine Be­ strebungen so sehr, verstärkt den Egoismus, stumpft das Gewissen ab,

als /wenn sie in den Kampf um Parteiherrschaft gezogen werden. Da macht man mit und benutzt Mittel, welche man für sich allein

nicht brauchen würde, da gelangt man dazu, auch die Frömmigkeit zu einem Mittel zu machen. — Doch lag ein Keim des Verderbens

allerdings in dem Pharisäismus selbst. Derselbe entbehrte des ur­ sprünglichen religiösen Lebens, er war wesentlich Tradition und Restauration an Stelle des Prophetenthums, Schriftgelehrsamkeit,

die man höher hielt, als die ursprüngliche Offenbarung.

„In den

Worten des Gesetzes giebt es Wichtiges und Unwichtiges, die Worte

der Schreiber aber sind alle wichtig.

Darum, mein Sohn, sei sorg­

fältiger in den Lehren der Sopherim, als in denen des Gesetzes." Dazu das Streben, das Gesetz mit immer weiteren Geboten zu um­

geben, um es und um sich vor jeder selbst unbeabsichtigten Uebertretung zu schützen: „Machet einen Zaun um das Gesetz." Das gab dem Pharisäismus die Richtung aus das Aeußerliche und drückte ihm

den Charakter der Peinlichkeit und des Haftens am Kleinlichen auf, unter welchem redliche Gemüther, wie Paulus, sich verzehrten (Röm. 7),

die Masse aber mehr und mehr zu der geistigen Blindheit oder der Verlogenheit herabsank, über welche der Heiland wiederholt, nament­ lich in der großen Strafpredigt Matth. 23 sein Wehe rief.

Bei alle

dem stehen die Pharisäer ihrem Kerne nach höher, als die sie be­

kämpfenden Sadduzäer, die hierarchisch aristokratische Partei, kalte, herrische, äußerem Wohlleben hingegebene Menschen, ohne Liebe für das Volk und ohne Einfluß auf dasselbe, die aber zu Jesu Zeit die

Siigen und Trügen im Namen Gottes (Heuchelei).

Regierung führten,

71

„ein charakterloses Gemisch hierarchischer Ver­

steifung und fremdländischer Aufklärung", die einerseits viel aus­ schließlicher, als die Pharisäer, deren Zusätze sie verwarfen, auf die

alleinige Geltung des Gesetzes zurückgingen und jede Uebertretung desselben von Regierungs wegen auf das grausamste straften, andrer­

mit der griechischen Bildung und den fremden Machthabern

seits

liebäugelten, Freunde und Stützen der Römer, deren Herrschaft sie für unabwendbar hielten, und gegen die sie um so weniger revoltirt haben wollten, als sie deren Regierung in materieller Beziehung als

Vortheilhaft für das Land erkannten. Ihnen fehlten die großen Gedanken, welche der Pharisäismus noch in seiner Entartung, freilich in verkümmerter Gestalt, festhielt: die Gerechtigkeit vor Gott, das

Reich Gottes, der Glaube an die Bestimmung des Volkes und den kommenden Messias.

Das erklärt, warum der Herr neben dem

Hasse, welcher ihm von den Pharisäern wurde, auch unter ihnen viele Anhänger und sogar Jünger gewann, unter den Sadduzäern dagegen nicht einen.

Der Sadduzäismus verhielt sich zu dem Messias

Das hat nicht gehindert, daß sie nicht gelegentlich, wo Regierungs-Interessen in's Spiel kamen, gegen das Christenthum gleichgültig.

ebenso wütheten, wie die fanatischen Pharisäer. Kaiphas z. B., der den Rath gab, es ist besser, daß ein Mensch für das Volk sterbe, als daß

das ganze Volk zu Grunde gehe (Joh. 11, 50), war ein Sadduzäer,

ebenso der Ananias, unter dessen Hohenpriesterthum (Apostg. 4, lf.; 23, 2) der Bruder des Herrn, Jakobus, hingerichtet wurde.

Es erübrigt noch, uns die Züge zu vergegenwärtigen, welche

der Herr in seiner Strafrede wider die Pharisäer vorführt, welche

insgesammt Anwendung auch auf unsere Zeit leiden. Matth. 23,1 f.: Auf Mosis Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer u. s. s.

An Mosis Stelle leiten jetzt die Schriftgelehrten und Pharisäer das Volk.

Alles nun, was sie aus dem Gesetze lehren, das thut und

haltet: aber sie selbst nehmt nicht zum Muster hinsichtlich der Frömmig­

keit.

Sie sagen es wohl, aber sie thun es nicht. — Ueber alles also

die Hinweisung auf den Widerspruch zwischen Lehre und Leben, Lehre und Gesinnung. V. 4. Sie binden schwere und unerträgliche Bürden zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern.

Charakterisirung der

72

1. Hauptstück.

Erklärung Luthers zum zweiten Gebot.

pharisäischen Glaubens- und Sittenlehre als einer mühseligen Zusam­ menstellung von lauter Einzelheiten und Kleinigkeiten, unlebendigem,

dürrem Holz, statt eines Gusses aus dem Ganzen und dem Vollen. — Denselben Charakter des Unlebendigen, bei allem Fanatismus der

Wärme des Herzens Entbehrenden, in trockener Verständigkeit Zusam­ mengesuchten und künstlich Zusammengehaltenen zeigt eine dem Phari­ säismus verwandte orthodoxistische Richtung unserer Tage. Auch hier

nicht die volle, ganze, unbedingte, fröhliche Hingabe des Herzens an Gott, an Jesum Christum, an den Geist Gottes und Christi, sondern die

verstandesmäßige Annahme einer Anzahl von Glaubenslehren, die Un­ terwerfung unter eine Reihe von Begriffsbestimmungen, das Aufladen

des ganzen „Bündels" von Bekenntnissen, die viele nicht einmal kennen,

auch nicht zu kennen brauchen — es ist genug, daß die „Kirche",

die „Obersten" (vergl. Joh. 7,47 s.) sie aufstellen und an ihnen festhalten.

Athanasianum und unverfälschte Augsburgische Confession

und Concordienformel und demgemäß Trinität und die beiden Na­

turen und Erbsünde und Teufel und, was sonst noch für Einzel­ heiten einer in sein Bündel schnürt (denn es ist gar kein Grund,

nur bei diesen stehen zu bleiben und nicht noch andere „Reiser" hin­ zuzufügen), das soll über Glauben oder Nichtglauben, Christenthum oder Nichtchristenthum, über Heil und Verdammniß entscheiden.

Ebenso in Beziehung aus das Leben: Auch hier kein sich vom Geiste Gottes treiben Lassen (Röm. 8,14), kein unbefangenes Handeln aus dem Glauben und der Liebe heraus, in dem fröhlichen Bewußtsein, die Liebe thut dem Nächsten nichts Böses, sie ist des Gesetzes Er­ füllung (Röm. 13, 10), sondern Satzung und Satzung, und Gebot

über Gebot.

Rühre das nicht an und Untertaste jenes: es ist ein

recht mühselig Ding, ein wahrer Knechtesdienst im Reiche Gottes, wenn einer sich und andern dergleichen Bürden aufladet.

Thut er­

es indeß in Redlichkeit und hilft selbst mittragen, nun so ist und bleibt er allerdings ein armer, geplagter Knecht, aber ein Knecht Gottes, der ihm um seiner Treue willen schon weiter helfen und ihn über mehreres setzen wird.

Halset er dagegen, wie es der Er­

löser diesen Pharisäern vorwirft, solche Lasten nur andern auf, will aber selbst mit keinem Finger daran rühren, wie es ja dergleichen

„Kirchenpolitiker" giebt: dann hat er sein Theil unter den Heuchlern!

Lügen und Trügen im Namen Gottes (Heuchelei).

73

V. 5. Alle ihre Werke thun sie, daß sie von den Leuten gesehen werden, sie machen ihre Denkzettel breit und die Säume an ihren Kleidern groß: Denkzettel sind Streifen von Pergament, worauf die

Stellen 5 Mos. 6,4—9; 11, 13—21; 2 Mos. 13, 1—lOu. 11—16 ge­ schrieben in zwei würfelförmigen Kapseln von Pergament verwahrt waren, welche sie auf den linken Arm und an die Stirn mit Rie­

men banden, aus wörtlichem Verständniß von 2 Mos. 13, 9 u. s. w. — Die Juden thun es noch beim Beten und nennen sie Tephillim

(Gebetsriemen).

Sie sollen an die Pflicht erinnern, das Gesetz zu

erfüllen, und galten zugleich als Schutz gegen die bösen Geister. — Die Säume, richtiger Zipfel, sind eigentlich die Troddeln

oder

Quasten an den 4 Zipfeln des Obergewandes (Zizith genannt, siehe

Bunsens Bibel), welche das Nationalabzeichen der Israeliten, daß

ich so sage, ihre Nationalkokarde waren, nach 4 Mos. 15, 38. —

Also das zur Schau Stellen, das Prunken mit diesen Aeußerlichfeiten, um ihre Anhänglichkeit an das Gesetz zu zeigen, das ist das ent­

scheidende.

Auch sonst findet man ja Leute, die sich,, Denkzettel"

machen, um zu denken, und Bibelsprüche über die Pforten ihrer

Häuser und ihrer Thore schreiben, sich und anderen zur Erbauung und zur Stärkung.

Wer kann dagegen etwas haben? — höchstens,

wenn einer alle Wände voll Bibelsprüche hängt, daß man sagt, er sei ein absonderlicher Mann, der etwas zu viel auf Aeußerlichkeiten gebe, oder er müsse wohl ein schwaches Gedächtniß haben.

Indeß

die Quäker mit ihrer sich auszeichnenden Tracht und andere mehr sind auch absonderliche Leute, wer nennt sie darum Heuchler? Vers 6—12 tadelt die geistliche Ehrsucht, das sich grüßen und

Hände und Gewand küssen Lassen auf den Straßen und den herab­ lassenden, salbungsvollen Dank dafür, wie man das in katholischen Ländern und der Sache nach leider dasselbe auch noch in evange­

lischen findet, — weiter: die geistliche Herrschsucht.

Es ist wohl

kaum nöthig, noch besonders darauf aufmerksam zu machen, daß,

wenn der Herr gebietet, wir sollen uns weder Meister noch Vater nennen lassen, noch andere so nennen, solches sich selbstverständlich nur aus die Beherrschung, beziehungsweise die Unterwerfung der Gemüther in Glaubenssachen beziehe. Die natürlichen und gesell­ schaftlichen Unterschiede hat ja das Christenthum nirgends aufheben

1. Hauptstück.

74

Erklärung Luthers zum zweiten Gebot.

wollen, wie die Quäker thun; vielmehr hat es geboten, jedermann die ihm zukommende Ehre zu geben (1 Petri 2,17 f.). Aber in Sachen

des Glaubens und Gewissens sollen wir keinen als Herrn und Mei­

ster anerkennen, als den einigen, der es ist, Christus, niemanden Vater oder heiliger Vater nennen, als gehe das Heil von ihm aus, oder als vermittle er dasselbe, keinem eine unser Gewissen bestimmende Autorität einräumen, weder dem Papst

noch

den

Reformatoren

oder irgend einer andern noch so hervorragenden Persönlichkeit, ge­ schweige dem einzelnen Geistlichen als solchen.

Das ist das Große

an den Reformatoren, daß sie, Luther voran, wenn man ihnen nur

wirklich folgt, uns immer wieder in's Freie von sich fort zu Christo

führen.

Darin wird sie der rechte evangelische Prediger und Seel­

sorger zum Vorbild nehmen. V. 13.

Inwiefern schließen die Pharisäer und, die ihnen ähn­

lich sind, das Himmelreich zu?

In mancherlei Weise!

Indem sie

den Leuten den Weg zum Himmel so schwer machen, daß die Men­ schen den Muth verlieren, ihn zu betreten; indem sie durch ihre

Anmaßung, ihren Hochmuth, ihre Frömmelei Abneigung und Vor-

urtheil gegen die von ihnen vertretene Sache erwecken; indem sie jede geistige Regung unterdrücken und diejenigen verfolgen, welche

sich nach einer geistigen Regung sehnen; indem sie verketzern und in

den Bann thun alle und alles, wer und was sich nicht an sie an­ schließt u. s. f.

Vers 14 richtet sich gegen die fromme Erbschleicherei und son­ stige

Ausbeutung

des

Volks,

namentlich

der frommen Armuth

zu selbstsüchtigen Zwecken unter allerlei scheinheiligen Vorwänden.

„Darum werdet ihr desto mehr Verdammniß empfangen," nämlich

erstens wegen dieser Ausbeutung, sodann, weil ihr „Gebete vorwendet", die Frömmigkeit als Schlüssel zu den Sparpfennigen der Armuth

braucht. — Nebenbei liegt hierin auch eine Warnung gegen die

Weise, in welcher man auch sonst wohl, gar nicht in Heuchelei und in Selbstsucht, sondern in der lautersten Absicht und zu den besten

Zwecken die Leute förmlich ausbeutelt. — Das ist dann nicht Schein­ heiligkeit, aber es ist unweise und verstößt gegen die Regel, welche der Apostel Paulus hinsichtlich der „einfältigen Steuer", welche er bei den griechischen Gemeinden zum Besten der verarmten Gemeinde

Bilgen und Trügen im Namen Gottes (Proselytenmacherei). zu Jerusalem sammelte, aufgestellt hat.

„Denn wenn die Geneigt­

so ist sie, je nachdem sie vermag,

heit vorhanden ist,

nicht, nachdem sie nicht vermag.

75

angenehm,

Denn nicht sollen andere Ruhe,

und ihr Trübsal haben, sondern es soll Gleichheit stattfinden" (2 Kor.

8, 12. 13).

Freilich ist es Pflicht, nicht

immer bloß die Reichen,

sondern auch die minder Begüterten in die Gemeinschaft großer und

guter Werke zu ziehen und sie dadurch der Freude und der geistigen Erhebung theilhaftig zu machen, welche die opferwillige Theilnahme

an vaterländischen, kirchlichen oder allgemein menschheitlichen Ange­ legenheiten gewährt.

Aber jeglich Ding hat sein Maß.

Das rechte

Maß in diesen Dingen wird derjenige finden, welcher in gleich auf­ richtiger Liebe die einzelne Persönlichkeit, wie das Große und Ganze

und die dasselbe beherrschenden Gedanken, auf dem Herzen trägt. V. 15.

Das Wehe über die Proselytenmacherei der Pharisäer.

Aber was ist Proselytenmacherei?

Sind nicht auch die Apostel in

alle Welt gegangen und haben die Leute zu Jüngern gemacht? Ist

es nicht Pflicht, die Wahrheit auszubreiten?

War das Judenthnm

nicht, gegen das Heidenthum gehalten, Wahrheit?

Bildeten nicht

die in allen irgend bedeutenden Orten vorhandenen jüdischen Ge­

meinden mit den Kreisen von „Gottesfürchtigen aus den Heiden", welche sich an dieselben anschlossen, — bildeten sie nicht, so zu sagen, die Etappen auf der Heerstraße, auf welcher das Christenthum in

die Welt einzog, die Burgen und Ruhepunkte, von denen aus es seine Eroberungen in der Welt machte? Herr das Wehe?

Ueber die Unruhe,

Worüber also spricht der

dje Hast,

den ungezügelten

Eifer, welche die Pharisäer bei ihren Versuchen, die Heiden zu be­ kehren, an den Tag legten?

So ist das allerdings in der Weise,

wie sich der Herr ausdrückt, angedeutet: es begründet jedoch für sich

allein jenes Wehe nicht!

Oder, daß sie sich unsittlicher Mittel be­

dienten, etwa, wie das noch heute geschieht, mit dem goldenen Netze

fischten?

So steht das nicht da!

gegeben wird, ist allein dies:

Was als Grund des Wehes an­

daß die Pharisäer, wenn sie einen

Judengenossen gemacht hatten, aus ihm ein Kind der Hölle machten, zwiefältig mehr, denn sie selbst seien!

Worin ist das begründet?

Da haben wir daran zu denken, daß die Pharisäer, einst die Träger des sich aufraffenden Judenthums,

mehr und mehr zu einer eng-

76

1. Hauptstück.

Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.

herzigen, allein das Ihre suchenden Partei geworden waren, auch die Bekehrung der Heiden nur zu Parteizwecken und Parteivortheil be­

trieben, die sich nicht begnügten, die Heiden zur reineren Gottes­ erkenntniß zu führen, sie zu Gottesfürchtigen zu machen, sondern

Pharisäer — Parteigenossen — gewinnen wollten, und darum ihren

„Verkehrten", je eifriger sie waren, alle ihre Parteilaster einimpften. Das ist überhaupt auch heute der entscheidende Unterschied zwischen

der pflichtmäßigen Ausbreitung der Wahrheit und der von Gott verdammten, von aller Welt getadelten und dennoch von viel meh­ reren, als es selbst wissen, geübten Proselytenmacherei.

Die Wahr­

heit in pflichtmäßiger Weise breitet derjenige aus, welcher sich be­ gnügt, sie an und in die Leute zu bringen, dann aber jedem über­

läßt, wie er sie sich aneignet und ihr in gewissenhafter Weise dient,

gleichviel, ob das seine, des Lehrers besondere Weise sei und in

seinem engeren Kreise geschehe oder nicht.

Wer dagegen für seine

Kirche, seinen Kreis, seine Genossenschaft wirbt, der ist — Pro­

testant oder Katholik oder, was er sonst sei — auf dem Abwege zur Proselytenmacherei und in Gefahr, mit ihren Auswüchsen auch

ihrem Wehe anheimzufallen.

Bei den Katholiken ist selbst der mil­

deste, wenn er sonst eifriger Katholik ist, dieser Gefahr ausgesetzt, weil er nur seine Kirche als Kirche und außer ihr kein Heil aner­

kennt.

Dem Protestanten dagegen, der weit über seine, ja über alle

Kirchen hinaus Möglichkeit des Heils vorhanden weiß, wo nur der

Name des Herrn angerufen wird '), dem kann es nie einfallen, Jagd

auf die Seelen zu machen und Griechen oder Römer einzuladen,

daß sie ihre Kirche mit seiner kirchlichen Gemeinschaft, geschweige mit einer seiner Sonderkirchen vertauschen. Er läßt sein Licht leuchten vor den Leuten und freut sich, wenn dasselbe zündet.

Aber er ist

zufrieden, ja er fordert, daß die zur evangelischen Erkenntniß Ge­

kommenen ihre nun gewonnene Erkenntniß zunächst in dem Schoße ihrer eigenen Gemeinschaft verwerthen; und, wenn sie erklären, das

nicht zu vermögen und auch sonst keine andere kirchliche Gemeinschaft zu finden, in der sie ihrer Ueberzeugung leben können — da erst

öffnet er ihnen seine Gemeinschaft. ’) Röm. 10, 11-13.

Philipp. 1, 18.

Wo er anders handelt, wo er, Mark. 9, 38-40.

Lügen und Trügen im Namen Gottes (Proselytenmacherei).

77

statt die Leute zu Gott und Christus und zu ihnen selbst zu führen, sie in sich selbst fest und gewissenhaft zu machen, darauf ausgeht,

sich auszubreiten, seine Gemeinde zu mehren, da macht er sich ebenso der Proselytenmacherei schuldig, wie der Katholizismus, wenn er es auch nicht so fanatisch und mit den unlautern Mitteln thut, wie man

es jenem vorwirst'). V. 16—22.

Dieser Abschnitt bringt die bereits besprochenen

Auslassungen des Herrn über die Blindheit und die Ruchlosigkeit, welche die Pharisäer in ihren Unterscheidungen hinsichtlich des Eides

bewiesen. — Die Frage ist nur: wie war es möglich, daß die ur­ sprünglich ernsten und Gott fürchtenden Pharisäer bis zu dieser Tiefe

sanken? Ich zweifle nicht, der Weg dazu war der „Zaun um das Gesetz", — die Aengstlichkeit, mit der man, um den Schwur bei dem Namen Gottes zu schützen, andere, diesen Namen mehr oder minder verhüllende, Schwüre um denselben stellte.

Es konnte ja nicht fehlen,

daß man das Umzäunende für minder heilig hielt, als das Um­ zäunte.

Damit war jeder Verderbniß der Sache Thor und Thür

geöffnet. V. 23.

„Minze, Till (Anis), Kümmel", die kleinsten Gartenge­

wächse, wobei die Zehntpflichtigkeit streitig war.

Im Gesetz über die

Zehnten (5 Mos. 14, 22 f.; 3 Mos. 27, 30) ist von ihnen nicht die Rede.

— Dieser Ausspruch malt die Kleinigkeitskrämerei des Pharisäismus, wie der gesetzesfromme Pharisäer sich nicht begnügt, die Säcke voll

Getreide u. s. w., auf die es ankam, abzuliefern, sondern, wie er da­

nach

mit demüthiger, frommer oder auch selbstbewußter Miene in

!) Siehe die bereits angeführte Erzählung Mark. 9, 38—40, welche deutlich beweist, daß der Herr selbst den von ihm Angefaßten Freiheit gelassen haben wollte, ob sie sich dem Kreise seiner engeren Jüngerschaft anschließen wollten oder nicht, und anerkennt, daß sie auch in dem letzteren Falle „in seinem Namen" Teufel austreiben und für seine Sache wirksam sein könnten. Das ärgste Beispiel protestantischer Proselytenmacherei bietet das Verfahren der „Lutheraner" in Ostindien dar, welche mit einer Exklusivität ohne gleichen nicht nur ihre Kirche als die allein vollkommene darstellen und demgemäß darauf ausgehen, die Heiden just zu „Luthe­ ranern" zu machen, sondern, die auch so weit fortschreiten, von andern evangelischen Missionen bekehrte Heiden diesen abspenstig zu machen und in ihre Gemeinde auf­ zunehmen. Das unterscheidet sich doch fürwahr wenig von dem Verfahren der katholischen Missionare in Tahiti (cf. Basler Missions-Magazin 1868. Arbeiter in der Tahiti-Mission. Gräuel).

1. Hauptstück.

78

Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.

den Busen greift und die Düte Kümmel und die Prise Anis und

das Büschel Minze hervorholt, nach denen niemand verlangt.

Und

mochte das sein: aber über das alles vergaß er die Hauptsache, „das

Gericht und die Barmherzigkeit und die Treue".

wurf erhebt noch stärker V. 24.

um

nicht etwa Mücken

und

Denselben Vor­

Man seihete (siebte) den Wein durch, andere

unreine Thiere mitzutrinken,

Kamele dagegen verschluckte man, d. i. wahrend man im Kleinlichen, ja Nichtigen die äußerste Peinlichkeit bekundete, machte man sich kein

Gewissen daraus, die ungeheuersten, unglaublichsten Versündigungen zu begehen.

Beispiel: das Verhalten der Juden bei dem Tode Christi

Joh. 18, 28: den Fuß in das Haus des Pilatus zu setzen, tragen

sie Bedenken, auf daß sie nicht unrein würden; dagegen in dem Morde, den sie an einem Schuldlosen begehen, finden

sie kein Hinderniß,

Passa zu essen. V. 25.

Es versteht sich ja von selbst, daß die Pharisäer Becher

und Schüsseln auf beiden Seiten „auswendig und inwendig" polirten. Nur begnügten sie sich eben mit den Gefäßen, ohne daran zu denken, was in denselben war, „Raub", und, wer an sie herantrat: „ein

Unmäßiger, ein Fresser".

V. 27. „Die Gräber" mußten am Schluffe

jedes Jahres geweißt werden, damit man sie erkannte und sich nicht an ihnen verunreinigte (4 Mos. 19, 16 s.).

V. 29. Die vorgege­

bene Verehrung für die verstorbenen Propheten, während man die

lebenden verachtete und verfolgte.

Gerade, wie die Strenggläubigen

jetzt Luther und seine Gefährten nicht hoch genug erheben können; dagegen, wenn heute jemand ihm nach „dem Papste an die Krone

und den Mönchen an die Bäuche greift" (Worte des Erasmus über

Luther),

denselben

als ungläubigen Frevler verdammen.

V. 35.

„Auf daß über euch komme all' das gerechte Blut — von dem Blut an des gerechten Abel bis auf's Blut Sacharja's."

Gemeint ist

nicht Sacharja, der Sohn des Berechja, Sach. 1,1, von dessen Er­ mordung wir nichts wissen, sondern der Sacharja, dessen die Chro­ niken — in der ebräischen Bibel das letzte Buch — gedenken ').

’) 2 Chron. 24, 20. 21.

„Und der Geist Gottes zog an Sacharja, den Sohn

Zojada's, des Priesters — und steinigten ihn." — „Berechja's Sohn" bei Matth,

ist offenbar spätere Einschiebung, die Lnk. 11, 51 nicht hat.

Lügen und Trügen im Namen Gottes (Heuchelei).

79

Der Sinn also ist: über dieses heuchlerische, propheteilmörderische Ge­

schlecht soll all' das vergossene Blut der Gerechten kommen, dessen die Schrift von ihrem

ersten bis zu

ihrem letzten Buche gedenkt!

Eine furchtbare Drohung, noch dadurch verschärft, daß sie gerade von

dem kam, dem, als er sie aussprach, das Herz brach (V. 37): Jeru­ salem u. s. w.

Wir wissen, in welcher Weise das in Erfüllung ge­

gangen ist. Resultat: Heucheln, Lugen und Trügen beim Namen Gottes ist ein so furchtbares Ding, daß wir uns zehnfach besinnen und, wo es irgend

möglich ist, lieber alles andre werden annehmen müssen, ehe wir jeman­ den dieses Verwerflichsten anklagen.

Andrerseits ist, wie das Beispiel

der Pharisäer zeigt, auch eine ursprünglich ernst gemeinte Frömmigkeit

nicht vor Entartung sicher, und schließt sich leichter, als man es denkt, Unwahrhaftigkeit — zunächst eine unbewußte, danach aber auch bewußte — an sie an.

Am ehesten wird das geschehen, wo in einem Kreise

die Frömmigkeit noch etwas gilt (wo das nicht der Fall ist, wird keiner auf den Gedanken kommen, die Maske der Frömmigkeit vor­ zunehmen), andrerseits das Leben der rechten Innerlichkeit und Frische

ermangelt, und die Richtung auf das Traditionelle, Aeußerliche und Einzelne, Worte und Geberden vorwaltet.

Da gilt es doppelt wachen,

daß sich nichts Unwahrhaftes in uns einschleiche; der Weg dazu, uns die heilige Ehrfnrcht vor Gott und dem heiligen Geiste in uns') zu bewah­

ren, ist, daß wir nie aufnehmen, nie, auch aus Liebe nicht, mitmachen oder darstellen, was nicht unser eigenstes, innerstes Leben ist.

Zwar

haben wir, wie Paulus, die Pflicht, den Juden ein Jude, den Schwachen ein Schwacher, jedermann allerlei zu werden, aus daß wir allenthalben

ja etliche selig machen (1 Kor. 9, 19—23); das heißt aber nicht mit

den Leuten heucheln, sondern es heißt: liebevoll in jedes Bedürfnisse und Weise eingehen, sich in seine Art versenken und sie zu verstehen

und uns ihr verständlich zu machen suchen, zeigen, daß man trotz dieser abweichenden Art sie achtet und anerkennt, selber auch unge­ achtet unserer andren Art und Weise dasselbe, nämlich das Evan­ gelium suchen will; dabei aber eben unsre Art in keiner Weise ver­

hehlen, sondern sie ebenso darstellen, daß sie von dem andern Theile

T) Eph. 4, 30.

Betrübet nicht den heiligen Geist Gottes.

80

1- Hauptstück.

Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.

verstanden werden kann.

Drittes Gebot.

Wo das geschieht: da sind wir wahrhaft; wo

wir dagegen diese Unterschiede, auch wo wir um der Wahrhaftigkeit willen Grund haben, sie herauszustellen, verbergen und die Leute

zu der Meinung verleiten, wir wären, wie sie: da lieben wir nicht, sondern wir heucheln, wie einst selbst ein Petrus und Barnabas that

„aus Furcht vor den Juden".

Wohl dem, welchem in solchen Fällen

der strenge Mahner nicht fehlt, als welcher sich damals Paulus be­

wies (Gal. 2,11—14).

Anmerkung.

Ueber die zweite Hälfte der Erklärung Luthers

„sondern den Namen Gottes in allen Nöthen anrufen, beten, loben nnd danken", hat Eltester keine Aufzeichnungen hinterlassen, doch findet sich das hierher Gehörige der Sache nach in der Behandlung

des Gebetes im 3. Hauptstück.

Das dritte Gebot.

Es giebt nicht leicht etwas, was größere Wichtigkeit für das leibliche und geistige Wohl des einzelnen, wie der Völker hätte, als das

richtige Verständniß und die rechte Handhabung dieses Gebots. beidem fehlt es noch auf kaum zu fassende Weise-

An

Auf der einen Seite

die mehr als jüdische Strenge mit ihren pharisäischen Uebertreibungen,

welche vielfach den Tag der Erquickung zu einem Qualtag macht, aus der andern eineVernachlässigung, Nichtachtung undVerlüderung, welche deutlich zeigen, daß vielen unsrer Zeitgenossen selbst die ersten Ele­

mente des Verständniffes von dieser Einrichtung abhanden gekommen sind, und daß selbst ernstere Menschen keine Ahnung haben, um welche Fülle von leiblicher und geistiger Stärkung und ächt menschlicher

Erfrischung und Erhebung sie sich und andere bringen, indem sie

sich und anderen den religiös geweihten Ruhetag

nehmen.

Der

Grund zu diesen sich gegenseitig fördernden Verirrungen liegt außer

in demjenigen, worin schließlich alle Abirrungen aus religiösem Ge­ biete wurzeln, der geistigen Stumpfheit, der Richtung auf das Aeußer-

liche, dem Sichverlieren in sinnliche Lust, vornehmlich in der Weise,

Jüdische und christliche Auffassung des Feiertags.

81

wie man das Gebot der Sabbathheiligung noch heut, wo nicht aus­

schließlich, so doch überwiegend von dem gesetzlichen Standpunkt des alten Testaments ans in's Auge faßt, die evangelische Anschauung

dagegen, in welcher das Gesetz seine Vollendung finden soll, ent­ weder gar nicht oder nur so nebenbei, gewissermaßen als Ausnahme zur Geltung zu bringen und wieder nur als Gesetz zu behandeln weiß.

Damit ist nothwendig gesetzt, wenn man das Gesetz festhält:

das Schroffe, Starre, Rigoristische, welches wir in England, Schott­ land, Nordamerika in der christlichen Sonntagsfeier finden; wo man

dagegen von der Ausnahme vom Gesetz ausgeht, das letztere also

nicht mehr als unbedingt verpflichtend ansieht: das Nachlasfende, Lüderliche, Laxe in seinen verschiedenen Abstufungen, das auch nicht besser, ja hinsichtlich seiner Wirkungen auf das Volksleben im Großen

sogar heilloser ist, als jenes: während die rechte gottgewollte Sabbath­

feier mit ihren beseligenden Wirkungen weder bei diesem noch bei jenem gefunden wird.

Da gilt es nicht bloß Jüdisches und Christ­

liches, Gesetz und Evangelium unterscheiden, sondern auch das letztere,

das Christliche, als das allein und unbedingt entscheidende voran­ stellen, vor dem sich jenes auszuweisen, beziehungsweise zu weichen

hat.

Dann erst dürfen wir hoffen, zu einem rechten Verständniß

der Sache zu gelangen und auch das Alte Testament mit seinen

vorbereitenden, das Höhere weissagenden Zügen und in seiner rela­ tiven Berechtigung zu begreifen und einzusehen, ob und wiefern ihm

eine solche noch heute zukommt. Mit seinen Heilungen am Sabbath, wie mit seinen Aeußerungen über denselben gelegentlich dieser Heilungen (Matth. 12,1—8, 9—13; Luk. 13, 15 f.; 14, 1 f.; Joh. 5, 1 f.) hat der Herr Christus mit

nichten nur einzelne Ausnahmen von dem übrigens unverbrüchlichen Sabbathgesetze hinstellen und auch uns nur die Erlaubniß zu ähn­

lichen Ausnahmen — den sogenannten Werken der Noth und der Liebe — ertheilen wollen, sondern er hat damit überhaupt das Sabbathgebot auf eine höhere Stufe gehoben und dem Menschen,

dem einzelnen, wie der Gemeinschaft, eine andere Stellung zu ihm

gegeben.

„Der Mensch ist nicht des Sabbaths wegen, sondern der

Sabbath ist des Menschen wegen da."

„Darum ist des Menschen

Sohn ein Herr auch des Sabbaths" — d. i. der Sabbath ist nicht ©Hefter, Materialien.

2. Auflage.

6

1. Hauptstück.

82

Drittes Gebot.'

Selbstzweck, dem der Mensch zu dienen und sich mit allem an ihm

und um ihn knechtisch zu unterwerfe« habe: sondern umgekehrt, er soll dem Menschen dienen. Er ist Mittel; Zweck aber ist der Mensch,

Beförderung seines Wohls, seiner Würde, die Entfaltung wahrhaf­ tigen Menschenthums.

In diesem Sinne soll er geordnet und ge­

handhabt werden, und des Menschen Sohn, d. i. zunächst Christus,

weiter die Gemeinde Christi, aber auch der einzelne ächte Mensch

haben je in ihrem Wirkungskreise das Recht, ihn also zu ordnen und zu gebrauchen.

Was den Menschen erquickt, was die Seele über den

Schmutz, die Roth, das Elend, die Sorge des Lebens erhebt, was Friede schafft in das Herz, Freude in Stadt und Land: das alles ist

nicht bloß erlaubt und darf ausnahmsweise zugelasfen werden, sondern es ist Pflicht.

Ist es Ruhe: Ruhe; ist es Beschäftigung: Beschäf­

tigung; ist es Arbeit: Arbeit; es ist Kampf: Kampf.

Wie letzteres

schon die Makkabäer erkannten und, gewitzigt durch die Erfahrung, da sie sahen, wie die Syrer die Juden, denen sie abgemerkt, daß sie am

Sabbath sich nicht wehrten, nun immer gerade am Sabbath überfielen

und wie Schlachtschafe abschlachteten, endlich bei sich sestsetzten: „nein,

angreifen wollen wir am Sabbath nicht; aber, wenn wir angegriffen werden, wollen wir fechten" (1 Makkabäer 2, 31 —41); was freilich

auch nur ein halbes Ding war und nicht hinderte, daß sie schließlich doch wieder in die ganze Knechtschaft unter der Satzung geriethen.

Außer den Aeußerungen und dem Beispiel Christi enthält das neue Testament noch andere — wenige, aber entscheidende Andeutungen der christlichen Anschauung vom Sabbath.

Die ältesten Christen,

die Urgemeinde in Jerusalem und dem jüdischen Lande, beobachteten selbstverständlich noch den jüdischen Sabbath, der ja Landesgesetz war.

Ebenso werden die außerpalästinensischen Gemeinden, so viele sich im Anschluß an die Synagoge aus den jüdischen Proselyten (den Gottes­ fürchtigen aus den Heiden) gebildet hatten, zunächst wohl sortgefahren

haben, ihr relgiöses Bedürfniß am Sabbath zu befriedigen (Apostelgesch. 13, 14 u. 44; vergl. 16, 12 s.).

Je mehrere Heiden jedoch über­

traten, um so mehr löste sich die Gemeinde von der Gebundenheit an den Sabbath und ordnete in freierer Weise ihren gottesdienst­

lichen Tag, wie das Röm. 14, 5 f., Kol. 2, 16. 17, besonders aber

Gal. 4, 9—11 beweisen.

Namentlich die letzte Stelle zeigt deutlich,

Jüdische und christliche Auffassung des Feiertags.

83

daß der jüdische Sabbath als solcher dem Christenthum fremd ist. Von der Zerstörung Jerusalems ab kam mehr und mehr auch bei

den palästinensischen Christen

Wochentags,

die gottesdienstliche Feier des ersten

des Sonntags, von

der sich möglicherweise schon int

Neuen Testamente Spuren zeigen'), als des Tages, an welchem der

Herr auferstanden, in ausschließlichen Gebrauch, und haben seit der

Zeit nur einige querköpfige Sekten Ansatz gemacht, die Feier des 7.

Tages wieder in die Kirche einzuführen.

Mit

der Verschiedenheit

des Tages wird selbstverständlich auch die Verschiedenheit der Weise,

die freiere Stellung

zu dem

gottesdienstlichen Tage, entschieden?),

und ist neue Verdunklung in dieser Beziehung erst eingetreten, als man überhaupt begann, Christliches mit Heidnischem und Jüdischem

zu vermischen und zu verwechseln.

Die Reformation hat auch

in

dieser Hinsicht die Urgedanken des Evangeliums wieder an das Licht

gebracht, obwohl nach

dem vorher Bemerkten allerdings noch viel

fehlt, daß sie schon überall in der Kirche durchgedrungen sind.

Wir

führen einige dahin gehörige Aussprüche Luthers und Calvins an.

Luther sagt in seinem großen Katechismus: „Den Feiertag heiligen

ist nichts anderes, als heilige Worte, Werke und Leben führen." Desgleichen kurz vorher: „Man soll am Sonntage Raum und Zeit

nehmen, des Gottesdienstes zu warten. — Solches ist aber nicht also an Zeit gebunden, wie bei den Inden, daß es eben dieser oder jener

Tag sein müsse, denn es ist keiner an sich besser, als der andere. — Weil aber von Alters her der Sonntag dazu gestellt ist, so soll man

es auch dabei bleiben lassen." Feiertag sei dazu

Endlich an einem andern Orte:

„Der

da, daß wir an ihm lernen, alle Tage unsres

Lebens von unsren bösen Werken feiern, den Herrn durch seinen Geist in uns wirken lassen und also den ewigen Sabbath in diesem Leben

anfangen."

Desgl. Calvin (in seinem Katechismus): Wir sollen von

’) 1 Kor. 16, 2. „Auf je der Sabbather einen", d. h. nach dem Urtext: „eins jeden erstell Wochentag." Bergl. Matth. 28, 1; Mark. 16, 1 u. 2 f.; Luk. 24, 1; Joh. 20. 1.

2) Jnstinus, ein im Anfang des 2. Jahrhunderts in Palästina lebender Christ, sagt vortrefflich: Das neue Gesetz will, das; ihr immer Sabbath halten sollt. — Wenn unter euch ein Meineidiger und Dieb ist, so höre er auf, wenn ein Ehe­ brecher, so thue er Butze, dann feiert er den lieblichen und wahrhaftigen Sabbath des Herrn.

1. Hauptstück.

84

Drittes Gebot.

unseren eigenen Werken abftehen und ruhen, unsrer Natur und den

Lüsten absagen und uns ganz und gar in den Willen Gottes und die Regierung seines Geistes ergeben, damit er sein Werk in uns habe,

und zwar soll dies nicht nur an einem Tage, sondern beständig geschehen; wiewohl diese geistige Ruhe in diesem Leben nur anfängt

und nicht eher vollkommen wird, bis wir von dieser Welt scheiden. Der christliche Sonntag ist etwas Anderes und Höheres, als der

jüdische Sabbath; aber er ist nicht ein schlechthin Neues.

Er ist die

Erfüllung des in der alttestamentlichen Einrichtung geweissagten, die Erlösung der in der starren Hülle des Gesetzes gebundenen geistigen Elemente: und diese Elemente sollen und können in frommer Weise in ihn hinübergehen. Das Gebot der Sabbathruhe ist 2 Mos. 20, 9—11 angeschlossen

an die Schöpferruhe Gottes nach dem sechsten Tagewerk: „sechs Tage sollst du arbeiten u. s. w."

Es versteht sich wohl von selbst, daß

selbst der alte Gesetzgeber sich nicht gedacht habe, daß der allmächtige

Gott von der Arbeit des Schaffens ermüdet worden sei und sich habe hinsetzen und ausruhen müssen.

Nicht allein unser Herr Christus

spricht: „Mein Vater wirket bis hierher" (Joh. 5,17), sondern auch im 121. Psalm (v. 4) heißt es bereits:

und schlummert nicht."

„Der Hüter Israels schläft

Sondern, was mit diesem kindlichen Aus­

druck bezeichnet werden soll, ist die selige Befriedigung, welche Gott in seinem Schaffen und in seinen Schöpfungen gefunden.

Der Sinn

ist dann: Wie Gott in seinem Wirken befriedigt sei, so wolle er in

seiner unendlichen Güte, daß auch der Mensch sein Werk auf Erden nicht, wie ein Frohner, mit Seufzen, sondern mit Freuden verrichte. Darum hat er ihm, der allerdings von der Arbeit müde wird, nach

6 arbeitsvollen Tagen den 7. als einen Ruhetag verordnet, an dem

er alle Last und Sorge des Berufs möglichst von sich schüttle und sich erquicke.

Also der Sabbath zu freudigem, des Menschen wür­

digem Dasein und Wirken. — Noch 5 Mos. 5,12—15 gegeben.

eine

andere Anknüpfung ist

Nachdem nämlich auch dort geboten ist,

daß der Mensch („du") nicht allein selbst am Sabbath ruhe, sondern gleiche Ruhe auch seinen Hausgenossen, seinem Gesinde, seinem Vieh, bis auf den Fremdling, der in seinen Thoren sei, gönnen solle, „auf

daß dein Knecht und deine Magd ruhe, gleich wie du," heißt es:

Segen der Sonntagsruhe.

85

„Denn du sollst gedenken, daß du auch Kuecht in Aegyptenland

wärest, und der Herr, dein Gott, dich von dannen ausgeführet hat mit einer mächtigen Hand und ausgestrecktem Arm. Darum hat dir der Herr, dein Gott, geboten, daß du den Sabbathtag halten

sollst."

Also die Anordnung des Sabbaths trotz der eisernen Strenge,

mit welcher derselbe aufrecht erhalten wurdeein Ausfluß erbar­

mender Liebe und Fürsorge namentlich für die Armen und Gedrückten im Volk, welche in dieser Weise gegen die Härte der Mächtigen und Gebietenden geschützt, in die Gemeinschaft des Hauses gezogen und

zur Freudigkeit des Daseins erhoben werden sollten. — Und in hohem Grade ist dieser Zweck erreicht worden. Ob wohl das jüdische Volk, unterdrückt, gehetzt und zertreten, wie kein anderes, die Last dieses Elends ertragen und sich trotz derselben die geistige Schärfe

und Frische bewahrt haben würde, durch welche es sich auszeichnet, ob es den festen Zusammenhang, den starken Familiensinn, wie das

Erbarmen entwickelt hätte, mit dem es, uns Christen zum beschä­ menden Muster, sich seiner Geringen annimmt, ohne die Treue, mit

der es in allem Elende und unter allen Verfolgungen im Verbor­ genen feinen Sabbath gehalten? Das sind Elemente, welche der christlichen Sonntagsfeier nicht verloren gehen dürfen. Nicht bloß die Juden, wir auch, wir alle bedürfen nach den Mühsalen der Woche zunächst der Ruhe des Feiertags. Zwar

unterbrechen wir täglich mehrfach unsere Arbeit und können gar nicht

anders.

Ob aber diese kürzeren Pausen, in denen wir die Arbeit

nur halb aus der Hand legen, oft kaum den Schmutz derselben von uns abwischen, ob sie auf die Dauer genügen, uns die verlorenen Kräfte zu ersetzen? Wer das meint, hat schwerlich jemals in seinem Leben das Gebot erfüllt: — sechs Tage sollst dn arbeiten und alle

deine Dinge beschicken.

Er würde sonst anders urtheilen.

Schon

der Körper erträgt eine stete, nur durch knappe Pausen unterbrochene,

anstrengende Arbeit nicht, sondern verlangt ausgiebige Ruhe.

Man sehe nur unsere schwer arbeitenden Klassen, wie sie trotz der Sonntagsruhe, die ihnen meistens noch erhalten ist, so frühzeitig

altern und vor der Zeit stumpf und schwerfällig an ihrem Leibe ’) 4 Mvs. 15, 32—36 wird ein Manu gesteinigt, weil er am Sabbath Holz gelesen hatte.

1. HalPtstück.

86

Drittes Gebot.

werden! Was würde geschehen, wenn man sie Tag für Tag frohnen

ließe?

Vollends, wo bliebe die geistige Frische, die Lust an der Schon jetzt klagt mancher und zwar nicht bloß mancher

Arbeit?

mit der Hand, sondern auch mit dem Kopf Arbeitende, daß er ar­

beiten müsse, wie ein „Vieh".

Ist damit gemeint, daß er übermäßig

arbeiten muß? Mitunter, aber keineswegs immer; denn das „Vieh"

muß selten übermäßig arbeiten, sondern wird, meistens schon aus Eigennutz, oft sogar mehr geschont, als der Mensch.

Sondern, was

mit jener Rede gemeint ist, ist, daß der Klagende nicht Raum und

Zeit finde, auf eine menschenwürdige Weise zu arbeiten, sich auf sich selbst, auf die Welt um ihn her und auf Gott zu besinnen, des Zu­ sammenhangs seiner Arbeit und der Bedeutung, die sie für das Ganze

hat, inne zu werden, sie dadurch geistig zu adeln und sich ihrer zu freuen.

„Das ist's ja, was den Menschen zieret, und dazu ward

ihm der Verstand, daß er im innern Herzen spüret, was er erschafft

mit seiner Hand."

Wo der Mensch das nicht vermag, was ist an

seinem mühseligen kleinlichen, oft so geisttödtenden Tagewerke — ich ineine damit garnicht bloß das Werk, welches der Mensch auf

dem Acker und in der Werkstatt und der Küche, sondern auch, was er in den höchsten Lebensstellungen zu vollbringen hat — was ist

das ihn befriedigen könnte? Der Lohn? Guter Gott! Der Lohn, der in tausend Fällen kaum ausreicht, dem Menschen das

an dieser,

Leben zu fristen, der aber auch, wo er auf das reichlichste bemessen

ist, die Seele nicht satt macht und, wo dennoch ein Mensch in ihm ausruhte, diesen Menschen, und wenn er ein Fürst wäre, unter den

Frohnknecht und Tagelöhner erniedrigt! Wehe dem einzelnen, und noch mehr, wehe dem Volke, in welchem es dahin gekommen, daß die Leute nichts kennen, als — wie das bezeichnende Wort lautet, „büffeln", und dann der eine so, der andere anders, der eine im rohen Genusse, der andere in allem Raffinement des Lebens sich

füttern!

Da muß aller Sinn für das Höhere und Edlere schwinden,

Stumpfheit, Unsittlichkeit und immer weiter greifender Unfriede ein­

treten. Davor den Menschen und die Völker zu bewahren, ist uns die

Ruhe des Sonntags geordnet; die ausgiebige Ruhe eines ganzen

Tages, an welchem wir uns möglichst aller Last und aller Sorge

Segen der Sonntagsruhe.

87

unseres täglichen Berufes entschlagen, den Staub der Werkstatt, wie

der Akten, von uns schütteln und leiblich und geistig eine Brust voll

frischer Luft athmen; an dem wir in der Betrachtung

der Dinge

um uns und über uns uns über das Kleinliche und Beschränkte unseres täglichen Treibens zu einem freieren Umblick erheben, das scheinbar Geringe würdigen, das für wichtig Gehaltene auf seinen wahren Werth zurückführen lernen; an dem wir . uns auf unseren himmlischen Beruf, auf Gott besinnen und in der Erinnerung daran,

daß er es ist, der uns aus die Stelle gestellt, die wir einnehmen, und uns das Loos beschieden, das uns zu Theil geworden, die Heiter­

keit der Seele und die innere Befriedigung gewinnen, deren wir

uns selbst inmitten eines Drangsals, ja leidensvollen Lebens erfreuen können und sollen. In diesem Sinne sollen wir den Feiertag, gleichviel, welcher es sei — nur, daß er ein allgemeiner sei, weil nur, wenn gleichzeitig

alle ruhen, auch jeder einzelne zur vollen Ruhe gelangen kann — in diesem Sinne sollen wir ihn auch ohne zwingendes 'Gebot ge­ wissenhaft halten und zunächst uns die Ruhe gönnen und zu dem

Ende alle eigentliche Arbeit, soweit sie nicht zu der schlechthin un­

entbehrlichen gehört, unbedingt unterlassen.

Denn allerdings giebt

cs Thätigkeiten, die nicht ausgesetzt werden können, die fortgesetzt

werden müssen. Wind und Wetter, Hunger und Durst und noch manches andere fragen nicht nach Alltag, nicht nach Feiertag. Der

Seemann muß auch am „Sabbath" auf Steuer und Segel achten, der Landmann „seinen Ochsen und seinen Esel von der Krippe lösen und zur Tränke führen" (Luk. 13, 15), der Soldat Posten stehen, der Gärtner seine Pflanzen begießen, damit nicht der Brand und die Dürre eines Tages die Hoffnung des ganzen Jahres vernichte,

und, was dgl. mehr ist.

Ebenso giebt es ja im Haushalte Geschäfte,

welche sortgehen müssen: das Haus säubern und die Speisen bereiten, da wir doch wahrlich nicht am Feiertage es werden unsauberer haben

wollen, als am Werkeltage, oder gar hungern und frieren.

Aber,

was ohne Schaden für die Nahrung und Nothdurft des Lebens, den Wohlstand, die Sicherheit, ohne Störung für das festliche Behagen ausgesetzt werden kann, das soll allerdings ausgesetzt werden, und

wir es nicht anrühren.

Nicht, als sollten wir nun, wie es einstmals

1. Haiiptstück.

88

Drittes Gebot.

die pharisäische Uebertreibung forderte, und noch heute die purita­ nische Sitte in England, Schottland und Amerika verlangt, außer

demjenigen, was

unmittelbar zum Gottesdienste gehört, garnichts

thun, unter anderm keine Gesellschaft besuchen, es sei denn ein Kon-

ventikel, kein Buch vornehmen, als ein Andachtsbuch, kein Lied singen

und keine Musik machen, als einen Psalm: das ist eine Thorheit und eine Qual. Sondern nur von dem eigentlichen Wochenwerke ist die Rede, das soll aus der Hand gelegt werden; im

übrigen

dürfen und sollen wir außer den religiösen Uebungen, an denen es kein lebendig Frommer, nicht am Werkeltag, geschweige am Sabbath­ tage, fehlen lassen wird, alle und jede erlaubte Beschäftigung vor­ nehmen, die zu unserer leiblichen und geistigen Erfrischung dient,

sofern sie nur keinen andern in seiner Ruhe stört, noch auch die allgemeine Ruhe in anstößiger Weise unterbricht.

Das wird für die

Verschiedenen je nach ihrem sonstigen Berufe, Lebensstellung und

Neigung ein sehr verschiedenes sein.

Dem, .der die ganze Woche

über den Büchern und dem Arbeitstische gebückt gesessen, wird es

z. B. eine Erquickung sein, wenn er sich des Sonntags im Freien

tüchtig ergeht, selbst Hand-, Garten- und Feldarbeit verrichtet und in solcher ihn erheiternden Beschäftigung seine Gedanken ausruht und das stockende Blut in Bewegung setzt.

Wieder, wer in der Woche

draußen des Tages Last und Hitze reichlich getragen oder sonst in vorwiegend leiblicher Arbeit Seele und Leib ermattet hat, dem wird's

Feiertagsbeschäftigung sein, wenn er, was jenem Arbeit wäre, ein Buch in die Hand nimmt und studiert.

Wer bis zur Ermüdung

mit den Menschen verkehrt hat, wird die Zurückgezogenheit, der Ein­

same die Geselligkeit suchen, kurz jeder dasjenige frei und fröhlich

thun, was jedem frommt und ihn leiblich und geistig erfrischt und

ihm Freudigkeit zu seinem Beruf und Kraft für die neue Woche giebt; ohne daß einer den anderen richtet, noch ihm, wie er sich ver­

halten solle, vorschreibt.

Denn so gewiß jeder auf seine Hand und

nach seiner Fa?on muß selig werden können, um so mehr muß er nach seiner Weise fröhlich sein dürfen, vorausgesetzt, daß diese mit

den Geboten Gottes, der Liebe zum Nächsten und der Ordnung über­ einstimmt.

Doch nicht bloß uns selbst sollen wir Ruhe gönnen, sondern,

Pflicht der Sonntagsruhe in christlicher Freiheit.

89

so viel in unsern Kräften steht, auch für die Ruhe anderer sorgen. Hier erwächst allen Herrschaften, Vorgesetzten und Gebietenden eine

heilige, nicht immer im Auge behaltene Pflicht.

Wie viel können

sie thun, durch weise Vertheilung der Arbeit ihren Untergebenen zu

der ihnen nöthigen Erholung zu helfen! wie leicht nehmen sie es oft, durch Aufträge, Wünsche, verkehrte Einrichtungen die Sonntagsruhe, deren jene sich sonst wohl erfreuen könnten, zu durchbrechen! Wie selten denken selbst christliche Gutsbesitzer daran, ihren Tagelöhnern,

wie es sich ziemt, in der Woche Frist zur Bestellung des ihnen zu­

gewiesenen Ackers zu lassen und sie nicht durch ihre Weise, die Leute auszunutzen, zur Arbeit am Sonntage zu zwingen! Von dem Gräuel,

der in Werkstätten mit der Sonntagsarbeit an Gesellen und Lehr­

burschen, gleichviel ob mit, ob ohne ihren Willen, geübt wird, gar nicht zu reden.

Wie oft hört man nicht bloß von harten Männern,

nein, von Hausfrauen Dienenden gegenüber die lieblose Rede, wozu

ein solcher Mensch auszugchen brauche, er solle daheim bleiben und

der Dinge warten, dazu man ihn brauche; das sei gescheidter! Als wenn der blaue Himmel und das grüne Feld und der Wald und,

was sonst die Welt an Erheiterndem und Erquickendem darbietet, als wenn der freundliche Verkehr mit seines Gleichen und die trauliche Unterhaltung, als wenn der Besuch des Gottesdienstes mit seiner

erhebenden Andacht nur für die Großen und Reichen und Mächtigen da wäre! Der Mensch kann sich recht versündigen und denkt nament­

lich im Wohlstände und in der Macht selten so, wie er soll, an das Wort: „Ihr Herren, was recht und billig ist, das beweiset den Knech­ ten, und wisset, daß ihr auch einen Herrn im Himmel habt" (Kol. 4, l)1). Aber auch sonst haben wir in dieser Beziehung Pflichten zu er­

füllen, daß wir ohne die dringendste Noth niemandes Sonntagsruhe durchbrechen, z. B. am Sonntage nicht einkaufen, was nicht eben

auch an ihm gekauft werden muß, noch sonst mit Geschäften einem nahen oder ihm in irgend welcher Weise lästig fallen.

Und wenn

es auch nur eine ganz kurze Zeit ist, daß wir ihn in Anspruch nehmen, und er selbst freundlich oder auch leichtlebig genug ist, uns

9 Bergt. 5 Akos. 5, 15. „Dn sollst gedenken, daß bn auch Knecht in Aegyptenland warst" n. s. w.

1. Hauptstück.

90

Drittes Gebot.

dieserhalb nicht zu zürnen, in allen Fällen haben wir uns einer Nücksichtslosigkeit schuldig gemacht, welche, wenn sie allgemein würde, jede Feiertagsruhe schließlich zu einer illusorischen machen würde.

Je häufiger die Neigung zu derartigen Rücksichtslosigkeiten auch

heute noch vorhanden ist, bald aus Unverstand, bald auch aus wirk­ licher Lieblosigkeit, um so weniger darf diese Angelegenheit dem guten Willen des einzelnen überlassen bleiben, sondern sind allgemeine gesetz­

liche Ordnungen — Sonntagsgesetze — nöthig.

Dieselben stoßen

unter uns vielfach auf das Vorurtheil: als müßten mit ihnen noth­ wendig Eingriffe in die persönliche Freiheit, Frömmelei und Heu­ chelei verbunden sein.

Widerspruch

mit

den

Das kann nur von solchen gelten, welche in

entwickelten

Grundsätzen

entworfen wären.

Gute Sonntagsgesetze haben allein dafür zu sorgen, daß thunlichst

jedem die Möglichkeit der Sonntagsruhe gegeben sei, und hierin

schlechthin niemand den andern störe, sei es, daß er ihn zur Arbeit zwinge oder sonst wie in Mitleidenschaft ziehe und ihm den Sonn­ tag verderbe.

Ob und wie im übrigen die einzelnen diese Möglich­

keit benutzen, darum hat sich das Gesetz nicht zu kümmern, sondern das dem Ermessen eines jeden zu überlassen. Wer das Eingriff in die Freiheit nennt, der versteht unter der Freiheit nicht die Freiheit

aller, sondern seine Willkür, seine Mitmenschen auszubeuten und mit ihnen zu schalten und zu walten, wie ihm beliebt.

Insbesondere hinsichtlich des Gottesdienstes hat das Gesetz na­ türlich zuerst den Gottesdienst selbst gegen jede muthwillige Störung

zu schützen, weiter aber möglichst zu sorgen, daß alle, die den Gottes­ dienst besuchen wollen, ihn auch wirklich müssen besuchen können;

dagegen nicht.

den Besuch des Gottesdienstes vorschreiben, das darf es Beichtzettel und Zeugniß über Anwesenheit in der Kirche

haben in der evangelischen Kirche keinen Raum, so wenig, als Dragonaden, mit welchen sie übrigens gleichen Werth haben.

Endlich

wird das Gesetz auch noch den öffentlichen Anstand zu schützen und allem zu wehren haben, was in dieser Beziehung das allgemeine Gefühl gröblich verletzt.

Nur, daß es wirklich der öffentliche An­

stand und das allgemeine Gefühl sei, was es in Schutz nimmt, und nicht etwa überzartes und verkehrtes Empfinden einzelner Men­

schen und Kreise, die außer sich gerathen, wenn z. B. ein Bauern-

Sonntagsgesetze.

91

bursch am Sonntag in der Schenke juchzt oder sich sonst nicht gerade konventikelmäßig beträgt.

Ein weiser Gesetzgeber wird, wie überhaupt

gegen Volkslustbarkeiten am Sonntage, so auch gegen minder edle — vorausgesetzt, daß sie nicht geradezu unsittlich sind, um so weniger gesetzlich einschreiten und mit Verboten vorgehen, als ihm die Er­

fahrung zeigt, daß er damit nichts bewirkt, als, daß er den krank­ haften Ausschlag — wenn es überhaupt ein solcher und nicht bloß

ein unschöner, übrigens aber heilsamer war — aus Herz und Leber

des Volkslebens treibt, dazu sich sagen muß, daß es unter allen Umständen besser ist, daß der gemeine Mann sich am Sonntag lär­

mend belustige, als daß er, wie es in den Ländern puritanischer Strenge der Fall ist, weil ihm die Möglichkeit, sich in seiner Weise zu erheitern, verschlossen ist, — und nicht er allein — sich in den

Winkel setzt und schweigend betrinkt. Das ist der Unsegen, wenn man durch Gesetze die Leute fromm machen will. Und auch Roheit

läßt sich nicht durch Verbote vertreiben, sondern dadurch, daß man, dem Volke Besseres zeigend, den Siun für Besseres weckt. Schon in der bisherigen Darstellung haben wir wiederholt darauf

hingedeutet, daß der christliche Ruhetag nicht bloß ein Ruhetag, sondern auch der gottesdienstliche Tag sein solle. .Wir haben das

jetzt weiter auszuführen. Das menschliche Leben ist Unruhe; Ruhe ist allein bei Gott. Demgemäß wird auch unsere Sonntagsfeier ihren Zweck, uns zu

einer des Menschen würdigen und ihn befriedigenden Ruhe zu führen, nur erreichen, wenn sie von religiöser Erhebung und Erbauung ge­ tragen und durchzogen ist.

Erst durch diese erhält auch alles übrige,

was den Sonntag auszeichnet, die Ruhe von der Arbeit, die er­

heiternde Beschäftigung, der festliche Anzug, selbst die bessere Kost seine rechte Weihe und wird zu einem Ausdruck, wie zum Beförderungs­ mittel, gehobener Stimmung, während es derohne leicht nur den Charakter der Leibespflege und der Zerstreuung annimmt. Striegeln

aber und besser füttern kann man auch das Thier. — Die religiöse

Erhebung ist nicht bloß auf den öffentlichen Gottesdienst beschränkt, im Gegentheil wird derselbe seine volle Kraft nur da entfalten, wo

er nicht einsam am Tage dasteht, sondern ihm die häusliche Erbauung,

1. Hauptstück. Drittes Gebot.

92

Beschäftigung mit Gottes Wort und Gebet,

Familienglieder, sei es des vorangeht, wie nachfolgt.

sei es im Kreise der

einzelnen im Kämmerlein — sowohl

Aber er bleibt die Krone der dem Feier­

tage ziemenden gottesdienstlichen Uebungen, die — mit seltenen Aus­ nahmen — erst von ihm das rechte Leben empfangen, ja überhaupt am Leben und in Uebung erhalten werden.

Es spricht wohl mancher,

daß er sich zu Hause ebenso gut, ja besser erbauen könne, als in der Kirche.

Den nehmen wir zuerst beim Worte, daß er zugestanden

hat, daß er sich daheim erbauen könne, fragen ihn aber aus das Gewissen, ob er es thue? und wenn er das wohl in der Regel wird verneinen müssen, weiter, seit wann er das nicht mehr thue, und ob er nicht mit der häuslichen Erbauung nachgelassen habe und selbst

die einsame Betrachtung bis auf das tägliche Gebet minder pflege, seit er sich gewöhnt habe, den öffentlichen Gottesdienst ohne Noth

zu versäumen? Jedoch

auch

abgesehen davon,

hat der öffentliche

Gottesdienst seinen eigenthümlichen Segen! Allerdings gilt das Wort,

daß, wo zwei oder drei in Christi Namen beisammen sind, der Herr mitten unter ihnen sein wolle (Matth. 18, 20); und das andere, daß,

wo auch nur zwei von uns unter sich einig werden, was sie bitten

wollen, der Vater ihnen solches geben werde (Matth. 18, 19), gilt und erfüllt sich oft in hohem Maße.

In der Regel indeß werden

wir gesammelter sein, uns mächtiger erfaßt und gehoben und allsei­

tiger angeregt fühlen, wo unser Gebet sich in das Beten und Flehen,

Loben und Danken der Gemeinde mischt, und unsere Andacht von

der gemeinsamen Andacht aller getragen und erhöht wird, als, wo

wir nur unserer eignen, oft bald abgebrochenen und meist einseitigen

Betrachtung hingegeben sind.

Namentlich, wo das Gotteshaus uns,

und wir das Haus kennen, da saßt uns schon, wo wir es betreten,

die Erinnerung an alle und Erquickung,

in ihm verlebten Stunden

da umgeben uns,

der Erhebung

wie gute Geister,

alle früher

empfangenen Eindrücke, da reden selbst die Steine, geschweige die Gemeinde zu uns: Alte und Junge, Hohe und Niedere, Fröhliche und

Leidende —

alle mit ihren Gedanken, ihrem Sehnen und Hoffen

auf das Ewige gerichtet, das Gotteswort, das alle erhebt, mahnt, stärkt und tröstet und nun mit seinem reichen Schatze sich auch für

uns wieder öffnet.

Wir kennen die meisten, wissen ihre Geschicke;

Pflicht und Segen des Kirchenbesnchs.

Ursachen der Unkirchlichkeit.

93

was sie erlebt und erfahren, tritt tröstend und warnend, unsern Ernst weckend, unsern Muth belebend, vor unsere Seele: uns auch wird Gott zur Seite stehen und uns zum Ziele führen.

Das ist eine Stär­

kung für unsern Glauben, eine Belebung unserer Liebe, eine Erhebung über das bloß persönliche in das gemeinsame Leben und Fühlen,

wie wir es nicht leicht in anderer Weise und an einem anderen Ort erfahren!

Warum nur berauben sich so manche dieses Gipfelpunkts der reli­

giösen Erhebung? Viele schieben ihren Gesundheitszustand vor, daß sie krank seien oder fürchten müßten, krank zu werden, wenn sie die Kirche besuchten! Wenn das wahr ist, so sind sie entschuldigt.

Der Gottes­

dienst ist nicht dazu da, daß man sich für die Woche verdirbt, son­ dern, daß man sich für dieselbe kräftigt.

Wer Schaden von dem­

selben zu befürchten hat, der trage zu seinem andern Leiden die Ent­

behrung — für jemand, der die Freude und den Segen regelmäßigen Besuchs

der Kirche kennt, eine der größten — daß er von dem

öffentlichen Gottesdienste der Gemeinde abgeschnitten ist, und baue sich möglichst seine Kirche im Hause aus.

Aber ist es wahr? —

Andere entschuldigen sich damit, daß sie keine Zeit haben. Leider giebt es bei der vielfachen Verwicklung unserer Lebensverhältnisse und der noch immer großen Anzahl derer, welche, was das Wohl

ihres Nächsten betrifft,

nicht nach Gesetz, nicht nach Evangelium

fragen, manche, die wirklich keine Zeit, die Kirche zu besuchen, haben. Für die werden wir anderen einzutreten und durch immer nachdrück­

lichere Hinweisung auf das, was sich ziemt, wie durch entgegen­ kommende kirchliche Einrichtungen, auch ihnen diese Zeit zu verschaffen

suchen.

Aber bei weitem die meisten haben keinen ernsten Drang.

Nicht, daß sie deshalb unsromm oder gar gottlos wären (wir wissen,

es sind ganz religiöse Leute darunter, deren inneres Leben allerdings nothwendig minder entwickelt bleibt, als es bei anderem Verhalten

der Fall sein würde); sie sind nur zu bequem;

die ganze Woche

auswärts geplagt und im Berufe hin- und hergezogen, vermögen sie sich nicht von ihrer häuslichen Behaglichkeit loszu.eißen, zumal sie die Erquickung, welche der Gottesdienst zu gewähren vermag, nicht

kennen, noch bei ihrer Art, demselben hie und da einmal beizu­ wohnen, kennen lernen können.

Denn so steht es doch mit allen

94

1. Hauptstück.

Drittes Gebot.

Gütern: keins fällt dem Menschen von selber in den Schoß, son­

So wird auch die

dern alles will errungen und erarbeitet werden.

rechte Freude und das Behagen am Kirchenbesuch nur denen zu Theil, welche regelmäßig an dem Gottesdienste theilnehmen und in

der Kirche zu Hause sind, nicht denen, welche nur als seltene Gäste

erscheinen.

Man muß sich eben in der Kirche einwohnen. — Am

häufigsten hört man die Rede: ich erbaue mich in der Kirche nicht; die Gemeinden sind eben nicht, wie dn sie schilderst, sondern roh

und zerfahren, die Gottesdienste unerquicklich, die Predigten lang­ weilig.

Es muß ja wohl etwas an dieser Rede sein, sonst wäre

die koloffale Entfremdung vom Gottesdienste nicht möglich, daß nicht

bloß einzelne, schlechte Leute, sondern ganze Schichten unseres im übrigen doch nicht gottlosen Volks, ja fast die gejammte gebildete

Männerwelt sich vom Gottesdienste fern halten.

Unser Gemeinde­

leben ist mangelhaft organisirt; es fehlt an Möglichkeit, gemeinsam in der Kirche und für sie zu wirken; darum ist auch, wo die Ge­

meinde zusammentritt, das Gemeindegefühl und Gemeindebewußtsein

schwach. — Unsere Gottesdienste haben Mängel.

Ihr größter Mangel

ist, daß in ihnen alles viel zu sehr von oben eingerichtet wird, nicht so­ wohl, wie es die Gemeinde erbaut, sondern, wie es schön, alterthümlich, reformatorisch, apostolisch, nämlich nach der Meinung der Bestim­ menden erscheint; die Gemeinden aber finden es ermüdend oder trocken.

Ja, es fehlt nicht an Beispielen, daß einzelnen Gemeinden Gebete und Gesangbücher trotz ihres Widerspruchs aufgenöthigt worden sind.

Endlich auch

die Predigt entspricht nicht immer den

machenden Anforderungen.

an sie zu

Es wird im allgemeinen viel zu viel

und lange nicht gut genug gepredigt.

Melanchthon forderte für die

Predigt vor allem meditatio (Nachdenken), sodann oratio (Gebet). Jetzt soll es vielfach die Frömmigkeit, der heilige Geist allein thun,

obschon derselbe Nachlässigen und Trägen eben nicht verheißen ist. In andern Fällen sind die Prediger so sehr mit Geschäften, oft ganz

fremdartigen, überladen oder stürzen sich auch in allerhand fromme Vielgeschäftigkeit, daß sie nicht im Stande sind, am Sonntage eine wirklich tüchtige Predigt zu halten'). ') Apostelgesch. 6, 2. und zu Tische dienen.

Das Uebelste aber ist, daß

Es taugt nicht, das; wir das Wort Gottes unterlassen

Pflicht und Segen des Kirchenbesnchs.

Ursachen der Unkirchkichkeit.

95

die Predigt sich vielfach im Widerspruch mit der gesammten Bil­

dung und den berechtigten Forderungen der Zeit befindet: es wird

Veraltetes, Unverständliches, es wird lutherische Dogmatik statt leben­ digen Christenthums gepredigt. — Und wenn es immer nur ge­

predigt würde; in Liebe vorgetragen und brüderlicher Ueberlegung anheimgegeben, läßt sich zuletzt jede redliche Ueberzeugung anhören und wirkt, auch wenn man ihr nicht beitreten kann, anregend und

durch die Wärme, mit der sie vorgetragen wird, erbauend.

Aber es

wird eben nicht bloß gepredigt, sondern auch angeherrscht und mit

Schelten und Poltern und Absprechen über Glauben und Unglauben und ewige Seligkeit den Gemeinden anfgedrängt.

Das ist schlimm;

aber es wird doch dadurch nicht besser, daß wir uns um dieser Aus­

wüchse willen ganz vom Gotteshause und Gottesdienste zurückziehen und gewissermaßen fahnenflüchtig werden und dem, was uns miß­ fällt, das Feld räumen, sondern dadurch, daß wir es uns ernstlich verbitten

und alle vorhandenen Mittel benutzen — und es

sind

deren vorhanden, und werden sich immer mehrere finden —, um es

abzustellen.

Sodann soll man auch nicht in's Schwarze malen.

Unsere evangelische Kirche ist und bleibt trotz allem, was man an

ihr auszusetzen hat, die evangelische, unsere Gottesdienste enthalten einen so tüchtigen Kern der Erbauung, unter unseren Geistlichen ist

immer noch ein solcher Stamm begabter und geschickter, vor allem treuer Prediger, daß, wer sich in unseren Gottesdiensten nur er­ bauen will, — mit seltenen Ausnahmen — ausreichende Gelegenheit

dazu findet.

Darum, ohne irgend etwas von demjenigen zurück­

nehmen zu wollen, was wir von der Mitschuld der Kirche an dem Verfall des Kirchenbesuchs gesagt haben, werden wir die über das

Unerbauliche des Gottesdienstes Klagenden noch lange nicht für ent­

schuldigt halten, sondern sie vielmehr zuerst nur fragen, ob sie denn wirkliche Erbauung, d. i. Sammlung in Gott, Stärkung und Kräfti­ gung ihres inneren Lebens, und nicht vielmehr nur Unterhaltung, sei es durch eine geistreiche Rede, sei es durch die schöne Fügung

und den Wohllaut der Worte, bis herab auf das Alleräußerlichste

und Nichtigste, die Musik der Stimme, gesucht, und wenn ja, was

sie denn ihrerseits gethan hätten, diese Sammlung zu finden.

Das

führt auf dasjenige, wovon wir gleich anfangs ausgingen, daß der

96

I. Hauptstück.

Drittes Gebot.

öffentliche Gottesdienst seine volle Kraft nur da entfalten werde, wo er nicht nur vereinzelt dastehe, sondern durch die häusliche Andacht

unterstützt werde.

Wer rechte Sammlung und Erhebung in der

Kirche finden will, der muß irgend welche Sammlung immer schon

mitbringen; je mehr einer davon in die Kirche bringt, um so mehr wird er danach aus ihr mit fortnehmen.

Wie aber kommen die

meisten? Frisch aus den Sorgen und den Zerstreuungen des Lebens, aus doppelter Unruhe und Hast, um rasch noch fertig zu machen, was bei rechter Einrichtung schon den Tag vorher, mindestens in

aller Frühe beschickt worden wäre.

Und wie find sie da?

Gehen

sie wenigstens jetzt mit voller Energie der Selbstthätigkeit auf den Gottesdienst ein, und suchen sie mit angestrengtem Nachdenken der

Predigt zu folgen? Anstrengung! Wer darf solche nach allem, was man sich in der Woche gequält hat, noch Sonntags in der Kirche

fordern!

Dafür ist der Prediger da!

Der soll die Leute trösten,

ergreifen, erschüttern, bessern, ohne daß sie nöthig haben, sich erst

den Kopf zu zerbrechen. — Und wie gehen sie aus dem Gottes­ dienste fort?

Sie sagen: das war eine schöne Predigt, oder auch:

die Predigt hat mir heute nicht gefallen, und sprechen von etwas

anderem! So geht allerdings manche tüchtige Predigt, wie die mei­ sten der „schön gefundenen", spurlos an den Leuten vorüber. Der rechte Kirchenbesucher hat bereits am Vortage daran gedacht,

daß morgen der gottesdienstliche Tag ist, und Haus und Werkstatt auf­

geräumt und alles Nöthige im Amt bestellt, daß er dem Gottesdienste mit Ruhe beiwohnen möge.

So gewinnt er Zeit, bereits die Morgen­

stunden gesammelt zu durchleben und sich auf die Hauptfeier vorzuberei­

ten. Sei es, daß er, der eine allein, der andere mit den Seinigen, jeder, wie es die Einrichtung des Hauses gestattet, und ihn der innere Sinn treibt — sei es, daß er überlegt, was die Woche gebracht, und wie ihn Gott gesegnet, und was er gefehlt hat, sei es, daß er sich auf

die letzte Predigt besinnt und in den Zusammenhang der Betrach­ tungen zu versetzen sucht oder sonst wie sich ernstlich mit Gottes Wort beschäftigt. So erscheint er äußerlich und innerlich bereitet und geschmückt in der Kirche und ist nun auch im Stande, sich den Segen der gemeinsamen Erbauung anzueigncn.

Was er so gewonnen,

sucht er auch, nachdem er das Gotteshaus verlassen, zu befestigen,

Das Kirchenjahr.

97

indem er das Gehörte mit den ©einigen — nicht kritisirt und durch loses Beschwatzen den Eindruck desselben schwächt — sondern es über­ legt und auf sich und seine Verhältnisse anwendbar macht.

Dann

geht er hin und verbringt den anderen Theil des Feiertages, wix es sein Bedürfniß mit sich bringt und ihn erheitert, gewiß, daß Gott

mit ihm ist, und sein guter Geist ihm auch das Fröhliche gesegnet.

Das ist die Art, wie auf Grund unsrer deutschen Weise — die sich so vortrefflich auch in der Erklärung Luthers zu diesem Gebote spiegelt — der Feiertag ebenso ernst, wie erheiternd, wahrhaft er­ bauend begangen werden kann, gleich weit ab von jedem Leichtsinn,

wie von jeder puritanischen, wesentlich doch in dem Gesetze stecken

gebliebenen und dasselbe noch übertreibenden Strenge. Wie der öffentliche Gottesdienst am Sonntage nicht ein verein­ zelter fein soll, so stehen auch die einzelnen Sonn- und Festtage nicht

nur als einzelne da, sondern es findet ein Zusammenhang zwischen

ihnen, ein Kreislauf statt. der

Diesen jährlich wiederkehrenden Kreislauf

christlichen Sonn- und Feiertage nennen wir das Kirchenjahr.

Man muß mit demselben bekannt sein und es inne haben, weil die

Stellung jedes Sonntages in ihm aus den Ton und die Haltung des Gottesdienstes an ihm Einfluß hat.

Die ältesten Christen hatten, so weit sie nicht als geborene Juden

die jüdischen Feste feierten, keine Jahres-, sondern nur Wocheufeste, den Tag des Herrn, neben welchem sie noch Mittwoch und Freitag

(letzteren

als

den

Todestag

des Herrn)

als

„dies

stationum“,

„Wachen der Krieger Christi", durch Gebetsversammlungen und Fasten bis drei Uhr nachmittags anszeichneten.

Am frühesten kam die Jah­

resfeier der Auferstehung, das Osterfest, auf, wurde jedoch anfäng­ lich in den verschiedenen Gegenden zu verschiedenen Zeiten begangen. Die morgenländischen Christen nämlich, welche geraume Zeit auch

das jüdische Passah gehalten hatten, feierten danach auch den Tod und die Auferstehung des Herrn, wie sich das von selbst ergab, an diesem Fest, an dem bestimmten Monatstage, dem 14. des jüdischen

Monats Nisan, unangesehen, auf welchen Wochentag die Feier fiel,

gerade, wie wir Weihnachten immer am 25. Dezember feiern.

Die

abendländischen Christen dagegen, welche als geborene Heiden das Eltester, Materialien. 2. Auflage. 7

1. Hauptstück. Drittes Gebot.

98

Passah nicht kannten, hatten sich von den Wochenfesten her so sehr gewöhnt, gerade den Sonntag als den Tag der Auferstehung, den Freitag als den des Todes Christi anzusehen, daß, als die jährliche

Feier der Auferstehung aufkam, sie nun auch für diese den Wochen­

tag sesthielten und Ostern stets an einem Sonntag, dem großen

Sonntag, begingen, mit Hintenansetzung des Monatstages oder, wie wir sagen, des Datums.

Darüber entstand um die Mitte des zweiten

Jahrhunderts lebhafter Streit, der indeß ausgeglichen wurde; schließ­

lich setzte sich die abendländische Weise durch.

Bei dieser stand nun

aber wohl überhaupt die Feier am Sonn- und Freitag fest, nicht

aber an welchem, ob an dem vor oder dem nach dem 14. Nisan;

und so blieb abermals eine Verschiedenheit in der Osterfeier, bis endlich vom 6. Jahrhundert an die in der alexandrinischen Kirche gebräuchliche Weise, Ostern jedesmal an dem ersten Sonntag nach

dem ersten Vollmond nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche zu feiern, die allgemeine wurde. unsrige ist,

Nach

dieser Weise, welche auch die

kann es demnach zwischen den 22. März und 25. April

fallen, also um volle 5 Wochen differiren.

Danach richtet sich sodann

die Zahl der Ostern vorangehenden (1—6) Epiphanias-, sowie der aus Pfingsten folgenden (22—27) Trinitatis-Sonntage. — Die Feier

des Pfingstfestes ist wohl gleichzeitig mit der des Auferstehungsfestes Etwas später fällt die Entstehung des Epiphanias­

ausgekommen.

festes (6. Januar) d. i. des Festes der Erscheinung Christi, dessen

Gegenstand bald die Ankunft der Weisen aus dem Morgenlande als Unterpfand,

daß Christus auch

den Heiden erschienen sei (daher

Genethlia ethnon, Geburtstag der Heiden), bald die Erscheinung der

Herrlichkeit Jesu in dem Wunder auf der Hochzeit zu Kana, bald auch die Taufe Jesu war.

Das späteste ist das Weihnachtssest (seit

dem vierten Jahrhundert); je mehr sich dasselbe ausbreitete, um so

mehr trat das Epiphaniasfeft zurück.

Wir feiern dieses gar nicht

mehr; in der morgenländischen Kirche dagegen steht es noch heut in

hohem Ansehen. Jedem der drei großen Hauptfeste ging in der alten Kirche und

geht noch heut eine Vorbereitungs-Fastenzeit voran: 1. Die Rüstzeit auf Weihnachten umfaßte die 4 Sonntage im Advent (Ankunft Christi),

mit deren erstem das Kirchenjahr begann, 22—28 Tage, je nachdem

Das Kirchenjahr.

99

Weihnachten auf einen Montag oder Sonntag fiel.

2. Auf Ostern

bereitete das große 40tägige Fasten (zur Erinnerung an das 40tägige

Fasten Jesu iu der Wüste), Quadragesima, vor.

Die Zahl der Fast­

tage war und ist in der römischen und griechischen Kirche noch heut in der That 40 Tage, die Zeit der „Fasten" dagegen eine längere. In der römischen Kirche umfaßt sie 46 Tage (von Aschermittwoch-

Ostern), in der griechischen noch eine Woche länger, weil nach ur­ altem Gebrauch in jener am Sonntag, in dieser auch am Sabbath nicht gefastet werden darf.

In der evangelischen Kirche sind

die

Fasten, d. i. das gezwungene Fasten an bestimmt vorgeschriebenen Tagen bekanntlich abgeschafft; gegen das Fasten aus freier Wahl, wenn

es

einer für nöthig findet, sich in dieser Weise in die Zucht zu

nehmen und seinen Leib zu zähmen (1 Kor. 9, 27), hat sie dagegen

nichts einzuwenden, nur, daß weder ein Schein damit getrieben, noch ein Verdienst daraus gemacht werde, der Christ sich auch nicht auf

die Enthaltung von Speise und Trank beschränke, sondern sie aus

alles ausdehne, wovon er spürt, daß die Neigung dazu ihm über den Kopf wachsen will. ■ — Die lateinischen Namen der Sonntage

in der Fasten mit Ausnahme des Palmsonntages — Invocavit, Remi-

niscere etc. —, wie ebenso die Namen der Sonntage zwischen Ostern und Pfingsten, rühren von den Anfangsgebeten (introitus) in der

Messe her.

Der Name Gründonnerstag (des Tages der Fußwaschung

und Einsetzung des heiligen Abendmahls) wird abgeleitet bald von den grünen Kräutern, welche mit dem Passah genossen wurden, bald

von dem Weinstock (Joh. 15), von welchem das Gemach, in dem der Heiland das -Abendmahl feierte, umzogen war, bald von der Entsündigung der von der Kirche ausgeschlossen oder

zucht Gewesenen, wieder

„Grünen",

unter Kirchen­

wieder in die Kirche Aufgenommenen, nunmehr d. i.

Sündenlosen (daher dies viridium oder

Antlaßtag') im Mittelhochdeutschen Tag des Erlasses der Kirchen­ strafen und der Wiederaufnahme in die Kirchengenleinde). — Charfreitag ist nach Grimms Wörterbuch der „Trauerfreitag",

von dem

]) Deutsches Wörterbuch von Weigand 1857: Daß viridis in der nnttellateinischen Kanzel- und Kircheusprache nach „in viridi ligno“ bei Luk. 23, 31 auch die Bedeutung „süudenlos" hatte, erhellt aus Eychmans vocabularium predicantium (1483), wo es Bl. x, 5a heißt: „viridis“ ein grünender, der da on fünde ist, „grün". 7*

1. Hauptstück. Drittes Gebot.

100

althochdeutschen chara, gothisch Kara, luctus. — Der Sonnabend in der Charwoche war der allgemeine Tauftag.

Der Ostersonntag führte,

wie schon bemerkt, den Namen des großen Sonntags, der Sonntag nach Ostern den des weißen Sonntags (dominica in albis), weil

an ihm die Neugetauften zum letzten Male beim Gottesdienste mit

ihren weißen Taufgewändern erschienen. — 3. Als Vorbereitungszeit auf Pfingsten galt die ganze Zeit zwischen Ostern und Pfingsten, in welcher übrigens als in der Freudenzeit der Christenheit nicht ge­ fastet wurde.

Darnach gliedert fich das Kirchenjahr also:

1) Die Weihnachtszeit.

4 Sonntage im Advent.

Die Octave nach Weihnachten.

Weihnachten.

(Das bürgerliche Neujahr ursprüng­

lich im Gegensatz zu den Ausschweifungen der Heiden an den Sa­ turnalien ein strenger Buß- und Fasttag; seit dem 7. oder 8. Jahr­

hundert der Tag der Beschneidung Christi).

Epiphaniasfest, 1—6

Sonntage nach Epiphanias.

2) Die österliche Zeit. gesimä (70ste),

Zuerst 3 überleitende Sonntage, Septua-

Sexagesimä (60ste), Quinquagesimä (50ste) d. i.

der dem 70sten, 60sten, 50sten Tage vor Ostern am nächsten gele­

gene Sonntag. — Darauf die 6 Sonntage in der Fasten. große oder Charwoche.

Die

Ostern.

3) Die Pfingstzeit von Ostern bis Pfingsten.

Am Mittwoch in

der Mitte zwischen beiden der allgemeine Buß- und Bettag.

Am

Donnerstag zwischen den Sonntagen Rogate und Exaudi — 40 Tage nach Ostern — das Himmelfahrtsfest (erst seit dem 4. Jahrhundert).

Pfingsten.

Die Octave nach Pfingsten oder das Fest der Dreifaltig­

keit (festum trinitatis).

Und nun

4) Die festlose Zeit, 22—27 Sonntage nach Trinitatis, in der nur Nebenseste, d. i. nicht Thatsachen aus dem Leben Christi feiernde

Feste, und daher meist nur an Sonntagen, nämlich das Aerntefest (am Sonntag nach dem 29. September), das Reformationsfest (am

Sonntage nach

dem 31. October) und das Todtensest (am letzten

Sonntage im Kirchenjahr) begangen werden.

Das

letzte ist das

jüngste aller Feste und ein recht lebendiges Beispiel, wie Feste ent­ stehen und auf naturgemäße Weise sich ausbreiten.

Es ist nämlich

entstanden aus der Gedächtnißfeier, welche nach dem großen Befreiungs-

kriege von 1813 —1815 zur Erinnerung an die in diesem Kriege Gebliebenen begangen roiirbe. Die Feier schlug so ein, daß sie fort­ an jährlich wiederholt wurde und jetzt mit allmählich geänderter Beziehung auf die im letzten Jahre Verstorbenen, wie auf die Ver­ storbenen überhaupt, uns unentbehrlich geworden ist. Zu bemerken ist noch, daß die schottische Kirche dieser gesammten Einrichtung entbehrt und keinerlei Feste außer dem „allein von Gott gebotenen Sabbath" feiert. Unchristlich ist das nicht, aber in hohem Grade ungemüthlich und starr, wie überhaupt die Anschauung und Praxis dieser Kirche in Betreff des Sabbaths. Der evangelische Gottesdienst besteht aus Predigt, Gemeinde­ gesang und Gebet. Keines von diesen dreien darf fehlen, ohne daß der evangelische Charakter des Gottesdienstes verletzt werde. Soge­ nannte liturgische Andachten dürfen nur die Stelle von Nebengottes­ diensten beanspruchen; wo sie sich statt der Predigt an die Stelle des eigentlichen Gottesdienstes drängen, oder die Predigt auch nur verkürzen und auf ein Minimum beschränken, sind sie vom Uebel. „Das Wort, das Wort, das Wort vor allem hat es gethan und muß es noch immer wieder thun." — In dem Vormittagsgottes­ dienste pflegt sich das gemeinsame Gebet der Gemeinde zum Altar gebet zu entfalten. Der Ort entspricht der Sache. Er bezeichnet das Gebet als aus der Gemeinde kommend, als ihr gemeinsames Gebet, während das von der Kanzel verkündete Wort auf tritt als das belebende, tröstende, ermahnende, strafende Wort Gottes, das an die Gemeinde kommt, wie es der Geist Gottes dem einzelnen jedesmal giebt auszusprechen. — Als das Gebet der Gemeinde, welches nicht bloß in ihrem Namen und für sie geschieht, sondern welches sie, die Gemeinde, selber betet, und der Vorbetende nur statt ihrer ausspricht (sie aber betet es still mit)1), — als solches wird und muß das Altargebet überwiegend altherkömmlich bekannte stehenve Elemente enthalten; wie vermöchte sie sonst mitzubeten! ') Es giebt aber auch ein lautes Mitbeten.

Das ist jedoch, wenn nicht eine

Judenschule entstehen soll, mir in der Weise des Gesanges möglich

Uebergang 311111 Ehoratgesaug.

und bildet den

102

1. Hauptstück.

Drittes Gebot.

Andererseits dürfen indeß, damit es nicht zu einem rein mechanischen Aufsagen und Herleiern werde, auch freie Elemente in ihm nicht

ganz fehlen, mindestens muß ähnlich, wie

bei dem Gesangbuche,

eine Wahl und ein Wechsel in dem, was von den überlieferten Ge­ beten jedesmal gebraucht wird, stattfinden.

Gerade umgekehrt steht

Sie ist und soll sein der Ausdruck der persön­

es mit der Predigt.

lichen Ueberzeugung des Redenden, allerdings nicht seiner Weisheit,

sondern Verkündigung des göttlichen Wortes, aber so, wie er es ver­ steht, und wie es

ihm lebendig geworden ist').

Darum verträgt

sie wohl und fordert einen festen Rahmen, durch welchen sie sich an den übrigen Gottesdienst an- und mit ihm zu einem Ganzen

zusammenschließt, als: den stehenden Spruch am Eingänge, das Gebet des Herrn am Schluß,

die hie und da übliche Unterbrechung der

Rede durch einen Kanzelvers oder Kanzelgebet; grundelegung des Textes, Text bei

daß

vor allem die Zu­

überhaupt über einen bestimmten

manchen Gelegenheiten, und in manchen Gegenden über

eine bestimmte Reihe von Texten gepredigt wird, und was sonst noch

durch das Herkommen fest geworden ist; aber innerhalb dieses Rahmens

vertritt sie das bewegliche Element im Gottesdienste.

Die Aufgabe

ist, den Gottesdienst so einzurichten, daß das bewegliche und das

stehende Element im inneren Einklang stehen und ungezwungen in einander übergehen. Das stehende Altargebet führt den Namen der Liturgie; litur-

gia (Leitourgia) ist ein griechisches Wort und bezeichnet in der alten griechischen Sprache einen öffentlichen Dienst zu Nutzen des Staats^). Agende nennt man die Sammlung der in einer Kirche üblichen

liturgischen Formulare sammt den darüber erlassenen Vorschriften. — Unsere sonntägliche Liturgie ist wesentlich

die Erneuerung von

Luthers deutscher Messe, d. i. der römischen Messe, wie Luther die­

selbe in den Anfängen der Reformation, mit Beseitigung dessen, was sich in dem römischen Ritual auf das Meßopfer bezieht, zu Frommen

jener Tage in's Deutsche übersetzt hat.

') Apostelgesch. 2, 4.

2) In Athen

Röm. 12, 6—7.

Schon das läßt zweifeln, ob

2 Kor. 4, 13.

B. Ausrüstung eines Kriegsschiffes für den Staut durch einen

oder mehrere Bürger.

Evangelische Gottesdieiistvrdiuuig. Preußische Agende v. 1829.

103

sich in ihr der evangelische Geist rein und voll ausgedrückt haben

werde. Luther selbst war weit entfernt, seine Messe als ein Gebet oder

auch nur als ein Muster hinzustellen.

Er gab sie als etwas, was

jeder nach Gefallen brauchen und, wenn er könne, bessern möge.

Und

hatte man seitdem vielfach geändert, und waren im Laufe der Zeiten eine ganze Reihe von Liturgien und Agenden aufgekommen, welche, theils mehr, theils minder gut, jedenfalls dem Geschmack der Ge­

meinden entsprachen.

Als man vor nunmehr etwas über 40 Jahren

statt dieser im allgemeinen im gesegneten Gebrauche stehenden Agen­ den der evangelischen Kirche wiederum die alte, in ihren Einzelheiten

allerdings durchweg mit dem Evangelium verträgliche, aber in ihrem ganzen Gange au die römische Messe erinnernde, dazu trotz ihrer

Uebersetzung in's Deutsche dem deutschen Charakter nicht entsprechend „erneuerte Messe" Luthers zur Aneignung barbot'),

hätte sich

die

Kirche schwerlich zur Wiedereinführung derselben bequemt, wenn nicht der um unsere evangelische Kirche übrigens hochverdiente König Frie­ drich Wilhelm III. an dieser Liturgie ein lebhaftes persönliches In­ teresse gehabt hätte, in Folge dessen den Geistlichen, welche dieselbe

anfangs

ablehnten,

dennoch

anzunehmen

scheiden.

schließlich nichts übrig blieb, als entweder sie oder

aus

dem

Amte

und

der

Kirche

zu

Allerdings hat sie sich seitdem festgesetzt, und das jüngere

Geschlecht kennt keine andere, als sie.

Aber lebendig ist sie trotzdem

in der Kirche nicht geworden; das beweist der Umstand, daß, wenn

es irgend geht, noch heute die Gemeinden erst „nach der Liturgie" zur Predigt kommen.

Gereicht das unserem Gottesdienste zu großem

') Unsere Liturgie mit ihrem fast dramatischen Charakter, ihren Antiphvnien und Wechselgesprächeu zwischen dem Geistlichen und dem Chore, ihrer Häufung von lauter kurzen Gebeten (eigentlich lauter Stoßseufzern und Anrufungen) und ebenso abgerissenen Gesangsstücken (ohne daß man eigentlich jemals außer am Schluffe zu einem wirklichen Gebete kommt) ist wesentlich das Produkt des grie­ chischen und römischen Volksgeistes, dem lebhaften, zu jähen Sprüngen geneigten Charakter jener Stationen ganz entsprechend und für sie und ihnen ähnliche erbau­ lich. Der ruhige und nachdenkliche Deutsche bewegt sich nicht in Sprüngen, am wenigsten in der Andacht; feinem Bedürfniß wird auch im Gottesdienst das Ge­ haltene und sich gehörig Entfaltende, also statt jener vielen kurzen Gebete ein oder mehrere längere Gebete im gehörigen Wechsel mit angemessenen Lesungen und dem Choralgefange zusagen. Muster solchen „deutschen" Gebetes war das ehe­ malige vortreffliche reformirte Morgengebet.

104

1. Hauptstück.

Drittes Gebot.

Nachtheil, so ist andererseits nicht zu vergessen, daß durch diese Litur­

gie und die über sie geführten Verhandlungen das Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit der einzelnen Geistlichen und der einzelnen

Gemeinden mit der gesammten Kirche, das sehr matt geworden war, wieder geweckt, der Gedanke an Ordnung auch für diese Gebiete zur

Anerkenntniß gebracht, und ein Verständniß für die liturgischen Dinge angebahnt worden ist, in Folge dessen es hoffentlich einer nicht allzu

fernen Zeit gelingen wird, in geordneter Weise zu erreichen, wonach man bisher nur mit theilweisem Erfolge gerungen: Aufstellung einer

Liturgie oder einer Sammlung von Liturgien, in der sich ebenso der evangelische, wie der deutsche Charakter unseres Volks und unserer

Kirche, voll ausdrücken, zu der die Gemeinden wieder herzuströmen

und sich an ihr erbauen werden, wie sich unsere Väter an dem von Luther gereinigten Gottesdienste erbaut habens.

Welcher Evangelische jemals einem katholischen Gottesdienst bei­

gewohnt hat, der wird den Unterschied zwischen Gottesdiensten unserer Kirche inne geworden sein. dieser Unterschied eigentlich?

diesem und den Worin besteht

Zuerst: der evangelische Gottesdienst

wird immer in der Landessprache gehalten, der katholische immer in der lateinischen. — Sodann: bei uns nimmt die Gemeinde selbst­ thätig am Gottesdienste Theils der Choralgesang ist ein wesent­

liches Stück unserer Gottesverehrung; in der römischen Kirche ist

die Gemeinde passiv.

Ferner:

der katholische Gottesdienst besteht

wesentlich aus einer von einem Verlaufe von Handlungen umgebenen Handlung, dem Meßopfer, Hin- und Hergehen am Altar, Kleider­

wechseln, Kniebeugungen, Wendungen rechts, links, zur Gemeinde,

zum Altar, Wendungen der Augen und der Hände, Lesungen hier, Lesungen da, Räucherungen, kurz aus lauter Ceremonien (das Wort *) Wer sich für diesen Gegenstand, der für die Besserung unseres kirchlichen

Lebens von der größten Wichtigkeit ist, insbesondere für meine hier kurz angedeuteteii Anschauungen interessirt, den verweise ich dringend ans das Gutachten, be­

treffend die liturgischen Bedürfnisse der evangelischen Landeskirche, welches ich auf Aufforderung des Ev. Ober-Kirchenraths zur Vorlage für die im Jahre 1856 ab­ gehaltene „kirchliche Konferenz" erstattet habe,

und

welches danach sammt den

anderen Gutachten in den Aktenstücken aus der Verwaltung deS Ev. Ober-Kirchenratho, Bd. 3 veröffentlicht worden ist. — Ich stehe noch heute fest zu den daselbst ausgesprochenen Grundsätzen und bin überzeugt, daß sie sich durchsetzen werden.

105

Evmigelischer und katholischer Gottesdienst.

ist Nebensache, in der stillen Messe wird alles lautlos hergesagt),

Ceremonien, welche theilweise einen guten Sinn haben, theilweise aber auch den Gelehrten nicht mehr verständlich und öfter auch der­ artig sind, daß es einem Protestanten schwer wird, den Ernst dabei

zu bewahren.

Im römischen Gottesdienst hat alles mystische Be­

deutung, von dem Altartuche und dem kleinen leinenen Tuche (corporale) bis auf die vielfältig zusammengesetzte priesterliche Kleidung

und die Abwechslung in den Farben der Meßgewänder: weiß an Sonn- und Festtagen, die einen hohen Inhalt haben, roth an Mär­

tyrertagen, grün als Symbol der in der Hoffnung des Sieges strei­

tenden Kirche vom Epiphaniastage bis zur Fastenzeit und von Pfingsten bis Advent, violett — auf Ernst und Trauer deutend — im

Advent und in der Fasten, ferner bei allen Messen um Abwendung eines Uebels bei Landplagen, Pest und Krieg; schwarz endlich am Char-

freitage und bei Todten- und Seelenmessen.

Der überall mit größt­

möglichem Pomp ausgestattete Gottesdienst ist auf das Sinnenfällige gestellt, bestimmt, das Volk durch äußerliche Eindrücke zu rühren, zu erschüttern und zur Andacht zu reizen, bei dem Zurücktreten

des

Wortes aber außer Stande, eine andere, als eine unbestimmte Ge­

fühlsandacht, hervorzurufen; die Predigt eigentlich eine Zufälligkeit, sofern ein voller feierlicher Gottesdienst ohne sie abgehalten werden kann '); die Kirchen selbst auf das Sehen eingerichtet. gegenüber ist

— Dem

der evangelische Gottesdienst durch und durch auf's

Wort, auf Klarheit und Kraft der Gedanken gestellt, und sind

der Ceremonien so wenige, daß manche in unserer Kirche selbst schon über Nüchternheit und Kahlheit des Gottesdienstes geklagt haben.

Mag an dieser Klage etwas sein, und mag man bedauern, daß mit dem Wüste zum Theil störender, jüdischer und heidnischer Ceremo­ nien auch so manche an sich unschuldige, sinnvolle, dazu durch das

Alter ehrwürdige Gebräuche, die ohne Schaden hätten beibehalten werden können, im ersten Eifer der Reinigung abgeschafft worden sind; der rechte evangelische Mensch wird lieber selbst die Kahlheit l) Wie sehr die Predigt in der katholischen Kirche Nebensache ist, erhellt am dentlichsten daraus, das; es manche Kirchen giebt, die gar keine feste Kanzel haben,

sondern nnr ein bewegliches (bestell,

welches, wenn von ihm Gebrauch gemacht

werden soll, ans seinem Winkel in die Mitte der Kirche geschoben wird.

Drittes Gebot.

1. Hauptstück.

106

ertragen, als daß er die Reinheit und die Wahrheit seines Gottes­ dienstes aus's Spiel setzt, und,

indem er herzustellen sucht, was,

nachdem es einmal gefallen, sich nicht wieder aufrichten läßt, ohne

daß man auf Aeußerlichkeiteu ein unverhältnißmäßiges Gewicht legt, — die Seelen der Menschen in die Irre, die Kirche nach Rom führt.

Die Vorgänge in der anglikanischen Kirche sind in dieser Beziehung

ein warnendes Beispiel. — Viertens:

„Es ist in dem römischen

Kultus keine Zusammenstimmung des Geistlichen mit der Gemeinde. Indeß der Gottesdienst,

die Messe,

Geistlichen verrichtet wird

und

die Liturgie von Seiten des

mechanisch

vor

sich

geht,

geht

andererseits im Volke der Gottesdienst und die Andacht auch ihren

aparten Gang; es wird während desselben aus dem Brevier gebetet oder ohne dasselbe nach Leitung des Rosenkranzes; jeder hat seine besonderen frommen Gedanken, bis ihn endlich der Laut des Glöck­

chens am Altar darin unterbricht, ihn in das Gemeinsame hinein­

zieht, aber ihn dann sofort wieder in seine besondere andächtige Be­ schäftigung

zurückfallen läßt"

(Marheineke's Symbolik,

S. 238).

Während in dem evangelischen Gottesdienste alle Sinne in tiefster

Sammlung auf den gemeinsamen Gesang,

das

gemeinsame

Gebet, auf die Predigt gerichtet sind, fällt in dem katholischen Kultus die Versammlung geistig völlig auseinander und löst sich selbst ört­ lich vielfach in die verschiedenen Gruppen auf, welche sich um meh­ rere Altäre, an denen gleichzeitig Gottesdienst gehalten wird, ver­

sammeln und jede für sich das Ihrige treiben, andern zu bekümmern.

ohne sich um die

Wie wenig die Gemeinsamkeit für den ka­

tholischen Gottesdienst bedeutet, sieht man vor allem daraus, daß

derselbe vollgültig

selbst in Abwesenheit jeder Gemeinde

gehalten

werden kann; namentlich bei Privatmessen ist außer dem Priester nur die Anwesenheit des Ministranten erforderlich. — Der Grund oder, wenn man will, die Spitze von dem allen ist die grundver­

schiedene Ansicht, welche beide Kirchen überhaupt von dem Gottes­ dienste haben.

In der evangelischen Kirche ist derselbe Darstellung

des Glaubens zur Erweckung, Läuterung, Kräftigung des Glaubens. In der römischen Kirche ist er ein Werk, ein Werk, das die Kirche

thut, indem sie durch ihren Priester das Meßopfer verrichtet, so wie

ein Werk des einzelnen, indem er der Messe beiwohnt.

Anderer-

Viertes Gebot.

107

Pflichten der Kinder gegen die Eltern.

s eits kommt es nur darauf an, daß das der Vorschrift gemäß voll­

zogen

werde; ,ift

das der Fall, so wirkt es,

„Entsündigung des Volkes".

was es wirken soll,

Daraus folgt alles andere.

Das vierte Gebot. Zuerst ist darauf

aufmerksam zu machen, daß

sollst Vater und Mutter ehren.

es heißt: Du

Warum nicht kurzweg: deine Eltern?

Um einzuschärfcn, was leider manche Kinder außer Augen lassen,

daß beiden Eltern dieselbe Ehre, dieselbe Liebe gebührt.

Mancher

Sohn gehorcht wohl dem Vater, gegen die Mutter aber ist er wider-

spänstig; ein anderer schließt sich wieder an diese an, entzieht sich dagegen jenem! Wo man nicht beiden Eltern unterthänig ist,

ist

es auch dem andern Theile nicht auf die rechte Weise. —

man

Sodann: Von allen andern Menschen heißt es: du sollst deinen Näch­ sten lieben, wie dich selbst, hier aber wird geboten: du sollst Vater

und Mutter ehren.

Offenbar, um anzudeuten, daß unsere Eltern

als solche über allen Menschen, vor allem über uns stehen, mehr

sind, als wir; daß ihnen eine höhere, besonders geheiligte und sonst

keinem

zustehende Würde zukommt.

Fragen wir, welches dieselbe

sei, und worin sie bestehe, so ist zu antworten: darin, daß uns Gott die Eltern nicht bloß zu Urhebern unseres Daseins gemacht, sondern überhaupt zu Abbildern seines göttlichen Wesens und Waltens gesetzt

hat.

Sie sind seine Stellvertreter und Offenbarung an uns.

Durch

sie und an ihnen, mit deren Namen er sich nennt, thut er uns seine Liebe kund: in ihnen lernen wir in der natürlichsten und ungezwun­

gensten Weise ihn lieben und „Abba, lieber Vater" sagen.

Darum

bezeichnete schon der Römer die Frömmigkeit gegen die Eltern mit

demselben Worte, mit welchem er die Frömmigkeit überhaupt be­ nannte.

Er nannte beides pietas (Pietät).

Und es ist so: Glaube,

Liebe, Hoffnung zu Gott, Gottesfurcht im edelsten Sinne, entwickeln sich in uns in dem Verhältniß zu unsern Eltern; in wem sie sich

nicht so entwickeln, wer „das Reich Gottes nicht empfängt als ein

Kindlein", — der wird schwerlich zu Gott kommen.

ein ruchloses Kind

nie

ein frommer Mensch

sein.

Jedenfalls kann Liebe

ist es,

1. Hauptstück.

108

Viertes Gebot.

welche im Menschen das tiefste Leben aufregt,

und

jeder

Grad der Liebe bahnt den Weg zu einem höheren.

niedere

So soll

die

Liebe zu den Menschen, wenn sie entwickelt ist, den Weg zur Liebe

Gottes bahnen.

Die erste Liebe aber, auf die sich der Mensch, wenn

er in die Welt tritt, hingewiesen fühlt, ist die kindliche Liebe.

zarter diese entwickelt wird,

desto reiner und

Je

göttlicher wird jede

andere Liebe werden, deren uns das Leben fähig macht.

Es giebt kaum eine Stelle, in welcher uns diese Würde der Eltern und unsre Stellung zu ihnen herrlicher und nachdrücklicher vor Angen

gestellt wird, als Jesus Sirach 3, 1—18; dort heißt es u. a.: „Der

Herr will den Vater von den Kindern geehret haben, und, was eine

Mutter die Kinder heißt, will er gehalten haben.

Wer seinen Vater

ehrt, des Sünde wird Gott nicht strafen; und, wer seine Mutter

ehret, der sammelt einen guten Schatz.

Wer seinen Vater ehrt, der

wird auch Freude an seinen Kindern haben, und, wenn er betet, wird er erhört.

Wer seinen Vater ehret, der wird desto länger leben;

und, wer um des Herrn willen gehorsam ist, an dem hat die Mutter einen Trost.

und

Wer den Herrn fürchtet, der ehret auch

den Vater

dienet feinen Eltern und hält sie für seine Herren".

Also:

Gott will, daß wir Vater und Mutter ehren, und sein Segen wird über die kommen, welche solches thun.

Darum, wer ihn fürchtet,

der ehrt seine Eltern und hält sie nicht als seines Gleichen, sondern als seine Herren und dienet ihnen! Welche Mahnung nicht allein für mißrathene, ruchlose Kinder, sondern für die Kinder, wie sie meist sind! Oder ist es nicht leider das Gäng' und Gäbe, daß selbst

„gute" Kinder

sich

die Dienste, Gaben, Opfer ihrer Eltern,

durchwachten Nächte der Mutter, den Angstschweiß, mit

dem

die

der

Vater das tägliche Brod herbeischafft und für Nahrung und Kleidung

sorgt, zwar gern gefallen lassen, auch dafür Dank sagen, es aber

im Grunde doch als etwas ansehen, was sich von selbst versteht, und wozu die Eltern da sind; dagegen, wenn sie für jene, ich sage gar

nicht: Opfer zu bringen, sondern nur auf ein Vorgenommenes zu verzichten, einer Bequemlichkeit zu entsagen, einen etwas ungewöhn­

lichen Dienst zu leisten haben, es als ein Lästiges empfinden und in einer Weise thun, daß es den Eltern kaum entgehen kann, wie

sauer es ihnen wird.

Heißt das nicht das Verhältniß umkehren und

Pflichten der Kinder gegen die Eltern.

109

die, welche unsere Herren sein sollen, welche ihr Herzblut für uns

geben, — zu unsern Bedienten machen? Nicht also: sondern, wer den Herrn fürchtet, der dient seinen Eltern und „ehret sie mit der That, mit Worten und mit Geduld"; auf daß nicht ihr Seufzen,

sondern ihr Segen über ihn komme (V. 9 u. 10).

Das ist aber

der rechte Segen, daß die Eltern ihrer Kinder froh sind und, so oft sie ihrer gedenken, Gott über ihnen danken und das Gebet für sie mit Freuden thun (Pilipp. 1, 3 f.).

Rechte Kinder ehren ihre Eltern vor allem durch Gehorsam. Sie warten nicht, bis ihnen etwas geboten wird; sie lauschen den

Eltern ihre Wünsche ab und suchen ihnen zuvorzukommen.

füllen sie in Heiterkeit.

Sie er­

Je mehr die Eltern alles, was die Kinder

angcht, auf dem Herzen tragen, um so mehr ist es diesen Gewissens­ sache, den Eltern überhaupt ein stöhliches Angesicht zu zeigen, fin­

steres, mürrisches und unwirsches Wesen dagegen zu verbannen.

Ist

das doch das einzige, was sie von sich aus den Eltern thun, und womit sie einigermaßen die unendliche Liebe und Treue, deren Gegen­

stand sie sind, vergüten können, daß sie durch

ihren jugendlichen

Frohsinn Heiterkeit in das ernste, sorgenvolle, oft so trübe Leben ihrer

Eltern tragen. — Rechte Kinder ehren ihre Eltern mit Worten, so­ wohl, wenn sie zu ihnen, als auch, wenn sic von ihnen reden.

Er­

steres versteht sich von selbst und wird nur von ruchlosen Kindern

übertreten; an letzteres sind selbst brave, aber unbedachte Kinder zu erinnern.

Sie vergessen, wenn sie von den Eltern sprechen, den Re­

spekt, den sie den

abwesenden schuldig sind und in der That auch

gegen sie empfinden, und ergehen sich namentlich in einem gewissen Alter im Kreise ihrer Altersgenossen in burschikosen Ausdrücken.

es immerhin nicht böse gemeint sein, so lautet es

Mag

doch übel, und

der sittlich durchgebildete, ja der seinem natürlichen Gefühl folgende

Jüngling hält sich von dieser Roheit fern. — Auch die trefflichsten Eltern haben, wie eben Menschen, ihre Schwächen und greifen hie

und da fehl, auch gegen die Kinder.

Es kann nicht unsre Aufgabe sein,

uns darüber zu täuschen: wahre Liebe ist gegen die Fehler und Un­ vollkommenheiten geehrter und geliebter Personen niemals blind, sie

sicht dieselben sogar heller und empfindet sie tiefer und schmerzlicher, als es der Gleichgültigkeit möglich ist.

Aber sie trägt dieselben in

1. Hmiptstück. Viertes Gebot.

110 Geduld.

Kinder,

denen von den

Eltern Unbill widerfahren ist,

schweigen: sie reden gegen niemanden davon, es sei denn gegen Gott, daß er den Eltern Erkenntniß gebe.

Am wenigsten machen sie die

Schwächen ihrer Eltern zum Gegenstände des unterhaltenden Ge­ sprächs, noch „spotten sie ihres Vaters Gebrechen" (Sirach 3, 12), wie Ham einst seinem Vater that; denn sie fürchten Gott.

„Denn den

Vater ehren ist deine eigene Ehre, und deine Mutter verachten ist deine eigene Schande" (v. 13).

Die Pflicht, die Eltern zu ehren, hört nimmer auf, wenn sie mit der Zeit auch andere Gestalt annimmt.

Das Kind, der un­

mündige, unter der Hand des Vaters befindliche Sohn hat einfach dem Gebote des Vaters zu gehorchen.

Der mündig gewordene, der

selbst bereits einem Hause vorsteht und ein Amt bekleidet, für welches

er verantwortlich ist, muß sich selbständig entscheiden: doch wird auch

ein solcher des Vaters Rath mit Ehrerbietung hören und ihm unter

allen Umständen die Ehrfurcht beweisen, welche dem höheren Alter, der gernsteren Erfahrung, vor allem dem Vater gebührt.

Davon

entbindet ihn nichts, auch nicht die höhere Stellung, welche er im

Leben gewinnt, oder, daß er wirklich „geschickter" ist, als Vater und

Mutter.

Denn Elternwürde geht über jede andere Würde,

und

Elternliebe ist ein Titel, gegen welchen auch die größte Bildung zu­

rücksteht: abgesehen davon, daß es schließlich

doch

seine tüchtigen

Eltern sind, denen er sein Emporkommen in der Welt verdankt. Undankbar und gottvergessen die Kinder, welche das außer Augen lassen, und sich, emporgekommen, ihrer geringen, ihrer „ungebildeten" Eltern schämen! Und nicht bloß das, sondern

auch

die Blinden!

Denn was ist das für ein Ruhm, wenn einem Rang und Stellung schon in die Wiege gelegt worden sind? Wer dagegen aus geringem Stande zu hohen Dingen gelangt, der zeigt, daß er ein Tüchtiger ist, daß er von Tüchtigen stammt.

Daher findet auch das bereits

erwähnte Wort, daß, wer den Vater ehrt, der ehrt sich, und, wer seine Mutter verachtet, der schändet sich, nirgends so sehr, als gerade

unter solchen Verhältnissen, seine Anwendung.

Aber wo ist Hoffart

und Eitelkeit schließlich nicht auch immer dumm gewesen?

Die schwerste,

aber unerläßliche Probe erleidet

die kindliche

Pflicht, wenn Fälle eintreten, aus welche v. 14 u. 15 deutet: „Liebes

Pflichten der Kinder gegen die Eltern.

111

Kind, pflege deines Vaters im Alter und betrübe ihn ja nicht, so lange er lebt, und halte ihm zu gut, ob er auch kindisch würde."

Es ist ein hartes und schweres Ding, wenn ein tüchtiges Leben in

Mangel und Dürftigkeit ansgeht,

nnd,

der einst viele mit starken

Schultern getragen, schließlich seine Hand nach Almosen ausstrecken muß.

Am herbsten ist es, wenn mit den Körperkräften auch des

Geistes Kräfte schwinden, und sich jener der Kindheit ähnliche Zu­ stand einfindet,

welcher das höhere Greisenalter öfter zu einer so

traurigen Erscheinung macht.

Wenn dann nur den gebrechlichen, hilf­

losen Alten dankbare Kinder leben, welche es als theuerste, gern er­ füllte Aufgabe erkennen, jetzt den Eltern alle die Liebe und Treue

zurückzugeben, die sie einst von jenen erfahren! Gottesfürchtige Kinder welche noch den kindischen Greis und die geistesschwache Mutter mit

der Ehrfurcht umstehen, welche ihnen die Eltern in den Tagen ihrer

Kraft eingeflößt haben! Gewiß, es geschieht! Was sollte man sonst

von der Menschheit denken? Aber es geschieht nicht immer, nicht in dem Maße, wie es nöthig ist, noch mit der vollen Freudigkeit. trauriges, aber wahres Sprüchwort sagt:

Ein

ein Vater ernährt wohl

sieben Kinder, aber sieben Kinder sind nicht im Stande, einen Vater

zu ernähren.

Und es trifft noch immer ein.

Vergebens wenden die

Betreffenden zur Entschuldigung ein, oder wird für sie geltend ge­ macht, daß die Kinder es nicht vermöchten, hauptsächlich, weil die

meisten indeß selbst Väter und Mütter geworden wären und selbst für ihre Kinder zu sorgen hätten! Aber darf man Weib und Kind

haben, so lange man einen unserer Hülse und Pflege bedürftigen Vater, eine ohne uns verlassene Mutter hat? Aber gehen die Kinder

in alle Welt und thun, was ihnen beliebt, und für die Eltern mag

Gott oder das Spital sorgen? Andere Entschuldigungen übergehe ich

vollends: sie kommen schließlich darauf hinaus, daß ein Vater, eine

Mutter ihre Kinder, wenn es möglich wäre, wohl mit ihrem Herz­ blut nähren, diese dagegen zum Besten der Eltern oft nicht einmal auf ein neues Band oder eine Zigarre verzichten mögen! Steht es

so mit der leiblichen Pflege: wie verhält es sich vollends mit der

Ehrfürchtigkeit, von der wir sahen, daß wir sie unsern schwach ge­

wordenen Eltern schuldig sind!

Wenn dagegen nicht oft, recht oft

gefehlt würde — gefehlt nicht bloß vom niedern Volk, sondern auch

1. Hcmptstück. Viertes Gebot.

112

von höher stehenden, „gebildeten" Leuten: so würde der alte Weise nicht so allgemein, so wehmüthig bitten: liebes Kind, betrübe nicht

deinen Vater im Alter und halte ihm zu gut, ob er auch kindisch würde.

Wer Ohren hat zu hören, der höre: auf daß nicht, wo die

Besserung und Liebe fehlt, danach der Schrecken und die Vergeltung

komme.

Ein

junges

Ehepaar hatte einen

und einen ganz jungen Sohn.

altersschwachen

Vater

Der Alte, des Mannes Vater, mit

seinen von Schwäche zitternden Händen verschüttete bei Tisch öfter

von der Speise und zerbrach auch hie und da ein Geschirr: so daß die Schwieger nicht müde ward, über die Unsauberkeit und

den

Schaden zu schelten, bis sie es durchsetzte, daß der Vater vom Tische weg auf die Bank hinter dem Ofen übersiedelt ward und dort seine

Speise aus einem hölzernen Napfe nahm.

Während

und hämmerte Hänschen im Zimmer umher.

zärtliche Mutter, was zimmerst du den»

des polterte

Hänschen, fragte die

da? Einen Trog, liebe

Mutter: da sollst du und Vater daraus essen, wenn ihr so alt, wie

Großvater, geworden seid! — „Wer seinen Vater ehrt, der wird auch Freude an seinen Kindern haben" (v. 6).

Aber, „wer seinen Vater

verläßt, der wird geschändet; und, wer seine Mutter betrübt, der ist verflucht von dem Herrn" (v. 18 u. 11).

So weit diese Stelle. Mit ihr stimmt weiter die gesammte Schrift, sowohl Alten als auch Neuen Testaments überein.

Wir heben nur

hervor, zuerst aus demselben Buche Jesus Sirach 7,29. 30: „Ehre deinen Vater von ganzem Herzen, und vergiß nicht, wie sauer du

deiner Mutter geworden bist; und denke, daß du von ihnen geboren bist; und was kannst du ihnen dafür thun, das sie an dir gethan

haben?"

Sodann 3 Mos. 19, 3: „Ein jeglicher fürchte seine Mutter

und seinen Vater"; sammt den strengen Geboten: wer seinem Vater und seiner Mutter fluche, vollends, wer sie schlage, der solle ndes Todes sterben (3 Mos. 20,9; 2 Mos. 21,15 u. 17).

30,17:

„Ein Auge,

das

Dasselbe besagt Sprüche

den Vater verspottet und verachtet, der

Mutter zu gehorchen, das müssen die Raben am Bach aushacken, und die jungen Adler fressen", d. i. ein solcher Mensch müsse

den

Tod des Verbrechers sterben und selbst des Begräbnisses verlustig gehen. — Auch die Stellen des Neuen Testaments: Eph. 6, 1—3 u.

Kol. 3, 20 gehen durchaus auf das Alte Testament zurück,

wie die

Pflichten der Eltern gegen die Kinder.

113

Hinweisung auf die den alten Geboten angehängte Verheißung be­ weist.

Wenn in ihnen die Ermahnung, den Eltern zu gehorchen,

das eine Mal ganz dem Alten Testament entsprechend begründet

wird: „denn das sei dem Herrn gefällig", das andere Mal dagegen: „denn das sei billig", so ist bei letzterem an das bereits Erörterte

zu erinnern, daß naturgemäß für die Kinder eine Zeit kommt, in

welcher sie, im eigenen Hausstande oder öffentlichen Amte stehend, ja

selbst bereits Vater und Mutter geworden, aus dem Verhältniß des strikten Gehorsams in das Freundes-Verhältniß zu den Eltern über­

gehen, in welchem wohl noch von Liebe, Dankbarkeit und Verehrung, aber nicht mehr von Unterwürfigkeit die Rede ist und sein kann. Dieser

Uebergang ist aber kein plötzlicher, sondern verläuft, wie alle Ueber-

gänge, allmählich: so daß, bis er entschieden ist, sehr wohl eine Meinungsverschiedenheit zwischen Eltern und Kindern eintreten kann, ob und in wie weit selbständige Entscheidung für die letzteren bereits

am Orte und Pflicht sei.

Da soll die Billigkeit die Kinder zu dem

treiben, was ihrer Meinung nach eigentlich nicht mehr gefordert werden sollte'). Angeschlossen an diese Ermahnung an die Kinder, findet sich

in den neutestamentlichen Stellen eine Ansprache an die Eltern, in welcher letztere hingewiesen werden auf das, was sie ihrerseits den Kindern schuldig sind, sowohl, was sie den Kindern gegenüber zu meiden, als auch, was sie zu thun haben.

Als das zu Meidende

wird angegeben, daß die Eltern sich hüten sollen, ihre Kinder zum Zorn zu reizen (Eph. 6, 4) oder sie zu erbittern, auf daß sie nicht scheu werden (Kol. 3, 21).

Beides ist offenbar dasselbe: die War­

nung, dafür zu sorgen, daß sich nichts Widriges in den Gemüthern der Kinder sestsetze, wodurch die Liebe zu den Eltern und das Ver­ trauen zu ihnen, worauf alle gedeihliche Einwirkung jener auf sie beruht, gestört werde. Fragen wir, wie bei dem Durste der Kinder, zu lieben und geliebt zu werden, ihrem Drange, sich anzuschließe»,

und ihrer Geneigtheit zum Vertrauen eine derartige Widrigkeit ent­

stehen könne, so tritt uns als erste Ursache die Kälte der Erwach9 Siehe hierüber und über das Folgende die ganz ausgezeichneten Predigten

von Schleiennacher über den christlichen Hausstand, ein in unserer Literatur ganz

einzig dastehendes Werk, das in keinen! Hanse fehlen sollte. — (ältester, Materialien.

2. Auflage.

114

1. Hauptstück.

Viertes Gebot.

senen und ihre Gleichgültigkeit gegen die Angelegenheiten der Kinder

entgegen, daß sie selbst in dem Kreise der Ihrigen, nur mit ihren

eigenen Gedanken und Interessen beschäftigt, so gar keinen Sinn für das haben, was die Kinder bewegt und ihnen wichtig däucht;

ja, daß sie, wenn letztere, ihrem kindlichen Drange folgend, an die Erwachsenen treten und ihr volles Herz anszuschütten begehren, diese

Aussprache abschneiden: die Kinder sollten sie mit ihrem dummen Zeug in Ruhe lassen.

Das wirkt, wie Winterfrost, auf die junge

Saat und schließt die Seelen zu, daß sie sich auch dann nicht öffnen,

wenn wir einen Blick in sie zu thun begehren. — Weiter die Launen­ haftigkeit, welche in den geheiligten Kreis des Hauses, in welchem

wir uns in freundlichem Verkehr einer den andern erheitern sollen,

die Widerwärtigkeit und allen Verdruß des Lebens hineinträgt und aus die Unsrigen ablagert, daß sie mit Furcht auf uns schauen, wie

wir heute gestimmt sind, ob sich dieser Finsterniß und dem drohenden

Ungewitter gegenüber ihre Rede hinauswagen dürfe. — Endlich die allzu große Strenge und Härte in der Behandlung, vor allem in

der Bestrafung der Kinder.

Ehedem war dieselbe noch größer, als

jetzt, geradezu an Barbarei gränzend.

Wie z. B. Luther von sich

erzählt, daß er von seinem Vater um geringfügiger Ursachen willen wiederholt so hart gezüchtigt worden sei, daß er nahe daran gewesen, das Vertrauen zu verlieren, und Mühe gehabt habe, sich wieder zu­ recht zu finden. Das ist jetzt wohl anders geworden: doch wird

noch immer viel und um so leichter darin gefehlt, als viele Eltern

meinen, daß eine derartige Strenge nicht nur unentbehrlich, sondern eine pflichtmäßige und von der Schrift geforderte sei, und daß auch

der Apostel Paulus sie empfehle.

„Laß nicht ab, den Knaben zu

züchtigen; denn, wenn du ihn mit der Ruthe hauest, so darf man

ihn nicht tobten.

Du hauest ihn mit der Ruthe, aber du errettest

seine Seele von der Hölle" (Sprüche Salomonis 23, 13. 14).

„Wer

sein Kind lieb hat, der hält es stets unter der Ruthe, daß er her­ nach Freude an ihm erlebe" (Jesus Sir. 30, 1). „Ruthe und Strafe giebt Weisheit" (Sprüche Sal. 29, 15). „Wer seiner Ruthe schont, der hasset seinen Sohn; wer ihn aber liebt, der züchtigt ihn bald" (Sprüche Sal. 13, 24).

„Ein verwöhntes Kind wird muthwillig. —

Zärtele mit deinem Kinde, so mußt du dich hernach vor ihm fürchten"

Pflichten der Eltern gegen die Kinder.

115

Das hat wohl auch seine Art und insbesondere

(Jes. Sir. 30, 8. 9).

seine Stelle gegenüber der zuletzt erwähnten Verzärtelung und Dul­ dung, ja Beschönigung aller Untugend der Kinder seitens schwacher

Eltern *).

Aber wenn einer meinte,

daß das auch der Rath des

Apostels und der Sinn der Anweisung sei, in welcher derselbe, was

Eltern ihren Kindern zu thun haben, zusammenfaßt: „Ziehet

sie auf in

der Zucht und Vermahnung zum Herrn": der übersieht

— ein Irrthum,

der freilich häufig genug ist — den Unterschied,

der zwischen Zucht und Züchtigung oder Strafe und Ruthe statt­

findet.

Beide sind so verschieden, daß sie sogar entgegengesetzt sind,

und man dreist sagen kann, je mehr Zucht an den Kindern geübt

worden ist, um so weniger wird Strafe Platz haben; und umgekehrt, je mehr nach Strafe vollends Ruthe nöthig sei, da müsse es in dem­

selben Maße an der rechten Zucht fehlen oder gefehlt haben.

Die

Strafe folgt auf den Ungehorsam, die Zucht aber setzt den Gehorsam

voraus ; die Strafe giebt den Kindern nur zu leiden, die Zucht aber zu thun; die Strafe verknüpft bald mehr bald minder willkürlich

mit dem Unrechten und Tadelnswerthen etwas Unangenehmes, Bit­ teres, die Zucht aber legt eine löbliche Anstrengung der Kräfte zum Leisten

oder

zum Entbehren

innere Freude verknüpft ist.

auf,

mit welcher von

selbst eine

Die Strafe kann das Böse nur zurück­

drängen, die Zucht dagegen weckt die in dem Menschen vorhandenen Kräfte und leitet sie an, sich auf das Gebot der Pflicht, und nur

auf dieses zu regen;

sie lehrt die Kinder im Gehorsam gegen die

höhere Stimme, welche aus Eltern und Erziehern spricht, ihre eigene

Lust zähmen

und

dem elterlichen Willen sich fügen, Maß halten

und sich selbst beherrschen.

Die Strafe bessert auch nicht, sie ver­

mag höchstens den Ausbruch des Bösen zu verhindern — das ist ihre Aufgabe und, wo es einmal bis zu diesem Punkte gekommen ist, ihre traurige Berechtigung — das Böse selbst aber überwindet

sie nicht; sie nährt es vielmehr in seiner Wurzel, indem sie durch

Einwirkung auf sinnliche Lust die Lust überhaupt und die Selbstsucht mehrt, dafür den Willen bricht, zur Feigheit und Heuchelei erzieht.

Wo Strafe gebessert, Ruthe gezogen zu haben scheint, da sind es

') Eli und seine Söhne (1 ©ant. 2, 12—34).

116

1. Hauptstück.

Viertes Gebot.

trotzdem nimmer diese gewesen, welche das Gute gewirkt haben, son­ dern die Liebe,

die hinter der Strafe war, das in Liebe brechende

Herz der Erzieher, welches unter der Strafe mehr litt, als die Ge­

straften selbst, und

darum

auch

diese den geistigen Schmerz,

die

Eltern betrübt zu haben, viel tiefer empfinden ließ, als das leibliche

Uebel, das jedes tapfere Gemüth schon als Kind verachtet. — Wollte Gott, daß alle Eltern dieses Unterschiedes stets inne wären, es würde die Kinderzucht besser gedeihen, und mehr Friede in den Häusern sein!

Wie die Zucht im Gegensatze zur Strafe steht, so ist auch das

zweite, was der Apostel den Eltern einschärft, „die Ermahnung zum

Herrn", etwas wesentlicheres, als man in der Regel darunter ver­ steht: Belehrung über den Herrn, überhaupt über die Gegenstände

des christlichen Glaubens. — Allerdings hat auch diese Mittheilung gewisser Kenntnisse, Erweckung verständiger Erkenntniß in beschränktem

Maße innerhalb bestimmter Gränzen ihren Ort; die Ermahnung

aber ist etwas ganz

uneingeschränktes,

immer

Platz greifendes:

Einwirkung auf das Gemüth, um den Willen in Bewegung zu sehen sowohl für das Leiden, als auch für das Handeln. Da will der Apostel, daß wir in allen Stücken so auf die Kinder einwirken, daß 'sie überall mit ihrem Willen auf Gott und auf den, in dem allein wir Gott voll und rein erkennen, auf „den Herrn", auf Jesum Christum

gerichtet seien.

Also, wenn es gilt, sie zu einem Thun zu ermuntern,

daß wir da ihre Seele nicht bewegen durch Vorhaltung des Vor­ theils oder Nachtheils, den sie davon haben würden — denn das würde eine Ermahnung zur Selbstsucht sein; auch nicht durch Hin­

weisung auf Lob und Tadel der Menschen — das hieße sie zur

Eitelkeit, Hoffart und Menschenknechtschaft ermahnen, noch durch sonst etwas andres, als einzig und allein dadurch, daß wir ihnen den Willen, die Liebe, das Wohlgefallen Gottes vorhalten.

Desgleichen im Leiden

sollen wir alle Trübsale — sowohl, was ihren Ursprung, als auch, was

die Weise betrifft, wie wir dieselben handhaben müssen — abermals

auf Gott zurückführen,

daß er es ist, der die Trübsal sendet, daß

sie darum auch gut sei und, wenn sie dieselbe nur recht benutzen, zum Besten diene, und daß sie deshalb nur hierfür, für die rechte Aus­ nutzung sorgen, alles andre aber Gott anheimgeben möchten: so daß

auch hier ihre Herzen und Gedanken weniger an dem Traurigen und

Pflichten der Eltern.

Stellung der Herrschaften und Obrigkeiten.

]]?

Unangenehmen haften, was sie leiden, als auf das gerichtet werden,

was Gott will, daß sie Löbliches thun. — Und alles-dieses so, daß wir, in allem mit unsrem eignen Beispiel vorangehend, dnrch dasselbe kräftiger ermahnen,

könnte.

als

es durch

die beweglichste Rede gefchehen

Das Reich Gottes steht auch in der Erziehung der Kinder

viel weniger in Worten und in Geberden, als in Kraft: je mehr That, um so weniger Wort, vor allem um so weniger Künste werden

nöthig sein. Je mehr es in diesem Werke aus unsre Persönlichkeit ankommt,

und ohne die rechte Persönlichkeit gar nichts gewirkt werden wird,

um so mehr haben wir uns zu hüten, daß wir nicht zu uns er­ mahnen, sondern, wie die Weisung lautet — unsre Ermahnung Er­ mahnung zum Herrn sei. Gerade die Eifrigsten versehen es in dieser Beziehung am häufigsten, indem sie ihre Meinung, vollends ihre

theologische Auffassungsweise den Kindern aufdrängen und dieselben zu einem reinen Abklatsch ihrer — immerhin ehrenwerthen, doch immer

beschränkten Persönlichkeit zu machen suchen; indem sie dieselben auch sonst nur zu ihrem Wohlgefallen und zu ihrer Ehre erziehen, nur das

in ihnen entwickeln, beziehungsweise auf sie aufpfropfen, was ihren Ab­

sichten, Hoffnungen, Wünschen entspricht, den berechtigtsten Neigungen der Kinder Gewalt anthun und sie in Lebenslagen drängen, die wohl ihnen selbst genehm sind, zu welchen jene jedoch nicht angelegt sind,

und in welchen sie darum weder das, was sie wirken sollen, wirkest noch sich glücklich fühlen werden. Da gilt nicht: zu uns, nicht für uns, sondern: zum „Herrn", oder, wie der bezeichnende Aus­

spruch lautet, welcher uns bei der Taufe vorgehalten wird: „Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht!" Christus muß das Mark und das Ziel der Kinderzucht sein, nicht wir; sonst

erziehen wir zum Schaden. Luther in seiner Erklärung dehnt

das vierte Gebot von den

Eltern auch auf die „Herren" aus, desgleichen wird dasselbe in andern

Katechismen überhaupt auf alle Herrschaften und Obrigkeiten bezogen.

Es ist nichts dagegen zu erinnern, sofern die Dienenden zu

den Hausgenossen gehören, andrerseits die obrigkeitliche Gewalt sich ursprünglich aus dem patriarchalischen Verhältniß entwickelt hat. Nur, daß man zu unterscheiden wisse und die Regeln für das Ver-

118

1. Hmiptstück.

Viertes Gebot.

hältniß von Obrigkeit und Unterthan nicht aus der hausväterlichen

Gewalt hernehme,

die für dasselbe nicht mehr paßt.

Mögen wir

immer unsre Fürsten, wenn wir sie ehren wollen, Väter des Vater­ landes nennen: so unterscheiden wir doch sehr bestimmt zwischen Landeskindern und Kindern des Königs. Das bürgerliche Verhältniß

ist längst über das patriarchalische hinausgewachsen und zu einem

durch Recht und Gesetz geordneten geworden.

Im Staat greift nicht

mehr der kindliche Gehorsam, sondern Ueberzeugung des Mannes

und Gehorsam gegen das Gesetz Platz. Die Liebe und Treue gegen den Fürsten braucht darum nicht zu schwinden, nur ist sie eine andre

und äußert sich anders und hat andre Rechte und Pflichten, als die Liebe des Kindes zu seinen Eltern. Dies voraus, betrachten wir zunächst das Verhältniß von Herr­

schaften und Dienstboten.

Hört man die allgemeine Stimme, so

ist heute kein anderes Verhältniß so sehr verderbt, als dieses.

Herrschaften klagen,

Die

daß es keine anhänglichen, treuen, bescheidenen

Dienstboten mehr giebt, sondern alle wollten hoch hinaus, suchten das Ihre, nämlich den Lohn, wären mißmuthig und unfreundlich.

Die Dienstboten dagegen beschweren sich über lieblose Behandlung, hoffärtiges Wesen, Härte, daß man mit ihnen nicht, wie mit Menschen,

die auch ein Herz haben, sondern, wie mit untergeordneten Wesen, die lediglich zur Arbeit benutzt und, wenn ausgenutzt, verstoßen würden, umginge.

Beide haben Recht, beide müssen, wenn es besser

werden soll, sich bessern.

Was sie da zu thun haben, zeigt beiden

das Wort, welches wir in der christlichen Haustafel Eph. 6, 5—9, Kol. 3, 22—4, 1 finden.

Die Herrschaften sollen

ihre Dienstboten als solche ansehen,

welche der Herr ihnen zugeführt hat,

nicht bloß, daß jene ihnen,

sondern auch, daß sie den Dienstboten dienen und die Pflichten er­

füllen, welche ihnen gegen sie obliegen, über deren Erfüllung sie Gott

werden Rechenschaft geben müssen.

Das ist der Inhalt der kurzen,

aber unendlich bedeutungsvollen Ermahnung: „Ihr Herren thut auch

dasselbige gegen sie und lasset das Drohen und wisset, daß auch

euer Herr im Himmel ist, und ist bei ihm kein Ansehen der Person" (Eph.); und ihr Herrn, was recht und gleich ist, das beweiset den Knechten und wisset,

daß ihr auch einen Herrn im Himmel habt

Herrschende und Dienende.

(Kol.).

Dadurch ist

die Kluft überbrückt,

119

die namentlich ehemals

Gebietende und Gehorchende, Herrn und Knechte von einander trennte,

zumal Eph. 6, 7—8 auch die Knechte daran erinnert: „Lasset euch dünken, daß ihr dem Herrn dient und nicht den Manschen, und wisset, daß, was ein jeglicher Gutes gethan hat, das wird er von dem Herrn

empfangen, er sei ein Knecht oder ein Freier"; zugleich wird dadurch eine Gleichartigkeit des Dienens und der Verantwortung hergestellt,

welche das ganze Verhältniß umwandelt. Fortan: dienen beide, jeder in dem andern Christo: beide thun, was sie dem andern schuldig sind, weil sie trotz ihrer äußerlich verschiedenen Lage sich beide als Diener

Christi gleichzeitig

frei und gebunden fühlen.

Damit ist zunächst

auf feiten der Herrschaft alles Pochen auf Gewalt— „das Drohen", alle Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit („dafür wird der Dienstbote bezahlt") abgeschnitten.

mehr, als Geld,

Herz — schuldig ist. ihr leibliches,

Der Herr weiß, daß er dem Dienstboten

daß er ihm Schutz, Theilnahme, Fürsorge — ein

Er gebietet nicht bloß,

wie ihr geistiges Wohlergehen.

er sorgt für sie, für

Das kann in einem

christlichen Hauswesen nicht vorkommen, daß die Dienenden darben,

hungern, frieren, daß sie durch mangelhafte Kost und feuchte Woh­ nung ihre Gesundheit einbüßen, während die Rosse des Herrn in Prachträumen weilen, und das Schoßhündchen auf Teppichen schläft. — Die Herrschaft erzieht ihre Dienstboten und hat Geduld mit ihnen. Sie weiß, daß das abhängige Verhältniß der Dienenden nur ein

vorübergehendes ist, bestimmt, nur so lange zu dauern, bis dieselben in der Lage seien, selbst einen Hausstand zu gründen.

Die Ge­

bietenden sind beflissen, daß ihren Dienenden der Aufenthalt in ihrem Hause dazu eine Vorbereitung werde; sie leiten sie zur Häuslichkeit,

Ordnung,

Sauberkeit, Sparsamkeit an.

Sie ziehen die, auf deren

Dienst im Hause gezählt, und die des Hauses Genossen sind, in den Genuß des Hauses, seines geordneten Ganges, seiner Freuden, seiner Feste:

sie sehen nicht scheel, im Gegentheil, sie freuen sich,

wenn langgediente Hausgenossen des Hauses Ehre als ihre Ehre,

des Hauses Glanz als ihren Glanz und dann auch

des Hauses

Schicksal als ihr Schicksal betrachten und, wie von unsrem Herrn und unsrer Frau, so auch von unsren Kindern, unsren Besuchen sprechen. Sie ziehen, ohne einer falschen Vertraulichkeit Raum zu

1. Hniiptstück. Vikrtes Gebot.

120

gestatten, ihre Dienenden zn sich empor,

sie haben ein freundliches

Wort für sie und verstatten ihnen in Dingen, welche die Dienenden

verstehen, ein Wort.

So adeln sie den Dienst in ihrem Haufe und

schaffen die Grundlage, auf welcher die Dienstleistungen jener für diese, wie auch

für sie selbst, annehmbar und zu ertragen sind.

Welch Widerwärtiges, Verachtete in unserer Nähe zu haben, und ihre körperliche Berührung zu dulden, und welch Widerspruch, uns, unsre

Ehre,

unsre Kinder Personen

anzuvertrauen, die wir für Nichtse

halten! Sie suchen endlich auch die Zukunft ihrer Dienenden zu sichern und verstoßen alte oder kranke Dienstboten nicht. Freilich ist

es oft schwer, in dieser Hinsicht so zu sorgen, wie man es möchte, und wie es ehedem häufiger geschah, daß man nämlich treu gediente Dienende auch, nachdem sie dienstunfähig geworden waren, im Hause behielt und bis an ihr Ende verpflegte.

Der Druck des Lebens und

seine Anforderungen sind jetzt gar hart, so daß selbst mancher Höher-

gesteüte in der Gesellschaft, was früher unerhört war, im eigentlichen

Sinne Sorge um das tägliche Brod hat.

Trotzdem ist es ein schönes

Ding um die Treue, nicht bloß der Dienenden, sondern auch um die Herrentreue, und es wird solcher Treue noch immer gelingen, an

was, leider Gottes, die Mehrzahl unsrer Herrschaften jetzt kaum denkt, nämlich auch den aus dem Hause scheidenden Hausgenossen ein An­ halt, Berather, Tröster zu sein; ihnen mit einem Wort freundliche

Theilnahme zu bewahren und zu zeigen. — So bildet sich allmählich eine bessere Sitte,

welche ihre Einwirkung auf die einzelnen nicht

verfehlen und dahin führen wird, dieses ganze, liegende Verhältniß zu bessern.

so sehr im Argen

Aber auch die Dienenden werden durch die von dem Apostel ihnen gepredigte religiöse Auffassung ihres Geschickes, d. i durch die

Beziehung desselben auf den Herrn, andre werden. Zuerst: sie hören auf, das ihnen beschiedene Loos als ein willkürliches, durch irgend welches Unrecht der Menschen und menschlicher Verhältnisse herbei­ geführtes anzusehen, eine Auffassung, die sich so leicht in den Dienen­ den festsetzt und vor allem geeignet ist, ihre Seele mit Mißmuth zu

erfüllen.

Fortan wissen sie, daß Gott sie in dieses Verhältniß ge­

setzt, damit sie ihm in demselben die Dienste leisten, welche sie ihm vorläufig in keiner andern Weise leisten können. — Sie denken auch

Herrschende und Dienende.

von

demselben

121

nicht mehr gering und schämen sich desselben nicht:

sie beginnen die Bedeutung zu ahnen, welche ihr immerhin unschein­

barer Dienst für den äußeren und inneren Frieden, den Wohlstand, die Stille des Hauses, sowie für die Lösung der dem Hause gestellten

Aufgaben, insbesondere für das Gedeihen und die Erziehung der Kinder hat.

Namentlich in letzterer Beziehung ist ihr Einfluß ein ganz un­ Welch

berechenbarer.

Unheil

pflichtvergessene Dienstboten

haben

nicht

an Kindern

schon

leichtsinnige und

angerichtet!

Andrerseits:

wie mancher Mensch verdankt, daß er ein gesunder blieb, verdankt, daß er ein rechtschaffner wurde, viel mehr der Gewissenhaftigkeit, der Pflege, der Ueberwachung, überhaupt der Einwirkung eines alten und

treuen Dienstboten, als den Bemühungen seiner eignen Eltern, die

vor allen Geschäften, Gesellschaften, Vergnügungen leider nicht „die Zeit hatten", sich so speziell um die Kinder zu bekümmern! In alten

Zeiten klagten heidnische Schriftsteller, daß sich das Christenthum vor allem durch Weiber und Sklaweu verbreite und das jüngere Geschlecht

Es ist dieser Dienst — recht eigentlich

ergreife.

ein Dienst,

dem

Herrn geleistet — auch noch heute den Dienenden nicht verschlossen.

Erkennen, erfüllen sie ihn: wie hoch steht ihr Loos vor ihren eignen

Augen, wie hoch sie selbst vor Gott da! —

Sie klagen auch

nicht über

die Beschwerden,

Mühen,

Ent­

behrungen, welche ihr Stand mit sich führt — die größte die, ab­ hängig

zu sein und

ihre Lebensführung nicht rein aus sich selbst

gestalten zu können; sie, die gerade als Dienende häufig Gelegenheit haben, tiefer in mehrere Häuser zu blicken,

als mancher andere, sie

erkennen: „ein jeder Stand hat seinen Frieden, ein jeder Stand hat

seine Last."

Sie thun ihren Dienst mit Lust, „nicht mit Dienst nur

vor Augen, den Menschen zu gefallen, sondern als Knechte Christi",

ebenso eifrig, wo man sie sieht, als, wo sie unbeobachtet sind;

auch

nicht um Lohn; „der Arbeiter ist seines Lohnes werth" (Luk. 10, 7),

aber,

wer nur

Herrschaft

um

des Lohnes

sofort verläßt,

willen dient und selbst eine gute

sobald ihm anderwärts bessere Bezahlung

geboten wird, der verkauft sich selbst und darf sich nicht beschweren, wenn man eine solche Knechtsseele als eine bezahlte behandelt.

Der

rechtschaffene Dienstbote legt seine Anhänglichkeit in seinen Dienst und hält aus, wenn auch in einem Hausstande vorübergehend knappe

1. Hauptstück. Viertes Gebot.

122

Zeit, trübere Tage, die Last der Krankheit und der Krankenpflege

kommen.

Da vor allem bewahrt er sein freudiges Wesen und hütet

sich vor der Verdrossenheit, die mehr, als manches, den Verkehr mit

den Dienenden zu einer Plage, das Leben im Hause zu einem un­ leidlichen macht.

Er

ehrt seine Herrschaft

„mit der That, mit

Worten"') und, wo es nöthig ist —mit freundlicher „Geduld"; wie

er ja fordert, daß sie mit ihm Geduld haben solle.

Was ist es doch

für ein Großes um einen solchen frommen, gewissenhaften, anhäng­ lichen, treuen Dienstboten, und wie ist recht eigentlich von einem

solchen geredet, was der Herr Matth. 25, 21 sagt: „Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will

dich über viel setzen.

Gehe ein zu deines Herrn Freude"!

Schon vorher haben wir daraus hingewiesen, daß das Verhältniß

zwischen Obrigkeit und Unterthanen die Pflichten des Fürsten und der Staatsbürger, nicht des Vaters und der Kinder in sich schließe; daß mit

einem Worte das Verhältniß ein staatsrechtliches, nicht ein häusliches sei. Nicht minder wichtig, als dieses Bedeutsamste, ist, daß wir nicht er­

warten sollen, daß uns in der Bibel und dem Katechismus staatsrecht­ liche Belehrungen gegeben werden. Es ist ein verhängnißvoller Irr­ thum, wenn man unternimmt, unmittelbar aus der Bibel und der Dog­

matik heraus den Staat zu construiren,

Gesetze zu entwerfen, Ein­

richtungen zu treffen, Regeln für unser politisches Verhalten als

solches herzustellen, wie es im Staate des Mittelalters und in dem puritanischen Staat geschehen ist und noch geschieht. Sondern, was uns gegeben wird, hat allein sittlich religiöse Beziehung, sind

allein Ermahnungen, welche sich an unser frommes Gewissen wenden und uns zeigen, wie sich die bürgerlichen Verhältnisse darstellen, wenn wir sie im Lichte des Evangeliums betrachten. Diese sittlich

religiösen Grundsätze finden wir in der Bibel, wenn auch nicht detaillirt, doch hinreichend klar vorgezeichnet, daß wir nicht irren können und hinsichtlich derselben Uebereinstimmung unter den Christen und Gehorsam fordern dürfen: wohingegen die Anwendung derselben

auf das politische Verhalten in den Verhältnissen des Staats ein Gegenstand weitern Nachdenkens und das Produkt der besonderen

9 Auch mit Schweigen: ein treuer Dienstbote trägt nichts aus dem Hause.

Obrigkeit und Unterthanen.

123

politischen Kunst und bestimmter Kenntnisse ist, und daher auch unter

Abweichungen stattfinden können. Die Stellen, auf welche es hier vor allem ankommt, sind: Römer 13, 1—7; gleich frommen Christen

1 Petri 2,12-20; Matth. 22,15—22; 26, 51-56; Luk. 22,49—53; Joh. 18, 36f. u. 19, 11 u. s. w.

Außerdem 1 Timoth. 2,1—6; Apostg.

4,15—20; 5, 25—29; 23, 5.

Ferner Sirach 10, 1—5.

So weit Eltester selbst über das Verhältniß von Obrigkeit und

Unterthanen!

Sicherlich hätte er noch Wesentliches hinzugefügt, vor

allem aus seinem für König und Vaterland so warm und treu

schlagenden Herzen, wäre er nicht über der Arbeit gerade an diesem Abschnitt hingestorben, an den er noch wenige Tage vor feinem Ende unter dem Ringen mit unsagbaren Schmerzen seine letzte Kraft ge­ setzt (das 6. Gebot hatte er gleich anfangs vorweggenommen). Nach dem Zeugniß früherer Schüler wußte er vor andern das „Jedermann

sei Unterthan der Obrigkeit" (Röm. 13) den Seelen der Jugend ein­

zuschärfen und sie zur Liebe für Thron und Vaterland zu begeistern.

Die hier durch den Tod entstandene Lücke ist die Veranlassung zu folgenden Ausführungen:

1. „Jedermann soll der Obrigkeit Unterthan sein, die Gewalt über ihn hat" (v. 1), also der Obrigkeit in jeder Form je nach Brauch des Landes, gleichviel, ob wir eine andre Form für besser halten, auch Ehrfurcht vor dem

in jeder Person, die in ihrem Auftrag dasteht.

Könige und dem allverehrten Kaiser versteht sich für einen guten

Preußen und Deutschen von selbst; aber du sollst ihn durch Ehr­ erbietung und Gehorsam auch gegen den geringsten Beamten ehren, der ihn und das Gesetz vertritt, welche Stellung du auch anderweit demselben gegenüber einnehmest.

2. „Die Obrigkeit ist von Gott geordnet" (v. 1). Es handelt sich nicht nur um die Person, sondern um eine Ordnung Gottes,

vor allem um das Gesetz. Von Königstreue reden und unbequeme Gesetze umgehen, auch in Kleinigkeiten, stimmt übel zusammen. Wie manches Gute wird dadurch erschwert, daß jeder sich kleine Ab­

weichungen von heilsamen Ordnungen erlauben zu dürfen glaubt! Wie wohlthuend berührt es, wenn in buntem Menschengewirr ohne ein großes Aufgebot von Beamten und doch ohne Störung und Un-

I. Hauptstück. Viertes Gebot.

124

Ordnung tausende durch einander wogen, weil jeder aus Ordnung hält! Wohl dem Volke, das sein Gesetz in sich trägt nnd in ihm und

in der Obrigkeit sich selber ehrt! 3. Alle Verhältnisse, die das 4. Gebot umfaßt, — zwischen

Eltern und Kindern, Lehrenden und Lernenden, Herrschenden und

Dienenden,

Obrigkeit und

Unterthanen — sind

Verhältnisse

der

Pietät (S. 107), d. h. auf Frömmigkeit gegründet und auf Erziehung zur Frömmigkeit angelegt.

Gott hat sie durch die Natur des Menschen

und die Geschicke der Völker geordnet, um uns durch die Bande der Ehrfurcht und Liebe in Familie, Gemeinde und Staat zur Ehrfurcht

gegen Gott und zur Liebesgemeinschaft seines Reiches heranzubilden. Daher die Wichtigkeit dieser Verhältnisse und die Verheißung zum

4. Gebot: „auf daß du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott, giebt" (2 Mos. 20, 12)! Diese Worte, zuvörderst nicht auf

den einzelnen, sondern auf das ganze Volk, zuerst Israel und dann die Menschheit als Volk Gottes, bezogen, haben tiefe Wahrheit: So lange

in einem Volke noch das Familienleben gesund ist, und die

Herzen der Eltern und Kinder sich zu einander wenden, so lange noch Herrschende und Dienende in dem Wechselverhältniß der Ehrfurcht

und billiger Fürsorge stehn, und das Volk sich selbst in seinen Ge­ setzen und seinen Herrschern achtet, aber auch die Obrigkeit ihres

Schutzamtes für alle waltet: so lange wird Gott es auch aus schwersten Schlägen immer wieder aufrichten; denn noch lebt in ihm ein gesunder

Kern.

Wo aber ein Volk diese Pietätsverhältnisse zu lockern beginnt,

da arbeitet es an seinem eignen Untergange. 4. Daher müssen sie aber auch vor andern unverbrüchlich heilig gehalten werden und alle das gemeinsam haben, daß jeder Theil seine

Pflicht gegen den andern bis an den Tod, beziehungsweise bis zur Lösung des Verhältnisses auch dann erfüllt, wenn der andere der seinen vergißt.

Elternliebe hört auch

gegen das ungerathene Kind nicht

auf (Luk. 15, 11 f.), ebenso wenig jemals Kindespflicht gegen schlechte

Eltern.

So lange sie bei einander bleiben, soll der Knecht auch dem

wunderlichen Herrn gehorchen (1 Petr. 2, 18), und der Herr sorgen auch für den untreuen Knecht.

Zum Gehorsam gegen die Obrigkeit

vollends mahnt Paulus die römischen Christen auch unter einem

Nero (Röm. 13): das mag sich so mancher zu Herzen nehmen,

Gehorsamspflicht gegen jede Obrigkeit, einzige Gränze. für

den

125

die Obrigkeit nur zum Kritisireu da zu sein scheint, oder

der in ihr und ihren Beauftragten nicht sowohl Diener des Staates

und Gesetzes — das

sie sein —, sondern seine Diener er­

sollen

blickt, denen gegenüber er meint, jede Rücksicht aus der Acht lassen zu

dürfen, sobald

sie ihiu sein Recht

scheinen oder auch

nur

um

breit zu kürzen

ein Haar

nicht in jeder Hinsicht zu Diensten stehn.

Dem gegenüber ist einzuschärfen, daß wir nach der Schrift auch der pflichtvergessenen Obrigkeit Gehorsam und. Ehrerbietung schulden.

5. Aber ist denn gegen eine solche keinerlei Widerstand, ist nicht

gegen die offenbare Ungesetzlichkeit sogar Revolution erlaubt?

Be-

waffuete Auflehnung gegen die rechtmäßige Obrigkeit, auch gegen die schlimmste, ist nie ohne Sünde und zieht stets Fluch nach sich,

wie

insbesondere die Völker, welche, wie das französische und spanische,

häufig dazu greifen,

nur allzusehr an sich erfahren.

Freilich liegt,

wo Revolutionen im größeren Umfange vorkommen, die Sünde meist

auf allen Seiten,

oben und

unten,

und gewöhnlich ist schon von

früheren Geschlechtern her der Zündstoff gehäuft.

Damit das nicht

geschehe, dazu werden weise Obrigkeiten stets bei Zeiten berechtigten Klagen abhelsen, dazu hat jeder ihrer Beamten vom ersten bis zum letzten sich beständig zu predigen und selbst dem Unverstand gegenüber

nicht zu vergessen, daß er nicht Herr des Volks, sondern Diener seines

Wohls in Gottes Auftrag sei.

Doch das einzige Widerstandsmittel des

Christen gegen Unbill der Obrigkeit bleibt unter allen Umständen das Wort: „Man muß Gott mehr gehorchen, denn den Menschen" (Apostelg.

5, 29).

Das hat er nicht etwa in gewaltthätiger Auflehnung, sondern

in schlichtem Handeln nach Gewissen, Ueberzeugung, Gesetz mit aller Festigkeit geltend zu machen und

dann mit Christo zu leiden, was

Gott durch die auferlegt, die keine Macht über ihn hätten, wenn sie ihnen nicht von oben gegeben wäre (Joh^ 19, 11).

Wo es in einem

Volke viele giebt, die in solcher Weise furchtlos für Recht und Wahr­ heit eintreten, da wird auch der ärgste Tyrann sich auf die Dauer

nicht halten können, und das gequälte Volk wird um so gekräftigter aus der Prüfung hervorgehen, je strenger es in den Bahnen gesetz­ lichen Widerstandes

blieb.

Gegen Fremdherrschaft

und solche, die

sich wider Recht zu Herrschern aufwerfen, darf das Volk zur Waffe

der Nothwehr greifen, nur daß es auch hier möglichst im Anschluß

1- Hmrptstück.

126

Viertes Gebot.

an vorhandene Ordnungen geschehe,

und der Geist der Zucht be­

wahrt werde. 6. Dem preußischen und deutschen Volke hat Gottes Gnade den

Gehorsam gegen die Obrigkeit leicht gemacht.

Unser großer Friedrich

hat den deutschen Fürsten nicht vergeblich die Losung vor Augen ge­ stellt: „Der König ist der erste Diener des Staats." Und er hat damit nur ausgesprochen, was unsere Hohenzollern nun fast ein halbes Jahrtausend bei ihrer Regierung mit mehr oder minder klarem Be­

wußtsein geleitet hat.

Durch ihre Großthaten, Treue und Ausdauer

ist Preußen und Deutschland unter Gottes wunderbaren Gnaden­ führungen groß und einig geworden; und wir werden von Europa

um unser Herrscherhaus und unsern Kaiser beneidet.

Fürst und

Volk umschlingt das Band innigster Verehrung und Liebe; und, wie

unsre Fürsten des Volkes Geschick als das ihrige empfinden, so nimmt das Volk an Freud' und Leid des Kaiserhauses den wärmsten Antheil.

Wie wäre es nicht heiligste Pflicht der Dankbarkeit, daß

jeder dazu helfe, dieses Band noch immer inniger und fester zu ge­

stalten, nicht durch Sklawensinn, sondern in christlicher Freiheit, Wahrheit, Pflicht- und Ueberzeugungstreue! 7. Mit der Pflicht gegen die Obrigkeit hängt innig zusammen die Pflicht gegen das Vaterland.

„An's Vaterland, an's theure schließ' dich an, das halte fest mit deinem ganzen Herzen! Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft" — diese Worte des alten Attinghausen in Schillers Tell finden in

der Brust des Christen vollen Widerhall. So wenig die Liebe zu unsrer Familie die Liebe zu Gemeinde und Vaterland ausschließt,

so wenig schließt die Liebe zum Vaterland die von Christus gebotene allgemeine Menschenliebe aus, sondern die Liebe im engeren Kreise

erzieht für die im weiteren. Freilich mit Nationaldünkel und Nationalherrschsucht, die alle andern Völker unterdrücken will und statt friedlichen innern Ausbaus Erweiterung der Gränzen in's Maß­ lose erstrebt (Chauvinismus), hat das Christenthum nichts zu schaffen

und noch weniger mit Nationalhaß oder gar mit dem gehässigen

Pochen auf irgendwelche Abstammung, aber ebenso wenig mit vater­ landslosem Weltbürgerthum. Der Christ liebt sein Vaterland und Volk als das ihm nächststehende Glied im Gottesvolk der Menschheit;

Liebe zu König und Vaterland (Weltbürgerthum).

127

es zu einem möglichst werthvollen Gliede desselben heranbilden zu helfen, das ist ihm eine erhebende Aufgabe. Solche Liebe zum eignen Volke spiegelt sich wieder in Christi Thränen über Jerusalem

und in dem Schmerz des Paulus über Israels Verstockung gegen

das Evangelium, wie in seiner heißen Sehnsucht nach der Bekehrung desselben (Röm. 9, lf.; 10, lf.; 11, 26).

Und welche Liebe zu seinem

deutschen Volke pulst rt in der Schrift unseres Luther an den christ­ lichen Adel deutscher Nation!

Wer kann all' die edlen Gaben ausreden, die uns das Vater­ land mitgiebt:

Schutz, Wirkungskreis, vor allem der Muttersprache

trauten Laut, in seinen Sitten und Bräuchen die ersten Keime und liebgewordenen Formen für alles, was uns hehr und heilig ist!

Unser deutsches Vaterland zumal giebt uns eine ruhmreiche Geschichte mit den Erfahrungen nie ermüdender Gotteshülfe in schweren Zeiten,

als Frucht derselben das Gefühl, einem geachteten, einigen Volke anzugehören, dazu hohe Vorbilder, unsre großen Denker und Dichter,

die klassischen und die heiligen Sänger, unsere Kunst, unsere Lieder, unsern deutschen Gottesmanu Luther, unser deutsches Weihnachtsfest!

Wie viel es uns giebt, wir würden es erst inne werden, wenn mir seiner entbehren müßten.

So gilt es denn, für dies heilige Gut

auch alles einzusetzen — und nicht erst in den Stürmen des Krieges. Wie unpatriotisch, daß so viele die Lasten, die sie für das Vater­

land tragen müssen, eben nur als eine Last ansehen, von der man möglichst abmarktet, und daß wiederum andre zu bequem oder zu

furchtsam sind, um zum Besten des Vaterlandes, z. B. bei Wahlen aller Art, ihre Ueberzeugung geltend zu machen und an ihrem Theile verderblichen Zeitströmungen entgegenzutreten! „Lieb Vater­ land,

kannst

ruhig

sein", können

wir

aus

vollem Herzen

nur

singen, wenn nicht nur die Wacht am Rhein fest steht, sondern, wenn wir alle, jeder in seinem engern oder weitern Wirkungskreise,

mit

ächt christlicher Hingabe an die Gemeinschaft auf der Wacht stehn, daß überall Zucht, Gerechtigkeit, Liebe, Frömmigkeit walte, alle bösen

Geister niederhalte, und unser deutsches Volk mehr und mehr ein Volk Gottes werde.

I. Hauptstück.

128

Fünftes Gebot.

*Das fünfte Gebot sagt nicht ausdrücklich,

wen wir nicht todten sollen.

Nun ist zwar

zunächst nur der Mensch gemeint; dennoch liegt die Frage nahe, ob

und mit welchem Rechte wir Thiere todten und ihr Fleisch essen dürfen;

und erst durch Beantwortung dieser Frage tritt auch die

Heiligkeit des Menschenlebens in ihr volles Licht, zugleich werden wir dadurch

auf die Pflicht des Erbarmens auch gegen das Thier

Worauf beruht jenes Recht?

geführt.

Zuvörderst auf einer unab­

wendbaren Naturnothwendigkeit und damit auch auf der Ordnung

dessen,

der die Natur in's Dasein rief:

Tödtung des Thieres nicht bestehen. Vegetarianer geltend,

der Mensch kann ohne

Zwar machen neuerdings die

daß ganze Völker, wie die Inder'), fast

nur von Vegetabilien leben; und sie selbst suchen durch Enthaltung

vom Fleischgenuß den Thatbeweis zu liefern,

daß nur Pflanzenkost

dem Menschen zuträglich sei. Auch mag Einschränkung des Fleisch­ genusses in heißen Ländern rathsam sein; ja, vielleicht war Pflanzen­

kost die ausschließliche Nahrung der ersten Menschen: ihre kleine Zahl, die Fruchtbarkeit der Urheimath, die Einfachheit der Lebensverhält­ nisse und der Mangel an Waffen konnten diese Ernährungsweise be­ günstigen.

Fast scheint der biblische Schöpfungsbericht (1 Mos. 1,

28— 30) noch diesen Zustand vorauszusetzen: nach ihm soll der Mensch sich die Thiere Unterthan machen, als Speise jedoch werden ihm, wie den Thieren, nur die Pflanzen angewiesen.

Dagegen sind die Ver­

suche der Vegetarianer noch von viel zu kurzer Dauer, um erkennen zu lassen, ob die Menschen auch in unserm rauheren Klima bei

minder fruchtbarem Boden, dichterem Zusammenleben und daher größeren Anforderungen an ihre Kraft auf die Dauer ohne Ver­

kümmerung allein von Pflanzenkost bestehen können; der Mangel an Thatkraft bei den uns stammverwandten Hindus, die — 150 Millionen an der Zahl — sich von einigen tausend Engländern beherrschen

lassen, spricht wenig dafür.

Doch das dahingestellt: würde bei unsern

*) Ihre Religion, der Bramaismus, und auch der daraus entstandene Bud­ dhismus verbietet das Todten der Thiere.

Letzterer hat sich besonders über Central-

asie», China und Japan verbreitet; doch wird hier das Verbot streng nur von den

Priestern und auch von ihnen nicht überall mit gleichmäßiger Strenge gehalten.

Warum dürfen wir Thiere tobten? Unsere Pflicht qegen das Thier.

129

Boden- und Witterungsverhältnissen und weiter nach Norden die Erde genug Pflanzennahrung liefern — nicht nur für einige Vege­

tarianer, sondern für die ganze immer dichter werdende menschliche

Bevölkerung und für das nun ungestört sich mehrende Heer der Thiere, vorausgesetzt auch, daß wir die fleischfressenden und unmittelbar

belästigenden als Friedensstörer vertilgen?

Woher nähmen wir end­

lich die unzähligen thierischen Stoffe, ohne deren Verarbeitung unsere heutige Industrie, Kunst und Wissenschaft gar nicht denkbar ist,

wenn wir hierbei auf die dazu vielfach unbrauchbaren Leichname der durch Alter und Krankheit gestorbenen Thiere beschränkt würden? Mit einem Worte: der Mensch ist berechtigt, Thiere zu tobten, weil

sie sonst ihn sammt der menschlichen Kultur von der Erde verdrängen würden.

Indeß die Nothwendigkeit allein begründet doch nur das

rohe Recht des Stärkeren; die

einzig

durchschlagende sittliche Be­

gründung unseres Rechtes zugleich mit der ersten ausdrücklichen Er­ laubniß, Thiere zu tobten und ihr Fleisch zu essen, giebt das Wort

der Schrift (1 Mos. 9, 1—6): „Alles, was sich reget und lebet, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut, habe ich es euch alles ge­ geben. — Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem

Bilde gemacht."

Als Gottes Bild und deshalb Beherrscher der Erde

darf und soll der Mensch das niedere thierische Leben, wenn es sein muß, auch durch dessen Zerstörung, seinem höheren Leben dienstbar

machen; nur so kann er die Aufgabe erfüllen, allerorten immer vollkommneres, geistiges, gottähnliches Leben zu entfalten.

Diese Nothwendigkeit ist ein Theil derselben wunderbaren, oft so hart erscheinenden und doch heilvollen Ordnung Gottes, wonach

auch sonst alles Leben so mannigfach aus Schmerz und Tod geboren, dadurch erhalten und zu immer höheren Gestaltungen entwickelt wird. Warum es so sei, ist uns verborgen, wir haben uns nur in Ehrfurcht darunter zu beugen und stets im Auge zu behalten, daß es Gottes

Ordnung, nicht menschliches Belieben ist.

Deshalb haben wir diese

Gottesordnnng — unser Recht über das Thier nicht im Dienste

unserer Selbstsucht,

sondern zur Förderung der Zwecke Gottes zu

verwerthen: Niederes Leben dürfen wir vernichten, damit gottähn­ licheres sich gestalte, Leben der Pflanzen und Thiere brechen, damit (Lltester, Materialien. 2. Auslage. 9

I. •ömiptftücf. fünftes Piebot.

130

der Menschen leibliches und geistiges Leben immer ungehemmter und voller sich

ausbreite').

Aber nie sollen

wir vergessen, daß

auch

Pflanzen- und Thierleben schon Vorstufe menschlichen Lebens, auch schon Offenbarung göttlicher Herrlichkeit ist.

Auch nicht ein winziges

Hälmchen kannst du kleiner Mensch in's Dasein rufen, deshalb ehre

im geringsten Lebenskeim des Schöpfers Allmacht und Weisheit und zerpflücke ohne

nicht ein Blümchen im Grase!

Noth auch

Seine

Güte berief zur Lebensfreude auch das Insekt, das sich in der Sonne

wiegt: darfst du dich seiner Schmerzen freuen?

Deinen Hunger zu

stillen, magst du dem Thierleben ein Ziel setzen; aber nicht umsonst

hat Gott auch in das brechende Auge des verendenden Wildes, und in den Schmerzensschrei der Thiermutter, der man ihr Junges raubt, ein Etwas gelegt, das dem unverdorbenen Menschen, wie ein Ver­

wandtes, durch das Herz schneidet: darfst du die Todesqual deines

Mitgeschöpfes erhöhen nur, um deinen Gaumen zu kitzeln oder einer vornehmen Passion zu fröhnen?

Ist es nicht auch Ahnung höheren

Lebens, was uns aus den sehnenden Tönen der Nachtigall entgegen­ quillt?

Sollten

lieblicher Sänger

dem niederen Sinnenreiz leckerer Zungen Hunderte geopfert

werden?

bedeutsame Mahnung darin,

So liegt denn immerhin eine

daß das fünfte Gebot ohne ausdrück­

liche Einschränkung auf den Menschen das Tödten verbietet.

Das

*) Man pflegt die Regel ausznstelleu: Wir dürfen Thiere tödten, meint ihr Leben uns schadet, ober ihr Tod nns iiü(tt. Dao ist im allgemeinen richtig; nur, daß der Ruhen zn der Qual, die wir beut Thiere bereiten, in angemessenem Ver­ hältniß stehe, und in Wahrheit höheres Leben dadurch gefördert werde. Von dem­ selben Gesichtspunkt aus sind auch die Viviseetion und die gegenwärtig so leb­ haften Bestrebungen dagegen zu beurtheilen: die Viviseetion, das Zergliedern noch lebender Thiere, hat seine — dem fühlenden Menschenherzen innuerhin schwer an­ kommende — Berechtigung, soweit sie wirklich der Wissenschast dient; denn dann wird durch vorübergehende Pein eines niederen Wesens dauerndes Wachsthum an Wahrheit und geistigem Leben, Erhohnngkmenschlicher Wohlfahrt, Linderung mensch­ licher Leiden gewonnen. Aber nie sollte sie nur der Neugier und dem Vorwitz dienen. Zu weit gehen die Bestrebungen dagegen, sofern sie die Wissenschaft einengen wollen, und sofern tlnknndige den Alännern der Wissenschaft darüber Vor­ schriften geben inochten, wie weit Viviseetion nothwendig und erlaubt sein solle. Berechtigt sind sie, sofern sie nur die Gewissen dafür schärfen wollen, daß der Mensch auch int Eifer für die Wissenschaft des Erbarmens gegen die seufzende Kreatur eingedenk bleibe.

Heiligkeit deS Meiischenlebenö.

131

will sagen: Halte jedes Leben heilig als Offenbarung göttlicher Herr­

lichkeit! Zerstöre, verkümmere keins ohne Noth! Folge vielmehr der Mahnung

(Spr.

Viehes" —!

12, 10):

„Der

Gerechte

erbarmet

sich

seines

Es ist ein schöner Zug des Alten Testaments, daß es

in seiner Gesetzgebung mehrfach auch auf das Thier Rücksicht nimmt,

daß es z. B. auch für das Vieh Sabbathsruhe fordert (2 Mos. 20,10; 5 Mos. 5, 14) und verbietet, dem dreschenden Ochsen das Maul zu

verkürben (5 Mos. 25, 4).

Vollends sollten wir Kinder des neuen

Bundes nicht vergeblich zu uns geredet sein lassen, was (Röm. 8,19f.)

Paulus sagt „von dem

ängstlichen Harren der Kreatur", das „aus

die Offenbarung der Kinder Gottes wartet"; auch sie soll von dem Dienst der Eitelkeit frei werden, dem sie Gott „auf Hoffnung unter­ worfen hat"; auch sie soll nicht von jedem Antheil an der Erlösung

durch die Lindigkeit Christi ausgeschlossen bleiben.

Daher sind Be­

strebungen gegen Thierquälerei auf das entschiedenste zu unterstützen, insbesondere sollten Kinder davon zurückgehalten und vor allem be­

wahrt werden, was, wie z. B. das Zuschauen beim Schlachten, ge­ eignet ist, ihre jungen Herzen gegen die Leiden der Thiere und da­

durch mittelbar auch gegen die der Menschen zu verhärten. Andrerseits hat Luther ganz Recht, wenn er bei der Kürze seiner Erklärung zum 5. Gebot ist derselben nur den Menschen berücksichtigt:

denn in erster Linie sollen wir uns durch dieses Gebot den einzig­

artigen Werth des letzteren gegenüber allen anderen Erdenwesen auf Herz und Gewissen gelegt sein lassen; und durch nichts kommt der unermeßliche Abstand zwischen Mensch und Thier schärfer zum Aus­ druck, als dadurch, daß — unter welchen Bedingungen auch immer —

die Tödtung des Thieres erlaubt, die des Menschen hingegen schlecht­ hin verboten ist! Denn der Mensch ist Gottes Bild: deshalb sein Leben von unendlichem Werth! Von unvergleichlich höherm Werth,

als das kostbarste Thier, anch der geringste Mitmensch! Deshalb darf

der Mensch nie dem Thiere gleich nur Sache, Stoff, Mittel, Waare werden, wie unter dem Hasten der Gegenwart nach dem Erwerb im

rastlosen Kampf um's Dasein nur zu leicht geschieht.

Thierschutz­

vereine sind vortrefflich, aber zuerst der Mensch und Menschenwohl­ ergehen und dann das Thier und Geld und Geldeswerth!

An der

Stelle des Alten Bundes, welche die Unverletzlichkeit des Menschen­ gy

1. .vmiptstück.

132

Sstnftei' toebot.

lebens durch seine Gott-Ebenbildlichkeit begründet, heißt es in Vor­ ahnung der neutestamentlichen Gotteskindschaft (1 Mos. 9, 5): Gott

wolle „des Menschen Leben rächen an einem jeglichen Menschen, als der sein Bruder ist".

Also jeder Mord gleich dem ersten, den die

Schrift berichtet, Bruder-, Schwestermord!

keit

des Menschenlebens

über

eine ursprüngliche Ordnung Gottes gegründet: des Menschen zu Gott

So wird die Heilig­

alle menschliche Willkür hinaus auf

als sein Bild

auf das Verhältniß

und Kind und auf das der

Menschen untereinander als eines Vaters Kinder.

Daraus folgt,

daß Abweichung von dieser Ordnung nur zur Sicherung oder Wieder­

herstellung ihrer selbst zulässig ist.

Mit andern Worten: Tödtung

des Menschen ist nur erlaubt als Nothwehr, und diese kann geübt werden vom Einzelnen, von einem ganzen Volke oder von der Obrigkeit. 1.

des

Nothwehr

Einzelnen



Abwehr

gewaltthätiger,

widerrechtlicher Angriffe auf Leben, Eigenthum und Freiheit ist be­

rechtigt.

Denn der also Angreifende hat das Band zwischen sich und

mir,

der ganzen

ja

menschlichen Gemeinschaft, so viel an ihm ist,

zerrissen, hat sich dem reißenden Thiere gleichgestellt. theidige ich

zugleich

die

In mir ver­

menschliche Gemeinschaft; wer heut mein

Leben antastet, gefährdet morgen vielleicht das meiner Mitmenschen; ein Feigling wäre, wer gegen den Einbrecher nicht im eignen Leben und Eigenthum zugleich seine Familie, seine Hausgenossen und Nach­

barn vertheidigen wollte.

Dem widerspricht auch nicht Jesu Mahnung

(Matth. 5, 39f.), dem, der uns auf den rechten Backen schlägt, den

andern auch darzubieten; weist er doch selbst den Schergen, der ihn

schlägt,

ernst und

Vielmehr haben

gelassen in

seine Schranken (Joh. 18, 22.23).

wir hier eins von den merkwürdigen Worten des

Erlösers vor uns, welche durch scheinbaren Widersinn der Form zum

Nachdenken reizen und, wie durch Widerhaken, den darin verborgenen

Wahrheitskern um festigen -sollen.

so

unverlierbarer in der Seele des Hörers be­

Er wendet diese Form besonders bei Wahrheiten an,

die dem selbstsüchtigen, trägen Menschenherzen schwer eingehen: und

welche ginge unserm Zornmuth, unserer Ungeduld schwerer ein, als die, welche er

offenbar hier uns an das Herz legen will, daß wir

lieber immer neues

einmal

Unrecht leiden, als einmal Unrecht thun, als

der Liebe selbst gegen den Feind vergessen sollen?

Und die

Die Nothwehr des Einzelnen. Dos Duell.

133

Liebe soll auch in der Nothwehr ihre Geltung behaupten: sie wird nichts unversucht lassen, um die Absicht des Angreifers ohne Blut­ vergießen — etwa durch Entwaffnung — zu vereiteln, sie verbindet die Wunden des überwältigten Gegners und bedarf nicht der Er­ innerung, daß, den kampfunfähig am Boden liegenden oder fliehen­ den zu todten, auch das Staatsgeseh verbietet, und daß Anwendung von Waffengewalt, wo noch rechtzeitig die Hülfe der Obrigkeit an­ gerufen werden kann, unerlaubte Selbsthülfe ist. Für sie ist es insbesondere selbstverständlich, daß das Duell mit dem Geiste des Christenthums sich nicht vereinigen läßt. Das Duell ist ein verabredeter, geregelter Zweikampf zur Schlichtung eines Streites. Ein solcher ließe sich allenfalls noch rechtfertigen, wenn er, wie etwa in alten Zeiten der Kampf zwischen Paris und Menelaus, zwischen David und Goliath, den Zweck hätte, durch den Kampf zweier hervorragender Helden den Streit ganzer Völker beizulegen und so dem allgemeinen Blutvergießen ein Ziel zu setzen, obschon die Erfahrung lehrt, daß das Volk, dessen Held unter­ liegt, sich nie bei dem Ergebniß eines Kampfes beruhigt, der über das Kräfteverhältniß der Völker selbst nichts entscheidet. Das Duell unsrer Tage aber soll Privatzwistigkeiten zum Austrag bringen und ist eine Nachbildung der Zweikämpfe, durch welche die Ritter und Edlen des Mittelalters bei ihren Fehden ein Gottesurtheil über Recht oder Unrecht ihrer Sache herbeizuführen suchten; die mittelalterlichen Gottesurtheile oder Ordalien sind hinwiederum ein Nachklang heid­ nisch germanischen Aberglaubens, und schon das sollte uns gegen das Duell von heut bedenklich machen. Ließe sich doch sogar eher, als dieses, mancher Zweikampf des Mittelalters — als eine Art von Nothwehr gegen Raub, Brand und Mord — vertheidigen: in den Zeiten des Faustrechts war ein ehrlicher Zweikamps sicherlich besser, als eine wüste Rachefehde, welche auch die wehrlosen Weiber, Kinder und Hörigen der Streitenden gefährdete. Daß dagegen bei unsern geordneten Rechtszuständen das Duell jeder Berechtigung entbehrt, bedürfte keines Beweises, wenn es nicht noch immer vermöge eines tief gewurzelten Vorurtheils besonders in einzelnen Ständen als un­ entbehrliches Mittel zur Vertheidigung gegen Ehrenkränkungen gälte. Wie widersinnig die ganze Auffassung, die hier zu Grunde liegt!

134

1. Hauptstück.

Fünftes öebot.

Als ob der Vertreter der gerechten Sache und nicht vielmehr der

beste Schläger oder Schütze siegte, und wäre er der ehrloseste Ehren­ dieb!

Auch sehen wohl die meisten nicht mehr ein Gottesurtheil im

Ausfall des Kampfes: man glaubt vielmehr, durch Einsetzung des

Lebens für die Ehre vor aller Welt sein gutes Gewissen zu erweisen

und so schon durch den Kampf selbst, gleichviel, wer siegt, die ver­ letzte Ehre wiederherzustellen.

fällt mit

Doch

des Christen Ehre steht und

der Ehrenhaftigkeit seiner Gesinnung: dieser Ehre thut

keine Beleidigung Abbruch; den Flecken auf ihr wäscht weder eigenes noch fremdes Blut ab, noch auch der Muth, sein und des Nächsten

Leben und das Glück der Angehörigen beiderseits auf das Spiel zu

setzen; er kann sittlich dem Muth weit nachstehen, der dazu gehört,

aus christlicher Ueberzeugung, unbekümmert um das Vorurtheil der

Standesgenosfen und um die Folgen (etwa für die militärische Lauf­ bahn) eine Forderung abzulehnen.

Oder ist das Duell vielleicht

— insbesondere für Offiziere — ein unentbehrliches Erziehungs­

Dürften dann die Ehrengerichte die Zahl der Duelle durch anderweite Beilegung der Ehrenhändel einzuschränken mittel zur Tapferkeit?

suchen?

werden?

Müßten nicht umgekehrt die Gelegenheiten

dazu vermehrt

Und sollte wirklich in den heißen Kämpfen unseres Vater­

landes die überwiegende Zahl der Offiziere, die durch besonnenes

Benehmen Anlässe derart zu vermeiden wußten, an Tapferkeit denen

nachgestanden haben, welche sich in Zweikämpfe verwickeln ließen? Wird aber, wie in Studentenkreisen, durch allerlei Vorsichtsmaßregeln

das Duell zum bloßen Spiele jugendlichen Uebermuths

gemacht,

wozu durch wenig ernst gemeinte Beleidigungen die Anlässe geschaffen

werden: so ist bei Ausschluß aller Gefahr auch das Erziehungsmittel leeres Spiel; denn die erwünschte Uebung im Waffengebrauch kann

auch

ohne Blutvergießen gewonnen werden,

während die immer

wiederholten tödtlichen Ausgänge von Studentenduellen

daß man mit ernsten Dingen nicht spielen soll.

beweisen,

Zu wahrem Muth

erzieht am besten: unablässige, nie zaudernde Pflichterfüllung, Uebung

der Thatkraft in der Ueberwindung jeglicher Schwierigkeit, stets wach­ same Selbstbeherrschung, Begeisterung für alle idealen Güter der

Menschheit, Liebe zu König und Vaterland, Stärkung des Gottver­ trauens,

Schärfung

des

Gewissens.

Für

das unverfälschte

Der Krieg.

135

christliche Gewissen aber ist und bleibt auch die Tödtung im Duell ein Mord, wie milde wir auch den Thäter beurtheilen mögen, dem

der Muth fehlte, die Schranken des Vorurtheils zu durchbrechen. 2.

Als Nothwehr eines ganzen Volkes gegen Vergewal­

tigung durch ein anderes, aber auch nur als solche, ist der Krieg berechtigt.

Zeder andre

Krieg,

Rache-,

oder gar Krieg zur Aufnöthigung

Raub-,

Eroberungskrieg

einer Religion ist verwerflich.

Dagegen haben die Mennoniten und Quäker mit ihrer Verurtheilung auch des Vertheidigungskrieges sowohl die heilige Pflicht, das Vater­

land zu schützen, als auch die Schrift wider sich: Der Täufer fordert

von den Kriegern als Frucht der Buße Enthaltung von unrecht­ mäßigem Gewinn, Jesus lobt den Glauben des Hauptmanns von

Kapernaum, Petrus tauft den Hauptmann Kornelius, keiner verlangt von ihnen den Austritt aus dem Kriegerstande: erkennen sie dadurch

nicht die Berechtigung dieses Standes und des Krieges selbst an? Ist jedoch der Krieg nur zur Vertheidigung des Vaterlandes gestattet,

so ist auch nur der Kriegsdienst zum Schutze des eignen Vaterlandes

sittlich begründet; im fremden Solde sinkt er zum feilen Mordhand­ werk herab; und es gereicht Zwingli zu hoher Ehre, daß er schon

vor Beginn seiner reformatorischen Laufbahn als Pfarrer in Glarus das Reislaufen seiner Landsleute, d. h. ihr Eintreten in fremde Kriegsdienste, ohne Rücksicht auf Volksgunst, aus das schärfste geißelte. Dagegen übt der Krieger im Dienste feines Vaterlandes, gleichviel,

ob Berufssoldat oder Wehrpflichtiger, ein heiliges Wächteramt, das

im letzten Ziele auch den Frieden fördert. In diesem Amte hat er Gelegenheit, die höchsten Mannes- und Christentugenden zu entfalten und so einer der unheilvollsten Früchte der Sünde, dem Kriege, einen Theil des Giftes zu nehmen und selbst Seiten des Segens abzuge­

winnen. Diese Aufgabe wird er ebensowohl durch Tapferkeit, höchste Anspannung aller Kräfte, Geduld und Ausdauer in Kampf und Be­

schwerde als durch streng rechtliche, schonende und liebreiche Behand­ lung der Wehrlosen und Verwundeten erfüllen.

So soll durch die

Noth des Krieges und das Männer mordende Kampfgewühl jetzt schon die Liebe hindurchleuchten, die einst das „Friede aus Erden"

zur vollen Wahrheit machen wird. — Darüber, ob ein Krieg gerecht

sei,

haben selbstverständlich nur die Staatslenker zu entscheiden;

1. Hauptstück.

136

Fimftco Gebot.

dürfte der einzelne Krieger von seinem Urtheil darüber seine Mit­

wirkung abhängig machen, so würden für das Vaterland die größten

Gefahren entstehen.

Dafür hat er aber auch nicht die ungeheure

Verantwortung für das Leben und Glück von tausenden zu tragen, die in der Entscheidung über Krieg und Frieden beschlossen ist.

3.

Nothwehr ist endlich auch der Gebrauch, den die Obrigkeit

zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung von ihrem

Schwerte macht, sei es, daß sie gewaltsamen Widerstand bricht, sei

es,

daß sie an dem überwältigten Verbrecher das Strafamt übt.

Auch die Todesstrafe läßt sich nur als Nothwehr rechtfertigen, und

allein von diesem Gesichtspunkte aus kann auch die Frage entschieden

werden, ob

dieselbe beizubehalten oder abzuschaffen sei.

In dem

Streit darüber wird ebenso sehr gefehlt, wenn man ihren Anhängern Mangel an Humanität, als, wenn man ihren Gegnern Ungehorsam

gegen die Schrift vorwirft.

Zwar fordert der Alte Bund das Blut

dessen, der Menschenblut vergießt (1 Mos. 9, 6); ja, auch Jesus weist den Petrus zurecht (Matth. 26, 52): „Wer das Schwert nimmt, der

soll durchs Schwert umkommen"; und dem ähnlich betont Paulus

das Rächeramt der Obrigkeit (Röm. 13, lf.).

Aber will denn die

Schrift jede äußere Ordnung, die sie für ihre Zeit als Gottes Orddnung einschärft, für alle Ewigkeit aufrecht erhalten wissen? Oder ist

die Todesstrafe nicht eine äußere Ordnung?

Paulus ermahnt auch

die Sklawen, ihren Herren zu gehorchen, und beruft sich dafür aus­

drücklich auf Gottes Willen (Cph. 6, 5f.); und doch hat Christi Geist

die Sklawerei allmählich unmöglich gemacht: könnte derselbe Geist nicht auch einmal die Todesstrafe entbehrlich machen? Warum muß sie denn sein?

Etwa nur deshalb, weil jeder Sünde die Vergeltung,

die Sühne, die entsprechende Strafe folgen muß?

Stimmt das zu

dem Geist, der für das „Auge um Auge" die Feindesliebe setzt, und

der keine andre Sühne kennt, als die Liebe, die vom Kreuz her dem bußfertigen Sünder die rettende Hand reicht?

Todesstrafe geltend,

Man macht für die

daß reuige Mörder sie bisweilen erbitten, weil

sie nur von dieser Sühne Vergebung erhoffen:

aber sollte man die­

selben nicht vielmehr auf die einzige wahre Sühne, die Gnade Gottes durch Christum, verweisen?

Nein, vor Christi Geist läßt sich

die

Strafe, die dem Sünder, statt ihn zu bessern, die Frist zur Besserung

Die Todesstrafe. gewaltsam abschneidet,

137

nur als unersetzliches Mittel der Nothwehr

gegen das Umsichgreifen des Verbrecherthums rechtfertigen; gäbe es

einen Ersatz, so wäre es unchristlich, wenn ferner noch, wie Fritz

Reuter es ausdrückt (Ut de Franzosentid, S. 213f.), ein Sünder den andern

voreilig vor das Gericht unsers Herrgotts bringt.

Aber

freilich: ist die Furcht berechtigt, daß ohne die Todesstrafe die Ach­ tung vor dem Gesetz ab-, und die Zahl der Verbrechen zunehmen werde- wäre es dann inhuman, wenn man den wenigen, welche durch

Frevel gegen das Leben ihrer Mitmenschen das Band mit der mensch­ das Leben kürzt, um eine weit

lichen Gemeinschaft zerrissen haben,

größere Zahl der Schwachen, aber noch zu Rettenden von der Bahn Zur Entscheidung darüber, ob

des Verbrechens zurückzuschrecken?

und wie lange wir dieses Mittels der Nothwehr gegen die Uebermacht der Sünde noch bedürfen, werden vor allem die Erfahrungen

in den Ländern abzuwarten sein,

ausgegeben hat.

in denen man dasselbe bereits

Noch halten es viele,

und nicht allein die Eng­

herzigen, für unentbehrlich: auch einige Kantone der freien Schweiz haben es wiedereingeführt und so die Weissagung Göthes in Wilhelm

Meisters Wanderjahren (aus Makariens Archiv) bewahrheitet:

die

Todesstrafe abzuschaffen, werde schwer halten; geschehe es, so werde

man sie gelegentlich wieder zurückrufen. — Unzweifelhaft macht die­ selbe allein schon als drohende Bestimmung der Strafordnung, wie selten sie auch zur Anwendung komme, auf rohe Gemüther einen Eindruck, der sich schwer ersetzen läßt.

Wortes (Matth. 19, 26) vergessen:

Dennoch dürfen wir nicht des

„Bei den Menschen ist es un­

möglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich."

Vielleicht darf die

Obrigkeit das Richtschwert aus der Hand legen, wenn unsere Für­ sorge für die Besserung der Sträflinge während und nach der Haft

eine allgemeinere und durchgreifendere geworden sein, und wenn das Christenthum mehr, als bisher, alle Schichten des Volks und alle Gebiete des Lebens durchdrungen haben wird.

Dazu mitzuwirken,

ist sicherlich ebenso christlich, als human, als Pflicht jedes einzelnen.

Von der Nothwehr gegen verbrecherische Angriffe sind scharf zn unterscheiden Nothlagen durch Gottes Schickung, die so schwer

zur Uebertretung des 5. Gebots, ja zu den grauenvollsten Handlungen versuchen, daß auch die Stärksten erliegen zu müssen scheinen: ent-

I. Hciuptstück. Fünftes- Gebot.

138

setzlichc Hungersnöthe während einer Belagerung, einer Wüstenreise oder, wie noch

in

neuester Zeit,

während einer Irrfahrt aus dem

Ozean haben die davon Betroffenen zu dem verzweifelten Uebereinkommen getrieben, sich nach Entscheidung des Looses einer des andern

als Nahrung zu bedienen.

Es giebt in der That Fälle dieser Art,

in denen wir, statt zu verdammen, nur beten können:

„Führe uns

nicht in Versuchung!" Aber, wie entschuldbar auch unserer Schwach­ heit halber:

gebung

Sünde — Sünde,

hoffen

die nur von Gottes Gnade Ver­

darf, bleibt es dennoch.

die Einwilligung

der Opfer und

Daran ändert auch nichts

die schnellere Erlösung von den

Qualen des ohnehin gewissen Todes.

Bist

du die Vorsehung, um

zu entscheiden, wie fern oder vielleicht nah die Hülfe ist?

Sodann:

lieber mit einander sterben, als sich an dem Bilde Gottes vergreisen

und sich von der Noth so knechten lassen, daß man sich zum Kanni­

balismus verirrt, welcher, auch wenn nur an der ohne menschliches Zuthun entseelten Hülle eines Mitmenschen und Gotteskindes verübt'),

unter allen Umständen den Menschen zum Thier herabwürdigt! End­

lich:

keine Noth ohne von dem,

der nicht mehr auflegt,

als wir

tragen können (1 Cor. 10, 13), und der die Anfechtung schickt, damit wir Kraft der Geduld, des Glaubens, der Liebe bewähren! Aber die Krone nur dem, der bis an's Ende beharrt!

Weit häufiger, als diese, Gott sei Dank, seltenen Fälle, ist eine

Versuchung ganz andrer Art: Durch irgend ein Uebermaß des Leidens wird ein Leben zu einer so schwer zu ertragenden Last, daß sich die Frage aufdrängt:

Warum darf ihm nicht ein Ziel gesetzt werden?

Warum ist dem hoffnungslos leidenden Menschen die Erleichterung

versagt, welche wir dem unheilbar krankenden Thiere aus Erbarmen gewähren: möglichst schmerzlose Tödtung? Versuchlich nahe liegt die

Frage so manches Mal dem Mitleid, wenn es einen Theuren ohne

jede Aussicht auf Rettung von unsagbaren Schmerzen gequält sieht: aber von der Frage zur sündhaften That an den Mitmenschen sortzuschreiten,

davor bewahrt meist die Scheu vor der Heiligkeit des

Menschenlebens und vor dem göttlichen und

menschlichen

Gesetz;

J) Bei einer verunglückten Nordpolerpeditivu erhielten sich die Neberlebenden durch dao Fleisch der erstarrten Kameraden.

Selbstmord.

Seine Verwerflichkeit.

131)

davor wird immer zurückbeben die Liebe, die nicht lassen kann.

Viel

mehrere wagen für sich selbst die Frage zu stellen und — durch Selbstentleibung zu beantworten;

und so erschreckend häufig kommt

der Selbstmord in unsrer Zeit vor, daß man nicht entschieden genug das weit verbreitete Vorurtheil bekämpfen kann, als fei absichtliche

Selbsttödtung weniger Mord, als die Ermordung eines Mitmenschen, als sei des letzteren Leben zwar unantastbar, aber über das eigene

dürften wir frei verfügen, wie etwa über sonstiges Eigenthum. Wie?

Sind wir denn überhaupt mit allem, was wir sind und haben, unser und nicht vielmehr Gottes Eigenthum?

Müssen wir ihm nicht von

jedem Gut, also auch von unserm Leben Rechenschaft geben?

Aber

jedes andre Gut ist nur ein Mittel, um sein Reich auf Erden zu

fördern, dazu nur ein Mittel unter vielen; hat es feinen Zweck er­ füllt, so darf ich es hinter mich werfen. Gottes Bild und Kind

das ist

Menschen:

der

ist selbst

das Reich Gottes,

Der Mensch hingegen als

höchster Zweck seines Reiches:

das ist deshalb

höchste Aufgabe jedes

daß gottähnliches Leben sich in jedem einzelnen und in

Gemeinschaft entfalte.

Für diese höchste Aufgabe,

für diesen

göttlichen Inhalt ist das leibliche Leben zwar auch nur Mittel, Werk­

zeug, Gefäß, aber das einzige, über das der Mensch verfügt; bei ihm steht es nicht, sich oder andern ein neues zu schaffen.

Daher

der Werth des Menschenlebens über das Thierleben und alles andre

Erdengut, auch über der Erde Weh und Lust weit hinaus! das Recht allein

Daher

des Menschen auf Unverletzlichkeit seines Lebens:

Aber mit dem höhern Rechte auch die höhere Pflicht:

dem Thiere

kürz' ich sein Leben, jetzt mir zum Nutzen, jetzt aus Erbarmen; aber der Mensch muß es tragen, bis Gott ruft! Wer es andern oder sich

eigenmächtig abkürzt, sei's

dort,

der

entzieht sich

aus Leidensscheu hier oder aus Mitleid

oder jene vorzeitig der Aufgabe, zu bereit

Lösung Gott das Leben gab:

er,

dessen wir sind, wir leben, oder

wir sterben (Röm. 14, 7—9), hat allein zu bestimmen, wann sie ge­

löst sei.

Oder darfst du,

so lange er nicht ruft,

eines andern Leben sagen: es sei zwecklos?

von deinem oder

Wie, wenn es nur noch

dazu da wäre, daß der arme gequälte Träger desselben sich andern zum Vorbilde in Geduld und Ergebung vollende oder auch nur an­

dern ein Gegenstand der Geduld und Aufopferung werde?

„Denn

1. •Öiuiptftiicf.

140

rtiinftec- Wcbot.

wer hat des Herrn Sinn erkannt, wesen?" (Röm. 11, 34.)

ganz im Sinne

oder wer ist sein Rathgeber ge­

Selbstmord geißelt schon

Den

Sokrates

des Gesagten in den Gesprächen über die Unsterb­

lichkeit angesichts des Giftbechers

(Plato's Phaedon, VI.):

er

ver­

gleicht den Menschen einem Krieger, den Gott auf einen Wachtposten gestellt habe, und der deshalb nicht sich selbst ablösen noch feig* ent­ laufen dürfe.

In Wahrheit begeht der Selbstmörder nicht nur eine

einzelne ^Übertretung, sondern er sucht sich als ein Fahnenflüchtiger

ein für alle Mal dem Dienste seines Gottes zu entziehen. — Wer wollte mit klarem Bewußtsein von der Bedeutung seines Thuns so schweren Frevel auf sich nehmen?

Daß dennoch

gerade in unsern

Tagen so viele sich so weit verirren, ist theils auf eine falsche Milde bei Beurtheilung des Selbstmordes, theils

auf eine gesteigerte Er­

regtheit des Nervenlebens, vor allem aber auf Mängel religiöser Art

zurückzuführen: Oft begegnet man

1.

lung des Selbstmordes. satz

Hülle

gegen

die

Härte,

des Selbstmörders

einer falschen Milde bei Beurthei­

Sie ist

zum Theil

welcher

mit

man

der einseitige Gegen­ früher

der

irdischen

ehrliche Begräbniß versagte.

das

Man

vermaß sich dadurch, zu richten, wo allein noch ein Höherer zu richten hat, und traf doch nicht den Schuldigen, sondern die trostbedürftigen Hinterbliebenen; man unterschied auch zu wenig zwischen den Selbst­

mördern, die ein ruchloses Leben durch eine ruchlose That beschlossen, und

denen, welche nach einem sonst ehrenhaften Leben einer ein­

maligen schweren Versuchung

erlagen; man vergaß,

daß öfter die

That mehr ein Leiden, als ein Thun des Thäters war, Geist,

vielleicht

weil

sein

ohne Wissen der Nächststehenden, von verwirrenden

Wahnbildern umnachtet wurde;

man vergaß,

daß wir alle viel zu

sehr um Gnade flehen müssen, um nicht auch für Tiefgesallene noch

beten und hoffen zu dürfen.

Aber dies herzliche christliche Erbarmen

gegen den Sünder, das von dem demüthigen Bewußtsein des eignen Unwerths getragen wird, verkehrt sich neuerdings nur zu oft in Be­

schönigung mörders

der Sünde selbst.

Gewiß: auch am Grabe des Selbst­

betendes Aufschauen zn Gottes Barmherzigkeit und Scho­

nung für den Schmerz der Leidtragenden, aber auch der volle Ernst christlicher Wahrhaftigkeit zur Warnung dem Schwachen — und wer

Sefbftiitorb.

wäre nicht schwach?

llijiirfjen bet Verbreitung.

141

Wie verkehrt der Vorwurf der Unduldsamkeit

gegen den treuen Seelsorger, der von beiden nicht lassen kann! Wie unsittlich und trostesleer, wenn man durch äußern Glanz der Trauer­

feier die Sünde zugleich zur Schau stellt und zu verdecken sucht!

Wie Ernst und Milde in wahrhaft christlichem Geiste zu vereinen sei, dafür giebt ein beachtenswerthes Beispiel die Rede Eltesters am

Grabe eines Selbstmörders (Worte der Verständigung, S. 58 f.; seht bei Ambros. Barth, Leipzig). Von Einfluß auf die Vermehrung der Selbstentleibungen

2.

ist ohne Zweifel die Steigerung der nervösen Erregtheit in

unsrer Zeit.

Immer umfassender wird der Strom des Weltverkehrs,

auf dem wir dahin treiben, immer zahlloser, wickelter,

mannigfaltiger, ver­

aufreibender werden auch die Beziehungen, Genüsse, Zer­

streuungen, Aufgaben und Anspannungen der Kräfte Leibes und der

Seele für jeden einzelnen: was Wunder, wenn Nervenüberreizungen,

erkannte oder unerkannte Geistesstörungen und Selbstmorde die Folge sind?

Man hat sogar statistisch nachzuweisen versucht, daß die Zahl

der letzteren durchschnittlich in den Tagesstunden die größte ist, in welchen auch die krankhaften Nervenerregungen am heftigsten aufzu­

treten pflegen. Das soll uns vor übereiltem Verdammen warnen, aber ja nicht verleiten, jeden Selbstmord aus krankhaften Zuständen der Nerven oder des Gehirns zu entschuldigen. Ist denn jede Reiz­ barkeit oder Neigung zur Schwermuth schon Gemüthskrankheit oder

sonst wie eine unzerreißbare Fessel für unsern sittlichen Menschen, für unsre Willenskraft? Sind nicht Versuchungen, auch die aus dem

Nervenleiden, dazu da, daß wir dagegen ankämpfen und im Kampf erstarken?

verschuldet?

Und wenn Krankhaftes vorliegt, ist alles Krankhafte un­ Wie manche leibliche und geistige Zerrüttung würde

nicht entstehen bei größerer Mäßigkeit und Bändigung der Leiden­ schaften, bei minder ungesundem Hasten nach Vergnügen,

Zerstreu­

ungen und künstlichen Ueberreizungen in unserm ohnehin schnellleben­ den Zeitalter, in welchem mehr, als je, weiser Wechsel zwischen stetiger

Arbeit, maßvollem Genuß und stiller Sammlung erforderlich ist, um Leib und Seele gesund zu erhalten!

Der Selbstmord beginnt

schon da, wo wir unsern Leib durch irgendwelche Maßlosigkeit ver­

wüsten, durch Mangel au Zucht erschlaffen lassen oder auch nur ver-

säumen, ihn durch unablässige Arbeit an uns selbst, durch Enthalt­ samkeit und Uebung der Kraft, durch Abhärtung und Vorsicht zu einem schneidigen Werkzeug für die Aufgaben des Reiches Gottes zu erziehen. 3. Tiefster Grund des Selbstmordes ist Mangel an festge­ wurzelter Frömmigkeit: das erschreckende Umsichgreifen desselben wird unleugbar dadurch begünstigt, daß in weiten Kreisen der Glaube an Gott, Jenseits und Vergeltung schwer erschüttert ist, und dem entsprechend äußeres Wohlergehen als Hauptziel des Lebens ange­ sehen wird. Wenn mit dem letzten Hauch alles vorüber ist: warum die Last des Lebens nicht von sich werfen, sobald sie die Lust über­ steigt? Wem es die Liebe zu den Seinen zuläßt, der möge dann so thun! Freilich: wenn der Glaube an die unsichtbare Welt und ihre Ideale je aufhören könnte, das Erdenleben zu verklären, so würde mit ihm die unentbehrlichste Stütze auch für die Sittlichkeit schwin­ den, und die wachsende Zahl der Selbstmorde würde nicht die einzige gefahrdrohende Krankheitserscheinung am wurzelkranken Baume der Menschheit bleiben. Wem aber der Glaube an den Gott der Liebe und an unsre Bestimmung, in sein Bild uns zu verklären, mehr, als leerer Schall ist: sollte der nicht allen Versuchungen zum Selbst­ morde gewachsen sein? Was treibt denn die Menschen dazu? Immer ist es Verzweiflung — immer eine unerträglich scheinende Lage, aus der kein Ausgang, als der Tod, sich zeigt. Hast du diese Lage selbst verschuldet, und willst du nun der Schande und Strafe entrinnen? Wie? Häufst du nicht durch deine That auf deinen Namen noch über das Grab hinaus Schande auf Schande und stürzest du dich nicht, um menschlicher Strafe zu entgehen, in den Abgrund der Gerichte Gottes? Willst du nicht viel lieber als bußfertiger Sünder zur Gnade Gottes fliehen und, indem du die äußeren Folgen deiner Sünde muthig trägst, die Rechtschaffenheit deiner Buße bewähren? Wirst du so nicht auch die verlorene Ehre wiedergewinnen, — gewiß vor Gott, vielleicht durch Ausharren auch vor den Menschen? Es wäre denn, daß du mit Judas an der Vergebung des Vaters ver­ zweifeltest, zu dem dein Heiland am Kreuze für feine Feinde gefleht hat! Oder giebst du dir selbst den Tod, um den Schmerz nicht mit ansehen zu müssen, den du durch irgend ein unheilvolles Thun den

143

-flröminiiifeit ba>3 beste Schntzuiittel gegen bcn Selbftmorb.

Deinen

Schmerz

bereitet hast?

Du Heuchler und Feigling!

Ihnen

zu bereiten, warst du stark und selbstsüchtig genug:

ihn mitzutragen, hast genug bist

du sie zu lieb?

den

und,

Bekenne vielmehr: lieblos

du, um durch den Frevel an dir selbst ihr Herzleid zu

verdoppeln, zu feige aber und selbstisch, um es ihnen tragen zu helfen und durch deine Besserung zu lindern!

ohne deine Schuld über dich?

Oder kam der Leidenskelch

So hat Gott ihn seinem Kinde zur

Erziehung für den Himmel gereicht: willst du der Schule des Vaters

entlaufen, indem du der Arznei das Gift der Sünde beimischest — der Sünde, welche die Umkehr abschueidet? — Oder wäre Selbst­ mord etwa eine That des Muths?

Ist es nicht vielmehr Feigheit, aus

oder Angst vor dem, was kommen kann, den Posten,

Leidensschcu

auf den dein Gott dich stellte, zu verlassen?

Den Heiden mochte es

Muth scheinen, einem in ihren Augen entehrenden Zustande, wie der

Gefangenschaft, wie dem Leben in dem geknechteten Vaterlande, sich durch Selbstentleibung

zu entziehen:

denn

äußere Manneswürde,

persönliche Freiheit und die des Vaterlandes waren ihnen die höchsten Aber,

Güter.

so theuer auch uns

diese Güter sind,

der Christ

kennt eine Würde, eine Freiheit und ein Vaterland, die kein Schicksal

nehmen kann, die in dem gebundenen Christus den höchsten Triumph Welche äußere Lage könnte ihn so erniedrigen, daß er diese

feiern.

nicht zu

innere Hoheit

darin

Lösung

Aufgabe und

dieser

offenbaren vermöchte?

Freilich, zur

zur Ueberwindung der mannigfachen

Versuchungen, die dabei an unser schwaches Herz herantreten können,

taugt nicht

des

Petrus Sicherheit:

„Wenn sie dich alle verlassen,

ich werde mit dir in den Tod gehen", sondern nur unablässiges Wachen und Beten und das Vertrauen,

daß Gott nicht über Ver­

mögen auflegt?) !) Es könnte anffallen, das; die Schrift den Selbstmord nicht ausdrücklich ver­

bietet.

Sie berichtet Selbstentleibnngen vom Brudermörder Abimelech (Nicht. 9, 54),

von dem

mit Gott zerfallenen Saul (1 Sam. 31, 4), von Ahitophel,

rather des aufrührerischen Absalom (2 Sam. 17, 23), (1 Kön. IG, 18)

und

vom

dem Be­

vom Königsmörder Simri

Verräther Judas (Ik'cittf). 27, 5;

vergl. Apostelgesch.

1, 15—20); sie laßt uns überall Selbstmord als die entsetzliche Frucht eines gott­ losen Wandels und als Selbstvernrtheilung erscheinen, ohne über seine Nerwerflich-

keit an sich etwas zu sagen.

Aber sie will auch kein Handbuch der Sittenlehre sein,

in welchem alle sittlichen Fragen

erschöpfend behandelt werden.

Die Verwerfung

144

1. .pmiptftiirf.

Fünftes Webot.

Von dem Selbstmorde streng zu unterscheiden ist die Selbstauf­

opferung, die in ächter Nachfolge Christi das Leben für die Brüder hingiebt.

Sie kann nah an Selbsttödtung streifen, wie etwa die That

Winkelrieds, bleibt aber daran klar erkennbar, daß sie zum Gegen­

stand und Zweck der Handlung nie den eignen Tod, sondern nur das Leben der andern, das Heil des Vaterlandes hat, und daß der eigne

Tod ihr nur der unvermeidliche Weg zn diesem Ziele ist.

Aechte

christliche Liebe drängt sich nicht ohne Noth dazu, sucht auch den

Tod nicht, sondern fleht, so lange Gott nicht klar den Weg des Todes weist, daß der Kelch vorübergehe.

Sie ist fern von jeder Eitelkeit

und darum auch von Vorwitz und Vermessenheit.

Wohl aber dem,

der, von ihr stark gemacht, Gottes Stunde erkennt und dann nicht

rückwärts blickt, sondern es bewährt:

„Wer sein Leben verliert um

meinetwillen, der wird es finden" (Matth. 16, 25). Pharisäische Oberflächlichkeit weiß sich zwar vor keiner Sünde so sicher, wie vor der wider das 5. Gebot; denn sie kennt nur das Todten mit der Hand.

Und doch sollten uns schon die Unter­

scheidungen des Strafgesetzes in Bezug auf das eigent­ liche Todten vor Sicherheit und Selbstgerechtigkeit warnen; wie

viel mehr die Auslegung Luthers und des Neuen Testaments! 1. Man unterscheidet nach dem Grade der verbrecherischen Gesin­

nung, die zur That trieb: 1) unvorsätzliche und unverschuldete Tödtung, in der also kein Verbrechen, sondern nur ein Unfall vor­

liegt, 2) fahrlässige d. h. unvorsätzliche aber durch Fahrlässigkeit verschuldete Tödtung, 3) den Todtschlag, d. h. vorsätzliche, aber nicht

vorher überlegte Tödtung, 4) Mord, d. h. vorher überlegte Tödtung. Zum Morde gehört sicherlich ein entsetzlicher Grad der Herzenshärtigkeit. Dennoch ist mancher zum Mörder geworden, von dessen Er­

ziehung und ursprünglicher Gemüthsart es niemand erwarten konnte:

aber er zog irgend eine Leidenschaft — Rachsucht, Haß, Eifersucht, Ehrgeiz, Herrschsucht im Busen groß, bis sie alles Bessere in ihm verschlang.

Wehe darum dem,

der nicht jede seiner Leidenschaften

des Selbstmordes liegt schon im 5. Gebot selbst, besonders in 1 Mos. 9, 6 (Men­

schenblut ist mich das eigne Blut), Neuen Testaments von Eigenthum.

der

und vor allem in der ganzen Auffassung des

Bestimmung

des Menschen

als Gottes Kind

und

Ausleqnnq Vntljers mib des Nellen Testaments. in den kleinsten Anfängen bewacht!

145

Wie leicht reißt sie sonst auch

den Edlen, wenn nicht zum kühl geplanten Mord, so doch in einem unseligen Augenblick zu dem fort, was er wenige Minuten nachher

um tausend Welten ungeschehen machen möchte.

Wie bald belastet

sich vollends auch des Harmlosesten Gewissen mit fahrlässiger Tödtung! Wie zahlreich sind die Bundesgenossen Mangel an Gewissenhaftigkeit,

derselben von dem kleinsten

dem Leichtsinn beim Schließen des

Ofens und beim Umgehen mit Maschinen bis zu der Leichtfertigkeit,

die anvertraute Kinder verwahrlost oder mit der Mordwaffe spielt, bis zu der Habsucht, die gesundheitsschädliche Nahrungs- ober Arznei­ mittel feilbietet ober bie Arbeitskraft bes Nebenmenschen gewissenlos

ausbeutet'). 2. So führt uns schon bas Tobten im buchstäblichen Sinne mitten hinein in Luthers „Dem Nächsten an seinem Leibe keinen

Schaben noch Leib thun". „Helfen unb Färbern in

Aber wie viel tiefer noch greift sein

allen Leibesnöthen"! — Hier wirb zum

Tobtschläger nicht nur, wer unmittelbar ober mittelbar unb allmählich

bes Nächsten Leben unb Gesunbheit schäbigt, sonbern auch, wer es

nur an Fürsorge für Untergebene unb Schutzbefohlene ober an Liebes­

rücksicht unb Erbarmen fehlen läßt--).

Ja, bie Versäumniß kann vor

Gott verbammlicher sein, als selbst ber Angriff auf bes Nächsten

Leben in ber Erregung bes Augenblicks; benn sie kann von bleiben« berer Verhärtung bes Herzens zeugen.

Unb

bas Herz ist es boch

zuletzt, bas allein alle Gebote hält unb übertritt. fürchten unb lieben unb baburch

Das muß Gott

bie unheiligen Triebe, bie, über­

mächtig geworben, enblich bie Haub zum Morbe waffnen, in ihren verborgensten Keimen austilgen; bas muß Zorn, Haß, Rachsucht iu

Liebe — selbst zum Feinbe — wanbeln unb so im vollen Sinne

helfen unb förbern lernen.

So erst halten wir bas 5. Gebot nach

ber Auslegung Luthers unb bes Neuen Testaments: benn, „wer seinen Bruber hasset, ber ist ein Tobtschläger. — Wenn aber jemanb

bieser Welt Güter hat unb schließt sein Herz vor beut barbenben Bruber zu: wie bleibet bie Liebe Gottes bei ihm?" (1 Joh. 3,15.17).

„Wer mit seinem Bruber zürnet,

ber ist bes Gerichts schulbig": so

') Jak. 5, 4. ■) Jes. 58, 7; Matth. 25, 34-4G; Luk. IG, 10f. (Ältester, Materialien.

2. Auflage.

1. Hauptstnck.

146

Fünftes Giebnt.

weist uns, allen voran, Jesus von der pharisäischen Scheingerechtig­ keit, die nur das Todte» mit der Hand meidet, in die Tiefen des

Herzens.

Doch bedarf dieses überaus lehrreiche Wort (Matth. 5,

20—22) des Folgenden wegen der Erläuterung: Könnte es doch da­

nach so aussehn, als führe uns der Herr von dem Quellpunkt des

sittlichen Lebens, der Gesinnung des Herzens, sofort wieder auf ein ebenso Aeußerliches,

wie die That, nur ein für die sittliche Beur­

theilung minder Entscheidendes — auf das kränkende Wort zurück: „Wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha, der ist des Raths schul­ dig; wer aber sagt: du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig" —

also der Zorn macht zwar schon schuldig „des Gerichts", d. h. der

Strafe, welche die Gerichte in den kleineren jüdischen Landstädten (5 Mos. 16, 18) verhängen

konnten,

der Todesstrafe

durch

das

Schwert; aber das Rachasagen verwirkt die noch schwerere Strafe

des (hohen) Raths zu Jerusalem, die Steinigung'); das „Du Narr"

vollends das höllische Feuer!

Erklärt nicht hiernach Jesus

zwei

einzelne, überdies scheinbar willkürlich herausgegriffene Worte „Racha" und „Du Narr" für noch verdammlicher, als den Zorn, und unter den beiden wieder eines (du Narr) für das verdammlichste?

Zu­

nächst ist zu erinnern: So gewiß Wort und That nur als Ausdruck

irgend einer Gesinnung ein Urtheil über unsern sittlichen Werth be­

gründen, so wenig sind sie für unsere sittliche Entwicklung bedeutungs­ los.

Die gethane That, das gesprochene Wort gleichen dem Pfeil,

der, einmal abgeschnellt, durch keine Reue des Schützen zurückgerufen

wird, er wird ausrichten, was Herz, Auge, Hand ihm mitgab: Rede wird Gegenrede, That Gegenthat, Windsaat Sturm ärnten und auf

Sprecher und Thäter, zu immer neuer Sünde versuchend, zurück­ wirken.

„Das ist der Fluch der bösen That (auch des bösen Wortes),

daß sie fortzeugend Böses muß gebären."

Bor Gott verdammt nicht

minder, als die ruchlose That, der Vorsatz, den nur ein äußeres Hinderniß nicht zur Ausführung kommen ließ.

Dennoch, wem durch

Gottes Gnade im entscheidenden Augenblick das Mordgewehr ver­ sagte, er kann noch den heißen Kampf mit seiner Sünde zwischen

') Jesus bezieht sich auf die Verhältnisse vor Ankunft der Miner, diese nahmen

den Juden das Riecht über Velten und Tod.

Jesu Auslegung Matth. 5, 20—22.

sich und seinem Gott allein

147

ausringen: Das Blut ist noch nicht

zwischen ihm und der Welt und seinem Gott.

Aber, der des Feindes

Herz traf: — der furchtbare Finch schon allein im Bewußtsein des Mordes wird fortan seine Bahn bestimmen; wohl ist Gottes Gnade

auch in

diesem Fluch ihm nahe, wenn er, dadurch erschüttert, mit

dem blutbefleckten Gewissen unter das Kreuz tritt:

„Herr gedenke

mein!" Aber wie entsetzlich schwer, den Abgrund zwischen sich und der Menschheit und Gott zu überbrücken! Wie schwer oft schon, die Kluft

zu schließen, die durch ein übereiltes Wort zwischen uns und dem Bruder sich öffnet! Ebendeshalb will Jesus mit seiner scharfen Verurtheilung des „Racha" und „du Narr" zuvörderst vor jedem raschen

Zufahren mit kränkender Rede warnen.

Sodann aber ist doch das

heftige und heftigere Wort — geschweige die vorschnelle That — ein

Gradmesser

der Leidenschaft im Herzen; und selbstverständlich nur

diese, den im Worte sich Luft machenden gesteigerten oder gar schon

zum Haß verhärteten Zorn, nicht diesen oder jenen Schall verurtheilt Jesus: „Racha", ein Wort aus dem Aramäischen

oder Syrischen,

der damaligen jüdischen Umgangssprache, heißt „leer" und als Schelt­

wort „Hohlkopf, Nichtsnutz", vielleicht mit Beziehung auf Eitles, Wahnhaftes in der Religion: „Jrrlehrer", ähnlich unserm Ketzer.

Das Wort gab also leidenschaftlichem Haß, vielleicht dem geheimen

Wunsche Ausdruck, den Gegner vor den hohen Rath zu bringen, der über religiöse Verbrechen zu entscheiden hatte.

kläger selbst des hohen Raths schuldig! der an

Deshalb der An­

„Du Narr" bedeutet nach

sich tief frommen hebräischen Auffassung, welcher Thorheit

und Gottlosigkeit als eins gilt:

„Du Gottloser,

Gottverdammter

— der Hölle Verfallener!" — spricht also dem Bruder die Seligkeit ab und drückt den Haß aus auch über das Grab hinaus. Deshalb

der also Verdammende selbst (noch heut zur Warnung für alle Un­ versöhnlichkeit und — religiöse Verdammungssucht)

des höllischen

Feuers schuldig! Für den wirklichen Todtschlag, den Mord, mit dessen Vermeidung der Pharisäer sich schon so viel wußte, hat Jesus

gar kein Strafmaß mehr, nicht einmal — ein Wort.

Den Kern

der ganzen Stelle veranschaulicht uns am besten unser Luther, indem er (7. 644 — Ausg. v. Walch; Halle, 1747) aus Christi Sinn

heraus fragt: „Was heißt „du" (sollst nicht tobten) —?" und ant10*

I. .wniptftikf.

148 »ortet:

Fünftem Gebot.

„Nicht allein deine Hand noch Fuß noch Zunge noch ein

ander einzeln Glied, sondern alles, was du bist an Leib und Seele.

— So manch Glied du hast, so mancherlei Weise zu tobten, es sei

mit der Hand, Zunge, Herzen ober Zeichen und Geberden') — das mit den Augen ober mit den Ohren, wenn

nicht vergönnen

Leben

dn nicht gern hörest von ihm reden, das heißt alles getöbtet."

Und

noch beschämender für alle Selbstgerechtigkeit wendet er es (3. 1868)

mit Bezug

auf einen

verflachenden Zusatz

in

einer

griechischen

Handschrift, wonach der Herr gesagt hätte: „wer mit seinem Bruder

ohne Ursach zürnet" (also, ohne daß ihn jemand beleidigt hat), der erst

sei

des

Gerichts schuldig.

Von Leuten, die Christum so ver­

ständen, urtheilt Luther, sie wüßten noch nicht einmal, daß alle Ge­

bote

auf die Zeit nicht sowohl der Ruhe, sondern der Anfechtung

und Prüfung gingen, der Gewalt

der

damit der Mensch seine Ohnmacht gegenüber

Sünde

erkenne und

„nach

der

Gnade erseufze,

die ihm helfe; denn es könne der Mensch hier den Zorn und Unge­

duld ohne die Gnade nicht lassen". — Und doch kommt Christi Aus­ legung des 5. Gebots in der bloßen Verwerfung des Zorns noch gar nicht zur vollen Geltung, sie gipfelt vielmehr in der Forderung der

Feindesliebe; diese erst macht uns zu Kindern des Vaters, der seine Sonne über Gute und Böse aufgehen läßt (Matth. 5, 44f.).

Ja,

Luther hat Recht: „daß dies gar ein tiefes Gebot ist; und mag es

niemand ohne die Gnade Gottes erfüllen" (3. 1855). Aber haben wir denn gar kein Recht, zu zürnen?

auch

Jesus

rechtigt ist

Spricht nicht

zürnende Worte wider die Pharisäer? — Gewiß, be­

der

heilige Zorn, „der liebe Zorn", wie Luther ihn

nennt (7. 643), „der niemand kein Böses gönnt, sondern der Person

Freund, aber der Sünde feind ist."

Doch, wie leicht auch er, un­

bewacht, „ein Deckel" und Ausgangspunkt für den selbstischen, nicht ') Luther spielt hier auf Augustins Erklärung des Wortes Racha au, wonach e-s gar feilt Wort, sondern ein Naturlnut zum Ausdruck des Zorns wäre. Au­ gustin stützt sich dabei auf das Urtheil eines Ebräers. Luther sagt hierüber

(3. 1854): „Das Wort Racha findet man in allen Sprachen; denn, wenn wir Deut­ schen uns erzürnen, so schnauben wir und schnarchen mit dem Halse." Diese Aus­

legung, der sprachlich allerdings die oben gegebene vorzuziehen sein möchte, gäbe die sinnvolle Steigerung vom Todten mit dem zürnenden Herzen zu dem mit der

zornigen Geberde (Racha), bis zu dem mit dem gehässigen Worte (dn Narr).

Der heilige Zorn.

Deo Christen Vergeltung (Röm. 12, 19—21).

rettenden, sondern verheerenden

zeigt

149

und verzehrenden Zorn wird, das

der Todtschlag des Moses im heiligen Eifer um sein Volk

(2 Mos. 2, 12); das erfahren wir nur zu oft an uns selbst, wo wir es im Kampfe für die edelsten Güter, Recht, Glaube, Vaterland oder bei unserm Einwirken auf andere am treusten zu meinen glau­

ben, wenn wir uns nicht fort und fort erinnern:

„Sei schnell zu

hören, langsam aber zu reden und langsam zum Zorn; denn des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht ist" (Jak. 1,19. 20),

und: „Lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen!" (Eph. 4,26).

Mit dem Unterschied

zwischen dem heiligen und unheiligen

Zorn hängt auf das innigste die Frage zusammen, ob denn der

Christ gar kein Anrecht auf Vergeltung habe.

Nichts liegt dem

Menschen so tief im Blute, als „das Auge um Auge, Zahn um

Zahn".

Wir wissen, wie scharf dem Jesus in mannigfachen Wen­

dungen entgcgentritt von dem „Nicht 7 mal, sondern 70mal 7 mal

vergieb" (Matth. 18, 21 f.) bis zu dem „Segnet, die euch fluchen" und dem Darbieten des andern Backens dem,

der dich auf den

rechten Backen schlägt (5, 38f.): aber giebt es denn durchaus nichts Be­ rechtigtes in diesem Vergeltungstriebe?

Höchst lehrreich ist in dieser

Beziehung das Wort Pauli Röm. 12, 19—21: Nicht selbst sollen wir

uns rächen, sondern dem Zorn — nach der Mehrzahl der Ausleger: dem Zorn Gottes Raum geben; sein allein sei die Rache.

Schon

gewinnt es danach den Anschein, als empfehle der Apostel, sich selbst der Rache zu enthalten, damit Gott uns um so sicherer räche.

Aber

wie übel stimmt zu diesem Auskunftsmittel verfeinerter Rachsucht die Schlußmahnung, den hungernden Feind zu speisen, dadurch feurige

Kohlen auf sein Haupt zu sammeln und das Böse mit Gutem zu überwinden!

Gottes Zorn ist ja nicht der Verderben sinnende

des Menschen, sondern der Zorn des Vaters, der, um den Sünder

zu retten,

die Sünde bekämpft, bekämpft auch durch

die ewige

Ordnung, wonach Sünde Fluch ärntet, also auch durch 'Vergeltung,

aber viel lieber durch Vergebung.

Um diesem Urbilde des heiligen

Zorns für sein Nettungswerk Raum zu lassen, sollen wir unseren un­

heiligen überwinden.

Dadurch wird allerdings ein berechtigter Kern

in unserm Vergeltungstriebe anerkannt: In dem triumphirenden Be­ leidiger siegt äußerlich die Sünde, der Kränkende hält sich wohl gar

150

1. Hauptstück.

Fünftes Gebot.

selbst für den Gekränkten und erscheint oft auch der Welt als solcher.

So wird der wirklich Gekränkte, Verfolgte ebenem in's Unrecht ge­ stellt, und in ihm zugleich das Recht, die Wahrheit, vielleicht sogar

Glaube und Evangelium, um dessen willen er leidet.

Geschieht uns

das, so dürfen, ja so müssen wir nm der guten Sache, wie um des Beleidigers willen wünschen,

daß die Sünde endlich auch äußerlich

überwunden, und Recht, Tugend, Wahrheit auch als solche erkannt

werden, erkannt werden auch von dem Beleidiger,

damit er in sich

gehe, vor allem aber, damit Gottes Reich Recht behalte. Wodurch kann

das erreicht werden? Weder durch Wiedervergeltung und Verbitterung — das hieße sich vom Bösen überwinden lassen — noch durch viel

Schelten und Pochen auf sein Recht — das verschließt nur des Nächsten Herz —: sondern zuvörderst durch ernste Selbstläuterung

von aller eignen Schuld und allem, was in uns noch den Sieg des Guten aufhält; sodann durch die Liebe, die feurige Kohlen auf des Widersachers Haupt sammelt, d. h. ihm durch Wohlthat weh' thut,

sein Gewissen überführend und also eine Rache übend nicht zum Verderben, sondern zum Leben; endlich — auch wenn des Nächsten Herz hart bleibt — durch Stillesein und Harren auf den Herrn, der

doch zuletzt den Sieg behält, und mit ihm, wer im Glauben an den Triumph der Liebe und Wahrheit durch Liebe, Geduld und Sanft-

muth das Böse überwindet.

Wer das thut, der hält das 5. Gebot

recht, denn er arbeitet mit an dem Sieg des Lebens über den Tod.

Das sechste Gebot

hat das Heiligthum der Ehe zum Gegenstände.

Was ich über die­

selbe zu sagen habe, fasse ich in 4 Punkte zusammen:

1. Die Ehe ist ein „heiliger, von Gott selbst eingesetzter" Stand'). Und zwar ist sie nicht bloß ursprünglich einmal von ihm eingesetzt und gewissermaßen von ihm selbst eingesegnet: sondern sie ist noch

heute die von Gott geheiligte Grundlage aller menschlichen Ordnung, ’) Vergl. das Trauformular der preuß. Agende.

Heiligkeit, Bestimiimng iiitb sittliche Gnuldtageu bei* Ehe (Monogamie).

151

die unveräußerliche Bedingung aller wahrhaft menschlichen Entwick­ lung. —

Nicht die bürgerliche, nicht die kirchliche Gemeinschaft vermögen zu bestehen, wo die Ehe nicht heilig gehalten wird.

die häusliche Tugend der Römer schwand. Volk untergegangen,

Rom sank, als

Dagegen ist noch nie ein

dessen Frauen tüchtig waren.

Die erziehen

Männer, die senden Krieger in den Streit: da weiß der Gatte, der

Sohn, der Bruder, wofür er sein Blut vergießt. Nicht minder beruht das Gedeihen der Kirche auf der frommen Zucht der Hauswesen. Was frommt aller kirchliche Apparat, was

helfen alle Predigten, wenn das Leben im Hause vernichtet, was in dem Gottesdienste angesamt ist?

Vor allem für den Erfolg des

Jugendunterrichts ist das Haus von der äußersten Wichtigkeit.

Es

läßt sich geschichtlich nachweisen, daß fast alle wahrhaft großen Männer

fromme Mütter gehabt haben.

„Wer das Reich Gottes nicht empfängt

als ein Kindlein, wird schwer in dasselbe hineinkommen": dies Wort, das ursprünglich allerdings in einem andern Sinne gesprochen ist, behält auch nach dieser Richtung hin seine Wahrheit (Mark. 10, 15). Endlich wird — mit seltenen Ausnahmen — auch der einzelne

nur in gottwohlgefälliger Ehe ein voller Mensch.

Die Ehe ist mit

nichten nur zu gegenseitiger Hülfsleistung und, was dem ähnlich ist, sie ist vor allem zur Ergänzung und Vollendung des einen durch den

andern da.

Mann und Weib sind für einander geschaffen, daß der

Mann vom Weibe die Sitte und, was wohllautet, und das Verständ­ niß für das Individuelle, das Weib vom Manne, was Recht ist, und den Gemeinsinn und die Tapferkeit lerne, beide aus der Einseitigkeit und aus der Verzerrung, zu welcher diese führt, sich zur Fülle ihres

Urbildes entwickeln und schließlich für den Himmel reifen. Diese hohe Bestimmung kann die Ehe nur in derjenigen Ge­ stalt erreichen, in der sie von Gott eingesetzt ist: ein Mann und ein Weib zu einer unauflöslichen Einheit verbunden.

Jede Abweichung

von dieser Gestalt der Monogamie, sei es Vielweiberei, sei es vor­

übergehende Verbindung zwischen Mann und Weib, zieht die Ehe von ihrer Höhe herab und ist die Quelle schwerster sittlicher Verderbniß. Und darf man sich da nicht auf die Patriarchen und andere Heilige des

A. Bundes berufen, von denen erzählt wird, daß sie in Mehrweiberei

gelebt: und bereu übel verstandenes Beispiel einst Luther» in einen verhängnißvvllen Irrthum geführt hat(vergl. sein Gutachten, betreffend die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen). — Im Gegen­ theil beweisen die gleichfalls berichtete Verstoßung Hagars mit ihrem Sohne, der Bruderzwist in Jakobs Familie, die furchtbare sittliche Verwüstung in Davids Hause — sämmtlich Folgen her Mehrweiberei — welch ein Fluch von je an auf dem Abfall von der ursprünglichen Einsetzung Gottes gelegen habe. Die göttliche Einsetzung des heiligen Ehestandes wird gleicher­ weise mißachtet und verkannt von denen, welche die Ehe verbieten oder sonst grundsätzlich von ihr ferne bleiben, wie von denjenigen, die in sie treten, ohne die Bedingungen zu erfüllen, an welche sie geknüpft ist. Das erstere geschieht bekanntlich in der römischen Kirche, welche nicht bloß ihren Priestern die Ehe unbedingt untersagt'), sondern auch allen übrigen Christen Ehelosigkeit (den Cölibat) als ein Mittel und eineStufe höherer christlicher Vollkommenheit empfiehlt. Damit hat dieselbe, trotzdem sie der Ehe den Titel eines Sakraments ver­ leiht, dieser den Makel aufgedrückt, ein Hinderniß der Vollkommen­ heit und nur für ordinäre Christen, die die Keuschheit nicht zu be­ wahren vermögen, bestimmt zu sein. Aber die römische Kirche hat auch noch nie erkannt, weder was Ehe, noch was Keuschheit ist. — An der Heiligkeit der Ehe versündigen sich auch die, welche leicht­ fertig in dieselbe treten, ohne die für sie gestellten Bedingungen zu beachten. Solche unerläßlichen Bedingungen sind: 1. Leibliche und geistige Reife. Die Ehe ist für Männer und Weiber („ein Mann und ein Weib"), nicht für Unreife, die noch der Erziehung bedürfen, für halbe Kinder eingesetzt. „Jung gefreit hat — schon viele — gereut." Es ist ein Unglück, wenn Burschen, die kaum der Lehre entlaufen sind, heirathen. Vollends ist das Tändeln mit Liebe und Verlöbniß der Mädchen, die besser noch in die Schule gehen, ein Frevel an der Ehe und ein Ruin ächter Weib­ lichkeit. — ') Es ist ein eigenthümliches Schicksal der Kirche, ivelche den Priestercölibat

für einen ihrer unentbehrlichsten Pfeiler hält, das; ihr angeblicher erster Bischof Petrus sammt andern Aposteln verheirathet war (Matth. 8, 14; 1 Kor. !), 5).

Sittliche (Mrnnbhiqen der Ehe.

Cölibat.

153

2. Wer einen Hansstand gründen will, muß ein „Hans" haben, wer ein Weib heimführt, es ernähren können.

Bettelehen sind Sünde.

Auch sonst soll, wer nicht eine Ehe zu führen vermag, nicht in die Ehe treten.

3. Weil der Mensch, wenn er in die Ehe tritt, Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen muß, so soll er nicht eher in die Ehe treten, als bis er Vater und Mutter und, wer sonst an ihn

gewiesen ist, mit gutem Gewissen verlassen kann. vielen Ehen

trotz

Darum ist in so

Vater- und Muttersegen kein Segen, weil

das

Seufzen verlassener Eltern gegen die undankbaren Kinder schreit.

4. „Ehen

werden

im Himmel geschlossen."

Zur rechten Ehe

gehört das sichere Bewußtsein, nicht bloß, daß die Ehe im allgemeinen, sondern daß diese bestimmte Ehe Gott wohlgefällig sei; daß er es

sei, der die beiden zusammengeführt habe, und daß sie in dieser Ver­ bindung Heiligung des Herzens und Friede der Seele finden wer­

den.

Wo dieses Bewußtsein, Glaube an Gottes Fügung und Glaube

an die Liebe, die Treue, den sittlichen Werth, die Zusammengehörig­ keit mit dem anderen Theile fehlt, da allerdings ist „Nichtfreien besser, als Freien"').

Achtung, hohe Achtung vor denen, welche auf den

Ehestand verzichteten, weil sie diese Zuversicht nicht zu gewinnen ver­ mochten, oder auch trotz derselben dem Zuge ihres Herzens nicht fol­

gen konnten, ohne ihre Kindespflicht oder sonstige heilige Verpflich­ tungen zu verletzen.

Sie werden nimmer von der äußerlich und

innerlich schiefen Stellung und von der fast nie ausbleibenden geistigen J) Bergt. 1 Alot. 7, 8f. und 26 f. — Die unverkennbare Abneigung des Apostels Paulus gegeu die Ehe hängt offenbar mit der Erwartung der baldigen Wieder­ kunft Christi nnd der als ihr vorausgehend gedachten Umwälzungen zusammen, denen gegenüber die Knüpfung neuer Fannlienbande als unnütze Erschwerung der Trübsal erschien (v. 28. 29). Doch hat keiner mehr, als Paulus, für die Hebung

der Franenwürde mit) die ideale Auffassung der Ehe gewirkt (Gal. 3, 28; Eph. 5, 22s.); wie er denn auch gerade 1 Kor. 7 jeden Schein ausschließt, als mache er die Ehelosigkeit zu einem Gebot (v. 25 u. a. m.). Vollends wird es 1 Tim. 4, 2. 3 lüs besonderes Merkmal der Lügenredner, die in ihrem Gewissen gebrandmarkt sind, angeführt, daß sie verbieten, ehelich zn werden. Gegen den Priestercölibat oergl. 1 Tim. 3,2 (es soll ein Bischof sein — eines Weibes Mann). Die griechische Kirche versteht diese Stelle fälschlich so, als werde dem Bischof dadurch die zweite Ehe nach dein Tode der ersten Fran verboten, weshalb sie ihren Priestern nur die erste Ehe gestattet.

1. Hcmptstück. Sechstes Gebot.

154

Verkümmerung getroffen werden,

welche sich an willkürliche, durch

Hoffart, Selbstsucht oder Scheu vor dem Ernste der Ehe herbeige­ führte Ehelosigkeit zu heften pflegt.

Solchen, aber auch nur solchen

gilt vielmehr die Verheißung, welche der Herr in das Wort gelegt hat, daß es etliche gäbe, die sich „um des Himmelsreichs willen" der

Ehe enthielten (Matth. 19, 12).

An das in die Klöster Laufen und

das Verdienst der Möncherei und Nonnerei hat er dabei nicht gedacht.

II. Der Ehebund ist ein Abbild des Bundes zwischen Christus und der Gemeinde (Ephes. 5, 22—33). Im Alterthum war das Weib geringgeachtet, so daß bei den Juden darüber gestritten werden konnte, ob die Weiber Seelen hätten.

Die Frau war durchgängig

des

Mannes Magd; höchstens galt sie etwas als die Mutter seiner Kin­ der, der künftigen Erben und Bürger. — Das Christenthnm, wie

es die ursprüngliche Heiligkeit der Ehe hergestellt und ermöglicht hat, hat auch die Stellung der Fran wesentlich geändert: das Weib auch Gefäß der Gnade und dem Manne ebenbürtig.

Der Mann nicht

mehr Herr, sondern Haupt, Rath, Trost, Schutz, Priester seines Weibes und seines Hauses, wie Christus ist das Haupt der Gemeinde, und

„er ist seines Leibes Heiland".

So soll auch der Mann sein Weib

erlösen von aller Furcht und Aengstlichkeit und allem peinlichen, klein­ lichen Wesen und es zur freudigen Gefährtin und Gehülfin seines

Wirkens erheben.

Seine „Häupterschaft" beruht dem Herrn nach in

der Liebe, mit welcher er sein Leben — seinen Eigenwillen, seine Launen — darangiebt für sein Weib und sein Haus, mit welcher er

des Weibes und des Hauses Heiligung wirkt, daß sie herankommen zu der Reinheit und Schöne, zu der Christus sie berufen hat und sie, wie die gestimmte Gemeinde,

emporführt durch sein reinigendes

Wort. — Gleicherweise soll die Frau den Mann heiligen (1 Petr. 3, 1 f.). Sie soll dem Manne unterthänig sein, nicht nach Herrschaft trachten, nicht streitsüchtig sein, sondern mit sanftem und stillem Geiste „ohne Wort" durch keuschen Wandel und Entfaltung der Herrlichkeit

ihres inwendigen Menschen bei äußerer Einfachheit und Prunklosigkeit den Mann für das Höhere, Reinere, Sittige gewinnen und auch dem, „welcher nicht glaubt an das Wort" (a. a. £>.), eine so gewal­

tige Predigt sein, wie sie kein Prediger an ihn bringen könnte. Kurz: Der Mann des Weibes Haupt — die Ordnung bleibt unverrückt —,

Die christliche Ehe. NimilflöSlichkeit der Ehe (Scheidung).

155

aber das Weib des Mannes und des Hauses Herz, „Krone," Zier, und beider gemeinsames Ziel das Heil im Herrn.

Das ist die

christliche Ehe d. h. die rechte, durch das Christenthum erlöste und geheiligte Ehe: welche den Menschen berechtigt und das „Geheimniß"

löst, daß „ein Mann Vater und Mutter verläßt und an seinem Weibe hängt und die beiden fortan ein Mensch sind" (Matth. 19, 5. 6;

1 Mos. 2, 24).

Wo man dagegen nur um „des Fleisches Lust und

der Augen Lust und des hoffärtigen Lebens" willen (1 Joh. 2, 16),

d. i. nur aus sinnlichem Wohlgefallen oder um des bloßen Fort­ kommens oder des Ranges, Standes, Geldes willen heirathet, da ist

die Ehe entwürdigt und unter Umständen das nichtswürdigste, was ein Mensch, Mann oder Weib, thun kann, und wenn alle Priester der Welt ihren Segen darüber sprächen. III. „Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden" (Matth. 19, 3f.).

Die Ehe soll, und eine rechte Ehe —

und jede Ehe soll eine rechte sein — kann nie wieder geschieden

werden. — In der Ehe sind die zwei ein Mensch geworden. Mögen darum immerhin andere Verbindungen der Menschen, selbst die engsten, gelöst werden, wie denn selbst Eltern die Kinder von sich fort und über sich hinaus zur Selbstständigkeit erziehen, und die Kinder die Eltern zwar nimmer vergessen noch vernachlässigen dürfen, wohl aber

„verlassen" und ihre eignen Wege gehen müssen: der Ehebund kann nie ohne Sünde des einen oder des anderen, in der Regel aber beider Theile gelöst werden.

Nur der Tod oder, was demselben schlechthin

gleichkommt, löst die Ehe ohne Verschuldung der Betheiligten auf. Aber wie trotz des 5. Gebots ein Mensch unter die Mörder fallen und getödtet werden kann und in diesem Falle begraben wer­ den muß: so tritt faktisch auch in mancher Ehe in Folge der „Her-

zenshärtigkeit" der Menschen eine solche Verwüstung und Todtschlag

des innersten Wesens der Ehe ein, daß nichts übrig bleibt, als sie, damit nichts Aergeres geschehe, vollends die Verwesung nicht um sich greife, gleichfalls „begraben" oder aus der Welt schaffen.

Selbst­

verständlich, daß in solchen Fällen alle, die es angeht, die Familie,

die Gemeinde, der Richter, alles nur irgend Mögliche versuchen wer­

den, die kranke und verwundete Ehe zu heileu.

Wie schon Moses,

um die bereits von ihm gemißbilligte und nicht gewollte Ehescheidung,

I. Hauptstück,

156

die er aber bei der Sitte

sechstes Gebot.

des Orients und bei der Verwilderung

seines Volkes nicht ganz verhindern konnte, so viel wie möglich zu

erschweren und Zeit und Raum für ruhige Besinnung und mahnen­

den Zuspruch zu gewinnen, überhaupt die arg verwüsteten ehelichen Verhältnisse zu regeln, die Verordnung wegen des „Scheidebriefes"

gegeben hat (Matth. 19, 7. 8; 5 Mos. 24, 1).

In viel höherem Grade

soll unter uns christlicher Ernst und christliche Liebe das Aenßerste thun, Ehescheidung zu verhüten.

Ist dieses allseitig geschehen, dann

trifft diejenigen, welche schließlich bei „Herzenhärtigen" die Lösung der Ehe auszusprechen haben, ebenso wenig eine Schuld, als bei Ver­

sündigungen gegen das 5. Gebot diejenigen eine Schuld trifft, welche

dem Erschlagenen, den sie vergebens am Leben zu erhalten und zu heilen gesucht haben, schließlich den Todtenschein ausstellen und ihn bestatten.

Um jedes Mißverständniß zu vermeiden und das Wort Christi voll verstehen zu lehren, ist noch ausdrücklich auf den Unterschied auf­ merksam zu machen, der zwischen der Mosaischen Einrichtung und

der bei uns gültigen stattfindet: daß nämlich dort der Mann sich von seinem Weibe schied,

sie,

wenn er ihr nur den Scheidebrief gab,

(was zu Jesu Zeit kaum noch einem Weiterung und Mühe veranlaßte),

jeder Zeit lediglich nach seinem Ermessen entlassen oder „verstoßen" durfte; bei uns dagegen der Bestand der Ehe jeder persönlichen Will­

kür sowohl des Mannes,

wie des Weibes,

entzogen ist

und die

Scheidung immer nur vom Richter nach mannigfaltigen Vorverhand­ lungen ausgesprochen werden kann. Bis hieher gehen die evangelische und die katholische Kirche in

ihrer Behandlung der Ehe und in ihrer Beurtheilung der Eheschei­ dung zusammen.

Beide mißbilligen die Ehescheidung, wie jeder sitt­

liche Mensch es thut; beide müssen um der noch nicht überwundenen Herzenshärtigkeit willen trotz ihrer Mißbilligung sie zulassen. Da­

gegen gehen sie auseinander hinsichtlich

der Wirkung,

welche sie

einer ordnungsmäßig ausgesprochenen Ehescheidung zuschreiben.

Die

katholische Kirche lehrt, die Ehescheidung scheide die Ehe nicht ganz,

sie hebe wohl den „Bund", aber nicht das „Band" auf, und traut demnach auch rite geschiedene Ehegatten nicht, so lange der abge­ schiedene Theil lebt: dann aber unbedenklich, unangesehen die sittliche

Beschaffenheit unb die möglicherweise große Schuld, welche der über-

Ehescheidung.

Form der Eheschließlmg (kirchliche und bürgerliche).

157

lebende Theil an der Scheidung seiner Ehe hat. — Für besondere

Fälle, wie z. B. bei der Ehe des Kaisers Napoleon mit Josephine»,

und ähnlichen hat sie noch die Aushülfe, daß sie dergleichen Ehen, um mancher Gründe willen, als einer unterlassenen Formalität wegen oder wegen „zu naher Verwandtschaft" für „nichtig" erklärt und

dann dergleichen Ehegatten als solche, die »och gar nicht verheirathet

gewesen, sofortige Wiederverhcirathung gestattet.

Sie beruft sich für

ihre Praxis, d. h. für den ersteren Theil derselben,

denn für den

zweiten möchte es schwer werden, Schriftgründe beiznbringen — auf IKor. 7, IO. 11.

Die evangelische Kirche sieht die Ehescheidung, die ja ihrer Lehre

nach nie eher eintreten soll, als bis der Nachweis von der innerlichen Vernichtung der betreffenden Ehe geführt ist, als volle Lösung an; und traut demuach den unschuldig abgeschiedenen Theil sofort, den

schuldigen dagegen erst, nachdem er Gewähr gegeben, daß er sich ge­ bessert habe.

Wohl kennt sie Matth. 5, 31. 32, desgl. 1 Kor. 7, 10.11.

Aber sie weiß auch Joh. 6, 63 und 1 Kor. 7, 12—16. Die evangelische Kirche denkt über die Ehe sittlicher, als die

römische.

Sie will nicht, was eine Lästerung auf die Ehe ist, noch

für eine christliche Ehe ausgeben; ebenso wenig Ehen nach Aufhebung

jeder Lebensgemeinschaft zwischen den „von Tisch und Bett" geschiedenen Ehegatten oder — nach Luthers Ausdruck — „gemalte Ehen" für wirkliche Ehen halten. — Und sie verfährt wahrhafter.

Sie giebt

nicht vor, wie die römische Kirche, Ehen, wie die erwähnte Napoleons u. a., welche dieselbe für nichtig erklärt, seien keine Ehen gewesen;

sondern sie sagt, wenn sie scheidet, geradeheraus: diese Ehe war eine

Ehe und hätte eine rechte Ehe werden können und sollen; jetzt ist sie durch Schuld der Menschen vernichtet. Gott gebe den Frevlern Buße. — IV. Die Ehe soll nicht nur innerlich allen Erfordernissen ent­ sprechen, sondern auch äußerlich zur Anerkennung gebracht werden. Religion und Sittlichkeit verwerfen heimliche Ehen, und die christliche

Kirche hat dieselben von je an gemißbilligt.

Der Mann soll sich

zu seinem Weibe, das Weib zu ihrem Manne vor Gott und Menschen bekennen. — Die Form, durch welche die Ehe bei uns öffentliche Anerkennung

und rechtliche Gültigkeit erlangt, ist die Trauung.

Dieselbe hat zwei

158

1. Hcmptstiick.

Sechstes Gebot.

Seiten, eine religiöse, sofern der Geistliche als Diener der Kirche

den angehenden Ehegatten Gebot und Verheißung Gottes vorhält und

Gottes Segen auf sie herabfleht; und eine rechtliche, sofern er als Organ der bürgerlichen Gesellschaft, nachdem in den Vorver­ handlungen die Uebereinstimmung der zu vollziehenden Ehe mit den

Staatsgesetzen constatirt ist, und im Auftrage derselben gleichzeitig die bürgerliche Gültigkeitserklärung vollzieht. — In neueren Zeiten

hat diese lange Zeit unbedenkliche und in unserem Volke eingelebte Verbindung zweier ursprünglich verschiedenen Funktionen und Hand­

lungen in einer Person und einem Akte schwere Uebelstände hervor­

gerufen, indem einerseits die katholische Kirche, aber auch etliche evan­ gelische Geistliche und Kirchenbehörden sich geweigert haben,

den

Staatsgesehen strikte Genüge zu thun und, wie es der Staat von den mit seinen Funktionen Betrauten fordern muß, nun auch alle

von dem bürgerlichen Gesetze gestatteten Eheschließungen zu vollziehen'), sofern andererseits mehr und mehr zum Bewußtsein kommt, daß die christliche Kirche ihren Gliedern doch noch andere und höhere An­

forderungen in Beziehung auf Eheschließung und Eheführung stellen

müsse, als der Staat sie allein seinen Angehörigen gebieten kann. — Das hat auf den Gedanken führen müssen, auch bei uns die uran­ fängliche, in anderen Ländern und einzelnen Provinzen selbst unsers

eignen Staates (Reinprovinz und

Westphalen) bereits

bestehende

Form der gesonderten kirchlichen und bürgerlichen Eheschließung je

in einem besonderen Akte herzustellen. Das ist die sogenannte „Civil-

ehe"; ihre Einführung, auf welche im übrigen die gesummte Ent­ wickelung des Staates und der Kirche hindrängt, stößt jetzt noch auf vielfachen Widerspruch, hauptsächlich, weil schlichtere Leute durch

den ungeschickt gewählten Namen zu der Meinung verleitet werden, als solle die Ehe aufhören, christlich zu sein; sodann aber, weil viele fürchten, es würde bei Einführung dieser Einrichtung ein großer Theil sich mit der bürgerlichen Legalisirung ihrer Ehe begnügen, und

die kirchliche Trauung ganz aufhören.

Beides ist unbegründet.

Die

]) Die römische Kirche verweigert die Einsegnung sogenannter „gemischter Ehen", es sei denn, daß der akatholische Theil eidlich die Erziehung der zu erwägenden Kinder im katholischen Glauben zusagt. Etliche Evangelische verweigern die Wieder­ trauung aller nicht „aus Schriftgründen", übrigens aber rechtskräftig Geschiedenen.

Werth und Bedeutung der kirchlichen Trammg.

159

bisherige Auseinandersetzung zeigt, daß es sich bei Einführung des „Civilaktes"

bei der Eheschließung gar nicht um Aenderung der

Ehe, sondern eben nur um die korrekte Form der Eheschließung handle.

Andererseits wird, wie die Erfahrung zeigt, der religiöse

Mensch nie ablassen, neben der vom Gesetze vorgeschriebenen Form für die bürgerliche Anerkennung der Ehe auch die religiöse Weihe zu

suchen; und ebenso wird ja die Kirche nie aufhören, letztere ihren Gliedern darzubieten und von ihnen zu fordern. —

Zwei wichtige Veränderungen

1869),

seit Eltesters Tode (8. Jan.

die, wenn er sie erlebt hätte, nicht ohne Einfluß auf seine

Behandlung des 6. Gebotes geblieben wären, machen dem entsprechend

zwei Nachträge nöthig: 1. Seit der von ihm voransgesehenen Einführung der Civilehe (in Preußen 1. Oct. 1874, im deutschen Reiche 1. März 1875) wird

eine Ehe gesetzlich gültig durch die Verbindung vor dem Standes­ amt; den so Verbundenen bleibt es überlassen, die kirchliche Trauung

Nun hat zwar Eltesters Wort, daß „der religiöse Mensch nie ablassen werde, auch die religiöse Weihe für die Ehe zu

hinzuzufügen.

suchen", im wesentlichen Recht behalten: nach anfangs bedenklichem

Schwanken in den ärmeren Volksklasfen ist die kirchliche Trauung wieder mehr und mehr zur Regel geworden; ja, die gewährte Frei­

heit hat auch hier, wie so oft auf religiösem Gebiet, trotz der von ihr unzertrennlichen Gefahren zum Segen gewirkt, sie hat zur Ueber­ windung der letzteren edle Kräfte in der evangelischen Gemeinde ge­ weckt und unserm Volke den Werth der kirchlichen Trauung mehr zum Bewußtsein gebracht.

Dennoch erhöht sie die Verpflich­

tung, diesen Werth in das rechte Licht zu setzen; dazu diene folgende Ergänzung des von Eltester bereits Gesagten:

Zwar wird für den evangelischen Menschen die Ehe christlich

nicht durch einen bloß äußerlichen Weiheakt, sondern durch die christ­ liche Führung, und eine solche ist ihm auch ohne kirchliche Einseg­

nung denkbar. Aber ist diese darum ein minder unveräußerliches Mittel, um den schon von Eltester betonten Zusammenhang der Ehe und Familie mit der christlichen Gemeinschaft lebendig zu erhalten

1. Hmiptstück.

160

Sechstes GSebot.

und im Volke die Ueberzeugung zu pflegen, daß nur eine in Gott

geführte Ehe eine gesegnete sein kann?

Nur auf das in das Ge­

meindeleben innig cingegliederte eheliche und Familienleben kann

das Gemeindeleben selbst sich gesund erbauen; und nur, von diesem getragen und genährt, kann die Ehe sich ihrerseits zum wahrhaft christlichen Hausstande, zn einem Tempel Gottes in Glauben und

Liebe ausgestalten und dadurch zu einem Pfeiler der Gemeinde heran­

wachsen.

Diesen Zusammenhang will die kirchliche Trauung zum

Ausdruck bringen, anbahnen und beleben; wo sie ohne Noth verab­ säumt wird, da fehlt es irgendwie an Sinn für diesen Zusammen­

hang und für unsere Pflichten gegen die christliche Gemeinschaft. Aber nicht allein das Verhältniß der Ehe zur Gemeinde, auch

ihr eigner Gehalt — sowohl, was Ehegatten in ihr zu erfahren und zu leiden, als, was sie darin zu leisten haben werden — erheischt

die engste Beziehung derselben zur Religion: nur durch die Religion gelangt sie zur vollen Entfaltung ihres Wesens und. Segens, ja zur

Vollendung erst durch die Religion Jesu. Wo ein Mensch des andern Wohl und Wehe so eng, wie in der Ehe, an das seine kettet, da

gewinnt, wenn er die rechte Wahl traf, Herz und Leben eine neue Stütze und einen reicheren und tieferen Inhalt; aber um so größer

auch die Angriffsfläche für die Pfeile des Schicksals, um so zahlreicher

die verwundbaren Stellen der Seele: um so unabweisbarer an diesem entscheidendsten Wendepunkte des Lebens,

da zwei Wege sich zu

einem verweben, der in feierlicher Andacht vereinte Aufblick zu dem, der, wie „Wolken, Luft und Winden", so auch seinen Menschen­ kindern die Bahn zumißt,

der allein segnen, Wunden heilen und

Sorgen tragen helfen kann.

Wie viel mehr bedürfen wir dieses Auf­

blicks

gegenüber den hohen Aufgaben der Ehe! Zwei sollen eins

werden, zwei verschiedene Charaktere mit ihren mannigfachen Eigen­

heiten und — Fehlern sich in einander schicken: wie wird es dazu der

Liebe bedürfen, die „alles verträgt, alles glaubet, alles hoffet, alles duldet" (1 Kor. 13, 7), und die in ihrer Vollendung uns allein der Dulder am Kreuze lehrt!

Zwei Willen sollen eins werden, derart,

daß zwar der Mann, als Träger des Ganzen, das Haupt bleibt, aber doch nicht der Tyrann der Frau wird, sondern liebevoll ihren Willen in den seinen mit hineinzieht, und beider Willen zu einem

Werth und Bedeutung der kirchlichen Trauung.

Mischehen.

161

dritten geläuterten sich ergänzen: wie schwer, daß der Mensch das hier täglich von neuem erforderte Opfer des Eigenwillens bringe!

wie anders kann das gelingen, als dadurch, daß beide Ehegatten sich unter den heiligen Willen des einen Herren und Vaters beugen und alles eigne Wollen und Wünschen

dem einen gemeinsamen

Trachten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit unterordnen? Zwei Persönlichkeiten sollen zu einer dritten höheren geistigen Per­

sönlichkeit zusammenwachsen: wie anders kann das geschehen, als da­ durch, daß beide sich immer inniger mit dem Geiste der Liebe, die

bis an den Tod geliebt, erfüllen, in der Kraft dieser Liebe einer sich in den andern hineinleben und sich in die Gemeinschaft hineinziehen lassen,

die der scheidende Jesus den Seinen betend als das Ideal

aller menschlichen Gemeinschaft, auch der Ehe, vor Augen gestellt hat (Joh. 17, 21): „Du, Vater, in mir, und ich in dir, daß auch sie in uns eins seien" —?

Wo zweier Herzen in diesem Ideal zu­

sammenschlagen, da genügt es ihnen nimmer, nur die Rechtsformen für

die gesetzliche Gültigkeit ihrer Ehe zu vollziehen; diese stellen ihnen nur die eine, die staatsbürgerliche Seite derselben dar: aber für die hei­ ligen Gelübde und die heißen Gebete, die ihre Seelen bewegen, und für Erbauung des hehren Gottestempels, den sie mit einander geschaut, suchen sie Kraft, Ausdruck und Segen in der Weihe am Traualtar.

2. Die zweite Veränderung seit Eltesters Hinscheiden ist die Verschärfung des Gegensatzes zwischen der evangelischen und der

römischen Kirche durch den Kulturkampf und nicht minder durch den nunmehr erfolgten Friedensschluß des Staates mit der letzteren, sofern deren Machtbewußtsein und Ansprüche dadurch noch gewachsen sind. Um so unerläßlicher ist bei Besprechung

des 6. Gebots ein ernstes

Wort über die Mischehen, d. h. Ehen zwischen Angehörigen ver­ schiedener Religionsgemeinschaften.

Das Ideal der Ehe fordert Ein­

heit im Centrum des geistigen Lebens, Religion.

Einheit in Gott — in der

Freilich können sich zwei Menschen innerlich in ihren

religiösen Anschauungen näher stehen, als ihr verschiedenes Religions­ bekenntniß schließen läßt. Vielleicht halten den nichtchristlichen, nicht­ evangelischen Theil vom Eintritt in die christliche, beziehungsweise evan­

gelische Kirche nur irgendwelche Mißverständnisse oder auch äußere, etwa

Pietäts-Rücksichten ab, die, gleichviel, ob berechtigt oder unberechtigt, Eitester. Materialien. 2. Auflage. 11

1. Hauptstück.

162

Sechstes Gebot.

doch die Einigkeit im Geist nicht unmöglich machen. In der That können zwei Menschen durch den Zug der Herzen und die Macht der

Verhältnisse so auf einander hingewiesen sein, daß man auch bei der

höchsten Werthschätzung der Religion die Ehe zwischen ihnen trotz abweichenden 'Religionsbekenntnisses als

ansehen darf.

„im Himmel geschlossen"

Deshalb vermag die evangelische Kirche, die sich nicht

für die alleinseligmachende hält noch die Seligkeit von der Zugehörig­ keit zu irgend einer Kirche abhängig macht, die Mischehe nicht un­

bedingt zu verwerfen und sollte selbst für Ehen zwischen Christen

und Nichtchristen ihren Segen,

wo er anscheinend in Aufrichtigkeit

der Herzen begehrt wird, nicht grundsätzlich versagen.

Die ältere

Kirche hat ihn für Ehen heidnischer Fürsten und christlicher Prin­ zessinnen gewährt und dadurch die Brücke für die Christianisirung

ganzer Völker geschlagen. gegen.

Dem steht auch die Schrift nicht ent­

Zwar darf man dafür nicht ohne weiteres Pauli Urtheil

1 Kor. 7, 12f. anrufen, wo er dem christlichen Theil räth, den nicht­

christlichen nicht zu verlassen, falls letzterer nicht selbst die Trennung

herbeiführe; denn dort spricht er von Ehen, die nicht erst eingegangen

werden sollten, sondern die schon bestanden hatten, als beide Theile noch heidnisch oder jüdisch waren, und erst durch die Bekehrung des

einen Mischehen wurden.

Aber sollte nicht trotzdem auf Fälle, in

denen der nichtchristliche Theil dem Evangelium schon innerlich nahe steht, das Wort (v. 14) anwendbar sein, daß der ungläubige Theil durch den gläubigen geheiligt werde, und ebenso das Wort Christi

Luk. 9, 50: „Wer nicht wider uns ist, der ist für uns"—? Warnen muß die Kirche dennoch vor jeder Mischehe mit dem Paulus (v. 15f.): „Im Frieden hat uns Gott berufen.

Was weißt du aber, ob du

den Mann oder das Weib werdest selig machen?"

Denn — abgesehen

von den Fällen, in denen, was dem einen das heiligste, dem andern

als Aberglaube oder als Entweihung, ja als der Weg zur Verdammniß gilt — als einen tief schmerzlichen Mangel an voller Einheit

müssen es doch auf die Dauer die religiös nicht ganz Gleichgültigen empfinden, wenn die Herzen sich in den geweihtesten Augenblicken,

im Gotteshause,

am Tische des Herrn, nicht zusammenfinden oder

nicht verstehen, oder wenn einer dem andern die wichtigste-Seite der Kindererziehung, die religiöse, völlig überlassen muß.

Mischehen. Gesetzliche Bestimmungen.

163

Aber welcher Theil wird hier der entscheidende sein?

Das ist

der sich immer wiederholende praktische Streitpunkt, dessen Wichtig­ keit vor der Hochzeit so oft verhüllt bleibt, nachher aber sich auf das

empfindlichste fühlbar macht, vor allem für den evangelischen

Theil bei Ehen mit Angehörigen

der

römischen

Kirche.

Der evangelische Christ, die evangelische Christin lasse sich nicht durch das Vertrauen auf die Liebe oder selbst die Versprechungen des. ka­

tholischen Theils in Sicherheit wiegen: nicht mit dem Gatten, der Gattin allein, sondern weit mehr mit dem römischen Priester werden

sie es zu thun haben, und dieser ist eidlich verpflichtet, seinem Beicht­ kinde keine Ruhe zu lassen, bis katholische Kindererziehung durchgesetzt, und wo möglich auch der evangelische Theil der alleinseligmachen­ den Kirche zugeführt ist.

Vorher wird kein Friede sein, und ---

opfert letzterer auch nur die Kindererziehung — welch ein Friede, , allein,

verlassen zu stehen mitten im Kreise seiner Geliebtesten, denen sämmt­ lich Kirche und Schule es zur Pflicht macht, den evangelischen

Gatten, Gattin, Vater, Mutter für ewig verloren zu halten, wenn

es nicht gelingt, — die arme Seele

zu bekehren!

lassenheit — noch auf dem Sterbebett!

Welche Ver­

Das sind nicht Schrechge-

spenster, sondern bitterste Erfahrungen aus der traurigen Wirklichkeit. Der Evangelische, der trotz alledem die Ehe mit einem Katholiken

eingehen will, wehre vor allem die Trauung in der römischen Kirche ab! Sie wird nur gegen das Versprechen katholischer Kindererziehung gewährt, und dieses Versprechen vielleicht erst kurz vor der Trauung in der Sakristei abgenommen: wie schwer dann die Weigerung, in

Folge deren die Hochzeitsgesellschaft unverrichteter Sache auseinander­ gehen müßte!

Oder sollen die Betheiligten das Versprechen an hei­

liger Stätte mit dem stillen Vorsatz geben, es nicht zu halten? Me unevangelisch, unchristlich, gottlos!

Besonders zu beachten ist, daß — nach dem Allgemeinen Land­ recht Th. 2, Tit. 2, §§ 76—85 in Verbindung mit der Allerhöchsten

Deklaration vom 21. Novbr. 1803 und den Erkenntnissen

des Kgl.

Kammergerichts v. 27. Oct. 84, 23. Fbr. 85 u. 2. Novbr. 85. (s. Kirchl.

Ges. u. Verordn.-Bl. 85, S. 16; 86, S. 7 ü. 32)— die Kinder in Mischehen der Confession des Vaters folgen, wenn nicht die Ehe­

gatten sich unter einander über ein anderes einigen, daß aber nach 11*

164

1. Hauptstück.

Sechstes Gebot.

dem Tode des Vaters dessen Confession entscheidend bleibt, auch wenn er lebend der Mutter anders lautende mündliche oder schriftliche

Versprechungen gegeben hat.

Nur die Kinder, welche schon ein

Jahr lang vor seinem Tode in einer andern Confession erzogen wurden, d. h. den Religionsunterricht derselben in der Schule oder

anderweit empfingen, dürfen in dieser Konfession verbleiben. evangelische oder katholische Taufe

Die

entscheidet über die

evangelische oder katholische Erziehung nichts.

Hieraus folgt,

daß die evangelische Frau eines Katholiken vor der katholischen Er­ ziehung ihrer Kinver im Falle seines Todes auch dann nicht ge­

schützt ist, wenn er ihr die bündigsten mündlichen oder schriftlichen Versprechungen gab und im Herzen längst nicht mehr katholisch war: die Kinder, welche bei seinem Tode noch nicht ein Jahr lang evan­ gelischen Religionsunterricht genossen haben, gehören trotz aller

Thränen der Mutter unrettbar der römischen Kirche.

Das sollten

katholische Gatten evangelischer Frauen wohl bedenken, wenn sie, wie öfter der Fall, im Herzen nicht mehr katholisch sind, etwa längst

schon mit der Gattin die evangelische Kirche besuchen und nur aus Bequemlichkeit oder allerlei andern untergeordneten Rücksichten nicht zu derselben übertreten: sie sollten sich bei Zeiten klar für die eine oder

andre Kirche entscheiden, damit nicht nach ihrem Tode ihre Kinder der Gewalt einer Kirche überliefert werden, der sie selbst innerlich abgestorben sind.

Bemerkt sei übrigens noch, daß jedes Kind mit

vollendetem 14. Jahre das Recht gewinnt, seine Religion nach eignem

Ermessen zu wählen. Noch eine Frage: Sollte nicht christliche Duldsamkeit (Toleranz)

den evangelischen Theil nachgiebiger stimmen, da er weiß, daß auch ein Katholik selig werden kann? Nimmermehr: das wäre nicht Duld­ samkeit, sondern religiöse Gleichgültigkeit und Schlaffheit! Wohl weiß

er, daß der Gott der Liebe auch das Senfkorn des Glaubens, das Sehnen des Herzens nach ihm nicht verachtet, noch nach der äußern Confessionszugehörigkeit richtet.

Er unterscheidet von der römischen

Kirchenanstalt sorgfältig den katholischen Mitmenschen und erkennt in ihm gern den theuren Mitchristen an.

Frieden im Glauben d. i.

in

Aber, weil er selbst den

der Hinwendung

des

inwendigen

Menschen zu Gott gefunden hat, kann er nimmermehr freiwillig sein

Mischehen.

Liebstes, seine Kinder,

165

Falsche Duldsamkeit.

dem äußerlichen Wesen und der Gewissens­

knechtschaft einer Kirche preisgeben, welche einen sündigen Menschen

für den unfehlbaren Richter in Glaubenssachen erklärt und alles,

was sich ihm nicht beugt, verdammt, welche für diesen unfehlbaren Papst in Rom das 'Recht beansprucht, in die Gesetzgebung unsres deutschen Vaterlandes hineinzureden, und den innern Frieden desselben gefährdet.

immer wieder

dadurch

Deshalb gilt es für den

Evangelischen, in erster Linie die Mischehe zu meiden.

Ist sie aber

einmal geschlossen, hat er um des Vaterlandes, um unsrer theuren Kirche, um seines und seiner Kinder Friedens willen in aller Liebe

und Sanftmuth sein gutes evangelisches Recht zu vertheidigen.

*Das siebente Gebot stellt das Eigenthum unter den Schutz des göttlichen Gesetzes.

Demgemäß übertritt dasselbe, wer immer fremdes Eigenthum auf unrechtmäßige Weise an sich bringt, sei es heimlich, mit eigner Hand (Stehlen im eigentlichen Sinne, Entwenden) oder durch andrer

Hände — durch Bergen gestohlenen Gutes gegen Antheil am Ge­

winn (Hehlen), sei es offen mit Gewalt (Rauben) oder unter erlisteter Zustimmung des Nächsten durch Betrug. Für die sittliche Beur­ theilung kommen diese Unterschiede in der Form der Uebertretung

weit weniger in Betracht, als die Art der Beweggründe, die Schwere der Versuchung, der Grad der sündlichen Leidenschaft oder Herzens­

verhärtung und die ganze Beschaffenheit des inwendigen Menschen,

aus deren Zusammenwirken die Sünde in jedem einzelnen Falle her­ vorging.

Allerdings scheut der Räuber meist auch nicht den Mord.

Indeß fehlt dem Diebe zur Gewaltthat oft nur der Muth und die That­

kraft, nicht die Schlechtigkeit; und in dem Mangel an Willenskraft wurzelt nicht selten auch jene unselige Arbeitsscheu, die jedem Ver­ such, ihn zu redlichem Erwerb zurückzuführen, fast unüberwindliche

Hindernisse bereitet.

Der Hehler oder Diebeshelfer sucht mit dem

Diebe den unlautern Gewinn, mir ohne die Gefahr.

Der Betrüger

1. Hauptstück.

166

Siebentes Gebot.

aber schmückt seine Sünde noch heuchlerisch mit dem Scheine der

Rechtlichkeit oder gar Wohlmeinung.

Wie viel schmählicher, wenn

sein Betrug Reichthum zum Reichthum häuft!

Wie wird ein solcher,

wenn er' auch noch so ehrbar vor der Welt dasteht, in Gottes Gericht

vor manchem Diebe, den erst die Noth auf die'Bahn des Verbrechens trieb, die Augen senken müssen.

Auch hinsichtlich der verderblichen

Folgen für die Gemeinschaft ist der Unterschied unwesentlich:

Diebe

und Räuber gefährden Ordnung und Sicherheit, aber ohne den Hehler gäbe es weniger Stehler; gegen Räuber und Diebe schützen Waffen

und Schlösser, gegen den Betrüger schützt nur das bitterböse Miß­

trauen, das den Verkehr vergiftet und den Redlichen kränkt. Auch, wenn man nur bei diesen groben Uebertretungen stehen

bleibt, läßt sich leicht erkennen, daß viel mehrere ihr Gewissen mit der Sünde wider das 7. Gebot beflecken, als es auf den ersten Blick scheinen möchte.

Manche Arten des Diebstahls und Betrugs werden

wegen ihrer allgemeinen Verbreitung in allen Gesellschaftsklassen oder in einzelnen Ständen und Volksschichten von vielen kaum noch als

Diebstahl und Betrug angesehen: so unter dem Gesinde die Näscherei, Unter den Aetmeren der Obst-, Holz- und Felddiebstahl, unter den Geschäftsleuten manche Weise der Waaren-Fälschung und -Anpreisung,

insbesondere auch das Leugnen und Verschweigen von Fehlern beim

Viehverkauf; so die falschen Angaben bei der Steuereinschätzung und die Verheimlichung zollpflichtigen Gutes, deren sich zuweilen selbst die Vornehmsten und Gebildetsten rühmen, als wenn Betrug am

Staate — am Vaterlande! — nicht Betrug wäre oder aufhörte Be­

trug zu sein, weil man etwa nur die Unbequemlichkeit am Zollamt

vermeiden wollte.

Hierher gehört auch das weite Gewissen, mit dem

mancher von Unberufenen auffallend billige Waaren kauft, obwohl

die-Vermuthung des unlauteren Ursprungs nahe genug liegt.

Nicht

minder gehört hierher das gewissenlose Schuldenmachen, bei dem der

Schuldner sehr wohl weiß und sich sagen kann und muß, daß er nie oder höchst wahrscheinlich nie im Stande sein werde, die Schuld ab­ zutragen; und besondere Hervorhebung gerade in unserer Zeit verdient auch'die Menge der versteckt betrügerischen Geschäftsunternehmungen,

die aus fremdes Geld gegründet werden, obgleich die Unternehmer wissen, daß sie die Mehrzahl der Betheiligten um das Ihrige bringen

Verstecktere und feinere Arten der Uebertretung.

167

werden: um so schlimmer, wenn sie auf deren Kosten sich selbst im

voraus ihren Gewinn sichern!

Endlich: wer gefundenes Gut nicht

an seinen Herren zu bringen sucht, sei es, um es zu behalten, oder

aus Bequemlichkeit, der ist ein Dieb oder — ein Liebloser.

Schon der letztere Punkt erinnert uns, daß wir mit alledem noch

nicht über die Außenseite des göttlichen Gebots hinausgekommen sind. Nicht nur die Hand, auch das neidische Auge, das habgierige Herz stiehlt, ja, schon das träge, lieblose, geizige,

das uns nicht dazu

kommen läßt, dem Nächsten „sein Gut und Nahrung bessern und be­

hüten zu helfen", oder vor dem darbenden Bruder sich verschließt.

Denn es gilt auch hier Gebot und Verbot beachten.

Und das Ge­

bot in seinem innersten Kern erfassen wir erst, wenn wir Sinn und

Zweck des Eigenthums überhaupt im Geiste Jesu zu ver­ stehen suchen.

Hier aber können wir zunächst nicht an dem vielfachen

Widerspruch vorübergehen, der sich derzeit lebhafter, denn je, in weiten

Kreisen gegen die Berechtigung, der bestehenden Unterschiede in der

Vertheilung des Eigenthums erhebt: Ueberfülle hier, bitterster Man­

gel dort! Müheloses Genießen hier, unausgesetzte saure Arbeit dort, vielleicht sogar ohne irgend eine Sicherstellung gegen die drückendste Noth in Alter und Krankheit!

Muß das so sein?

Immer wieder,

besonders in Zeiten politischer und religiöser Aufregung, wird diese Frage aufgeworfen, und lassen nicht nur Besitzlose, sondern auch.auf­

richtige und falsche Freunde der Armen unter den Begüterten das Verlangen nach Ausgleichung des schroffen Gegensatzes zwischen Arm und Reich laut werden.

Als der kürzeste Weg dazu erscheint der

gedankenlosen Menge leicht die gleichmäßige Vertheilung aller Güter; doch liegt deren Unausführbarkeit so sehr auf der Hand, daß sie von einsichtigen und redlichen Volksfreunden niemals gefordert worden

ist. — Wie unabsehbar blutige Kämpfe wären nöthig, um sie durch­ zusetzen!

Wie unwahrscheinlich wäre es, daß die siegende Partei

ihren Sieg wirklich zu gleicher Vertheilung und nicht zur eigenen Bereicherung ausnützen würde! Und nun, auch den besten Willen

vorausgesetzt: wie unmöglich die gleiche Vertheilung bei der unend­ lich mannigfaltigen Verschiedenheit der Güter und bei der Schwierig­

keit, ihren ost schwankenden Werth festzustellen, — auch nur in einem Lande, geschweige auf der ganzen Erde! — wie viel unmöglicher noch

168

1. Hauptstück.

Siebentes Gebot.

bei der Verschiedenheit der Menschen an Leib und Seele, Alter und

Geschlecht — mit ihren völlig verschiedenen Bedürfnissen und Wünschen!

Wie schnell aber würde eben diese Verschiedenheit auch nach wirklich gelungener Theilung die Gleichheit wieder aufhcben! Fleiß und Träg­ heit, Verschwendung und Sparsamkeit, Geiz und Freigebigkeit, Ge­ schick und Ungeschick, Gesundheit und Krankheit, Geburt und Tod,

Glück und Unglück wären tausendfältige Hebel, um statt der alten nur neue Unterschiede des Besitzstandes wieder einzuführen.

Soll,

um die Gleichheit zu erhalten, alle Jahre von neuem getheilt werden?

Wer wird noch arbeiten und sparen wollen, wenn sein Fleiß und seine Enthaltsamkeit nur den Trägen und Genußsüchtigen zu gute kommt, ja vielleicht ihre Trägheit und Genußsucht nur bestärkt? Die Forderung der allgemeinen gleichmäßigen Gütervertheilung

wird öfter mit dem Kommunismus verwechselt, ist jedoch von diesem höchstens die gröbste, handgreiflichste Folgerung.

Beide wollen den

Unterschied zwischen Arm und Reich ausgleichen und wenden den Grundsatz der französischen Revolution von der Gleichberechtigung aller Menschen auf das Eigenthum an. Aber der Kommunismus sucht sein Ziel auf einem andern, freilich nicht minder gefährlichen Wege zu erreichen. Er ist die Lehre von der Gütergemeinschaft'),

d. h. die Lehre,

daß allen alles gemeinsam gehöre,

daß also das

Privateigenthum nur insoweit berechtigt sei, als die Gemeinschaft dem

einzelnen, was er braucht, zueignet.

Hiernach ist die Gemeinschaft

der einzig berechtigte Besitzer und Arbeitgeber, der je nach dem Stande

des gemeinsamen Vermögens durch die von ihm erwählten Ausschüsse und Beauftragten jedem den ihm zukommenden gleichen Antheil an Unterhalts- und Genußmitteln, aber auch seine Arbeit zutheilt. In der zwangsweisen Zutheilung auch der letzteren liegt die unheil­ bare Schwäche der ganzen Lehre.

Daß sie von der Zutheilung der

Güter untrennbar ist, leuchtet sofort ein: Bisher treibt die Noth zur

Arbeit; die Art derselben wählt jeder nach Neigung, soweit nicht

Mangel an erwünschter Beschäftigung ihn zwingt, auch unerwünschte zu übernehmen; andernfalls macht höherer Lohn auch zur unange­

nehmsten Arbeit willig, so daß durch das Verhältniß von Angebot und *) Communismus im mittelalterlichen Latein: Gütergemeinschaft.

Kommunismus.

169

Nachfrage ohne unmittelbaren Zwang jede Arbeit ihren Arbeiter findet.

Aber, wenn fortan jeder ohne Rücksicht auf die Leistung den

gleichen Antheil an den Gütern des Lebens erhielte: wie viele würden ohne Zwang überhaupt noch ernstlich arbeiten, wie viele vollends die

schweren oder gar die widerwärtigen, die Staub- und Schmutz-Arbeiten

übernehmen wollen?

Welche Beschränkung der Freiheit nun liegt in

der zwangsweisen Zutheilung der Arbeit — des Berufs! Und welche neue Ungleichheit, wenn der eine zur schweren Handarbeit, der andere

zur Arbeit des Gelehrten, der eine zu bequemer, der andere zu an­ strengender, dieser zu gesundheitsgefährdender, jener zu gesunder Ar­

beit bestimmt wird!

Oder soll ein regelmäßiger Wechsel eintreten?

Soll dieselbe Person, die gestern Straßenkehrer und vorgestern Künstler war, heut Gelehrter, morgen Fabrikarbeiter oder Handwerker und am folgenden Tage Ackerbauer sein? Welche Unvereinbarkeit der zu stellen­ den Anforderungen mit den verschiedenen Fähigkeiten und Unfähig­

keiten, Gaben und Mängeln!

Welcher Rückgang der Leistungen durch

die Unmöglichkeit, für viele Fächer zugleich die nöthige Ausbildung zu erlangen, — gerade in unserer Zeit, da immer verwickelter wer­ dende Aufgaben in jedem Beruf immer mehr Beschränkung und Ver­ tiefung der Ausbildung für einzelne Zweige erfordern, da unsere ge­

jammte Kultur immer mehr steht und fällt mit dem großen Grund­ satz der Arbeitstheilung! Und bei all' diesem Widersinn: wenn die Gemeinschaft dem einzelnen die Sorge und Verantwortlichkeit für sein und der Seinen Fortkommen abnimmt, zugleich aber auch die Hoffnung abschneidet, durch Fleiß und Sparsamkeit weiter, als durch

das Gegentheil, zu kommen: welchen andern Sporn zum Fleiß und zu verständigem Haushalten wird sie noch haben, als die schärfsten

Zwangsmittel?

Was zur Freiheit und Gleichheit führen sollte, wird

zur allgemeinen Knechtschaft unter der Tyrannei der beaufsichtigenden

Leiter werden. Und würden alle Zwangsmittel den Anreiz zur Arbeit,

welcher in dem Ringen nach eignem, auf das eigne Fleisch und Blut sorterbenden Besitze liegt, je ersetzen können?

Wenn etwas diesen

Anreiz ersetzen könnte, so wäre es sicherlich freie christliche Liebe und

ernste religiöse Ueberzeugung.

Zwei Beispiele lehren jedoch schlagend,

daß auch diese Hebel nicht ausreichen, und zwar nicht einmal in

kleinen Gemeinschaften, in denen doch der einzelne noch mehr, als in

170

1. Hauptstück.

Siebentes Gebot.

größeren Staatswesen, die Erfolge seiner Anstrengungen für die Ge­

sammtheit wahrnimmt und dadurch noch mehr zu solchen ermuthigt wird.

Das erste Beispiel giebt uns die erste Christengemeinde in

Jerusalem: sie führte nicht durch Zwang, sondern durch die Macht

der christlichen Liebe in der Morgenschöne ihrer weltüberwindenden Kraft Gütergemeinschaft ein'), verarmte aber in dem Grade, daß Paulus unter den Heidenchristen für sie Sammlungen veranstalten

mußte.

Das andre Beispiel

geben uns wiederholte Ansiedlungen

englischer Nonkonformisten "), welche wegen ihrer Abweichung von der

englischen Staatskirche unter Karl I. und II. nach Amerika flohen.

Sie waren ernste, thatkräftige Männer, Leute, die des Glaubens wegen ihre Heimath aufgaben.

Verschiedene dieser kleinen Kolonien

bewirthschafteten die in Amerika urbar gemachten Aecker anfangs

kommunistisch, blühten aber erst empor, als sie ihren gemeinsamen

Grundbesitz theilten und jedem Gemeindegliede seinen Antheil als

erbliches Eigenthum zuwiesen'). Die Schwierigkeiten, welche der Lehre der Kommunisten ent­ gegenstehen, haben in den Hauptpunkten auch die Sozialisten nicht zu beseitigen vermocht.

Beide gehen übrigens in ihren mannigfachen

Schattirungen so sehr in einander über, daß es schwer ist, sie klar auseinanderzuhalten.

Auch der Sozialismus (dem Wortsinne nach

„Genossenschafts- oder Gesellschaftslehre") will — zur Heilung der sozialen oder gesellschaftlichen Nothstände besonders in den unbe­ mittelten Klassen — eine Neuordnung der Eigenthumsverhältnisse von dem Grundsatz aus, daß die Gemeinschaft, die Sozietät (der Staat), der einzig berechtigte Besitzer und vor allem Arbeitsgeber

ist4).

Doch will er die Unterhalts- und Genußmittel den Arbeits­

fähigen nur nach Verhältniß der Arbeitsleistung zutheilen, insofern also einen Unterschied des Besitzes, jedoch ohne Erblichkeit, zulassen.

Dagegen sollen alle durch Natur und Kunst gebotenen Mittel zur *) Apostelg. 2, 44. 45; 4, 32 f. *) Mit den Satzungen der englischen Staatskirche „Nichtübereinstimmende".

3) Von einer dieser Kolonien wird berichtet, daß die Arbeitsleistung sich nach der Theilung gegen früher versiebenfacht habe (Roscher). ‘) Der Sozialist Proudhon vertheidigte den völlig kominunistischen Satz: „Eigenthum ist Diebstahl."

Sozialismus.

Christlicher und Staats-Sozialismus.

171

Hervorbringung der Gennßmittel, also Grundbesitz, Kapital, Rohstoffe zur Verarbeitung u. s. w., sowie auch alle Bildungsmittel allen gleich

zugänglich sein.

Da auch hier die Gesellschaft die Arbeit zuweist, so

bleibt auch bei dieser Ordnung der Dinge die Frage unbeantwortet, wie die zwangsweise Zutheilung der Arbeit und also auch des Berufes in ausgedehntem Maße vermieden werden solle. Als Sporn zum Fleiß

wird zwar die Zutheilung der Genußmittel nach Verhältniß der Leistung

die Anwendung von Zwangsmitteln zum Theil ersetzen können; da aber die Erblichkeit ausgeschlossen wird, und der Vortheil angestreng­ terer Arbeit auf die größere Menge von Genuß- und Luxusmitteln

während des eignen Lebens beschränkt wird, so liegt die Versuchung

der Verschwendung zum Schaden der Gesammtheit nur allzu nah. Die selbstische Genußsucht und Neigung zum Aufwand wird ge­ steigert, und der edlere Trieb der Fürsorge für die Angehörigen über

den Tod hinaus bleibt unentwickelt.

Allgemeine Verarmung wird

bei Sozialisten und Kommunisten das Ende sein, und damit wäre dann die erstrebte Gleichheit erreicht, aber welche!

Es soll trotzdem

nicht verkannt werden, daß der Sozialismus auch manche wichtige

Wahrheit an das Licht gebracht hat.

Aber durch alles das, was er

besonders in feinen neueren, zum Theil maßvolleren Gestaltungen

vor dem Kommunismus voraus hat, beweist er nur das, worauf es hier ankommt: Gleichheit des Eigenthums ist nicht möglich, weil

Gott die Menschen verschieden gemacht hat; Aushebung des Privateigenthums ebensowenig, weil in dem Streben danach unentbehrliche Antriebe zu Fleiß und Sparsamkeit, ja die wichtigsten Hebel für die Kultur gegeben sind.

Aber sind diese Hebel und Triebe denn nicht wesentlich selbstischer Sollte nicht also das Christenthum denselben entgegen­

Natur?

wirken, statt erbarmungslos den im Kommunismus und Sozialismus

zuM Ausdruck kommenden Nothschrei der Unterdrückten zu überhören? Sollten wir nicht vielmehr jene Lehren, die gegenwärtig die ganze gesellschaftliche Ordnung so schwer bedrohen, unschädlich machen und

verhüten, daß die Anhänger derselben immer mehr in das religions­ feindliche Lager getrieben werden, indem wir den Wahrheitskern in ihren Irrthümern anerkennen und den berechtigten Klagen der arbei­

tenden Klassen abzuhelfen suchen?

Das sind die Gedanken der so-

172

1. Hauptstück.

Siebentes Gebot.

genannten christlichen und der Staats-Sozialisten.

Und wer

wollte ihr Bestreben nicht billigen, wer nicht mithelfen, daß durch gesetzgeberische Akte oder gemeinnützige Vereinsthätigkeiten die Schä­

den thunlichst geheilt werden? Nur hüten wir uns, bestimmte äußere Ordnungen der Gesellschaft und des Eigenthums im Namen des Christenthums zu fordern, als sei unchristlich, wer diesen Forderungen nicht zustimmt und vielleicht auf andere Weise zu helfen gedenkt.

Denn über äußere Ordnungen und Maßregeln können die edelsten

Menschen, deren jeder das Beste will, verschiedener Ansicht sein, sie müssen mit den Zeiten und Umständen wechseln. Wer von ihrer Annahme oder Ablehnung die Christlichkeit abhängig macht, stellt

die ewigen Wahrheiten des Evangeliums in eine Linie mit vergäng­ lichen menschlichen Einrichtungen, zieht sie dadurch ohne Noth in den

Kampf der politischen Parteien herab und vergrößert so die ohnedies schon beklagenswerthe Zerrissenheit unserer theuren Kirche.

Wie ent­

schieden lehnt doch Jesus mit seinem „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist" (Matth. 22, 21), und mit

dem andern „Wer hat mich zum Richter oder Erbschichter über euch gesetzt?" (Luk. 12, 14) jede unmittelbare Einmischung der Religion

in die Ordnung der äußeren Verhältnisse ab!

Wohl kann und soll

das Christenthum darauf einwirken, aber nur mittelbar durch Um­ wandlung des innern Menschen und seiner Stellung zu den äußern Dingen.

Es hat die Sklawen nicht mit Gewalt befreit, sie sogar

zum Gehorsam angehalten'), aber sie gelehrt, ihr Joch als Kinder

Gottes zu tragen und dadurch die Aufhebung der Sklawerei innerlich vorbereitet.

So muß es auch die Nothstände, die aus dem Unter­

schied zwischen Arm und Reich entspringen, von innen überwinden, indem es uns die rechte innere Stellung zum Eigenthum lehrt und dadurch die selbstischen Antriebe zum Erwerb in solche, die aus der

Liebe stammen, umschafft. Welche Stellung zum Eigenthum lehrt uns denn das Christen­ thum? Manches Wort Jesu, wie das Gleichniß vom reichen Mann und armen Lazarus (Luk. 16, 19 f.), wie das Gespräch mit dem

’) Brief an den Philemon; Eph. 6,5 s.; Kol. 3, 22 f.; vergl. 1 Kor. 7, 20—24: „Jeglicher bleibe in dem Beruf, darinnen er berufen ist, u. s. ro."

Stellung des Christen zum Eigenthum.

173

reichen Jüngling (Matth. 19, 16 f.; Mark. 10, 17 f.), wie die Selig­ preisung der Armen (Luk. 6, 20) scheint die Auffassung zu begünstigen,

als verwerfe er den Reichthum an sich, als verdamme er den Reichen

um des Reichthums willen, und Armuth willen selig.

als preise er den Armen um der

Aber, was den Reichen im Gleichniß an den

Ort der Qual bringt, ist nicht sein Reichthum an sich, sondern das

Aufgehn seines Herzens in Reichthum und Wohlleben, in welchem er gar keinen höheren Lebenszweck,. als den des selbstischen Genusses, kennt und für des Mitmenschen Leiden kein Auge hat. Nach Jesu

Weisung an den reichen Jüngling, das Seine zu verkaufen, es den Armen zu geben und ihm zu folgen, könnte es allerdings so scheinen,

als thäten wir alle am besten, wie der heilige Antonius, das Unsere

hinter uns zu werfen und in der Wüste Gott zu suchen. Markus leitet diese Weisung mit den Worten ein:

an und liebte ihn und sprach: —"

Aber

„Jesus sah ihn

Hiernach hielt Jesus den

Jüngling besonders werth und hoffte in ihm einen Apostel zu ge­ winnen; und nur von diesen, nicht von allen Mitgliedern des

Reiches Gottes verlangt er, daß sie ihren irdischen Beruf und Besitz

aufgeben, weil und soweit, aber auch nur, soweit es durch diesen besonderen Beruf unter den damaligen Verhältnissen nöthig war

(Petrus und Matthäus oder Levi haben auch nach ihrer Berufung noch ein Haus, und letzterer richtet sogar darin dem Herrn ein großes Mahl an: Matth. 8, 14 u. 9, 9f.; Luk. 5, 29).

Weil seine Jünger

um seinetwillen das Ihre verlassen haben, sagt er zu ihnen, nicht

zu den Armen überhaupt (Luk. 6, 20): „Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer", wobei allerdings nicht, wie Matth. 5, 3,

an die Armuth im geistigen Sinne d. i. an die Demuth gedacht werden kann. Weil der reiche Jüngling zu sehr in Weltlust besangen ist, um das gleiche Opfer zu bringen, spricht Jesus über ihn das

harte Wort:

„Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr

gehe, denn daß ein Reicher in das Reich Gottes komme", legt aber

bei Markus selbst dieses Wort durch das andere aus: „Wie schwer ist

es, daß die, so ihr Vertrauen auf Reichthum setzen, in das Reich Gottes kommen!" Also nicht Armuth oder Reichthum an sich, sondern die Stellung

des Herzens zu den irdischen Gütern macht

zum Reiche Gottes tüchtig oder untüchtig; und, welches die rechte

I. Hauptstück.

174

Siebentes Gebot.

Stellung sei, zeigt Jesus am klarsten in

dem Gleichniß von den

Zentnern oder Pfunden (Matth. 25, 14 f.; Luk. 19, 12 f.), welche ein Herr seinen Knechten austhut, damit sie für ihn neues Gut dadurch

gewinnen:

Alle Güter und Gaben Leibes und der Seele sollen wir

als ein uns von Gott anvertrautes Gut betrachten: Gott der einzige Besitzer, wir alle nur Haushalter, insofern alle gleich arm, als die

nichts zu eigen haben, sondern dem wahren Eigenthümer Gott über

das kleinste und größte Rechenschaft ablegen müssen, ob wir es im Dienste der Liebe zu unserer Mitmenschen Segen oder, wie der reiche Mann im Gleichniß, nur im Dienste der Selbstsucht verwandt haben!

Darin liegt, daß wir das Eigenthum keineswegs als etwas dem Reiche Gottes widerstreitendes oder auch nur gleichgültiges anzusehen

haben.

Gewiß sollen wir „am ersten nach dem Reiche Gottes

und nach seiner Gerechtigkeit trachten" (Matth. 6, 33) und, wenn

Gott durch die Verhältnisse anzeigt,

daß es zur Förderung seines

Reiches, um der Liebe und um des Gewissens willen nöthig ist,, auch

das letzte Irdische hingeben;

aber ohne Noth willkürlich dürfen wir

auch nicht das kleinste preisgeben: sonst gleichen wir dem Knechte,

der sein Pfund vergrub.

Im Gegentheil: wir sollen arbeiten und

mit den Händen etwas Gutes schaffen, auf daß wir haben zu geben

dem Dürftigen (Eph. 4, 28);

das „Trachtet am ersten nach dem

Reiche Gottes" hat nicht nur die Verheißung: so wird euch solches alles (d. h. was euch zum irdischen Leben noth ist) zufallen, sondern es schließt auch das Streben nach irdischem Besitz, als einem Mittel,

das Reich Gottes auf Erden zu bauen, mit ein. Das wird noch klarer, wenn wir das Eigenthum im Haushalt

des Reiches Gottes im Zusammenhänge mit der Bestimmung des Menschen erfassen, welche die Schrift uns schon am Eingang der Menschheitsgeschichte vor Augen stellt, und zu deren Erfüllung uns das Christenthum erziehen soll: Der Mensch als Bild Gottes soll

sich die Erde sammt allen ihren Gütern und Kräften „Unterthan machen" (1 Mos. 1,27 f.) — Unterthan machen nicht seinem Eigen­

nutz, sondern dem Göttlichen, das in ihm lebt, und dadurch dem

Schöpfer selbst,

dem einzigen Herrn aller Kreaturen, damit aller

Orten an Menschen und Dingen die Herrlichkeit des himmlischen Vaters und sein Liebeswille offenbar werde, und sein Reich Wesen

Arten des Eigenthnmserwerbs.

und Gestalt gewinne.

Segen der Arbeit.

175

Jeder einzelne Mensch hat die Pflicht, an

dieser großen Aufgabe der Menschheit mitzuarbeiten, der Eigenthums­

erwerb bildet einen Theil dieser Mitarbeit, und das Eigenthum

des einzelnen ist sein Antheil an "beut Hoheitsrecht der Menschheit über die Erde.

Hierin liegt die sittliche Begründung für das Privat-

eigenthum und für die ungleiche Vertheilung desselben.

Durch die

Herrschaft der Menschheit über die Erde soll die Herrlichkeit Gottes

zur Darstellung kommen.

Wie könnte des Unendlichen Wesen in

der endlichen Kreatur auch nur annähernd anders abgebildet werden,

als

durch

die Wiederspieglung desselben in einer möglichst großen

Mannigfaltigkeit eigenartiger Persönlichkeiten.

Jeder einzelne aber

vermag hier auf Erden seine Eigenart nach allen Seiten hin nur an den sichtbaren Dingen auszuwirken, am besten an den Dingen, die

er sein eigen nennt: in der Weise, wie jeder sein Eigenthum hand­ habt, ausgestaltet, verwerthet, von seiner Kleidung und der Ordnung

und dem Schmuck seines Zimmers bis zur Bewirthschaftung seines

Grundbesitzes und zur Verwaltung seines Einkommens oder seiner Kapitalien, prägt sich

die Perlönlichkeit aus; das Eigenthum ist

gleichsam die erweiterte Persönlichkeit.

Kommunistische Gleichmacherei

würde an die Stelle einer mannigfaltigen lebensvollen Entfaltung freier einander sich ergänzender Persönlichkeiten todte Einförmigkeit

setzen. Das Privateigenthum ist sodann auch ein schwer entbehrliches Mittel, den innersten Lebensnerv des Reiches Gottes, die Liebe, zu bethätigen: wodurch offenbart sich die Liebe häufiger, als dadurch,

daß sie das Ihre hingiebt, um andre zu beglücken und ihren Mangel

auszufüllen? Aus dem Gesagten ergeben sich wichtige Fingerzeige sowohl für die rechte Weise, Eigenthum zu erwerben und zu verwerthen, als für

die Sinnesart, welche uns bei der Handhabung und Werthschätzung der irdischen Güter und bei allen Fragen um Mein und Dein leiten muß.

Als zulässige Mittel, zu Eigenthum zu gelangen, werden im äußerlich gesetzlichen Sinne mit Recht angesehen: Arbeit, Kauf, Erbe,

Schenkung, wozu man noch mit gewissen Einschränkungen Erwerb

durch Zins und Glücksumstände rechnen mag. Sittlichen Werth er­ halten aber alle diese Mittel erst, sofern sie irgend eine Mitarbeit

176

1. Hauptstück.

Siebentes Gebot.

an der großen Menschheitsaufgabe in sich schließt, die Erde dem Menschen als dem Ebenbilde Gottes und dadurch Gott selbst und

seinem Reiche dienstbar zu machen.

Der gesegnetste Weg zum Besitz

ist deshalb die Arbeit,, gesegnet selbst dann, wenn sie nur als Mittel

zum Unterhalt und Lebensgenuß angesehen wird.

Denn das „Zm

Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brod essen" (1 Mos. 3, 19), d. h. die Nothwendigkeit der Arbeit zur Selbsterhaltung und Be­

friedigung des natürlichen Strebens nach Lebensgenuß, hat Gott dem trägen und selbstsüchtigen Menschen als einen Segen, als ein Er­ ziehungsmittel für die Aufgaben seines Reiches mitgegeben.

Aber

freilich, wem die Arbeit nur unerläßliches Mittel zur Theilnahme am Leben und seinen Gütern ist, dem erscheint sie im alttestament-

lichen Geiste als Strafe, als nothwendiges Uebel, der blickt voll Neides auf die, welche nicht nöthig haben, zu beugen.

sich ihrem Sklawenjoche

Deshalb ist die Arbeit wahrhaft gesegnet erst dann,

wenn dazu die Liebe zu Gott und Menschen Herz, Haupt und Glie­

der antreibt und stärkt, wenn uns die Arbeit — d. i. Gottes

Willen thun — zum Segen der Mitmenschen wirken — selbst schon unsre Speise (Joh. 4, 34), selbst schon Lebensgenuß ist. Nicht, als ob es uns nicht Befriedigung gewähren dürfte, wenn wir

als Frucht unserer Arbeit auch für uns und die Unsern einen

reicheren und gesicherteren Antheil an den Gütern des Lebens ge­ winnen. Der Selbsterhaltungstrieb und die Freude an den Gütern des Lebens ist auch von Gott gewollt, ist die Voraussetzung, auf welche sich die Liebe aufbaut.

Oder gehen nicht die meisten Liebes­

erweisungen darauf aus, dem Nächsten den Lebensgenuß, irdischen, zu erhöhen?

auch den

Welchen Sinn hätte das, wenn wir selbst den

letzteren für nichts achteten? Aber, wem die Arbeit der Liebe an sich selbst Freude ist, der wird neidlos auf die blicken können, welche äußerlich größere Erfolge erzielen: denn eine Frucht fehlt seiner Arbeit auch bei dem kärgsten Lohn nie: der Segen am eignen innern

Menschen. Eine Befriedigung findet er bei seiner Arbeit stets, wie niedrig, wie schwierig, unangenehm oder widerwärtig sie auch sei: ist es eine Arbeit nach dem Willen Gottes, nothwendig im Haushalte

der Menschheit zu deren Segen, so darf er sich bewußt sein, an

Gottes Reich mitzubauen, eine Stelle im Haushalt des großen Vaters

Arten des EüMthnmserwerbs.

Kauf, Erbe, Schenkung (Armenpflege).

aller Menschen auszufnllcu. der Arbeit erkannt haben,

Andrerseits:

so

177

wenn wir diesen Werth

werden wir Arbeit zum Segen der

Menschheit zu finden wissen, auch wenn wir nicht um Brod dienen müssen; denn den Willen des Vaters thun soll dem Reichsten, wie

dem Aermsten, unentbehrliche Speise sein.

Das ist die Auffassung,

durch welche das Christenthum die Arbeit geadelt hat.

Wie würde

diese Auffassung, wenn sie Arme und Reiche durchdränge, die Schroff­ heit der Unterschiede zwischen beiden aufheben! Denn nirgends hätten

wir dann solche, die ohne Lebensfreude nur unter der Last der Arbeit seufzen, noch solche, die nur träge genießen. Der Kauf ist eigentlich nicht Neu-Erwerb von Eigenthum, son­

dern

des schon Erworbenen.

nur Austausch

Er ist unentbehrlich,

weil keiner sich alle Lebensbedürfnisse unmittelbar durch Arbeit schaffen Kauf und Verkauf werden aber erst durch die Liebe zu dem,

kann.

was sie im sittlichen Sinne fein sollen:

welchen die Menschen

durch

Das wird erreicht,

einer des

ein wechselseitiger Dienst,

andern Mangel

ergänzen.

wo keiner nur seinen Vortheil sucht, sondern

jeder seine Christenehre darin setzt, daß auch dem andern durch Kauf und

geleistet

Verkauf etwas

werde.

So

entsteht

was wir

das,

Billigkeit der Gesinnung nennen, in der weder der Verkäufer den

Käufer

durch Vorschlägen oder gar Täuschung übervortheilen, noch

dieser jenen durch übertriebenes Herabhandeln drücken will.

Auch das Erbe wird erst gesegnet durch Liebe und Liebesarbeit. Segen liegt schon in der Liebe, die noch über das Grab hinaus sorgt:

um so mehr, wenn sie auch in dem Erben Liebe weckt, Liebe, welche das Erbgut in Segen für die Menschheit zu verwalten und durch

treue Arbeit die edlen Werke und Gedanken gestalten trachtet. ausbauen.

der Vorfahren

auszu­

Wem Erbe zufällt, der soll es dankbar so in Segen

Wer aber auf Erbschaften, zumal durch unlautere Mittel,

ausgeht, ist ein Selbstsüchtling und Erbschleicher. Geschenke haben nur Werth als Zeichen der Liebe. Dem Christen

ist „Geben seliger, gern

giebt,

soll

denn Nehmen" (Apostelg. 20, 35).

auch

dem Nächsten

Aber, wer

nicht durch falschen Stolz die

Freude des Gebens abschneiden oder verkümmern, insbesondere Aermere nicht dadurch kränken.

Wir sollen nicht auf Dank rechnen, aber selbst

um so dankbarer uns erweisen, doch so, daß wir uns nie zu MenschenElte st er, Materialien.

2. Auslage.

12

I. Hailptstück. Siebentes Gebot.

178

knechten machen lassen, die um empfangener Wohlthaten willen, von

ihren Pflichten abweichen (1 Kor. 7, 23).

Wo das geschieht, da fängt

die Bestechung an, die den Bestochenen und den Bestecher gleich sehr entwürdigt.

Wer durch erheuchelte

Arbeitsunfähigkeit

und

Noth

Gaben erschleicht, ist dem Diebe und Betrüger gleich zu achten, um so mehr, als er dadurch Mißtrauen auch gegen wirklich Nothleidende

weckt.

Ihm gilt:

„So Jemand nicht will arbeiten, der soll auch

nicht essen" (2 Thess. 3, 10). recht

Andrerseits sollte überall durch eine

eingehende Armenpflege,

welche sorgfältig

Bedürftige und

bettelnde Müßiggänger zu unterscheiden sucht, dem berufsmäßigen Betteln der Boden entzogen werden.

nach Kräften befolgt:

Dazu gehört, daß jeder es

„Wohlzuthun und mitzutheilen vergesset nicht"

(Ebr. 13, 16), daß er aber möglichst nur da giebt, wo Hülfe ange­

bracht ist.

Nicht, daß wir sie überall versagen sollten, wo die Armuth

verschuldet wurde: wer bedarf vor Gott nicht des Erbarmens gegen­ über der eigenen Schuld! Vielmehr das soll die Frage sein, ob wir

durch unsere Gabe auch wirklich helfen und nicht nur, wie durch so viele

Gaben an herumziehende Bettler geschieht, Faulheit, Trunksucht und

andere Laster fördern. Darum sollten wir die Unbekannten nach Mög­ lichkeit an die Vereine weisen und diese kräftig unterstützen, unmittel­

bar hingegen nur eingreifen, wo wir selbst prüfen können, da aber auch mit vollen Händen geben und noch lieber, als durch baares Geld,

dadurch helfen,

redlichem Erwerb geben.

daß wir den Arbeitsfähigen Gelegenheit zu Welch ein weites und schwieriges Feld der

Liebesthätigkeit öffnet sich hier!

Da gilt es weder Opfer an Geld

und Gut noch Mühe scheuen. Zins nehmen in billigen Schranken ist an sich durchaus nicht verwerflich.

Das Kapital, als Frucht früherer redlicher Arbeit, ist

selbst ein berechtigter Mitarbeiter zu neuem Erwerb, ein solcher kann

es auch dem Schuldner werden, und es ziemt sich, daß der Ausleiher

am Gewinn theilhabe.

Auch hier leisten beide, Gläubiger und

Schuldner, sich wechselseitig einen Dienst.

Machen aber hohe Zinsen

und andre drückende Bedingungen das Darlehen statt zu einer Hülfe zu einer Quelle des Verderbens, so beginnt der Wucher, der um so

verwerflicher ist, wenn Noth oder Leichtsinn benutzt wird, um den

Mitmenschen auszubeuten und zu Grunde zu richten.

Zins.

Wucher.

Spiel.

179

Glücksumstände, etwa unvorhergesehene Veränderungen der Verhältnisse, die meine Arbeit unterstützen oder meinem Eigenthum

höheren Werth verleihen, soll ich dankbar als Gabe Gottes hin­ nehmen

und in treuer

ausnützen. graben

soll

Arbeit zu

meinem

und

Segen

anderer

Aber rechnen auf Glücksumstände oder nach Schätzen ich

nicht,

sondern

arbeiten

und

Gutes

schaffen,

und Gewinn erstreben nur durch Leistungen zum Segen, nie

aber durch den Verlust

anderer.

Deshalb sind alle Glücks­

spiele als Mittel der Bereicherung unsittlich, um so mehr, je mehr sie geeignet sind, die Leidenschaft zu entfachen (Hazardspiel).

Auch

aus Furcht, für ängstlich und engherzig gehalten zu werden, sollst

du daran nicht theilnehmen, sondern durch muthiges Eintreten gegen

das leichtsinnige Treiben die Schwachen warnen.

Erlaubt dagegen

ist das Kartenspiel nur um des Vergnügens willen, auch das Spiel um Geld, wenn Gewinn und Verlust so gering ist, daß keiner um

des Geldes willen spielt, und keiner sich durch den Verlust bedrückt fühlen kann, daß vielmehr Gewinn und Verlust im Gelde gleichsam

nur einen gewissen, den Reiz des Spiels erhöhenden, sinnbildlichen

Ausdruck erhalten.

Sünde werden kann auch solches Kartenspiel in

demselben Sinn, wie jedes Unschuldigste, wenn es nicht in der Liebe geschieht, die auch beim Spiel nicht das Ihre, nicht allein die eigene Freude, sondern auch die des andern sucht, wenn die Leidenschaft aufgeregt oder die Psiicht darüber versäumt wird, oder auch, wenn

wir sittlich Schwache dadurch zur Sünde verleiten, wie etwa in Gegenden, wo Wirthshausleben und Spielsucht verheerend wirken. Da werden besonders Prediger zuzusehen haben, daß „ihre Freiheit

nicht zu einem Anstoß der Schwachen gerathe" (1 Kor. 8> 9).

Denn

„ich habe es zwar alles Macht, aber es bessert nicht alles" (10, 23). Den verwerflichen Glücksspielen sind gleich zu achten gewisse Arten von Wettens und Spekulationen — letztere, sofern sie Gewinn nur

durch anderer Verlust erzielens. ') Im römischen Kaiserreich verspielten manche an einem Abend im Kolosseum ihr ganzes Vermögen bei den Wetten darum, welcher Gladiator oder Wagen­ lenker siegen werde.

Ganz fehlt es auch heut nicht an leichtsinnigem Sport ver­

wandter Art. 2) Das Erlaubte und Nothwendige liegt beim Börsenspiel so dicht neben

12*

Was die Verwerthung des Eigenthumesbetrifft, so muß noch besonders hervorgehoben werden, daß sie keineswegs bloß in Almosen­ geben besteht. Das Reich Gottes soll gefördert werden: dazu gehört die Entfaltung des ganzen geistigen Lebens, Wissenschaft, Kunst, Beherrschung der Naturkräfte; dazu gehört als Grundlage des geistigen die gesunde Entwicklung des leiblichen Lebens, der materielle Wohl­ stand, wie die Gott wohlgefällige reine Freude auch am Irdischen. Aber alles das hat nur Werth, wenn es durch das Band der Voll­ kommenheit, die Liebe, verklärt wird und den Menschen zur Gottähn­ lichkeit emporführen hilft. Wer zur Förderung menschlicher Entwick­ lung in diesem weiten Sinne das Seine verwendet, der arbeitet mit an der Aufgabe der Menschheit im Reiche Gottes. Blicken wir noch einmal zurück, um zusammenzufassen, welches die Sinnesart sei, die uns befähigt, das siebente Gebot zu halten! Als ein Gut, von Gott uns anvertraut, sollen wir das Eigenthum, das kleinste wie das größte, ansehen. Wir sollen damit zum Ausbau des Reiches Gottes im großen Haushalt unseres himmlischen Vaters wirken. Welches Bewußtsein der Verantwortlichkeit muß uns da erfüllen! Wie fern sollten wir gleich sehr von Neid gegen Begüterte und von Hochmuth gegen Aermere sein, indem wir allzeit vor Augen haben: „Welchem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und welchem viel befohlen ist, von dem wird man viel fordern" (Luk. 12, 48). Hier ist Verschwendung ebenso strafbar, wie Geiz: wie schwer freilich, überall die Sparsamkeit zu üben, die Weisheit und Liebe vereint, die weder der rechtzeitigen Marthasorge, noch der Noth der Armen vergißt und doch mit Maria und — dem Herrn ein Herz hat, weit genug auch für den Schmuck des Lebens und den nicht ängstlich rechnenden Ausdruck der Liebe (Luk. 10, 38—42; Matth. 26, 6st). Höchstes Gut und höchster Lohn soll uns das Reich Gottes selbst, das unter heiliger Liebesarbeit in die Gemeindem Verwerflichen, daß die Gränzlinie im einzelnen schwer zu ziehen ist; aber jeder Weise des Erwerbs, die der Menschheit keinerlei Dienst leistet und nur auf

andrer Verlust sich aufbaut, fehlt die sittliche Berechtigung. Vor allem sollten Privatpersonen beinr Kauf und Verfalls von Werthpapieren sich vor Spekulationen hüten und eingedenk sein: Stricke" (1 Lim. 6, 9).

„Die reich werden wollen, fallen in Versuchung und

Rechte Versöhnung zwischen Arin und Reich.

181

schäft Gottes Hineinwacksen sein; alles andre ist nur Stoff und Werk­ zeug dieser Liebesarbeit. Stoff und Werkzeug sind verschieden aus­ getheilt, aber an der Frucht an dem höchsten Gut, an dem Leben in Gott, an Gott selbst können alle gleichen Antheil haben: „Hier ist kein Knecht noch Freier. — Denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu" (Gal. 3, 28). Hier gilt keine die Mannigfaltigkeit des Lebens zerstörende Gleichmacherei, sondern an dem edlen Leibe Christi sind viele Glieder mit den verschiedensten Gaben und Thätigkeiten, aber jedes dienend dem Ganzen, jedes an- seiner Stelle nothwendig für das Ganze, gleich hoch gehalten von dem, der das Scherflein der Wittwe höher achtet, als die reichsten Gaben aus kaltem Herzen (Mark. 12, 41 f.). Wie müßte diese innere Stellung zu den Dingen um uns den Reichen demüthigen, den Armen heben und Arm und Reich versöhnen, alle aber zu der Freiheit führen, in welcher wir nicht von den Dingen beherrscht werden, sondern über den Dingen stehen, gleich fern von Geringschätzung der Gaben Gottes, wie von Ueberschätzung des Irdischen, von Habsucht und Geiz, genügsam in Armuth (1 Tim. 6, 6f.), dankbar im Ueberfluß, frei, wie Paulus (Phil. 4,12): „Ich kann niedrig sein und kann hoch fein, — beides: satt sein und hungern, beides: übrig haben und Mangel leiden." Denn wir sind nicht Besitzer, sondern Gottes Haushalter: „Run sucht man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden" — treu in der Liebe, die nicht das Ihre sucht (1 Kor. 4,2).

*Das achte Gebot.

Die vier Gebote vom fünften bis zum achten bilden insofern ein Ganzes, als sie zusammen die Persönlichkeit des Menschen nach ihren verschiedenen Seiten hin unter ihren Schutz stellen. Das fünfte schützt die Person im engsten Sinne — in ihrem leib­ lichen Leben, das sechste in ihrer Ergänzung durch die Ehe, das siebente in ihrer Erweiterung durch das Eigenthum, das achte die sittliche Persönlichkeit, soweit sie durch das Urtheil anderer bedingt

1. Hauptstück.

182

Achteö 6)cbüt

Falsches Zeugnis; wider deu Nächsten.

ist: es schützt den Ruf, Namen, Leumund') — das will sagen: unter

allen Gütern, die uns die Außenwelt zutheilt, das wichtigste für unser Der gute Leumund ist der Schlüssel zum Vertrauen

sittliches Leben.

unsrer Mitmenschen und für

unzählige zum redlichen Erwerb,

ja

nächst der Religion der beste Halt in Noth und Mühsal; sein Ver­ lust bedeutet für manchen Ausstoßung

aus

Besseren, Untergang außen und innen. Verbrecher aus verlorner Ehre"

Und doch:

denken.

der Gemeinschaft der

Schillers Erzählung „Der

giebt schon durch ihren Titel zu

wie leicht nehmen wir es oft mit dem guten

Namen des Nächsten!

Am gröbsten wird das achte Gebot durch falsches Zeugniß vor Gericht übertreten;

hier, sofern das Zeugniß be­

es berührt sich

schworen wird oder Mein und Dein angeht, mit dem zweiten und

Doch wird viel häufiger im täglichen Verkehr dagegen

siebenten.

gefehlt.

Schmeichelei in's Angesicht,

„Afterreden", böse Zunge im

Rücken, Andeutungen, die das Schlimmste ahnen lassen und nichts

gesagt haben wollen, wenn man Beweise fordert — davor warnt

„Sei nicht ein Ohrenbläser

schon der weise Sirach (5, 16 u. 17):

und verleumde nicht mit deiner Zunge! lich Ding,

aber (nach dem Urtext:)

Das ist noch heut im Schwange bei Hoch und Niedrig

schändlicher." und zeigt,

Ein Dieb ist ein schänd­

ein Zweizüngler ist viel

daß mancher,

der auf den Dieb stolz herabblickt, dem

Nächsten Aergeres, als dieser, anthut, wenn er es aus sicherem Ver­ steck thun kann.

Und wie viel weiter verbreitet, als

dung,

ist die unbewußte,

die bewußte Verleum­

der Lüge rechte Schwester.

Oder ist

Wahrheit all' das leichtfertige Nacherzählen auf bloßes Hörensagen? Kannst du

die falschen Gerüchte,

wieder einfangen?

die du in Umlauf setzen halfst,

Warum nicht schweigen oder dem Verleumder

mit der ernsten Frage „Kannst du es beweisen?" das Handwerk legen?

Warum nicht,

Beredeten

wenn es ohne neues Aergerniß geschehen kann,

durch

dem

offene Aussprache Gelegenheit zur Vertheidigung

*) Leumund nach strenger Ableitung aus dem Mittelhochdeutschen: „laute d. i. öffentliche Meinung über jemanden".

Nichtig dem Sinne, aber nur schein­

bar der Ableitung nach ist die (Srtlänuig: „was von jemandem in der Leute

Mund ist".

,Bösen Leumund machen".

geben?

„Entschuldigen — alles zum Besten kehren."

183

Ein Wort zerstreut vielleicht den bösesten Schein. — Ist

ferner Wahrheit dieses ungerechte Herausreißen aus dem Zusammen­ hänge, der oft mit einem Schlage alles ändert, oder dieses Schatten

auf Schatten Häufen, wo vielleicht, wenn das Licht mitgezeigt würde,

die Schatten fast verschwänden?

Wer von uns hat vollends eine

Vertheidigung gegen die Verkleinerungssucht, welche die Beweggründe

des Herzens richtet, wo sich nicht anfechten läßt, was vor Augen ist? Und doch haben wir alle diesen gefährlichsten aller Verleumder sofort gegen andere bereit, wo Vorurtheil oder Haß uns die Augen für

ihre Fehler schärfen. Und noch einen andern lassen sich wenige ent­ gehen: das ist die Konsequenzmacherei.

Aus einem Worte,

einer Ansicht, einer Handlung zieht man Schlüsse auf Ansichten und Absichten, die völlig fern lagen, — oft nicht einmal folge­ richtig! Aber wie folgerichtig auch: wer könnte denn bestehen, wenn er alles verantworten sollte, was sich aus jedem seiner Gedanken,

Worte und Werke bei strengster Konsequenz folgern läßt?

Gott sei

gedankt, daß niemand stets konsequent ist, daß ebenso oft Herz und

Wille den fehlgreifenden Verstand verleugnen, wie der ganze liebe

Mensch einzelne Verirrungen schwacher Stunden!

Daß man doch

das im persönlichen Umgang, wie bei religiösen und politischen Mei­ nungskämpfen immer bedächte!

So lange dein Nächster selbst vor

der schlimmen Konsequenz zurückschreckt, ziehe du sie nicht,

es sei

denn ihm zur Warnung! Daß wir doch überhaupt harmloser wären und von Luther lern­

ten, den Nächsten „entschuldigen, Gutes von ihm reden und

alles zum Besten kehren!" einander machen!

Wie viel leichter würden wir es uns

Wie manche Freude würde nicht durch Empfind­

lichkeit getrübt, wie manche Freundschaft nicht gestört werden!

Uns

befremdet es, wenn man uns sogleich Arges zutraut, wo nur Ver­ gessenheit, Zufall, Uebermacht der Verhältnisse vorlag: warum setzen wir nicht das Gute voraus, bis das Gegentheil bewiesen ist? Da­

mit kann sehr wohl das

„Trau, schau, wem!"

bestehen.

Falsche

Vertrauensseligkeit fördert den Mißbrauch des Vertrauens und schlägt leicht in Mißtrauen um.

Wachsamkeit gegen Sünde und Schwach­

heit, auch gegen deine eigne Vergeßlichkeit und Unordnung stützt das

Vertrauen und wehrt der Versuchung und grundlosem Verdacht. Wo

I. Hmlptstück. Achtes Gebvt. Falsches ZeiMiß wider den Nächsten.

184

mit Geld und Geldcswerth nmgegangen wird, halte der Unehrlichen

und noch mehr der Ehrlichen wegen auf Verschluß und klare Buch­

führung!

Schöpfst du Verdacht, so schweige, bis du Beweise hast,

und vergiß nicht, daß auch du irren kannst!

Auch andern gegenüber

lege des Nächsten Verhalten stets auf's Beste aus! Neben die voraus­

gesetzten bösen Absichten stelle die möglichen guten, neben den Schatten

das Licht!

Aber nie wider die Wahrheit!

Einseitige Vertheidigungs­

sucht reizt, statt zu begütigen! Wichtig ist sicherlich das Schweigen über des Nächsten Schwächen.

Darauf zielt das „Nicht Verrathen" in Luthers Erklärung. Doch

hat das Wort eine viel umfassendere Bedeutung:

Verrath ist nicht

nur das Ausplaudern des anvertrauten Geheimnisses,

Mißbrauch

des

anvertrauten Gutes,

der

sondern auch

anvertrauten Vollmacht,

Uebergabe der anvertrauten Festung oder sonst Vorschub, dem Feinde des Vaterlandes geleistet,

aus Feigheit oder um Lohn,

heimliche

Schädigung des Freundes im eignen Interesse, Ermordung des Gast­

freundes, Verführung anvertrauter Seelen, nachlässigung

des

anvertrauten Amtes.

Mißbrauch des Vertrauens.

im Grunde schon Ver­

Das Gemeinsame ist der

Obschon daher auch andere Gebote

durch die verschiedenen Arten des Verraths übertreten werden, z. B.

das siebente durch Veruntreuung, so ist doch jeder Verrath zugleich eine Sünde wider das achte Gebot

im Großen:

Sünde am Leu­

mund der Menschheit bei ihren eignen Gliedern, Abbruch an der Achtung des Menschen vor dem Menschen und an unserm wechsel­

seitigen Vertrauen; er ist mitschuldig, baß nicht einer dem andern auf sein ehrliches Menschenangesicht Glauben schenkt.

Darum hält

das achte Gebot nur recht die Treue im Kleinen, wie im Großen:

s i e maßt sich nicht an, das anvertraute Geheimniß auch nur diesem einen zu sagen, der es ebenso nur diesem einen anvertrauen würde;

auf sie baut weder Vaterland noch Freund,

noch

selbst der Feind

vergeblich. — Recht an das Gebiet des Verraths streift auch die Zwischenträgerei, die unbedachtes oder vertrauliches Wort wieder

anbringt und „Hader zwischen Brüdern anrichtet" (Spr. 6, 19), zu­ mal, wenn eine Vertrauensstellung in Amt und Haus dazu benutzt wird.

Wiedererzählen magst du, was Freunde einander noch näher

bringt oder Feinde zu Freunden macht!

Verrathen.

185

Wurzel der VerklemerungSsucht.

Das Schweigen über die Sünden des Nächsten hat seine Gränze

in Wahrheit nnd Pflicht.

Unwahre gute Zeugnisse, mündliche wie

schriftliche, entwerthen die wahren und guten und benachtheiligen die

darauf Vertrauenden.

Verschweigen von Verbrechen kann zu neuen

Verbrechen versuchen nnd Unschuldige in Verdacht bringen.

Soweit

cs aber ohne Schaden und Pflichtversäumniß geschehen kann, soll ich

der Sünde des Nächsten, zumal der, welche nur mich persönlich trifft, nach dem Worte des Herrn (Matth. 18, 15f.) entgegentreten: „Sün­

diget dein Bruder an dir, so strafe ihn zwischen dir und ihm allein. Höret er dich, so hast du einen Bruder gewonnen ..."

Wie oft würde

ein liebevoll ernstes Wort unter vier Augen oder, wenn die Art des Falles

cs

erfordert, vor wenigen vertrauten Zeugen (v. 16) eine

Seele retten, die, sogleich der Schande preisgegeben, sich verstockt und

untergeht!

Wie mancher Zwist wäre im Keime erstickt, wenn einer

dem andern die Aussprache Aug' in Ange gegönnt hätte,

statt die

Sache unter die Leute zu bringen.

Das achte Gebot lehrt uns vor andern den rechten Gebrauch der Zunge, dieses „kleinen Gliedes", das doch „große Dinge" an­

richtet (Jak. 3, 5f.). stets

würde.

Wie viel Gutes

Demuth und Liebe,

von

könnte sie stiften,

wenn sie

Wahrheit und Gottesfurcht gelenkt

Was aber entflammt sie doch wieder und wieder zu „diesem

unruhigen Uebel voll tödtlichen Giftes",

das „kein Mensch zähmen

kann", — zu dieser „Welt voll Ungerechtigkeit"? oft vergessen,

daß

wir einst

„von jedem

Was läßt uns so

unnützen Worte werden

Rechenschaft geben müssen"? (Matth. 12, 36.)

Zu jeder Thatsünde

kann jede Herzenssünde, jede Leidenschaft verleiten: Zorn, Rachsucht, Habsucht, Herrschsucht, Eifersucht sind gleich geschäftige Verleumder;

was aber die Zunge selbst der Besseren wider

den Leumund des

Nächsten waffnet, das ist die tiefgewnrzeltste aller Sünden, die Sucht, besser, als andre, zu scheinen-die Eitelkeit.

die

Sterne

und

Je heller um uns

Sonnen, desto blasser unser Stern;

je dunklere

Schatten an unsern Mitmenschen, desto heller das eigne Licht!

Der

Splitter in des Bruders Auge soll uns und andere über den Balken in

unserm Auge hinwegtäuschen (Luk. 6, 41, 42). Daß wir doch danach strebten,

gut zu sein!

Dann würden wir merken, wie viel zmn

Gutsein noch fehlt; wir würden, nm es zu werden, gern das Gute

186

1- Hauptstück. Achtes Gebot. Falsches Zeugniß überhaupt — Lügen.

an andern anerkennen und von ihnen lernen; wir würden nicht richten,

um selbst nicht gerichtet zu werden (Luk. 6,37).

Die Demuth, die sich

selbst der Milde bedürftig fühlt, lernt leicht die Liebe, die „alles verträgt, alles glaubet, alles hoffet, alles duldet" (1 Kor. 13, 7), und gedenkt

auch bei dem Urtheil über andre des Wortes (Matth. 7,12): „Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen!"

An zwei Stellen des Neuen Testaments (Matth. 19, 18; Röm. 13, 9) lautet das achte Gebot — ohne den Zusatz

Nächsten":

„wider deinen

„Du sollst nicht falsch Zeugniß geben", d. h. „du sollst

nicht lügen". Das führt uns auf die Lüge im allgemeinen ohne Beziehung auf den Leumund des Nächsten oder auf den Mißbrauch

des Namens Gottes (2. Gebot S. 69).

Warum ist doch die Lüge

ein so „häßlicher Schandfleck an einem Menschen"? (Sir. 20,26.) Was macht die Wahrhaftigkeit zu einer so unbedingten Pflicht? Die Schrift antwortet (Eph. 4, 25): „Leget die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir unter­

einander Glieder sind."

Wir sind einander Wahrheit schuldig, zu­

erst als Glieder einer Gemeinschaft.

Denn keine Gemeinschaft

ohne Vertrauen, und kein Vertrauen ohne Wahrhaftigkeit!

Sie

allein bürgt für die Treue des Bildes, welches einer dem andern

durch Sprache und Geberde von der unsichtbaren Welt in seinem Innern giebt. Wenn diese Zeichen einmal nur bei einem trügen, so können sie immer bei allen trügen, deren Wahrhaftigkeit ich

noch nicht erprobte.

Die erste Lüge, die das Kind hört, raubt ihm

das Paradies des kindlichen Glaubens; auch für Vater und Mutter hat es jetzt das häßliche

„Du lügst" bereit.

Gleich dem Verrath

ist jede Lüge Mißbrauch des Vertrauens, selbst Verrath an dem

Vertrauen, an der Gemeinschaft, der Liebe der Menschen unter ein­

ander, an dem Leumund der Menschheit bei ihren Gliedern.

Einmal

gelogen heißt allemal gelogen, darum darf keineLüge erlaubt sein,

auch die Nothlüge nicht.

Wäre doch sonst fast jede Lüge erlaubt!

Für welche Lüge — ausgenommen etwa Verleumdung, Prahlerei

und Uebertreibung — ließe sich denn keine Noth, Schaden, Unannehm­

lichkeit vorschützen, die durch sie vermieden werden soll?

Ist nicht

ein Schaden auch die Einbuße eines Vortheils, den man sich durch eine kleine Nothlüge verschaffen könnte?

Wahrhaftigkeit als Pflicht gegen die Geineinschast und gegen uns selbst. Die Verwerflichkeit jeder Lüge,

187

auch der Nothlüge tritt in ein

noch helleres Licht, wenn wir die Wahrhaftigkeit nicht nur als Pflicht gegen die Gemeinschaft,

uns

selbst auffassen.

sondern zweitens auch als Pflicht gegen Durch jede Lüge begehen wir eine Art von

Selbstmord an unsrer sittlichen Persönlichkeit: wird sie entdeckt, durch Schädigung unsres guten Leumunds, immer aber durch Untergrabung

seiner Wurzel, durch Herabsetzung unsres innern Werthes, ohne den

der beste Leumund leerer Schall ist.

Denn jede Lüge schafft einen

Widerstreit in uns zwischen unserm äußern und innern Menschen,

stört dadurch die Harmonie unsres Wesens, nimmt uns die sittliche

Haltung und Würde und macht uns in unsern eignen Augen vor unsern Mitmenschen verächtlich.

Doch fassen wir die Sache noch

tiefer: Wahrhaftigkeit ist Uebereinstimmung unseres äußern Menschen mit unserm innern, in höherem Sinne mit unserm inwendigen Men­

schen seiner ursprünglichen Anlage nach, Gottes Bilde;

mit dem Menschen nach

Wahrhaftigkeit im höchsten Sinne ist Uebereinstim­

mung mit Gott selbst, der als das einige Wesen in allem trügenden

Schein, als das Bleibende in allem Wandel, aller Wahrheit Urgrund und Ziel ist.

Aus dieser Wahrhaftigkeit ruht unsere göttliche Würde.

Sie ist keine fertige, sondern eine werdende;

sie ist das immer

voller Jnsichaufnehmen der unendlichen Herrlichkeit Gottes in unser Herz und die Wiederabspieglung derselben in Wort und Werk.

Auf

sie zielt Pauli Wort(Eph. 4,24): „Ziehet den neuen Menschen an, der

nach Gott geschaffen ist (nach dem Urtext:) in rechtschaffner Gerechtigkeit und Heiligkeit der Wahrheit," das will sagen: aus der Wahrheit

geboren; „darum", so schließt sich nun unmittelbar die vorher be­ sprochene Mahnung an „darum leget die Lüge ab und redet die Wahr­

heit."

Also Wahrheit die Lebenswurzel, Wahrhaftigkeit die erste Lebens­

äußerung dieses neuen und doch ursprünglichsten Menschen, nach Gott geschaffen. Si e ist aller Tugenden Werkmeisterin und zugleich die natür­ lichste unter allen: sie ist die verlangende Rückerinnerung des Menschen

an seine göttliche Natur,

die Sehnsucht des Geschöpfes nach dem

Schöpfer, das Heimweh des Kindes nach dem Vater.

Sie lehrt uns

das Bruder- und Schwesterherz suchen, um des Vaters Bild darin

zu finden; sie macht uns erst zu „Gliedern unter einander" in dem einen Vater.

Um so richtiger ist Luthers scharfes Urtheil über die

I. Hmlptstück. Achtes Gebot. Falsches Zeugniß überhaupt — Lügeir.

188

Lüge (3. 1968):

„Wenn sonst alle Laster den Menschen nicht ver­

unreinigen, so ist doch dies einige Laster wider des Menschen Natur.

Denn was begehret der Mensch mehr nach seiner Natur, denn, daß er die Wahrheit wissen will?"

Die Lüge befleckt Gottes Bild und

Spiegel in uns und damit unsre göttliche Würde. die Verführerin zu jeder Sünde,

denn

Zugleich ist sie

sie reicht ihr den Schleier.

Wohl dem, der nicht lügen kann: er wird zum voraus meiden, was das Licht scheut; die Wahrhaftigkeit ist die Wächterin seiner Tugend. Gegenüber der Leichtigkeit,

mit der vielen die Lüge über die Lippe

gleitet, hat es einen tiefernsten Sinn, wenn Jesus (Joh. 8, 44) den Teufel

„einen Menschenmörder von ansang"

Lügners" nennt:

ja,

und

„den Vater des

die Lüge ist der schlimmste Teufel in unserer

Brust, aller Laster Anfang ufld die Mörderin der Seelen.

Darum

noch einmal: hinweg mit jeder Lüge, auch der Nothlüge! Nichts gemein mit dem, was man gewöhnlich unter Nothlüge ver­

steht (S. 186), haben die höchst seltenen Fälle, in denen die Wahrheits­ pflicht vorübergehend ruhen muß, weil für ihre Ausübung die innere

oder äußere Vorbedingung fehlt: In Krieg und Nothwehr ist das Band

der Gemeinschaft und

damit ein wesentliches Stück dessen,

was Wahrheit zur Pflicht macht, aufgehoben.

Wo ich Menschenblut

vergießen darf, ist auch die List erlaubt; denn so, nicht Lüge nenne ich hier die Täuschung. Doch darf ich sie auch hier nur im äußersten

Nothfall anwenden und nie vergessen, daß Wiederherstellung der Ge­

meinschaft das Ziel, und Wiederherstellung des Vertrauens dazu die unentbehrliche Brücke ist.

Räuber und

Daher auch im Kriege und selbst gegen

Denn

Mörder Vertragstreue!

Brücke schlagen.

sie allein kann jene

Schande insbesondere über jeden Mißbrauch der

Parlamentärflagge und des rothen Kreuzes!

Geisteskranke

sind

unfähig, die Wahrheit zu fassen: weises Eingehen auf ihren Wahn ist nicht Lüge, sondern ein Mittel, sie zu beruhigen und vielleicht

aus

ihrer Scheinwelt

zur Wirklichkeit

Kranke sind zuweilen zu schwach, die Wahrheit zu tragen.

zurückzuführen.

Leiblich

ohne Gefährdung ihres Lebens

Die Kunde vom Tode des Kindes wäre

der schwerkranken Mutter selbst der Tod: und — Verhüllung — Aufschub der Wahrheit —

bis sie ihr gewachsen ist,

verdiente den

schmählichen Namen Lüge, wäre Sünde und nicht vielmehr Liebes-

Pflicht? Aber auch hier Beschränkung auf das Nothwendigste! Keine Vertuschung nur, um eine Beunruhigung zu ersparen! Was Gott auflegt, sollen wir mit einander tragen; überdies wäre die Folge Argwohn und Angst des einmal Getäuschten auch, wo kein Grund dazu vorläge. — Verletzt wird das Gebot der Wahrhaftigkeit in den bezeichneten Fällen stets nur dem Buchstaben, nicht dem Wesen nach; deshalb sollte man das Wort, mit dem sich so gern die Unwahr­ haftigkeit rein wäscht, das Wort Nothlüge, gar nicht daraus an­ wenden. Suchst du eiueu Prüfstein, um in einem gegebenen Zweifel deines Gewissens zu entscheiden, ob nur deine Eigenliebe eine Noth zur Entschuldigung der Lüge vorschütze, oder ob wirklich eine Zwangs­ lage dir die unentbehrliche Vorbedingung für Ausübung der Wahr­ heitspflicht auf Zeit entziehe? Wohlan! Trifft letzteres zu, so hat der Widerspruch zwischen deinem Worte und deinem bessern Wissen mit deinem sittlichen Menschen, deiner innern Würde und deinem Verhältniß zu Gott nichts zu schaffen: mitten aus deiner Rede kannst du frei und froh zu deinem himmlischen Vater aufschauen; ja, nach Beseitigung der Zwangslage wirst du dem getäuschten Nächsten, ohne zu errathen oder seine Mißbilligung zu fürchten, den Sachverhalt mittheilen dürfen. Kannst du das? Wirst du das können? Oder wird auch dann ein Etwas bleiben, das du vor Gott und Menschen und dir selbst verhüllen möchtest? Wenn das: so wird keine Nothlage die Lüge — die Selbstentwürdigung von deiner Seele nehmen. Auch die Höflichkeitsrücksicht entlastet nicht. Wie? die gesellige Nothlüge wäre erlaubt? Aus Rücksicht auf die Etikette dürfte das Kind Gottes des Vaters Bild in seiner Seele beflecken? — Du läßt dich verleugnen? du kannst dich wirklich nicht sprechen lassen? So sei kein Menschenknecht — gewöhne deinen Mitmenschen an die Frei­ heit und Wahrhaftigkeit des Gotteskindes! Oder ist dir's nur un­ bequem? So verleugne deine Bequemlichkeit, statt dich und deinen Dienstboten zum Lügner zu machen! — Wo du tadeln solltest, mußt du aus Höflichkeit loben? Kannst du nicht schweigen? Muß ich alles sagen, was ich denke, und durch mein leicht irrendes Urtheil, geschweige unberufenes Absprechen verletzen? Wahrhaftigkeit über­ all, Offenheit nur, wo sie frommt. Auch weiß die Liebe ost den

1- Hauptstück. Achtes Gebot. Falsches Zeugniß überhaupt — Lügen.

190

Tadel an Anerkennenswerthes

zu knüpfen.

Aber schmeicheln?

Wie entwürdigend — für deinen Mitmenschen, den du für so

eitel hältst,

um unbegründetes Lob zu glauben oder zu wünschen,

für dich, der du durch deine Lüge auch für die Folgezeit dein Ur­ theil, Lob wie Tadel, entwerthest!

Was treibt dich dazu?

Furcht,

anzustoßen? — Menschenfurcht den, den von Lüge und Furcht zu

befreien,

der König der Wahrheit am Kreuze starb?

Oder bewegt

dich die Liebe? Weißt du nicht, daß der Schmeichler unser Todfeind

ist, weil er unserm inwendigen Menschen auf dem Heimwege zum

Lebensbrunnen der Wahrheit, zu Gott, Netze stellt, indem er uns über die Schwächen täuscht,

die uns von Gott trennen?

Und es

wäre Liebe, das dem Bruder anzuthun?

Nur scheinbare Lüge ist Dichtung und Scherz.

Beide verhüllen

die Wahrheit nur mit leicht durchsichtigem Schleier. Die Dichtung,

das Märchen will sie dadurch dem kindlichen Verständniß faßlich, dem Gereifteren reizvoll machen. der Schein bestehen bleiben,

Für jenes muß oft eine Zeit lang

als sei Hülle und Kern eins.

Die

Unwahrhaftigkeit beginnt, sobald man diesen Schein künstlich zu er­

halten sucht; vermeiden.

das sollte man auch auf religiösem Gebiet sorgfältig

Der Scherz diene harmloser Kurzweil oder der Liebe,

die unerwartete Freude sinnt!

Nie soll er hochmüthig die Einfalt

kränken noch des Heiligen spotten oder den Ernst der Zucht und Pflicht überwuchern. Das Uebertreiben und Ausschmücken bei Erzählungen ist oft nur das ungewollte Erzeugniß lebhafter Einbildungskraft,

doch

selten ganz frei von Eitelkeit, die sich interessant machen möchte.

Der Wahrhaftige schämt sich selbstverständlich dieses, wie jedes an­ dern Scheinwesens und Scheinwerthes; vollends gilt ihm jedes Prahlen mit der eignen Person als Selbstentehrung.

Ja, der im

vollen Sinn Wahrhaftige, d. i. der das Heimweh nach dem Urbild

aller Wahrheit — nach Gott kennt, scheut auch jedes Aufheben mit seinen wirklichen Leistungen. Denn ihm besteht sein wahrer Werth in dem, was er werden soll: das Abbild Gottes durch die Nach­

folge Christi,

des einzigen wahrhaft gottähnlichen Menschen.

Im

Hinblick auf ihn, dem er ähnlich werden soll, erscheint ihm, was

er jetzt ist und leistet, immer kleiner, lernt er täglich strengere

Nichtige lind falsche Auffassung der Wahrhaftigkeit.

191

Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, gewinnt er ein immer schärferes Auge für seine geheimsten Fehler. Aber seine Demuth hindert ihn nicht, nach Jesu Mahnung (Matth. 5, 16) „sein Licht vor den Leuten leuchten zu lassen" — durch anspruchslose Pflicht­ erfüllung in Glauben und Liebe. Denn seine Wahrhaftigkeit ist ebenso sehr, wie strenge Selbstkritik und stets wachsende Empfäng­ lichkeit für die Wahrheit und Liebe von oben, treue Darstellung des von oben Empfangenen in seinem Wandel, um die Herrlichkeit des Vaters nach seiner Gabe auch andern offenbaren zu helfen. Weil ihm dazu die Achtung seiner Mitmenschen ein wichtiges Mittel ist, meidet er, wie allen, so auch den „bösen Schein" (1 Thess. 5, 22) und weiß nichts von dem Trotz der mißverstandenen Wahrheitsliebe, der, um im Aeußern ja treu das Innere abzubilden, auch alle Schroff­ heit, Laune, Empfindlichkeit, Roheit und Leidenschaft mit heraus­ kehrt. Sie läßt er nimmer zu Worte kommen; nicht, daß er außen !chön thäte und innen Arges sänne, sondern, damit sie kein Unheil anrichten, und er Zeit und Kraft gewinne, sie völlig aus­ zutilgen. Denn sie sind ihm nicht das wahre Innere, sondern eine Lüge wider die Schöpfung, als die den ächten Kern des Menschen, das Gotteskind in uns, verdecken. Der ächten Wahrhaftigkeit ist auch die falsche Scham fremd, welche die edelsten Regungen im Innern verschließt, damit sie nur ja nicht für Heuchelei gehalten werden. Gewiß, was das Herz am tiefsten bewegt, scheut die Entweihung durch viele Worte und durch Hervortreten an der unrechten Stelle: „das Heiligthum nicht den Hunden!" (Matth. 7, 6.) Aber das gehört auch zur Wahrhaftigkeit, daß, was das Innerste bewegt, auch deu Weg zu andern Herzen suche, damit Liebe an Liebe, Glaube an Glauben sich entzünde. Wie manches Band der Gemeinschaft hätte sich inniger gestaltet, wie manches Gemüth wäre minder kalt gegen das Wehen des Geistes geblieben, wenn, als Gott die rechte Stunde gab, das bewegte Herz auchjdas rechte Wort gefunden hätte. — Die ächte Wahrhaftigkeit weiß Wahrheit und Liebe zu einen. Denn sie ist der Glaube an die Wahrheit, die die Liebe ist; deshalb nimmt sie die Liebe von oben immer verlangender, immer voller in sich auf, läßt sie immer tiefer bis in des Herzens Grund hineinleuchten und prägt sie immer reiner

I. Hauptstück.

192

Neuntes und zehntes Gebot.

und siegesfreudiger im ganzen äußern Menschen aus. Wo sie ist, d a ist der vollkommene Mensch, „der auch in keinem Worte fehlt" (Jak. 3, 2), da der ächte Nathanael, „in welchem kein Falsch ist" (Joh. 1, 47).

*Das neunte und zehnte Gebot

bei Luther ist ursprünglich ein einziges — das zehnte — wider das

Begehren.

Des Nächsten Haus, Weib, Knecht, Magd u. s. w. sind

nur zur Erläuterung als die Gegenstände beigefügt, auf welche sich

das Begehren richten kann.

Wollte man durch ihre Verschiedenheit

die Trennung begründen, so müßte man, wie schon früher (S. 8)

bemerkt, so viele Gebote als denkbare Objekte der Lust aufstelleu. Ueberdies schließt das Haus im neunten Gebot nach altjüdischcm,

wie griechisch-römischem Sprachgebrauch die Familie, und zwar Weib, Kind und Gesinde, also auch das zehnte mit ein und wird selbst

durch das „alles, was dein Nächster hat," in das letztere mit ein­ geschlossen.

Endlich steht zwar 2 Mos. 20, 17 das Haus, 5 Mos. 5,

21 aber das Weib voran, und hiernach beträfe das neunte das Weib,

und erst das zehnte das Haus und alles andere').

So theilt auch

wirklich Augustin ab, während im übrigen gerade ihm die in der römischen Kirche

geltende, von da in Luthers Katechismus über­

gegangene und uns dadurch geläufige Eintheilung der Gebote ihre Entstehung verdankt"). Wenigstens faßt er im Widerspruch mit allen uns bekannten christlichen und jüdischen Schriftauslegern, die diesen Punkt berühren, auch mit Philo und Josephus das Gebot

gegen den Bilderdienst,

das zweite in der Bibel, nur als Aus­

führung des ersten") und zerlegt dann, um die Zehnzahl — „die *) Wie unsicher» Anhalt hier

der Buchstabe bietet, erhellt auch daraus, daß

die griechische Uebersetzung der Septuaginta beidemal das Weib, der bei den Sa­ maritern geltende Text hingegen beidemal das Haus voranstellt.

2) Man nennt sie nach ihm die Augustinianische. 3) Durch diese Zählung erhält er für die Pflichten gegen Gott nur 3 Gebote und fuhrt dafür den seltsamen Grund an, daß in dieser Zahl sich die Dreieinigkeit

darstelle.

10 Worte" nach der Schrift (2 Mos. 34, 28) — festzuhalten, das ursprünglich eine uom Begehren in zwei. Alle Versuche, zwischen dem nennten und zehnten Gebot nach Luthers Zählung einen klaren Unterschied herauszubringen, sind gekünstelt') und zur Vertheidigung Luthers um so unnöthiger, als er zwar die bis dahin gebräuch­ liche Eintheilung beibehalten hat, selbst jedoch, ausgenommen allein den kleinen Katechismns, in seinen zahlreichen Auslegungen der Gebote, auch im großen Katechismus und in seinem ersten kurzen Katechismuscntwurf von 1520, für das neunte und zehnte Gebot stets eine gemeinsame Erklärung giebt und mehrfach bemerkt, daß beide ein und dasselbe, die böse Lust, verbieten, ja ausdrücklich her­ vorhebt: „es liege nicht viel an der Theilung", auch Paulus fasse es Röm. 7, 7 in eines"). Daß man in der That zur Zeit der Apostel nur von einem Gebot gegen die böse Lust wußte, beweist noch schärfer Röm. 13,9, wo Paulus mehrere Gebote aufzählt und am Schluß, offenbar in der Absicht, das letzte Gebot zu nennen, auch das „Dich soll nicht gelüsten" ohne jeden Zusatz anführt"). Wiewohl nun auch Luther als den Kern der beiden Gebote die böse Lust ansieht und bei Erklärung derselben im großen Katechis­ mus sehr schön sagt, „Gott wolle vornehmlich das Herz rein haben": so bezieht er sie doch in seinen Auslegungen keineswegs ausschließlich oder auch nur hauptsächlich auf das Gelüsten des Herzens (woran im kleinen Katechismus nur das „mit List nach seinem Erbe oder Hause stehen" austreift), sondern — geleitet durch seine Neigung, alles praktisch zu wenden — weit mehr auf die mannigfach vorkommenden, schon zur That übergehenden Bestrebungen, des Nächsten Gut oder ]) Schon ein altdeutsches (Gedicht aus dem 13. Jahrhundert, und später Melauchthon bezieht das 3. Webot auf de§ Nächsten Cout überhaupt, das 10. nur auf das Weib,

dem ähnlich

der römische Katechismus das 9. auf das Nützliche und

Gewinnbringende, das 10. auf die Leidenschaften und Wollüste; aber wie paßt dazu

Knecht, Magd, Ochse, Esel u. s. lu.?

Welchen

Wortlaut für die Beziehung des einen Gebots

Anhalt

giebt vollends der

auf die Erblust,

des andern auf

die aktuelle Lust seitens lutherischer Theologen?

-) 3. 1688 ii. 1978-1981; 10. 188 u. 196 f. 3) Näheres über die Eintheilung der Gebote, besonders auch das Geschichtliche, siehe

Geffcke-n:

„Ueber die

verschiedene

Eintheilung

des

Decalogus",

burg 1838. (ältester, Materialien.

2. Auslage.

13

Ham­

I. Haupt stuck. Neuntes und .zehntes Gebot.

194

auch Weib und Gesinde auf eine vor dem Gesetz nicht strafbare, aber

vor Gott darum nicht minder verwerfliche Weise „mit einem Schein des Rechtes an sich zu bringen", wendig zu machen".

„abzuspannen,

abzudringen, ab­

Gewiß eine überaus praktische Ergänzung des

6., 7. und auch 8. Gebotes,

wenn wir an die hundertfältigen Ge­

stalten denken, unter denen berechnende Habsucht noch heut Unkundige, Machtlose, Arme zu bedrücken, auszunützen und durch Hinterthüren

des Rechts

das Ihre zu bringen weiß, oder an die unlautern

um

Wege, auf denen manche durch Zwischenträgerei und Doppelzüngig­ keit, Aufhetzerei und allerlei Lockmittel sich in Freundschaften, Fa­

milien, Ehen oder auch zwischen Herrschaften und Dienstboten, Vor­ gesetzte und Untergebene störend eindrüngen und an sich haltbare, ja

segensreiche Bande geschäftig lockern helfen, um die Leute und den

Gewinn zu sich herüber zu ziehen. giösen Parteikämpfen glauben

Auch in den politischen und reli­

öfter sonst achtbare Leute sich höchst

bedenklicher Hülfsmittel bedienen zu dürfen,

weit von sich weisen

die sie im Privatleben

würden, um im Dienste des Patriotismus

— des Fortschritts — der Freiheit — zur Ehre

Gottes — von

andern „abwendig zu machen" und für ihre Sache zu werben.

Im Alten Testament bedurfte es eines besonderen Gebotes gegen die böse Lust, weil der kurze Wortlaut der Gebote nicht zwingt, von der äußern That in die Tiefen der Gesinnung hiuabzusteigcn.

Auf

eben diese sind wir dagegen durch Luthers „Gott fürchten und lieben"

und durch die geistige Auffassung des ganzen Neuen Testaments, vor allem der Bergpredigt (Matth. 5) schon bei jedem einzelnen Gebote

hingewiesen und könnten daher auf ein besonderes Gebot in dieser Richtung,

beziehungsweise auf die Erklärung

desselben verzichten,

wenn nicht für die Bekämpfung der bösen Lust folgende allge­ meine Gesichtspunkte Beachtung verdienten:

1. Zu jeder

eine böse Lust,

äußern Uebertretung (Thatsünde) treibt irgend

Neigung,

Begierde,

— in gesteigertem Grade Laster).

Leidenschaft (Zustandssünde Je öfter wir uns

durch

die

Lust zur Uebertretung reizen lassen, um so mehr nistet sich erstere ein, wird aus der Lust der Hang, das Laster, die Sündenknechtschaft.

Schon die erste Thatsünde durchbricht den Damm der ursprünglichen Scheu vor der Uebertretung, ihr folgt leichter die zweite u. s. s.

So

That- und Zilstandssünden; Wechselwirkung aller mit allen.

195

hüte dich vor der ersten! „Wer Sünde thut, der ist der Sünde Knecht"

(Joh. 8, 34), bis sich mehr und mehr jener sündige Zustand ent­ wickelt, den Paulus Röm. 7 so ergreifend schildert: „Das Gute, das ich will, das thue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will,

das thue ich" (v. 19).

Vergl. auch Jak. 1,13 f.

2.

Wiewohl bestimmte Leidenschaften besonders häufig zu be­ stimmten Uebertretnngen verleiten, wie Haß, Neid, Rachsucht zum

Morde, Habsucht und Arbeitsscheu

zum Diebstahl, Eitelkeit und

Eifersucht zur Verleumdung und Verkleinerung: so kann doch jede sündliche Neigung, je mehr sie zur Leidenschaft wächst, jede That­

sünde hervorrufen, und ebenso jedes Laster vermöge einer natürlichen Verwandtschaft aller Sünden unter einander jedes andre Laster ent­

zünden.

Haß, Ehrgeiz haben zum Diebstahl, Eitelkeit, Putzsucht

zunr Morde getrieben; jede Lieblingsneignng (Passion), an sich viel­

leicht ganz harmlos, z. B. wissenschaftliche Liebhabereien, wenn sie zur Leidenschaft werden, befähigen zuletzt zu jeder Sünde.

Andrer­

seits hat Herrschsucht, Grausamkeit, Völlerei u. bergt von Natur Tapfere zu Feiglingen umgeschaffen,

Geräusch erbebten.

die bei jedem ungewohnten

Darum sei wachsam gegen jede Leidenschaft in

ihren kleinsten Anfängen, ehe sie deiner Herr wird und dich führt,

wo du nicht hin willst! 3. Die Lust wächst durch das Anschaun dessen, was sie ent­ facht. „Das Weib schauete an, daß von dem Baume gut zu essen wäre und lieblich anzusehn" (1 Mos. 3, 6): in dem Worte liegt eine

ernste Warnung. Wallenstein spielte so lange mit dem Gedanken, den Kaiser verrathen zu können, bis er im Verrathe unterging. Das Spielen mit versuchlichen Gedanken ist gefährlicher, als das

mit Feuer.

Wenn das Gewissen die Erfüllung eines Wunsches ver­

wehrt, sinne nicht lange über das ob und wenn und wie, damit du darüber nicht vergessest, was vor Gott recht ist!

dich dein rechtes Ange,

Sondern, „ärgert

so reiße es aus" (Matth. 5, 29. 30), d. h.

tilge den sündigen Gedanken aus deiner Seele, und wäre er noch

inniger mit ihr verwachsen, als Auge und Hand mit deinem Leibe! Laß auch das an sich Unschuldigste, wenn du merkst, daß es dich knechtet und zur Sünde reizt!

Die Bitte „Führe uns nicht in Ver­

suchung" hat zuvörderst den Sinn: Gott wolle unser Herz bewahren,

196

1.

Neuntes und zehntes Gebot.

Hauptstück.

daß wir nicht ohne Noth nns in Versuchung begeben,

sie in bestrickender Gestalt uns naht.

zumal, wo

Insbesondere du Vater, du

Mutter, behüte deiner Kinder Herz und meine nicht, du müssest ihnen Raum lassen, in der Versuchung Erfahrungen zu sammeln!

Nichts

4.

ist

schwieriger, als böse Neigungen, Leidenschaften

und Gewohnheiten zu besiegen und aus dem Herzen zu bannen.

Es

geht nicht ohne rückhaltloses, entschiedenes Wollen noch ohne Wachen und Beten („Mache dich, mein Geist, bereit, wache, fleh' und bete!").

Und noch ein Gesetz ist dabei zu beachten, das wir der Natur ab­ Diese leidet keinen leeren Raum,

lauschen können:

selbst die Luft­

pumpe entleert ihn nie ganz; und, wo die atmosphärische Luft fehlt,

nehmen die Forscher

Auch

den raumerfüllenden Aether an.

Seele kann nicht leer bleiben.

Jesus deutet

die

daranf in einer Rede

die bei buchstäblicher Fassung kaum überwindliche Schwierig­

hin,

aber, geistig gedeutet, überaus lehrreich wird.

keiten bietet,

Luk.

11, 24 f. spricht er von einem unsaubern Geiste, der, von einem Men­

schen ausgetrieben, nachher mit sieben noch ärgern Geistern die alte

wohl gekehrte und geschmückte Wohnung, d. h. des Menschen Seele,

wiedererobert,

daß

es mit demselben Menschen ärger, denn vorher das bloße Verbannen des Bösen aus den

Das will sagen:

wird.

Gedanken, geschweige das bloße eine Zeit lang sich Enthalten genügt

nicht; mit irgend etwas will die Seele sich erfüllen,

darin Befrie­

digung suchen, es lieben, dafür sich erwärmen, darin leben und aus­

gehen.

Daher ist die Rückkehr der alten Sünde, bösen Gewohnheit,

Leidenschaft

mit

um

so

verheerenderer Macht

unvermeidlich,

je

schwerer die Enthaltung empfunden wird, wenn die Seele sich nicht

mit anderm Inhalt, mit den Himmelsbildern und Kräften des Reiches

Gottes erfüllt.

Statt der bösen Gedanken, Begierden und Gewohn­

heiten suche bei dir und andern, die du davon heilen möchtest, gute Gedanken, edle Interessen und Strebungen einzubürgern. Geister,

bösen

den Geist Gottes selbst

keinen Ranm finden.

das Haus einnehmen,

Laß gute

damit die

Nur die, „welche Christo angehören",

d. h. von seinem Geist der Liebe in Besitz genommen sind,

nur die

können „ihr Fleisch sammt den bösen Lüsten und Begierden kreuzigen"

(Gal. 5, 24).

5.

Dazu, daß in uns das Böse überwunden,

und das Gute

Rechte Bekämpfung bcr bösen Lust.

eine Macht werde,

genügt

einseitigen Werthlegen

nicht ein einzelner Entschluß; bei dem

auf die einzelne bestimmte Stunde der Be­

kehrung, wie tief auch der religiöse Untergrund sei, vergessen,

197

Wesen und Einheit der Tugend.

wie bald ein

wird vor allem

einzelner Eindruck und Vorsatz unter der

Wucht der wiederkehrenden alten nachtheiligen Einflüsse im Sande

verlauft.

Wie zu jeder andern Tüchtigkeit, so gehört auch zur sitt­

lichen, zur Tugend Fertigkeit und zur Fertigkeit Uebung.

Durch

unablässige Uebung muß sich das Gute in die Seele hineingewöhnen, und

dadurch

der durch

die Buße,

neue Mensch allmählich wachsen

die

Sinnesänderung

geborne

und vom Kriechen und Gegängelt­

werden zum Gehen und Laufen, vom Stammeln zum Sprechen, vom

unsichern Tappen und Tasten nach dem Rechten zum festen Einher­ schreiten des durch Christus von innen her frei gewordenen

Charakters sich heranbilden.

So erfüllt es sich: „So jemand will des

Willen thun, der mich gesandt hat, der wird inne werden, ob meine Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selber rede", und: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger

und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" (Joh. 7, 16. 17; 8, 31. 32).

6.

Volle Ueberwindung

der bösen Lust oder gar des Lasters

wird nicht durch bloße Vermeidung des Uebermaßes

nach

den ent­

gegengesetzten Richtungen,

also durch Innehaltung der sogenannten

goldnen Mitte gewonnen.

Die Lehre

liege

des Aristoteles,

jede Tugend

in der Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Lastern, so der

Muth zwischen Feigheit und Verwegenheit, die Sparsamkeit zwischen

Geiz und Verschwendungssucht, erklärt nur die äußere Erscheinung,

nicht

das Wesen

der Tugend.

Ihrem Wesen nach wurzelt sie in

einer ganz andern Herzensstellung zu Gott und Welt, als sämmtliche Laster, so daß ihr gegenüber alle, auch die einander entgegengesetzten,

auf einundderselben entgegengesetzten Seite liegen und unter einander für gleichartig zu achten sind.

Der Geizige und Verschwender, der

Feige und Verwegene sammt allen andern Lasterhaften gleichen sich darin,

daß ihrer aller Herzen von irgendeinem Erdengut und einer

damit

zusammenhängenden Lust oder

Furcht geknechtet sind,

der

Geizige vom Gelde, der Verschwender von allem, wofür er vergeudet,

der Feige von Furcht vor dem Schmerz und Liebe zum Leben, der

1. Hmiptstück. Neuntes und zehntes Gebot.

198 Verwegene

von

noch

irgendeinem

nntergeordncteren Lieben

Fürchten, wofür er fein Leben leichtsinnig einsetzt. Sinn Tugendhafte und

oder

Der in wahrem

auch Sparsame und Muthige ist

deshalb

allein von der Liebe und kindlichen Furcht Gottes ganz gefangen und hingenommen und giebt deshalb Geld, Gut und Leben hin oder hält es fest, jenachdem er dadurch am besten dem glaubt dienen zu

können, dem er mit allem, was er ist und hat, zusammt allem seinem Fürchten und Lieben, Hoffen und Streben zu eigen geworden ist.

Dadurch wird, stätigt:

was schon aus dem früher Gesagten folgt, be­

daß wahre Tugend

auf ein altes Kleid

sein

nur ein vereinzelter neuer Lappen

nie

kann (Matth. 9, 16), sondern, daß jede

einzelne aus der Tiefe des innersten „von neuem", nach dem Urtext „von oben", d. i. aus dem Geiste Gottes wiedergeborenen Menschen hervorgehen muß (Joh. 3, 3), daß also, wie alle Sünden unter ein­

ander zusammenhängen, so auch keine Tugend für sich allein ist und bleiben kann, sondern stets ein guter Geist und Himmelsgast auch die andern mit sich führt.

Sie alle aber wachsen allmählich aus

der einen Wurzel, dem Geiste von oben, zu einem Menschen Gottes

aus einem Gusse heran,

wo unter unermüdlicher Bekämpfung der

Sünde und Uebung im Guten nach Luthers erster These das ganze Leben

eine

beständige

Buße



Sinnesänderung

und

Herzens­

erneuerung ist.

"Schluß der Gebote.

Drohung und Verheißung

am Schluß

der Gebote bei Luther

folgen in der Schrift schon auf die beiden ersten gegen Götzen- nnd

Bilderdienst (2 Mos. 20, 5. 6; 5 Mos. 5, 9. 10)

und haben für sie

ihre besondre, durch die Geschichte bestätigte Wahrheit (vergl. S. 7.

8.16.17.21). Denn das Heidenthum mit seinen entsittlichenden Wir­ kungen erwies sich noch jedem darin befangenen Volksleben verderb­

lich; und jede Abirrung zu ihm zog auch für das Volk, dem, wie Luther mit Recht hervorhebt (3. 1575), Drohung und Verheißung

Zusmilmcuhmili des sittlichen Verhaltens mit Glück und Unglück.

199

zunächst galten, zog auch für Israel stets Verfall und Unterdrückung

nach sich — znletzt an den Wassern

in's 3. und 4. Glied", während

zn Babel recht eigentlich „bis

es durch die Treue seines bessern

Kerns gegen den wahren Gott der Träger des Heils wurde. Warnung auch uoch für

Welche

die christlichen Kulturvölker, durch irgend­

dem Bilderdienst verwandte — Veräußerlichung

welche — immer

der Gottesanbetung die unentbehrlichste Heilquelle zur Gesunderhal­ tung

der Völker,

die Religion, zu trüben oder durch atheistische

Abwendung von ihr dem feinen Götzendienst der Welt- und Selbst­ liebe den Weg zu ebnen und dadurch den Keim des Siechthums in sich aufzunehmen!

Doch, wie die beiden ersten Gebote nach ihrem tiefern Sinn als das Gebot der rechten Gottesanbetung durch Liebe zu ihm und dem Nächsten alle andern umfassen, so gelten auch die ihnen beigefügte

Drohung und Verheißung für alle, weisen schon in ihrem Wortlaut

„so mich lieben und

meine Gebote halten" daraus hin und stehen

gleich passend am Schluß, wie am Anfang.

allgemeineren Beziehung

Nur darf auch bei dieser

nicht außer Acht gelassen werden, daß sie

zuvörderst für ein ganzes Volk gesagt sind.

Was für ein solches auf

die Dauer meist zutrifft, daß dem sittlichen Wohl- oder Uebelverhalten

auch das äußere Wohl- oder Uebelergehen entspricht (Spr. 14, 34),

auf den einzelnen wesentlicher Ein­

bedarf in seiner Anwendung schränkungen und Ergänzungen:

1.

Schon bei den Inden,

nationalen Unabhängigkeit,

setzte

besonders

sich

der Glaube an eine äußere

Vergeltung bereits auf Erden auch für den daß

seit dem Verlust ihrer einzelnen fest, derart,

sie in jedem Leiden die Strafe für eine Sünde entweder des

Leidenden selbst oder auch

(nach dem „bis in's 3. und 4. Glied")

seiner Vorfahren erblickten, — ein Glaube, der sich auch neben dem

später entstandenen Glauben erhielt und noch

an eine Vergeltung nach dem Tode

die Jünger Jesu angesichts eines Blindgeborenen

zu der Frage veranlaßte, ob dieser gesündigt habe, oder seine Eltern

nicht

ausgestorbene,

Richten

verleitende

Vorstellung

Widerspruch mit tausendfältiger Erfahrung,

insbesondere

(Joh. 9, 1s.). ängstigende, steht in

Diese

theils

noch

heut

zu lieblosem

mit den vielen Naturübeln,

theils be­

die mit der Sünde nichts zu schaffen

1. Hauptstück.

200

Schlich der Gebote.

haben'), in Widerspruch nicht minder mit der Schrift schon des

Alten Testaments, das am leidenden Hiob zeigt, wie Gott auch dem

Frommen Trübsal schicke, um ihn vor Selbstgerechtigkeit zu warnen

und vollends zu läutern,

in Widerspruch vor allem mit dem Gott

der Liebe im Neuen Testament,

den diese Ansicht auf das niedrig

menschliche „Zahn um Zahn" herabzieht, und endlich mit Jesu aus­

drücklichem Wort,

mit dem er sich des Blindgeborenen

„Weder dieser noch seine Eltern."

annimmt:

Demgemäß hat der Christ sest-

zuhalten: nicht alle Uebel stammen aus der Sünde.

2. Dennoch hat das Wort von dem, „der der Väter Missethat an den Kindern bis in's 3. und 4. Glied Heimsucht und an vielen

tausenden,

die ihn lieben und seine Gebote halten, Barmherzigkeit

thut", auch für das äußere Ergehen seine furchtbar ernste, wie auch

seine trostreiche Wahrheit.

Setze überall für die Sünde Christi Liebe:

und nicht alle, aber doch unberechenbar viele Uebel würden verschwin­

den, und unermeßliche Fülle ungekannter Freuden würde hereinfluthen. Nur nicht so, als ob Gott Gutthat und Glück,

Missethat und Un­

glück willkürlich von außen her verknüpfte, oder als hätten wir, wo

beziehungsweise eins mit dem andern durch rein äußere Umstände zusammenträfe, sofort an Lohn und Strafe Gottes zu denken; sondern Sünde und Frömmigkeit tragen in sich Kräfte des Fluches und

Segens, die durch offenbare und verborgene Fäden viel weiter reichen,

als wir ahnen.

So

allein vermögen wir den Glauben an Gottes

Barmherzigkeit und Gerechtigkeit mit der Härte zu vereinigen, mit ’) Die Annahme, das; auch die Naturübel mit Einschluß deS leiblichen Todes

erst eine Folge der Sünde seien, wird durch die Thatsache widerlegt, das; (äugst vor Entstehung des Menschen und seiner Sünde ganze Thierarten auSstarben, und also auch das Gesetz des TodeS schon vorher in der "Natur herrschte. Das anS einem Sündenfall in der Engelwelt erklären hieße doch wohl jedem Spiel der Phantasie Thür und Thor öffnen. Was die Schrift anlangt, so ist nach I Mos.

3, 22 der Mensch nicht unsterblich geschaffen, sondern hätte mir durch den Genuß vom Baume des Lebens unsterblich werden können, wobei man dann an eine leib­

liche Unsterblichkeit denken möchte.

Worte aber, wie die des Paulus Nüm. 6, 23

nnd 5, 12, der Tod sei der Sünde Sold und erst durch sie in die Welt gekommen, können vom geistigen Tode verstanden werden. Wäre dennoch an den leiblichen zu denken, so hätten wir es hier schwerlich mit beut ewigen Kern der Wahrheit,

sondern mit einer jener Hüllen zu thun, die wir angesichts einer fortgeschrittenen Naturerkenntniß fällen lassen dürfen.

Zusammenhang deö sittlichen Berhulteuo mit Glück unb Unglück.

201

welcher der Fluch nicht mir dem Sünder selbst sich an die Ferse heftet

ein

— die Folge eines Fehltritts oft nein,

mit der

ganzes Leben hindurch! —

er bis in's 3. und 4. Glied noch Unschuldige oder

solche trifft, an denen mehr gesündigt wurde, als ihnen Sünde zu­

zurechnen ist.

In Sünde geboren

und

ausgewachsen,

darum

in

Sünde vollendet und uutergegaugen: das ist die Geschichte manches Unseligen — eine schwere Anklage, doch nicht, wie es scheinen könnte,

wider Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit,

sondern wider den

verkehrten Meuscheuwillen, der nicht zufolge göttlicher Willkür, son­

dern durch das seiner Sünde innewohnende Verderben auf sich und andre unabsehbares Elend häuft.

Gott setzt nur um derselben Liebe

willen, in der er den Menschen zur Hoheit sittlicher Vollkommenheit aus der Freiheit beruft, vermöge einer unabänderlichen Nothwendig­ keit mit der Freiheit auch die Möglichkeit der Sünde nnd der von

ihrem

Wesen untrennbaren Folgen — uns zur Warnung,

nicht auch

wir unbedacht bis in's

3. und 4. Glied

Neben den Fluch aber, und nicht minder durch

durch Gutesthnn Segen

zu

damit säen!

die Erfahrung be­

währt, stellt er den Segen bis in's tausendste Glied, munterung,

Fluch

uns zur Er­

wirken und zu ärnten —

eine herrliche Vorahnung des Neuen Bundes im Alten:

der Segen

so viel größer, als der Fluch, so viel Gott größer, als unser thörich­ tes Herz (1 Joh. 3, 20), und beide, Fluchandrohnng und Segens-

verheißung,

in seiner Vaterhand Erziehungsmittel,

uns zur

Erfüllung seiner Gebote hinanzuleiten! 3.

Indeß gerade

das bedarf

einer wesentlichen Ergänzung:

Drohung nnd Verheißung, ausschließlich oder auch nur hauptsächlich

auf ein

mehr oder minder äußerlich gedachtes Uebel- oder Wohl­

ergehen bezogen, sei es im Diesseits oder auch im Jenseits, wenden sich an die selbstischen Triebe der Furcht vor Strafe und der Hoff­

nung auf Lohn und können deshalb für sich allein nie zur wahren

Sittlichkeit, zu der, die aus der Liebe stammt, erziehen (vergl. S. 115). Sie sind wichtige Hülfsmittel dazu, unentbehrlicher, als mancher

glaubt, für uns alle: wie viel Gutes bliebe von uns allen ungethan,

wie viel Sünde ungemieden ohne

die Furcht vor mancherlei Nach­

theilen und die Hoffnung auf ebenso

der Unsern Wohlergehen!

viele Vortheile für unser und

Aber wahrhaft sittlichend wirkt Drohung

202

I. Hmiptstück.

und Verheißung,

Schluß der Gebote.

Finch nnd Segen, Furcht und Hoffnung nur in

Verbindung mit einem tief Innerlichen, der im Gewissen gegebenen

Furcht und Hoffnung und — Erfahrung, daß Sünde von Gott trennt, Frömmigkeit mit Gott eint, und daß Gemeinschaft mit ihm das höchste Gut ist.

Aeußere Vergeltung und Furcht und Hoffnung im

Hinblick auf sie sollen dem Gewissen Gehör verschaffen, das in ihm

wurzelnde Gefühl der Gottentfremdung und Gottesnähe, bekräftigen

und so von den äußern Gütern auf das innere Gut und von dem geschriebenen Gesetz auf das im Herzen als höchste Richtschnur unsers

sittlichen Handelns Hinweisen.

So erzieht Gott uns von der äußer­

lichen Gerechtigkeit des Alten Bundes zur geistigen des Neuen, ent­

sprechend

dem

geschlechts":

in

Gedanken

Lessings

„Erziehung des

Menschen­

daß er die Menschheit durch stets wachsende Klarheit

der Offenbarungen von

den

niederen

Religionsstufen, zu

immer

höheren emporführe. 4.

Noch bleibt die Frage: wie vertragen sich mit Drohung und

Verheißung und mit Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit die Leiden

der Frommen?

Ewig ungelöste Frage aller Wahrheit

Suchenden aller Zeiten: wer darf sich unterwinden, sie bis an das Ende lösen zu wollen!

Dennoch fällt gerade in diesem Zusammen­

hänge ein tröstliches Licht

auf sie:

Neben

der unleugbaren Er­

fahrung, daß Sünde und Frömmigkeit nicht selten schon hier auch

im äußeren Ergehen den entsprechenden Lohn empfangen, die ebenso unleugbare, oft so bittere Erfahrung des Gegentheils — gerade das ist

ein

bedeutungsvolles Glied im Erziehungsplan Gottes.

abgesehen hier von all' den Gotteskräften, geweckt und geübt werden:

die

Denn,

durch die Trübsal

diese doppelte Erfahrung, welche Gottes

Verheißung bald zu bestätigen, bald zu Schanden zu machen scheint,

drängt die, welche den Glauben an die letztere nicht aufgeben können,

zu einer tieferen Fassung derselben.

Schon das Buch Hiob sucht sie,

bleibt aber auf halbem Wege davor stehen, weil es doch zuletzt auf die Wiedererstattung des verlorenen Erdenglücks zurückgreift.

Christenthum sucht sie auf zwei Wegen,

die sich ergänzen

Das

müssen:

der eine ist die Vollendung der hier unvollkommenen Ver­

geltung im Jenseits; aber er laßt das Sehnen des Herzens in der Gegenwart ungestillt und

soll es ungestillt lassen,

damit der

Das Reiben bed gwiniiteit als Erziehungsmittel. Mensch und

nicht wieder bei

darum auch

einer äußerlich vorgestellten Glückseligkeit

bei einer äußerlichen Gerechtigkeit

Der andere Weg ist

203

stehen bleibe.

einem schon hier

das Suchen nach

erreichbaren Gut, das vom Wandel des Erdenglücks unab­

hängig ist; er führt den Menschen auch von dieser Seite her von außen nach innen und oben zur Gemeinschaft mit Gott als dem

höchsten Gut und dem Ziel all' seines Strebens und Handelns und

dadurch von dem Gehorsam um Lohn und Strafe zu dem aus Liebe zu Gott und denen, die sein Bild tragen, d. i. zu der Gerechtigkeit: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schrei­

ben" (Jer. 31, 33).

Freilich weist auch dieses innere Gut, weil es

hier nie voll verwirklicht wird, auf eine Vollendung droben und

deshalb

uns eben

ein Unterpfand unserer Hoffnung darauf.

ist

Man

könnte daher die Frage aufwcrfen, ob nicht auch so ein selbstisches

Streben nach Glückseligkeit der Antrieb zu unserem sittlichen Handeln bleibe.

Aber ist denn jedes Streben nach Glückseligkeit selbstisch? Ist

nicht vielmehr der Sinn für wahres Glück Voraussetzung der Liebe,

in deren Wesen es liegt, andere zu beglücken? Könnte sie das, wenn sie jedes Streben nach Glückseligkeit verachtete?

ohne Gott,

Nur nicht

für sich,

ohne die Brüder, sondern mit Gott, und in Gott mit

seinen Kindern will sie glücklich sein.

Darum ist das ihr Seligkeit

und Gerechtigkeit, Erfüllung des Gesetzes und der Verheißung Gottes zugleich, daß sie durch selbstloses Aufgehen in Gott und den Mit­

menschen verwirklichen helfe — das „Du, Vater, in mir, und ich in dir, auf daß auch sie in uns eins seien" (Joh. 17, 21).

Bedeutung des Gesetzes.

„Das Gesetz (Gal. 3, 24):

Gesetzes

und

Menschheit

ist

unser Zuchtmeister

gewesen

in diesem Worte spricht Paulus

zugleich

der Weltgeschichte als

durch das Gesetz

auf Christum

auf Christum"

die Bedeutung des

einer aus.

Erziehung

Das

der

darf nach

allem Vorigen nicht so verstanden werden, als wäre das Gesetz nur

204

1. Hcmptstück.

Bedentlin^ des Gesetzes.

dazu da, uns fühlen zu lassen,

daß wir es nicht erfüllen können,

damit wir nach der Gnade greisen.

So einseitig gefaßt, führt der

Satz zur Unterschätzung thatkräftiger Sittlichkeit.

Vielmehr: das

geschriebene und das natürliche Gesetz im Herzen bändigt zunächst die

Leidenschaften des noch unerzogenen rohen Menschen, führt den an Zucht gewöhnten zum tieferen Verständniß seiner Pflichten, weckt in

ihm die sittlichen Ideale und das Verlangen nach Einheit mit Gott und läßt ihn dann freilich auch sein Unvermögen empfinden,

das

recht verstandene Gesetz aus eigener Kraft zu erfüllen und die Kluft

zwischen sich und Gott zu überbrücken.

Ja, allerdings lehrt es ihn,

aus seiner Schwachheit und seinem Unfrieden heraus die Hand nach

dem Erlöser anszustrecken, aber nicht, um dann das Gesetz bei Seite

zu lassen und auf todtem Glauben auszuruhen; sondern Luther hat

Recht, wenn er in der Vorrede zu seinem kurzen Katechismuscntwurf von 1820 die Hauptstücke religiöser Unterweisung dahin zu­ sammenfaßt, daß das Gesetz unsere Krankheit anzeige, und

der

Glaube und das Vaterunser, wo die Arznei zu finden, und wie sie zu holen sei,

aber doch dazu, daß der Mensch genese und das

Gesetz erfüllen lerne.

Ausgehört hat durch die vergebende Liebe die

verdammende Kraft des Gesetzes und das Stückwerk todter Satzungen, aber dafür wirkt in uns das eine lebendige Gesetz: der, der uns mächtig

macht, Christus, der Anfänger und Vollender unseres Glaubens und darum auch des Gesetzes zugleich Ende, Vollender und Ziel (Phil. 4,13;

Ebr. 12, 2; 10, 1; Röm. 10, 4; Matth. 5, 17; Phil. 3, 12).

Das Meile HanMnck.

Das Apostolische Glaubensbekenntniß oder das Apostolische Symbol (symbolum apostolicum). I.

Der Ausdruck Symbol kommt im kirchlichen Gebrauch in

zweifacher Bedeutung vor: 1. Sinnbild; 2. Bekenntniß. — Ursprüng­ lich irgend ein Zeichen,

daran sich Gastfreunde u. s. w. erkannten,

z. B. das Bruchstück eines Ringes, zu welchem der andere die Er­ gänzung bewahrte, sodann ein militärischer Kunstausdruck im Sinne von Parole, ist es später auf die Christen als die Krieger Christi

und auf die christlichen Bekenntnisse als das, woran sich diese Krieger untereinander erkennen, übertragen. „Symbole und Symbolische Bücher" einer Kirche sind also nicht Sinnbilder oder sinnbildlich auszulegende Bücher, sondern Bckenntnißschriften, in denen diese Kirche ihren Glauben ausgesprochen, die in ihr anerkannte Lehre

niedergelegt hat.

Nach der alten Ueberlieferung soll das Apostolische Glaubens­ bekenntniß von den Aposteln verfaßt sein. Die Tradition lautet: als die Apostel im Begriff gewesen wären, nach dem Gebote Christi

in alle Welt zu gehen und allen Volkern zu predigen, da hätten sie, um Einheit in ihre Verkündigung zu bringen, gemeinsam dieses Bekenntniß zusammengesetzt: und zwar so, daß jeder von ihnen seinen „Beitrag" („Symbole“) dazu gegeben, also Petrus zuerst gesprochen

habe:

Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer Him­

mels und der Erden, und dann Johannes oder, wer sonst fort­ gefahren habe:

und an Jesum Christum, Gottes eingcbornen Sohn

2. Hauptstttck. Apostolisches GlmibcnSbekenntniß.

206

u. s. to., bis in dieser Weise das ganze „Symbolen“ fertig geworden sei.

Es liegt auf der Hand, wie wenig würdig des in den Aposteln

daß sie, um einig zu blei­

waltenden Geistes sowohl die Annahme:

ben, eines solchen Haltes bedurft hätten, als auch die Weise ist, in

der

zu Stande gebracht haben sollen.

sie ihn

Die Wahrheit ist:

das Apostolische Glaubensbekenntniß, darin unter allen Bekenntnissen wohl das einzige, ist von niemandem, weder von den Aposteln noch sonst wem gemacht,

sondern hat sich ganz allmählich im kirchlichen

Gebrauche gebildet durch Erweiterung des ihm zu Grunde liegenden, an

die Taufformel sich anschließenden Taufbekenntnisses, dem man

je nach Bedürfniß in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten hinzufügte, was zur Abwehr verderblicher Irrthümer, die sich in die

Kirche eindrängen wollten, nöthig war.

Mit seinen Anfängen bis

an die apostolische Zeit reichend, hat es seine jetzige Gestalt im An­ fang

vierten Jahrhunderts empfangen (erst um diese Zeit ist

des

der Satz

von der „Höllenfahrt Christi"

ausgenommen worden); und selbst von

gedauert,

Jahrhunderte

ehe

es

als

der letzte in dasselbe

da ab hat es noch mehrere

allerorts

in

gleichmäßigen

Ge­

brauch kam. — Bedenkt man das,

gerungen.

ein

so ergeben sich

mehrere sehr wichtige Fol­

1) Da die christliche Kirche so viele Jahrhunderte ohne

und eine

in allen Stücken gleiches Bekenntniß bestanden hat,

gewesen ist,

bedarf

sie

und

das Heidenthum und Judenthum besiegt hat:

so

auch heute einer solchen gleichförmigen Bekenntnißformel

weder zu ihrem Bestehen

noch zu ihrer Blüthe:

sondern der eine

christliche Glaube wird sich in mannigfachen Bekenntnissen aussprechen können.

2) Haben in dem alten Bekenntniß die Mehrzahl der Sätze,

die wir jetzt in dem Apostolicum haben,

sind

erst nach

ursprünglich

und nach ausgenommen worden:

gefehlt und

so kann es keine

Verleugnung noch Versündigung am Christenthume sein, wenn einer oder mehrere dieser Sätze ausgelassen und das Bekenntniß

kürzer

gefaßt wird: wie das bekanntlich in Luthers Taufbüchlein geschehen

ist. — Dazu kommt: 3) Das Apostolische Glaubensbekenntniß besteht

aus Sätzen, die insgesammt der Schrift entnommen sind,

und

die

offenbar in ihm in keinem andern Sinne genommen werden wollen

und sollen, als den sie in dem Zusammenhänge der h. Schrift haben.

Entstehung.

Andere Glnnbenöbekenntnisse (allgeineine n. besondre).

daß jeder das Recht hat, jeden Satz des Bekennt­

Daraus folgt,

wie er ihn nach der Schrift glaubt auslegen

nisses so auSzulcgen,

aber niemand berechtigt ist, sein Verständniß des

daß

zu müssen;

207

Apostolieums einem andern aufzudrängen.

Das Apostolische Glaubensbekenntniß ist das älteste und

II.

erste unter den „allgemeinen" oder ökumenischen, d. h. denje­ nigen Bekenntnissen, welche nach der Voraussetzung auf dem „ganzen

Erdenrund,

so weit Christen

Athanasianische Bekenntniß

von denselben

wohnen" (oikumene),

außer ihm gehören

bekannt werden;

zu

noch

Nicäische und

das Das

denselben.

das

erstere ist auf der

Synode zu Nicäa (325) tut Streite gegen die Irrlehre des Artus,

eines Alexandrinischen Presbyters, zu Stande gekommen, und ent­ hält

eine genauere Bestimmung

der Lehre svon der Person Christi,

laut welcher derselbe „vom Vater vor der ganzen Welt geboren",

und „mit beut Vater in einerlei Wesen ist". Bekenntniß,

das

Das Athanasianische

seinen Namen von dem gleichzeitigen Gegner des

Anus, dem nachmaligen Bischöfe von Alexandria Athanasius, fuhrt, aber erst

enthält eine ausführliche,

lange nach ihm entstanden ist,

nur dem Theologen verständliche Auseinandersetzung der Lehren von der Dreieinigkeit

und

von den beiden Naturen in Christo.

weit hinter dem Aposto-

Bekenntnisse stehen an kirchlichem Werthe lictiui zurück;

und hätte namentlich das

Beide

letztere, wie

schon Calvin

bemerkt, niemals den Gemeinden auferlegt werden sollen. — III.

Seitdem

hat

der Bekenntnißdrang

in

Kirche nicht

stille gestanden; tut Gegentheil hat

Zeiten,

ihr Noth schien,

was

christlichen

in immer neuen mehr oder minder

Bekenntnissen ausgesprochen.

ausgeführten

der

dieselbe zu allen

Namentlich

haben

die

verschiedenen Kirchenparteien ihre Auffassung des christlichen Glaubens tut

Gegensatze

zu

einander in

mannigfachen

„Sonderbekennt-

nissen" d. h. in Bekenntnissen, die nur von einer Kirche anerkannt werden, ausgesprochen.

Solcher Sonderbekenntnisse hat die lutherische Kirche fünf, unter denen der lutherische Katechismus, eigentlich zwei, ein größerer

und

ein

kleiner, beide von Luther in Folge der 1527 —1529 aus

seine Veranlassung verfaßt und

in

Chursachsen abgehaltenen Kirchenvisitation

nächst seiner Bibelübersetzung das einflußreichste Buch

2. Hauptstück. Apostolisches Glaubenobekeimimß.

208

im deutschen Volke und einer seiner größten Schätze, — so wie die Angsburgische

Confession

augustana

(confessio

dem

Reichstag

übergeben

Augsburg

zu

die bekanntesten und wichtigsten sind.

oder

kurzweg

und

verlesen,

öffentlich

Die Augsburgische Confession

versöhnendem Sinne ausdrücklich

ist von Melanchthon in

die

den Evangelischen Ständen

„Augustana“), am 25. Juni 1530 von

in der

Absicht, die Vereinigung mit den Gegnern so viel nur irgend mög­

weshalb auch Luther,

lich zu erleichtern,

verfaßt:

billigte, bemerkte,

daß er „nicht so leise treten könne".

in

ihre Ergänzung in einem

dieser Beziehung

verfaßten Buche,

3) den

1537 von Luther

auf Befehl des

gesetzt, um

Concil festzustellen,

hervorgehoben,

Sie findet

dritten von Luther

Schmalkaldischen

Artikeln,

Churfürsten von Sachsen auf­ Aussicht genommene

damals in

für das

allgemeine

„in welchen Stücken man schlechterdings

Ist in

weichen könne".

sogenannten

der sie übrigens

der

Augsburgischen Confession

nicht

besonders

daß und worin man mit der alten Kirche einig sei,

so findet hier der Unterschied von den Gegnern seinen Ausdruck. —

Von hohem Werth ist 4) die Apologie der Augsburgischen Confession, welche Melanchthon zur Rechtfertigung derselben gegen die von den

Päpstlichen

verfaßte

„Confutatio“

gesetzt und nachmalen

eines Eremplares

noch

auf

dem Reichstage auf­

weiter ausgearbeitet hatte, als

dieses Machwerkes,

man endlich

dessen Aushändigung an die

Evangelischen verweigert worden war, habhaft werden konnte.

gegen ist 5) die im Jahre 1577 mula concordiae,

auch

Da­

abgefaßte „Eintrachtsformel" (for-

das „Bergische Buch"), durch welche man

den gleich nach Luthers Tode in der lutherischen Kirche ausgebroche­ nen maßlosen Streitigkeiten ein Ende zu setzen versuchte, von Anfang

an nur von

einem Theile der lutherischen Kirche,

will

sagen der

lutherischen Stände angenommen und ihren Predigern aufgezwungen worden.

Anderes protestirten

dagegen,

während

noch andere')

’) ES ist für den mit dem gegenwärtigen Stande der kirchlichen Dinge Be­ kannten interessant, daß darunter Pommern, Holstein, Anhalt, Hessen Preußen, außerdem mehrere Städte: Speier, Worms, Magdeburg, Nürnberg n. s. w. waren. 2) Der Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, Churbraudeuburg und Churpsalz.

209

Andre Glaubensbekenntnisse (allgemeine u. besondre).

Entstehung.

später ihre Zustimmung zurücknahmen, ja Friedrich II. von Däne­ mark sogar ihren Besitz und Verkauf bei schwerer Strafe verbot.

Zahlreicher sind

die Bekenntnisse der

reformirten

Kirche:

sofern hier fast in jedem Lande eine und selbst mehrere Confessionen

aufgestellt worden sind, ohne daß man sich deshalb gegen einander abschließen oder gar spalten wollte.

Für Deutschland kommen ins­

besondere in Betracht: 1) der Heidelberger Katechismus vom Jahre 1563, der in einzelnen Gegenden auch unseres preußischen Vaterlandes

im Gebrauch ist, indeß

bei manchen Vorzügen im einzelnen dem

lutherischen Katechismus im ganzen namentlich

an Volksthümlich-

2) Das Märkische Glaubensbekenntniß oder die con-

keit nachsteht.

fessio Sigismund! (die marchica),

d. h. das Bekenntniß,

welches

der Churfürst von Brandenburg Johann Sigismund 1614 bei sei­

nem Uebertritte zur reformirten Confession ablegte, um seine darüber auf's äußerste aufgebrachten') und um ihren lutherischen Glauben

besorgten Unterthanen zu beruhigen.

Das Bekenntniß ist ausgezeich­

net durch seine maßvolle, überall das Praktische hervorhebende Be­

handlung der streitigen Punkte,

so wie durch die entschiedene Ab­

lehnung des Gedankens, seinen Glauben irgend wem heimlich oder öffentlich aufdringen zu wollen.

Der Churfürst behauptet sein Recht,

zu glauben, und bekennt seinen Glauben, ohne damit andere in ihrem Glauben beeinträchtigen oder verurtheilen zu wollens. ]) In Berlin kam es darüber zur Rebellion, in welcher der reformirte Hof­ prediger, um vor dem aufgereizten Volke sein Leben zu retten, über die Dächer flüchten mußte.

Die lutherischen Theologen verfehlten nicht,

dem „neuen Jero-

beam" die schrecklichsten Strafgerichte Gottes anzukündigen.

2) Der Schluß dieses trefflichen, der Gemeinde so gut wie unbekannten, auch nicht so leicht zugänglichen Bekenntnisses lautet: „Schließlichen bekennen Se. Churf. Gn. sich zu der reformirten Evangelischen Kirchen in diesen und andern

Religionspunkten, als welche sich auf Gottes Wort allein fundiren und alle mensch­

liche Tradition,

so viel möglich, abgeschaffet haben.

Und obwohl Se. Churf.

Gn. zwar in ihrem Herzes! und Gewissen genugsam gesichert, daß solches Bekennt­ niß Gottes Wort allerdings gemäß und aufrichtig sei, auch nichts Lieberes erleben

und wünschen möchten, denn daß Gott der Herr ans lauter Gnade und Barm­

herzigkeit derselben getreue Unterthanen mit dem Lichte der unfehlbaren Wahrheit beseligen und erleuchten wolle, jedoch, weit der Glaube nicht jedermanns Ding ist,

2 Thessal. 3, 2, lassen,

sondern

ein Werk und

Geschenk Gottes, und

nieinand

zuge­

über die Gewissen zu herrschen oder, wie der Apostel Paulus redet (2 Kor.

Eltester, Materialien. 2. Auflage.

14

210

2. Hauptstück.

Die unirte Kirche,

Apostolisches Glaubensbekeimtniß.

der

wir angehören,

erkennt alle diese

Schriften als solche an, in denen evangelische Lehre enthalten, und

die Grundsätze der Reformation und der reformatorischen Kirche mit mehrerer oder minderer Klarheit ausgesprochen seien, ohne sich an eine derselben ausschließlich zu binden.

Dabei hält sie unver-

rückt an dem in diesen Schriften selbst wieder und wieder ausge­ sprochenen Grundsätze fest:

daß „alle Glaubenssachen einzig und allein auf das Wort

Gottes müssen gegründet sein, und Menschenschriften nicht als sie mit dem Worte

Gottes

übereinstimmen,

sollen und können angenommen werden."

(Confess. Sigis-

weiter,

mundi, III.) und dem anderen: daß das Verständniß der Schrift ein Werk der fortschreitenden

Schriftauslegung und frei sei,

und es

eine untrügliche

Schriftauslegung nicht gebe. —

Die römische Kirche hat ihre Lehre im Gegensatz gegen die evangelische Kirche in den Beschlüssen und Dekreten der Synode zu Trient (Concilium Tridentinum 1545—1563) und in dem catechismus Romanus niedergelegt.

Aus diesen und nicht aus den Ausführungen

I, 24), ein Herr sein zu wollen über den Glauben, welches allein beut Herzens­ kundiger zustehet, — als wollen Se. Churs. Gn. auch zu diesem Bekenntnis; keinen Unterthanen öffentlich oder heimlich wider seinen Willen zwingen, sondern den Curs und Lauf der Wahrheit Gott allen: befehlen, weil es nicht an Nennen und Lailfen, sondern an Gottes seinem Erbarrnen gelegen; verhoffen aber gänzlich, begehren auch in Gnaden und befehlen hiermit ernstlich, daß Unterthanen und andere, so entweder die streitige Religionssache nicht verstehen oder noch zur Zeit nicht genug­ sam darin informiret sein, des Lästerns, Schmähens, Diffamirens wider die Orthodoxos und Reformatos, die man aus lauterm Haß und Neid für Cal­ vin isch mit vollem Munde ausrufen thut, gleichwie vor Zeiten Tertullianus in Apologetico von den Christen geschrieben: oditur in innocuis innocuum nomen (man haßt an den Unschuldigen den unschuldigen Namen), sich gänzlich enthalten; mit den Schwachgläubigen, so sie vermeinen, stark zu sein, Geduld tragen nach der Vermahnung des Apostels Pauli (Röm. 14, 1) uud, was sie selbst nicht ge­ lesen, noch bis anhero genugsam verstanden, nicht bald verketzern oder verdannnen; sondern in der Schrift mit Fleiß forschen, das Urtheil heimgeben dem, der da recht richtet, welcher auch wird an's Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und den Rath der Herzen offenbaren; alsdann wird einem jeglichen von Gott Löb widerfahren rc. 1 Korinther 4, 5." —

Was heißt: „Ich glaube" ?

211

der einzelnen katholischen Schriftsteller, welche, um Protestanten zu

gewinnen, den Unterschied von der evangelischen Lehre und die gegen sie geschleuderten Bannsprüchc öfter wohl abschwächen und verdunkeln, ist zu sehen, was römische Kirchenlchre ist. —

Der Erste Artikel. I.

Ich glaube.

Das Wort Glaube hat in der deutschen Sprache viele sehr weit

von

einander abliegende Bedeutungen, die sorgfältig unterschieden

werden müssen, wenn nicht die äußerste Verwirrung entstehen soll. 1) Das Fürwahrhalten oder der historische Glaube: „ich glaube

es" oder „ich glaube, daß —".

Der Name rührt davon her, daß

der Gegenstand dieses Führwahrhaltens überwiegend Geschichte, Hi­ storie, gleichviel, ob heilige oder profane, ist. sonstige

Mittheilung

Meinung,

oder Ueberlieferung

Ansicht Objekt des

historischen Glaubens sein. — Es

kann nicht stark genug betont werden,

nicht

der Heilsglaube sei,

unserem

Doch kann auch jede

einer Thatsache, Lehre,

von

daß dieses Fürwahrhalten

welchem in der Schrift und

Glaubensbekenntnisse die Rede ist.

in

Und wenn einer alle

Geschichten und Lehren der Schrift Buchstabe für Buchstabe glaubt,

und dazu noch alles, was die Kirche lehrt, annimmt und daran so fest hält, daß er sich — wie man sagt — darauf todtschlagen läßt, ja darum todtschlägt, so ist er deshalb noch kein Christ oder über­

haupt ein frommer Mensch, geschweige wird er selig; sondern kann dabei noch

der unwürdigste,

jedes

wahren Glaubens

entbehrende

Mensch sein, nach dem Worte der Schrift: „die Teufel glauben auch und zittern" (Jak. 2, 19).

2) Der moralische Glaube oder das

Vertrauen: „ich glaube dir".

Wenn niemand

an Gott glauben

kann, ohne daß er von dem Dasein Gottes überzeugt ist und irgend

welche Vorstellungen von ihm hat (Ebr. 11, 6) *), so vermag sich nie­

mand Gott zu ergeben, ohne sich Gutes von ihm zu versehen, ihm

9 „Denn, wer zn Gott kommen will, der muß glauben, daß er sei nnd denen, die ihn suchen, ein Vergelter sein werde."

2. Hairptstück.

212 zu trauen.

Apostolisches Glaubensbekenntniß.

Das Vertrauen ist also ein wesentliches Stück der Fröm­

migkeit: wie es auch in der Erklärung zum ersten Gebote heißt: wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen! Aber

darum macht es nicht die Frömmigkeit aus, noch entscheidet es über sie; vielmehr kann mit dem größten Vertrauen noch die größte Gott­ losigkeit verbunden sein: wie das Beispiel jener Banditen beweist,

die, wenn sie auf Raub ausziehen, in die Kirche gehen und eine

Messe hören, und nun fest daraus vertrauen, ihr Vorhaben werde ihnen gelingen; oder jener andern, die sich auf den Bund verlassen,

den sie mit dem Teufel gemacht (vergl. 1 Kor. 13, 2)').

3) Der

religiöse oder fromme Glaube: „ich glaube an Gott" oder, wie es auch heißt: „ich glaube in Gott", d. h. „ich glaube mich in Gott hinein": ist die ungetheilte Hingebung des ganzen Menschen an Gott, an Christus oder, in wem und worin uns sonst Gott erscheint.

„Ich

glaube an Gott" heißt nicht bloß: ich bin überzeugt, ich halte für wahr, daß es einen Gott giebt, und daß er ein solcher, solcher ist;

auch nicht bloß: ich verlasse mich auf ihn: sondern es heißt: ich lebe und webe in Gott (Apostelgesch. 17, 28); meine Seele verlangt nach ihm (Ps. 42, 2); er ist meine Wonne, mein Trost in allem

Leide');

auf ihn werfe ich alle meine Sorgen (1 Petri 5, 6. 7);

ihm unterwerfe ich

alle meine Wünsche (Matth. 26, 39).

Er ist

mein Vater, ich fühle mich und gehorche ihm als sein Kind (Matth.

6,9:

„Unser Vater" —; Römer 8, 14. — 1 Samuel 3, 10). —

Eben so heißt: „an I. Christum glauben"

nicht bloß als wahr

annehmen, daß I. Christus gelebt hat und der Sohn Gottes gewesen ist und dies und das gethan und gelehrt hat; auch nicht bloß, sich

auf ihn oder, wie man es auch sonst ausdrückt, auf sein Verdienst verlassen — es giebt ein sehr unchristliches und unreligiöses sich

Verlaffen auf Christum —: sondern Herz und Sinn dem Einflüsse

Christi zur Heiligung und Beseligung hingeben, sich in die Fülle

der Gnade und Wahrheit, die in ihm war, sehnend und liebend ver­

senken, sein Wort, sein Thun, ihn, in uns aufnehmen und zu unserm ') „Und wenn ich Glauben hätte, daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts." 8) Ps. 73,26: „Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, bist du doch meines Herzens Trost und mein Theil."

Was heißt: „Ich glaube"?

213

Eigenthum machen, oder, wie er es bezeichnend ausdrückt, ihn essen

(Joh. 6, 53—57) und in solcher Weise in gläubiger Nachfolge so mit ihm zusammenwachsen, daß er in uns und wir in ihm sind

(Joh. 17, 21—23, vergl. Römer 6, 3—8), und wir mit dem Apostel sprechen können: „So lebe nun nicht ich, sondern Christus lebt in

mir; denn, was ich lebe im Fleische, d. h. was von meinem alten Menschen und dessen Dichten und Trachten noch übrig ist, das lebe

ich in dem Glauben (der immer erneuten Hingebung) an den Sohn

Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben" (Galat. 2, 20). — Endlich ist auch „an den h. Geist glauben" etwas

anderes und mehreres als:

die Geschichte von der Ausgießung des

h. Geistes wiffen; desgleichen die Definitionen und Begriffsbestim­

mungen kennen und annehmen, die man über ihn aufgestellt hat, und die sich von Geschlecht zu Geschlecht oft ganz unverstanden fort­

pflanzen: es ist: seinen Hauch spüren, sein Zeugniß in uns ver­

nehmen, von seiner Kraft bewegt und getrieben werden (Röm. 8,

14—16). der

Wenn es möglich ist und leider oft genug vorkommt, daß

historische Glaube, das festeste Fürwahrhalten,

die korrekteste

Vorstellung ohne jeden Einfluß auf Herz und Gesinnung bleiben;

wenn das sich Verlassen auf Gott, auf Gnade, auf Christus unter Umständen sogar eine entsittlichende Einwirkung ausüben kann: so ist dagegen der fromme Glaube immer mit dem Leben verbunden,

und Grund und Quelle seiner stets wachsenden Reinigung und Hei­ ligung.

Denn, wie Luther sagt, ist er nichts anderes, als das rechte

wahrhafte Leben in Gott selbst (2. 2797), oder, wie Jesaias (11, 3)

es ausdrückt: „das Riechen (d. i. das Athmen) in der Furcht des Herrn", ein nie rastendes „kräftig und geschäftig Ding", Hingebung, Gesinnung, Sache des Herzens und Gewissens und darum nicht nur

weit über den historischen Glauben, über alle Glaubensmeinungen

und Glaubensvorstellungen erhaben, sondern auch wesentlich von ihnen, die so oft nur Sache des Kopfes sind, verschieden: so daß er

nie und in keiner Weise nach ihnen gemessen werden kann. — II. was

Diesen Unterschied muß man recht festhaltcn, wenn man,

die Schrift über den Glauben sagt,

insbesondere die Aus­

führungen des Apostels Paulus und die auf beides gegründete Lehre unserer Kirche:

2. Hauptstück.

214

Apostolisches Glaubensbekenntnis;.

„daß der Mensch gerecht werde allein durch den Glauben

und nicht durch die Werke;" während die römische Kirche „Glauben und Werke" fordert,

verstehen will. — Bekanntlich macht die Schrift den Glauben zur

Bedingung des Heils und der Seligkeit.

„Glaube an den Herrn

Jesum, so wirst du und dein Haus selig" (Apostg. 16, 31).

Das

wäre schlechthin unbegreiflich, wenn sie darunter nur das Fürwahr­ halten, die Annahme gewisser, ob auch noch so richtiger Vorstellungen

über Gott und Christum verstände; es leuchtet aber sofort ein, sobald man mit ihr an die Hinwendung zu Christo und die dadurch be­

dingte und unauflöslich damit verbundene Herzens- und Lebensstellung

denkt. — Die gemeinsame Lehre der Schrift erhält bei Paulus ihre schärfere Ausprägung und eigenthümliche Richtung durch den Gegen­ satz gegen die pharisäische Partei in der ersten Kirche, die zwar eben­

falls Christum angenommen hatte und in Ehrlichkeit an ihn glaubte, trotzdem aber den Glauben an Christnm — das Christenthum — für sich allein nicht für genügend zum Heile erachtete, sondern neben

demselben „Beschneidung" d. h. Verpflichtung zur Beobachtung des jüdischen Gesetzes forderte; und letztere insbesondere auch den sich

zum Christenthum bekehrenden Heiden, Griechen und Römern, auf­

erlegen wollte. Da kommt es dem Apostel darauf an, zu zeigen: 1) Daß, welche Stellung auch das „Gesetz" habe (und es habe allerdings eine große; es sei der „Zuchtmeister" auf Christum ge­

wesen: Galat. 3, 24), es doch nicht im Stande gewesen sei, gerecht zu machen; daß vielmehr auch die Juden trotz des Gesetzes vor dem

Gesetze als Sünder erfunden würden, die gleich den Heiden der Gnade und Vergebung der Sünde, welche Gott in Christo darbiete,

bedürften und nur durch den Glauben an diesen gerecht und selig werden könnten.

Wie denn sie selbst, so viele von ihnen gläubig

geworden, bezeugen müßten, daß sie erst im Glauben Frieden ge­

sunden. *) *) Römer c. 2 und 3; besonders 3, 23. 24.

„Demi hierin, (d. h. in diesem

Stücke) ist kein Unterschied; sie sind (Silbe und Grieche) allzumal Sünder, und

ermangeln des Ruhmes, den sie an Gott haben sollen: und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Chr. Sesum geschehen ist.

Ferner: Galat. 2, 15. 16. „Wiewohl wir von Natur Suden sind, und nicht Sünder

Rechtfertigung durch den Glauben.

215

2) Wie der Mensch erst in Christo oder, was dasselbe ist, in dem Glauben an ihn zu einem rechten und gottwohlgefälligen wird

und zum Frieden gelangt, so thut es das „Christenthum" auch ganz, ohne daß zu demselben noch ein anderes hinzuzutreten brauchte. „Ist einer in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen: siehe, alles ist neu geworden" (2 Kor. 5, 17).

Was er auch vorher

gewesen, in der Hingebung an Christum ist er in Verbindung mit der Lebensquelle gesetzt, aus welcher ihm alles zufließt, dessen er zum Heile bedarf, und hat den Lebenskeim in sich ausgenommen, aus

welchem sich alles entwickelt, was er soll. Darum solle man nicht den Gläubigen aus den Heiden außer dem Glauben noch das Gesetz,

das schon die Juden nicht habe gerecht machen können, mit seinen

nur für das jüdische Volk bestimmten, meist rein äußerlichen Satzun­ gen auflegen, sondern sie der ihrer Eigenthümlichkeit entsprechenden Entwicklung des Glaubens überlassen. Andernfalls zerstöre man

das Werk Christi.

Denn in dem Maße, in welchem man den Heiden

diese Satzungen aufdränge, leite man sie an, auf dieselben Gewicht

zu legen, sie als die Hauptsache anzusehen, sich aus ihrer Erfüllung

ein Verdienst zu machen, und darüber das zu vergessen, worauf es

ankomme, die rechte Stellung des Herzens zu Gott, die Hingebung und das Vertrauen auf Gnade.

Darum, damit nicht Christus ver­

geblich geglaubt werde, darum halten wir daran, „daß der Mensch gerecht werde allein durch den Glauben, ohne des Gesetzes Werke" (Nöm. 3, 28),') d. h. ohne daß aus den Heiden, so sind doch — weil wir wissen, daß ein Mensch aus des Ge­ setzes Werken nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an I. Christinn.—

auch wir an Christum I. gläubig geworden, auf daß wir gerechtfertigt würden aus Glauben an Christum und nicht aus des Gesetzes Werken." — Endlich Nö-

mer 7, 7 f., wo der Apostel

aus

eigenster

Erfahrung

den vernichtenden Kampf

schildert, welchen der eifrige Jude, der seinen Frieden in der Beobachtung des Gesetzes suchte, zu kämpfen hatte, und zugleich mittelbar auf schlechthin allgemein­

gültige Weise ausführt, daß kein Gesetz im Stande sei, den Menschen gerecht zu machen; weil, je reiner und je geistiger es sei, um so mehr heraustrete: „Das Gesetz ist wohl heilig, gerecht und gut; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde

verkauft" v. 12—14.

J) So überseht bekanntlich Luther, der Sache nach richtig, obwohl dem Buch­ staben nach durch die Hinzufügung des von dem Sinne geforderten Wortes

„allein" abweichend.

Es ist das eine, und zwar wohl die hauptsächlichste unter

216

2. Hauptstück.

Apostolisches Glaubensbekenntnis;.

er neben dem Glauben noch die Satzungen, das Judenthum,

aus sich zu nehmen brauchte. Aehnlich war es in der mittelalterlichen Kirche zur Zeit der Refor­ mation.

Auch da war kein Christenthum anerkannt, als in der Un­

terwerfung unter die kirchliche Satzung; auch da wurden die Men­ schen wieder angewiesen, im Gehorsam gegen den Priester die Selig­ keit durch Werke, „Werke des Gesetzes" zu verdienen.

Luther her bekannt, bis zu welchem Grade

der

Es ist von

Verzweiflung an

ihrem Heile ernste Menschen durch diese Lehre getrieben wurden,

während die oberflächlichen und leichtsinnigen sich in falsche Sicher­ heit wiegten, sich mit allerhand Äußerlichkeiten und Nichtsnutzig­ keiten und schließlich mit — dem Ablasse abfanden: bis Luther das

Joch dieser Satzung brach und die Menschen zur wahren Sittlichkeit, zur Freiheit und zum Frieden zurückführte durch die erneute Ver­

kündigung des apostolischen Satzes, daß der Mensch gerecht werde

durch Glauben, den Glauben allein ohne des Gesetzes Werke.

Man

kann die Bedeutung dieses Satzes für jene Zeit kurz dahin zusammen­ fassen: daß der Mensch damit von aller priesterlichen Vermittlung auf sich, von allem äußerlichen Wesen auf das Innere, von sich und seinem Thun ganz auf die Gnade des barmherzigen Gottes gewiesen

worden sei. — Man hat römischerseits der Lehre Luthers und der evangelischen Kirche trotz der wiederholten Verwahrung beider schuld­

gegeben, daß sie die Werke verwerfe.

Das ist nicht wahr.

Die Lehre

von der „Gerechtigkeit allein aus dem Glauben" fordert wohl noch

mehr, als Werke: die unbedingte Hingebung des ganzen Menschen an Gott, und dazu die Demuth, die sich selbst nicht mit dieser Hin­ gebung, geschweige mit dem Wenigen und Unvollkommenen, was sie gethan hat, den Werken, etwas weiß (Lucas 17, 10).

Die evan­

gelische Lehre verwirft nur, wie den todten Glauben, so die todten Werke, und dazu den Hochmuth auf sie, das „Verdienst der Werke". — Man hält ihr vor, nach unserer Lehre werde der Mensch selig, er möge

thun, was er wolle: wenn er nur glaube! Lästerung.

Das ist Unverstand oder

Wenn einer glaubt, so thut er nicht, was er will, sondern,

was ihn Gott heißt, und wozu ihn Glaube, Liebe, Dankbarkeit den „Verfälschungen", welche bekanntlich die römische Kirche der lutherischen Bibel­

übersetzung Schuld giebt.

Rechtfertigung durch den Glauben.

217

Glaube und Werke.

treiben. — Man glaubt Wunder was gesagt zu haben, wenn man höhnt: demnach könne jeder Spitzbube selig werden, wenn er nur

glaubt.

Das ist wahr; nur in einem andern Sinn, als Dumm­

heit und Bosheit es meinen: und wir mögen Gott danken, daß es

wahr ist.

Denn wo nicht auch der allereleudeste Mensch, der Schächer

am Kreuze, noch Gnade finden könnte, wer bürgt uns dafür, daß wir sie finden?

So kommt es allein auf das: „wenn einer nur

glaubt" an: daß mit diesem scheinbar Unbedeutendsten und Gering­

sten das Größte und Allumfassendste gemeint, und — wo es sich

vollzieht — geschehen ist, was überhaupt geschehen kann, daß der Mensch sich von der Sünde zu Gott bekehrt, „von ganzem Herzen,

ganzer Seele, ganzem Gemüth und aus allen seinen Kräften";

nicht bloß äußerlich mit dem Munde und etlichen sogenannten guten Werken. III.

Bei alle dem könnte man fragen, ob nicht wegen dieses

Mißverständnisses, welches die evangelische Lehre doch nicht bloß bei

Böswilligen, sondern auch bei minder Unterrichteten gefunden hat und noch findet — ob es darum nicht zweckmäßiger sei, statt des in unsern Tagen nicht ohne weiteres verständlichen Ausdrucks unserer Kirche den leichteren und faßlicheren der römischen Kirche, der ja

im Grunde dasselbe meine, anzunehmen. neinen.

Das ist entschieden zu ver­

Denn nicht allein, daß sich damit gleich wieder einerseits

der Hochmuth auf Werke, andererseits das Verzagen am Heil ein­ schleichen würden, welche erfahrungsmäßig überall eintreten, wo der Mensch statt allein auf Gott und die göttliche Gnade auf seine Werke

gewiesen wird:

so wird dadurch auch

überhaupt verdunkelt

und

das Verständniß der Sache

der Begriff

des

Glaubens

verdorben.

Denn was ist denn das für ein Glaube, neben dem man die Werke

erst noch besonders fordern und ausdrücklich erwähnen muß?

Der

fromme Glaube kann es nicht sein: denn in dessen Natur liegt das Werke Wirken eben so von selbst, wie es in dem Flusse liegt, daß er fließt, in dem Regen, daß er näßt, in der Tugend, daß sie taugt. So kann es nur der historische Glaube, das Fürwahrhalten, oder

der moralische Glaube d. t. das oft eben so unreligiöse wie unmo­ ralische Vertrauen sein, von denen beiden man allerdings die Werke

trennen kann.

Und was sind denn das für Werke,

die zu

dem

218

2. Hauptstück. Apostolisches Glaubensbekenntnis;.

Glauben d. i. der Hingebung des Herzens noch erst hinzukommen müssen, offenbar, weil sie nicht schon in ihr liegen? Die natürlichen und nothwendigen Aeußerungen des auf Gott gerichteten Herzens

können es nicht sein:

sondern entweder willkürlich erdachte und ge­

botene Satzungen, oder auch ein allerdings durch die Sache gefor­

dertes, aber von dem Zusammenhang mit dem Herzen gelöstes Thun,

der äußerliche Werkekram.

Da haben wir also eine Formel, welche

der verkommensten Praxis in der römischen, leider auch in manchen Kreisen der evangelischen Kirche entspricht.

Glaube und Werke,

knechtische Annahme dessen, was die Kirche glaubt, dazu pünktliche Ausübung dessen, was die Kirche empfiehlt: Fasten, Beten, Almosen­ geben namentlich an Geistliche und Klöster, Peterspfennige — äußere und innere Mission, Stundenhalten und, was dergleichen mehr ist: und dort ist der „Heilige", hier der „Gläubige" fertig. Da haben wir allen Grund an der evangelischen Fassung der Lehre festzuhalten. —

Wir sind dazu um so mehr aufgefordert, je häufiger auch sonst

die Verwechslung, mindestens die Vermischung des frommen Glaubens mit dem historischen Glauben, dem Fürwahrhalten von Thatsachen, der Annahme von Glaubenslehren, Glaubensmeinungen, Glaubensvor­

stellungen trotz aller Verwahrungen dagegen immer wiederkehrt; und je größer andererseits die Verwirrung und der Schaden sind, welche diese Verwechslung anrichtet. Wie viele giebt's, die nur aus diesem Grunde zum lieblosen Verurtheilen anderer als Ungläubiger geführt werden! Wie viele andere martern sich und werden, weil sie trotz aller Qual nicht zu der für unentbehrlich gehaltenen Gläubigkeit gelangen

können, an ihrer Seligkeit irre! Da gilt es zwiefach zu „halten, daß der Mensch gerecht werde allein durch den Glauben ohne des Gesetzes Werke", d. h. ohne die Annahme irgend einer vorgeschrie­

benen Lehre, das Hinzukommen der kirchlichen Rechtgläubigkeit: und

in diesem Glauben sich zu der freudigen Gewißheit zu erheben, daß, wenn der Mensch „glaubt", da ihm der Barmherzige ebenso gewiß auch seine Irrthümer und falschen Vorstellungen — wenn sie falsch sind — vergeben wird, wie er ihm seine Sünde nicht mehr anrechnen will.

„Der Glaube wird ihm zur Gerechtigkeit gerechnet" (Römer 4, 3). Zum Schluß sei noch Folgendes bemerkt in Beziehung auf den vermeintlichen Widerspruch in dieser Hinsicht zwischen Paulus und

Rechtfertigung durch den Glauben.

Glaube eine feste Zuversicht.

219

Jakobus (2, 14—26), auf welchen sich die römische Kirche beruft

zum Beweise, daß sie recht lehre.

Aber man lese nur Jak. 2, 14,

wie es dem ginne gemäß ist: „Was hilft's, l. Br., so jemand sagt, er habe den Glauben, und hat doch die Werke nicht? Kanu auch der Glaube selig machen?"

Nein, der kann es nicht! einfach darum

nicht, weil es kein Glaube ist, sondern jenes „todte" Fürwahrhalten, welches „auch die Teufel haben und zittern" (v. 17. 19). Die Sache ist die: Paulus und Jakobus fordern beide Herzensfrömmig­

keit.

Nur die Richtung ist verschieden, in welcher sie diese Forderung Jakobus streitet gegen das sich Steifen auf die Erkennt­

ausführen.

niß, die „Gläubigkeit", die sich Glauben nennt; Paulus gegen die falsche Gesetzlichkeit, den Werkekram: daher die verschiedene Darstel-

lnngsweise.

IV.

Neben den bisher zur Sprache gekommenen drei Bedeu­

tungen des Wortes Glaube finden wir in der Umgangssprache noch einen Gebrauch desselben, der mit jenen nicht nur nichts gemein hat, sondern sogar im Widersprüche mit ihnen steht: Glaube gleich

Vermuthung.

Es versteht sich von selbst, daß auch, wo wir nur

sagen: ich glaube dir, oder: ich glaube das, wir damit mehr, als eine Vermuthung, nämlich: eine feste Zuversicht ausdrücken wollen.

Geschweige wollen wir, wo wir sprechen „ich glaube an Gott, an Christum", nicht sagen: ich halte es für möglich, es kann sein, daß ein Gott ist; aber ebenso gut ist auch das Gegentheil möglich: ich habe darüber keine Gewißheit.

Vielmehr gilt hier im höchsten Sinne:

„Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hoffet, und nicht Zweifeln an dem, das man nicht sieht" (Ebr. 11, 1). — Es fragt sich nur, wie in aller Welt dasselbe Wort, welches die höchste Zuversicht, die festeste Gewißheit, auf welche man wie ans Felsen baut, ausdrückt, dazu komme, zur Bezeichnung des geraden

Gegentheils, der größten Ungewißheit, verwendet zu werden.

Das

hängt mit dem Sinnlichen in uns zusammen und mit dem Ueber-

gewichte, welches dasselbe hie und da gewinnt.

Der Glaube nämlich

in allen jenen drei Bedeutungen, wie weit sie auseinander liegen, hat doch das gemein, daß er nicht'auf einem sinnlich Greifbaren, sondern

auf einem Uebersinnlichen, Geistigen beruht.

historische Glaube ist ja auf Vertrauen begründet.

Selbst der Da kann es

220

2. Hmlptstück.

Apostolisches Glaubensbekenntniß.

nicht fehlen, daß für alle diejenigen, welchen das Sinnenfällige und Handfeste, wo nicht als das allein Feste, so doch als das Festere, jedenfalls Reellere

erscheint,

das gejammte Gebiet des Glaubens,

als welches man eben nicht mit Händen greifen, nicht leiblich ver­

werthen, nicht essen und trinken kann, den Charakter zunächst der

minderen Gewißheit, weiterhin des Mangels an Gewißheit dessen annimmt, was allerdings Wünschenswerth, beziehungsweise zu fürchten

wäre, wenn es so wäre; in Hinsicht aus welches man jedoch zu keiner

Sicherheit gelangen könne, ob es so ist. — Das führt auf eine

weitere Betrachtung.

„ich glaube", so wollen wir also ausd ck en,

wir

der Sache

Aber dasselbe sagen wir doch auch, wo wir sprechen:

gewiß sind.

„ich

Wenn wir sagen:

daß

weiß".

Ist beides dasselbe?

Offenbar nicht.

Denn ob es

gleich Fälle giebt, in denen wir beide Ausdrücke nahezu in derselben

Bedeutung brauchen — wo es nämlich nur daraus ankommt, überhaupt unser Gewißsein zu betonen, gleichviel, woher dasselbe stammt1): so

weiß doch

jeder, daß das bei weitem in den meisten Fällen sich

nicht so verhält.

Da haben wir also ein zweifaches Gewißsein: das

des Glaubens und das des Wissens.

Welches ist das Gewissere?

Die meisten werden geneigt sein, dem Wissen in dieser Beziehung den Vorzug zu geben und den Glauben für das minder Gewisse zu halten: wie sich das auch in dem gang und gäben Worte aus­

drückt: Dies weiß ich, jenes dagegen kann man nur glauben.

Das

ist eine höchst verhängnißvolle Redensart, die schon manchen über­

haupt an dem Glauben irre gemacht und ihn dahin gebracht hat, zumal, wo ein Konflikt — ein wirklicher oder auch nur ein schein­ barer — zwischen seinem Glauben und seinem Wissen eintrat, den

Glauben zurückzustellen.

Darüber muß man bis zu einem gewissen

Grade klar werden. —

Das Verhältniß zwischen Glauben und Wissen, Religion und Wissenschaft ist ein noch nicht zu allseitiger Befriedigung ausgetra’) Z. B. „ich glaube dir" und „ich weiß", daß du die Wahrheit sagst. Ich glaube, daß Christus mich erlöset hgt, und — ich weiß, daß mein Erlöser lebt.

„Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen" (Röm. 3,28). „Wir wissen, so unser irdisch Haus dieser Hütte abgebrochen wird, daß wir einen Bau haben, von Gott gebaut rc." (2 Kor. 5, 1).

Glaube und Wissen.

221

genes Problem, und zwar eins der höchsten, welches das menschliche Denken zu lösen hat.

Es versteht sich von selbst, daß wir dasselbe

nicht hier werden ausmachen wollen.

Aber Folgendes läßt sich auch

für das schlichtere Verständniß seststellen:

1) Glaube und Wissen haben gleiche Gewißheit. Was ich glaube,

das ist mir damit gewiß: ist es das nicht, so glaube ich nicht; son­ dern vermuthe und zweifle.

— (Ebr. 11, 1; Jakob. 1, 6.) — An­

dererseits ist aber auch die Gewißheit des Wissens nicht geringer,

als die des Glaubens. 2) Man sagt nicht bloß: das kann ich nur glauben, sondern man muß auch anerkennen, daß es viele Gegenstände giebt, die man nur wissen kann.

Z. B. ein mathematischer, überhaupt ein wissen­

schaftlicher Satz.

Ja zu dessen Verständniß wird kein Glaube, auch

nicht der frommste, sondern nur die Wissenschaft führen.

Ist darum

die Mathematik ein ungewisses Gebiet? 3) Glaube und Wissen hangen mit einander innig zusammen.

All unser Wissen geht zuletzt auf eine unmittelbare Gewißheit, auf Glauben, zurück und führt in höchster Potenz wieder zu einer solchen,

dem Schauen. Vollends alles Wissen von Religion setzt religiöse Erfahrung voraus. — Der religiöse Glaube, wenn er irgend leben­ dig ist, treibt zum Nachdenken über sich und über Gott, will von Gott wissen, ist

stets von Wissen begleitet.

Namentlich hat das

Christenthum Religionswissenschaft erzeugt.

4) Glaube und Wissen sind zwei verschiedene Funktionen, die

mit und aufeinander wirken, sich gegenseitig controliren und ergän­ zen, dabei aber nie eine die andere ersetzen können. — Der Glaube erfaßt die Welt, sofern sie von Gott abhängig ist, von ihm erfüllt, bewegt und regiert wird, Gott in der Welt: das Wissen faßt die Welt in ihrer Erscheinung, erkennt die in ihr wirkenden Kräfte und Gesetze. — Der Glaube ergreift Gott mit dem Gemüthe, naht ihm

in Andacht,7giebt sich ihm hin: das Wissen denkt ihn und sucht ihn zu begreifen. — Der Glaube wurzelt im Gewissen und ist wesent­

lich ein Akt des Willens, Zuwendung: das Wissen liegt auf der er­ kennenden Seite des menschlichen Geistes. — Darum vermögeu sie sich gegenseitig anzuregen, zu läutern, zu berichtigen; sind aber schlechterdings außer Stande,

eins für das andere einzutreten und

2. Hauptstück. Apostolisches Glaubensbekenntnis;.

222

sich zu ersetzen.

Eine Vergleichung wird das am besten klar machen.

Zwar trifft sie, wie jede Vergleichung, nicht ganz zu: indeß dürfte

sie dazu dienen, die Sache anschaulich zu machen.

Glaube und Wissen

verhalten sich ähnlich, wie Sehen und Hören, Auge und Ohr, in

ihrer beiderseitigen Unentbehrlichkeit und ihren gegenseitigen Bezügen und Ergänzungen, andererseits aber auch in ihrer Besonderheit und relativen Selbstherrlichkeit.

Beide erfaffen

die Außenwelt, jedoch

jedes von einer anderen Seite: und zwar so,

daß diejenige Seite,

die sich dem einen von ihnen erschließt, nur von diesem und nicht

auch von dem andern erfaßt wird.

Das Auge, welches sieht, hört

nicht: und wieder das Ohr sieht nicht. oder der andere dieser Sinne fehlt,

Wem deshalb

der eine

dem ist damit das Gebiet,

welches eben nur mittelst seiner aufgefaßt werden kann, verschlossen.

Kein Blindgeborener wird je eine Vorstellung von Licht und Farbe, kein Taubgeborener die Vorstellung des Tones erlangen, und wenn jener das feinste Gehör, dieser das schärfste Auge besäße und dazu

alle die Hülfsmittel anwendete, welche die Kunst hier oder dort ihm darbietet.

Ebenso ist klar, daß jeder Sinn nur auf seinem Gebiete

kompetent ist, und

daß auch, wo beide beisammen sind, und der

Mensch mittelst ihrer Zusammenwirkung den Gegenstand vollständiger, als es bei einseitiger Betrachtung der Fall ist, erfaßt, dennoch jeder

Sinn nur über seine Seite zu urtheilen vermag, in diese aber auch keinen Einspruch leidet, sondern er allein entscheidet. Dieses Ver­ hältniß übersieht man so oft in Beziehung auf die geistigen Funk­ tionen.

Es ist eine bekannte Geschichte, und wird von den „Natur­

wissenschaftlern" unserer Tage häufig als Bravour erzählt, wie ein nam­

hafter Naturforscher') erklärt habe: er habe nun aller Himmel Himmel durchforscht und überall Gesetz und Ordnung, nirgends aber Gott gefun­ den ! Ganz recht: der Mann hatte nach Gott statt mit dem Gewissen, mit

dem allein er zu finden ist, mit dem Fernrohre geforscht. Ja durch die Nichtbeachtung dieser einfachen Wahrheit werden vielfach selbst solche an ihrem Glauben irre,

die wohl Glauben haben, sich nach

Gott sehnen, ohne ihn nicht leben können: die aber meinen, dem­ jenigen, was sie im Glauben in sich tragen, nicht eher trauen und ') Laplcice.

Glaube und Wissen.

223

es für wahr annehmen zu dürfen, als bis ihnen das int Glauben Gewisse „bewiesen", das Dasein, Walten, Regieren Gottes, wie ein Satz der Mathematik, vordemonstrirt sein werde. Ist das nicht die­ selbe Thorheit, als wenn einer seinem Gesichtseindrucke, der ihm sagt: das ist roth, das ist blau, nicht glauben will, als bis ihm die Rothe oder Bläue in Musik gesetzt, auf dem Klavier vorgespielt wird. Oder, um ein geistigeres Beispiel zu wählen, als wenn jemand verlangte, daß ihm die Schönheit eines Gedichts, eines Kunstwerks in eine algebraische Formel gebracht, oder, daß sie ihm noch „begreif­ licher" mit der Waage vorgewogen werde? Aber Gott, Seele, Glaube werden geleugnet und für Einbildungen, wenn es hoch kommt, für „Vermuthungen" erklärt, weil man sie nicht mit der Lupe und dem Sezirmesser aufzufinden vermag. 5) Daraus ergiebt sich von selbst, was wir zu thun haben, wenn Glaube und Wissen in Konflikt gerathen. Für die meisten in unseren Tagen versteht es sich von selbst, daß in solchen Fällen der Glaube dem Wissen zu weichen habe. Als wenn nur der Glaube fehlgreifen könnte, die Wissenschaft, „die Bildung" unserer „Gebil­ deten" dagegen unfehlbar wäre. Es hat ja unzweifelhaft vielen Aberglauben gegeben und giebt ihn noch, welcher vor der fortschrei­ tenden Welt- und Gotteserkenntniß theils schon gewichen ist, theils noch wird zu weichen haben. Andererseits giebt es aber auch keine Wahrheit, welche nicht von der „Wissenschaft" schon bestritten, keinen noch so widersinnigen Irrthum, der nicht in irgendwelchem „philo­ sophischen" Systeme schon behauptet worden wäre! Da werden wir also in jedem solchen Falle zu prüfen, und, je nachdem die Prüfung ausfällt, zu entscheiden oder (denn auch das kann vorkommen, und wird gerade für den Menschen, der seinen Glauben, wie sein Denken, gleichmäßig im Gewissen trägt, in vielen Fällen das allein Mögliche sein) den Streit als einen zur Zeit noch nicht auszumachenden zu erkennen und seine Lösung künftigen Zeiten vorzubehalten haben. Kein Verständiger zweifelt, daß Galilei seiner Zeit Recht hatte, als er einem sich mißverstehenden und übergreifenden Glauben gegenüber bei seinem Wissen beharrte: „Und sie bewegt sich doch." Kein geistig gesund orgauisirter Mensch wird anstehen, aus seinem Glauben heraus jede Wissenschaft einfach für eine Narrheit zu erklären, die ihm be-

2. Hauptstück. Apostolisches Glaubensbekeiiiitmjz.

224

weisen will, es sei kein Gott.

Dagegen z. B. über das Alter der Welt

und des menschlichen Geschlechts und über ähnliche Fragen, sei es

aus seinem Glauben, sei es aus dem dermaligen Stande des Wissens zu entscheiden, wird jeder Besonnene Anstand nehmen. V. sondern

Warum heißt es nicht bloß in dem Glaubensbekenntnisse, auch

Erklärung:

in der lutherischen

„ich

glaube — daß

mich Gott geschaffen — Jesus mich erlöset hat — auf daß ich in

seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene" u. s, w.?

Ist unser

Glaube nicht etwas Gemeinsames? hat er keine Allgemeingültigkeit? ist er ein bloß Subjectives?

Der Glaube macht ebenso auf All­

gemeingültigkeit, wie auf Gemeinsamkeit, Anspruch.

Es ist unmög­

lich, zu glauben, was man nicht als ein für alle, und für immer Gül­

tiges ansicht.

Ebensowenig begnügt sich der Glaube, ein einsamer zu

sein, sondern theilt sich mit, sucht Gemeinschaft und freut sich und stärkt sich an derselben.

(„Wir glauben all' an einen Gott" (Lied 51).

— „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über" (Matth. 12, 34). —

„Ich glaube,

darum rede ich" (2 Kor. 4, 13). — „Herz und Herz

vereint zusammen" (Lied 674). — „Unser Vater im Himmel.") — Wenn also hier stets in der Einzahl geredet wird, so geschieht es,

um

uns

einzuprägen:

daß

der Glaube in

persönlicher sein müsse; einmal,

sofern

doppelter Hinsicht

ein

jeder selbst glauben,

so­

dann aber auch, sofern jeder für sich glauben, d. h. die Wahrheit, von deren Gültigkeit er i n sich überzeugt ist, als eine auch für ihn gültige anerkennen und auf sich beziehen muß.

Das erstere ist klar,

und braucht Evangelischen nicht anseinandcrgefetzt zu werden.

wissen:

Wir

„der Gerechte wird seines Glaubens leben" (Röm. 1, 17).

Aber das andere ist ebenso wichtig.

Was hilft es einem Menschen,

wenn er zwar glaubt, daß Gott die Welt geschaffen hat und für sie

und alles in ihr väterlich sorgt;

aber sich

hält er für von Gott

verlassen? Oder, daß Christus für alle gestorben ist, allen, auch den ärgsten Sündern Heil bereitet hat;

daß

solches auch ihm gelte?

dabei aber fortwährend zweifelt,

Oder,

daß Christen verpflichtet sind,

Christo zu dienen und sein Wort in allen Stücken zur Richtschnur ihres Handelns zu machen; nur er, meint er, brauche das nicht? —

Dieser Charakter

des Glaubens,

kraft dessen

er einerseits

ein ge­

meinsamer ist und auf Allgemeingültigkeit Anspruch macht, anderer-

Glaube ein subjektives und doch allgemeingültiges.

Gott, der Vater.

225

feite nur als der persönliche Werth hat, wird recht zur Anschaulich­

keit gebracht durch die bekannten Gleichnisse des Herrn: vom großen Abendmahl (Luk. 14, 16f.) und vom hochzeitlichen Mahle (Matth. 22, lf.).

Wie ist da alles bloß

„Subjective",

Absonderung Streifende ausgeschlossen! sames, von dem Wirthe bereitetes,

an Willkür und

Das Mahl ist ein gemein­

alles bei demselben für alle be­

stimmt: andererseits findet niemand Sättigung, als, wer kommt und

ißt. — Auch in dem Glaubensbekenntniß und der Erklärung Luther's

finden wir dieses Verhältniß angedeutet; in der Erklärung zum zweiten Artikel:

„Christus hat mich erlöset,

unter ihm lebe und ihm diene;"

auf daß ich in seinem Reiche

sowie in dem dritten Artikel: ich

glaube „eine heilige allgemeine christliche Kirche" sammt dem, was Luther dazu sagt:

„in welcher Christenheit der h. Geist mir alle

Sünden vergiebt"

u. s. w.

„Ich"

und

„Reich"

gehen überhaupt

immer mit und neben einander als Complemente durch die Heilsver­ kündigung. Es giebt für den einzelnen kein Ziel, als das Reich Christi; kein Heil als in demselben. Aber es giebt auch kein Reich

Gottes oder Christi, als welches „inwendig in uns ist" (Luk. 17, 21); kein Haus Gottes,

Christo aus

als welches sich aus dem Grund- und Ecksteine

„lebendigen Steinen" baut (1 Kor. 3,11 f.;

1 Petri

2, 5). — Die Persönlichkeit ist überall das durchschlagende: der per­

sönliche Gott, der Vater der Liebe, kein blindes Fatum, kein starres

Gesetz;

der persönliche Heiland,

giebt, kein System;

der sich selbst für uns in den Tod

der persönliche Glaube: darauf baut sich das

Reich; darin beruht das Heil. —

Ich glaube an Gott. Der Gegenstand des Glaubens ist also Gott; und nur Gott kann dieser Gegenstand sein. „Ich bin der Herr, dein Gott: du sollst keine andern Götter haben neben mir." — „Das ist das ewige Leben, daß sie dich, daß du allein wahrer Gott bist, und, den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen" (Joh. 17, 3). — Wenn in

dem Glaubensbekenntnisse auch I. Christus und der h. Geist als Gegenstände des Glaubens, und zwar desselben Glaubens, wie an

Gott, den Vater, genannt werden, so liegt darin von vorn herein,

daß „Gott in Christo" war (2 Kor. 5,19), also daß,

sieht,

sieht den Vater" (Joh. 14, 9): so wie,

Eltester, Materialien. 2. Auflage.

„wer ihn

daß der h. Geist der 15

2. Hauptstück.

226

Geist Gottes ist. — Es soll ausgeführt,

nur

sondern

Erster Artikel.

das an dieser Stelle nicht weiter

vorweg

darauf

aufmerksam

gemacht

werden. —

Gott wird hier schlechtweg der Vater genannt.

Anderwärts

heißt er auch unser oder der himmlische Vater, endlich „Gott und

der Vater unseres Herrn I. Christi": letzteres, sofern er erst in

Christo int höchsten Sinne sich als Vater offenbart hat, die Menschen erst in diesem zu Kindern Gottes geworden

sind.

Es bezeichnet

Gott als den Urheber unseres Daseins, zugleich als die höchste Weis­

heit und Liebe.

Es ist mit einem Worte der Inbegriff aller Voll­

kommenheit, der höchste Laut der menschlichen Sprache, in den wir

alles, was wir an Ehrfurcht, Liebe, Vertrauen, Dankbarkeit gegen Gott empfinden, hineinlegen. Bei alle dem ist es eine bildliche Bezeichnung.

keine andere, als eine solche.

Wir mögen es

Aber wir haben

ansteüen, wie wir

wollen, wir vermögen von Gott und göttlichen Dingen immer nur

in menschlicher d. i. bildlicher, sinnlich gefärbter, unvollkommener Weise zu reden, und theilen auch unsere geistigsten Ausdrücke noch

diesen Charakter.

Sie sind nur, je abstracter sie sind, um so kälter.

Kurz: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort"

(1 Kor. 13, 12), und „Unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weis­ sagen ist Stückwerk; wenn aber das Vollkommene kommen wird, wird

das Stückwerk aufhören" (v. 9 u. 10). Diese Erkenntniß soll uns demüthig machen, ohne uns zu entmuthigen. — Mit welcher Vermessenheit spricht der Mensch,

der

Staub, von Gott und göttlichen Dingen! Mit welcher Zuversicht urtheilt er, der sich selbst in seinen letzten Gründen nicht begreift, über Gottes Wesen und Walten; erklärt für unmöglich, was er nicht

faßt, stellt diktatorisch als ewige göttliche Wahrheit auf, was er in

Worte gefaßt hat; wo doch unser höchstes Rühmen kaum an den Saum des Gewandes der Herrlichkeit Gottes rührt.

(Man vergleiche

beispielsweise das Athanasianische Symbolum.) — Andererseits ist in dem Stückwerk Wahrheit.

von Gott in Bildern:

Gottes.

Das Kind

Es ist wahr, wir denken und reden

aber wir sind auch Bilder,

begreift den Vater nicht,

seine Liebe und versteht seinen Willen.

wir sind Kinder

aber es empfindet

Und wiederum dringt des

Gott, der Vater.

227

Gottes Allmacht.

Kindes Lallen an das Herz des Vaters.

Wir dürfen Gott im Ver­

trauen nahen. — Weiter soll diese Einsicht uns friedfertig machen.

Wie heiß

entbrennt der Kampf um die Erkenntniß Gottes, und wie oft sind es nur die beiderseits unvollkommenen Ausdrücke, über welche man streitet! In meiner Jugend hörte ich einst zwei Kinder mit großem Eifer streiten: „Pexa", nein — „Kepa": sie meinten Krebse! Wenn wir einst in den Himmel kommen, werden wir über vieles lächeln,

was uns hienieden ungeheuer klug gebäucht hat, und uns über die unkindliche Weise schämen, mit der wir uns darüber haben erbittern lassen. „Da ich ein Kind war, redete ich, wie ein Kind, und war

klug, wie ein Kind, und hatte kindische Anschläge.

Da ich aber ein

Mann ward, that ich ab, was kindisch war. — Jetzt erkenne ich es stückweise, dann aber werde ich es erkennen, gleichwie ich erkannt

bin.

Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;

aber

die Liebe ist die größeste unter ihnen" (1 Kor. 13, 11—13). Von den Eigenschaften, welche wir Gott beizulegen pflegen, wird in dem apostolischen Glaubensbekenntniß nur die Eigenschaft der

Allmacht hervorgehoben.

Das hängt mit der Entstehungs­

weise des Apostolicums zusammen, daß es nämlich nicht systematisch ausgearbeitet wurde, sondern sich durch gelegentliche Zusätze bildete, je nachdem dieser oder jener Irrthum abzuweisen war. So ist auch

die Bestimmung der Allmacht in dasselbe gekommen durch den Gegen­ satz gegen die Irrlehre der sogenannten Gnostiker, nach welcher die

Welt nicht von dem höchsten Gotte, dem Vatergotte, sondern von einem untergeordneten, beschränkten, wo nicht bösen Wesen, dem

Demiurgos,

geschaffen sein sollte. — Andererseits empfindet über­

haupt der Mensch in dem Gefühl seiner Ohnmacht das Bedürfniß,

sich vorzugsweise auf die Macht Gottes zu stützen: wie es denn

auch im Gebete des Herrn heißt: „Dein ist die Kraft". seitige Hervorhebung

Diese ein­

der Allmacht Gottes ist nicht ohne alles Be­

denken: sofern letztere dadurch leicht den Charakter der Willkür ge­

winnt; eine Auffassung, die sich selbst in die wissenschaftliche Be­

arbeitung

der Glaubenslehre zu deren Schaden eingedrängt hat,

vollends in der populären Vorstellung fast die gewöhnliche ist. „Gott kann alles, was er will. Freilich will er vieles nicht; aber wenn 15*

2. Hauptstück. Erster Artikel.

228

er es wollte, so würde er das auch können."

Damit hängt dann

weiter die höchst bedenkliche Ansicht über das Gute zusammen: als

ob das Gute nicht in sich selbst, sondern nur daruyl gut sei, weil

es Gott wolle.

das gut. Guten!

Wenn er ein anderes wollte und geböte,

so wäre

Die absolute Despotie und Auflösung des Begriffs des

Gegen diese verkehrte, die kindliche Ergebung in den in sich

unveränderlich guten und weisen Willen Gottes störende Vorstellung ist festzuhalten, daß es allerdings für Gott keine Hindernisse außer

ihm giebt, die sein allmächtiger Wille nicht zu überwinden vermöchte,

daß dagegen in seinem eigenen Wesen Schranken gesetzt sind, die frei­ lich nichts anderes sind, als seine uneingeschränkte Vollkommenheit.

Gott kann vieles nicht.

trügen,

Er kann nichts Unsittliches:

sich selbst widersprechen.

als lügen,

Er kann nichts Widersinniges:

Geschehenes ungeschehen, aus Gestern Heute machen.

Unmöglich ist

ihm alles, was den Charakter der Unvollkommenheit und Schwäche an sich trägt: Leiden, Bedürftigsein, Schlafen: aber dieses Nicht­ können ist nicht Schwäche, sondern Stärke, die Stärke seines schlecht­ hin Gott- und Gut-Seins.

Bei den Menschen sieht man das auch

alsbald ein, daß es nicht Ohnmacht, sondern Macht, Macht

des

Guten und Stärke des Charakters sei, wenn einer vieles schlechter­ dings nicht mehr vermag: als ungerecht sein, seine Pflicht vergessen, grausam sein u. s. s.; und daß der tiefer stehe, dem dergleichen noch möglich ist.

Aber bei Gott trägt man Bedenken, Schranken anzu­

erkennen, und glaubt, ihn zu verkürzen, wenn man nicht seine un­ bedingte Allmacht, selbst auf Kosten seiner Güte und Gerechtigkeit festhält. Da ist auf das stärkste zu betonen, daß seine Allmacht die Macht seiner heiligen Liebe ist, die den Nathschluß dieser Liebe allen Hindernissen zum Trotze durchsetzt, und alles überwindet —

aber freilich auch alles ausschließt, was dieser heiligen Liebe wider­

streitet.

Nach

den bekannten Strophen des köstlichen Liedes (573)

„Befiehl du deine Wege":

„Weg hast du allerwegen,

an Mitteln

fehlt dir's nicht, dein Thun ist lauter Segen, dein Gang ist lauter Licht;" — „und ob gleich alle Teufel hier wollten widerstehn, so wird

doch ohne Zweifel Gott nicht zurücke gehn.

Was er sich vorgenom­

men, und was er haben will, das muß doch endlich kommen zu sei­

nem Zweck und Ziel." — Das endlich ist auch der Sinn der Ant-

Die Schöpfung.

229

wort des Erlösers auf die bängliche Frage seiner Jünger „wer

denn selig werden könne":

„Bei den Menschen ist es unmöglich,

aber nicht bei Gott: denn alle Dinge sind möglich bei Gott" (Mark.

10, 27).

Wenn Buchstabier oder Spötter hier an dem „alle Dinge"

haften, und letztere sich wohl daraus eine Waffe bereiten, einfache und unbefestigte Gemüther mit Fragen zu ängstigen, wie wir vor­ her etliche angedeutet haben, so ist einfach zu erwidern, daß Absur­

ditäten keine „Dinge", sondern Undinge seien, und, daß Gott un­

möglich einfallen könne, was eben nur einem Narren oder Frevler durch den Kopf laufe.

Von der Schöpfung. „Schöpfer Himmels und der Erde."

Um den Inhalt und

die Tragweite dieser Bezeichnung recht zu fassen, thut man am besten, sich etliche andere von den Ausdrücken

zu vergegenwärtigen,

welche mau sonst die Urheberschaft zu bezeichnen Pflegt. auf der Hand,

durch

Es liegt

daß man ebenso gut, wie man sagt, Gott habe die

Welt geschaffen, auch sagen kann und ost genug sagt, Gott habe die

Welt gemacht: weil dieses Wort die Urheberschaft von etwas nur ganz allgemein bezeichnet, ohne etwas Näheres über die Weise, Mittel

u. s. w. auszudrücken. Dagegen spricht man nie: Gott habe die Welt verfertigt oder hervorgebracht oder erzeugt. Warum? weil in dem Verfertigen der Begriff des Fertigmacheus ciues schon Vorhandenen,

nur noch nicht Fertigen, des Formens, Bildens, Wirkens an einem

Stoffe und aus demselben liegt: das Hervorbringen aber — abge­ sehen davon, daß es dem Wortliste gemäß ebenfalls auf ein schon Vorhandenes, auf das Herausstellen und aus der Tiefe Hervorholen eines Keimes deutet — die Nebenbedeutung

des Unbewußten, be­

ziehungsweise Unwillkürlichen und Ungewollten hat: wie man d/nn diese Bezeichnung meist nur von der Natur braucht, und von dem

Menschen höchstens sagt: er bringe solche Töne hervor; weil endlich „zeugen" das Urhebersein von etwas Gleichartigem bezeichnet.

Fassen

wir das zusammen, so wird also das Schaffen als ein reiner Akt

des göttlichen Willens, und die Welt als das Werk dieses Willens bezeichnet mit Ausschluß jeder außerhalb Gott liegenden Ursache,

Anlage, Stoffs, so wie jedes unwillkürlichen Hervorbringens.

Das

2. Hauptstück.

230

Erster Artikel.

ist auch der Sinn, in welchem die Schrift die Welt durch Gottes Wort geschaffen sein läßt; wenn sie an den Anfang aller Dinge das große Wort stellt: „Gott sprach, und es ward", und im Briefe au

die Ebräer sagt (11, 3): „durch

den Glauben merken wir, daß die

Welt durch Gottes Wort bereitet') ist, also, daß das, was man sieht, nicht aus Erscheinendem geworden ist." Denn das gebietende Wort ist der Ausdruck des Willens.

Durch dieses große Wort ist auf entscheidende Weise die Gränze

zwischen dem monotheistischen Offenbarungsglauben und dem Heidenthum gesteckt.

Dem Heidenthum ist der strenge Schöpfungsbegriff

fremd: es weiß ebenso wenig von einem allmächtigen Schöpfer, als

es die Welt als das Werk Gottes von Gott scharf unterscheidet. Seine Götter sind nicht Weltschöpfer, sondern Weltbildner, welche die Welt aus einem unabhängig

von ihnen vorhandenen Stoffe

(Chaos, Materie) formen und niemals ganz mit dessen ungefügigen und widerstrebenden Kräften fertig werden. Oder die Welt entsteht

durch

einen Prozeß, in welchem entweder durch Entwickelung

von

unten her als höchste Entfaltung der in der Welt wirkenden Kräfte

schließlich Götter erscheinen (Venus wird aus dem Meere geboren): oder umgekehrt die Welt durch allmähliches Herabsinken Gottes in die Materie aus Gott hervorquillt (emanirt), also Gott sich zur

Welt entwickelt.

Selbst, wo das Heidenthum sich zu dem Gedanken

der Einheit Gottes emporschwingt, kommt es nicht aus dieser Ver­ mischung Gottes und der Welt, des Sittlichen und Natürlichen hin­ aus: auch hier wird die Welt nicht als das Werk, sondern als der Leib der Gottheit gefaßt, in welchem die Gottheit als die das All

belebende Seele waltet. — Der monotheistische Schöpsungsbegriff bedingt eine ihm ent­ sprechende Stellung zur Schöpfung. Er schließt gleicherweise die Weltvergötterung und Welttrunkenheit aus, die dem Heidenthum

eigen sind; wie er andererseits gegen Weltverachtung und gegen die trübe und düstere Weltanschauung schützen soll, in der sich wunder­ barer Weise auch manche Christen gefallen.

In der Schrift heißt

') Luther überseht: „fertig ist" — „aus Nichts geworden ist".

Die Schöpfung.

231

es, nachdem berichtet ist, wie Gott seine Schöpfung vollendet: „Und

Gott sah an alles,

was er gemacht hatte; und siehe,

Und der Dichter sagt:

gut" (1 Mose 1, 31).

es

war sehr

„Die Welt ist voll­

kommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual". Ist jenes Schriftwort allerdings nur von der ursprünglichen Schöpfung,

wie sie unentweiht von Sünde aus Gottes Schöpferhand hervorging, gesagt: im

wesentlichen gilt es noch jetzt.

Welche Störungen

die

Verirrung der Kreatur auch in der Schöpfung hervorgebracht habe und noch hervorbringe: dafür ist doch Gott Gottes genug, daß ihm

niemand sein Werk so herahbringe,

daß uns nichts übrig bleibt,

als fortwährend über demselben zu stöhnen.

„Die Himmel erzählen

die Ehre Gottes, und die Feste verkündet seiner Hände Werk" (Ps.lO, 2).

Und abermals:

hast

„Herr, wie sind deine Werke so groß und viel;

du

sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter"

(Ps. 104, 24). — Wie

diese trübselige Weise,

Schöpfungsglauben endlich auch

so widerstreitet dem

das unzufriedene und tadelsüchtigc

Wesen, welchem wir Gottes Welt gegenüber so viele anheimgefallen

sehen.

Bedenken denn diese Menschen gar nicht, daß jeder ihrer un­

bedachten oder ernstlich gemeinten Aussetzungen an der Welt schließ­ lich Gott, der die Welt gemacht hat, zur Last fällt; und daß, so oft sie an Gottes Werke kritteln und meistern: „wozu ist das, und wozu jenes",

sie damit immer Gott,

sei es des Unbedachts,

daß er es

nicht besser überlegt habe, sei es der Unmacht, daß er es nicht besser

vermocht, wo nicht gar

der Ungüte und des bösen Willens zeihen,

und sich die Stellung geben,

wo sie die Welt geschaffen hätten,

sie

hätten es wollen besser machen? Wenn trotzdem so viele dieser Ver­

sündigung sich schuldig machen, woran liegt es, als, daß ihnen, un­

geachtet haben,

sie die richtige Vorstellung von

in

der Schöpfung der Welt

der Welt nicht der Schöpfer lebendig in Schauern der

Andacht, in Anbetung und Dankbarkeit weckenden Zügen seiner un­

endlichen Weisheit und Güte entgegentritt; oder, daß sie zwar den historischen Glauben

haben,

der fromme Glaube ihnen

fehlt? — Wo dieser Glaube ist, auf;

aber noch

da hört das Kritteln und Tadeln

da stellt sich jene heitre Zuversicht,

jene Freude an Gott ein:

„Was Gott thut, das ist wohlgethan;" da wird es nicht schwer, selbst gegenüber noch nicht Begriffenem, sei es in dem Werke, sei es in der

2. Hauptstück. Erster Artikel.

232

Führung Gottes, zu vertrauen: Einst werde ich auch das verstehen

(Joh. 13,7. 1 Korinth. 13, 12).

Gehen wir näher auf die Gründe ein, aus welchen den Menschen die Herrlichkeit Gottes in seinen Werken verhüllt bleibt, so sind es

vornehmlich drei: 1) die überschießende Sinnlichkeit, welche nur das für gut hält, was behagt.

Viele Menschen sind in dieser Beziehung

noch ganz, wie die Kinder, welche mit allem, was man ihnen reicht,

sofort nach dem Munde fahren und, wenn es unangenehm schmeckt, es

mit Geberden des Abscheus wegwerfen.

Ja freilich, in diesem

Sinne ist die Welt nicht „gut"; im Gegentheil ist vieles sehr Herbe,

sehr Schwere und Unangenehme darin, was uns bedrängt und unsere

äußerste Kraft in Anspruch nimmt, um darüber Herr zu werden. Aber dafür weckt es auch unsere Kraft. keinerlei Anstrengung zu

machen,

In einer Welt, in der wir

mit keinerlei Widerwärtigkeit zu

kämpfen hätten, in der alles uns von selbst zufiele, würden wir uns eben so wenig entwickeln, als in einer solchen, die jeden Widerstand

erdrückte.

Gerade in dieser Mischung des Widrigen, das unsere

Gegenwirkung herausfordert und des Freundlichen, das uns zur

Einwirkung einladet, des Unangenehmen und des Angenehmen, der Nothwendigkeit des Kampfes und der Möglichkeit und Süßigkeit des

Sieges besteht die Vollkommenheit der Welt und ihre Angemessen­

heit für den Menschen. — 2) Der Egoismus, mit dem wir alles in der Welt ausschließlich auf uns und unsern Nutzen beziehen. Es ist wahrhaft komisch, wenn es nicht so traurig wäre, mit welcher

Unbefangenheit wir Menschen uns zum alleinigen Mittelpunkte der

gesammten Welt machen und ohne weiteres voraussetzen, daß sie

und alles in ihr lediglich für uns da sei und gar keinen andern

Zweck haben könne, als uns zu dienen.

Das ist der andere Probir-

stein, daran wir die Güte der Welt messen, und dann natürlich uns höchlich erzürnen, wenn wir finden, daß die Welt doch nicht ganz einem Gasthause gleiche, in dem wir nur zu befehlen haben, und auf

jeden unserer Winke flugs der Auswärter herbeieilt und uns dar­ bietet, ob es uns beliebe, zuzulangen.

Die Welt hat wohl einen

höheren Zweck, als den Menschen: Gott, die Ehre Gottes, die

Offenbarung seiner Herrlichkeit; wie es heißt: „die Himmel erzählen die Ehre Gottes", und: — „denn von ihm und durch ihn und zu

Die Schöpfung.

233

ihm') sind alle Dinge" (Röm. 11, 36). — Weiter ist die Welt und alles in ihr für sich selbst unh dann erst auch für den Menschen da. Das ist die Größe Gottes und die Ueberschwänglichkeit seiner Liebe,

daß er jeglichem, das er in's Leben gerufen,

ein Recht verliehen

hat, für sich zu sein und sich in sich des Grades von Wohlsein zu

freuen, dessen es seiner Natur nach

fähig ist.

Der Seraph vor

Gottes Thron und der Wurm im Staube — Gott schuf sie: sie sind; wer hat ein Recht, zu fragen, wozu elende: Zu unserm Nutzen!

sie seien? — Vollends das

Schon bei Menschenwerken, je höher sie

sind, mißachtet man es mit Recht, wenn jemand fragt, wozu Wissenschaft und Kunst, Schiller's Lied von der Glocke, Raphael's

Madonna nützen?

Sie sprechen aus, was des Forschers, des Dich­

ters Geist bewegt; sie treten vor uns, um auch in unserer Brust Geist, Menschengeist, heilige Begeisterung für alles Edle und Hohe

und Schöne zu wecken. und Kunst?

Ja, was reden wir erst von Wissenschaft

Sehe man doch nur überhaupt den Menschen an, ob

er einen Augenblick existiren könne,

ohne in jedem Augenblicke zu

thun, wobei er nicht erst fragt, wozu es nütze, wobei er es überhaupt auf keinen Zweck außer ihm absieht, sondern lediglich der innern Nöthigung folgt, sich und das, was in ihm lebt, auszudrücken und darzustcllen!

Er wird, indem er spricht, von irgend etwas lebhafter

bewegt, und er erhebt die Stimme, bewegt die Hand: ist der andere

taub, will er etwas fassen? er schlägt in Andacht sein Auge empor:

will er schärfer sehen? er strömt seine Empfindung in Lied und Ge­ sang aus: will er Geld verdienen? Und Gott will man wehren, daß er die Fülle und die Tiefe und den Reichthum feiner Gottes­ gedanken in tausend und übermal tausend Gestalten, von denen wir den weitern Zweck nicht abzusehen vermögen, darstelle; ihm, dem „Baumeister der Welt" (Ebr. 11, 10), „der aller Schöne Meister ist" (Weisheit Sal. 13, 3), vorschreiben, daß er gleich einem Hand­

langer in unserm Taglohn bei allem, was er thut, nur an — unsern — Nutzen denke.

Darum sollen wir, wollen wir anders die Dinge

der Welt erkennen, bei ihrer Betrachtung auch nicht immer nur

fragen, wozu sie uns nützen, als vielmehr, was sie uns sagen! Dann *) Nicht „in ihm"

(Luther).

2. Hailptstück.

234

Erster Artikel.

geht uns die Herrlichkeit des Herrn in seiner Schöpfung -und auch die Herrlichkeit der Kreatur auf.

Während bei jener Frage alles

stumm bleibt, und wir in dem blühenden Baume vor uns nur Holz und Frucht und Dung sehen: erhält bei dieser alles Stimme und Rede: „Mich, ruft der Baum in seiner Pracht, mich, ruft die Saat,

hat Gott gemacht; bringt unserm Schöpfer Ehre!" (Lied 84. „Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht".) Wie viel anders und wie viel öfter

würde die Welt, diese „Offenbarung des unsichtbaren Wesens Gottes

d. i. seiner ewigen Kraft und Gottheit" (Römer 1, 19. 20), uns antworten,

wenn

wir sie erst richtig zu

fragen

verständen! —

3) Die rechte Erkenntniß der Welt und Gottes in der Welt wird endlich aufgehalten durch das Einzelne klammern,

die Kurzsichtigkeit, mit der wir uns an andererseits, wo wir darüber hinaus ein

Größeres zu erfassen bestrebt waren, bei unserm Urtheile übersehen,

daß wir auch hier schließlich nur einen Bruchtheil überblicken. — Wer, dem ein Bestandtheil irgend eines größer» künstlich zusammen­ gesetzten Werkes vorgelegt wird, ohne daß er eine Anschauung von

dem Ganzen hat, vermag die Bedeutung dieses wunderlich gestalteten schiefen eckigen Dinges, den Werth dieser, alles, was zwischen sie geräth,

zermalmenden Räder zu verstehen?

Aber in Gottes Welt

glaubt man das Einzelne erfassen zu können, losgerissen von dem Zusammenhänge, in welchem es steht, das Getriebe der Welt zu verstehen, wenn man einen Theil des Räderwerkes überschaut?

Beispiel statt vieler:

Ein

Was ist auffallender und selbst für den from­

men, zur Anbetung Gottes geneigten Betrachter der Natur befrem­

dender, als der Anblick der vielen zerstörenden Kräfte sowohl in der

unorganischen als in der organischen Natur, besonders in der Thier­ welt? Diese Stürme und Erdbeben, diese an allem nagenden, alles zersetzenden Gewalten, der gesammte Prozeß der Verwitterung und

Verwesung, die wilde Wuth und scheinbare Grausamkeit derjenigen Thiere, die sich von andern nähren — welche tiefeinschneidende, ver­ letzende Wirkung üben sie auf unser Gemüth!

Und doch müssen

wir bei weiterer Umschau erkennen, daß auch diese zerstörenden Kräfte wesentlich erhaltende seien, die zum Bestände und der Schön­ heit des Ganzen beitragen: theils, indem sie Krankhaftes und Todtes wegschaffen und dadurch neuem und gesundem Leben Raum machen,

Die Erhaltung.

235

theils, indem sie gerade dadurch, daß sie das Leben der Individuen

vernichten,

die fernere Existenz der Gattungen ermöglichen.

Was

sollte aus den Millionen und abermal Millionen pflanzenfressender

-Thiere werden, wie sie in unabsehbaren Herden die Steppen Amerika's und Afrika's durchziehen, wenn nicht Gott jene großen Räuber unter

sie gesetzt, welche die überschießende, zuletzt geradezu vernichtende Vermehrung animalischen Lebens in Schranken halten, bis der Mensch erscheint und mit seiner wachsenden Herrschaft über die Natur in höherem Sinne ihre Ausgabe, das rechte Maß und Gleichgewicht in

der animalischen Welt zu erhalten, übernimmt;

und sie dann auch

in dem Maße, als sie entbehrlich werden, vor dem Menschen ver­

schwinden?

Während die zahllosen Geschlechter kleinerer Räuber,

oder vielmehr Jäger und Todtengräber, .von den kleineren Vierfüßlern

herab bis zu den Insekten, deren Wirksamkeit niemals auch durch keine noch so eindringende menschliche Thätigkeit ersetzt werden kann,

sich nicht nur neben dem Menschen unausrottbar erhalten, sondern ihre Existenz auch mehr und mehr in dem Maße,

als wir in den

Haushalt der Natur eindringen, als eine Wohlthat betrachtet, und viele dieser einst verfolgten Thierarten jetzt sogar mit Sorgfalt ge­

hegt werden.

So hat sich unsere Stellung zu diesen Geschöpfen ge­

ändert, und ist unser einstmaliger Tadel und Verwunderung in Be­

wunderung und Lob übergegangen, seit wir nur ein weniges in den Zusammenhang der Dinge geblickt haben: wie werden wir nicht

erst, wenn wir alles überschauen, Gott preisen:

deine Werke so groß und viel.

„Herr, wie sind

Du hast sie alle weislich geordnet,

und die Erde ist voll deiner Güter" (Ps. 104, 24). — Von der Erhaltung der Welt.

Man unterscheidet in der Lehre von der Schöpfung näher die Schöpfung im engeren Sinn oder das erste Schassen, und das fort­

gehende Schaffen oder die Erhaltung und Regierung der Welt, die Vorsehung Gottes.

Allerdings tritt mit dem Momente des Schaffens

selbst ein Unterschied ein: sofern durch dasselbe etwas neben Gott entsteht, was, obschon es ganz in seiner Hand ist und unverändert

von ihm abhängig bleibt, doch so gewiß ist, als es geschaffen ist. Oder mit andern Worten: die Welt ist mehr, als nur ein Schein,

236

2. Hauptstück.

Erster Artikel.

wie man sie wohl aufgesaßt hat; vielmehr als Ausdruck der gött­

lichen Allmacht wird und muß

sie Macht haben und Macht sein,

natürlich aus Gott und durch ihn und zu ihm (Röm. 11, 36), aber darum nicht weniger Macht; die auch ihrerseits aus der von Gott

in sie gelegten Kraft Wirkungen ausübt; ja, die als Produkt des

schöpferischen Willens von vorn herein die Tendenz und Richtung

auf Erzeugung kreatürlichen Willens in sich tragen, und die Spuren davon schon aus ihren untersten Stufen in dem Leben zeigen wird,

welches sie beseelt und über den bloßen Mechanismus erhebt.

Oder:

die Welt ist auch keine Maschine, sondern selbst in ihren ersten An­ fängen beseelte, von dem Geiste Gottes durchdrungene Welt. — Auf diese belebte Welt wirkt nun Gott ein; theils, indem er

das in ihr bereits vorhandene Leben durch fortwährende Einwirkung lebendig erhält und zur Thätigkeit anregt; theils, indem er auf Grund

des aus solcher Thätigkeit Gewordenen durch neue Schöpfungsakte neue und höhere Stufen des Lebens hervorruft.

Wie dies in groß­

artigster Weise in dem Schöpfungsberichte der Bibel anschaulich ge­ macht wird: in dem Schweben des Schöpfergeistes Gottes über seiner

von ihm geschaffenen Welt, der annoch unausgestalteten Tiefe, und in der Weise, wie nun durch das wiederholte Sprechen Gottes das

ursprünglich Wüste und Leere sich

allgemach gestaltet, und immer

neue, höhere Ordnungen über den alten hervorgerufen werden; bis endlich mit der Schöpfung des Menschen der gesammte Schöpfungs­

prozeß zu einem vorläufigen Abschluß kommt.

Zu beachten ist dabei

namentlich noch, wie v. 9. 11.20.24 die Bildung des Meeres, weiter die Entstehung der Vegetation und der Thierwelt als Produkt

der — von Gott angeregten — Bewegung hier des Wassers dort der Erde dargestellt wird: „es sammle fich das Wasser — und es geschah also;" „es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut", und

„die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut" u. s. w.: eine Andeutung der wichtigen Wahrheit, daß von dem Momente des ersten Schaffens an, durch welches überhaupt eine Welt außer Gott gesetzt ward, diese Welt fortan bei jedem weitern Schaffen selbstthätig — natür­

lich in der Bethätigung des von Gott in sie gesetzten Lebens — mitwirkt: so daß alles, was geschieht, stets das Produkt zweier

Faktoren ist: einerseits der von Gott in die Welt gelegten und fort

Die Erhaltung.

237

und fort angeregten Kräfte der bereits vorhandenen Lebensstufe,

andererseits — namentlich, so weit Neues und Höheres in's Dasein treten soll — der neuschaffenden Thätigkeit Gottes, des erneuten Einschlagens seines Schöpferwillens in das Vorhandene, welches ohne

solches erneute Schaffen eben nur das Bisherige erzeugen könnte.

So „bringt die Erde hervor", und kann nicht eher hervorbringen „Gras, Kräuter" u. s. w., als, bis der Schöpfungsprozeß bis zu dem

Punkte gediehen ist, daß sich das Trockne von dem Wasser geschieden hat:

ans der andern Seite:

„Gott sprach, es lasse die Erde auf­

So hat der Mensch die Erde und alles, was auf

gehen — —."

ihr ist, zu seiner Voraussetzung; er ist der Gipfelpunkt der gesammten Entwicklung derselben, ja in gewissem Sinne „Staub vom Staube genommen", Produkt der Erde: und dennoch: „Gott sprach", „Gott schuf den Menschen"; oder mit andern Worten: der Mensch ist bei alle dem kein Sohn des Staubes, keine Potenzirung nur des klügsten

Thieres.

Durch das Gesagte wird zweierlei klar geworden sein. Das erste: daß wir in der That ein Recht und eine Nöthigung haben, Schaffen und Erhalten zu unterscheiden:

verschiedenes ist,

sofern es allerdings ein

die Welt wirken, daß sie sei; und auf sie und in

ihr und unter ihrer Mitwirkung die weitere Gestalt der Welt aus­ wirken.

Sodann: daß man in vollem Sinne von einer Entwicklung

der Welt reden dürfe, und doch zugleich ihre schlechthinige Abhängig­

keit von Gott und sein fortwährendes Schaffen behaupten könne und müsse. — Es sei gestattet, obschon es kaum nöthig scheint, zur Ver­ anschaulichung des letzteren noch ein Bild heranzuziehen, zu dessen

Anwendung, so seltsam es manchem erscheinen könnte, uns ein ver­

wandtes edelstes Bild des Erlösers berechtigt.

Es ist bekannt, wie

er sein Wirken und Sorgen um sein Volk mit dem Lockrufe der Gluckhenne vergleicht, die ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt (Matth. 23,37). Was hindert uns, das auf das Brüten des

Schöpfergeistes Gottes über der von ihm in's Sein gerufenen Welt anznwenden?

Wie das Ei des Vogels in relativer Selbständigkeit

ist, und Leben in ihm ist und sich unter der Brutwärme des mütter­

lichen Thieres von Stufe zu Stufe entwickelt; und wie ohne dieses der Einwirkung der brütenden Mutter entgegenkommende Leben des

2. Hauptstück.

238

Erster Artikel.

Embryo nie ein neues selbstständiges Leben entstände: und wie wieder

andererseits alles, das

embryonische Leben und jede Stufe seiner

Entfaltung bis zu dem Punkte, da das Küchlein das Ei durchbricht,

durch und durch von der Mutter ist und ohne sie und die von ihr ausstrahlende Lebenswärme weder sein noch vielmehr sofort untergehen würde:

sich weiter entwickeln,

so ist die Welt und wirkt und

ist nichts und wirkt nichts, geschweige bringt sie ein Neues und

Höheres hervor ohne den Geist Gottes, der „brütend" über der Tiefe

schwebt, und macht, daß das, was aus ihm ist, lebendig bleibe und

sich rege und wirke, was es wirken, werde, was es werden soll (Ps. 104, 27—30). Schließlich stellen wir noch die erhaltende Thätigkeit Gottes mit der entsprechenden menschlichen Thätigkeit zusammen, um der

zwischen beiden stattfindenden Unterschiede inne zu werden, deren Uebersehen nicht wenige Mißverständnisse hervorruft. zuerst

Da tritt uns

die wesentlich andere Bedeutung und der — daß wir so

sagen — viel größere Raum entgegen, welchen das göttliche Er­

halten gegenüber dem göttlichen Schaffen einnimmt, als solches bei dem Erhalten der Menschen im Verhältniß zu ihrem Schaffen der

Fall ist.

Während bei uns das Erhalten lediglich ein zeitweiliges,

nur da, wo es gerade Noth thut, sich bethätigendes ist, und sowohl, was die Kraft als auch, was die Zeit betrifft, welche es in An­ spruch nimmt, gegen das Hervorbringen ganz zurücktritt: ist dagegen Gottes Erhalten ein ununterbrochenes, das nie einen Augenblick

aussetzen darf: — sein fortgehendes

Ausdrucke der

Schaffen oder — nach

dem

angeführten Psalmstelle — „Athmen" in der Welt.

Dadurch entsteht auf den ersten Anblick der Schein, als ob sein Schaffen, welches eine derartige Fortsetzung fordere, ein minder

kräftiges, desgleichen seine Werke, die seiner keinen Augenblick ent­

behren können, von denen er niemals auch nur einen Augenblick die Hand abziehen darf, während wir die unsrigen, sobald sie einmal fertig sind, ruhig sich selbst überlassen können, verhältnißmäßig minder

vollkommen seien, als beides bei uns der Fall ist.

In der That

beruht es aber darauf, daß wir eben nicht schaffen, sondern nur ver­ fertigen.

Unsere Werke bestehen ohne uns und bleiben nach uns,

weil sie ihren Bestandtheilen nach schon vor uns waren. — Wich-

Die Erhaltung.

239

tiger ist das zweite: Unser Erhalten ist ein Wirken von außen her;

während Gott die Welt und jegliches in ihr von innen her durch die in die Welt und in jegliches gelegten Kräfte versorgt und er­ hält. Er hat nicht nöthig, die „jungen Raben, die ihn anrufen"

(Ps. 147, 9), wie wir es thun, zu ätzen;

er versorgt sie

den Instinkt, welchen er in die alten gelegt hat.

durch

Ihm ziemet nicht,

noch thut er's, der auf ihn wartenden Kreatur ihr Brod vom Himmel herabzuwerfen und ihr die Speise, wie wir unseren Kindern vorzulegen:

„Er feuchtet die Berge von oben her und machet das

Land voll Früchte,

die er schafft.

Er läßt Gras wachsen für das

Vieh und Saat zu Nutz den Menschen, daß er Brod aus der Erde

bringe; und daß der Wein erfreue des Menschen Herz, und seine Gestalt schön werde vom Oel, und das Brod des Menschen Herz

stärke (Ps. 104, 10 u. f.)."

Deshalb ist auch nichts unverständiger

und im Grunde unfrommer, als wenn man, wo Gott alles giebt, die Gaben, welche die Natur, und die, welche Gott spendet, unter­

scheidet, und für jene minder danken zu müssen meint, als für diese;

andererseits dem Wahne Raum giebt,

als, wenn man etwas von

Gott ohne die von Gott gesetzten Kräfte und Mittel zu erlangen

vermöge.

Mit Recht sagt in ersterer Beziehung Luther: „Ich glaube,

daß mich Gott geschaffen hat, mir Augen und Ohren, Vernunft

und alle Sinne gegeben hat und noch erhält:

dazu Kleider und

Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof u. s. w. u. s. w.": obwohl

bei allem diesen kreatürliche und wohl auch unsere eigene Thätig­

keit mitwirkend ist. — Was aber das andere betrifft, nun so ist klar,

daß auch „die Vögel unter dem Himmel, die nicht säen und

nicht ärnten und nicht in die Scheune sammeln, und die unser himmlischer Vater doch ernährt, desgleichen die Lilien auf dem Felde, die nicht nähen und nicht spinnen und dennoch herrlicher ge­ kleidet sind, als Salomo in aller seiner Pracht," daß diese darum

nicht müßig sind, sondern die Kräfte, die ihnen verliehen sind, brauchen und brauchen müssen, wenn sie nicht umkommen wollen:

und daß es darum ein falsches Vertrauen, ja eine Beleidigung Gottes ist, wenn einer meint, Gott solle ihn versorgen, ohne daß er seinerseits von den Gaben, Gelegenheiten, Mitteln, die ihm ver­ liehen sind,

„Augen und Ohren, Vernunft und allen Sinnen" Ge-

2. HcilPtstück.

240

brauch macht. 6, 26).

Erster Artikel.

„Seid ihr denn nicht viel mehr,

denn sie?" Matth.

Freilich! aber eben darum, weil wir mehr sind, sollen und

müssen wir auch mehr thun; müssen arbeiten und beten, müssen

säen und stritten, nähen und spinnen, und dürfen nimmer nur, wie die Vögel, umherflattern, wenn wir nicht in unserer Thorheit unter­

gehen sollen.

Von der Vorsehung. Gott waltet in seiner Welt mit bewußtem Willen. Darin liegt,

daß er sie regiert, sie und alles in ihr zu dem von ihm gesetzten Ziele leitet.

Es giebt keinen Zufall, so wenig, als blinde Nothwen­

digkeit in der Welt herrscht, sondern „lauter väterliche, göttliche Güte und Barmherzigkeit."

Diese Leitung der Welt zu dem von Gott

vorgesteckten Ziel ist die Vorsehung Gottes.

selben ist unter denen,

Ueber das Dasein der­

welche einen lebendigen Gott glauben,

Streit; nur über ihre Erstreckung herrscht manchesmal Zweifel.

ist zu lehren,

kein

Es

daß sich Gottes Vorsehung schlechthin über alles in

der Schöpfung erstrecke: über das Große und Ganze, wie über das Einzelne und Kleine; über das freie Thun der Menschen, wie über die Kräfte und Mächte der Natnr; über das Böse endlich, wie über das Gute (Lied 664. „Sei Lob und Ehr' dem höchsten Gut"). 1) Kauft man nicht zween Sperlinge um einen Pfennig? doch fällt derselben keiner aus die Erde ohne euren Vater.

Nun aber

sind auch eure Haare. auf dem Haupte alle gezählt" (Matth. 10,

29—31).

Das däucht manchem zu viel behauptet.

„Gott erhalte

und regiere wohl das Ganze; dagegen um das Einzelne bekümmere

er sich nicht, sondern das entwickle sich, wie es durch den Zusammen­ hang des Ganzen bedingt sei.

Desgleichen sei wohl kaum anzu­

nehmen, daß der Allmächtige Gott, der Himmel und Erde regiere,

sich in dieser Weise auf jedes Kleine und Kleinste einlassen werde:

wo es schon dem Menschen zum Tadel gereiche, wenn er sich, statt

immer nur das Bedeutende und Entscheidende vor Augen zu behal­

ten, in Kleinigkeiten verliere; z. B. wer Heere zu führen habe, Knöpfe zähle. — Besteht indeß nicht das Ganze aus Einzelnem, und wirkt dieses nicht eben so auf jenes, wie es von ihm beeinflußt wird?

Hat nicht schon oft eine einzelne That eines einzelnen Menschen die

Die Vorsehung.

241

Geschicke eines ganzen Volkes, ja eines Welttheils auf Jahrhunderte bestimmt; und doch soll Gottes Vorsehung um diesen Menschen, um

diese That, weil sie einzelne sind,

sich nicht bekümmern,

von ihnen nicht eher Notiz nehmen, als,

jedenfalls

bis sie in das Ganze ein­

gegangen sind, und da Heil oder Unheil angerichtet haben? Sodann:

was ist denn das Ganze?

Der Mensch

der ist ein

ist es nicht:

Einzelner! Ist es nun das Volk? die Menschheit? der Erdball? das Sonnensystem? Wo bleibt da Gottes Vorsehung? wo fängt sie an,

und wo hört sie auf? — Weiter:

Mühe gemacht, als das andere. es wird eine Maus geboren;

was ist groß?

Und wichtig?

Gott schuf

den

eine nicht mehr

das

und hat ihm

Seraph und schuf den Wurm:

Berge kreisen, und

und wieder aus dem scheinbar Unbe­

deutenden und ganz unbeachtet Gebliebenen gehen Bewegungen her­

Alle diese Einwendungen gehen

welche die Welt erschüttern.

vor,

doch schließlich nur daraus hervor,

von Gott

daß,

während man bemüht ist

alles Unwürdige fern zu halten,

man in der That ihn

und sein Wirken viel zu sehr in Aehnlichkeit mit uns und der uns

Wir verlieren den

anhaftenden Beschränktheit und Schwäche denkt.

Ueberblick über das

Ganze, wenn wir uns

lassen; wir dürfen

zählen.

auf Einzelheiten ein­

wenn wir Heere kommandiren, Knöpfe

nicht,

Warum? weil wir zählen, weil wir

dem Vöglein,

das

wir schützen wollen, auf Schritt und Tritt nach gehen, es womög­ lich im Käfig bewahren müssen!

Gott aber ist

der Schöpfer der

Welt!

2) Gottes Vorsehung erstreckt sich der Menschen,

über die freien Thätigkeiten

wie über die Kräfte der Natur.

Gott lenket

die

Herzen der Menschen, wie Wasserbäche (Sprüche 21,1. Ps. 33,15): natürlich jedes in der einem jeden entsprechenden Weise;

die Dinge

der Natur durch die Kräfte und Gesetze der Natur, den Rath und

wie sie dem

Willen der freien Geschöpfe durch Mittel und Wege,

Wesen

und

des Willens

der Freiheit entsprechen.

Das wird

am

leichtesten in Verbindung mit dem dritten erkannt. 3) Gottes Vorsehung erstreckt sich auf das Böse, wie auf das

Gute,

oder Gott lenkt auch das Böse.

Wir sagen ausdrücklich:

er

lenkt es; nicht: er will oder macht oder thut es; ja nicht einmal: er leidet oder duldet es. ältester, Materialien.

Denn anch

2. Auflage.

das ist nicht wahr,

16

sofern Gott

242

2. Hauptstück.

Erster Artikel.

vielmehr dem Bösen fort und fort entgegen wirft, um dasselbe aus der Welt und aus dem Herzen herauszuschaffen.

Gott will und sucht und schafft immer nur das

mindesten Theil').

Gute"). Welt

Aber

auch

sittlich Gutes

weil er das will,

eben,

Möglichkeit des

die

Gott versucht auch

hat überhaupt mit dem Bosen nie auch nur den

nicht zum Bosen,

hat er müssen in seiner

Denn Gutes,

Bösen zulassen.

ist nicht ohne Freiheit,

ohne die Möglichkeit des Fehlgreifens

kreatürliche Freiheit nicht der Verirrung denkbar.

und

Wenn Gott nicht bloß Kräfte, Potenzen, sondern Personen, Men­ die seinen Willen in Freiheit und Selbstbestimmung

schen wollte,

ausführen sollten, so durfte er ihnen

das Vermögen,

auch gegen ihn und seinen Willen zu bestimmen, ist

Das

die Möglichkeit des Bösen,

und schaffen

welche Gott

als er freie Wesen

mußte,

schuf,

sich in

sich

nicht abschneiden.

geschaffen hat

die Wirklichkeit

des Bösen liegt ausschließlich in dem von ihrem Ziele abirrenden Willen der Kreatnr3). — Er thut alles, was mit der Freiheit der Kreatur

Gott lenkt.

verträglich ist, um das Böse zu verhindern.

droht:

Er lockt, mahnt, warnt,

wenn dann freilich der Mensch nicht hören will,

ihn seine Wege gehen.

aus den Augen, noch aus der Hand. Liebe und Geduld

„Niemand sage, wenn er versucht wird,

daß er von

Denn Gott kann nicht vom Bösen versucht werden, er selbst

Sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner

aber versuchet niemand).

eignen Lust

er wendet jedes Mittel

Denn Gott ist nicht ein Versucher znm Bösen, er versuchet

Gott versucht werde.

niemand (wörtlich:

läßt er

Er geht ihm mit unendlicher

auf seinen Wegen nach;

’) Jakob. 1, 13-15.

so

da läßt er den Sünder weder

Doch auch

gereizet und

gelocket wird.

Danach, wenn die Lust empfangen hat,

gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod."

2) Jakob. 1, 16—18.

„Irret nicht, liebe Brüder.

Alle gute Gabe und alle

vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei weichein

ist keine Veränderung noch Wechsel

des Lichts und der Finsterniß.

Er hat uns

gezeugt nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, daß wir Erstlinge wären

seiner Kreaturen." 3) Sirach 15, 14—17.

„Gott hat den Menschen von Anfang geschaffen und

ihm die Wahl gegeben.

Willst du, so halte die Gebote und thue, was ihm gefällt,

in rechten: Vertrauen.

Er hat dir Feuer und Wasser vorgestellet; greife, zu welchem

du willst.

Der Mensch hat vor sich Leben und Tod;

ihm gegeben werden."

welches er will, das wird

243

Die Vorsehung.

der Milde,

wie der Strenge,

um ihn zur Umkehr zu bringen.

an,

Bekehrt er sich, so nimmt er ihn in Gnaden an, und vergiebt dem

Reuigen seine Schuld.

Bereute

und vergebene

Sünde ist nicht

mehr').

Verstockt er dagegen sein Herz, so saßt ihn, ehe er es sich

versieht,

Gottes strafende Hand; und trifft ihn,

wenn

nicht schon

hier, so droben das Gericht").

Gott lenkt: wie den Thäter, so auch seine That; daß schließ­ lich aus

dieser nur dasjenige herauskommen kann, was Gott will;

und insbesondere die unter den Thaten

der Bösen Leidenden als, was Gottes

etwas anderem betroffen werden,

von

Rath über sie beschlossen hat, und was zu ihrem Frieden dient.

Mensch denkt, aber Gott lenkt."

der Vorsatz,

Nur

es

„Der

der Gedanke

gehört dem Menschen an;

bis zu dem Augenblicke der Ausführung

ob

nie

heiliger

daß sie gelingt,

und

ist

nicht

mehr ganz sein; geschweige hat er die Folgen in seiner Hand.

Will

schon diese, Gott,

zu ihr kommt,

so muß noch in dem Augenblick, wo der Pfeil vom Bogen

schnellt, die Sehne zerreißen; muß ein Stäubchen,

das

dem Wan­

derer in's Auge kommt, muß der Rus eines Vogels, muß ein plötz­

lich austretender Gedanke Veranlassung werden, daß chen der

zielt,

Mörder

wendet,

sich

unschädlich an ihm vorbeigeht').

und

„Aus

tiefer Noth

ruf' ich

Sünde viel, bei Gott ist viel mehr Gnade. wie groß auch sei der Schade.

Er ist

erlösen wird von allen Sünden.

der,

tödtliche

auf wel­ Geschoß

Vollends ordnet Gott die Folgen

welches aus ihr hervor-

der That, bestimmt das Maß der Uebel,

J) Lied 388.

das

dir." — „Ob bei uns ist der

zu

Sein' Macht zu helfen hat kein Ziel,

allein der gute Hirt, der einst sein Volk

Auren!"

2) Ps. 37, besonders 9. 10. 14. 15. 35. 36.

„Es ist noch ein Kleines, so ist

der Gottlose nimmer; und wenn du nach seiner Stätte sehen wirst, wird er weg sein. — Die Gottlosen ziehen das Schwert und

spannen ihren Bogen, daß sie

fällen den Elenden und Armen und schlachten die Frommen.

Aber ihr Schwert

wird in ihr Herz gehen, und ihr Bogen zerbrechen."

Galat. 6, 7. 8.

„Irret euch

Mensch säet, das wird er ärnten. das Verderben ärnten.

nicht,

Gott läßt sich nicht spotten.

Was der

Wer auf sein Fleisch säet, der wird vom Fleische

Wer aber auf den Geist säet, der wird vom Geiste das

ewige Leben ärnten."

3) Röm. 14, 7. 8.

selber.

„Unser

keiner lebt ihm selber,

unser keiner stirbt ihm

Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn:

darum, wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn."

2. Hauptstück.

244

Erster Artikel.

gehen soll, und »ertheilt dieselben, nachdem es ihm gefällt.

Darum

ist es auch für den von einem Leiden Betroffenen — was das Leiden

Nachlässigkeit,

angeht — ganz gleich, ob dasselbe durch Bosheit,

überhaupt durch Thätigkeit von Menschen,

oder durch

erkennbare oder nicht erkennbare Ursache,

durch Kräfte der Natur,

sonst welche

der ihn verletzte, von

herbeigeführt ist; ob beispielsweise der Stein,

Menschenhand geschleudert oder von dem Fuße des flüchtenden Wildes

oder vom Sturmwind losgerissen ward.

Das eine, wie das andere,

hat er als ein von Gott zu seiner Prüfung, Läuterung, Besserung,

kurz zu seinem Heile Geschicktes anzusehen, und sich in beiden Fällen durchaus mit derselben demüthigen Unterwerfung und derselben Freu­

digkeit in Gottes Rath und Willen zu fügen;

wie

er ja auch bei

den frohen Ereignissen seines Lebens, z. B. bei Rettung aus Gefahr,

in seinem Danke gegen Gott keinen Unterschied

selbe durch menschliche Vermittlung

oder unmittelbarer

gänge in der Natur zu Theil geworden ist. ist der,

daß uns

macht, ob ihm die­ durch Vor­

Der einzige Unterschied

in den bezeichneten Fällen

die Aufgabe entsteht,

neben dem sonstigen Schmerze die Bitterkeit zu überwinden, die sich

unser so leicht bemächtigt,

wo wir

durch

menschliche Verfehlung

leiden, und in dem Umstande, daß wir der Gegenstand einer solchen

geworden sind, nichts

anderes zu sehen, als die Aufforderung, daß

gerade wir dem an uns sich offenbarenden Unrechte entgegenhandeln

und

cs durch verdoppelte Kräfte des Guten überwinden

sollen').

Thun wir das, dann haben wir, abgesehen von dem sonstigen Segen,

in welchen Gott menschliche Uebelthat zu verwandeln

nie unter­

läßt, hierin allein schon selige Erfahrung und herrlichste Erfüllung

des Wortes,

welches der von seinen Brüdern verkaufte Joseph da­

nach zu diesen Brüdern sprach:

„Ihr gedachtet, es böse mit mir zu

machen; Gott aber gedachte, es gut zu machen" (1 Mos. 50, 20). Gott siegt!

Schon vorher gedachte» wir des Sieges,

göttliche Gnade über die Sünde in

welchen

dem sich bekehrenden Sünder

’) Ps. 37, 1. 7. 8. „Sei stille dem Herrn und warte auf ihn. Erzürne dich nicht über den, dem sein Mnthwille glücklich fortgeht. Stehe ab vom Zorn und laß den Grimm; erzürne dich nicht, daß dn auch Uebles thust." Romer 12, 21. „Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem."

cf. v. 17- 20.

Der Mensch nach GotteS Bilde.

Die Kreaturen.

gewinnt.

Aber

die sich

auch

versteckende Sünde,

245

das

Böse vermag sich nirgends auf die Dauer sestzusetzen,

beharrliche

arbeitet viel­

mehr fort und fort an seiner Zerstörung und wird, wenn die Ziele

denen

erreicht sind,

es

widerstrebend

Das ist die Größe unseres Gottes,

dient,

daß

auch

schließlich vernichtet! das Böse nur dazu

wird, theils, um sich

dient nnd nur dazu heraus- und zugelassen

selbst untereinander aufzureiben, theils, um ihm gegenüber die Kräfte des Guten zu sammeln,

Triumph

über

zu

steigern

dadurch — neben

und

das Böse — einen höheren Grad

dem

der Vollkommen­

heit hervorzurufen, als ohne den Widerstreit des Bösen möglich ge­

wesen ’).

Wie dies im höchsten Sinne und in einer die letzten Ziele

des Weltlaufs vorbereitenden und

vorbezeichnenden Weise in dem

Tode unsers Erlösers geschehen ist, in welchem Gott recht eigentlich die Sünde durch Sünde vernichtet hat'), freilich nur,

weil dieser

gesteigertsten Sünde seine, wie des Erlösers, gesteigertste Liebe, die Fülle der Gnade und Wahrheit entgegentrat').

Von den Kreaturen, insbesondere dem Menschen.

und

„Schöpfer Himmels

der Erde",

Unsichtbaren, des gesummten Universums.

des Sichtbaren und des Es kommen hier nur der

Mensch und außer ihm diejenigen höheren Vernunftwesen in Betracht, auf deren Dasein eben so unser Nachdenken,

wie

ihre Erwähnung

in der h. Schrift deutet. — ’) „Ich bin ein Theil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft"

(Mephistopheles in Goethe's Faust).

2) „Einer

aber unter ihnen, Kaiphas, der desselbigen Jahres Hoherpriester

war, sprach zu ihnen: Ihr wisset nichts, bedenkt auch nichts: es ist uns besser, ein denn, daß das ganze Volk verderbe.

Mensch sterbe für das Volk,

redete er nicht von'sich selbst;

war, weissagte

er:

Volk allein, sondern,

Solches aber

sondern, weil er desselbigen Jahres Hoherpriester

denn Jesus sollte sterben für das Volk; und nicht für das

daß er die Kinder Gottes, die zerstreut waren, zusammen­

brächte" (Joh. 11, 49 f.).

3) 1 Petri 2, 22—24. trug

in

seinem

Munde

ward, nicht drohete,

„Welcher keine Sünde gethan hat, ist auch kein Be­ erfunden.

da er litt:

Welcher nicht wieder schalt, da er gescholten

er stellte eS aber dem heim, der da recht richtet.

Welcher unsere Sünden selbst geopfert hat an seinem Leibe auf dem Holze;

auf

daß wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben: durch welches Wunden ihr seid heil geworden."

Der Mensch, dem

Erster Artikel.

2. Hauptstück.

246

die Krone der sichtbaren Schöpfung,

Ebenbilde Gottes geschaffen (1 Mos. 1, 27).

prägt sich bereits an seinem Leibe aus.

ist nach

Dieses Ebenbild

Die aufrechte Gestalt, der

nach oben gerichtete Blick, der Ausdruck der Besonnenheit und des

Willens zeichnen ihn weit über alle Kreatur aus, die sich in ahnungs­ voller Scheu vor

der Herrlichkeit des Menschen beugt.

wo auf diesem Antlitz der Friede Gottes thront,

Vollends,

aus diesem Auge

Liebe und Erbarmen blickt, die gesammte Erscheinung Durcharbei­

tung des Geistes zeigt:

da mögen wir sagen,

Gottes sichtbar entgegentritt.

auch

das Bild der Trägheit,

daß uns

das Bild

Ebenso oft freilich begegnet uns



der sinnlichen Lust,

des Hochmuthes,

des Neides, mit einem Worte der Sünde, die sich nicht minder mit unverkennbaren Zügen in die Leiblichkeit des Menschen eingräbt und

ost in einer solchen Weise eingegraben hat, Bild Gottes noch zu erkennen.

daß es schwer ist,

unserer äußern Erscheinung vermittelte es, eindringender Blick oft schon

das

Diese Ausprägung des Geistigen in bei

daß

des Erlösers tief

dem ersten Begegnen') erkannte,

was in dem Menschen war; andererseits läßt sie uns völliger ver­ stehen, was Joh. 1,14 von dem Heilande gesagt ist:

seine Herrlichkeit,

„wir sahen

eine Herrlichkeit als des Eingebornen von dem

Vater voller Gnade und Wahrheit". — So vermögen auch

wir die

Menschen, mit denen wir zu thun haben, zu durchblicken, und würden

selten getäuscht werden, wenn unser Urtheil nicht so vielfach, sei es durch zu großes Gewicht legen auf sinnliche Schönheit, sei es durch

geschmeichelte Eitelkeit

und Voreingenommenheit

freundlich zu uns thun, verdorben würde. auch

für

die,

welche

Aber ebenso werden

wir trotz aller Verhüllung von reineren Menschen

stets durch­

schaut"). mit der Sama-

1) Z. B. mit Petrus (Joh. I, 42); mit riterin am Brunnen (4, 17). — Vergl. 2, 25.

2) Es ist eine sehr gewöhnliche Rede: Man könne es einem Menschen „nicht

an der Nase"

ansehen, wes Geistes Kind er sei.

an vielem andern.

Man kann es doch, und noch

Ich glaube, wenn mancher Mann und manche Frau wüßte,

wie häßlich sie durch das werden, was sie in der Seele nähren, sie würden schon aus Eitelkeit — besser werden? — nein (das hieße den Teufel mit dem Teufel

austreiben), aber achtsamer sein auf sich: und es ginge ihnen vielleicht eher das

Verständniß von der ganzen Widrigkeit der Sünde auf. —

Das Ebenbild Gottes, welches durch die Leiblichkeit des Men­ schen durchscheint, hat als ein wesentlich Geistiges seinen Sitz in dem Geiste des Menschen, in der Vernunft und dem Gewissen d. i. in der Fähigkeit, Gott zu erkennen und zu lieben; oder, wie man auch sagen kann: in dem freien Willen. 1) Von Freiheit, freiem Willen ist schon mehrmals die Rede gewesen: es ist Zeit, daß wir uns darüber näher verständigen. Frei­ heit ist zunächst nicht Ungebundenheit, wie es dem unverständigen, besonders dem jugendlichen Menschen meist vorkommt: sonst wäre auch das Thier (ivie wir es freilich oft fälschlich nennen) frei, wenn es nicht am Halfter oder in der Umhegung gehalten ist. Wir aber wissen, daß die Thiere auch in dieser „Freiheit" oder richtiger Wildniß die Fesseln ihrer Naturtriebe tragen. So ist auch mancher Mensch, den keine Kette hält, kein Band bindet, ein Sklawe seiner Leidenschaft, ein Knecht der Sünde: während sich an dem rechten Menschen das Wort des Dichters erfüllt: „Der Mensch ist frei ge­ boren, ist frei, und wär' er in Ketten geboren." — Freier Wille, Freiheit ist zum andern nicht Willkür. Sie ist es so wenig, daß höchste Freiheit sogar eins ist mit höchster Nothwendigkeit. So bei Gott. Aber auch bei den Menschen haben wir bereits früher darauf hingewiesen, daß, wer noch Unrecht thun, heucheln, lügen oder trügen könne, d. i. wem es noch möglich sei, sich so von seinem innersten Wesen und seiner höchsten Bestimmung ableiten zu lasten, ja, wer zwischen Gutem und Bösem noch schwanke: — daß ein solcher der Schwächere, der von widerstrebenden Kräften noch Gebundene, in der tiefern Bedeutung des Wortes Unfreie sei. — Der freie Wille ist vielmehr das Vermögen des Menschen, sich selbst zu bestimmen. Dieses Vermögen setzt Selbstbewußtsein und Gottesbewußtsein^ Ver­ nunft und Gewissen voraus; und schließt in seiner Höhe Selbstbe­ herrschung und Selbstverleugnung in sich. Der Mensch trägt die­ selben natürlichen Triebe in sich, wie das Thier; aber er weiß von ihnen, vermag sie zu regeln und zu beherrschen. Er hat, wie jedes Einzelwesen, den Drang, sich zu behaupten und zur Geltung zu bringen: aber die Liebe zu seinen Mitmenschen, zum Guten, zu Gott befähigt ihn, sich zu verleugnen und aufzuopfern. Damit ist ihm die Möglichkeit gegeben, über sich hinauszukommen, sich weiter

2. Hauptstück. Erster Artikel.

248 zu entwickeln.

Alle Wesen unter ihm sind, wie sie sind:

schen hat Gott gemacht,

werden soll.

den Men­

daß er in eignen Thaten werde, was er

Alle andern Wesen bleiben, wie sie sind: die Spinnen

spinnen heute nicht anders, als sie im Anfänge

gesponnen,

die

Bienen bereiten den Honig in derselben Weise, wie sie ihn im Pa­ radiese bereitet haben, die Bäume blühen und tragen Früchte, „wie

es ihre Art ist" (1 Mos. 1, 12); kurz: alles verharrt auf dem ihm zugewiesenen Standpunkt und wird nicht anders, wo nicht etwa der

Mensch Thiere und Pflanzen, die in seiner Hand sind, zu andern macht, indem er ihren Wohnort und ihre Nahrung ändert, oder auch

einzelne ihrer Triebe einseitig entwickelt und dadurch über das ur­ sprüngliche Maß steigert.

Nur er selbst bleibt nicht aus der Stufe,

auf welcher er angefangen hat.

Wie ist trotz alles Aufenthaltes

und aller scheinbaren und wirklichen Rückschritte im Einzelnen die Menschheit im Ganzen vorwärts gekommen und schreitet noch immer

vor in Erkenntniß und Beherrschung der Welt, in Gotteserkeuntniß, Zucht, Ordnung, Sitte! wicklung

für

das

Wer vermag die Gränze dieser Ent­

Geschlecht,

wie

für den

einzelnen

Menschen

abzusehen?

2) Das Ebenbild Gottes im Menschen ist kein von vorn herein

fertiges,

ist es auch nie gewesen: sondern ist eine Anlage, welche

sich — und zwar wie bereits gesagt und betont ist — durch eigene That des Menschen entwickeln soll. Wenn der Mensch immer das Rechte thäte und gethan hätte, so würde sich diese als Möglichkeit, als Fähigkeit gegebene Anlage nur mit dem ihm zukommenden In­ halte erfüllen, das Bild Gottes sich zur Aehnlichkeit mit Gott in vollkommener Weisheit und Heiligkeit entfalten.

Aber so ungestört

und ungehemmt geht diese Entwicklung nirgends vor sich; vielmehr ist dieselbe, soweit wir die Menschheit überblicken,

den Erlöser ausgenommen, durch Sünde gehemmt,

in allen, einzig

der freie Wille

in der vorher angedeuteten tiefen Bedeutung des Wortes gebrochen,

und das Bild Gottes,

obwohl nie vertilgt, verdunkelt und häufig

bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Unser frommes Bewußtsein sagt

uns, daß diese Entartung der Menschheit, die sich mehr noch, als in einzelnen Uebertretungen, in dem allgemeinen Hauge, zu sündigen,

Von dem niemand frei ist, zeigt, — daß diese nicht das ursprüng-

Der Mensch nach Gottes Bilde.

249

Sündenfall.

lich von Gott Gewollte und uranfänglich Gewesene sei: sondern, daß sie irgendwie und irgendwo einmal in der Menschheit,

durch deren eigene Schuld begonnen haben müsse.

und zwar

Dieses von uns

mit Denknothwendigkeit vorauszusetzende erste Hervortreten der Sünde ist, was wir den Sünden fall nennen.

3) Es ist schlechthin unmöglich, die Darstellung, welche die h.

Schrift von dem ersten in die Erscheinung Treten der Sünde giebt,

in buchstäblichem Sinne als Geschichte aufzufassen. enthält diese Darstellung die Wahrheit.

Dessenungeachtet

Die Sünde hat ihren Ur­

sprung in der Lust des Menschen; aber diese Lust hat in dem Men­

schen

nicht eher

überwältigende Kraft gewonnen, bevor nicht sein

Verhältniß zu Gott gestört, der Zweifel an Gottes Güte und Wahr­ haftigkeit in feiner Seele aufgekommen

Damit stimmt auch die Ausführung

des Apostels Paulus überein,

der Röm. 1,19f. die furchtbare Gewalt, Heidenthum,

aus

der Gottes­

andererseits

aber auch daraus hinweist,

derum

welche die Sünde in dem

dem Undanke gegen Gott ableitet;

überhaupt in der Welt,

vergessenheit und

war (1 Mos. 3, 1. 4. 6).

gewonnen,

wie durch die sittliche Verwüstung wie­

das Gottesbewußtsein

und

die

Gotteserkenntniß verdunkelt

und entstellt, und nun in fortgehender Wechselwirkung

der Sünde

und des Irrthums, des Lasters und des Aberglaubens die Stufe der Verderbniß erreicht worden sei,

deren Bild

er seiner Zeit vorhält.

— Das wird endlich durch unsere eigene Erfahrung bestätigt.

Noch

heute wird, so lange das Bewußtsein Gottes, seines Willens, seines Schutzes in uns mächtig ist, keine böse Lust — wenn dieselbe über­ haupt in

könnte,

solche

dem ungehemmten Verkehr

uns überwältigen, erweisen,

mit Gott in uns auftauchen

vielmehr jede Versuchung

die wir tragen

können

sich als eine

(1 Kor. 10,13).

Noch

heute ist darum jede Entschuldigung, mit was es auch sei, Verfüh­ rung durch Menschen, teuflische Anfechtung, Noth, Sinnenreiz u. s. w., ebenso

zurückzuweisen,

als es in jener uralten heiligen Darstellung

geschieht, und den sich hinter dergleichen Entschuldigungen Flüchtenden

zum Bewußtsein zu bringen, daß sie in Sünde gefallen, nicht, weil die „Versuchung" zu groß, sondern, weil ihr Glaube zu klein gewesen sei').

5, 4.

*) Jak. I, 13; 4, 7. „Widerstehet dem Teufel, so fliehet er von euch." 1 Joh. „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat."

2. Hariptstück.

250

Erster Artikel.

4) Es ist noch einmal nachdrücklich zu betonen,

daß,

wie ver­

wüstet auch das Bild Gottes in einem Menschen, beziehungsweise in

der Menschheit sei,

die Spuren

unvertilgbar find').

Gott,

desselben,

der alles erhält,

die Anlage als solche,

was er geschaffen hat,

erhält vor allem sein eigenes Bild in dem Menschen.

Und Christus

wendet sich mit seiner Wirksamkeit nicht nur überall an den Willen

der Menschen, sondern schreibt auch, wo ihm sein Werk nicht gelingt, solches ausdrücklich dem Nichtwollen der Menschen zu"). Von den Engeln.

1) Die Annahme höher begabter Vernunftwesen, als der Mensch

ist, entspricht ebenso unserm Gemüthe, wie unserm Nachdenken. Möglichkeit ihres Daseins unsern

uns bereits

ist

durch

Die

den Glauben an

eigenen dereinstigen höheren Zustand verbürgt;

die Wahr­

scheinlichkeit desselben drängt sich uns in steigendem Maße mit un­

serer wachsenden Erkenntniß des Universums als einer Unendlichkeit von Welten auf.

des Wortes

Niemand vermag

des Erlösers

diese Welten zu schauen,

zu gedenken:

ohne

„In meines Vaters Hause

sind viele Wohnungen" (Joh. 14, 2).

2) In der heil. Schrift treten

sonifikationen

von Naturkräften

die Engel zum Theil als Per­

und Naturerscheinungen,

oder be­

sonderer göttlicher Fügungen und des göttlichen Schutzes auf. bei weitem größeren Theil sind

gedacht.

sie dagegen

Zum

als wirkliche Personen

Schwierigkeiten entstehen nur durch das, was über Engel­

erscheinungen berichtet wiro.

Wie sind dieselben zu fassen?

2, 13.19 ist von einem Engel,

sei, Luk. 24, 23 von

Matth.

der Joseph im Traume erschienen

einem „Gesichte

der Engel"

die Rede.

Sind

auch die übrigen Engelerscheinungen in ähnlicher Weise zu denken?

— Wenn man diese Frage richtig beantworten will, so hat man sich

zu hüten,

daß man sie nicht so schief stellt,

*) Matth. 12, 20.

wie cs

in der Regel

„Das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen, und den

glimmenden Docht wird er nicht auslöschen, bis daß er ausführe das Gericht zum Siege."

2) Matth. 23, 37. „Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder ver­ sammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel. Und ihr habt nicht gewollt."

Von den Engeln.

251

geschieht: ob die betreffenden Erscheinungen „Visionen" oder wirkliche gewesen seien?

Es ist fürwahr für unsere Zeit, in welcher man so

viel vom Geiste spricht und den Geist so hoch stellt,

eine arge Ge­

wie es in dieser Weise geschieht,

dankenlosigkeit, wenn man,

dem,

was lediglich in der Seele des Menschen vorgeht, das Sinnenfällige

als das Wirkliche

entgegensetzt.

Als wenn

dann nicht auch eine

Speise, welche den Magen füllt, wirklicher oder, wie man sich auch ausdrückt, „reeller" wäre, als die Wahrheit, welche die Seele nährt oder ein Sieg in einer Schlägerei,

richten, wirklicher, als in

das Buch

des Lebens

wo nicht

verzeichnet ist.

der

Nicht minder wird der

wenn man meint, das im Menschen-Geiste

Standpunkt verrückt,

Vorgehende,

von der kaum Polizeiakten be­

der rein geistige Sieg über uns selbst,

geistig Geschaute darum für weniger göttlich —

das

gar für eine bloße menschliche Einbildung — halten zu

müssen, als die äußere Erscheinung, die den Charakter der göttlichen Offenbarung in höherem Grade an sich trage:

innerlich Erlebte uns in

oder, wo man das

auch nur für minder gewiß hält,

sinnenfälliger Aeußerlichkeit

entgegentritt.

als

das,

Das

was

Gesicht,

welches Petrus Apostelgesch. 10 sah, entbehrte jeder äußern Gegen­

ständlichkeit

und war

barung von der

doch

größten

während andrerseits nach

Offenbarung,

Wichtigkeit und

und zwar eine Offen­

den weitesten

Folgen:

der Schrift „Satan sich zu einem Engel

des Lichts verstellen" kann (2 Kor. 11, 14).

Und was die Sicher­

heit anbelangt, nun so wissen wir, daß die Sinne eben so gut täuschen

können,

wie ein Traum,

andererseits das geistig Geschaute häufig

eine Kraft und eine Klarheit hat, wie sie keine äußere Erscheinung

größer geben kann.

Von dem allen hat man also abzusehen und die

Frage einfach so zu stellen: Sind die Engelerscheinungen, von denen die Schrift berichtet,

als

etwas

in dem Menschen oder als etwas

außer ihm Vorgehendes zu betrachten? Da werden Verschiedene ver­

schieden urtheilen; und auch diejenigen,

welche sich für eine äußere

Gegenständlichkeit dieser Erscheinungen entscheiden, die Wahl haben,

ob sie das Sichtbarwerden dieser sonst nicht wahrnehmbaren Wesen auf eine Erhöhung der menschlichen Wahrnehmungskraft, also mehr in Analogie mit dem

rein geistigen Schauen, oder sinnenfälliger

auf ein zeitweiliges Annehmen einer dichteren Leiblichkeit von Seiten

2. Hauptstück.

252

Erster Artitel.

jener (wie die sonst nicht sichtbare elektrische Kraft sich zu dem elektri­

schen Funken verdichtet) zurückführen wollen. — diesem Lehrstück a) vor dem Vorwitze,

3) Zu warnen ist bei

der weiteres über Natur,

Gestalt, Zahl, Ordnungen der Engel,

„des er nie keins gesehen hat" (Kolosser 2, 18), festsetzen will; b) vor

dem Kleinglauben, als könne uns Gott nicht auch ohne Engel helfen. „Weg hat er allerwegen, an Mitteln fehlt's ihm nicht;" Meinung,

als ob in dem Engelglauben,

c) vor der

im einzelnen in der An­

nahme, daß ein bestimmtes Ereigniß, eine Erscheinung u. s. w. durch

Engel vermittelt sei, ein höherer Grad von Frömmigkeit liege.

Nicht

das ist fromm,. daß etwas auf Engel, fondern, daß es auf Gott zurückgeführt, und Gott auch dafür gedankt wird. Fromme sieht in allem, was geschieht,

Der wahrhaft

Gottes Schickung, Gottes

Gabe — erinnere man sich doch nur an Luther's Erklärung zum 1. Artikel! — während mancher Engelgläubige geneigt ist, dies nur

ausnahmsweise zu thun, und selbst in solchen Ausnahmefällen sich nicht einmal immer zu Gott erhebt, sondern bei dem Vermittelnden, dem Engel oder dem „Heiligen"

stecken bleibt ’).

d) Endlich, an

dem, was uns mit Recht gewiß ist, sollen wir uns durch keine Engel­

erscheinung irre machen, noch zu etwas treiben lassen, was gegen

Gottes klares Wort und gegen unser Gewissen ist2).

Vom Teufel. 1) Die Erörterung dieses Lehrstücks giftet,

ist von vorn herein ver­

wird wenigstens in hohem Grade erschwert durch den Um­

stand, daß man die Lehre vom Teufel thörichterweise zum Stichworte, ') Joh. 5, 4 wird in

kräftige Bewegung

einer später in den Text gekommenen Glosse die heil­

des Wassers

eines Engels abgeleitet.

im Teiche Bethesda

von

dem Herniedersteigen

Wir sind nicht geneigt, neben den mancherlei Heilquellen,

die wir kennen, intermittirende, Sprudel u. s. w. noch eine besondere Art „Engel­ quellen" anzuerkennen.

Sehen wir

darum in

derartigen

Erscheinungen

minder

den „Finger Gottes", der „Brunnen quellen lägt in den Gründen, daß die Wasser

zwischen den Bergen hinfließen" (Ps. 104, 10), und danken wir, wenn wir durch

den Gebrauch

der Gottesgabe gesund

geworden

sind,

minder Gott,

als jener

Glossator?

2) „Aber, so auch wir oder ein Engel vom Himmel euch würde Evangelium predigen anders, denn das wir euch gepredigt habe», der sei verflucht." Gal- 1, 8.

hie der Bildung dort des Glaubens, gemacht hat. „Es gehört zur Bildung, das Dasein des Teufels zu bestreiten; und ein Dummkopf ist, wer noch an ihn glaubt!" Und wieder, ein „spezifisch Gläubiger muß vor allem an dieses Lehrstück glauben; thut er das nicht, so ist er ein Ungläubiger, der auch nicht an Gott und an Christus glauben kann!" Da ist vor allem an die Thatsache zu erinnern, daß es ungeheuer bornirte Bestreiter der Lehre vom Teufel, andererseits, daß es Teufelsanbeter giebt. 2) Um die Erörterung möglichst unverworren zu führen, wollen wir die Gesichtspunkte sondern, und die Sache zuerst rein von unserm vernünftigen Nachdenken aus, und dann erst vom Standpunkte der Schrift betrachten. Folgt man dem ersteren, so zeigt sich alsbald, daß die Sache disputabel ist, d. h. eine solche, über welche gleich verständige Menschen eine verschiedene Ansicht haben können, sofern sie sich weder mit Denknothwendigkeit beweisen, noch auch als eine dem Denken schlecht­ hin widerstreitende und unvernünftige nachweisen läßt. a) Man hat das Dasein des Teufels zu beweisen gesucht durch das Dasein der Sünde, durch die in der Welt vorhandenen Uebel, die sich beiderseits nicht ohne satanische Einwirkung sollen erklären lassen; endlich durch Berufung auf besondere Anfechtungen, sa Er­ scheinungen des Teufels. Was das erste anlangt: so sei einmal der Ursprung der Sünde durch die Verführung des Teufels erklärt! Wer erklärt nun jedoch den Ursprung des Teufels? — Die Uebel vom Teufel ableiten statt, wie es Christen geziemt, von der Weisheit und Liebe Gottes, widerstrebt dem Glauben an die göttliche Vor­ sehung, und führt folgerichtig zu der trostlosen und wahnsinnigen Lehre der alten Gnostiker, daß die Welt überhaupt nicht von dem Vatergotte, sondern von einem beschränkten, beziehungsweise bös­ willigen Wesen geschaffen sei. — Endlich die Anfechtungen und Er­ scheinungen deS Satans betreffend, so wird niemand das Vorkommen schwerster, auf den ersten Anblick in hohem Grade befremdender und den, welchen sie treffen, außerordentlich quälender Gemüths­ anfechtungen leugnen, desgleichen kein Verständiger die innere Wahr­ heit so mancher Erscheinungen des Teufels, die nicht alle nur erdichtet sind, sondern häufiger, als man denkt, auf inneren Erlebnissen be-

254

2. Hauptstück.

ruhen, bestreiten.

Erster Artikel.

Aber eben so wird auch jeder Kundige die einen,

wie die andern, auf leibliche und geistige Störungen, kurz auf inner­ menschliche Ursachen zurückzuführen wissen'). b) Läßt sich das Dasein des Teufels nicht beweisen, so wider­

streitet auf der andern Seite dasselbe, d. h. die Annahme höher ge­ arteter Vernunftwesen, die gleich dem Menschen mit Sünde behaftet sind,

und eines hervorragenden unter ihnen,

nünftigen Denken.

mit Nichten dem ver­

Unvernünftig ist nur der leibliche Satan der

Volkssage mit Pferdefuß und Schweif.

Aber welcher ernste Mensch

hat je einen solchen, und nicht vielmehr nur einen persönlichen Teufel behauptet.

Unvernünftig ist ferner die Annahme sowohl eines ur­

sprünglich bösen als auch eines schlechthin oder absolut bösen Wesens:

denn das wäre der böse Gott gegenüber dem guten.

Die Lehre vom

Teufel behauptet dagegen das Dasein ursprünglich guter, in die

Sünde gefallener Engel, die gleich den Menschen nur um des Restes des Guten willen, das in ihnen ist, von Gott erhalten werden und

existiren. — Dem Denken würde endlich auch die Vorstellung eines

solchen satanischen Reiches widersprechen, welches ganz, wie das Reich Gottes, Einheit und Ordnung hätte: denn das hieße behaupten, daß

das Böse eben solche constitutive Kraft und Stand und Wesen hätte, wie das Gute. — Diese Auswüchse und Mißverständnisse beseitigt, hat die Lehre von dem Dasein höher gearteter, sündiger Wesen Undenkbarkeit nur für

die, welche entweder den Ursprung der Sünde

nicht — wie wir — in der Verirrung des kreatürlichen Willens,

sondern ausschließlich in der Sinnlichkeit, speziell in dem Leibe der Menschen suchen; oder, welche sich diese höher

von vorn herein fertige vorstellen.

gearteten Wesen als

Das sind sie indeß ebenso wenig,

als der Mensch fertig ist; vielmehr ebenso als auf Entwicklung und zwar aus Entwicklung

durch

eigne That angelegte und darum in

ihren Werdethaten der Verirrung ausgesetzte zu denken, wie solches

*) Die neuere Wissenschaft weist mit Evidenz die Gesetze nach,

kraft deren

unter gewissen Umständen das nur innerlich Geschaute, Gehörte u. s. w. mit einer

solchen Kraft und Deutlichkeit in dem Gesichts-, Gehör- und Tastorgane erscheint, daß es denselben Eindruck macht,

als ob die Sinne von außen angeregt wären,

und für den in einem solchen Zustande Begriffenen die Unterscheidung, ob er ein Gegenständliches oder ein nur Vorgestelltes schaue, wegfällt.

Vom Teufel.

bei dem Menschen der Fall ist.

255

Dies einmal zugestanden, liegt kein

Widerspruch darin, ist es vielmehr Denknothwendigkeit, daß derartige

Wesen, je höher sie gestanden haben, um so tiefer fallen. — 3) Ueber die Lehre vom Teufel würde nicht so erbittert gestritten

werden, insbesondere die Leugnung derselben schwerlich jemals als Unglaube angesehen worden sein, wenn nicht seiner in der h. Schrift gedacht wäre.

Auch die am eifrigsten für den Teufel streiten, eifern

ja um ihn nicht sowohl seinetwegen

als vielmehr um der Schrift

willen, deren Autorität ihnen untergraben, und damit der feste Grund für allen Glauben ihnen weggenommen scheint, wo eine in ihr so

wiederholt und so klar vorgetragene Lehre geleugnet werde.

Denen

ist zu Gemüthe zu führen zuerst: daß, welchen Werth die h. Schrift auch habe, dennoch unser Glaube sowohl an Gott als an Christum

noch aus etwas anderm stamme und sich auf etwas anderes gründe, als auf die Schrift.

Abraham hat ohne Schrift an Gott geglaubt,

„und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet worden" (1 Mos. 15,6. Röm. 4,3),

desgleichen

hat

die

gesammte

erste Christenheit

Christum geglaubt ohne die Schrift neuen Testamentes.

daß sie selbst in

der

ganzen

an

Sodann:

andern Punkten, z. B. in Beziehung auf die von

ersten Kirche getheilte,

alleiniger Ausnahme

des

alle Schriften der Apostel mit

Evangeliums und

der Briefe Johannis

durchziehende, und mit noch ganz anderer Inbrunst festgehaltene Vor­ stellung von der leiblichen Wiederkunft Christi

noch

bei Lebzeiten

seiner Apostel, von dem Buchstaben der Schrift abweichen, und damit

den Beweis

geben,

daß man das thun und dabei doch nicht bloß

mit ganzer Seele an Gott und an Christum glauben, sondern auch

an der Schrift hangen und sie ehren könne.

die kirchliche Lehre vom Teufel in

Endlich: daß mit Nichten

der h. Schrift als Lehre oder

überhaupt so klar und deutlich ausgesprochen ist, daß niemand diese Lehre bestreiten könne,

ohne sich mit der Bibel in unauflösbaren

Widerspruch zu sehen. a) Die Vorstellung vom Teufel ist in der Schrift durchaus

nicht überall dieselbe und einheitlich geschlossene. weiß

überhaupt uichts vom Teufel.

Später

Die älteste Schrift erscheint

der Satan

unter den Söhnen Gottes (im Hiob) — und wird ihm 1 Chronik.

22, 1 dasselbe zugeschriebcn,

was 2 Samuelis 24 aus

den Zorn

Erster Artikel.

2. Hauptstück.

256

Gottes zurückgesührt wird. überhaupt erst,

Erst

im N. Testamente,

namentlich im Munde Jesu,

in welchem

des Teufels häufiger

erwähnt wird (ein Umstand, der von den Spöttern über diese Lehre in ernste Erwägung

gezogen

werden sollte),

in welcher

diejenige Ausprägung erhalten,

der Christenheit eingegangen ist.

Und

hat die Vorstellung

sie in

doch

das Bewußtsein

ist offenbar auch hier

der Satan, der in Judas fuhr, als er den Bissen genommen, wesentlich anderes,

als

die Teufel, welche

ein

die Besessenen plagen;

der Satans-Engel, der dem Paulus in's Fleisch gegeben, daß er sich nicht überhebe (2 Kor. 12, 7. 8. 9), ein anderes, als der Bösewicht,

vor welchem er Eph. 6 warnt; ein anderes endlich

die Vorstellung

des Satans, in Jesu Munde und die Darstellung desselben in der Offenbarung Johannis. b) Obschon nicht zu streiten sein dürfte,

daß die Art, wie die

h. Schrift von dem Teufel redet, die Auffassung desselben als eines, persönlichen Wesens in hohem Grade begünstigt: so tritt er doch an andern Stellen wieder so sehr nur als Personifikation aus, oder wird wenigstens von der Vorstellung ein so freier Gebrauch gemacht, daß

man diejenigen nicht

der wissentlichen Verdrehung

der h. Schrift

zeihen kann, welche behaupten, daß er überhaupt auch in der Bibel nichts als

der Träger

der Idee des Bösen,

geistige Natur und furchtbare Gewalt

der Ausdruck für die

der Sünde sei.

Wir führen

nur Matth. 4, 1s. — Luk. 10,18 — Joh. 8, 37—44 — Eph. 6, 10f.

— 1 Petr. 5, 8 an, die unbedingt nicht buchstäblich genommen wer­

den können: während andere Stellen, welche allerdings eine wörtlichere Auslegung zu fordern scheinen, doch auch eine bildliche Auffassung min­

destens zulassen,

jedenfalls

auch

bei einer freieren Behandlung

Analogie mit den oben angeführten Stellen würdigen Sinn

geben.

Die

Sünde

d. i. nicht an der Leiblichkeit haftend,

nicht

in

noch einen tiefen und

„Fleisch

und

Blut",

am wenigsten eine liebens­

würdige Schwäche, sondern eine furchtbare seelenverderbende geistige

Macht,

die sich nicht bloß auf das Innere des Menschen und den

Menschen selbst beschränkt, sondern weit über den Menschen hinaus

in die Mächte, Gewalten, Ordnungen des Lebens sich eingenistet hat

und zu einer weltbeherrschenden Macht geworden ist;

ja, die ihren

Schatten nicht bloß auf die Erde wirft, sondern überall dahin,

wo

Vom Teufel.

257

fehlende Kreatur sich wider Gott und sein Reich auflehnt:

fürwahr,

das ist ein jo ernster und zugleich sittlich fruchtbarer Sinn, daß ich nicht wüßte, was dem noch durch das Haften an der Vorstellung

eines persönlichen Teufels hinzugefügt werden könnte. c) Wie dem aber auch sei, jedenfalls steht fest: daß weder die Apostel noch auch der Herr, so oft auch er, ja er vor allem sich dieser Vorstellung bedient, eine ausdrückliche Lehre vom Teufel auf­

gestellt,

am wenigsten dieselbe als einen Theil der Heilsverkündi­

des Glaubens

gung, den persönlichen Satan als einen Gegenstand

behandelt haben. Sie sagen nirgends, wenn einer selig werden wolle,

so müsse er an den Teufel glauben! Kirche,

Das thut nicht einmal die

obschon sie allerdings früh genug eine Lehre vom Teufel

ausgebildet hat: sondern sie fordert den Glauben an den Vater, den Sohn und den h. Geist und tauft auf den Namen von Vater,

Sohn und h. Geisi: von dem Teufel dagegen sagt sie weder bei

der Taufe noch bei der Einsegnung ein Wort! d) Die Vorstellung vom Teufel, dem persönlichen oder unper­

sönlichen, ist gar keine unmittelbar religiöse Frage.

Sie gehört

zunächst unserer Weltanschauung an, und geht erst von da auch in unser religiöses Nachdenken über. den Glauben.

Sie entscheidet auch nichts über

Die Pharisäer glaubten

den Teufel ganz fest, und

waren ungläubig an Christum: während man doch heute nicht allen, die den persönlichen Teufel bestreiten, den christlichen Glauben ab­

sprechen wird.

Vollends

die Teufelsanbeter

sind

eben Teufels­

anbeter. — Sie dient auch nicht immer und nicht unbedingt zu einer würdigern Auffassung der Lehre. Schließt sie auf der einen Seite die Oberflächlichkeit in der Behandlung der Sünde aus, so

hat sie andererseits dem furchtbarsten Aberglauben und den nichts­ nutzigsten Entschuldigungen für die Sünde Raum gegeben.

etwas, worüber Christen nicht zanken sollten.

Sie ist

Denn am Ende aller

Enden ist es für unser Heil, für unsern Seelenfrieden, für unsere

Sittlichkeit ganz gleichgültig, ob es einen persönlichen Teufel giebt oder nicht.

Giebt es einen: so kann er dem Frommen nichts an­

haben, noch wird er ihn schrecken.

„Und wenn in Worms so viel

Teufel wären, als Ziegel auf beit Dächern, so wollte ich doch hinein." „Ein' feste Burg

ist unser Gott." — Und wieder giebt es keinen

Elte st er, Materialien. 2. Auflage.

17

258

2. Hauptstück.

persönlichen Teufel,

verderben.

Zweiter Artikel.

so ist die Sünde Teufels genug,

die Leute zu

Unzähligmal mehrere, als nach der Volkssage der Teufel

geholt und ihnen den Hals umgedreht hat, holt heute noch alle Tage die Sünde und stürzt sie in zeitliches und ewiges Verderben. Darum ist es bei weitem gescheuter, gegen die Macht des Bösen zu kämpfen,

„Zuletzt", sagt der

als über das Dasein des Teufels zu disputiren.

Apostel, — „zuletzt, meine Brüder, seid stark in dem Herrn und

in der Macht seiner Stärke": Das ist es doch, worauf es schließlich

allein ankommt. e) Entschieden verwerflich und

noch widerwärtiger,

als selbst

das fanatische Verdammen ob dieser Lehre, ist das wohlfeile, oft so lieblose Höhnen und Witzeln über die,

welche noch an dieser Vor­

Sind sie Redliche, so trage man sie mit Geduld;

stellung haften.

verbergen sie Unlauteres und Unsittliches hinter dieser Lehre, wollen

sie sich namentlich damit entschuldigen, so züchtige man sie, wie sie es verdienen.

Nur eins thue man nicht, man witzle nicht!

Sache ist viel zu ernst,

Die

und die Geschichte dieser Vorstellung zeigt

viel zu entsetzliche Seiten, als daß man einen Spaß daraus machen dürste.

Christus

hat wohl über Irrende geweint und über Frevler

das Wehe gerufen und

die Geißel

geschwungen,

aber nimmer hat

er, sei es über diese, sei es über jene, gescherzt.

Der zweite Artikel. Der zweite Artikel handelt von Jesu Christo; und zwar zuerst von dem, was Jesus Christus ist, oder von seiner Person,

von dem, was er gethan hat, oder von seinem Werke. sagt man auch wohl Verdienst oder Amt,

sodann

Statt Werk

und spricht

dann von

einem dreifachen Amte Christi: dem prophetischen, dem hohenpriesterlichen und dem königlichen Amte, oder von der Lehrthätigkeit,

versöhnenden und

diese

der regierenden Thätigkeit Christi.

Unterscheidung

nichts Wesentliches

zur

der

Doch bringt

Verdeutlichung

des

Gegenstandes hinzu, und können wir ohne Nachtheil der einfacheren

Weise des Katechismus folgen. — Die Erklärung zerfällt gleichfalls

Allgemeiner Ueberblick des zweiten Artikels und seiner Erklärung,

in zwei

stere

noch bestimmter gesonderte Abschnitte:

die Lehre von

der Person Jesu

„Christus",

„unser Herr"

von welchen der er­

näher bestimmt; sich indeß

des Ausdrucks „Gottes einge-

eigentlich nur auf die Erläuterung borner Sohn" einläßt, während

259

er die andern Aussagen „Jesus",

u. s. w.

einfach wiederholt. — Zu be­

achten ist, daß, was in dieser Erläuterung dem Sinne nach die Hauptsache ist, stylistisch in den Hintergrund tritt, sofern nämlich der die Hauptaussage

enthaltende Satz

nur lautet:

Jesus Christus--------- sei mein Herr":

„ich glaube,

daß

in welchem Satz dann die

dogmatischen Bestimmungen „wahrhaftiger Gott--------- " und „wahr­

haftiger Mensch — —",

als

appositionsweise eingefügt sind.

am Schluffe

das

diesen Glauben Begründende,

Dem entspricht auch die Weise, wie

der ganzen Erklärung als Zweck und Ziel des

ge­

summten Wirkens Jesu angegeben wird: „auf daß ich sein eigen sei

und in seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene u. s. w."

Ich

glaube nicht, daß Luther diese Zurückstellung der dogmatischen Be­ stimmungen gegen das praktische Verhalten zu Christo gerade so be­ stimmt beabsichtigt hat: aber es ist neben anderm im Katechismus

(z. B. dem ganze« Zuge im 5. Hauptstücke) ein merkwürdiges Zeichen,

in welchem Maße der Geist des praktischen Christenthums in ihm

gewirkt und ihn,

ohne daß er es wußte, über die Schranken des

Dogma erhoben und ihn häufig ein Mehreres und Geistigeres hat sagen lassen,

als er sich selber klar bewußt war.

Dieser Charakter

praktischer Frömmigkeit, in aller Kraft unmittelbaren ebenso einfäl­

tigen wie festen Glaubens ausgesprochen — ich möchte ihn fast einen

prophetischen (im altbiblischen Sinn des Wortes) gegenüber dem theologischen und

dogmatisirenden Geiste der Erzeugnisse anderer,

ja selbst anderer Schriften Luther's selber nennen — er ist es, wel­ cher dem kleinen Katechismus Luther's den Vorrang giebt vor allen

den andern,

selbst vor den ihn an Angemessenheit der Anordnung

und Schärfe der Begriffsbestimmung weit überragenden Heidelberger und Genfer Katechismen.

Der zweite Theil der Erklärung, der von

dem „Werke" Christi handelt, spricht, ohne sich in das einzelne des

Lebens, Leidens, Sterbens u. s. w. Jesu einzulassen, sich statt dessen über die Bedeutung seines gesammten Wirkens für unser Heil aus, daß er mis, dadurch „erlöset,

erworben und gewonnen" habe:

17*

und

2. Hauptstück.

260

Zweiter Artikel.

setzt diese Bedeutung nach vier Gesichtspunkten auseinander, 1) wen

Christus erlöset habe: „mich verlornen und verdammten Menschen;"

„von allen Sünden,

2) wovon er uns erlöset hat:

der Gewalt

des Teufels;"

3) wodurch

er

das

vom Tode und

gethan:

„nicht

mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen theuern Blute und seinem unschuldigen Leiden und Sterben;"

endlich 4) wozu

oder zu welchem Zweck und Ende er das vollbracht:

„auf daß ich

sein eigen sei und in seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene

u. s. to." bis zum Schlüsse der Erklärung.

Gehen wir nach diesem Ueberblick an das einzelne,

so treffen

wir zuerst auf den

Namen des Herrn. Derselbe ist, wie die meisten jüdischen Namen, ein bezeichnender:

„Helfer," „Retter."

Er wurde bekanntlich

nach Matth. 1, 21 dem

Herrn auf Befehl des Engels beigelegt; er ist indeß auch sonst kein ungewöhnlicher in seinem Volke.

Wir nennen Jesus Nave d. i.

den Sohn Runs (Sirach 46, 1); ferner Jesus mit dem Beinamen

Justus, den Gefährten des

Apostels Paulus (Kol. 4, 11); endlich

den Verfasser des bekannten

Buches Jesus

ist nicht eigentlich Name, Würde des Herrn:

Sirach. — Christus

sondern Bezeichnung

doch ist es,

der eigenthümlichen

wie noch heute Bezeichnungen des

Amtes, des Geschäftes, der Würde eines Menschen zur Bezeichnung

seiner Person

dienen müssen,

frühzeitig Personen-Name geworden:

Jesus Christus oder Christus Jesus

Im übrigen setzte man, näher bezeichnen wollte,

oder auch Christus

allein. —

wenn man die Persönlichkeit des Herrn

nach

jüdischer Sitte den

Vaters, oder seiner Vaterstadt, oder beide hinzu:

Namen seines

Jesus von Naza­

reth (Luk. 24, 19; Joh. 19, 19; Apostelgesch. 6, 14), Josephs Sohn von Nazareth (Joh. 1, 45).

oder

Jesus

Name und Würde des Herrn (Jesus der Christ — des Menschen Sohn).

261

Die Würde des Herrn. 1) Christus, buchstäblich der „Gesalbte" (Messias),

bezeichnet

den durch die Propheten verheißenen großen Propheten, König der Gerechtigkeit, Retter Israels, „den Davidssohn," dessen Ankunft zu

das jüdische Volk unter dem wachsenden Drucke der

Jesu Zeiten

Römerherrschaft mit fieberhafter Aufregung

Jesus

erwartete.

hat

sich als dieser „Christus" oder „Messias" bekannt: vor seinen Jün­ gern (Matth. 16,13 f.), vor dem Volke (Matth. 21, lf.), vor seinen

Richtern im Angesichte des Todes (Matth. 26, 63 f.; Joh. 18, 33 f.;

vergl. 19, 19).

Doch hat er das nicht eher gethan, als, bis er durch

seine Wirksamkeit den sichern Grund zu

dem rechten Verständnisse

gleichzeitig

die Verhältnisse

seines Messiasthums gelegt,

und

dahin entwickelt hatten,

von seinem offenen Heraustreten mit

daß

diesem Bekenntniß kein Mißbrauch

Volks,

kein Herabziehen

dahin hat

er sich vielmehr ebenso

Rufe im Volke,

entzogen.

zur politischen Aufregung

in's „Fleischliche"

sich

des

zu fürchten war: bis

dem hie und da auftauchenden

übelwollenden Drängen (Joh. 10, 24),

wie einem

Daß er sich nichtsdestoweniger von dem Beginn seines

öffentlichen Auftretens seiner messianischen Bestimmung im höchsten

Sinne bewußt war, zeigt der Ausdruck des „Menschen Sohn", dessen

er sich von Anfang an, so

oft er von sich selbst sprach,

mit Vor­

liebe bedient hat, der dasselbe und wohl noch ein Höheres, als der

gewöhnliche „Christus", aussagt, und sich von demselben nur dadurch

unterschied, daß er das Bewußtsein Jesu reiner ausdrückte, und ihn durch seine änigmatische Form vor rohen Mißverständnissen politischen Verdächtigungen schützte.

und

Aus welcher einzelnen Schrift­

stelle Jesus diese Bezeichnung hergenommen hat, durch welche er die Messiashoffnungen seines Volkes eben so bejahte, wie er sie über die

und von

nationalen Schranken erhob

den

sinnlichen Auswüchsen

reinigte, ist nicht bis zur Uebereinstimmung ausgemacht.

lich

denkt man

Thiere,

ein geflügelter Löwe,

gräuliches Thier werden,

an Daniel c. 7, woselbst dem Seher

und

ein Bär,

Gewöhn­

zuerst

vier

ein Parder und ein ganz

als Bilder von vier Weltreichen, die zertrümmert

darauf auch

„das Reich

(v. 18) unter dem Bilde eines erscheint,

der Heiligen des Höchsten"

„der in

Himmels, wie eines Menschen Sohn, kommt" und

den Wolken „vor

des

den Alten

2. Hauptstück.

262

gebracht wird" (v. 13).

Zweiter Artikel.

Person des Erlösers.

Nach der Weise, wie der Erlöser mehrfach

auf diese Stelle anspielt, kann nicht bezweifelt werden, gekannt habe, ja,

daß sie ihm bei

daß

er sie

der Wahl des Ausdrucks auch

vorgeschwebt haben möge: wie denn die Beschäftigung mit den Weis­ sagungen des Daniel in jener Zeit der Drangsal und der Sehnsucht

überhaupt eine häufige war.

Dagegen ist insofern nicht wahrschein­

lich, daß sie ihm die erste und einzige Veranlassung zur Anwendung

jenes Namens auf sich gegeben habe, als der Daniel'sche „Einer, wie

eines Menschensohn," keine Persönlichkeit, sondern gleich den voran­ gehenden Thierbildern nur ein Reich, das Reich der „Heiligen" oder des „heiligen Volkes

des Höchsten"

(v. 27) bezeichnet. — Darum

haben andere an Ps. 8, 5f. gedacht.

In der Erkenntniß der Größe

und Herrlichkeit des Menschen sei

dem Heilande

das Messiasbe­

wußtsein aufgegangen, habe sich andererseits das Messiasthum zum Bewußtsein des wahren Menschenthums entwickelt.

Am wahrschein­

lichsten ist die Bezeichnung des Menschen Sohn von Jesus aus der

Verheißung

1 Mos. 3, 15') abgeleitet und selbstschöpferisch ausge­

prägt, nicht dem Daniel nur nachgesprochen; auf jeden Fall ist der Inhalt dieser Verheißung, welche er ja kennen, und mit welcher er sich nach

seiner Weise

des Schriftverständnisses

auseinandergesetzt

haben mußte, mit in diese Bezeichnung hineingenommen. der Sinn derselben

folgender:

„der Weibessame,

d. i.

des menschlischen Geschlechts (des Menschen Sohn),

Dann ist

der Sproß

der nicht erst

dem David, der bereits im Paradiese den Ureltern verheißen ist, und der auch nicht nur Davids Reich in Davids Volk, der vielmehr

Gottes Reich in

der Menschheit aufrichten soll;

der Netter nicht

sowohl von äußerem Joche als von der Last der Sünde, welcher der Sünde den Kopf zertreten, dafür aber auch freilich ihren Fersenstich

erfahren wird." — So hatte der Herr sich von Anfang

an

erfaßt,

und mit diesem rein geistigen und allgemein menschheitlichen Inhalt

hatte er

die

messianischen Vorstellungen

Volkes durchdrungen lange zuvor,

und Hoffnungen

seines

ehe ihm auf seine Frage: wer

sagen die Leute, daß des Menschen Sohn sei, die glaubensfreudige ’) „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir nnd dein Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten; und du wirst ihn in die Ferse stechen."

Würde des Herrn (Jesus der Christ — des Menschen Sohn).

263

Antwort entgegen kam: „du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes;" und er aus diesem Bewußtsein heraus sie annahm (Matth. 16, 13 s.).

2) Der Glaube,

daß Jesus

von Nazareth der Messias,

„der

Christus" sei, war lange Zeit der einzige Artikel, durch welchen sich die christliche Gemeinde,

„die Gläubigen"

von ihren ungläubigen

Volksgenossen unterschieden (Apostelgesch. 2, 36; 1 Joh. 5, 1).

Und

Jesus selbst hat diesen Glauben an sein Messiasthum für den festen Grund erklärt,

auf welchen er seine Gemeinde bauen werde,

und

verheißen, daß er ihm die Schlüssel des Himmelreiches geben wolle

(Matth. 16,13 f.

Mark. 8, 27 f.

Luk. 9, 18 f.).

So muß ja wohl

dieser Glaube das Wesentliche des Christenthums ausmachen.

Aller­

dings bezieht man gewöhnlich das Lob und die Verheißungen, welche Christus Matth. 16, 13f. dem Petrus

— des lebendigen Gottes Sohn".

ertheilt,

auf das:

„du bist

Die Vergleichung mit den Pa­

rallelstellen zeigt indeß, daß der Kern des Petrinischen Bekenntnisses in der That das: „du bist der Christus", oder, wie Lukas es aus­

drückt: „du bist der Christ Gottes", gewesen sei: sonst hätten ja die beiden Evangelisten das

andere nicht auslasfen können.

Daß Pe­

trus darum das letztere nicht auch gesagt haben könne, so gut, wie Joh. 6, 69,

folgt daraus nicht.

Nur hier ist es nicht die Haupt­

sache, sondern die ist, was auch Markus und Lukas angeben;

auch die Vergleichung mit dem Bekenntniß der „Leute" zeigt.

wie Wie

hoch nämlich diese von dem Herrn hielten, „er sei ein ganz außer­

ordentlicher Mann, ein Prophet, der größte aller, der Prophet, der

dem Messias unmittelbar vorangehen solle:"

darin waren sie doch

alle einig, daß er selbst nicht der Messias sei. kommt, wird es doch noch anders kommen."

„Wenn der Messias

Fragt man aber, was

sie denn an Jesus vermißten, und wovon sie meinten, daß es an­

ders kommen müsse: so treffen wir auf

alle jene äußerlichen und

selbstsüchtigen Erwartungen von Macht, Herrschaft, sinnlichem Wohl­ ergehen, welche der Herr in seiner Antwort an den Petrus mit dem

Worte „Fleisch und Blnt" bezeichnet. noch kein Glaube war,

über Jesus

das

Diesem Glauben, der eben

der vielmehr mitten in seinen Lobsprüchen

Bekenntniß

der Unzufriedenheit, mindestens

des

Nichtbefriedigtseins durch ihn vor sich her trug; der kein Hehl machte,

2. Hnuptstück. Zweiter Artikel. Person des Erlösers.

264

daß er nur vorläufig an Jesus halte, wann aber der „Rechte" käme, ihn verlassen werde:

diesem Glauben der Leute gegenüber spricht

nun Petrus den seinigen aus: „Nein, nicht ein Vorläufer, sondern

du bist es selbst,

aus den unsere Väter gehofft,

und

in

dem wir,

trotzdem du nicht hast, „wo du dein Haupt niederlegst", alles ge­

funden haben, was unsere Seele bedarf, und unser sehnendes Herz

begehrt.

„Herr, wohin sollen wir gehen? du hast Worte des ewigen

Lebens" (Joh. 6, 68).

„Und

ob mir gleich Leib und Seele ver­

schmachten, so bleibst du doch meines Herzens Trost und mein Theil"

(Ps. 76, 26).

Diese Stellung

des Herzens zu Jesu,

man au

daß

ihm genug habe und bei ihm ausharre und keines andern Menschen oder Dinges zu seinem Frieden bedürfe: Wortlaut des

Bekenntnisses sind noch

diese Stellung,

das

heute

nicht der

wesentliche

im

Christenthume, dasjenige, worauf es vor allem und allein ankommt.

3) Bekanntlich begründet

den Anspruch

des Papstes

auf diese Stelle die römische Kirche

auf den Primat über die Kirche.

Gedankengang ist dieser: Christus hat ßungen gegeben.

dem

Petrus

Der

diese Verhei­

Petrus ist der erste Bischof von Rom

gewesen.

Der Papst ist sein Nachfolger und Erbe seiner Verheißung.

Also

ist der „Stuhl Petri" der Fels, auf welchem die Kirche ruht, und

der Papst der Inhaber der Schlüsselgewalt, kraft deren er als Stell­ vertreter Christi der Kirche vorsteht, und nicht bloß sie, sondern auch

den Himmel auf- und

zuschließt. —

Abgesehen

davon,

daß

die

„Schlüssel des Himmelreichs,, doch wohl noch etwas anderes bedeu­

ten,

als

der Papst darunter versteht:

nicht dem Petrus für seine Person,

so sind

diese Verheißungen

sondern dem Glauben,

den er

aussprach, gegeben (cf. v. 23): so ist Petrus niemals Bischof von Rom, und wahrscheinlich nicht einmal in Rom gewesen, also auch

der Papst nicht sein Nachfolger: so

ist drittens der Papst,

wenn er Nachfolger Petri wäre, darum

noch

selbst

nicht Erbe Petri; so

würde endlich, auch dies noch zugestanden, auszumachen sein, worin er Erbe sei: ob, wie er meint, in Beziehung auf die dem Petrus zu Theil gewordene Verheißung, oder, wie ein großer Theil der Kirche

meint, in Beziehung auf die über denselben Petrus ausgesprochene Drohung: „Weiche von mir, Versucher; du bist mir ärgerlich, denn du meinest nicht, was göttlich, sondern, was menschlich ist" (v. 23. 24).

265

Petri Bekenntniß und der Primat des Papstes.

Die Wahrheit ist,

daß jeder die „Schlüsselgewalt"

hat,

Namen und Auftrage der Kirche die Kirche verwaltet,

in

die Kirche aufnimmt,

Anordnungen

in

der im

lehrt,

der Kirche

trifft;

tauft, daß

aber nur derjenige das auf eine Gott und dem Herrn wohlgefällige Weise und mit Wirkungen, die über das Aeußere und Zeitliche hin­ ausreichen, thun werde, welcher und so weit er den Glauben hat,

aus dem heraus Petrus sprach.

Denn nur, wer den Frieden Christi

in sich trägt, vermag denselben zu zeigen und mitzutheilen, vermag den „Himmel" aufzuschließen. Die Anmaßung

des Papstthums haben wir nicht leicht schla­

gender zurückgewiesen und zugleich die Weise, in welcher Petrus für

feine Person das Schlüsselamt in der Kirche geübt hat, nicht glück­ licher dargestellt gefunden,

als

in einer Dichtung, mit welcher der

verst. Direktor des grauen Klosters Dr. Ribbeck das 300jährige Ge­

dächtniß der Einführung der Reformation in der Mark Branden­ burg bei der Reformationsfeier des Gymnasiums am 1. November

1839 begrüßte (Schulblatt der Provinz Brandenburg 1839 S. 386). Wir lassen dieselbe folgen: „Du bist Petrus; und auf diesem Felsen will ich sie erhöhn, Meine Kirche, und unbezwungen von der Hölle soll sie stehn. Dir des Himmels Schlüssel geb' ich; was auf Erden hier dein Wort Löst und bindet, soll gelöst sein und gebunden sein auch dort." So erscholl's zu Simon Zona jenem Jüngerwort zum Lohn:

„Herr, wir glauben, du bist Christus, des lebend'gen Gottes Sohn." lind es baute Christ die Kirche, und er legte ihren Grund Durch die Predigt, die am Pfingsttag scholl aus Simon Petrus Mund. Und die heiligen Schlüssel glänzten hell in des Apostels Hand, Da er in des Heiden Hause kund that, was sein Geist erkannt:

„Nun erfahr' ich in der Wahrheit, daß vor Gott die Völker gleich; Daß nicht dir allein sich öffnet, Israel, das Himmelreich; Daß in allem Volk, wer gottesfürchtig war und recht gethan, Den zum Heil in Jesu Christo nimmt der Vater willig an. Und so schritt von Volk zu Volke bald der Kirche Siegeslauf,

Und es thaten weit die Thore sich des neuen Himmels auf. Bis zu Herkuls Säulen strahlte in der Welt der Gnadenschem, Strahlte, Vaterland, geliebtes, dir auch in das Herz hinein. Dieser Marken Söhne nahten sich der Taufe heil'gem Bad,

Und des Kreuzes Siegesschimuler glänzte über Albrechts Stadt.

Doch, wie einst in Babels Ebene üppig sich das Volk erhob, Himmelhohen Thurm zu bauen, Felsen kühn auf Reffen schob,

266

2. Hauptstück.

Zweiter Artikel.

Person des Erlösers.

Menschen, kräftig sich verinessend, was der Herr allein vermag, Bis die Sprachen Gott verwirrte und des Stolzes Bau zerbrach: So auch, siegesüppig, thürinten, dieser Kirche Dienst versahn, Nicht mehr Diener, eigne Ehren, eigne Satzung himmelan. Throne überthronend, bauten sie St. Peters Stuhl empor; Weil ja diesen Fels zmn Felsen seiner Kirche Christ erkor!

Aber nicht St. Peters Stuhle gab der Herr das Schlüsselamt, Sondern dem St. Petrus-Glauben, der des Jüngers Mund entflammt.

Drmn auch, wie dem Babelsthurme, zürnte Gott dem stolzen Thron, Und der Sprache Wirrung wieder ward des Uebermuthes Lohn. Denn, wer Gottesdienst begehrte, dem ward Menschendienst gezeigt, Schmachtenden statt des Brots der Wahrheit eitlen Wahnes Spott gereicht; Edlen Geistern, Freiheit suchend, gab die Antwort: Glaubenszwang, Sünd'gen Herzen, heilsbedürftig, bot man Heil für — Goldesklaug. Doch den schnöden Klang vernehmend, endlich zürnt' ein deutscher Mann, Und sein Zürnen blies zum heil'gen Feuer Gottes Odem an. Da ward's hell, da sah'n Unzähl'ge, von des Wahnes Fesseln tret, Daß noch weit vom Peters Stuhle bis ztun Himmel Gottes sei; Daß auf heil'gem Sih nur einer thront und seinem Volk gebeut, Jesus Christus, heut und gestern, und derselb' in Ewigkeit;

Daß ein Heil nur sei, der Glaub' an Gottes Sohn als einz'gen Hort, Eins nur Leben, Weg und Wahrheit, Christi heil'ges Bibelwort; Daß der Opfer unverstandnes Prunken nimmer bringt Gewinnst, Daß Gebet in Geist und Wahrheit nur der rechte Gottesdienst. Sv erklang's aus dir, du theure Wittenberg, um unsre Stadt, Die der König fromtn mit deines Helden Bild geschmücket hat: Er, der (jeiit sich vor'm Altare vor dem Herrn der Herrn gebeugt, Dankend, daß auch seinen: Ahnen Christus jenes Heil gezeigt. Denn umsonst nicht sogst von Mutterlippett du mit Jugendlust, Zweiter Joachitn, der Wahrheit reinen Strom in Deine Brust.

Heute vor 300 Jahren thatst auch du, was Gott gebot, Und empfingst nach Christi Satzung des Altares Wein und Brod. Und dann katn, Berlin, dein Morgen, wo der erste Preisgesang Deines evangel'schen Volkes durch des Teutpels Hallen klang. Und dir, Land, geliebtes, tagt' es, und von Ort zu Ort von hier Flog der evangel'schen Wahrheit himmlisch leuchtendes Panier. Evangelisch, Christi Worten treu, o bleib' es Volk und Land, Uttd mit Früchten solcher Treue segne dich des Ew'gett Hand. Hier auch sei sie festgegründet, Gottes unsichtbare Stadt; Unser auch der Petrusglaube, dem der Herr verheißen hat: Du bist Petrus und auf diesem Felsen will ich sie erhöhn, Meine Kirch', und unbezwungen von der Hölle soll sie stehn.

Jesus Gottes eingeborner Sohn.

267

Gottes etngeborner Sohn.

Jesus ist „des Menschen Sohn": d. i. der Mensch, auf den hin die Menschheit sich

entwickelt, in

dem sie gipfelt, das Haupt und

der Menschheit, von dem aus in sie eingeht, was

der Mittelpunkt

die erste Christenheit in dem Bekenntniß „du bist der

Petrus und

Christus" aussprachen, und was wir noch immer in demselben, aber auch in tausend andern so oder anders gestalteten Bekenntnissen aus­ drücken:

die Erfüllung aller Verheißung,

schichte, wie in der Menschen Brust,

welche Gott in der Ge­

angelegt,

die Stillung aller

Sehnsucht, die Lösung aller Zweifel, der Friede Gottes in dem Ge­ das alles ist Zesus für die Menschheit und jeden

müth:

einzelnen

nur, und kann es nur sein, sofern er zugleich der „Sohn Gottes" ist, d. h. zu Gott in demjenigen Verhältnisse steht, welches diese Be­

zeichnung aussagt. Was ist das für ein Verhältniß?

Es giebt viele Christen, welche jedes Nachdenken und Forschen hierüber als etwas, was von Zweifel zeuge oder zu ihm hinführe, verwerfen, und verlangen, daß man ohne weiteres Grübeln stark und

fest bei

dem

damit gut.

stehen bleibe: „Christus

ist der Sohn Gottes", und

Diese vergessen, daß auch diejenige Vorstellung,

welche

sie mit dieser Bezeichnung verbinden (und irgend eine Vorstellung

werden sie doch haben), zwar nicht aus ihrem, dafür aber aus dem

Nachdenken anderer stammt, von denen sie dieselbe überkommen und angenommen haben.

Die Frage: was heißt

das:

„Jesus ist der

Sohn Gottes?" (die ja auch der Katechismus aufwirft) ist gar nicht

zu umgehen; aus folgenden Gründen: 1) Der Ausdruck „Sohn Gottes" ist ein bildlicher,

der, wenn man ihn nicht im übertragenen und

geistigen Sinne fassen wollte, uns in das reine Heidenthum zurück­

führen würde.

2) Der Ausdruck wird auch nicht ausschließlich von

Jesu,

außer ihm auch von andern und zwar a) von allen

sondern

Menschen'), b) von dem jüdischen Volkes, insbesondere seinen Fürsten und Königen') gebraucht.

Eben

darum gilt es festzustellen, in

Bergt, bas ganze neue Testament. 2) Hosea 11, 1. „Da Israel jung war, hatte ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn, ans Aegypten." Jeremia 31, 20. „Ist nicht Ephraim mein thenrer Sohn und mein trautes Kind?" 3) 2 Samuel. 7, 14. „Ich will fein („des Samen Davids" v. 12) Vater sein,

268

2. Hauptstttck.

Zweiter Artikel.

Person des Erlösers.

welchem Sinne er denn mit diesem Namen genannt werde.

sus selbst

vergleicht sich

mit andern,

3) Je­

die auch Söhne Gottes, ja

Götter in der Schrift genannt worden seien, und leitet daher seine

Berechtigung ab, viel mehr sich Gottes Sohn zu nennen.

Joh. 10,

30—36'). Daraus ergiebt sich von selbst, daß die Frage: „Was heißt das?"

in keiner Weise eine Frage des Zweifels ist. nicht so,

denn

sie will

ja nicht untersuchen:

Sie lautet auch gar ob Jesus der Sohn

Gottes sei — das bildet vielmehr die Grundlage aller Untersuchung

und wird bei allen Beantwortungen vorausgesetzt: sondern sie sucht nur festzustellen, in welchem Sinne er vor andern — der „Ein­

geborene vom Vater" — sei?

Die dessenungeachtet an dieser Frage

Anstoß nehmen und diese Untersuchung verwehren — weit entfernt, daß sie besonderen Glauben verrathen — bekunden nur ihre Unfähig­

keit,

die einfachsten Dinge zu

unterscheiden, oder ihre Gewisfens­

tyrannei, welche keine andere Antwort zulasfen will, als, welche sie

festgesetzt haben.

Dies voraus, betrachten wir nun die verschiedenen Auslegungen, welche der Ausdruck „Sohn Gottes" gefunden hat; indem wir von derjenigen Auslegung, welche das Mindeste aussagt, allmählich bis

zu

der fortschreiten,

welche das Höchste von Jesu zu setzen scheint.

Es ist das auch im ganzen die Reihenfolge, welche die geschichtliche Entwicklung dieses Lehrstückes genommen hat. und er soll mein Sohn sein."

Ps. 2, 6f.

„Aber ich habe meinen König eingesetzt

auf meinen heiligen Berg Zion. — Du bist

mein Sohn,

heute habe ich dich

gezeugt." *) Jesus hatte von sich gesagt: „Ich und der Vater sind eins."

Dieser-

halb der Gotteslästerung angeklagt, beruft er sich nun auf den Ausspruch Ps. 82,6. „Ich habe

gesagt: Ihr seid Götter."

So er diejenigen Götter nennt, an welche

das Wort gerichtet ist (die Empfänger der Offenbarung), und die Schrift kann doch

nicht gebrochen werden: sprechet ihr denn von dem, welchen der Vater geheiligt und

in die Welt gesandt hat (von dem Träger der Offenbarung): du lästerst Gott, weil

ich sage „ich bin Gottes Sohn"?

Zu bemerken ist die Weise, in welcher der

Herr den letztern Ausdruck dem im Anfang gebrauchten: „ich und der Vater sind

eins" vollkommen gleichstellt:

seine authentische Erklärung,

denn er setzt ihn an seine Stelle. was

Wir haben darin

er unter dem Ausdruck „Sohn" und „Sohn

Gottes" verstanden habe: nämlich das völlige „Eins sein mit dem Vater": welches

selbstverständlich

an

dieser Stelle nur von der Einheit des Geistes und der Ge­

sinnung gemeint sein kann.

Jesus Gottes Sohu: Deutungen: Jesus der vollkommenste Mensch.

1) „Jesus

ist Gottes

Sohn"

heißt:

269

„Jesus steht unter allen

Menschen Gott am nächsten, er ist der beste, vollkommenste, tugend­ hafteste Mensch, indeß genau genommen auch nur ein Mensch, wie

wir." — In dieser Antwort ist zuerst richtig,

daß Jesus Christus

Mensch, voller, ganzer, wahrhaftiger oder, wie es das Volk ausdrückt, gewesen sei.

„richtiger" Mensch

Desgleichen ist Wahrheit, daß er

der beste, vollkommenste Mensch gewesen, der Gott so nahe gestanden hat, wie kein anderer.

Unrichtig ist dagegen, daß er nur der beste,

im übrigen aber ein Mensch, wie wir, d. h. ein sündiger Mensch gewesen sein soll. Jesus war voller, ganzer Mensch.

Erscheinung,

Das bezeugt seine gesammte

seine menschliche Geburt, seine Hülfsbedürftigkeit als

Kind, sein „Zunehmen an Alter und Weisheit", seine menschlichen

Bedürfnisse, seine Kämpfe (nicht bloß in Gethsemane),

Leben durchziehenden Versuchungen

ganzes

(Luk. 4, 13;

seine sein

22, 28;')

Ebr. 4, 15)’), sein Leiden, sein Tod. — Und diese volle Menschheit war zur Vollbringung seines Werkes daß Gott in ihm war (2 Kor. 5, 19):

an uns

ebenso nöthig, wie,

„Denn er nimmt nirgends

die Engel an sich, sondern den Samen Abrahams nimmt er an sich.

Darum mußte er allerdings seinen Brüdern gleich werden, auf daß er barmherzig würde und ein treuer Hoherprtester vor Gott, zu ver­ söhnen die Sünde des Volks.

versucht ist,

kann

er helfen

Denn darinnen er gelitten hat und denen,

die versucht werden" (Ebr. 2,

16—18. cf. 4, 15). — Ja, es läßt sich aus der Geschichte nachweisen und entspricht auch vollkommen der Natur der Sache, daß die Ver­ kennung

oder Verkürzung

des Menschlichen in Jesu die christliche

Wahrheit sogar noch mehr entstellt und den heiligenden Einfluß des Evangeliums gebrochen hat, als dies bei der Verkürzung des Gött­

lichen in ihm geschehen ist.

Denn bei dieser bleibt doch — bei einer

nur einigermaßen würdigen Auffassung Jesu — immer das mensch-

„Und da der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, wich er von ihm eine Zeitlang."--------- „Ihr

aber seid

es, die ihr beharret habt in meinen Anfech­

tungen bei mir." 2) „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleid haben

mit unsrer Schwachheit; sondern, der versucht ist allenthalben, gleichwie wir, doch ohne Sünde."

270

2. Hauptstück.

Zweiter Artikel.

Person des Erlösers.

lich hohe Vorbild mit seiner läuternden, tröstenden und erhebenden Kraft; wo dagegen das Menschliche in ihm verkürzt oder in bloßen

Schein aufgelöst wird,

da verwandelt sich bei aller Hervorhebung

des Göttlichen die Erscheinung Jesu in ein trügerisches Phantom,

eine unheimliche Spukgestalt,

an der sich niemand trösten,

erheben,

halten kann, weil sie selbst jedes Haltes auf Erden entbehrt. —

Darum hat nicht bloß schon der erste Brief Johannis (4, 3) ’) die Leugnung der vollen Menschheit Jesu für widerchristlich erklärt,

sondern auch die Kirche hat dieselbe von je an entschieden verworfen,

und das „wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren",

sowohl gegen

die

leugneten, und

sogenannten

lehrten:

„Doketen", welche

dasselbe

ganz

„das göttliche Wesen Christus" habe nur

zum Schein (en dokesei) menschliche Gestalt angenommen, mensch­ liche Bedürfnisse gezeigt, gelitten u. s. w., als auch gegen diejenigen vertheidigt, welche (um der Einheit der Persönlichkeit Jesu willen)

ihm zwar einen vollen menschlichen Leib, nicht aber auch eine wahr­ haft menschliche Seele zugestehen wollten, vielmehr behaupteten: Stelle der vernünftigen Menschenseele habe bei ihm

Vernunft (der Logos) eingenommen.

die

die göttliche

Beiden gegenüber bejaht die

Lehre der Kirche bis auf den heutigen Tag

die Vollständigkeit

der menschlichen, aus einem wahrhaft menschlichen Leibe und einer vernünftigen Menschenseele bestehenden Natur Jesu mit solcher Energie,

daß sie ihm eben nicht bloß zwei „Naturen", die göttliche und die menschliche,

sondern um der Wahrheit dieser Naturen willen auch

zwei Willen zugeschrieben hat und noch zuschreibt. Trotz dieser starken Betonung in abstracto hat die überlieferte

Kirchenlehre es bis jetzt noch niemals in concreto zur Anschauung

und Darstellung,

Jesu gebracht. Bestimmtheit, anlagen,

ja nur zur Anerkennung der vollen Menschheit

Es ist ihr entgangen, daß zu einer solchen vor allem

ein bestimmter Mensch, mit

bestimmten

Natur­

bestimmten Charakterzügen, in bestimmten Verhältnissen

lebend u. s. w. gehöre. . Statt dessen hat sie sich meist mit der all­ gemeinen Abstraktion „Mensch" begnügt; und Jesum weit mehr als ') „Ein jeglicher Geist, der da nicht bekennet, daß Jesus Christus ist in das

Fleisch gekomineu, der ist nicht von Gott.

Und das ist der Geist des Widerchrists,

von welchem ihr gehört habt, daß er kommen werbe und ist schon jetzt in der Welt."

Jesus Gottes Sohu: Deutuugeu: Jesus der vollkommenste Mensch.

271

einen über den menschlichen Verhältnissen und durch dieselben hin­

durch schreitenden,

als

den i n

dieselben eingegangenen betrachtet.

Sodann hat sie trotz ihrer starken Behauptung einer vernünftigen

Menschenseele in Jesu in der That das Menschliche in ihm doch nur in Beziehung auf das Leibliche in seiner ganzen Wirklichkeit, hin­

sichtlich des Seelischen dagegen nur in unzureichendem Maße aner­

kannt; indem sie z. B. seine Leiden, so grell sie dieselben ausgemalt,

nie als ihm wirklich an die Seele gehende, seinen Willen auf die

Probe stellende, seine Versuchungen nicht als reelle, ihm Kampf und Ueberwindung kostende angesehen, sondern das eine, wie das andere,

stets mehr nur als etwas betrachtet, was nur an ihn gekommen ist und ihn, so zu sagen, nur, wie die Wogen des Meeres einen Felsen, anspült,

denn als etwas,

was ihn innerlich ergriffen und wirklich

angefaßt hätte. — Noch weniger hat sie es zur Anerkenntniß der auch bei ihm stattgefundenen wahrhaft menschlichen, geistigen und

sittlichen Entwicklung gebracht, trotzdem dieselbe nicht minder zur

wahren Menschheit gehört, wie das leibliche Wachsen, ja trotzdem, die

Schrift unverkennbare Spuren derselben enthält (Luk. 2, 41—52)'),

und sie namentlich in Beziehung auf sein sittliches Werden ausdrück­ lich und unter Bezugnahme auf seine göttliche Sohnschaft behauptet?). Endlich hat sie die „wahrhafte Menschheit" vollends

macht durch

die Weise, wie sie, ungeachtet

unmöglich ge­

der von ihr gelehrten

Untrennbarkeit der beiden Naturen in Christo, im einzelnen das Thun des Herrn hier auf die eine dort auf die andere vertheilt und be­

hauptet, das habe er als Mensch, dieses dagegen als Sohn Gottes

gesagt oder gethan und nur als solcher thun und sagen können. liegt auf der Hand,

Es

daß ein so zerissenes und durchlöchertes Leben

kein wahres Menschenleben ist, sondern, mit starker Anstreisung an

den in thesi verworfenen Doketismus,

die Erscheinung eines gött-

■) Der 12 jährige im Tempel.

-) Ebr. 5, 7—9. „Und er hot in den Tagen seines Fleisches Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Thränen geopfert zu dem, der ihm konnte von dem Tode aushelfen, und ist auch erhört, darum, daß er Gott in Ehren hatte. Und wiewohl er Gottes Sohn war, hat er doch an dem, daö er litte, Gehorsam

gelernt, und da er ist vollendet, ist er geworden allen, die ihm gehorsam sind, eine Ursach zur ewigen Seligkeit."

Zweiter Artikel.

2. Hauptstück.

272

Person des Erlösers.

lichen Wesens in nur lose umgelegter menschlicher Umhüllung, welches

diese Umhüllung bei jeder Gelegenheit durchbricht').

Ist in allen diesen Beziehungen mit der Menschheit Jesu in viel höherm Maße Ernst zu machen, als es bisher geschehen ist, so

geschieht andrerseits der Sache nicht ihr Recht, und wird nicht allein unser religiöses Bewußtsein verletzt, sondern auch die Geschichte ver­ kannt,

wenn man den Herrn darum, weil er als wahrer Mensch

aufgefaßt werden soll, nicht anders, denn als einen gewöhnlichen

Menschen

auffassen zu können meint.

Der,

von welchem

seine

Jünger rühmen, wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingebornen voller Gnade und Wahrheit; dessen überwältigende Erscheinung kaum 20 Jahre nach seinem Tode in der frischen Er­

innerung seiner Wirksamkeit der Apostel Paulus nicht

anders

zu

erklären weiß, als daß er in ihm den von oben gekommenen himm­ lischen Menschen, den andern Adam, sieht; der, welcher in dem kur­

zen Zeitraum einer einjährigen, höchstens dreijährigen Wirksamkeit seine Züge in die Weltgeschichte eingegraben, eine neue Menschheit

geschaffen hat:

der,

„ein Mensch, wie wir",

Mensch, wie allenfalls ich auch?

ein Alle-Tags-

Nicht einmal dadurch ist den

Thatsachen genug geschehen, wenn man ihn nun als einen außer­

ordentlichen, als einen jener seltenen beschreibt, deren Erscheinen

die Bahnen der Menschheit bezeichnet:

Sein Selbst- und Gottes­

bewußtsein, sein Wandel, seine Wunder, seine Auferstehung kenn­ zeichnen ihn als den, der selbst noch mehr, als der erste von allen,

welcher der schlechthin

einzige war.

Vollends wird sein Bild

') „Kraft der hypostatischen Vereinigung und gegenseitigen Mittheilung der beiden Naturen hat er alle seine Wunder gethan und seine göttliche Majestät ganz nach seinem freien Willen, wann und so wie es ihm gut schien, nicht bloß nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt, sondern auch in dem Stande der Er­

niedrigung geoffenbart." — Und durch diese Mittheilung der Naturen „hat die menschliche Natur jene Erhöhung über alle Kreaturen nach der Auferstehung, welche nichts anderes ist, als, daß Christus die Gestalt des Knechtes gänzlich ab­

legte, und nach der angenommenen menschlichen Natur zur vollen Besitznahme und Gebrauch der göttlichen Majestät erhöht ist. Diese Majestät hat er bereits bei seiner Empfängniß im Schoße der Mutter gehabt, aber, wie der Apostel sagt, sich

derselben entäußert und sie, wie Luther lehrt, int Stande der Erniedrigung geheim gehalten und sich derselben, nicht immer, sondern, so oft es ihm gut schien,

bedient."

Eintrachtsformel.

273

Jesus Gottes Sohn: Deutungen: Jesus der vollkounueiiste Mensch.

verzerrt und

den

man ihn als einen

Mag

beglaubigtsten Thatsachen Hohn gesprochen,

„sündigen Menschen, wie wir",

wo

hinstellt.

immerhin die Folgerichtigkeit der „wahren Menschheit" dazu

führen, auch in ihm die Möglichkeit, ja selbst, wie etliche thun, den

— nur nie von einer Zustimmung des Willens befruchteten — Keim der Sünde anzunehmen: ein Sünder, wie wir, ist er nie gewesen! „Wer kann ihn einer Sünde zeihen?"

(Joh. 8, 46.)

Wer vermag

das einfache und doch so mächtige Zeugniß zu widerlegen: „Welcher

keine Sünde gethan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde er­ funden.

Welcher nicht wieder schalt,

da er gescholten ward,

nicht

drohete, da er litt; er stellte es aber dem heim, der da recht richtet" (1 Petri 2, 22f.).

— Und daß er sich, auch keiner

verborgenen

Sünde bewußt gewesen ist, und auch in seinen Versuchungen (Luk. 22, 28) wohl in allem Ernst gekämpft, aber nie gesündigt habe, nie gewichen sei,

nie nachgegeben oder einen Rückschritt gethan habe,

sondern vielmehr durch sie unversehrt fort und fort zu immer größerer

Vollendung

geschritten

sei

(Ebr. 4, 15 u. 5, 7—9):

das beweist,

wie selbst Männer, die zu den entschiedensten Gegnern der „Göttlich­

keit" Jesu gehören, anerkennen'), die ruhige, nie von einem Anflug

von Reue berührte Heiterkeit seiner Seele, das der Umstand, daß er — der demüthigste und sanftmüthigste aller Menschenkinder (Matth. 11, 28 f.) wohl andere zur Buße gerufen und um Vergebung bitten

gelehrt, selbst aber für sich nie um Vergebung gebetet hat.

Diesen,

ebenso Demüthigen, wie Hohen, der bei dem entschiedenen Bewußtsein, daß nur Gott gut sei, der Mensch es immer nur werde"), sich den­

noch allen als den Führer und Versöhner mit Gott anbot, und zu dem Vater betete:

„Ich preise dich, Vater und Herr Himmels und der Erden, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es

den Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn es ist also wohl­ gefällig gewesen vor Dir. meinem Vater.

') D. Straus;. -') Matth. 19, 17. einige Gatt." (£' lt e ft e v, 'Materialien.

Alle Dinge sind mir übergeben von

Und niemand kennt den Sohn, denn nur der

„Was nennst dn nach gut? 2. Auslage.

Niemand ist gut, denn der

2. Hmiptstück. Zweiter Artikel. Person des Erlösers.

274

Vater; und niemand kennt den Vater, denn nur der Sohu, und wem es der Sohn will offenbaren.

Kommet her zu mir alle,

die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Neh­

met auf euch mein Joch, und lernet von mir: denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen" (Matth. 11, 25—29).

Diesen

zu

einem Sünder machen,

„wie wir",

und diesen selben

Sünder, „wie wir", der, wenn er ein solcher gewesen wäre, sich auf

das maßloseste überhoben und sich und uns über sich selber getäuscht hätte, in demselben Augenblicke für den „Besten", „Reinsten", „Voll­

kommensten" erklären, und das Christenthum mit seinen die Welt

erlösenden und erneuernden Kräften von diesem „Schwärmer" ab­ leiten: das heißt fürwahr alle Geschichte und alles Denken auf

den

Kops stellen. Fasten wir das Gesagte zusammen:

so haben wir allerdings

daran, daß Jesus Mensch war, nicht nur festzuhalten, sondern es

noch viel schärfer und folgerichtiger, als bisher, nach allen Richtun­

gen auszubilden. genügt,

Dagegen haben wir auch erkannt,

ihn nur für „einen Menschen, wie wir",

daß es nicht

auch nicht nur

für den besten und vollkommensten zu erklären, sondern, daß wir in

ihm den einen ganz vollkommenen, den Menschen haben, der allein dem Gedanken Gottes entspricht.

einer

Das führt von selbst zu

andern und höhern Deutung des Ausdrucks „Sohn Gottes". 2) „Jesus ist größte."

ein Prophet;

und

unter allen Propheten

Diese Antwort isi korrekter, als die erste.

der

Wir sagen aus­

drücklich korrekter, nicht frommer: weil die Frömmigkeit sich keines­

wegs nach der größeren oder geringeren Richtigkeit der Vorstellung richtet.

Mit der korrektesten Vorstellung von Christus kann große

Gleichgültigkeit und wieder mit höchst unvollkommenen Vorstellungen

herzliche Anhänglichkeit und Treue gegen ihn verbunden sein. Der Vorzug der Antwort:

frühere:

„Jesus ist ein Prophet" gegen die

er ist „ein Mensch, wie wir", ist ein zwiefacher.

Zuerst

erhebt sich dieselbe über die Alltäglichkeit, die Tyrannei des Gemeinen, welche nichts anerkennt,

nichts zulassen will, als, was alle Tage

und an einem jeden geschieht.

Sodann beruht.sie auf einer leben­

digem und würdigern Vorstellung von dem Verhältnisse Gottes zur

Jesus Gottes Sohn: Delltunqen: Jesus der größte Prophet.

275

Welt und zum Menschen: kraft deren Gott die Welt nicht bloß ein­

mal vor Zeiten geschaffen hat,

und nun zusieht, wie sich dieselbe

aus den ein für allemal in sie gelegten Kräften entwickelt und nie ein Anderes und Höheres erzeugt, als, was diese in sich selbst ver­

laufende Entwicklung hergiebt: sondern kraft deren die göttliche Wirk­

samkeit in allem Geschehen unsichtbar neben der kreatürlichen Thä­ tigkeit einhergeht und macht, daß nicht nur das Vorhandene sich zu dem Ziele, das ihm gesetzt ist, entwickle, sondern, daß auch zu dem Vorhandenen Neues und Höheres in die Welt eintrete und sich da­ selbst auswirke. erhebt und

Kraft deren auch der Mensch sich nicht nur zu Gott

den von Anfang

an in ihn gelegten Gottesgedanken

mehr und mehr aus sich herausarbeitet,

sondern auch Gott dem

Menschen entgegen und nahe und darum auch dem einen näher, als dem andern, kommt und sich ihm

auf besondere Weise mittheilt;

kraft deren er mit einem Worte sich, wie überhaupt Menschen, wie

er sie braucht, Werkzeuge seines Willens, jeden an seinem Ort und zu der von Gott vorhergesehenen Zeit bereitet, so insbesondere „Pro­ pheten",

Verkündiger seines Willens, Enthüller seiner Wahrheit,

Träger höherer Offenbarung schaffen kann und geschaffen hat: Gottgesendete, die in die Menschheit bringen, was die „gesunde Vernunft",

der „natürliche Verstand", die „gemeinsame Arbeit des menschlichen Denkens" bis dahin weder gefunden hatte, noch auch ohne die er­

neute Berührung der Gemüther von Gott — zunächst der Hervor­ ragenden, sodann der von denselben angeregten Massen würde

haben finden, und,

jemals

wenn gefunden — würde haben fassen

können. — Diese Erkenntniß der Gottesnähe, die Anerkennung der

Möglichkeit lebendiger und darum auch eigenthümlicher Einwirkung Gottes auf Menschen und Welt, mit einem Worte fortgehender Lebens­

mittheilung und Offenbarung Gottes: Das ist der Vorzug dieser Auf­

fassung,

vermöge deren nun auch Jesus besser verstanden

werden

kann, als bei jener ersten. Jesus Christus war ein Prophet, „ein auserwähltes Rüstzeug

Gottes".

Als solchen,

als den Propheten von Nazareth, hat ihn

seiner Zeit nicht nur das Volk in freudiger Zustimmung begrüßt, sondern auch seine Jünger haben gemeint, ihn richtig zu bezeichnen,

wenn sie ihn mit diesem Namen nannten (Luk, 24, 19). 18*

276

2. Hauptstück.

Zweiter Artikel.

Person des Erlösers.

Aber Jesus war nicht nur ein Prophet!

Wir vermögen uns

die Höhe wie die Schranken des Prophetenthums nicht deutlicher zu machen, als an der Vergleichung, welche Ebr. 1, 1—3 zwischen

I. Christus und den Propheten anstellt: „Nachdem Gott vor Zeiten

manchmal und auf mancherlei Weise geredet hat zu den Vätern

durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn, welchen er gesetzt hat zum Erben über alles, durch welchen er auch die Welt gemacht hat.

Welcher, sinte­

mal er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem mächtigen Wort und hat gemacht die Reinigung unserer Sünden durch sich selbst, hat

er sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe."

Hier wird zunächst die Offenbarung, welche Gott den Vätern durch die Propheten hat zu Theil werden lassen, als eine nicht stetig

verlaufende, ununterbrochene, zu allen Zeiten gleichmäßige, sondern

als eine in mannigfachen Unterbrechungen auftretende bezeichnet. Manchmal traten Propheten auf, oft mehrere mit einem Male,

dann kamen wieder andere Zeiten, in denen die prophetische Stimme ganz schwieg.

Dasselbe, was hier von der Reihe der Propheten

ausgesagt wird, daß nicht einer den andern in ununterbrochener

Folge ausgenommen habe, — ganz dasselbe muß doch auch von der Weise gesagt werden, wie sich Gott den einzelnen Propheten und durch sie kund that. Auch ihre Offenbarungen bilden keine stetige

Reihe, sondern manchmal redete Gott durch sie: da standen sie hoch über allen andern Menschen, Dolmetscher des Willens Gottes, Deuter seiner Führungen, Verkündiger seiner Wahrheit, Männer des

Geistes und der Kraft, die Gottes Befehle ausführten: dann aber kamen wieder andere Augenblicke, Tage, ganze Zeiträume, da redete Gott nicht durch sie, sondern sie redeten und thaten gleich andern Menschen, was vielleicht — Gott nicht gefiel.

Den Beleg dafi'ir

bildet namentlich eine Episode aus dem Leben eines der gewaltigsten

unter diesen Männern, der eben deshalb von je als der Repräsen­ tant des Prophetenthums betrachtet wurde,

des Elias, wenn wir

dieselbe ganz so, wie sie die heilige Ueberlieferung giebt (1 Könige,

Kap. 18. 19), auf uns wirken lassen. Auf dem Karmel hat Elias, der Mann Gottes, den götzendienerischen Hof, das schwankende Volk

Jesus Gottes Sohn: Deutungen: Jesus der größte Prophet.

„Ihr opfert euerm Gott, und ich

zum Gottesgerichte aufgerufen.

werde meinem opfern. Gott."

277

Wesfen Gott mit Feuer antwortet,

der ist

Und es rüsten die Priester des Baal ihr Opfer, und um­

tanzen es, und zerreißen ihren Leib mit Pfriemen, Baal zur Ant­ wort zu bewegen. Aber die Sonne geht zur Rüste, und Baal schweigt.

Da erhebt Elias zu Jehovah seine Stimme: „Herr Gott Abrahams, Isaaks und Israels, laß heut kund werden, daß du Gott in Israel

bist, und ich dein Knecht, und daß ich solches alles nach deinem

Worte gethan habe."

Und niederzuckt der Blitz und frißt das Opfer,

und frißt den Altar und verzehrt das Wasser in der Grube, die

um den Altar gemacht war.

Gott hatte auf Eliä Flehen geant­

wortet. — Doch vom Berge herab wälzt sich das Volk; zum Bache

hin, der drunten rauscht, reißt es die Priester des Baal und schlachtet

sie, 450 Mann — aus Eliä Gebot.

War das auch Gottes Befehl?

Unser Herr Jesus hat es verneint.

Als einst Samariter ihm die

Gastfreundschaft weigerten, und seine Jünger, über diesen Frevel ge­ reizt, ihn fragten: ob sie nicht bitten sollten, daß Fener vom Himmel auf diese Gottlosen falle und sie verzehre, wie Elias gethan: da

bedrohte er sie: „wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid?

Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten!" (Luk. 9, 51—56.) — Ja, schon der alte Bund hat es verneint, an derselben Stelle, wo er jenes

berichtet.

Denn was zeigt doch der weitere Verlauf der Erzählung?

Elias, trotz des anfänglichen Erfolges im Volk, hat vor der durch

seine That auf's äußerste gereizten götzendienerischen Königin flüch­

ten müssen.

Weit, weit ab im Süden Juda in einer Höhle sitzt er,

der gebeugte, mit Gott und mit sich hadernde Mann. geeifert um den Herrn Zebaoth;

„Ich habe

denn die Kinder Israels haben

deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Pro­

pheten mit dem Schwerte erwürgt; und ich bin allein übrig ge­

blieben: und sie stehen danach,

daß sie mir das Leben nehmen."

Und Gott sprach: „Geh heraus, denn ich will mit dir reden."

Und

der Herr ging vorüber, ein großer starker Wind, der die Berge zer­

brach und die Felsen zerriß, vor ihm her: und der Herr war nicht

in dem Winde.

Und nach dem Winde ein Erdbeben: und der Herr

war nicht i» dem Erdbeben.

Und Nach dem Erdbeben ein Fener:

278

2. Hauptstück.

Zweiter Artikel.

Person des Erlösers,

und der Herr war auch nicht in dem Fener.

Und nach dem Feuer

ein stilles, sanftes Sausen: und der Herr redete mit Elias.— Das­

selbe , was uns hier auf das anschaulichste cntgegentritt, sehen wir an einem andern großen Propheten,

dem andern Elias,

dem der

Herr das Zeugniß giebt, daß er wohl noch mehr, denn ein Prophet,

gewesen sei.

An dem Jordan sieht er den Himmel sich öffnen und

den Geist Gottes auf Jesum herabkommen und über ihm bleiben, lind zeugt: „Dieser ist's, von dem ich euch gesagt habe, daß er nach mir kommen werde": „Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt." Nachher im Gefängniß wird selbst dieser Gewaltige und Feste, wenn auch nicht an der Person, so an der Weise Jesu irre und richtet an

ihn, sei es die zagende, sei es die spornende Frage:

„Bist du, der

da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?"') „Manch­ mal hat Gott zu den Propheten und durch sie geredet,

manchmal

auch nicht!"3)

Wie nun aber das Leben keines Propheten stetig von Offen­

barung durchdrungen war, so war weiter auch kein Offenbarungs­ moment nur von ihr und von ihr ganz erfüllt; kein einzelner Mann

und kein einzelner Moment war der volle,

adäquate Ausdruck der

vollkommen reine und

göttlichen Kundgebung:

sondern,

wie

die

Schrift sagt, auf mancherlei Weise redete Gott durch sie: in dem einen so, in dem andern anders, schwächer, stärker,

auch in allen zusammen nicht vollkommen.

wendigkeit aus jenem ersten,

in keinem und

Das folgt mit Noth­

sofern ja stets die der Offenbarung

entbehrenden, geistesleeren Momente auf die geisterfüllten ein- und in ihnen nachwirken mußten.

Aber es wird auch durch den Augen­

schein, wie durch Aussprüche des Herrn, bestätigt: Luk. 10, 23. 24; Matth. 11,11; cf. 2 Kor. 4, 7; 1 Kor. 13, 9. 11.12; 1 Kor. 7,10. 12.

Dessen sind sich die Propheten anch bewußt.

’) Jvh. 1, 29—34.

Matth. 11, 2—11.

Sie selbst stellen

„Neuerdings hat man streiten wollen

daß Johannes jenials eine Erkenntniß gehabt und ein Zeugniß abgelegt haben „könne" (?), wie der Berichterstatter ihm zuschreibt. Aber die Worte Jesu, „Selig ist, der sich nicht au mir ärgert", bekunden unwiderleglich, daß Johannes am Jordan von Jesu Eindrücke empfangen habe, denen gegenüber seine Frage eine unberechtigte nnd ein Nückschritt war!" 2) Vergl. noch 2 Sani. 7, 2 s.

Jesus Gottes Sohn: Deutungen: Jesus der größte Prophet. •

279

die Offenbarungen, die ihnen zu Theil werden, als einzelne dar, die an und über sie kommen, also auch wieder gehen: „das Wort Gottes geschah zu mir", ähnlich.

„die Hand des Herrn kam über mich",

und dem

Gleicherweise sind sie sich ihrer Berufung zum Propheten­

amte als einer einzelnen, in einem bestimmten Momente erfolgenden,

äußerlichen bewußt.

„Des Jahres, da der König Usia starb", be-

richtet Jesaias, „sah ich den Herrn sitzen auf hohem und erhabenem Stuhle" u. s. w. (Jes. 6, 1f.).

„Dies sind die Geschichten Jeremias",

heißt es bei diesem, — „zu

welchem das Wort des Herrn geschah

zur Zeit Josias — im dreizehnten Jahre seines Königreichs" u. s. f.

„Im

dreißigsten Jahre am

ich war unter

fünften Tage des vierten Monats, da

den Gefangenen

am Wasser Chebar, that sich der

Himmel auf, und Gott zeigte mir Gesichte" — und: „Es begab sich

im sechsten Jahre am

fünften Tage des sechsten Monats, da saß

ich in meinem Hause — daselbst fiel die Hand des Herrn auf mich": berichtet unter noch genauerer Zeitangabe Ezechiel (1, 1 und 8, 1).

ähnlich

Und

die andern. — Ja noch mehr: die Träger dieser ein­

zelnen, kommenden

schließlich

und gehenden Offenbarungen fühlen

den Inhalt derselben, fühlen Gott und das Göttliche als etwas ihrem Wesen Fremdes.

„Wehe mir",

spricht z. B. Jesaias,

als er

die

Offenbarung empfängt, „wehe mir, ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volke von unreinen Lippen.

Denn

ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen"

(Jes. 6, 5).

Aehnlich betet David: „verwirf mich nicht von deinem

Angesicht, und nimm

deinen heiligen Geist

nicht von mir" (Ps.

51, 13). Ist das

bei Jesu

auch so? Es ist die übereinstimmende An­

schauung der evangelischen Berichte, es ist der Eindruck, den er auf

uns macht, es ist sein eignes Bewußtsein: daß er den Geist Gottes bleibend in sich getragen habe.

Nirgends unterscheidet et, und auch

wir unterscheiden nicht, was er aus. Gott,

und, was er aus sich

redet: sondern alles redet und thut er aus dem Bewußtsein derselben Geistes- und

Gottesfülle').

*) Joh. 14, 10. selber.

Ebenso

wenig weiß er von

einer in

„Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich uicht von mir

Der Vater aber, der in mir wohnet, derselbige thut die Werke."

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Person des Erlösers.

280

einem einzelnen Momente erfolgten Berufung oder Sendung: obschon

allerdings auch er sich als einen von Gott Gesandten darstellt (Joh. 17, 3):

aber seine Sendung ist das

Geistes, der in ihm wohnt.

gleichmäßige Bewußtsein des

Nicht einmal von einer Steigerung, von

Zwar dem Wechsel

einem Mehr oder Minder ist bei ihm die Rede.

der Stimmung ist er unterworfen, wie jeder Mensch; ebenso ist die

Energie des Lebens, näher des Willens und des Bewußtseins, nicht immer die

wir ihn doch der Ruhe bedürftig,

gleiche (sehen

Schlafe hingegeben):

macht

Geiste Gottes

dem

auf das Erfülltsein vom

in Beziehung

nur

das keinen Unterschied.

Dies bleibt dasselbe

und tritt in gleicher Weise heraus, wo die höchste Kraftanstrengung von ihm gefordert wird,

und,

wo er sich im Gespräche mit seinen

Jüngern ergeht. — Am wenigsten finden wir bei ihm Trübung und

Verdunklung des Gottesbewußtseins und der Gottesoffenbarung: son­ dern hell und klar, wie die Sonne am wolkenlosen Himmel, spiegelt

er die Wahrheit ab. — Diese Stetigkeit und diese fleckenlose Rein­

heit der Offenbarung sind es, welche ihn wesentlich und nicht bloß

dem Grade nach von den Propheten,

auch den leuchtendsten, unter­

scheiden: so gewiß die Unterschiede von rein und befleckt, stetig und unterbrochen

qualitative

auch da noch

bleiben,

und

nicht bloß quantitative sind, und es

wo man sich die Unterbrechungen und Trü­

bungen ans ein geringstes zurückgeführt denkt. — Das bedingt end­

lich auch,

daß er nicht bloß der letzte der Reihe nach, sondern der

abschließende Prophet ist, nach welchem wir keines mehr zu warten

haben:

was

nicht der Fall sein würde,

bungen und Unterbrechungen,

und

wenn auch bei ihm Trü­ auch noch so seltene und

wenn

geringe, stattgefunden hätten. — Fassen wir das abermals zusammen: so leuchtet entsprechend dem, was

wir

bei

Betrachtung

der

ersten

Antwort

gefunden

haben,

wiederum ein, es genügt nicht, daß wir sagen, Jesus war ei« Pro­

phet;

auch nicht,

daß

wir ihn für den ersten und größten unter

allen erklären: er ist vielmehr „der Prophet" d. i. der eine („Ein-

geborne"), schlechthin vollkommene Dolmetscher Gottes, der in Wort und That

die göttliche Wahrheit voll und in vollendeter Reinheit

verkündet, „der Erbe über oUe§"').

') Bergt. Matth. 11,27. - Joh. 16, 14. 15.

„Derselbige (der Geist der

281

Jesus das Person gewordene Wort.

3) Damit sind wir wesentlich schon bei dem dritten angelangt.

Was

sich in

andere in einzelnen Strahlen eingesenkt nnd einzelne

Lebensmomente erfüllt hat, das hat sich diesem Menschen') in seiner ganzen Fülle mitgetheilt, und dieses Leben

in einer Weise durch­

drungen, daß es aus jedem Momente voll und ganz wiederstrahlt. Das Wort, welches von Anfang bei Gott und das Licht der Menschen

war, das in die Finsterniß scheint, und die Finsternisse haben es nicht

begriffen (Joh. 1, 4. 5): dies Wort ist in Jesn „Fleisch" d. i. Mensch

geworden.

So ist nun dieses „Fleisch",

liche Erscheinung

d. h.

ist die Person gewordene Offenbarung.

die gesammte

Oder:

dieses Menschen „Wort".

Jesus

zeit­

Christus

Andere vor ihm und nach

ihm lehren die Wahrheit, zeigen den Weg, verkünden das Leben mehr

oder minder lauter: Er „ist der Weg, die Wahrheit und das Leben:

niemand kommt zum Vater,

und

durch ihn" (Joh. 14,6).

denn

Auch andere verkünden hohe und heilsame Wahrheit, und ermahnen und zeigen in mächtigen Worten das Ziel:

nicht an

ihr Wort.

Leben Wort.

Bei Christus ist

selbst reichen

aber sie

das Wort Leben, und das

Er lehrt nicht bloß den Vater, er offenbart ihn; er

ist „das Ebenbild seines Wesens und der Abglanz seiner Herrlichkeit", so weit sich eben Gott in einem menschlichen Dasein darstellen und

mittheilen kann. — Und er ist das immer und in jedem Augenblicke. Ob er rede oder schweige, handle oder leide, wache oder schlafe: — noch in seinem Schlafen im Schiffe (Matth. 8, 24) stellt er die Höhe

seines Gottvertranens,

den

Gottesfrieden

Thätigkeit nicht gefordert ist, schlafen kann. ist sein Tod

Tod.

dar,

der

da, wo seine

Vollends, da er stirbt,

der Sieg der Liebe und des Lebens über Sünde und

Kurz: „In ihm ist die ganze. Fülle der Gottheit leibhaftig

erschienen" (Kol. 2, 9; cf. 1 Joh. 1, 1—3): „Wer ihn sieht, sieht den Vater" (Joh. 14, 9). — 4) Es ist unmöglich diese „Herrlichkeit" zu scheu,

Wahrhcit) wird wich verklären.

euch verkündigen.

„eine Herr-

Denn von dein Meinen wird er es nehmen nnd

„Alles, was der Vater hat, ist mein:

Darum habe ich gesagt:

Er wird es von dem Meinen nehmen nnd euch verkündigen." ') 1 ant. 2, äs.

„Denn

es

ist ein Gott nnd

ein Mittler zwischen Gott

nnd den Menschen, nämlich der Mensch Christns Jcsns, der sich selbst gegeben hat

snr alle zur Erlösung."

lichkeit als des (Singebornen vom Vater voller Gnade nnd Wahr­ heit" (Joh. 1, 14), ohne daß der zu tieferm Nachdenken angelegte Mensch ans die Frage käme, wie ist solche Erfüllung eines mensch­ lichen Daseins mit einem solchen Inhalte möglich. Schon in dem Neuen Testamente treffen wir ans Versuche, diese Frage zu beant­ worten. Paulus, der wahrscheinlich Jesnm noch persönlich gekannt'), jedenfalls von ihm gehört hatte, obschon er während feines Lebens nicht an ihn glaubte; der dann nach feiner Bekehrung (Apostelgesch. 9) gemäß seiner, genauster Erforschung und Durchdenkuug zugewandten, Richtung nicht umhin gekonnt hat, sich die eingehende Kenntniß der Worte und Thaten Jesn zu verschaffen, die er gelegentlich ver­ räth^), Panlus weiß sich dieses überwältigende Leben nicht anders zu erklären, als, daß er, von einem Begriffe Gebrauch machend, welchen ihm seine jüdische Theologie an die Hand gab, in ihm die Erscheinung des präexistirenden himmlischen Menschen, des andern Adams sieht (1 Korinth. 15, 47; Philipp. 2, 5f.; 2 Korinth. 8,9; 1 Korinth. 10, 4; Kolosser 1, 15—17). — Das Evangelium Jo­ hannis wendet aus Jesum einen andern Begriff an, welcher in der alexandrinisch-jüdischen Schule zur Zeit Jesu besonders von dem frommen und gelehrten Philo ausgebildet war: den Begriff des in einer gewissen Selbstständigkeit in Gott existireuden Schöpferwortes Gottes, der Vermittelung zwischen dem Geiste und der materialen Welt, des Inbegriffs der Idealwelt, des Bildes, des eingebornen oder erstgebornen Sohnes Gottes und gemisseruiaßen andern Gottes, *) 2 Kor. 5, 16. „Und ob wir auch Jesum gekannt haben »ach dem Fleische, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr." — Diese Bekanntschaft würde dann in die Zeit seines Aufenthaltes in Jerusalem fallen, da er den Unterricht des Gamaliel genoß (Apostg. 22, 3). 3) Es ist von äußerster Wichtigkeit zu beachten, wie Paulus, ivo ihn gerade die Gelegenheit darauf führt, ungesucht genaue Bekanntschaft mit Worten Jesu

über allerspeziellste Verhältnisse zeigt: ein Beweis, wie sorgfältig er sich danach erkundigt haben muß. Wir führe« an: seine Mittheilung über daS Abendmahl 1 Kor. 11, über die Lehre Jesu von Ehe nnd Ehescheidung (1 Kor. 7, 10. 12, be­ sonders 25: „über die Jungfrauen habe ich kein Gebot des Herrn": also auch danach hat er gefragt), über das Recht der Verkündiger des Evangeliums auf

Lebensunterhalt (1 Kor. 9, 14), über die letzte» Dinge: (1 Theffal. 4, 15); — das sonst nirgends erwähnte Wort Jesn: „Geben ist seliger, denn nehmen" (Apostelg.

20, 35).

Geschichtliche Entwicklung der Lehre von Jesu als Gott, dem Sohn.

283

„Im Anfang war der Logos'), und der Logos war bei

des Logos.

Gott, und Gott war der Logos." — „Und der Logos wurde Mensch

mib wohnte unter uns" u. s. f. Joh. 1, 1—14.

Was hier schon in

allgemeinem Umrisse vorliegt, das hat die folgende Zeit weiter aus­ zuführen und in mehrhnndertjähriger ernster Gedanken-Arbeit das

Verhältniß des Göttlichen in Christo, oder, wie man sich ausdrückte,

„Gottes, des Sohnes", zn „Gott, dem Vater", näher zu bestimmen gesucht').

schied

Eine Anzahl christlicher Denker ließ, indem sie den Unter­

zwischen Gott und dem göttlichen Logos ganz aufhob,

Vater selbst vom Himmel kommen

und

in Jesu wohnen.

den

Man

fragte mit Recht: war denn der Himmel gottentleert? Wo war Gott,

da Christus am Kreuze hing? — Ein späterer Kirchenlehrer (Sabeüius) sah in dem Göttlichen, was Jesum erfüllte, einen von Gott ausgehenden,

mit dem Tode Jesu wieder in ihn zurückkehrenden

Strahl der Gottheit;

ähnlich in dem h. Geiste eine sich von Gott

aus zu Gott bewegende Kraft. heit,

„Die Einheit habe sich zur Zwei­

danach zur Dreiheit erweitert oder ausgestreckt,

ziehe sich wieder zur Einheit zusammen."

die Dreiheit

(Das Bild ist von dem sich

ausstreckenden und wieder herangezogenen Arme hergenommen.) Aber

damit war die bleibende Persönlichkeit und Fortexistenz des geschicht­ lichen Christus gefährdet, die selbstverständlich mit der Rückkehr des

göttlichen Strahles erlöschen zu müssen schien.

Um diese Persönlich-

’) Wir sönnen nicht übersehen „der Wort"; und wenn wir es konnten, so würden mir damit auch »och nicht den Sinn des ursprünglichen Ausdrucks, der ein viel mehreres bezeichnet, als, was wir unter „dem Worte" verstehen, erschöpfen. Ich habe, wo es darauf ankaui, das Unübersehbare dem schlichteren Verständnis; nahe zn bringen, dem Bedürfnis; am meisten zu entsprechen und zugleich dem ge­ schichtlich gegebenen Sinne am nächsten zu kommen gemeint, wenn ich auslegte: „Im Anfang war die Offenbarung", mit der Hinweisung darauf, daß darunter nicht nur das nach außen heraustretende Offeubarioerdeu Gottes, sondern auch das demselben zu Grunde liegende innergöttliche Sieben, das Quitten der Offenbarung in Gott (wissenschaftlich ausgedrückt das „Prinzip" der Offenbarung) zu ver­ stehen sei. 2) Mau achte genau auf beit Unterschied: der biblische Ausdruck, wie der des Apostolischen Glanbensbekenutnisses, „der Sohu Gottes", bezeichnet den geschicht­ lichen Christus: der mm auftretende, jenen beide» fremde, „Gott/ der Sohn" oder kurzweg „der Sohu", bezeichnet dagegen das göttliche Wese», das in dem geschichtliche» Christus erschienen ist.

284

2. Hauptstück.

Zweiter Artikel.

Person des Erlösers.

feit zu retten, schrieb im geraden Gegensatze dazu Arins im vierten Jahrhundert dem

in Christo

erschienenen „Sohne"

„Hypostase"

d. i. selbstständige Existenz in Gott zu, leugnete aber um der Ein­

heit Gottes willen

die Gleichheit dieser göttlichen Hypostase (des

„Sohnes") mit Gott, und lehrte, „der Sohn" sei ein Geschöpf Gottes

und geringer, als Gott:

ansdehnte.

was seine Schule dann auf den h. Geist

Das war begrifflich ein Rückschritt in's Heidenthum;

denn es war nicht mehr und nicht minder,

als die Annahme von

einem obersten Gott und zweien Untergöttern,

der Ansatz zu einer

ganzen Mythologie. Nicht minder wurde das christliche Interesse dadurch

verletzt, daß die Offenbarung in Christo nicht die Offenbarung Gottes selbst,

sondern nur eines untergeordneten Wesens schien.

So trat

denn endlich Athanasius mit seiner sowohl dem Sabellius wie dem Arius entgegengesetzten Lehre auf, kraft welcher er ebenso die eigne Hypostase als auch die Wesensgleichheit mit dem Vater behauptete.

des göttlichen Sohnes

Und diese Lehre ist sodann, freilich erst

nach heftigen Kämpfen und nicht ohne Einmischung äußerer Gewalt

und Mitwirkung fremdartiger Motive, zur Kirchenlehre geworden').

Ueberblicken wir diese Entwicklung,

wer wollte nicht die ange­

strengte Gedankenarbeit anerkennen, mit welcher Jahrhunderte hin­

durch die hervorragendsten Männer um die richtige Erkenntniß in diesen Punkten

gerungen

haben, wer die innere Nöthigung ver­

kennen, welche in dieser Entwicklung obwaltete; so wie, daß in der

That jeder dieser Lehrer auf jeder Stufe in dem, was er verneinte,

Recht hatte,

und Unrichtiges und Unzureichendes nur in dem zu

finden ist, was er dagegen behauptete? Sabellius hatte Recht, daß

unmöglich der Vater den Himmel könne leer gelassen haben, um so

*) Die Bestimmungen der Synoden zu Nieaea (32j) und Constantinvpel (381), durch welche die Athanasianische Lehre Anerkennung erhielt, lauten: „Wir glauben an einen Herrn I. Christum, den eingebornen Sohn Gottes, vom Vater vor aller Zeit geboren, Licht von Licht, wahrhaftiger Gott düiii wahrhaftigen Gott, geboren, nicht geschaffen, mit dem Vater gleichen Wesens (homöüsios), durch welchen

alles wurde, welcher rc." Die unterstrichenen Wörter enthalten die eigentlichen Streitpunkte, namentlich das letzte bildet das Stichwort. — Ihre schärfste Aus­

prägung hat die Lehre bekanntlich in dein sogenannten Athanasianischen Glanbensbekenntniß gefunden, welches seine Entstehung jedoch erst dem sechsten, lmcT) andern

Forschern dem achten Jahrhundert verdankt.

285

Geschichtliche Entwicklung der Lehre von Jesn als Gott, dein Sohn.

und so viele Jahre in Jesu zu wohnen; Arius: daß das Göttliche in Jesu nicht ein

vorübergehendes,

Jesus

selbst

schwindende Erscheinung gewesen sei; Athanasius:

nicht

eine ver­

daß

der Sohn

und der Geist nicht als Gottheiten zweiten Ranges, die Offenbarung

in Christo nicht als eine nicht das Wesen Gottes abspiegelnde dürfe

angesehen werden.

ihnen bei: ruhen?

In alle dem haben sie Recht, und wir stimmen

können wir nun aber auch in ihren Bejahungen aus­

In den früheren entschieden nicht!

letzten, in der des Athanasius?

Aber vielleicht in der

Wahrscheinlich ist solches schon um

des bereits erwähnten Umstandes willen nicht, daß die Anerkennung

derselben nicht durch gegenseitige Verständigung zu Stande gekommen ist,

sondern durch Anwendung von Gewalt und Austreibung

der

Widersprechenden aus ihren Aemtern und aus der Kirche; und daß der Widerspruch, der damit natürlich nicht zum Schweigen gebracht

war, schließlich nur aufhörte, theils, weil in der nun einbrechenden Barbarei überhaupt kein Raum mehr für dergleichen Gedankenarbeit

war, theils, weil sich das Interesse andern Gegenständen zuwandte. Wahrscheinlich ist es auch darum nicht, weil diese ganze Verhand­

lung eigentlich eine griechische, wesentlich von der griechischen Kirche

geführte und nur im Gebiete griechischer Sprache und Bildung ganz

verständliche war.

Schon die Römer folgten derselben nur in zweiter

Reihe, wie denn schon sie für den bei weitem entscheidendsten Aus­

druck „Hypostase"

keinen

entsprechenden hatten.

Denn das dafür

gesetzte persona bezeichnet viel etwas Derberes und, daß ich so sage,

Massiveres.

Vollends

ist

unser

deutsches

„Person"

bei

unserer

scharfen Ausprägung des Begriffes der Persönlichkeit, schärfer, als sie je einer der Alten gehabt,

etwas anderes, als der viel flüchtigere,

viel verschwimmendere Ausdruck „Hopostase". — Sehen wir vollends

die Lehre selbst an, wie sie ohne weitere Entwicklung, ja im wesent­ lichen ohne lebendige Diskussion stumm und unbeweglich und darum

unserm jetzigen Denken fremd, im Laufe so vieler Jahrhunderte auf

uns gekommen ist: „Ein persönlicher Gott; in demselben aber drei Personen, die in demselben Sinne Person sein sollen, wie Gott; und von diesen drei Personen die zweite als göttliche Natur sich mit einer mensch­

lichen Natur abermals zu einer Person verbindend, welche Per-

286

2. Hniiptstück.

Zweiter Artikel.

Person des Erlösers.

son ist gerade, wie die drei Personen und der persönliche Gott,

und nun mit dieser von ihr angenommenen menschlichen Natur zur Rechten des persönlichen Gottes sitzt und mit ihm eine Per­

son ist": so

ist

das etwas, was vielleicht mancher sich

ehrlich

bemüht zu

glauben, wovon aber niemand wird behaupten können, daß es unser Denken befriedige. — zeigt sich die Lehre von Christo nach beiden Seiten als

So

eine noch nicht fertige, ob wir seine Menschheit, oder ob wir seine

Gottheit in das Auge fassen. Sollen wir deshalb mit unserm Glau­

ben an ihn warten, bis sie fertig sein wird? Das haben wir ebenso wenig nöthig,

als unser Heil von diesem Fertigwerden abhängt.

Christus ist kein System, das bis zu einem gewissen Grade vollendet sein muß,

ehe man es annehmen und sich davon befriedigt fühlen

kann. Er ist eine lebendige geschichtliche Persönlichkeit, die als solche,

abgesehen von jenen Geheimnissen, Glauben in Anspruch nimmt und — wirkt.

Allerdings wird man diese Persönlichkeit, je inniger man

an ihr hängt, auch zu verstehen suchen.

Aber man wird auch der

Bedingungen wie der Schranken dieses Verständnisses sich bewußt

bleiben müssen. ihn versenken:

Wer Jesum verstehen will, der muß sich liebend in derohne versteht man überhaupt niemanden.

„Fides

praecedit intellectum„das Glauben geht dem Begreifen voran!" Andererseits darf man sich nicht wundern,

daß, wo wir bei jedem

Großen und Ursprünglichen auf nicht zu Erkennendes und Unerklärtes

stoßen,

dies in viel höherem Maße bei diesem schlechthin einzigen

Menschen^ der Fall ist. Er selbst spricht: „Niemand kennt den Sohn,

denn nur der Vater, und niemand kennt den Vater, Sohn und, wem es der Sohn will offenbaren."

auf sich nimmt und

lernet von ihm,

denn nur der

Doch: wer „sein Joch

der wird Ruhe finden für

seine Seele" (Matth. 11, 27 f.). — Am wenigsten darf man

das

Heil von der Erkenntniß jenes metaphysischen über die zeitliche Er­ scheinung Jesu hinausliegenden Verhältnisses und vorzeitlichen Ur­ sprunges Jesu in Gott abhängig machen, wie es das athanasianische Symbolum thut').

Das ist, so auffallend es klingen mag, unrefor-

’) „Wer will selig werden, der nrntz vor allein den rechten christlichen Glau­ ben haben. Wer denselben nicht ganz und nicht rein hält, der wird ohne Zweifel

Das Heil nicht abliängiq matorisch');

doii

metaphysischen Vorstellungen über Jesus.

das widerspricht der Schrift.

gefordert, Brod vom Himmel zu geben, dem Volke Manna zu essen gegeben habe.

287

Joh. 6 wird Jesus auf­ wie Moses in der Wüste Er erwidert darauf: er

habe ihnen keine andere Speise zu bieten, als sich, und zwar sich in

seiner zeitlichen Erscheinung (in seinem Fleisch), für das Leben der Welt hinzugeben.

die er bereit sei,

Wer dieses Fleisch esse, d. i.

sich ihn in dieser seiner Erscheinung zu eigen mache, und sein Blut trinke — will sagen die göttlichen Lebens- und Liebeskräfte in sich aufnehme, die in dieser Erscheinung, namentlich aber in seiner Dahin­

gabe in den Tod der Menschheit entgegen kommen, ewige

Leben,

und

er werde ihn

(v. 30. 31—48. 51. 54).

stellung zwischen v. 54 und 57.

auferwecken

der habe das

am jüngsten

Tage

Namentlich beachte man die völlige Gleich­

„wer mich

isset"

und

„wer mein Fleisch isset"

Heißt das nicht klar und deutlich:

was

fordert ihr

„Himmlisches", Aufschlüsse über innergöttliche Geheimnisse, die nie­

mand ergründen kann: haltet euch an die Offenbarung „im Fleisch",

die euch gegeben ist und euch beseligen kann?

Ist das nicht die

dringendste Aufforderung, nicht — das Nachdenken aufzugeben,

das

hat schon Paulus und Johannes nicht gethan, aber das Leben, die

Geschichte, die That höher zu achten, als alle Spekulationen,

und

mit und von allem unserm Denken schließlich immer wieder bei „Jesu

ewiglich dertöten gehen. Dies aber ist der rechte christliche Glaube, das; wir einen einigen Gott in drei Personen und drei Personen in einiger Gottheit ehren." — Nun folgt in schärfster dogmatischer Ausprägung die Lehre, sowohl von der Tri­ nität in Gott, als auch von beit beiden Naturen in Christo. Und das ganze schließt wieder: „Das ist der rechte christliche Glaube: wer denselben nicht fest und treulich glaubt, der kann nicht selig werden." ') Der erste Versuch einer evangelische» Glaubenslehre, in welcher sich der ursprüngliche Wille und die eigentliche Richtnng der Reformation viel energischer aussprach, als in spätern Erzeugnissen, selbst der Augsburgischen Konfession, Melanchthvus hochberühmte loci theologiei enthalten über die Dogmen von der Tri­ nität, der Menschwerdung, der Schöpfung kein Wort. „Bei diesen verweilen hieße Erklärung des Unerklärbaren, woran die Scholastik (die Schulthevlogie des Mittelalters) sich müde gearbeitet habe; und würde wieder in die alte Grübelei zurückführen. Nicht, daß er über jenes Unbegreifliche genaue Auskunft giebt, macht den Christer,; sondern zu missen, was Sünde, Gesetz, Gnade sei: denn darin wird Christus erkannt. — Christum erkennen heißt seine Wohlthaten erkennen, nicht über die beiden Naturen und die Art der Menschwerdung mit scholastischer Vielwisserei spekuliren." (cf. Gaß: Geschichte der Protest. Dogmatik 1, 25.)

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Person des Erlösers.

288

Christo, dem Gekreuzigten" (1 Korinth. 2,2), dem menschgewordenen Worte, einzukehren und in seiner Anschauung Ruhe zu finden für

unsere müde gewordenen Seelen?

Der nächstfolgende Ausdruck, den Luther bereits in die Erklä­

rung des vorangehenden ausgenommen hat, empfangen vom hei­ ligen Geiste, erhält für das schlichtere Verständniß seine Erklärung durch den Gegensatz, in welchen dies: „welcher vom h. Geist empfan­

ist" zu dem:

gen

„welcher den h. Geist empfangen hat"

tritt.

Letzteres ist die Lehre der Ebioniten, nach welcher Jesus bis zu seiner

Taufe ein sündiger Mensch gewesen, und erst in

dieser den Geist

Gottes empfangen habe und zum Christus geworden sei.

Nun ist

ja nach allem, was die Evangelien über die Taufe Jesu berichten, nicht zu zweifeln, daß dieselbe von größerer Bedeutung gewesen sei, als

man ihr gewöhnlich zuschreibt.

Es ist nicht unwahrscheinlich,

daß sie nicht bloß dazu gedient hat, ihn dem Johannes zu offen­ baren; sondern, daß auch in ihm selbst die Gedanken der Sohnschaft Gottes und des Berufes, Retter und Heiland feines Volkes zu fein,

welche schon seine Jugend leise durchtönten (Luk. 2, 49),

welche er

danach mit steigender Klarheit in sich umhertrug, — daß ich so sage — zum Durchbruch gekommen seien; daß er hier das Zeichen, den

Wink Gottes, auf den er harrte, gesehen habe, Handelns für ihn gekommen sei,

habe.

daß die Zeit des

und den Entschluß dazu gefaßt

Das entspricht eben so den Gesetzen menschlicher Entwicklung,

unter welche er auch gethan war:

des Lebens Jesu und Geiste Gottes verträgt.

als es sich mit der

der stetigen Durchdringung

Stetigkeit

desselben vom

Wogegen die ebionitische Auffassung dieses

Leben zerreißt und in eine sündige und eine sündlose Hälfte spaltet: eine Trennung,

welche doch unmöglich ohne Einfluß auch auf die

letztere hätte sein können.

Je weniger wir bei Jesus

von einem

solchen Einfluß und von der Nachwirkung vorangegangener geistes­ leerer Jahre auf sein späteres Leben spüren, ja bei ihm niemals auch

nur die leiseste Erinnerung an eine solche Vergangenheit wahrnehmen, um so entschiedener werden wir bei voller Anerkennung der für

Nebernatürliche Geburt Jesu.

289

ihn Epoche machenden Bedeutung seiner Taufe der mechanischen Auf­

fassung des Ebionitismus entgegen treten: sesthalten:

vielmehr mit der Kirche

daß Jesus durch ursprüngliche Ausrüstung von Gott be­

reits bei seinem in's Leben Treten alles das im Keime in sich ge­ tragen habe, was er danach im Gehorsam gegen Gott in freier sitt­

licher Bethätigung zur Völligkeit entwickelt und herausgestellt: oder, daß er als der „Sohn Gottes" in die Welt gekommen und geboren,

und nicht erst bei seiner Taufe dazu gemacht worden sei. Daß eine derartige Ausrüstung eine

entsprechende Einwirkung

der, bei allem irdischen Geschehen unschaubar neben der kreatürlichen

Vermittlung einhergehenden, göttlichen Ursächlichkeit auch bei dem leiblichen Entstehen des Erlösers in sich schließe, versteht sich von

selbst, und wird schließlich nur von einem Gedankenlosen oder von einem solchen, der überhaupt Gottes lebendige Einwirkung aus die Welt leugnet, in Abrede gestellt werden.

Wer dagegen diese fort­

währende Einwirkung Gottes anerkennt, der wird sich nicht weigern, das in das Leben Treten des Herrn in jeder Beziehung,

dieser als eine Wirkung schöpferischer Gotteskräfte, Schöpfung anzuschauen.

Dagegen hat die Form,

auch in

als eine neue

welche diese Er­

kenntniß in den Anfängen der Evangelien des Matthäus uud des Lukas und danach in der Kirchenlehre angenommen hat:

die Ent­

stehung des Herrn nicht, wie bei uns allen, von einem Elternpaare,

sondern von einer jungfräulichen Mutter: Bedenken

erregt;

mehr und mehr gerechte

und weigern sich nachgerade die ernstesten

und

frommsten Denker, das, was die Schrift hierüber enthält, als Ge­

schichte anzuerkennen.

Die Gründe, welche sie anführen, sind fol­

gende: 1) Weder der Herr noch einer der Apostel berufen sich jemals

auf diese Art seiner Entstehung, trotzdem der oft wiederkehrende Vor­ wurf: „Ist dieser nicht des Zimmermanns Sohn?" wohl dazu Ver­

anlassung gegeben hätte.

2) Wir finden überhaupt von dieser Kind­

heitsgeschichte Jesu in der gesammten andern h. Schrift keine Spur.

3) Die Auffassung,

nach welcher Joseph nur der Pflegevater Jesn

gewesen wäre, widerspricht den eignen Voraussetzungen der Evange­ listen, welche beide, besonders Matthäus, die Abkunft Jesu von David

mittelst des Joseph nachzuweisen bemüht sind. des Joseph leistet nicht, Eltester. ÖLUerralkn.

4) Die Ausschließung

was sie nach der orthodoxen Lehre leisten

2. Auflage.

19

290

2. Hauptstück.

Zweiter Artikel.

Person deS Erlösers.

Es soll durch dieselbe der Zusammenhang mit der sündigen

soll.

Menschheit aufgehoben, den.

und die Sündlosigkeit Jesu begründet wer­

Aber der Zusammenhang mit der sündigen Menschheit bleibt,

so lange er auch nur eine menschliche Mutter hatte.

Darum bleibt

für diejenigen, welche auf diese Weise die Sündlosigkeit Jesu deduciren wollen, nichts übrig, als entweder mit dem neuesten römischen

Dogma die sündlose Empsängniß schon der Maria zu behaupten (was

folgerichtig auf die Behauptung einer sündlosen Reihe in der Mensch­ heit bis auf Adam hinführen und schließlich die Erscheinung des Herrn überhaupt

unnöthig

machen würde);

oder mit den

alten

Gnostikern die Wirklichkeit, wie des Lebens, so auch der Empsängniß

und Geburt Jesu zu leugnen und die Maria nur als den Kanal anzusehen, durch welchen der Erlöser zum Scheine durchgegangen sei.

5) Die Ausschließung des Joseph ist nicht nöthig.

Hat Gottes Ein­

wirkung vermocht, die Uebertragung der Sünde auf Jesum von der Maria her zu verhindern, so wird sie auch im Stande gewesen sein,

dasselbe zu wirken, wo wir die Entstehung Jesu von einem Eltern­ paar annehmen. — Aus alle dem ergiebt sich die Folgerung, daß wir die betreffenden Erzählungen der h. Schrift nicht in buchstäb­ lichem Sinne als Geschichte (dem stehen neben alle diesem noch die

nicht aufzulösenden Widersprüche entgegen, welche zwischen den beiden

evangelischen Berichten in Beziehung auf diese Kindheitsgeschichten obwalten, so wie die Durchsetzung derselben mit offenbar poetischen, besonders lyrischen Elementen):

sondern als Einkleidung christlicher

Gedanken in Form der Geschichte anzusehen, insbesondere das „Ge­ boren von der Jungfrau Maria" als eine derbere Ausprägung des Glaubens

an- die

hier

eingetretene schöpferische Thätigkeit Gottes

anzusehen haben'). *) Es versteht

sich von selbst, doch soll es noch ausdrücklich gesagt werden,

daß ich in dem Jugendunterrichte aus naheliegenden Gründen

auf dies Kapitel

niemals eingegangen bin; sondern mich mit demjenigen begnügt habe, was sich in

der oben angegebenen Weise ließ.

Im übrigen habe

ich,

im Gegensatz zu dem Ebiouitismus deutlich machen

dem Grundsätze getreu,

Gegensätze nicht verschweigen dürfe,

daß man der Jugend die

auf welche sie im Leben mit Nothwendigkeit

treffen muß, ja, die vielleicht schon im Augenblicke mit schneidender Schärfe an sie

herantreten, „gelegentlich" mitgetheilt, schnitte der h. Schrift,

daß es viele Christen gäbe,

welche die Ab­

auf welche diese Ausdrücke Hinweisen, nicht buchstäblich,

291

Uebernatürliche Geburt Jesu.

Man würde sehr Unrecht thun, wenn

man diese Ansicht be­

schuldigte, daß sie

die schöpferische Einwirkung Gottes bei der Ge­

burt Jesu leugne.

Dieselbe wird von diesen Männern ebenso gut

und ebenso stark behauptet,

als von denen,

welche die Geburt von

einer Jungfrau festhalten: nur in andrer Weise.

ein Attentat

darin

wäre

man doch

gegen die Schrift.

Ebenso wenig liegt

Zu einem solchen Vorwurf

höchstens von einem Standpunkte aus berechtigt,

welcher jeden Buchstaben der h. Schrift als einen unmittelbar vom

heiligen Geiste eingegebenen ansieht,

schichte Erzählte ohne weiteres

dazu jedes in Form von Ge­

für Geschichte

nimmt.

Unmöglich

kann der Unrecht thun, welcher die Schrift nimmt, wie sie sich selbst giebt. sich

Und es ist eben die Frage, ob nicht diese Kindheitsgeschichten

schon durch ihre eigene Beschaffenheit,

znsammenhange

vollends im Gesammt-

der h. Schrift nur als Einkleidungen urchristlicher

Wahrheiten in Form von Geschichte geben.

So bleibt als das, was

uns gegen die Annahme jener, im übrigen ebenso der Frömmigkeit,

entsprechenden Auffassung einnimmt

wie dem vernünftigen Denken,

nur der Schmerz übrig, mit dem wir uns scheinen von Erzählungen

trennen zu müssen, die schon unser Kinderherz in Bewegung gesetzt,

unsere Kinderjahre wäre,

erhellt haben.

Aber selbst, wenn das der Fall

und nicht vielmehr die in diesen Erzählungen ausgeprägte

unveräußerliche Wahrheit immer bliebe, und auch die Form nimmer ihren wonnigen, wunderbar fesselnden Einfluß auf empfängliche Ge­

müther

verlieren würde: so ist Folgendes zu bedenken:

Zwei von

unsern Evangelien, das des Markus und das des Johannes, haben ja diese Erzählungen auch nicht:

ja, das

des erstem geht sogar so

weit, daß es ausdrücklich „das Evangelium von Jesus Christus, dem Sohne Gottes", erst mit dem Auftreten des Täufers Johannes „an­

fangen" läßt.

„Dies

ist der Anfang des Evangeliums von Jesu

Christo" rc. (Mark. 1, 1). wir auch

die andern

Das

haben.

hat auf uns keinen Einfluß,

weil

Bedenkt man aber, daß dies nicht

sondern als poetische Einkleidung der Wahrheit auffaßten: und daß das nicht etwa Ungläubige seien u. s. w.

Nur in solcher Weise scheint es mir möglich, das Heran­

wachsende Geschlecht vor schiveren Zweifeln, Mißtrauen oder Fanatismus zu be­ wahren, und es zu dem Glauben zu erziehen, der im Stande ist, Gegensätze, ohne irre zu werden, zu ertragen.

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Person des Erlösers.

292

immer der Fall gewesen, im Gegentheil geraume Zeit vergangen ist,

bevor sämmtliche vier Evangelien gleichmäßig durch die ganze Kirche verbreitet waren, und daß bis dahin zahllose Christen, die nur eins

der beiden über diesen Punkt schweigsamen Evangelienbücher besaßen, von diesen Erzählungen überhaupt nichts wußten: so wird auch der

ängstliche Christ mindestens das zugestehen, daß von ihrer Kenntniß oder Nichtkenntniß, also

von einer solchen oder andern Auf­

auch

fassung derselben unmöglich das Christenthum abhangen könne; und

daß man keinen Grund habe,

sei es- an dem Heile,

Christlichkeit derer zu zweifeln,

sei es an der

welche in dieser Beziehung andrer

Meinung sind. — Damit stimmt denn auch, worauf wir schon früher hingewiesen haben, die Stellung überein, welche Luther in seiner Erklärung diesen

beiden Aussagen „empfangen vom h. Geiste" und „geboren von der Jungfrau Maria" giebt,

daß er sie nämlich nicht in den Hauptsatz,

soudern in den unsern Glauben begründenden Nebensatz gestellt hat:

„Ich glaube,

daß I. Christus

(— wahrhaftiger Gott,

vom Vater

in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jung­

frau Maria geboren —) sei mein Herr."

Das ist, um es wieder

und wieder hervorzuheben, der Stern und Kern des Evangeliums, worauf zuletzt alles ankommt, daß jemand Jesum als „seinen Herrn" anerkennt und „ihm dient",

natürlich

nicht bloß mit dem Munde

und äußerlichen Geberden (wovor Matth. 7, 21 hinlänglich warnt),

sondern in der That und in der Wahrheit, turgie sagt: „all sein Vertrauen

daß er, wie unsere Li­

und seine Hoffnung auf ihn setzet

und sein Leben nach seinem Worte bessert."

Thut jemand das, so

ist die Weise, wie er zum Glauben gekommen ist und denselben sich

gedanklich

vermittelt,

nicht gleichgültig: aber

Wie der Apostel Paulus sagt: Jesum verfluchet,

daß

niemand

der durch den Geist Gottes redet; und niemand

kann Jesum einen Herrn heißen ohne

12, 3).

er ist ein Christ.

„ich thue euch kund, durch

den h. Geist" (1 Kor.

Wem es aber an dieser Hingebung und an diesem Gehorsam

fehlet: dem hilft auch die korrekteste Lehre nicht.

293

Wunder Jesu.

Wir

gehen jetzt zu dem Werke Jesu oder zu dem, was Jesus

gethan hat, über, wie solches in der zweiten Hälfte des Glaubens­

bekenntnisses in einer Anzahl einzelner Züge, in Luther's Erklärung

dagegen in seiner Gesammtbedeutung

angegeben wird.

Hier muß

uns sofort der Umstand auffallen, daß von dem ganzen so unendlich reichen Leben des Herrn,

auszuschreiben alle Bücher der

welches

Welt nicht hinreichen würden, wie der Schluß des Evangeliums Jo­ hannis sagt, so gut wie gar nichts erwähnt, sondern von seiner Ge­

burt sogleich

auf sein Leiden und Sterben übergegangen und nur

von diesem mit einer verhältnißmäßigen Ausführlichkeit, ja mit einer gewissen Häufung geredet wird.

uns

nur erinnern,

daß

Das erklärt sich jedoch, so wie wir

das Apostolische Glaubensbekenntniß nicht

eine einheitliche Conception, sondern

durch

gelegentlich

durch

den

Gegensatz gegen gewisse, die Kirche bedrohende Irrlehren entstanden

ist.

Nun

werden

die Reden und Thaten Jesu nicht leicht von je­

mandem in Abrede gestellt, wohl aber leugneten die bereits mehrfach erwähnten Doketen die Wirklichkeit der Leiden und des Todes Jesu:

daher

der Eifer der Kirche,

gleich

als könne hier nicht genug ge­

schehen, diese in immer neuen Wendungen zu bekennen: daher wahr­

scheinlich auch der sonst gar nicht zu erklärende Umstand, daß, wäh­

rend

in dem Glaubensbekenntnisse sonst,

außer der Mutter Jesu,

kein Name, auch keiner der Apostel genannt ist, der ungläubige Land-

Pfleger Pontius Pilatus aufgesührt wird: was, wenn man es nicht

einem reinen Zufall zuschreiben will, sich kaum anders erklären läßt,

als, daß man auch in dieser Weise die Realität und Geschichtlichkeit

des Leidens und des Todes Jesu hat constatiren wollen. — Auch wir gehen nicht in Jesu ein:

nicht,

die Details des Lebens und Lehrens

weil wir dieselben von keiner oder von einer ge­

ringeren Wichtigkeit, als sein Leiden und Sterben hielten, — wie

dies eine gewisse Richtung in der Kirche allerdings thut —, sondern,

weil hier nicht der Ort dazu ist.

Dazu ist einerseits der vorberei­

tende Unterricht in der Schule, aus welchem jeder die Kenntniß des

Lebens des Herrn in seinen Grundzügen bereits mitbringt, anderer­ seits die private Beschäftigung

mit der Bibel und die Theilnahme

an dem öffentlichen Gottesdienste, welche allein in dieser Beziehung

diejenige eingehende Bekanntschaft geben können, die dem evangelischen

2. Hauptstück.

294

Thaten

Werk des Erlösers.

Wir halten für nothwendig, hier nur eine Reihe

Christen geziemt.

von

Zweiter Artikel.

des Erlösers hervorzuheben,

dermalen wieder

welche

ebenso der Gegenstand lebhafter Besprechung geworden sind, wie sie

seiner Zeit die allgemeine Aufmerksamkeit auf Jesum gerichtet haben. Nur,

Denn,

daß das Verhältniß sich umgekehrt zu haben scheint.

während damals die

Wunder Jesu in vielen Fällen den Glauben an ihn, sei

unleugbar dazu dienten,

es vorzubereiten, sei es zu befestigen, steht jetzt die Sache thatsäch­ lich so, daß ein großer Theil unserer Zeitgenossen

durch

dieselben

vom Glauben eher abgehalten wird; und selbst von den Glaubenden noch

freudiger glauben wurden, wenn

manche

Anstöße für ihr Denken stießen.

sie nicht auf diese

Da ist es ja wohl unerläßlich, daß

wir uns über diesen Gegenstand verständigen.

Wer billig denkt, muß anerkennen, daß der Widerspruch, welchen unsere Zeit

gegen „Wunder"

erhebt, keineswegs

nur oder über­

wiegend von Unfrömmigkeit ausgeht oder sich auch nur bei ober­

flächlichem Denken findet.

es

selben treiben;

sind

bringen suchen, und,

Es sind religiöse Interessen, die zu dem­

ernsteste Männer, die ihn zur Geltung zu

so weit ihr Einspruch gegen den bisherigen

Wunder begriff gerichtet ist,

Was

verstand

Theil noch Thaten sein,

man nämlich

dazu auch vollkommen berechtigt sind. ehedem, und was versteht man zum

heute unter Wunder?

Wunder sollen Ereignisse

welche, unbedingt— schlechthin— unter

oder

allen Um­

ständen alle natürlichen Ordnungen übersteigen, den Naturzusammen­ hang durchbrechen, die Naturgesetze verletzen oder, um es kürzer aus­

zudrücken, absolut übernatürlich, ja widernatürlich sind.

Gegen einen

solchen Wunderbegriff wird mit Recht Einspruch erhoben, sowohl im Interesse einer würdigen Vorstellung von Gott, als im Interesse der Geschichtlichkeit und

wahren Menschheit Jesu Christi.

Eine geläu­

terte Gottesidee kann unmöglich zugeben, daß neben der geordneten

Thätigkeit Gottes, welche eben sein gesammtes Thun umfaßt, noch eine ungeordnete Thätigkeit einherlause, welche jene durchbricht und ihr Resultat — d. i. eben so wenig kann

geleugnet

die Naturordnung — vernichtet.

werden,

Eben

daß, was schlechthin über- und

295

Wunder Jesu.

außermenschlich ist, und für welches die menschliche Natur auch in ihrer höchsten Potenzirung ein für allemal keinen Raum hat, daß

das auch nicht in ein menschliches Dasein eintreten könne, ohne dieses

Dasein zu sprengen und zu einem bloßen Scheindasein zu machen. Wunder einer göttlichen, alles Menschliche schlechthin überschreiten­ den Allmacht, zu welcher der Erlöser die Fähigkeit in sich getragen Haden soll, und zu denen er in jedem Augenblicke hätte greifen

können, und die, wenn sie nicht geschehen, nur darum unterblieben,

weil er auf sie

verzichtete — Wunder dieser Art würden nicht nur

— man möge sagen und sich drehen, wie man wolle — Jesum zu

jenem doketischen Scheinmenschen machen, welchen die Kirche stets verworfen hat,

abgraben').

sondern

auch alle Wurzeln der Sittlichkeit in ihm

Da kommt es auf zweierlei an: nachzuweisen, daß Gott

auch in dem Wunder ein Gott der Ordnung sei, oder, daß die Wunder nicht außerhalb, sondern innerhalb des geordneten Thuns

Gottes liegen; sodann zu zeigen oder — wenn das der Natur der Sache nach nicht in allen Fällen möglich ist — festzuhalten, daß

selbst das wunderbarste in dem Leben des Erlösers noch in den Gränzen der menschlichen Natur überhaupt liege, kurz gesagt, menschen­

möglich, wo nicht, auch nicht wirklich sei. Natürlich wird man dabei nicht bei der alltäglichen Menschheit stehen zu bleiben haben:

auch die Wunderwerke des Genius, die Werke der Wissenschaft und Kunst kommen ja nicht alle Tage vor.

Selbst nicht einmal das

wird gefordert werden dürfen, daß sich mindestens etliches Aehnliche

aufweisen lasse: auch nur ein Einmaliges, wenn es sonst gehörig beglaubigt ist, darf deshalb, weil es ein Einziges ist, nicht ge­ leugnet werden, sondern wird in Aussicht künftiger Erkenntniß vor­

läufig als Faktum hingenommen werden müssen, und in dem Maße mit Freudigkeit an- und ausgenommen werden, in welchem sich auch nur Analoges in der Menschheit aufweisen läßt. —

Bevor wir auf diese auch für uns unerläßliche Nachweisung eingehen, schicken wir noch Folgendes voraus:

Die heilige Schrift

selbst, so viele Wundererzählungen in ihr vorkommen, kennt doch

]) Siehe die Auseinandersetzung über „Gottes eingebornen Sohn" 1) Jesus

wahrhaftiger Mensch: die Anführung aus der Concordienformel. S. 272.

2. Hauptstück.

296

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

den gespannten Wunderbegriff unserer Tage,

kennt die Frage,

der wir nicht mehr aus dem Wege gehen können, nicht. von dem,

Sie hat

was wir Naturwissenschaft nennen, keine Ahnung, weiß

nichts von „Naturgesetzen" und „Natnrzusammenhang",

trägt des­

halb auch kein Arg, in jedem, was über das gewöhnliche Geschehen hinausgeht, ein Eingreifen Gottes zu erblicken; ist überhaupt geneigt,

alles Geschehen mit Bei-Seite-Setzung der Mittelursachen unmittel­

bar auf Gott zurückzuführen.

Dem entsprechen auch die in ihr vor­

kommenden Bezeichnungen für das, was wir Wunder nennen.

Das

Neue Testament hat das dieser Bezeichnung am nächsten kommende Wort teras, gleich portentum, prodigium, welches überhaupt nur

16 mal in

ihm vorkommt,

nur ein einziges Mal

selbstständig in

einer Citation aus dem Joel „ich will terata geben im Himmel und Zeichen auf Erden" (Apostelgesch. 2, 19), sonst immer nur in Ver­

bindung mit „Kräften" (Krastthaten, dynameis, was Luther konstant „Thaten" und nur einmal, Matth. 13, 58, „Zeichen", und noch ein

anderes Mal, 1 Kor. 12, 10 u. 29, mit „Wunder" und „Wunder­

oder mit „Zeichen",

thäter"

übersetzt),

gleich:

„Kraftthaten und Wunder und Zeichen."

oder auch

mit beiden zu­ An bei weitem

den meisten Stellen ist dagegen nur von „Zeichen", „Kräften" oder von einem von beiden dieser Beziehung

die Rede.

Das zeigt deutlich,

der vorwaltende Begriff ist.

Was

welches in

wir Wunder

nennen, sind der h. Schrift Enthüllung höherer, mehr als gewöhn­

licher Kraft („Krastthaten"), Zeichen der Nähe, der Einwirkung, des Wohlgefallens Gottes, kurzweg „Offenbarungsthaten".

ist

das Gebiet bezeichnet,

pflegt zu sagen:

welchem

„das Wunder sei des Glaubens

Das Richtige daran ist,

Damit

das Wunder angehört.

Man

liebstes Kind."

daß „Wunder" ein religiöser Begriff ist,

der nur für den Religiösen da ist, und über den nur die Religion

und die Religionswissenschaft zu entscheiden haben. eine Gränzüberschreitung,

schichtswissenschaft darüber entscheiden wollen,

und ob dieses oder dieses ein Wunder sei. wissenschaft festzustellen? derselben.

Es ist lediglich

wenn, sei es die Natur-, sei es die Ge­

ob es Wunder gebe,

Was hat die Geschichts­

Die Thatsachen und den Zusammenhang

„Dieser Mensch ist ein solcher, solcher gewesen;

diese

Begebenheit hat sich so zugetragen; und beide sind in solcher Weise

297

Wunder Jesu.

in allein Vorhergehenden begründet, und haben auf solche Art auf ihre

Oder:

Gegenwart und Nachwelt eingewirkt."

Mannes

die Thatsache lassen

noch

„weder die Art des

genau feststellen."

sich

Oder

„dieser Mensch, diese Begebenheit sind so außerordentliche

endlich:

Erscheinungen, und überschreiten so sehr alles sonstige Maß und alle Berechnung:

daß wir darauf verzichten müssen, sie und ihre Ein­

wirkung aus dem bisherigen geschichtlichen Zusammenhänge zu er­

klären."

Zu solchem Urtheil ist die Geschichtswissenschaft vollkommen Wenn sie dagegen darüber hinaus entscheiden will: „dieser

berechtigt.

Mann ist ein Gesandter, diese Begebenheit eine That Gottes, oder sie

sind es nicht": so hat sie ihre Kompetenz überschritten, sofern sie nicht

ein historisches, sondern ein religiöses Urtheil abgegeben hat. gleichen hat ohne Zweifel die Naturwissenschaft sestzustellen,

Des­ zuerst:

„Ist die Erscheinung, die Thatsache, über welche ich — die Wissen­ schaft der Natur — urtheilen soll, hinlänglich, methodisch (natürlich

in

der

für

Sodann:

diese

mir bisher

von

Erscheinung

eignenden

Methode) festgestellt?"

„Stimmt sie mit meinen sonstigen Erfahrungen und den gefundenen

und

allgemein anerkannten

Gesetzen

Hierüber hat diese Wissenschaft unbedingt und

überein oder nicht?"

nur sie zu entscheiden: und keine andere Wissenschaft hat ihr drein zu reden. nicht

Wenn sie aber deshalb, weil sie diese Uebereinstimmung

findet,

schehen,

das als

oder

das

geschehen Nachgewiesene für nicht ge­

ihr Erklärbare

offen Liegende darum für

nicht

und

aus

in seinen Mittelursachen

Gott

geschehen

dekretiren

wollte: so würde sie in dem ersten Falle gegen ihre eigene Methode, in

dem

anderen gegen

ihre Kompetenz

verstoßen. — Wiederum

haben die Religion, die Religionswissenschaft sich auf ihr Bekenntniß

zu beschränken:

„ich erkenne hierin Gottes Hand,

hieran den Ge­

sandten Gottes"; und sich vor jedem Urtheil zu hüten, das, weil es

in fremdes Gebiet greift,

sie sofort mit anderen Wissenschaften in

unheilvolle Verwicklung bringen würde.

ist Gottes Finger,

Sie darf nicht sagen: „hier

also muß jede Mittelursache ausgeschlossen sein,

kann keines Menschen noch sonst welche Thätigkeit hier mitgewirkt haben."

Wenn sie so spricht,

urtheilt sie

nicht bloß über etwas,

worüber ihr kein Urtheil zusteht: sondern sie versteht auch sich selbst nicht.

Die in sich

selbst verständigte Frömmigkeit muß vielmehr

298 sagen:

2. Hauptstück.

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

„ob so vorbereitet oder nicht, ob unter solcher Mitwirknng

oder nicht, das alles erklärt mir noch nicht den Mann, noch die That, oder macht mich in meinem Urtheil, „hier wirke Gottes Finger,

hier sei Gottes Sohn", irre.

Im Gegentheil, ich sehe gerade in

dieser Vorbereitung, gerade in dem Hinzutreten solcher Mitwirkungen

den Plan, die Macht, die Leitung Gottes, die alles auf die von ihr

bestimmte Zeit hinlenkt, alle Kräfte, alle Mittel, alle Ereignisse sich und dem von ihr Auserwählten dienstbar macht."

Freilich ist das

nicht die Sprache der Frömmigkeit, der Religion zu jeder Zeit ge­

wesen: im Gegentheil haben rohere, sittlich und intellektuell minder durchgebildete Zeiten Gottes Thun mehr in dem Außerordentlichen,

Auffallenden, in seinen Mittelursachen nicht Erkannten, als in der

Ordnung und Uebereinstimmung alles im All, und in seiner Dienst­ barkeit unter dem alles organisch durchwaltenden Gotteswillen gesucht. Das ist indeß nicht die Schuld der Religion, sondern der mit ihr

nicht gleichen Schritt haltenden

sonstigen Bildung:

diese Zeiten

kannten, wie bereits erwähnt, nicht den Naturzusammenhang; darum

vermochten sie auch nicht Gott in ihm zu erkennen. Wir aber ver­ mögen es; darum sollen wir es auch nicht für einen Raub an der Frömmigkeit halten, sondern vielmehr für einen Gewinn für dieselbe,

wenn uns dieser Naturzusammenhang dargelegt wird. — Ebenso darf nach der Seite der Geschichtswissenschaft hin die Religion nicht sagen:

ich glaube es,

darum ist es geschehen und so geschehen: sondern

muß sich gefallen lassen und es ganz in der Ordnung finden: wenn die Geschichtswissenschaft entgegnet:

„halt an! ist es gelchehen, so

fällt es meiner Untersuchung anheim:

Geschichtswissenschaft. wer ist Bürge?

denn dafür bin ich eben die

Also: wann ist es geschehen? Und wo? Und

War, der es berichtet,

dabei?

Und ist er oder

— falls er aus anderer Munde berichtet — sind seine Gewährs­ männer urtheilsfähige und zuverlässige Zeugen?"

und wie sonst

noch die Fragen lauten, welche die hierüber competente Wissenschaft zu stellen hat.

Vor allen Uebergriffen und Vor- und Aburtheilen

hieran hat sich die Religion und die Religionswissenschaft auf das

sorgfältigste zu hüten: und sich dem gegenüber zu begnügen, zu­

nächst ihre Wahrnehmungen auszusprechen, die ihr niemand bestreiten kann noch auch in dieselben

dreinreden darf —: ich erkenne hier

Wunder Jesu.

Gottes Offenbarung:

und

dann weiter

Offenbarung wissenschaftlich

299 den

nur

Begriff dieser

daß er mit unserem

so zu gestalten,

sonstigen vernünftigen Denken übereinstimmt und Denkgesetzen in Widerspruch steht,

weder mit den

noch all unser Wissen auf den

Kopf stellt. — Gehen wir nach diesen Vorerinnerungen an die Lösung unserer Aufgabe, so fragen wir zuerst: Giebt cs ein Uebernatürliches? Wir

werden diese Frage unbedingt bejahen: es giebt einen Gott! Vermag

sich dieses Uebernatürliche im Natürlichen zu offenbaren?

müssen wir behaupten:

wir wüßten sonst nichts

Auch das

von Gott!

Aber

giebt es nun auch eine solche Offenbarung des Uebernatürlichen im

Natürlichen, welche die natürlichen Ordnungen übersteigt, den natür­ lichen Verlauf verändert,

den Naturzusammenhang durchbricht,

die

Naturgesetze aufhebt? So werden wir auch dies mit alleiniger Aus­ nahme der Durchbrechung des Naturzusammenhanges — weil auch

das Außerordentlichste, ja das schlechthin Einzige, niemals ein abso­

lut Neues Worten:

ist — beziehungsweise bejahen:

oder mit andern

wir werden zwar nicht absolute Wunder, welche auch wir

nicht zugeben,

wohl aber relative Wunder,

die aber nichtsdesto­

weniger Wunder sind, behaupten.

Wir verstehen nutet Natur den Inbegriff alles Geschaffenen. Aber wir verstehen darunter auch — und das ist sogar der gewöhn­ lichere Sprachgebrauch — nur

einen Theil

des

Geschaffenen,

bewußtlose Natur im Gegensatze zur bewußten oder

Da haben wir 2 Stufen,

die

dem Geiste.

deren jede sich nach den ihr eignenden

Gesetzen bewegt, die Natur im engeren Sinne nach den sogenannten

Naturgesetzen

der Schwere, der Attractionskraft u. s. w.: der Geist

nach den Gesetzen des Denkens, den stttlichen Gesetzen u. s. w.

Nie­

mand zweifelt, daß der Geist die höhere Stufe ist, daß er über der

Natur im engern Sinne steht und ihre Ordnungen überragt:

daß

mit andern Worten er und seine Thätigkeiten und Werke — obwohl

natürlich im weitern Sinne des Wortes, d. h. kreatürlich, und sich in den Ordnungen der Gesammtschöpfung bewegend — doch, sofern

wir sie der bewußtlosen Natur gegenüberstellen, übernatürlich sind. Kein Treibhaus erzeugt Gedanken, kein noch so titanisches Ringen

der Elemente Entschlüsse,

keine Sonne trotz der Gluth der Farben,

2. Hauptstück.

300

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

des Meeres von Licht Gemälde. — Niemand bestreitet, daß die be­

wußte Natur, der Geist, und kraft seiner der Mensch auf die bewußt­ lose,

allerdings auch

diese

auf jenen

einwirkt.

unsern Zweck bei dem ersteren stehen bleiben.

Wir dürfen

für

Was finden wir? der

Menschengeist, der Mensch verändert die Natur.

Er lichtet Wälder,

er trocknet Sümpfe aus, er lockt Quellen aus der Tiefe hervor, er läßt Gärten entstehen, wo Wüsten waren: er mehrt den Regen, mil­

Er durchbricht Gebirge, ändert

dert die Kälte, ändert das Klima.

der Ströme Lauf, wandelt der Thiere und der Pflanzen Art.

Dinge,

Lauter

welche die fich selbst überlassene Natur nimmer vermöchte,

welche für fie Wunder sind, über welche sie sich, wenn sie es könnte,

in hohem Grade wundern würde:

wir aber wundern uns nicht! —

Noch mehr: der Menschengeist hebt auch, wie er die Thätigkeit der

Natur überschreitet, so innerhalb gewisser Gränzen und bis zu einem gewissen Grade,

und,

indem er eine Kraft gegen die andere oder

auch gegen sie selbst kehrt, — Naturgesetze auf.

mehr den Naturgesetzen,

Was widerspricht

als daß Eisen läuft oder schwimmt:

aber bringen es sogar dahin, daß es trägt, daß es zieht.

wir

In seinen

Lokomotiven, in seinen Eisenschiffen hat der Mensch die Trägheit des Eisens überwunden. —

Das alles tritt noch deutlicher hervor, wenn wir die Wirksam­ keit des Menschengeistes

aus den Menschen selbst betrachten.

Der

Wille bewegt den Leib; er giebt der Schwäche Kraft; er überwindet die Krankheit; er verzögert den Tod.

von

dem wunderbaren Einfluß,

Zahllose Beispiele liegen vor

welchen die Energie des Willens,

überhaupt die Bewegung des Geistes auf den gesammten Organis­

mus des Menschen ausgeübt haben.

Der seit seiner Jugend stumme

Sohn des Krösus sieht in dem Gewühle der Schlacht das Schwert

des Feindes über des Vaters Haupt und ruft: „Schone den König!" Kindesliebe, Kindesangst hatten das Band der Zunge gelöst! Jenem

Senner,

der

schwebend, lockert, und

am

halbdurchschnittenen Seile

sehen muß,

wie sich

er zuletzt nur

wenigen Minuten das Haar

noch

über

dem

Abgrund

dasselbe von Minute zu Minute an

ergraut.

einem Faden hängt,

So hat auch

ist in

sonst höchste

Angst, Schmerz, Freude, Muth hie belebend, dort tödtend gewirkt; hat überhaupt Erscheinungen hervorgerufen, die alles sonstige Maß

301

Wunder Jesu.

überschreiten, den mit Sicherheit zu erwartenden Verlauf vollständig durchbrechen und Wirkungen hervorbringen,

die niemand Anstand

nimmt, :rotz ihrer Natürlichkeit, als im höchsten Grade wunderbar,

als Wurder des Geistes zu bezeichnen.

Und diese Einwirkungen

beschränkn: sich nicht bloß auf diejenigen, in welchen die Bewegung des

Gertes ursprünglich vorgeht,

sondern sie pflanzen

sich von

ihnen ars auch auf andere über, und wirken „Wunder" an und

in ihnen

Die Krieger erliegen den Entbehrungen, den Beschwer­

den, da fällt auf sie des Feldherrn Blick; und sie empfinden nicht Hunger, nicht Ermüdung, sie schlagen den Feind.

Der Glaubens­

starke naht dem Verzagten, Luther betet über den zum Tode er­ krankten Melanchthon, und der Sterbende wird gesund! — Der Strom der Geschichte fließt Jahrhunderte in dem gewohnten Bett: da tritt ein einiger Mann auf und ändert mit einem Schlage den

gesammtcn geschichtlichen Verlauf! — Wo solches alles nicht bloß möglich, sondern wirklich ist, wo solche den gewöhnlichen Verlauf,

das durchschnittliche Niveau überragende „Wunder des Geistes und der Geschichte"

vor unseren Augen geschehen, wo uns — freilich

nicht alle Tage, aber oft genug, um nicht übersehen zu werden —

Ereignisse, Thaten, Menschen begegnen, die, obwohl sie nicht das überhaupt mögliche Maß der Menschennatur überschreiten, auf einer Höhe stehen, zu welcher wir mit Staunen und Bewunderung empor­ schauen — was ist da Widersprechendes darin, noch eine Stufe

weiter zu gehen, und zu diesen Wundern des Menschengeistes und

über

denselben

Wunder

des

heiligen

Geistes

Gottes,

„Offenbarungsthaten Gottes" anzunehmen, die sich zu jenen gerade ebenso verhalten, wie die Potenzirung des menschlichen Geistes zu

seinem alltäglichen Wirken, oder Natur?

wie

der menschliche Geist

Nein, sagt man: dieser Schluß ist nicht zuzulafsen.

zur

Denn er

ist nicht bloß, wie er aussieht, ein Schluß von dem Geringeren auf

das Größere (einen solchen Schluß könnte man gutheißen) —: er ist ein Uebergang in ein anderes Gebiet.

Denn in allen jenen

Fällen handelt es sich immer nur um eine innerkreatürliche Wirk­

samkeit; es sind verschiedene Stufen, die auf einander einwirken, aber es sind Stufen,

Potenzen einer und derselben Natur,

die,

2. Hauptstück.

302

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

mögen sie auch im Einzelnen den Naturverlauf ändern, die Resul­

tate modifiziren, die Hähern Stufen mit ihrem Thun die niedern durchbrechen , sich doch insgesammt in dem Zusammenhänge kreatür­

licher Ursachen und Wirkungen und innerhalb der natürlichen Ord­ Hier aber tritt mit einem Male eine

nungen überhaupt halten.

außer- und übernatürliche Ursächlichkeit, Gott, aus, die von außen

in diesen Zusammenhang hineingreift und Thaten thut und Erschei­ nungen hervorruft, die eben nicht mehr, wie jene, ein Wirken von Natur auf Natur, sondern ein Wirken von Gott auf Natur sind.

Und das ist ein wesentlich anderes.

Freilich ist das ein anderes!

Und hätte ich das gleich bedacht, so hätte ich mir wohl diese ganze Denn wie könnte denn auch ich ein solches

Abhandlung gespart.

Treiben und Stoßen der Welt von außen und plumpes Eingreifen in den wohlgefügten Organismus der Natur, ein derartiges Anhalten

eines Theiles ihrer Räder, und dagegen Verstärkung der Kraft und der Schnelligkeit der andern, wie es etwa ein Werkmeister mit seiner

Maschine thut — wie könnte ich dergleichen Absurditäten lehren? Aber ich hatte es eben nicht bedacht, oder vielmehr mich überhaupt noch nicht zu dieser neusten Höhe der Erkenntniß erhoben, daß Gott

sich so äußerlich zur Natur und Naturordnung verhalte, daß er nicht anders als durch Eingreifen von außen auf sie zu wirken ver­ möge.

Ich hatte bisher auf dem Standpunkte gestanden, daß Gott

wohl von der Natur unterschieden, aber darum ebenso wenig von

ihr fern als räumlich in ihr befaßt sei; daß ihm auch die Welt, sein Werk, und die Weltordnung — sein geordnetes Thun in der Welt

— nicht so äußerlich gegenüberstehen, wie es mit dem Menschen in Beziehung auf menschliche Werke und menschliche Ordnungen der Fall ist: daß er auch nicht stoß- und ruckweise auf die Welt ein­ wirke, sondern (wie das früher des weiteren auseinandergesetzt ist)

in der Welt und mittelst derselben — organisch — auf sie ein­

wirke: daß nichts Kreatürliches oder Natürliches geschieht, was nicht auf

diese

welchem hinter

übernatürliche,

nicht ihnen

neben diese

schöpferische Thätigkeit

allen

nie

Mittelursachen

aussetzende

und

Wirksamkeit

zurückgeht, in

ihnen

Gottes

bei

und

einher-

und einschreitet. Kurz ich hatte mit dem Psalmisten (Ps. 104) das Wirken Gottes in der Welt als sein „Athmen" in der

Wunder Jesu.

303

Welt') gefaßt und demgemäß mir auch

das Wunder nur als ein

potenzirtes „Athemholen" gedacht! Im Ernste.

Ich weiß nicht, wie

man einen lebendigen Gott und ein innerliches Verhältniß desselben zur Welt, wie man eine Vorsehung, eine Offenbarung, wie man Träger höherer Offenbarung annehmen und lehren kann, ohne mit

dieser Offenbarung auch Offeubarungsthateu zu statuiren, „Kräfte" und Kraftthaten (dynameis), die eben so über der sonstigen Menschen­

kraft und ihren Wirkungen stehen, wie diese Männer über der sonstigen

Menschheit, und dabei ebenso mit den Gesetzen und Ordnungen der Gesammthaushaltung Gottes übereinstimmen, wie die Wir­

kungen der Menschenkraft noch in ihren auffälligsten Erscheinungen mit der Naturordnung Gottes. sind

Was

uns

also

Wunder?

Wunder,

insbesondere

die

Wunder Christi, sind uns Ereignisse und Thaten, die nicht aus der

bloß natürlichen, auch nicht aus der bloß sittlichen Weltordnung,

wohl aber aus der Gesammthaushaltung Gottes begriffen werden

können.

Uebernatürlich, sofern man bei den untern Stufen des

Haushaltes

Gottes

stehen

bleibt:

natürlich,

sofern

man

das

Ganze, dem diese Stufen dienen, und um deswillen sie da sind, in's Auge faßt. Wunder für uns, die wir zu ihnen, die wir aus dem Stückwerk zu dem Vollkommenen emporschauen; Werke für den

Gott, der sie thut, wie für den Menschen, der sie verrichtet, und in ihnen nur die Kräfte verwerthet, hat.

welche Gott in ihm angelegt

Unsere Kräfte übersteigend, und dennoch

„menschen­

möglich", sofern die menschliche Natur darauf angelegt ist, solche Kräfte in sich aufzunehmen und ihnen Raum zu geben, wie die

„Natur" darauf angelegt ist, die Kraft des Menschengeistes in sich

eingeheu zu lassen"). Wir müssen es natürlich einem jeden überlassen, ob ihm diese

]) v. 30. „Du lässest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen, und verneuerst die Gestalt der Erde." 2) Ich habe diese Fassung des Wunderbegriffes aus „A. Schweizers: Leitfaden

zum Unterricht in der christlichen Glaubenslehre für reifere Katechumenen" vor mehr, denn 20 Jahren, gewonnen; und in ebenso langer Wirksamkeit die Erfahrung

gemacht, daß es mir mittelst derselben möglich gewesen ist, die Sache selbst jüngeren Schülern nahe zu bringen.

304

2. Hauptstück.

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

Ausführungen genügen, oder ob er andere genügendere sucht.

es

können

niemandem wehren,

auch

Wir

derselben die

wenn er trotz

Wunder, insbesondere auch die Wunder Christi, leugnet: sei es nun, daß er die Thatsachen in Abrede stelle; oder sei es, daß er die nicht

zu bezweifelnden Wunderwerke Christi, insbesondere seine Heilungen

„natürlich",

aus Anwendung medizinischer Mittel, erhitzter Einbil­

dungskraft und Aehnlichem erkläre; oder,

daß er gar (ähnlich, wie

schon die Pharisäer thaten, als sie Jesum beschuldigten, daß er die

Teufel durch den Obersten der Teufel austreibe) Jesum der wissent­ lichen Täuschung anklage.

Er wird das

eine mit

der Geschichts­

wissenschaft, das andere mit seinem Verstände, das letzte mit seinem

Nur eins fordere er nicht,

Gewissen auszumachen haben.

fordere

niemand: daß man ihm, dem jedes Organ für dieses Gebiet abgeht, oder der, sich selbst mißverstehend, für dieses Gebiet Belege fordert, welche demselben nicht eignen,

Wunder beweise.

das Wunder, beziehungsweise die

Wir können nichts, als die Finger auf die Ge­

schichte legen: „das ist der Mann, das ist seine That. Nun siehe zu,

wie es aus dich wirkt." daß war,

dem vermögen wir,

Wer dann nicht sieht:

der Mann ein Prophet, seine That eine „Kraftthat" Gottes als wir ihm die

in anderer Weise ebenso wenig zu zeigen,

Offenbarung Gottes, als wir ihm Gott zeigen können.

Zum Schluffe noch eins: Wir haben uns nach Kräften bemüht, die Denkbarkeit des Wunders

nachzuweisen.

Es versteht sich von

selbst, daß wir nicht gemeint sind, damit auch über die Wirklichkeit,

d. h. das Geschehensein auch nur eines einzigen Wunders, auch nicht der Wunder des Herrn, entschieden zu haben. mehrere

den Thatbestand,

die

Hierüber, über die

oder mindere Beglaubigung der Thatsachen,

hat vielmehr,

geschichtliche Untersuchung

nach

im

diese Untersuchung zu verkürzen,

vorzuschreiben;

dem schon früher Gesagten,

einzelnen

einzelne Faktum sich genau anzusehen.

so wie über

einzutreten und jedes

Und sind wir nicht gewillt,

oder ihr nur bejahende Resultate

fordern vielmehr für die heilige Geschichte die An­

wendung ganz derselben Methode, welche überhaupt bei geschichtlichen

Untersuchungen angewendet werden muß, und dieselbe Achtung vor den Resultaten suchung,

gewissenhafter,

welche überall

streng methodisch

den Ergebnissen

geführter

Unter­

der Geschichtswissenschaft

Wunder Jesu.

305

Nicht, daß wir diese Ergebnisse für absolute halten, wie

zukommt.

etliche thun, welche die Behauptungen vermeintlicher Wissenschaft so blind an- und nachbeten, wie es je mit der Ueberlieferung des Buchstabens geschehen ist: Zweifel wird ja gestattet, Revision auch der scheinbar sichersten Resultate immer wieder nöthig sein. Nur, daß

niemand ein Sacrilegium darin sehe,

wenn die historische Unter­

suchung bei voller Anerkennung des eigenthümlichen religiösen Cha­ der h. Schrift das eine oder andere Faktum in ihr für

rakters

minder beglaubigt,

oder auch für nicht hinreichend deutlich erzählt

wenn sie im Einzelnen Mißverständnisfe nachweist,

erklärt;

Ein­

mischung sagenhafter Züge wahrscheinlich macht, und was dem Aehn-

liches

überall in der Geschichte vorkommt,

ohne daß

dadurch der

feste Boden des Ganzen erschüttert wird. — Fragt man,

was bei

solcher Zulassung der Untersuchung zur Ermittelung des Thatbestan­ des mit jenem Nachweise der Möglichkeit gewonnen sei, und was

es Helse, daß Wunder sollen denkbar sein, wenn es jedem freisteht, sie im Einzelnen

anzufechten:

wieder

so ist zunächst

den Forde­

rungen strenger Wissenschaft gegenüber nicht von einem Freistehen,

d. h.

von

einem

willkürlichen Belieben

die Rede.

Sodann aber

bleibt der große Gewinn, daß derjenige Forscher, der jene Denkbarkeit erkennt und anerkennt,

forschen wird,

wo er sonst aus dem

Vorurtheil heraus, daß dergleichen gar nicht möglich sei, apodiktisch absprach; und daß derjenige Glaubende, welcher bisher ohne Wun­

der

und

trotz

derselben

geglaubt hat,

die Freudigkeit

gewinnt,

fortan an Jesum Christum mit seinen Wundern zu glauben.

Wer

die Beschaffenheit der Berichte über Jesum kennt, der weiß, was das

bedeutet.

Gelitten unter Pontius Pilatus.

Es ist zunächst daran zu erinnern, daß der Name des Pontius Pilatus wahrscheinlich

in das Glaubensbekenntniß

gekommen

ist,

um die von den gnostischen Sekten bestrittene Wirklichkeit und Ge­

schichtlichkeit Jesu nachdrücklich zu bezeichnen. (ältester, Materialien. 2. Auflage.

Und in der That ist 20

2. Hauptstück.

306

er ganz dazu geeignet,

Werk des Erlösers.

Zweiter Artikel.

uns in die geschichtliche Lage einzuführen.

Wir brauchen ihn nur auszusprechen,

und das jüdische Volk steht

vor uns in seiner politischen Erniedrigung, seinem religiösen Fana­

tismus, seinem sittlichen Verfall.

Ebenso stellt sich uns die Heiden­

welt dar: das Weltreich, das durch Unterwerfung aller Staaten des Mittelmeeres die Schranken gebrochen, welche ehedem die Nationen

von einander trennten, und dem Christenthum buchstäblich die Wege

gebaut hatte, auf denen dasselbe seinen Triumphzug in die Welt halten konnte; der sittlich-religiöse Zustand: die allgemeine Verderbniß,

der Untergang aller Rechtschaffenheit'), die Auflockerung alles

Glaubens (was ist „Wahrheit?"), das haltungslose Schwanken zwischen

Aberglauben

wüstem

und

völligem

Unglauben

(Matth. 27, 19.

Johann. 19, 8), kraft dessen das Heidenthum der Erlösung eben so bedürftig,

aber auch eben so nach ihr verlangend war,

wie

das

Judenthum! — Von der Bedeutung der Leiden Jesu wird näher zu

reden sein, wenn wir den 2. Theil der Erklärung Luther's besprechen. Hier sei nur Folgendes bemerkt: 1) Es ist durchaus ungerechtfertigt, wenn man das Leiden des

Herrn auf sein letztes Leiden von seiner Gefangenschaft an beschränkt

oder auch nur vorzugsweise daran denkt.

Es ist das geradezu eine

Schwäche: die Unfähigkeit, Seelenschmerz zu verstehen; das sinnliche Wesen, welches die Höhe des Leidens nur an den leiblichen Qualen

mißt.

Christi Leiden hat eher begonnen.

Und ist ein anderes ge­

wesen, obwohl er allerdings auch an seinem Leibe Schweres erduldet

hat: der tiefe Schmerz über die Sünde: das Mitgefühl, mit welchem

er das leibliche und geistige Elend

seines Volkes,

weiter der ge-

sammten Menschheit, „die Sünde der Welt", auf sich genommen und getragen,

und in diesem Sinne das Prophetenwort erfüllt hat —

denn im buchstäblichen und leiblichen trifft es ja nicht zu—: „Fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen —

die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt worden" (Jes. 53,4.5). Dieses Leiden ist nicht nur ein viel größeres, als alle äußere Entbehrung, Schmach, Kreuz und Tod, sondern es ist auch ein solches, welches in dieser

*) „Virtus non rara, sed nulla.“

Seneca. — Röm. 1, 18-32.

Leiden und Tod Jesu.

Tiefe und diesem Umfange

tragen konnte.

307

nur Jesus getragen hat, und nur er

Denn um dieses Mitgefühl und diesen Schmerz in

dem Maße zu empfinden, wie es bei ihm der Fall war,

dazu ge­

hörte eben die Reinheit der Seele, wie die Fülle der Liebe, die nur ihm eigen waren; wie andererseits dieses Leiden wieder für seine Liebe den Sporn bildete,

daß fie sich in der Weise bethätigte, wie

Nur bei einer solchen Betrachtungsweise ist end­

sie es gethan hat.

lich auch das letzte gesteigerte Leiden in seinem ganzen Umfange und

seiner göttlichen Erhabenheit zu verstehen. — Besondere Belege für

diese Betrachtungsweise der Leiden Jesu zu geben, ist eigentlich bei dem Tone der Wehmuth und des Schmerzes, welcher sein gesammtes

Leben durchzieht, nicht nöthig. Matth. 9, 36:

Sucht man indeß welche, so mag an

„Und, da er das Volk sah, jammerte ihn desselben:

denn sie waren verschmachtet und zerstreut,

wie Schafe,

die keinen

Hirten haben;" an seinen schmerzlichen Ausruf: „O du ungläubige und verkehrte Art, wie lange soll ich bei euch sein, wie lange soll ich euch

dulden"

(Matth. 17, 17; cf. 20),

an seine Noth mit seinen

Jüngern (Joh. 13, 1. 2. 12 f.; cf. Luk. 22, 24),

mit den Pharisäern,

an seine Kämpfe

an sein „Wehe" über die galiläischen Städte

(Matth. 11, 21. 23), an seine Thränen über Jerusalem (Luk. 19, 41; Matth. 23, 37) erinnert werden. —

2) Auch das letzte Leiden des Herrn ist mit nichten als etwas, was nur über ihn gekommen, was er nur erduldet hätte, anzusehen. Es

ist

vielmehr

eine That;

seinen Tod gegangen.

Jesus ist mit freier Entschließung in

An dieser Erkenntniß darf man sich dadurch

nicht irre machen lassen, daß das Leiden Christi in der Schrift durch­

gängig als eine göttliche Nothwendigkeit bezeichnet (Luk. 24, 26), oder daß darauf hingewiesen wird: dies sei geschehen, „damit die

Schrift erfüllet werde".

Diese Nothwendigkeit war in keiner Weise

ein äußerer Zwang, sondern die innere Nothwendigkeit der Sache,

welche die Freiheit des Menschen voraussetzt, ja fordert. einmal nicht anders,

als daß der Gerechte statt

Es geht

des Ungerechten

und durch denselben leide: daß er an seiner Stelle die Unwürdigkeit, das Elend, die Verdammniß des Zustandes empfinde, sich jener befindet,

wie man

im

in welchem

ohne davon bewegt zu werden, daß er sich —

gewöhnlichen Leben sagt — in die Seele des andern

20*

2. Hauptstück.

308

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

hinein schäme, und für alles das noch den Widerspruch, den Haß, die Verfolgung des Sünders, „den Fersenstich der Sünde" erfahre.

Das ist immer so gewesen

und

wird

auch so bleiben.

Es ist ein

Gesetz der sittlichen Weltordnung, begründet in der Natur einerseits

der Gerechtigkeit und der Liebe, andererseits der Ungerechtigkeit und der Sünde.

Demgemäß haben die Propheten vor Christo Leid um

ihr Volk getragen, und' dafür seinen Undank geärntet und Noth und Verfolgung

erlitten.

Demgemäß ist der geistige Kern des Volkes

(das in dem 2. Theile des Jesaias unter dem Namen des „Knechtes

auftretende „geistige Israel") immer

Gottes"

„Sündenbock" (3 Mos. 16) des

Volk Israel nannte.

der Lastträger und

großen Haufens gewesen,

Demgemäß sagt Paulus von

der sich

den Aposteln:

„daß sie ein Fluch der Welt, ein Fegopfer aller Leute" sein müßten (1 Kor. 4, 13), und von sich: „daß er an seinem Leibe erstatte, was noch mangele an Trübsalen in Christo für seinen Leib, nämlich seine

Gemeinde" (Kol. 1, 24). Ja, so ist es allgemeines Gesetz im Reiche Gottes „daß wir durch viel Trübsal in dasselbe eingehen" (Apostg.

14, 22), und daß „wir nicht anders zur Herrlichkeit Christi erhoben

werden, als daß wir mit ihm leiden" (Röm. 8, 17. — Matth. 10, 38, vergl. auch Röm. 6, 3f.).

Wie hätte er, „der Herzog unserer Selig­

keit" (Ebr. 2, 10s.), fein Werk anders, als mittelst Leiden, vollenden können?

Das erkannte er auch in dem Maße, als er sich und sein

Werk erfaßte und Hand an dasselbe legte; das trat ihm entgegen in

der Weise, wie er sich von seinem Volke, namentlich von den Führern und Leitern desselben ausgenommen sah; darauf hin fand er sich in

dem Schicksale und

der Stimme

„in allen Schriften,

die von ihm gesagt waren", gewiesen und in

seinem Entschlüsse,

leeren, bestärkt.

den Kelch

der Männer Gottes vor ihm —

des Leidens bis

auf den Boden zu

Dies — die Hinweisung auf dieses allgemeine Gesetz

des Reiches Gottes, das sich auch an ihm, und an ihm im höchsten Grade erfüllen werde und erfüllen müsse, und die dadurch bedingte

Bereitschaft und der Entschluß, zu leiden — das war die Bedeutung, welches

das „Geschriebensein

von

diesen Leiden" für Jesum hatte,

Im übrigen hat dasselbe niemals einen Einfluß auf sein Thun aus­ geübt,

daß er sich

dasselbe nach dem

etwa gefragt: „steht es auch geschrieben", oder „Geschriebenen"

eingerichtet hätte, und,

wenn

Leiden und Tod Jesu.

309

anders geschrieben gewesen wäre, auch anders gehandelt haben würde;

sondern, unbekümmert um den Buchstaben der Schrift, hat er jeder­ zeit gehandelt, „wie es ihm sein Vater zeigte," und wie er es als

So hat er, ungeachtet

vor Gott recht und als seine Pflicht erkannte.

doch „die Schriften" immer dieselben blieben, kein Bedenken getra­

sich

gen,

den

zu entziehen (Matth.

ihm drohenden Nachstellungen

15, 21; cf. Mark. 7, 24. — Joh. 7, 1; 8, 59), solange er es, ohne

eine Pflicht zu verletzen oder seine Thätigkeit zu unterbrechen, konnte. Und erst,

als „seine Stunde" gekommen war (Joh. 7, 30; Matth.

26, 39; Joh. 7,6), — was er jedenfalls nicht aus „den Schriften",

sondern aus besonnener Ueberlegung und Erfassung der Verhältnisse erkannte; als er wahrnahm, daß die Lage der Dinge zu dieser Ent­ scheidung dränge, und daß er derselben nicht ausweichen könne, ohne

sich selbst und seinem Berufe untreu zu werden, — da erst hat er, ohne zu zögern („stracks"), sein Angesicht gen Jerusalem gewendet (Luk. 9, 51), und ist in den Tod

gegangen,

welchen

er als einen

unvermeidlichen erkannte. — 3) Das Leiden des Herrn, durch und durch eine sittliche That,

hat auch zu seiner eignen Vollendung gedient.

Dies nament­

lich ist ein Gesichtspunkt, der vielen ganz neu, ja befremdlich sein wird.

Dennoch ist er schon in der Schrift bestimmt ausgesprochen

(Ebr. 5, 8.

„Wiewohl er Gottes Sohn war,

der Sache.

„Gehorsam" ist ja nicht bloß

Wunsch, ein Vorsatz:

Jesus Christus,

Geneigtheit,

ein

und diese muß, wie

Zugleich ist es auch etwas überaus unser Herr und Meister,

nicht bloß

sondern auch unser Mitschüler in der Schule des

unser Mitbruder,

Lebens und Leidens, und zu leiden:

eine

sondern eine Fertigkeit;

jede Fertigkeit, gelernt werden.

Tröstliches.

hat er doch an dem,

Aber es liegt auch in der Natur

das er litte, Gehorsam gelernt").

an dessen Lernen wir lernen sollen,

zu leben

an dem wir uns trösten können (v. 7), wenn uns

dieses Lernen nicht so ganz leicht

wird, und wir finden,

daß wir

trotz alles Eifers immer noch nicht ausgelernt haben. — Gekreuzigt.

Es liegt auf der Hand,

daß

die äußere Art und Weise des

Todes Jesu von keiner Bedeutung für sein Erlösungswerk sein kann.

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers.

310

Denn diese hing ja nicht von ihm selbst, sondern von den äußeren Umständen ab;

daß nicht der hohe Rath, sondern Pilatus es war,

welcher die Todesstrafe an ihm aussühren ließ, andererseits, daß er

ein „Ausländer" war. und Tod

gehabt,

so

Hätte der hohe Rath noch Gewalt über Leben

wäre Jesus gesteinigt worden;

wäre er ein

römischer Bürger gewesen, wie Paulus, so hätte ihn, wie diesen, die

Strafe

des Beiles

getroffen.

In dem einen,

wie in dem andern

Falle wäre an der innern Bedeutung seines Todes nichts geändert worben.

Nichtsdestoweniger finden wir schon in der Schrift Werth

darauf gelegt, daß Christus gekreuzigt sei (Joh. 12, 32. 33); und stimmt damit trotz jener völlig eigene Empfindung überein.

berechtigten Reflexion

Worin liegt das?

auch unsere

In zweierlei.

Daß

die Kreuzesstrafe, so qualvoll sie war, dem Geiste Klarheit ließ; und

zugleich durch die Langsamkeit des Todes Raum für Aussprache ge­

währte.

Wir

verdanken

dieser Form der Strafe die sieben Worte

am Kreuze, welche die Kirche von je an als ein theuerstes Ver-

mächtniß verehrt hat.

Sodann aber hängt es damit zusammen, daß

der Eindruck, welchen der Anblick, beziehungsweise die lebendige Ver­

gegenwärtigung des am Kreuze sterbenden Erlösers macht, frei von dem Abstoßenden und Widerwärtigen ist, welches andern Todesarten

beiwohnt, • die uns einen verstümmelten oder entstellten Leichnam oder auch, wie die Steinigung, wegung zeigen.

wilden Tumult und leidenschaftliche Be­

Ueber dem Kreuze lagert Stille und Friede;

das

Widerwärtige, die Rohheit, der Haß, die Wuth der Menschen unter

dem Kreuze reichen, daß ich so sage, nur bis an seinen Fuß. hebt sich die Gestalt des Heilandes ab,

Klar

mit ihren am Kreuze aus­

gebreiteten Armen noch in seinem Tode ein Abbild der Liebe

und

des Erbarmens, mit welcher er die Welt umfaßte und für sie starb. Das hat die Christenheit gefühlt und darum von je an auch in der

äußeren Weise seines Sterbens das Walten der Vorsehung verehrt, welche Großes und Kleines, das Bedeutungsvolle und das scheinbar

Bedeutungslose zu demselben Zwecke lenkt.

Gestorben, Begraben, Niedergefahren zur Hölle. Diese drei Aussagen

besagen wesentlich

dasselbe.

Denn auch

die letzte hat ursprünglich keine andere Bedeutung gehabt, als die

311

Höllenfahrt Jesu.

Wirklichkeit des Todes Jesu zu bekunden: daß er nicht zum Schein ge­ storben sei, sondern dasselbe erfahren habe, wie wir, und seine Seele

sich von seinem Leibe getrennt habe und in den Hades (ad inferos) gestiegen sei.

Nicht lange indeß,

und es entstand die Frage, was

denn die Seele Jesu bei den Todten gemacht habe, da man sich nicht vorstellen konnte, daß sie daselbst müßig geblieben sei; und bildete sich hieraus das besonders im Mittelalter in grotesken Zügen aus­

geprägte Dogma

von einer „Höllenfahrt Christi", sei es, um „die

Väter" zu erwecken, den Todten das Evangelium zu verkünden, die Verdammten zu erlösen: sei es, um Gericht in der Hölle zu halten,

den Teufel zu besiegen, den Triumph über die Hölle zu feiern. —

Die aus der Reformation entstandenen Kirchen haben den Satz verschieden gedeutet.

In der reformirten Kirche gilt die Höllenfahrt

theils, wie ursprünglich, nur als Bezeichnung des Todes, theils als für

Bild

die dem

Tode

ungeheure

Todesangst.

„Warum wird hinzugefügt: Niedergefahren zur Hölle?"

„Damit ich

vorangegangene

in höchsten Schmerzen und Anfechtungen mich des getroste, daß mein

Herr Jes. Chr. durch

die

unsagbaren

Seelenängste,

Schrecken, in welche er sowohl vorher, vor allem aber, am Kreuze hing,

Qualen

gestürzt worden ist,

der Hölle befreit hat"

Qualen und

während er

mich von den Aengsten und

(Heidelberger Katech. Fr. 44). —

Die lutherische Kirche hält dagegen an der thatsächlichen Auffassung fest:

Christus ist „als Gott und Mensch" zur Unterwelt

und hat den Satan besiegt. cordienformel Art. 9).

Weise.

gestiegen

Die Weise sei nicht zu erklären (Con­

Luther selbst deutet es in freier sinnbildlicher

Seine Worte, in denen er nach seiner Art frisch und fröhlich

mit den herkömmlichen Vorstellungen umspringt und unbekümmert

um das Geschick des Buchstabens den Kern aus der Schale heraus­ schält, sind zu bezeichnend,

als daß wir sie nicht, zumal sie wenig

bekannt sind, hersetzen sollten:

„Wie es aber zugegangen, daß der

Mensch da im Grabe gelegen und doch zur Hölle gefahren ist, da

sprich,

das weiß ich nicht,

reden können. Bild fassen:

werde es auch nicht erdenken und aus­

Aber grob kann ich es dir wohl malen und in ein Er nahm die Fahne als ein sieghafter Held,

und lief

damit wider der Höllen Thor, und stieß es auf und rumorte unter

den Teufeln, daß hier einer zum Fenster, dort der andere zum Loch

Werk des Erlösers.

Zweiter Artikel.

312

2. Hauptstück.

herausfiel.

Kommt dann ein unzeitiger Klügling mit seiner hoch­

verständigen Vernunft, hohnlächelt und spricht:

Ei, was giebeft du

für? Meinst du, daß die Hölle ein hölzernes Thor hat? so sprich du:

lieber Meister Klügel, das weiß ich sowohl als du; ich könnte auch, so es wohl oder nütze wäre, so scharf davon reden, als du; ich weiß

daß kein Zimmermann

sehr wohl,

Denn die Hölle ist gewesen, men ist.

der Höllen Thor gemacht hat.

ehe ein Zimmermann auf Erden kom­ Riegel u. s. w., wie Schlösser

Sie hat nicht Holz, Eisen,

und Häuser

auf Erden haben.

Das Thor ist nicht hölzern und

eisern, und die Fahne, damit Christus nicht tüchern.

das Thor

aufgestoßen,

ist

Ich wollte auch wohl solche Bilder und Figuren fein

erklären und auslegen, was Fahne, Thor, Riegel u. s. w. bedeute,

Aber ich wiü's nicht thun, sondern

und dürfte keines Klügels dazu.

bei den einfältigen klaren Worten und den kindischen Bildern bleiben,

die nur diesen Artikel fein malen.

Denn mit den hohen Gedanken

wollte mich

der Teufel gern aus der Bahn

und scharfen Fragen

bringen und

von dem klaren Wort und einfältigen Verstand auf

Menschen-Klugheit führen.

Darum ist es bester, ich bleibe hier ein

Kind, welches ihm dieses Bild fasset und denket, Christus sei an die

Hölle hinangelaufen, wie man sonst an ein Thor läuft.

Solch Bild

kann mir nicht schaden, noch mich verführen; sondern dienet und hilft

mir wohl dazu, daß ich diesen Artikel desto stärker fasse und behalte;

und bleibt doch

der Verstand

rein und unversehrt,

Teufel und Hölle überwunden hat,

Gott gebe,

daß Christus

Fahne, Stab sei hölzern oder eisern oder gar keine gewest. wir doch sonst alle Dinge,

Thore,

die Pforten,

Müssen

die wir nicht kennen und wissen,

durch

Bilder fassen, ob sie gleich nicht so eben zutreffen, oder in Wahrheit also sein,

S. 233.

wie es

die Bilder ausmalen" (Leipziger Ausgabe XVI.

Vergl. Ausg. von Walch, Halle, 1744, Th. X. S. 1354 f.).

Fassen wir das alles zusammen,

so ist

der Kern dieser von

Luther mit solchem Humor behandelten Vorstellungen über die Höllen­ fahrt Christi:

reichende

die über das Grab,

Erlöser-Thätigkeit Christi.

sein und unser Grab, hinaus­

Seine Wirksamkeit

auf die Zeit seines irdischen Daseins beschlossen, auch in jenem Leben fort.

ist nicht

er setzt dieselbe

Und ebenso wenig ist sie auf diejenigen

beschränkt, welche ihn hienieden kennen gelernt haben und an ihn

313

Höllenfahrt Jesu.

gläubig geworden sind: er holt, um mit Luther zu reden, die Leute

aus

noch

Alle die Millionen,

der Hölle heraus.

gelebt haben und gestorben sind,

die vor Christo

ohne ihn gesehen zu haben,

„Väter", die auf ihn gehofft'), wie die „Völker", die,

die

ohne es zu

wissen, nach ihm geseuszt habens, sie sollen ihn auch sehen; es soll

ihnen das Evangelium verkündet werden.

gleicherweise denen,

sondern

welche noch

sofern sie geboren werden und sterben,

Und nicht ihnen allein,

heute vor Christo leben,

ohne ihn kennen lernen zu

können: Heiden und Juden und Muhamedaner; aber auch Christen,

denen zwar von ihm gesagt worden ist, aber auf eine solche Weise, daß man schon anders woher recht fest und innig an ihn glauben

wenn man nicht durch eine solche entstellende

gelernt haben muß,

Predigt vielmehr von ihm weggescheucht werden soll.

wird

nach

Allen diesen

in einem andern Dasein Gelegenheit

dieser Zeitlichkeit

gegeben werden, Christum, der auch für sie gestorben ist, kennen zu lernen, wie er ist:

damit sie sich entscheiden und dann, je nachdem

sie sich entschieden haben, ihr Urtheil empfangen gleich uns.

Was wir in solcher Weise an den ursprünglich in einem andern Sinne gemeinten Satz von der „Höllenfahrt" anknüpfen, ist eine so

tröstliche Wahrheit, rauben lassen.

daß sich niemand dieselbe so leicht wird wollen

Es fragt sich nur,

ob

wir ein Recht haben,

sie

hinein zu legen, ob wir überhaupt für sie Grund der Schrift haben.

Darauf ist zu erwidern, daß selbst, wenn wir nicht im Stande wären, einzelne Aussprüche der h. Schrift für sie anzuführen, wir dennoch

an ihr festhalten und sie lehren müßten, weil sie derartig in dem

Gesammtinhalt der Schrift gegründet und mit dem Wesen des Christen-

') Luk. 10, 23. sage euch:

„Selig

sind

die Augen, die sehen,

das ihr sehet, denn ich

Viele Propheten und Könige wollten sehen, das ihr sehet, und haben

es nicht gesehen; und hören, das ihr höret, und haben es nicht gehört."

2) Apostg. 17, 22. 23.

„Ihr Männer von Athen, ich sehe, daß ihr in jeder

Hinsicht gar andächtig seid.

Denn, da ich hindurchging, und eure Gottesdienste be­

trachtete, sand ich auch

Gott."

13. 14.

einen Altar,

darauf war geschrieben:

„Was ihr nun unwissend verehrt, das

„Dem unbekannten

verkündige ich euch." — Luk. 10,

„Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wären die Thaten zu

Tyrus und Sidon geschehen, die bei euch geschehen sind, sie hätten längst in Sack und Asche gesessen,

und Buße gethan.

Doch es wird Tyrus und Sidon erträg­

licher gehen im Gericht, denn euch." cf. Matth. 12, 41. 42.

314

2. Hauptstück.

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

thums verwachsen ist, daß das christliche Nachdenken immer wieder auf sie kommen würde, und daß keine mit sich verständigte christliche

Frömmigkeit sie entbehren könnte.

Mögen sittlich rohere Zeiten sich

bei der ewigen Verdammniß der Heiden und Juden beruhigen, ja, sich derselben wohl gar erfreuen können, mögen religiös-indifferente die Frage umgehen, dadurch, daß sie jeden Unterschied der Reli­

gionen schließlich für gleichgültig erklären und nach dem bekannten „Christen, Juden, Hottentott, wir glauben all' an einen Gott" die Behauptung aufstellen, wenn einer nur, seinem Glauben oder Aber­ glauben getreu, rechtschaffen lebe (also unter Umständen treulich Un­

zucht treibe, Menschen opfere und fresse), so werde er selig: wir, die

wir — mit jedem vernünftigen Menschen — Seligkeit nur in der

Wahrheit und Gerechtigkeit, nicht aber im Wahne und in der Sünde für möglich halten, andererseits als Christen noch daran festhalten,

daß Christus allein „der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, und daß niemand zum Vater kommt,

denn durch ihn" (Joh. 14, 6; cf.

17, 3; Apostelg. 4,12) —: wir können nicht anders, als aus diesem

schriftmäßigen christlichen Glauben heraus auch das glauben, daß Veranstaltungen müssen getroffen sein, um diejenigen, welche in dieser

Zeitlichkeit diesen Weg und diese Wahrheit nicht gefunden haben, nicht haben finden können, irgendwie und irgendwann in einem andern Dasein auf diesen Weg zur Wahrheit zu führen. Und dürfte schwerlich eine andere Weise gefunden werden, durch welche

gleichmäßig

die Forderungen eines Glaubens, der nicht mit sich

markten läßt und einer Liebe, die — ächt christlich — nicht im Stande ist, ihre Augen gegen das Loos ihrer Mittmenschen zu verschließen,

befriedigt, ja, bei der überhaupt noch der christliche Glaube:

an

einen gütigen und gerechten Gott, den „Vater" seiner Menschenkin­ der, aufrecht erhalten werden könnte. — Aber es fehlt auch nicht

an einzelnen Beweisstellen.

Zuerst die sofort entscheidende:

„Gott

will, daß allen Menschen geholfen werde, und zur Erkenntniß der Wahrheit kommen. Denn es ist nur ein Gott und ein Mittler

zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung, daß solches zu seiner Zeit gepredigt würde" (1 Tim. 2, 4—6). Sodann: „denn dazu ist Christus gestorben und auferstanden, daß er über Todte

Höllenfahrt Jesu.

315

und Lebendige Herr fei" (Römer 14, 9). Näher: „denn dazu ist auch den Todten das Evangelium verkündet worden, damit sie auf Men­

schenweise dem Fleische nach gerichtet werden, auf Gottes Weise aber lebendig seien dem Geiste nach" (1 Petri 4, 6). Endlich: „denn auch Christus ist einmal um unsrer Sünde willen gestorben, ein Gerechter für die Ungerechten, auf daß er uns Gott zuführte'), getödtet nach

dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geiste; in welchem er auch

hinging und den Geistern im Gefängniß predigte,

ungehorsam waren,

die einst

als Gottes Langmuth harrte in den Tagen

Noah's, da man die Arche zurüstete, in welcher wenige, das ist acht Seelen, behalten wurden durch das Wasser" u. s. w. (1 Petri 3, 18f.).

Bedenken könnte nur die Zeit erregen, in welche diese „die Geister im Gefängniß" erlösende That gesetzt wird, die drei Tage, während auf den sie

welcher der Herr im Grabe lag; so wie der Kreis,

beschränkt zu werden scheint, nämlich auf die Verdammten vor Noah und

zu Noah's Zeit:

den spätern aber gelte sie nicht.

Aber das

erstere ist ein reines Mißverständniß, zu welchem weder diese noch

irgend eine andere Stelle der h. Schrift die mindeste Veranlassung giebt, welches vielmehr seinen Grund lediglich in der Stellung hat, den dieser Satz in dem apostolischen Glaubensbekenntniß einnimmt

und seiner ursprünglichen Bedeutung nach (daß nämlich die Seele Jesu bei seinem Tode sich gleich der unseren von seinem Leibe ge­

trennt habe und in die Unterwelt gegangen sei) auch allein einneh­ men konnte.

Hätte man von Anfang an mit der „Höllenfahrt"

Jesu den Sinn verbunden, den man später dem Tenor der Schrift

und den Forderungen des Glaubens gemäß mit ihr verknüpfte, so würde dieselbe ohne Zweifel auch eine andere Stelle gefunden haben, nach der Auferstehung, etwa bei oder nach dem „Sitzen zur Rechten

Gottes":

wie denn auch

die Petrusstelle,

wenn man sie pressen

will („gelitten", „getödtet", „lebendig gemacht", „hingegangen zu den

Geistern im Gefängniß"), diese Reihenfolge angiebt.

In der That

aber giebt sie gar nichts über die Zeit an. — Ebenso ist die Beschrän­

kung der erlösenden Thätigkeit Christi auf die in der Sündfluth Um­ gekommenen und die vor ihnen ein bloßer Schein.

') Luther mißverständlich: „auf daß er uns Gott opferte.

Im Gegentheil

316

2. Hauptstück.

Zweiter Artikel. Werk des Erlösers.

werden diese nur als das leuchtendste Beispiel angeführt, daß selbst für die schon Gerichteten, die ihr Urtheil in der Sündfluth schon

empfangen haben, noch Gnade und Vergebung in Christo bereitet ist: während für die nach jenem Gerichte Gebornen, in der noch lau­

fenden Weltzeit Lebenden, als für solche, welche nach allgemein bibli­ schen Anschauungen dem Gerichte erst noch entgegensetzen, deren Sache also noch schwebt, sich das von selbst versteht. Daß dies in der That

der Gedanke der Stelle ist, beweisen die folgenden Worte — „in den Tagen Noah, da die Arche zubereitet war, in welcher wenige,

das ist 8 Seelen, gerettet wurden durch's Wasser, welches auch uns

im Gegenbilde nun rettet als Taufe,

reinigkeit am Fleisch, sondern u. s. w."

nicht das Abthun der Un­

Das heißt, das Wasser der ist ein Bild der­

Sündfluth „deutet" auf das Wasser der Taufe,

selben; nur geht es bei beiden umgekehrt zu: das Wasser der Sünd­ fluth war das Mittel des Gerichts, aus dem nur wenige entrannen;

das

Waffer

der

Taufe

ist das

Mittel,

alle

selig

zu

machen

(v. 20f.). -

Schließlich ist noch auf den Mißbrauch aufmerksam zu machen, den diejenigen mit diesem Lehrstück treiben würden, welche meinen,

weil noch in einem andern Leben Besserung und Vergebung möglich ist,

darum ihre Bekehrung ungestraft bis auf dieses aufschieben zu

dürfen.

Sie vergessen, daß auch droben Buße und Vergebung sich

in keiner andern Weise vollziehen,

als hienieden;

daß sie also in

keiner Art um die Kämpfe und Entschlüsse, denen sie hier aus dem Wege gehen wollen, herumkommen;

daß sie sich dieselben vielmehr

erschweren, sofern jeder Schritt weiter in die Sünde hinein, leichtfertige Aufschub schwieriger und

die Umkehr und

damit auch

schließlich unmöglich macht.

jeder

die Vergebung

Vollends gegen den

Frevel, der mit der Wahrheit, die er anerkennen muß,

muthwillig

Spott treibt, greift jenes furchtbar ernste Wort des Erlösers Platz: „Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben, aber die

Lästerung wider den Geist wird den Menschen nicht vergeben.

Und,

wer, etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet wider den h. Geist,

dem wird es nicht ver­

geben weder in dieser noch in jener Welt" (Matth. 12, 31. 32). — Nicht minder würden diejenigen, welche um der in jenem Leben

Auferstehung Jesu.

317

möglichen Rettung willen es unterließen, denen, die noch im „Dunkel

und Schatten des Todes sitzen", das „Licht der Welt", I. Christum, schon hienieden nach Möglichkeit zu verkünden, — sie würden bewei­

sen,

daß es ihnen gleich sehr an Glauben,

wie an Liebe,

fehlt.

Denn der Glaube muß reden von dem, was und an wen er glaubt (2 Kor. 4,13).

Die Liebe aber kann es nicht tragen, Mitmenschen,

denen sie helfen kann,

geistig verkommen zu sehen, weil ja Aus­

sicht da sei, daß ihnen droben werde geholfen werden (1 Joh. 3,17).

Am dritten Tage auferstanden von den Todten.

Ueber die Auferstehung des Herrn ist neuerdings so viel ver­ handelt worden, und von diesen Verhandlungen so viel in die Ge­ meinde gedrungen, daß es nöthig ist, auf diesen Gegenstand näher,

als es sonst geschehen würde, einzugehen.

Daß unser Herr Jesus Christus sich seinen Jüngern in mehr­

fachen Erscheinungen „lebendig erwiesen hat" (Apostelg. 1, 3);

und

daß diese für ihre Person überzeugt gewesen sind, in diesen Erschei­

nungen ihn selbst, den leibhaftig von dem Tode Auferstandenen, vor sich zu sehen: so wie,

daß sie erst durch diesen Glauben an seine

Auferstehung diejenigen geworden sind, als welche sie sich von da ab

zeigen, und den Muth und die Kraft gewonnen haben, den Gekreu­ zigten unter dem Widerspruch, der Verfolgung, dem Hohne der Welt

aller Welt zu verkünden (2 Kor. 11, 24 f.):

dies ist eine Thatsache,

welche so sicher bezeugt ist, wie nur eine geschichtliche Thatsache be­ zeugt werden kann; sicherer, als viele andere, an denen wir nichts­

destoweniger mit Recht als an unumstößlichen festhalten.

Für diese Thatsache treten noch außer den Evangelien ein:

1) Die gesammte Verkündigung der Apostel, welche ohne Aus­ nahme auf dem Glauben an die Auferstehung Jesu ruht und die­ selbe zu ihrem Hauptgegenstande hat. 2) Das Zeugniß

Augenzeuge ist,

des Apostels Paulus,

der zwar selbst kein

sich aber aus Augenzeugen beruft, und der eine

ganze Reihe von Erscheinungen des Auferstandenen mittheilt, theils vor einzelnen besonders namhaft gemachten, theils vor allen Aposteln, theils endlich vor einer sehr großen Anzahl von Jüngern, von denen

viele, als er sein Zeugniß schrieb, noch lebten (1 Kor. 15, 1 f.).

2. Hauptstück.

318

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

Daß Paulus nicht sämmtliche uns bekannte Erscheinungen an­ führt, sondern mehrere z. B. vor Maria Magdalena (Joh. 20, llf.),

den Frauen,

die am Grabe gewesen waren (Matth. 28, 8f.), den

Emmahuntischen Jüngern (Luk. 24, 13f.) übergeht, hat wohl darin seinen Grund,

daß es ihm nicht auf geschichtliche Vollständigkeit,

auf Beweise für die Auferstehung Jesu ankam.

sondern

führt er nur solche Erscheinungen an,

Darum

die theils durch die Namen,

theils durch die große Menge der Augenzeugen vorzugsweise durch­

schlugen. 3) Durch denselben Apostel wird

die überaus wichtige That­

sache bezeugt," daß Jesus am dritten Tage auferstanden, daß er begraben ist.

chen,

desglei­

Durch beides wird von vorn herein

jeder Gedanke an eine nur mythische Auffassung der Auferstehung ausgeschlossen:

sofern zur Entstehung eines solchen Mythus jeden­

falls eine längere Zeit gehört haben würde, derselbe auch sofort durch

die Hinweisung aus den Leichnam im Grabe hätte widerlegt werden müssen.

Der „dritte Tag" wird übrigens außer von dem Apostel durch

die sehr frühe Einführung

der Sonntagsseier, von der schon

das

Neue Testament — wenn auch nicht ganz sichere — Spuren zeigt'),

bezeugt. — Solchen Zeugnissen gegenüber würde der Zweifel an der Auf­ wenn sich nicht mit ihnen Umstände

erstehung Jesu unbegreiflich,

verbänden, welche zwar die Leugnung der Thatsache nicht rechtfertigen,

wohl aher zum ernsten Nachdenken über ihre eigentliche Beschaffen­ heit auffordern.

Es ist Pflicht, auch hierauf aufmerksam zu machen,

um die Billigkeit gegen diejenigen zu bewahren, welche von der her­ kömmlichen Ansicht abweichen.

Solche Umstände sind:

die Erscheinungen

1) die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit,

des Auserstandenen in eine Reihe zu bringen.

2) Der Widerspruch, welcher darin zu liegen scheint, daß der Bericht

beim Matthaus die Erscheinungen Jesu von vorn herein nach Ga*) 1 Kor. 16, 2.

„Die Korinthier sollen an jeglichem ersten Wochentage (nicht

wie Luther übersetzt: an einem jeglichen Sabbathe) für Jerusalein etwas zurück­

legen."

Apostg. 20, 7.

„Auf den ersten Wochentag (Lnther unrichtig: auf einen

Sabbath), da wir zusammenkamen, das Brod zu brechen."--------

Auferstehung Jesu.

319

liläa werveist, der beim Lukas sie in Jerusalem setzt, und nur Jo­

hannes; siwohl von Galiläischen als auch von Jerusalemitischen Erscheinumgm des Auferstandenen weiß. (Markus kommt insofern nicht

in Bebraht, als die betreffenden Berichte von Mark. 16, 9 an ein späterer Nachtrag sind.)

nach

3) Die Abweichungen in den Berichten,

denen das eine Mal der Leib Christi aus Fleisch und Blut

bestehem, Speise zu sich nehmen, sich befühlen lassen soll, das andere Mal wieter Jesus so geisterhaft erscheint, daß es schwer ist, an Leib­

lichkeit zr denken.

4) Endlich der Umstand, daß der Apostel Paulus

die ihm zu Theil gewordene Erscheinung Jesu mehrere Jahre nach

der Himmelfahrt (Apostelg. 9) in eine Reihe und als vollkommen gleichartiz mit den Erscheinungen

des Auferstandenen

am dritten

Tage mach seinem Tode und den folgenden setzt: was von selbst auf

den Gedenken bringt, daß auch die letzteren nur geistiger Natur ge­ wesen fetzn. Gehen wir nun an die Darstellung der hauptsächlichsten An­ sichten fiter die Auferstehung Jesu,

zu welchen die dargelegte Be­

schaffenheit der Berichte Anlaß gegeben hat:

so sei — weil sie ja

doch hie und da noch herumschleicht und namentlich Halbgebildete

sich öfter mit dieser allerneuesten Entdeckung, die sie in irgend einer

obskuren Schrift gemacht haben, etwas wissen — so sei im Vorbei­

gehen zunächst der alten jüdischen Fabel gedacht,

wonach die Auf­

erstehung Jesu auf einem Betrug der Apostel beruhen soll (Matth. 27 , 62s.).

Man weiß in der That nicht, was man bei dieser An­

sicht mehr bewundern soll,

die Niedrigkeit der Gesinnung oder die

Verwahrlosung des Denkens, welches eine Erscheinung, wie die des Christenthums, auf solche Ursprünge zurückzuführen, solches Verfahren mit der Sache, dem Charakter, den Schicksalen der Apostel zusam-

menzureimen vermag.

2) Von ernsten und frommen Männern ward ehedem — und

wird

mitunter noch jetzt — die Auferstehung Jesu als eine durch

das Zusammentreffen mancher nicht mehr hinlänglich klar zu machen­

den Umstände unter Gottes besonderer Fügung bewirkte Wieder­

belebung aus dem Zustande des Scheintodes

aufgesaßt.

Indem

sie sich darauf berufen, daß doch der Tod nicht eher mit Sicherheit als eingetreten

angenommen werden dürfe, als bis die Verwesung

2. Hauptstück.

320

begonnen habe,

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

welche nach dem eignen Zeugnisse der Schrift bei

dem Erlöser nicht stattgefunden habe (Apostg. 2, 25—32); indem sie weiter an einzelne Beispiele erinnern,

daß Gekreuzigte, rechtzeitig

vom Kreuze abgenommen, durch menschliche Pflege wieder hergestellt worden seien'),

meinen sie annehmen zu dürfen, daß auch bei dem

Erlöser ein ähnliches stattgefuuden habe;

daß durch die Kühle der

Gruft und den Duft der Spezereien das schlummernde Leben geweckt

und danach durch die liebevolle Pflege der Seinen wieder zur Völligkeit gebracht worden sei. — Es wäre Unrecht, dieser Auffassung vor-

zuwersen, daß sie, sei es über den Tod, sei es über die Auferstehung des Herrn,

unwürdig

denke.

Auch

bei ihr bleibt stehen, daß der

Herr erwartet hat, zu sterben, und, soweit es an ihm war, — den Tod auch ausgekostet hat.

eine nur durch

Desgleichen wird die Auferstehung als

besondere göttliche Fügung mögliche, für die

Entstehung der christlichen Kirche und das geschichtliche Christenthum unentbehrliche Thatsache anerkannt.

Auch nach dieser Auffassung

ruht die Kirche Christi auf dem geöffneten Grabe ihres Herrn. — Aber die Auffassung ist sonst unmöglich.

Denn: a) ein Gekreuzigter

ist nicht innerhalb 3 Tage durch Anwendung bloß ärztlicher Mittel in dem Maße herznstellen, daß er, wie ein Gesunder, umherwandelt

und mehrfache Reisen unternimmt: es sei denn, daß man ein Wunder statuirt, wodurch aber die ganze Ansicht überflüssig würde,

b) „Ein

halbtodt aus dem Grabe Hervorgekrochener, siech Umherschleichender,

der ärztlichen Pflege,

des Verbandes, der Stärkung und Schonung

Bedürftiger und am Ende doch den Leiden Unterliegender konnte un­ möglich

auf

Grab machen,

die Jünger den Eindruck des Sieges über Tod und

der ihrem spätern Auftreten zu Grunde lag" (Worte

Straußens in seinem „Leben Jesu für's Volk"),

c) Ueber das alles

würde auf den Erlöser ein eigenthümliches, mit seinem Charakter unvereinbares Licht fallen, daß er gegen seine Jünger über die Weise

seiner Wiederbelebung so völlig geschwiegen und nicht das Geringste ]) Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus berichtet, daß er zur Zeit des jüdischen Krieges, im Gefolge des römischen Befehlshabers reitend, in mehreren am Wege Gekreuzigten ehemalige Kriegsgefährten erkannt und dieselben sich los­ gebeten habe: daß es ihm aber trotz aller Sorgfalt nur bei einem unter den dreien

gelungen sei, ihn am Leben zu erhalten.

Auferstehung Jesu.

321

um sie aus der Täuschung, in der sie sich hinsichtlich

gethan hätte,

der Natur derselben befunden, zu reißen. —

die Auferstehung Jesu in

3) Wird

dieser Weise ganz leiblich

gefaßt, so legen sie andere ganz geistig aus; indem sie sämmtliche Erscheinungen Jesu für,

jeder Körperlichkeit

oder „Gesichte" erklären.

entbehrende, Visionen

findet hier ein großer Unterschied

Doch

die einen diese Gesichte lediglich als Erzeugnisse

statt, je nachdem

menschlicher Reflexion,

erhitzter Phantasie,

eines krankhaft erregten

Nervensystems d. i. als Hallucinationen ansehen, die andern da­

gegen

darin

gottgewirkte Schauungen und

Offenbarungen Gottes

und Jesu Christi d. i. Visionen im religiösen Sinne des Wortes sehen, denen zwar keine grobsinnliche Wirklichkeit, dagegen Realität im höhern Sinne des Wortes und Wahrheit zukommt. Die erstere Ansicht hat man wieder in zweifacher Weise zu be­ a) Die „Gesichte" sind das Produkt geistiger Arbeit

gründen gesucht,

und

verständiger

Reflexion.

Die Jünger haben sich in der Stille

wieder

auf ihren Glauben besonnen und im

Galiläa's allgemach Studium der

Schrift den ihnen

anfänglich

unlöslich

scheinenden

Widerspruch zwischen demselben und dem letzten Geschicke des Herrn lösen gelernt.

Sie haben diese Lösung nur in dem mehr und mehr

daß Jesus nicht

zur Ueberzeugung werdenden Gedanken gefunden,

im Grabe geblieben sein könne,

aus welchen Reflexionen sich daß er auferstanden

daß er auferstanden sein müsse,

die weitere Ueberzeugung entwickelte,

sei und schließlich

erst einzelne, dann immer

mehrere zu der Ueberzeugung gekommen seien, daß der Auserstandene ihnen erschienen sei, und sie ihn gesehen hätten.

lichen Strauß,

b) Kürzer geht die

So im wesent­

andere Auffassung zu Werke:

Die sämmtlichen Erscheinungsgeschichten seien auf die Hallucination

zurückzuführen,

welche die nervös-exaltirte Maria Magdalena ant

zweiten Morgen am offenen Grabe gehabt habe.

Von ihr habe sich

das visionäre Erlebniß bei der erregten Stimmung der Jünger wie

elektrisch sortgepflanzt und zuletzt selbst ganze 'Versammlungen, wie

jene von „500 Brüdern", auf einmal mit sich fortgerissen.

Das ist

die Ansicht von Ronan, die übrigens auch Strauß sich offen zu halten scheint, wo er sagt: Eltester, Materialien.

„Des Markus Ausdruck, 2. Auflage.

er erschien zuerst der

21

2. Hauptstück.

322

Maria Magdalena,

aus

Werk des Erlösers.

Zweiter Artikel.

der er sieben Teufel

ausgetrieben hatte

(Mark. 16, 9), giebt viel zu denken." —

Beide Erklärungsweisen theilen zunächst mit einander, daß sie mit den Berichten nicht fertig zu werden vermögen, ohne noch allerlei

die einem wesentlich

Zuthaten,

Hülse zu nehmen.

andern Standpunkt angehören, zu

Ein „Unbekannter" gesellt sich

zu den Emma­

huntischen Jüngern und setzt ihnen in begeisterter Rede auseinander, was bis dahin auch den vertrautesten Jüngern

gekommen war.

„Es ist der Herr."

nicht in den Sinn

Ein „Unbekannter", im Morgen­

nebel am User stehend, ertheilt den Jüngern Rath, wo sie das Netz

„Es ist abermals der Herr" (Strauß). — Weiter

auswerfen sollten.

haben sie miteinander gemein,

daß hie und dort „ein bisher uner­

hörter Glaube aus der gänzlichen Hoffnungslosigkeit, eine unermeß­

liche

Wirkung

aus

der nichtigsten Ursache,

die Umgestaltung der

Weltgeschichte aus einer zufälligen Selbsttäuschung abgeleitet wird"').

Das macht sie zur Unmöglichkeit trotz Renan's Deklamation: „pouvoir divin de l’amour! moments sacres, oü la passion d’une hallucinee donne au monde un dieu resuscite!“

Im besondern scheitert Strauß' Hypothese an dem „dritten Tage",

wie an

dem leeren Grab.

stritten.

Jesus

ist nicht

Beides wird daher von ihm auch be­

begraben,

sondern mit den andern Ge­

kreuzigten gleich auf der Richtstätte eingescharrt worden: unmöglich war,

erstehung

auftraten,

dritte Tag

so daß es

als die Jünger mit der Verkündigung seiner Auf­

seinen Leichnam

aufzuweisen.

nur eine sprüchwörtliche Redensart,

Ebenso ist der

kein geschichtliches

Datum! — Renan hat seine Erfindung bereits selbst moralisch ver­

nichtet durch die Weise, wie er in seinen „Aposteln" die Hallucination der Maria Magdalena sich auf die Jünger fortpflanzen läßt. Apostel sind versammelt;

durch's Gemach; und

ein Fenster öffnet sich;

Die

ein Zugwind geht

eine Thür knarrt: alsbald ruft einer: „der Herr!"

alle sind überzeugt,

das gesprochen habe!

daß sie ihn gesehen, und daß er das und

Aber auch, abgesehen

davon, scheitert seine

Ansicht an dem Charakter der Apostel, wie der apostolischen Kirche.

Die Jünger Jesu waren keine Schwärmer, keine Kamisarden:

*) Hase: Leben Jesu, über Renan'ö Hypothese.

son-

Auferstehung Jesu.

dern nüchterne,

besonnene Männer

323 wenn das

mit einem trocknen,

Wort gestattet ist, hausbacknen Verstände.

Sie verhielten sich auch

noch zu der ersten Nachricht von der Auferstehung nüchtern prüfend

(vergl. insbesondere Joh. 20, 3—8).

Es ist nicht zu begreifen, wie

sie mit einem Male zu Visionärs sollen geworden sein;

umgekehrt

ist nicht einzusehen, „wie aus einer solchen nervös-exaltirten, wochen­

lang in Visionen schwelgenden Jüngerschaft plötzlich wieder jene erste Christengemeinde soll hervorgegangen sein, welche die Geschichte kennt,

jene ernste,

lehrende und leidende,

in aller Begeisterung nüchterne,

organisirende und werkthätige Gemeinschaft,

als

welche wir jene

Jüngerschaft, nachdem der Visionstaumel sechs Wochen

gedauert,

nach der siebenten Woche auftreten sehen"'). 4) Himmelweit

von

dieser

in

jeder

unhaltbaren

Beziehung

Hallucinations-Hypothese ist unterschieden die Visionstheorie im bibli­

schen Sinne des Wortes: die Annahme gottgewirkter „Schauungen"

und „Offenbarungen" Gottes und I. Christi.

Sie ist denkbar; hat

auch Anlehnung an die Schrift, sofern in der That die Apostel, ins­

besondre Paulus auch sonst „Gesichte" (Apostg. 10. 11) und „Offen­

barungen" des Herrn sie nicht Stand,

Grab!),

Dennoch hält

gehabt haben (2 Kor. 12, 1).

den Berichten nicht gerecht (— das

a) Sie wird

b) Sie löst nicht die Widersprüche, die in der verschiedenen

Angabe der Lokalität, in der Reihenfolge, in der Farbe der einzelnen Erzählungen liegen,

c) Es ist bei dem subjektiven Charakter, welchen

Visionen haben, nicht einzusehen, wie mehrere, ja viele dasselbe ge-

gesehen und vernommen haben sollen,

d) Visionen wären von den

Aposteln nicht für reale Erscheinungen des Auferstandenen gehalten

und

damit verwechselt worden.

Waren sie doch mit Visionen ver­

traut und wußten sie — obwohl des göttlichen Ursprungs derselben

bewußt — bestimmt von dem sinnnensällig Erlebten zu unterschei­ den^).

e) Daß

die Jünger „Gesichte" des Herrn gesehen,

Thomas und, so

viele sonst

anfangs

an der Auferstehung

würde

Jesu

*) Beischlag „die Auferstehung Christi", nach Keim: „der geschichtliche Christus".

2) Apostg. 10, 17.

„Als Petrus sich bei sich selbst bekümmerte, was das Ge­

sicht wäre, das er gesehen hatte, da" — u. s. w.

2 Kor. 12, 2.

„Ich weiß einen

Menschen in Christo — ist er im Leibe gewesen, so weiß ich es nicht; ist er außer dein Leibe gewesen, so weiß ich es auch nicht.

Gott weiß eö." k;

zweifelten, nie bezweifelt haben, f) Die geschichtliche Grundlage für die Visionstheorie ist die Erscheinung des Auferstandenen, welche Paulus gehabt (Apostg. 9), und welche man nur als eine Vision auffasfen zu können meint, und sich um so mehr berechtigt hält, von ihr aus auch auf die übrigen Erscheinungen Jesu zu schließen, als Paulus ja ausdrücklich — wie bereits erwähnt — sein Erlebniß mit denen der Urapostel in eine Reihe stellt. Man übersieht dabei nur zweierlei: Zuerst: wenn für Paulus die Möglichkeit vorlag, diese für ihn Epoche machende Erscheinung (die er von seinen sonstigen „Ge­ sichten und Offenbarungen des Herrn" so bestimmt — wir wissen nicht, warum? — unterscheidet) für eine persönliche Erscheinung Jesn Christi zu halten: so brachte ihm die christliche Gemeinde bereits den Auferstehungsgedanken und die Berichte von dem Auferstandenen entgegen. Er war mit dem Gedanken vertraut, obschon er die That­ sache bekämpfte. Für die Urapostel dagegen war dieser Gedanke etwas schlechthin Unerhörtes und Neues! Zum andern: daraus, daß Paulus sein Erlebniß mit dem der Urapostel in eine Reihe stellt, folgt noch nicht, daß sie wirklich gleichartig waren und von der Ur­ kirche als solche angesehen worden sind. Wenigstens dürfte sich, wenn letzteres allgemein der Fall gewesen wäre, seine notorische Zurück­ stellung gegen die übrigen Apostel, ja die völlige Leugnung seiner apostolischen Würde Seitens einer zahlreichen Partei, wenn nicht bei der Mehrzahl der Jerusalemitischen Gemeinde ungeachtet seiner außer­ ordentlichen Wirksamkeit — kaum erklären lassen. 5) Diese Schwierigkeiten haben endlich dahin geführt, die Visionstheorie noch bis zur Annahme objektiver (magischer) Ein­ wirkungen der abgeschiedenen Seele Christi aus dem Hades heraus auf die Seelen der Apostel zu steigern. Abgesehen von den Ein­ wendungen, welche man auch gegen diese Ansicht aus dem Frühern her (4, a. b. c.) erheben müßte, so unterscheidet sie sich — was das Wunderbare betrifft — von der Annahme einer wirklchen Auferstehung doch nur durch das Wunderliche und Gespensterhafte, das ihr anhaftet, und das sie ohne Zweifel den meisten minder glaubhaft machen wird, als jene. Ueberblicken wir das Gesagte, so haften diesen sämmtlichen Er­ klärungen der Auferstehungsthatsache nicht mindere, eher wohl noch

Auferstehung und Himmelfahrt Jesu.

325

größere Schwierigkeiten an, als welchen wir bei der einfachen An­ nahme dieser Thatsache begegnen,

und zwar der neuerdings so be­

liebten Visionstheorie die meisten.

Allerdings „treten die Berichte

über

die

einzelnen Momente

des

Wiedersehens Jesu und

Jünger in schwankenden Ueberlieferungen auf,

seiner

aber es sind diese

Schwankungen keine andern, als die in der Besonderheit des Gegen­ standes und in der Harmlosigkeit einer Geschichtsschreibung liegen, die neben die letzte der Erzählungen des Lukas-Evangeliums ohne

weitere

Vermittlung

die

erste

der

Apostelgeschichte

Die

stellt".

sonstigen Schwierigkeiten lösen sich bei dem Glauben an eine wirk­ liche Auferstehung sogar leichter, als bei jeder andern. auch

die in

Nachrichten,

Und wenn

den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte enthaltenen wie dies

neuerdings behauptet wird,

nicht in jeder

Beziehung streng historisch wären, „so bleibt unter allen Umständen

unleugbar

die frühe Gründung

der Gemeinde in Jerusalem

dem Glauben an den Auferstandenen,

mit

der hier — wenn kein Be­

trug dazwischen trat — an seinem Leichnam zu Schanden gewor­

den

wäre.

Sonach

ruht

die Wahrheit

schütterlich auf dem Zeugnisse,

der

Auferstehung

uner­

ja auf dem Dasein der apostolischen

Kirche')." —

Anfgefahren gen Himmel. Gegen die Himmelfahrt mag nicht geltend gemacht werden, daß

es unmöglich sei, daß ein irdischer Körper die Erde verlasse und sich zum Himmel erhebe.

Dieser Einwand würde

treffen, welche mit einigen

doch nur diejenigen

reformirten Bekenntnißschriften lehren,

daß Christus mit Fleisch und Knochen und allem,

was sonst zur

Vollständigkeit des menschlichen Leibes gehöre, zum Himmel gefahren sei und jetzt zur Rechten Gottes sitze: nicht aber diejenigen, welche ihm, im Anschluß an 1 Kor. 15, 50. 51—56, nach seiner Auferstehung einen verklärten oder sich

mehr und

mehr verklärenden Leib zu­

schreiben. — Ebenso wenig schlägt der Einwand durch, daß es eine ’) Hase „Leben Jesu", dessen hieher gehörige Abschnitte zur Orientirung über den Gegenstand besonders geeignet sind. — Beachtenswerthes gegen die Visions­

theorie neben

manchem Nicht-Haltbaren bringt auch Beischlag in feinem kleinen

Vortrag: „die Auferstehung Jesu und ihre neuste Bestreitung."

2. Hauptstück.

326

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

kindische, durch unsere jetzige Weltkenntniß beseitigte Vorstellung sei,

sich das Oben als Himmel zu denken.

Die Thatsache eines außer­

ordentlichen Scheidens einmal zugegeben,

wohin sollte denn Jesus

gehen, um den Eindruck hervorzubringen, den sein Scheiden beab­ Sollte er in die Erde versinken? oder sich seitwärts im

sichtigte?

Nebel verlieren? Dazu kommt, daß ein feierliches Scheiden, welches

sich bestimmt als letzten Abschied ankündigte, durchaus nöthig war,

um die Jünger von unruhigem Harren und stetem Umschauen nach ferneren Erscheinungen des Anferstandenen, so wie von dem Haften

au den Oertlichkeiten,

an denen sie ihn bisher gesehen hatten, zu

Und für diesen Zweck war wohl kaum etwas anderes so

befreien.

geeignet, als eben die Himmelfahrt. — Schwierigkeiten macht allein der Umstand, daß gegenüber den andern Thatsachen aus dem Leben des Erlösers die Himmelfahrt verhältnißmäßig außerordentlich schwach

bezeugt ist.

Genau genommen, weiß keines der Evangelien — jeden­

falls keins etwas Näheres — von ihr.

Von dem ersten und vierten

Evangelium liegt das auf der Hand.

Der Nachtrag zum zweiten

(Mark. 16, 9f.) deutet sie allerdings an, trag.

ist aber ein Nach­

In dem Evangelium des Lukas endlich fehlen (24,51.52) in

mehreren ältern Handschriften die betreffenden Worte „und fuhr gen

Himmel, sie aber beteten ihn an", und es heißt allein „und es ge­ schah, da er sie segnete, schied er von ihnen.

Und sie kehrten wieder

gen Jerusalem" u. s. w. — So bleibt sicher allein die Apostelgeschichte, die sie erwähnt: jedenfalls ist diese die einzige, welche sie ausführlich

erzählt.

Doch geschieht dies auch hier in einer Weise, daß man er­

kennt, die bestimmte Kunde von einer Himmelfahrt, vom Oelberge

aus, 40 Tage nach der Auferstehung, sei etwas, was Lukas erst nach

der Vollendung

des Evangeliums erkundet hat.

Daß diese

nachträglich gewonnene Kunde darum nicht doch eine geschichtlich begründete sein könne, soll immer auffällig bleiben,

nicht gesagt werden.

Doch wird

es

daß auch die übrigen Neu-Testamentlichen

Schriften, obwohl sie alle das Sein Christi im Himmel voraus­

setzen,

doch von seiner leiblichen Himmelfahrt nichts wissen;

stens,

daß Joh. 6, 62

scheinen.

und

1 Tim. 3, 16 auf sie

zu

höch­ deuten

Darum darf man auch denen nicht christliche Berechtigung

absprechen, welche die leibliche Himmelfahrt nicht sowohl für eine

Himmelfahrt Jesu. „Sitzet zur Rechten Gottes.

327

geschichtliche Thatsache als für eine durch das Bedürfniß nach einem

angemessenen Abschluß herbeigeführte, den damaligen Vorstellungen entsprechende achten.

mythische Auffassung

seines Heimgangs zum Vater

Das Wesentliche ist, daß wir Christum im Himmel wissen;

und daß er in denselben nicht durch ein nochmaliges Sterben, son­ dern auf eine seiner Auferstehung entsprechende Weise eingegangen ist.

Und

ist etwas,

das

(Röm. 6, 9. 10).

was

allerdings

Paulus

auch

bezeugt

„Im übrigen hat auch die evangelische Geschichte

ihre Mysterien."

Sitzet zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters.

Es bedarf keiner weitern Auseinandersetzung,

dies eine

daß

bildliche Bezeichnung der Herrlichkeit ist, in welche der Heiland ein­

gegangen ist.

Es fragt sich nur,

welcher Herrlichkeit?

Da haben

wir uns des Winkes zu erinnern, welcher nach Apostg. 1, 11 den

Aposteln

bei der Himmelfahrt

des Herrn gegeben wurde,

als sie

dem auffahrenden Meister nachschauten: „Ihr Männer von Galiläa,

was stehet ihr und sehet gen Himmel" u. s. w., „daß sie von vergeblichen Forschungen,

d. h. doch wohl,

wohin der Herr gegangen,

und wo und in welchem Zustande er sich befinde, und Aehnlichem abstehen sollten, weil hier für menschliche Erkenntniß nichts mehr zu

ergründen sei."

Ein Wink,

der uns

spruche Kol. 3, 3. 4 entgegentritt:

noch positiver in dem Aus­

„Euer Leben ist mit Christo

verborgen in Gott; wenn aber Christus euer Leben sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch mit ihm offenbar werden in der Herr­ lichkeit." — Indeß hat die Sache doch eine Seite,

von der sie an

uns herantritt und Gegenstand unserer Erkenntniß wird:

das ist

das Verhältniß, in welchem der Erlöser nach seiner Himmelfahrt

zn uns steht.

Nach dieser Seite bezeichnet das Sitzen zur Rechten

Gottes zweierlei:

Einmal seinen Triumph über die Welt und seine

steigende Verklärung: sodann die andere Weise seiner Wirksamkeit. Auf jenes deuten Aussprüche,

wird es geschehen,

wie Matth. 26, 64:

„Von nun an

daß ihr werdet sehen des Menschen Sohn sitzen

zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels,"

d. h. gerade von jetzt ab, wo die Bosheit triumphirt, ich scheinbar

unterliege,

werdet, ihr meinen Sieg sehen in

der neuen, höhern

2. Hanptstück.

328

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

Ordnung der Dinge, welche heranzieht, in den Gotteskräfteu, welche in die Welt einbrechen.

So wie jener Phil. 2, 9f.:

„Darum hat

ihn auch Gott erhöht, und ihm einen Namen gegeben, der über alle

Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind;

und alle

Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei zur Ehre Gottes, des Vaters."

ist:

Vergleiche noch was Joh. 16,13—15 gesagt

„Der Geist der Wahrheit wird mich verklären;

Meinen wird er es nehmen und euch verkündigen.

Vater hat, das ist mein. dem Meinen

denn von dem

Alles, was der

Darum habe ich gesagt, er wird es von

nehmen und euch verkündigen." — Das zweite,

die

veränderte Weise seiner Wirksamkeit, ist ausgedrückt in zwei Sprüchen: Matth. 28, 20: „ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende;"

und Matth. 18, 20: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versam­ melt sind,

da bin ich mitten unter ihnen."

Das ließ sich für die

Zeit seines Wandels auf Erden nicht sagen.

Denn so lange war

er, wie jeder andere, an Zeit und Ort gebunden.

Wenn er in Ka-

pernaum war, war er nicht in Bethsaida, wenn in Jerusalem, nicht

in Galiläa: und, die seiner begehrten, mußten sich entweder aufmachen

und ihn suchen, oder ausharren, bis er wieder zu ihnen kam (vergl. Joh. 11, 3. 17. 21). Und wie er damals nicht immer bei den Seinen so war auch seine Einwirkung auf sie nicht eine gleichmäßige

war,

und gleiche, sondern eine stärkere auf die, denen er persönlich nahe

eine schwächere dagegen bei denjenigen, unter denen er nur

war,

vorübergehend erschien, oder zu welchen gar nur die Kunde von ihm

drang.

Aus dieser Beschränktheit seines menschlichen Wirkens ist er

jetzt in die Weise der Wirksamkeit des „Allmächtigen Vaters"

ge­

treten, welche ebenso wenig an eine bestimmte Zeit als an einen be­ stimmten Ort gebunden, auch nicht an dem einen Orte stärker oder

schwächer, als an dem andern, ist: jetzt nach seinem Worte alle Zeit bei uns,

und mitten unter uns,

wo auch nur zwei in seinem

Namen beisammen sind. —

Es ist

eine Verkennung dieses „Sitzens zur Rechten Gottes",

1) wenn in der christlichen Kirche doch wieder Werth aus Zeiten und Orte gelegt worden

ist,

und

noch

gelegt wird:

wenn man

dem Gebete zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten größere Kraft

329

„Sitzet zur Rechten Gottes".

zuschreibt; wenn man durch Wallfahrten, sei es nach dem gelobten

Lande, sei es sonst wohin, Heil für die Seele zu gewinnen sucht. Es versteht sich ja von selbst, daß ein jeder Ort, an dem ein guter und großer Mensch gewandelt hat, unsere Theilnahme erregt und in

dem Maße Werth für uns erhält, in welchem der Mensch dem

Schauplatze seiner einstigen Wirksamkeit sein Bild ausgeprägt hat, oder in welchem die Kenntniß der Oertlichkeit zum Verständniß des

Menschen und seines Wirkens dient.

Man denke nur an

das In­

teresse, welches Luther's Häuslichkeit in Wittenberg oder sein Zimmer auf der Wartburg uns einslößt; an die Wohnstätten unserer großen

Denker, Dichter, Helden, Fürsten.

Wenn aber diese Theilnahme in

Empfindeiei übergeht (und es giebt auch unter den Evangelischen nicht viele Besucher des h. Landes, die dort nicht pflichtmäßig „em­

pfunden" hätten), da ist das eine Krankheit; vollends, wo sie zur religiösen Verehrung wird, ist es eine Entstellung der christlichen

Frömmigkeit, welche bis zur völligen Umkehrung des Heilsweges gehen kann.

In den Himmel Christi wird man immer nur durch

Sinnesänderung, nicht durch Ortsveränderung kommen'). — Wunderbarer Weise taucht jetzt auch in der evangelischen Kirche

vielfach eine Werthschätzung des Ortes auf, die für einen nüchternen evangelischen Menschen unbegreiflich ist: in der Heiligkeit, welche man

')

„Mit Pilgerstab und Muschelhute

Nach Osten zog ich weit hinaus. Die Botschaft bring' ich euch, die gute, Don meiner Pilgerschaft nach Hans: O zieht nicht aus mit Hut und Stabe Nach Gottes Wieg' und Gottes Grabe! Kehrt in euch ein und findet da

Sein Bethlehem und Golgatha. O Herz, was hilft es, daß du knieest An seiner Wieg' im fremden Land? Was hilft es, daß du staunend siehest

Das Grab, aus dem er längst erstand? Daß er in dir geboren werde, Und daß du sterbest dieser Erde,

Und lebest ihm: nur dieses ja Ist Bethlehem und Golgatha!

(Rückert.)

2. Hauptstück.

330

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

dem Altare vor der Kanzel zuschreibt, daß gewisse Gebete nur von

dem Altare aus sollen gehalten werden können, daß es eine Enthei­ ligung des Altares sei, wenn er sich unter der Kanzel befindet, diese sich

unmittelbar hinter ihm über ihn erhebt und was dergleichen

Das hat in der römischen Kirche Sinn, welche in und

mehr ist.

auf ihren Altären Reliquien aufbewahrt, in der Hostie den leibhaf­

tigen Herrgott sieht.

In der evangelischen Kirche dagegen hat der­

gleichen keinen Ort.

Da stellt man den „Tisch

des Herrn",

welchem die Gemeinde das Abendmahl des Herrn feiert,

an

in die

Gemeinde, den Ort dagegen, von wo gepredigt wird, dahin, von wo

aus das Wort am besten verstanden wird. — 2) Unter

dem „Sitzen zur Rechten Gottes" wird von etlichen

noch die Herrschaft

über die ganze Welt verstanden.

Christus, seit seiner

Erhöhung zum Vater, wie dieser,

hin allmächtig und allgegenwärtig,

Jesus schlecht­

theile mit dem Vater — oder

führe auch statt seiner — die Regierung

der Welt. — Das hat

zunächst für die christliche Frömmigkeit kein Interesse.

Der kann

es nicht sowohl darauf ankommen, daß Christus überall — auf dem

Sirius oder sonst welchem entlegenen Sterne, gegenwärtig ist.

als daß er bei uns

Sodann geht es weit über die Schrift hinaus, die

ja ausdrücklich daran erinnert, daß „er nirgends die Engel an sich nehme,

sondern den Samen Abrahams nehme er an, weshalb er

auch seinen Brüdern in allen Dingen hätte gleich werden müssen"

(Ebr. 2, 16);

auch nach

andererseits ihm

seinem „Eingang

Heiligthum" ausschließlich „Pflege der zukünftigen Güter"

in's d. i.

der geistigen Güter der „Erlösung", nicht aber die Mittheilung

sonst welcher Güter und Gaben zuschreibt (Ebr. 9,11. 12); endlich von ihm sagt,

„daß er (oder sein Geist) uns bei Gott vertrete"

(Röm. 8, 34; cf. v. 26), und daß wir an ihm „einen Fürsprecher

bei Gott"

haben (1 Joh. 2, 1).

Kurz,

die h. Schrift stellt

Herrn niemals als den allmächtigen Herrn der Welt, stets nur als den Herrn und

das Haupt seiner Gemeinde dar,

von welchem diese alles empfange,

geistigen Gaben bedürfe.

scheint,

den

sondern

was sie zu ihrem Heile

an

Wo ein mehreres ausgesagt zu werden

liegt es allein darin, daß der historische Christus, geboren,

gelitten, gestorben,

und der göttliche Logos,

der in ihm erschienen

„Sitzet zur Rechten Gottes".

331

nicht immer streng auseinander gehalten werden,

ist,

was bei der

nicht wissenschaftlichen Beschaffenheit der h. Schrift leicht geschehen konnte. — Es ist hierauf um so mehr aufmerksam zu machen,

als

durch jene Vorstellung von dem Antheile des erhöhten Jesus an der Regierung

der Welt die Vorstellung des

allmächtigen Vaters auf

bedenkliche Weise alterirt, ja, in dem Bewußtsein mancher stark zu­ rückgedrängt und, so zu sagen, aufgezehrt ist.

Es giebt in der That

Christen, welche alles, was geschieht, Großes und Kleines, Leibliches und Geistiges, Vorgänge im Reiche der Gnade,

wie Ereignisse im

Reiche der Natur, so ausschließlich auf „den Herrn" zurückführen und sich in allem diesem immer nur oder doch am liebsten an den „lieben Heiland" wenden,

daß für den Vater kaum noch etwas zu

thun übrig bleibt, jedenfalls der Gedanke

der Vorsehung u. s. w.

Gottes von dem Gedanken an den weltregierenden Heiland auf eine

höchst bedenkliche Weise überwuchert und in den Hintergrund gedrängt

wird.

Daß ein solches Zurücktreten und Verblassen des Gedankens

Gottes vor dem Bilde dessen, der eben dazu in die Welt gekommen ist, uns den Vater zu offenbaren, nicht in seinem Sinne und nicht

der „Friede mit Gott und der Zugang zu dieser Gnade" ist, die wir im Glauben haben,

das steht so sehr aus jedem Blatte der Schrift

zu lesen, daß es unnöthig ist, besondere Belege anzuführen.

Zum

Ueberflusfe wollen wir jedoch an Joh. 16, 26. 27: „Ich sage euch nicht,

daß ich den Vater für euch bitten will.

Denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, darum, daß ihr mich liebet und glaubet, daß ich von Gott ausgegangen bin;"

und an Joh. 17, 3:

„Das aber ist das ewige Leben,

wahrer Gott bist, und,

daß sie dich,

daß du allein

den du gesandt hast, Jesum Christum,

erkennen:"

so wie an das „Unser Vater" erinnern. — Am allerwenigsten liegt in dieser Weise eine besondere Christlichkeit; eher eine Schwäche, die sich mit ihren Gedanken nicht über die sinnliche Erscheinung Jesu

zu erheben, und auch Gott nicht anders, als verwachsen mit dieser

und in sie gewissermaßen verschwimmend, zu denken vermag.

2. Hauptstück.

332 Von

dannen

Lebendigen

und

Zweiter Artikel.

Werk deS Erlösers.

wiederkommen

er

wird

zu

richten

die

die Todten.

Eins der schwierigsten Stücke im Glaubensbekenntniß

wegen

des scheinbar unlöslichen Widerspruches, in welchen es uns mit dem

Glauben der gesummten apostolischen Zeit, ja mit den Verheißungen des Herrn zu bringen scheint.

Es ist nämlich nicht zu streiten, und

fast jede Seite der apostolischen Briefe liefert die Belege dazu, daß

die Apostel und mit ihnen die ganze apostolische Kirche die baldige

leibliche Wiederkunft Christi zum Gericht über die Welt,

wie zur

Errettung und Beseligung seiner Frommen, erwartet haben. Nament­

lich der Apostel Paulus drückt sich so aus, daß man erkennt, er habe gehofft,

diese Wiederkunft für seine Person noch zu erleben').

Es

ist auch diese Erwartung nicht eine nur so daneben einhergehende;

sondern sie bildet ein

Hoffnung jener Zeit,

wesentliches Stück

des Glaubens und der

die ihr mit voller Inbrunst hingegeben war

und aus ihr die kräftigsten Beweggründe ihres Glaubens und ihres Handelns nahm.

das

Man kann sogar ohne Uebertreibung sagen,

christliche Bewußtsein

daß

dieser Zeit wesentlich in diesen beiden

Sätzen gipfelte, und daß dieselben den eigentlichen Inhalt des christ­ lichen Glaubens ausmachten:

„Jesus ist der Christus" — und „er

kommt bald." — Endlich ist diese Erwartung keine willkürliche, son­ dern gründet sich auf ganz bestimmte Worte und Verheißungen des Herrn,

der in der That von seinem Wiederkommen noch zu diesem

Geschlechte,

wie von dem Gerichte, welches über das jüdische Volk,

weiter über die Welt hineinbrechen werde, gesprochen und beides mit einander in Beziehung gesetzt hat.

Matth. 16, 28:

„Wahrlich, ich

’) 1 Thessal. 4, 15.' „Denn das sage» wir euch als ein Wort des Herrn, daß wir, die wir leben und übrig bleiben in der Zukunft des Herrn, werden denen nicht zu­ vor kommen, die da schlafen." 1 Kor. 15, 51 f. „Siehe, ich sage euch ein Geheim­ niß: wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden. — Denn es wird die Posaune erschallen, und die Todten werden auferstehen un­ verweslich; und wir werden verwandelt werden." — Joh. 21, 22. 23. — 1 Joh.

2, 18; 1 Kor. 7, 29 („die Zeit ist kurz");

10, 11;

1 Thessal. 5, 23; 1 Petri 4, 7

(„es ist nahe gekommen das Eude aller Dinge"). Jak. 5, 8. „Seid ihr auch ge­ duldig und stärket eure Herzen; denn die Zukunft des Henn ist nahe." Ebr. 10, 25—37.

„Denn noch übereine kleine Weile, so wird er kommen, der da kommen

soll, und wird nicht verziehen."

sage euch, es stehen etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis daß sie des Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich." (cf. Luk. 9, 27.------ „bis daß sie das Reich Gottes sehen." Mark. 9, 1:------------ „kommen sehen in Kraft"). Matth. 26, 64: „Von nun an wird es geschehen, daß ihr werdet sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Him­ mels." Matth. 24, 34: „Dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dieses alles geschehe." Daher geschah es, daß bereits gegen das Ende der apostolischen Zeit, als ein Apostel nach dem andern zur Ruhe gegangen und allgemach dieses ganze erste Christengeschlecht ausgestorben war, ohne daß sich diese so bestimmt gehegte Erwartung erfüllt hatte — daß bereits damals Zweifel, ja selbst Spott über dieselbe sich zu regen anfing: „Wo ist die Verheißung seiner Zukunft? Denn, nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Kreatur gewesen ist!" (2 Petri 3, 4f.). — Vollends scheinen wir mit diesen Verheißungen und Erwartungen gar nichts mehr an­ fangen zu können. Wo bleiben aber dann die Apostel? wo bleibt der Herr? — Die Schwierigkeit löst sich, ohne daß wir uns gegen Unleug­ bares zu verblenden nöthig haben, wenn wir Folgendes in's Auge fassen: 1) Die Wiederkunft Christi ist kein einzelnes Faktum, son­ dern ein Prozeß, der sich in einer Reihe von Fakten erfüllt. Christus ist schon wiedergekommen und kommt fort und fort wieder zu jedem Geschlechte, und wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft noch oft wiederkommen, bis die Vollendung da ist. 2) Die Weis­ sagungen über die Wiederkunft des Herrn und, was damit zu­ sammenhängt, auch seine eignen, sind, wie alle Weissagungen, in Bilder gefaßt, welche die Zukunft eben so wieder verhüllen, wie sie dieselbe offenbaren; d. h. die wohl sagen, daß etwas und zwar ein solches kommen werde, jedoch die Anschauung des künftigen, vollends eine begriffliche Fassung desselben nicht gewähren. Sie ähneln, um des Herrn eigne Vergleichung zu brauchen (Matth. 24, 32), den schwellenden Knospen, welche wohl künden, daß der Sommer nahe ist, aber nicht, wie er sich gestalten werde: der Blumenhülle, welche die Pracht, die in ihr ist, rathen läßt, sie aber bis zu dem Augen-

2. Hauptstück.

334

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers,

blicke, wo die Blume erscheint, verbirgt.

3) Die Apostel, vor die

„Knospen", d. h. vor Weissagungen gestellt, die noch der Erfüllung harrten, waren außer Stand, Bild und Erfüllung, die Deckblätter

der Blume und die Blume selbst, wie wir es vermögen, zu unter­ scheiden. Sie faßten bildlich und konnten nicht anders fassen, was wir, durch die Erfahrung belehrt, geistig zu verstehen gelernt haben.

Ebenso fiel ihnen noch der Zeit nach nahe zusammen, was für uns, die wir auf Geschehenes zurückblicken,

trennt ist.

durch weite Zeiträume ge­

Das ist durch ihre geschichtliche Stellung bedingt. —

Selbst in derjenigen Gestalt, in welcher uns die Weissagungen

Jesu Matth. 24, Mark. 13, Luk. 21 überliefert sind, ist deutlich ein Früheres und Späteres, Weissagungen, die sich auf die Zerstörung

Jerusalems beziehen, und Weissagungen, welche aus ein Nachfolgen­

des gehen, unterschieden, obschon es im einzelnen untereinanderge­

mischt ist.

Es liegen bestimmte Anzeichen vor, daß dasselbe ursprüng­

lich, in dem Munde des Erlösers, noch entschiedener auseinander­ gehalten gewesen sei.

Wir wenigstens werden nie glauben, daß der

Herr Matth. 24, 34 und Matth. 24, 36 so unmittelbar hinter­ einander und von einem und

habe').

demselben Gegenstände

gesprochen

Desgleichen haben wir Matth. 17,10 einen Fingerzeig, daß

sich Jesus des nicht buchstäblichen Gehaltes seiner Weissagungen bewußt wat*2). Die Frage der Jünger Matth. 24, 3 zeigt uns, wie sie dazu gekommen sind, das ursprünglich weiter Auseinanderliegende

einander näher zu rücken

und es theilweise zu vermischen.

Herr hatte doch nur von der Zerstörung des Tempels

Der

gesprochen:

J) Erst die feierliche Versicherung v. 34, daß noch das jetzt lebende Geschlecht die Erfüllung sehen werde, also Bestimmung der Zeit: und dann in einem und

demselben Athem die Ablehnung, die Zeit bestimmen zu wollen: „von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel im Himmel (auch der Sohn nicht, Mark. 13, 32), sondern allein der Vater." Das wird doch niemand meinen, daß der Erlöser habe sagen wollen: das ist die Zeit, nur allerdiugs auf die Minute kann ich sie euch nicht angeben! 2) Was sagen denn die Schriftgelehrten, Elias müsse zuvor kommen? Jesus antwortete: „Elias soll ja zuvor kommen und alles zurecht bringen. Doch ich

sage euch, es ist Elias schon gekommen, und sie haben ihn nicht gekannt, sondern haben an ihm gethan, was sie wollten!" — Da verstanden die Jünger, daß er von Johannes, dem Täufer, zu ihnen geredet hatte!

Wiederkunft Jesu.

335

Jüngstes Gericht.

„wahrlich ich sage euch, es wird kein Stein auf dem andern bleiben,

der

nicht zerbrochen werde."

sofort:

„Sage uns,

wird das Zeichen sein Offenbar,

deiner Zukunft und

der Welt Ende?"

das eine nicht ohne das andere zu denken

weil sie sich

vermochten!

Sie aber in ihrer Frage verbinden

wann wird das geschehen — und — welches

Es ist nur natürlich, daß diejenigen, welche in dieser

und daß sie und die ganze

Weise fragten, demgemäß auch gehört,

erste Zeit dabei beharrt haben, in dem zunächst Bevorstehenden, dem

Untergange Jerusalems, den Anfang auch der letzten Katastrophe zu sehen und auch deren Eintreten noch, „ehe dieses Geschlecht vergangen

sein werde", zu erwarten Das war die Schranke in ihrer Erkenntniß, ihr Irrthum.

Haben

sie

dagegen geirrt,

beides mit einander verbanden? in der That der Anfang

Menschensohne in

wenn man will,

wenn sie überhaupt

Der Untergang Jerusalems war

der Gerichte, welche fortan von dem

der Menschheit ausgehen sollten,

seines triumphirenden Wiedereinzuges

in die Welt!

Strafgericht über das jüdische Volk dafür,

der Beginn Es war das

daß es seinen Messias

verworfen und sich an falsche Messiaffe gehängt hatte; es war die Entfesselung des Reiches dieses Messias,

das von nun an „in den

Wolken des Himmels" „in Kraft kam."

Mit diesem Gerichte ward

die Schale abgestreift, welche bis dahin noch dem Christenthum von seinem jüdischen Ursprünge her angeklebt hatte;

„von nun an" er­

faßte es sich als Christenthum,- und seine Engel mit hellen Posaunen

„sammelten seine Auserwählten an allen Enden der Erde", während „die Sonne des Judenthums ihren Schein verlor, und sein Stern erblich." — Und so hat sich die Weissagung noch oft erfüllt, und ist

Christus wiederholt

wiedergekommen:

im

Grunde zu jedem

Ge­

schlechte; greifbar jedoch „in den Wolken des Himmels" „mit großer

Macht und Majestät" in den Epoche machenden Erscheinungen, den

!) Zu beachte» ist, daß nur das Evangelium des Matthäus (24, 29) hat: „Alsbald nach der Trübsal derselben Zeit (nämlich nach der Zerstörung Jerusa­ lems) werden Sonne und Mond den Schein verlieren" rc.: das nach der Zer­ störung Jerusalems geschriebene Evangelium des Lukas dagegen bereits einen größer» Abstand kennt: „Nnd Jerusalem wird zertrete» werde» vo» den Heiden, bis daß

der Heiden Zeit erfüllt wird."

Luk. 21,24.

336

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers.

Wendepunkten der Menschheit,

in denen eine Welt untergeht, auf

daß eine neue und bessere entstehe; wie zum Beispiel in ven Um­ wälzungen der Völkerwanderung, die wir ja allgemein als den Un­ tergang der alten Welt bezeichnen, oder in der Reformation. Bleiben

wir nur bei dieser stehen,

so ist das Zusammentreffen dessen, was

mit dem geistigen Gehalt der Weissagungen Jesu,

damals geschah,

mit dem, was sowohl er, wie nach ihm Paulus'), daß ich so sage, als das Gesetz,

die Ordnung seiner Zukunft ausgestellt haben, gar

nicht zu verkennen.

hatte überhand

waren aufgetreten

Wundern,

„Die Liebe war erkaltet; die Ungerechtigkeit

genommen; falsche Propheten und falsche Messiasse

„„mit lügenhaften Kräften"" und Zeichen und

„„daß in den Irrthum,

würden auch die Auserwählten."" offenbar werden zu wollen,

wo es möglich wäre,

verführt

Ja, selbst der „Antichrist schien

der Mensch der Sünde und das Kind

des Verderbens, das sich überhebt über alles, das Gott und Gottes­ dienst heißt, also, daß er sich in den Tempel Gottes setzt und giebt vor, er sei Gott."

Siehe:

da erschien der, „welcher den Boshaften

mit dem Geiste seines Mundes schlägt und ein Ende macht durch die

Erscheinung seiner Zukunft."

Christus kam wieder, in Erschütterungen,

so gewaltig, daß „den Leuten bange ward", und „auch der Himmel

Kräfte sich zu bewegen schienen" (man denke nur an den Geister­ kampf, an Bildersturm und Bauernkrieg), — und richtete die neue Zeit,

„den neuen Himmel und die neue Erde" auf. — Dies und

mehreres vermögen wir, weil es bereits Geschichte ist, sauber aus­ einander zu halten und zu deuten,

wann und wie es geschehen ist:

derjenigen „Zukunft" unsers Herrn Jesu Christi dagegen, welche erst noch Geschichte werden soll, stehen wir im wesentlichen nicht anders, als die Apostel, gegenüber.

Das allerdings haben wir voraus, daß

wir, von der Vergangenheit belehrt, nicht mehr ein so nahes Herein­ brechen der letzten Entscheidung erwarten, vielmehr geneigt sind, auch

für das,

was vor uns ist, eine längere, vielleicht unendlich lange

Entwicklung, nehmen,

mehrfache Krisen bis zur letzten entscheidenden anzu­

wie wir

das in

der Vergangenheit sehen: im übrigen

') 2Thessal. 2; Matth. 24 (besonders v. 12 und 24); Luk. 21,25; Offenb. Loh. 21, 1.

Wiederkunft Jesu.

Jüngstes Gericht.

vermögen wir uns von dem, was kommt,

337

ebenso wenig eine Vor­

stellung zu machen, wie sie: außer daß wir sesthalten, festhalten müssen, wenn wir nicht verkommen sollen, aber nach allem, was wir

geglaubt und

erkannt haben,

auch

festhalten können und

dürfen: daß, was auch geschehe, und „ob Himmel und Erde ver­ gehe",

in allem doch nur er kommt, um in größerer Herrlichkeit

sein Reich aufzurichten.

Und das ist doch das Wesentliche und die

eigentliche Kraft in den Vorstellungen auch der apostolischen Zeit, worin sie mustergültig ist, und was wir von ihr lernen sollen; wäh­ rend, was in diesen Vorstellungen hinfällig geworden ist, theils die nothwendige Schranke ihrer geschichtlichen Stellung — ihres Stehens

vor aller Erfüllung bildet, theils, zu demjenigen gehört, wovon der Herr sagt:

jetzt

„ich habe euch noch vieles zu sagen, ihr aber könnt es

nicht tragen.

Wenn aber jener,

der

Geist

der Wahrheit

kommen wird, der wird euch in die ganze Wahrheit leiten" — euch

und jeden und jede Zeit so weit, als ihr und jeder und jede Zeit es zur Erfüllung ihres Christen berufes bedürfen (Joh. 16, 12. 13). —

Mit der letzten Erscheinung unsers Herrn, von der wir natür­ lich noch weniger, als von jeder vorangehenden, sagen können, welche sie sein werde, vielmehr alles noch mehr „Knospe", Bilder, die wir nicht vorwitzig zerzupfen dürfen, sein lassen müssen — mit dieser soll nach den Andeutungen der Schrift verbunden sein: zuerst die

Auferstehung der

Todten, sodann

die Verklärung der Lebenden,

darauf das allgemeine Gericht und endlich der Untergang oder viel­ mehr

die Erneuerung und Verklärung der Welt.

Sehen wir uns

noch diese Weissagungen — ich wiederhole: Weissagungen — an, so weit es an diesen Punkt gehört, d. h. so weit sie mit der Lehre von der Wiederkunft des Herrn in Verbindung stehen. Weiteres über sie werden wir an einem anderen Orte vorzubringen haben. 1) In der Urkirche erwartete man vielfach eine doppelte Auferstehung; eine erste ausschließlich der Frommen zur Theil­

nahme an dem Reiche, welches der Herr hier auf Erden aufrichten sollte, dem sogenannten tausendjährigen Reiche, über welches man

sich theilweise die allerabenteuerlichsten und kraßsinnliche Vorstellungen machte.

Nach Ablauf dieser Zeit sollte dann noch einmal der Satan

losgelassen werden, und erst mit dessen abermaliger Besiegung und ($ (fester, 9)interialien. 2. Auflage 22

2. Hauptstück.

338

Zweiter Artikel.

Werk des Erlösers.

endgültiger Feffelung die allgemeine Auferstehung auch der Ungläu­ bigen und Gottlosen zum

scheidung erfolgen.

allgemeinen Gericht und die letzte Ent­

Im Neuen Testamente finden wir diese „chilia-

stischen" *) Vorstellungen in

der Offenbarung Johannis vertreten.

Zum Theil hingen mit ihnen

wohl auch

die Befürchtungen der

Christen zu Thessalonich zusammen, gegen welche 1 Thessal. 4, 13 f.

Schwerlich meinten diese Christen,

gerichtet ist.

daß ihre Todten

überhaupt nicht auferstehen würden (denn in diesem Falle würde die Argumentation des Apostels doch wohl eine andere gewesen sein):

sondern sie besorgten, daß das erst in der letzten Auferstehung aller geschehen, und somit,

„die da schlafen in Christo", um den Genuß

des dieser Auferstehung vorangehenden 1000jährigen Reiches Christi

kommen würden.

Diese Befürchtungen räumt der Apostel hinweg,

indem er es zuerst als ein Wort des Herrn bezeichnet,

daß die

Todten in Christo in keiner Weise gegen die Lebenden zu kurz kom­

men würden.

„Denn das sagen wir euch als ein Wort des Herrn,

daß wir, die wir leben und übrig bleiben in der Zukunft des Herrn,

werden denen nicht zuvor kommen, der Herr,

die da schlafen,

denn er selbst,

wird mit einem Feldgeschrei und Stimme des Erzengels

und Posaune Gottes hernieder kommen vom Himmel, und die Todten in Christo werden auferstehen zuerst; sodann wir, die wir leben Dann aber scheint der Apostel über­

und übrig bleiben" u. s. w.

haupt diesen Vorstellungen von einem irdischen Reiche den Boden

entziehen zu wollen, indem er ausspricht:

daß die wiedererweckten

Todten und die Lebenden, beide, würden „hingerückt werden in den Wolken,

dem Herrn entgegen in der Luft, und würden also bei

dem Herrn sein allezeit."

Damit allerdings

ist der „Chiliasmus"

mit einem Schlage beseitigt, und eine wesentlich andere Vorstellung

eingeleitet. — 2) Während bei der Wiederkunft des Herrn die Todten gleich

in dem neuen Leibe auserstehen, sollen die, welche dann noch leben, diesen neuen Leib durch eine Verwandlung, wesliche das Unverwesliche,

und

„in welcher dies Ver­

dies Sterbliche

das Unsterbliche

anziehen wird", „plötzlich" „in einem Augenblick" empfangen (1 Kor. 15, 51 f.).

Derselbe Gedanke liegt der schönen,

*) Chilia — 1000, nämlich Jahre.

überaus tröstlichen

Vergl. Offenb. Joh. 20, 3.

Wiederkunft Jesu.

Stelle 2 Kor. 5, 1f.

wunden ausspricht:

in welcher der Apostel unum­

zu Grunde,

daß,

339

Jüngstes Gericht.

obwohl er wisse,

daß uns die Ablegung

des alten Leibes in keiner Weise verkürze, sofern wir auch so den neuen Leib,

„den Bau, von Gott gebaut",

empfangen würden, er

dennoch — „dieweil wir in der Hütte, d. h. des alten Leibes gewohnt, sind" — lieber möchte nicht erst entkleidet,

sondern

gleich über-

kleidet werden, auf daß das Sterbliche würde verschlungen von dem Leben;

d. h. also,

werden möchte.

daß er lieber nicht sterben,

sondern verwandelt

Eine Aufrichtigkeit und Nüchternheit,

die recht be­

achtet zu werden verdient gegenüber der unwahren, im entscheidenden

Augenblicke stets umschlagenden Exaltation, als müßte Sterben für einen Christen ein Kinderspiel sein.

Der Tod ist immer ein ernstes,

und Sterben — wenn es einer nur wirklich auskostet — stets ein schweres Ding.

3) In dem Ausdrucke „jüngstes Gericht" liegt bereits, Reihe von Gerichten sei.

daß

sondern nur das letzte in einer

dasselbe nicht das einzige Gericht,

Der Unterschied von diesen ist,

a) das allgemeine und b) das entscheidende sein soll.

daß es

Die früheren

Gerichte ergingen und ergehen über Einzelne, einzelne Völker, einzelne Erscheinungen: in diesem sollen alle und alles gerichtet werden. Ebenso

waren die vorangehenden Gerichte nicht entscheidend, sofern keines In die Urgemeinde z. B. sind

derselben reinab und völlig schied. nicht nur Fromme

eingegangen,

sondern

auch Heuchler; während

mancher aufrichtige Israelit, dieweil er nichts von ihr erfuhr oder sie auch verkannte, ihr fern geblieben ist'). — Auch der Reformation sind nicht

alle nur

aus lautern Gründen

beigetreten, und

nicht alle

Gegner haben ihr aus Bosheit widerstanden: es hat auch im katho­ lischen Lager Fromme und Rechtschaffene gegeben und giebt es noch.

— Und, wie mit den Personen, so ist es auch mit den Grundsätzen, Einrichtungen, dem Leben.

Keine neue Erscheinung schneidet selbst

bei dem entschiedensten Bruche so ab, daß nicht aus der älteren Er­

scheinung verunreinigende Elemente in die neue Gestaltung eingingen, entwicklungsfähige Elemente in jener zurückblieben. — So hat sich in die christliche Kirche frühzeitig Falsch-Jüdisches und Heidnisches, ’) Apostg. 5. 13, 24 f. u. 47 f.

Anamas und Sapphira.

cf. Die Gleichnisse des Herrn: Matth.

340

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung.

in die evangelische Falsch-Katholisches eingeschlichen, während um­

gekehrt die römische Kirche heute noch manches Pflegt, was in der evangelischen Kirche noch

nicht die volle Würdigung gefunden hat.

Da soll endlich eine Sonderung kommen,

die in das Neue nichts

Unlauteres mit hinüdernehmen, in dem zu Verwerfenden nichts Ent­ wicklungsfähiges zurücklassen wird,

die, weil sie glatt und rein —

vollständig — scheidet, darum auch entscheidend sein kann. —

Von der Weise, wie dieses letzte Gericht vor sich gehen wird, haben wir selbstverständlich keine Vorstellung, und will uns auch die h. Schrift keine geben.

Dagegen lassen sich die hierauf bezüglichen

Weissagungen sehr bestimmt über den Maßstab aus, nach welchem entschieden werden soll.

Es ist nach

Matth. 25, 1—3. 14—30.

31—36 Wachsamkeit in der Pflege des geistlichen Lebens, Treue

in der Verwendung der von Gott empfangenen Güter nnd Gaben, barmherzige Liebe.

Von dem, worauf man ehedem und leider auch

jetzt wieder so unmäßigen Werth legt: Zustimmung zu einem be­ stimmten Lehrsystem, Unterwerfung unter eine kirchliche Autorität,

ist, wie überall in der Schrift, so auch in diesen Weissagungen des Herrn über das jüngste Gericht keine Spur. 4) Es ist ein Mißverständniß, wenn man meint, daß die Schrift

einen Untergang

der Welt lehre.

Sie lehrt vielmehr eine Er­

neuerung und Verklärung derselben, „einen neuen Himmel und eine neue Erde"; die sich aus dem alten Weltzustande allerdings nicht

ohne schwere Kämpfe hindurch arbeiten werden.

Untergang

könnte

das doch nur derjenige nennen und sich davor fürchten, der es für

Untergang hielte,

wenn die Blume die Hülle durchbricht, oder das

Küchlein die Schale sprengt, um in eine höhere Daseinsstufe zu

treten.

Dem sehen wir mit Freuden, ja mit Wonne zu.

Aber vor

dem „Untergange der Welt" haben mehrere, als es eingestehen, eine

mehr als kindische Furcht. Luther's Erklärung zum zweiten Artikel. Zweite Hälfte.

Wir gehen jetzt zu dem zweiten Abschnitt der Erklärung Luther's

über.

Da wir denselben gleich im Anfänge analysirt haben, so

können wir sofort mit dem Einzelnen beginnen.

Also 1) wen hat Christus erlöst?

„Mich verdammten und

verlornen Menschen." Es wird zunächst noch einmal auf die Wen­ dung, er hat mich erlöst, aufmerksam gemacht. Durch dieselbe soll, wie wir früher auseinandergesetzt haben, eingeschärft werden, daß es nicht genüge, daß wir glauben, daß Jesus andere erlöst habe, sondern, daß jeder seines persönlichen Heiles gewiß werden müsse. Sodann: „mich verlornen und verdammten Menschen": nämlich, der ich ohne ihn verloren und verdammt sein würde, ja, mich selbst verdammen müßte, der ich aber durch ihn wiedergefunden und von aller Verdammniß erlöst, mit Gott versöhnt und ein Kind Gottes bin'). So gewiß auch der begnadigte Christ nicht vergessen darf, daß er, was er an Frieden hat, nicht sich, sondern eben der Gnade Gottes in Christo verdankt; so gewiß er demüthig und — auf daß er wache — seiner Sünde eingedenk bleiben soll2): so wenig ent­ spricht es dem Geiste des Christenthums, daß der seines Erlösers gewisse Christ von nichts, als von seiner Sünde, seinem Elende, seiner Verdammniß, in möglichst greller Weise rede: wie das etliche thun, und in solches arme Sünderbewußtsein und stete Sünder­ bekenntniß wohl gar den Gipfel der Frömmigkeit setzen. Gegenüber dieser bald gewohnheitsmäßigen, bald forcirten, von ächtem und tiefem Gefühle der Sünde himmelweit verschiedenen Weise greift vollkommen Platz, was in einem uralten Buche, welches die erste Kirche geraume Zeit gleich den apostolischen Schriften im Gottesdienste gebrauchte, *) Röm. 8, 1. „So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach deut Geiste." v. 34.

„Wer will verdammen?

Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr der auch

auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns" (cf. 31—39). v. 15. 16. „Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müsset, sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: „Abba, lieber Vater." Derselbige Geist giebt Zeugniß unserm Geiste, daß wir Gottes Kinder sind." — DaS schöne Lied von Novalis Nr. 556: „Was wär' ich ohne dich gewesen, und ohne dich, was würd' ich sein? Ich

sonnte nie von Angst genesen, in weiter Welt stand' ich allein. Nichts müßt' ich sicher, was ich liebte; die Zukunft wär' ein dunkles Grab; und wenn mein Herz sich tief betrübte, wer senkte Trost auf mich herab?

Hast du dich aber kund gegeben, ist ein Gemüth erst dein gewiß: wie schnell verzehrt dein Licht und Leben dann jede öde Finsterniß! Mit dir bin ich auf's Neu

geboren, die Welt ist mir verklärt durch dich; das Paradies, das mir verloren, blüht herrlich wieder auf für mich." u. s. w.

") //Führe uns nicht in Versuchung."

342

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung.

dem

sogenannten „Hirten des Hermas",

Engel,

der ihn unterweiset,

diesem Hermas von dem

gesagt wird.

Da nämlich derselbe, so

oft er eine neue Botschaft empfängt, sich regelmäßig zuerst zu Boden wirft und seine Sünden aufsagt, so erhält er die Weisung, er möchte doch endlich mit diesem „Bekennen" aufhören und dafür lieber „hin­

sichtlich der Besserung fragen" (vgl. noch 1 Kor. 15,10; 2 Kor. 11,21f.).

a) „Von allen Sün­

2) Wovon hat mich Christus erlöst? den."

Hier hat man sich vorweg vor dem Mißverständnisse zu hüten,

als solle mit dem Satze behauptet werden, daß

wir durch die in

Christo geschehene Erlösung die Sünde schon völlig los seien.

Dies

wie der Schrift widersprechen.

„So

würde ebenso der Erfahrung,

wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.

So wir aber unsere Sünde bekennen,

so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünde vergiebt und reinigt uns von

aller Untugend" (1 Joh. 1, 8. 9).

Danach

ist auch der

Ausspruch desselben Apostels Kap. 3, 9 zu verstehen: „Wer aus Gott geboren ist, der thut nicht Sünde,

denn sein Same bleibt bei ihm,

und kann nicht sündigen: denn er ist aus Gott geboren."

Hier hat

mau die beiden Ausdrücke „Sünde haben" und „Sünde thun" scharf zu fassen: dann ergiebt sich sofort der Sinn: „Essei unmöglich, daß

ein Wiedergeborner,

ein Christ,

und mit Wohlgefallen hingeben,

sich noch der Sünde selbstthätig

muthwillig sündigen

könne.

Vor

solchem Sünde-Thun bewahre ihn das Leben, welches von Gott in ihm „angesamt" sei; obwohl auch ihm noch immer Sünde anhafte. Mit andern Worten:

ein Christ könne wohl in Sünde fallen und

Schwachheitssünden begehen: aus Bosheit zu sündigen.

aber er vermöge nicht mit Lust und

Wer in diesem Sinne noch zu sündigen

vermöge, „der sei vom Teufel" (v. 8). Wenn der Satz,

daß „Christus uns von allen Sünden erlöset

hat", jenes nicht heißen kann,

was heißt er dann?

demselben zweierlei ausgesagt, 1) daß Christus

uns

Es wird mit vollständige

Vergebung für alle unsere Sünden erworben, und 2) daß er die Macht der Sünde über uns gebrochen, und uns ein Leben mit­ getheilt hat, welches sich mehr und mehr zur Vollkommenheit gestaltet.

Der erstere Satz ist in ihm selbst klar.

Er erhält indeß sein

volles Acht durch den Gegensatz gegen die Lehre der römischen Kirche,

Wovon hat mich Christas erlöst? a) „von allen Sünden."

gegen welche er gerichtet ist.

343

Nach dieser Lehre hat uns nämlich

Christus durch sein „einmaliges Opfer am Kreuz" unmittelbar und er selbst nur von der Erbsünde, nicht aber auch von den täglichen

Sünden erlöst: diese bedürften vielmehr zu ihrer Tilgung eines ander­

weitigen, jenes erste ergänzenden Opfers.

Dieses, das einmalige

Opfer Christi ergänzende und vollendende Opfer sei die Meffe, „die tägliche unblutige Wiederholung des einmaligen blutigen Opfers

Christi am Kreuze", welche die Kirche auf Befehl des Herrn durch die Hand ihrer dazu geweihten Priester allerorten täglich vollziehe.

— Ebenso hat uns Christus auch nicht ganz erlöst, sofern er uns nur von den ewigen Strafen der Sünde befreit hat, während die jeder

Sünde anhaftenden, von den natürlichen Folgen der Sünden noch

unterschiedenen zeitlichen Strafen nach, wie vor, sei es hienieden, sei es nach diesem Leben im Fegfeuer von uns gebüßt werden müssen; es sei denn,

daß die Kirche aus dem ihr anvertrauten Schatze des

überschießenden Verdienstes Christi und der Heiligen Ablaß, oder,

wie man um des bösen Klanges willen lieber sagt, Nachlaß ertheilt. —

Dagegen lehrt die evangelische Kirche: Christus hat den Seinen volle Vergebung für alle ihre Sünden,

„nicht bloß für die Erb­

sünde" erworben und theilt sie ihnen mit, ohne daß „sein Verdienst" einer Ergänzung, die Aneignung desselben einer Vermittlung durch

irgend welches Thun der Kirche und ihrer geweihten oder unge-

weihten Priester bedürfte.

Was zu geschehen hat, ist allein dies, daß

die „ewige Erlösung", welche er durch sein „einmaliges Opfer am Kreuze" (1 Petri 3,18) erfunden (Ebr. 9, 11. 12. 24—28)'), fort ]) „Christus aber ist gekommen, daß er sei ein Hoherpriester der zukünftigen Güter, durch eine größere und vollkommnere Hütte, die nicht mit der Hand ge­

macht ist, das ist, die nicht also gebaut ist; auch nicht durch der Böcke und der Kälber Blut, sondern er ist durch sein eigen Blut einmal in das Heilige eingegangen und hat eine ewige Erlösung erfunden." — „Denn Christus ist nicht eingegangen in das Heilige, so mit Händen gemacht ist (welches ist ein Gegenbild des wahr­ haftigen), sondern in den Himmel selbst, um zu erscheinen vor dem Angesichte Gottes für uns. Auch nicht, daß er sich oftmals opfere, gleichwie der Hohepriester gehet alle Jahr in das Heilige mit fremdem Blut (sonst hätte er müssen oft leiden von Anfang der Welt her); nun aber am Ende der Welt ist er einmal erschienen, durch sein eigen Opfer die Sünde aufzuheben". — Vergl. noch Ebr. 10, 11. „Und ein jeglicher Priester stehet täglich im Gottesdienste und bringt oft dieselben Opfer dar, welche nimmermehr Sünden hinwegnehmen können; dieser aber —" u. s. w.

344

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung,

und fort verkündet und geglaubt werde: im übrigen thut es Christus, andererseits der Glaube „allein". — Desgleichen thut er es ganz.

Wie er selbst,

ohne jede priesterliche Ergänzung oder Vermittlung,

Vergebung für alle unsere Sünde hat und ertheilt,: so vergiebt er auch vollständig, lichen Strafen, wenn

nicht allein die ewigen, sondern auch die zeit­ es außer den natürlichen Folgen der Sünde

und den bürgerlichen von der Obrigkeit verhängten Strafen (die ja

auch nach römischer Lehre nicht weggenommen werden) noch der­ gleichen giebt.

Denn „Gott — sagt die Schrift (Jak. 1, 5) — giebt

einfältig und rückt es niemandem aus."

So vergiebt er auch ein­

fältig, und nicht nach Art der Menschen, die wohl „vergeben, aber nicht vergessen", und darum bei jeder Gelegenheit Vergangenes wie­ der aufmutzen; oder die auch wohl Vergebung in Aussicht stellen, ja

bei sich schon ertheilt haben,

es nichtsdestoweniger aber für geboten

und weise halten, das bereuende und sich bessernde, innerlich schon zu Gnaden angenommene Kind, werde", gehörig abzustrasen.

damit

„alle Gerechtigkeit erfüllt

Gottes Vergebung nimmt so sehr mit

der Sünde auch jeden Gedanken an Strafe weg, daß selbst die na­ türlichen Folgen der Sünde, Nachtheil an Ehre^ Vermögen, Gesund­ heit, die allerdings nicht mit einem Male getilgt werden können und

häufig sogar zeitlebens bleiben, von dem begnadigten, mit Gottes

Frieden erfüllten Gemüthe fortan nicht mehr als Strafen d. i. als Aeußerungen des göttlichen Unwillens, sondern, wie unvermeidliche Uebel und von Gottes Weisheit und Liebe verhängte Zuchtmittel,

empfunden und mit derselben Geduld und Freudigkeit getragen wer­ den, wie alles andere, was Gott verhängt. Aber Christus hat nicht bloß Vergebung für unsere Sünde ge­ bracht, er hat auch schon die Macht der Sünde über uns ge­ brochen.

Durch den Glauben sind wir mit ihm in eine Verbindung

getreten, in welcher die Lust der Sünde im Keime ertödtet ist und mehr und mehr erlischt, aus welcher andererseits Freude und Kraft zum Guten in uns übergeht und uns von Stufe zu Stufe der Hei­

ligkeit näher führt.

Freilich sind dadurch die Nachwirkungen der

Sünde noch nicht aufgehoben.

Die Macht der Gewöhnung,

die

Schwäche u. s. w. (so wir sagen, wir haben keine Sünde rc. 1 Joh.

1, 8. 9) bleiben zu bekämpfen: ja es kann, „wo wir nicht beten und

345

Wovon Hot mich Christus erlöst? a) „von allen Sünden".

wachen", aus dem dunklen Urgründe der Seele selbst neue, bis dahin verborgene Lust zum Vorschein kommen.

Bei alle dem ist der Zu­

sammenhang und die erdrückende Macht der Sünde bereits gebrochen:

der „Leib der Sünde", wie der Apostel sich ausdrückt (Röm. 6, 3—6), ist getödtet, „es zuckt wohl noch in den Gliedern", aber die Genesung

ist im Gange und kommt, falls wir nicht untreu werden, zu Stande.

„Der Same Gottes bleibt bei uns" (1 Joh. 3, 9).

„Wir sind selig

(und auch heilig) in der Hoffnung (unserm Willen und Verlangen

nach) und warten allein aus unsers Leibes Erlösung" (Römer 8, 23. 24).

Es ist noch hinzuzufügen, daß, was wir in dem Vorstehenden

als ein Zwiefaches dargestellt haben, innerlich zusammenhängt, und nicht von einander getrennt werden darf.

Vergeben kann immer

nur die Sünde werden, welche schon irgendwie im Verschwinden begriffen ist; wie andererseits Muth und Kraft zur Tödtung der Sünde stets nur da vorhanden sein wird, wo auf Vergebung gehofft

und an sie geglaubt wird.

Diese innere Zusammengehörigkeit der

beiden Seiten ist die Wahrheit einer Behauptung, welche bereits zur Zeit der Reformation aufgestellt, aber auch schon damals nachdrück­

lich bekämpft worden ist: daß unsere Gerechtigkeit nicht sowohl eine

uns um Christi willen „angerechnete", als vielmehr eine von Christo uns „eingeflößte" (infusa) sei. Unrichtig und die Gemüther ver­ wirrend ist der Satz nur, sofern das Vertrauen von dem, was wer­ den soll, andererseits von dem, was Gott und Christus thut, aus dasjenige abgelenkt wird, was in uns schon geworden ist.

Denn

dieses ist ja auch in dem Vollkommensten niemals so, daß er sich

darauf steifen dürfte, und nicht vielmehr von allen seinen Vortreff­ lichkeiten hinweg sich immer wieder an die Gnade, welche „die Sünde nicht zurechnet", wenden müßte: wie Paulus diese christliche „Voll­ kommenheit" beschreibt Philipp. 3, 12—15: Nicht,

daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen

sei, ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin. — Ich vergesse,

was dahinten ist, und strecke mich nach dem, was vorne ist,

und jage nach-dem vorgesteckten Ziele, dem Kleinode, welches vorhält

die himmlische Berufung in Christo Jesu.

Wie viele

346

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers »ach Luthers Erklärung,

nun

unser vollkommen

sind,

die lasset uns

also

gesinnt

sein-------- "

und noch klarer Gal. 2, 20: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir; denn,

was ich jetzt lebe im Fleische, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich ge­

geben hat." Im

übrigen ist es richtig,

daß es keine „Rechtfertigung vor

Gott" giebt, welche nicht in der mit ihr verbundenen und aus ihr

folgenden „Heiligung" sich bewähren müßte. b) Vom Tode.

Auch dies ist cum grano salis zu verstehen.

Der leibliche Tod,

das Sterben, kann damit nicht gemeint sein, da wir alle noch immer demselben unterworfen sind.

Ebenso wenig der geistige Tod, da

das auf das Todtsein in „Sünde" hinauskommen,

also mit dem

Frühern zusammenfallen würde. — Es sind zunächst die Schrecken des Todes, die darauf gegründete Furcht und Angst vor ihm gemeint;

wie wir ja singen:

„Jesus lebt, mit ihm auch ich; Tod, wo sind

nun deine Schrecken?"

Die Schrecken des Todes sind zwiefache:

1) die Sünde und das dem Sünder drohende Gericht'). Von diesem

Schrecken hat uns Christus befreit durch die volle Vergebung, welche

er

dem

bereuenden und bußfertigen Sünder zugesagt und aus­

gesprochen hat.

seine Ehre.

„Jesus lebt! wer nun verzagt, raubt dem Mittler

Gnade hat er zugesagt, daß der Sünder sich bekehre!

Gott verstößt in Christo nicht; das ist meine Zuversicht!"

2) Die

Dunkelheit, die über dem Dasein nach dem Tode liegt, verstärkt

durch den Eindruck der mit dem Tode verbundenen Verwesung. Ueber dieses Schrecken erhebt uns das Bewußtsein, im Glauben an Christum ein Leben zu haben, das nicht stirbt2); die feste, auf seliger

Erfahrung beruhende Gewißheit, daß uns nichts von ihm und seiner *) 1 Kor. 15, 56.

„Aber der Stachel des Todes ist die Sünde; die Kraft

aber der Sünde ist das Gesetz." Joh. 11, 25. 26. „Ich bin die Auferstehung und das Leben. mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.

an mich, der wird nimmermehr sterben."

Wer an

Und, wer da lebet und glaubet

347

Erlösung b) „vorn Tode", c) „von der Gewalt des Teufels".

Liebe trennen sönne1),

der Blick auf den Auferstandenen und Ver­

klärten, dessen Bild, Unterpfand und Abbild unserer eignen Verklä­

rung, sich in unserer Sterbestunde vor unsern Augen und über unsern Gräbern erhebt und alle Schauer des Todes überwindet. klärt mich in sein Licht, das ist meine Zuversicht."

„Er ver­

Lied 232, und 775:

„Jesus meine Zuversicht." — Durch beides zusammen hat der Erlöser nach dem schönen Aus­

druck unserer Begräbnißliturgie „unsern Tod umgewandelt,

uns nicht schade". in das Leben."

daß er

„Jesus lebt, nun ist der Tod mir der Eingang

Aber wie hell und leuchtend das vor uns steht und

von dem Christen alle Furcht vor dem Tode fortnimmt, so bleibt darum nicht minder wahr,

daß die Pforte,

die zu diesem Leben

führt, nach, wie vor, eine dunkle ist, und daß Muth und Glauben

dazu gehört, um sie in christlicher Fassung zu durchschreitens. Dar­ über sollen wir uns keine Illusionen machen;

es uns vielmehr,

so

lange der Tod noch ferne ist, in den Stunden leiblicher Kraft und

geistiger Erhebung anders,

damit wir nicht,

nüchtern vorhalten,

als wir vermuthen, erscheint,

wenn er

in den Momenten leiblicher

und geistiger Mattigkeit von der nicht so vorgestellten Wirklichkeit

erdrückt werden').

Dies ist derjenige Sinn des Satzes

„erlöset vom Tode",

wel­

cher jedem Frommen sofort zugänglich ist und von uns tausendfach

im Leben und an Sterbebetten erfahren werden kann.

Noch einen

') Nöm. 8, 38. 39. „Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürsteuthum noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn." — „Lässet auch ein Haupt

sein Glied, welches es nicht nach sich zieht?" (Lied 775). — Joh. 10, 27—30.

2) Ps. 23, 4.

„Ob ich schon wanderte im finstern Thäte, fürchte ich kein Un­

Denn du bist bei mir; dein Stecken und Stab trösten mich." 3) Es ist gewiß etwas Schönes um einen sanften Tod: doch wird derselbe auch dem Christen keineswegs immer zu Theil. Auch sehr fromme Menschen glück.

müssen mitunter den Todeskampf und die Todesangst auf’S äußerste durchkämpfen, ohne daß darum ihr Tod ein minder seliger wäre. Matth. 27, 46. „Mein Gott,

mein Gott, warum hast du mich verlassen?" — „Wenn mir am ällerbängsten wird um das Herze sein"-------- n. s. w. (Lied 191: „O Haupt voll Blut und Wun­

den" v. 9. —). erliegen,

Das hängt gar sehr von der Art der Krankheit ab, der wir

348

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers »ach Luthers Erklärung.

weitern Zusammenhang zwischen dem Werke des Erlösers, lich

seiner Auferstehung und unserem künftigen Leben,

Christus nicht bloß Trost in unser Sterben gebracht hat,

auch

als

der

anzusehen ist,

nament­

kraft dessen sondern

eigentliche Begründer unserer Auferstehung

deutet der Apostel Paulus

1 Kor. 15, 20—22 an:

„Nun aber ist Christus auferstanden von den Todten und Erstling geworden unter denen, die da schlafen. Sintemal durch einen Menschen

der Tod, und durch einen Menschen die Auferstehung der Todten kommt. Denn, gleichwie sie in Adam alle sterben, also werden sie in Christo

alle lebendig gemacht werden." — Hierüber werden wir jedoch erst

dann reden können, wenn wir bei Erläuterung des dritten Artikels

uns darüber werden verständigt haben, was es bedeute, daß, was

hier Christo zugeschrieben ist,

das Lebendigmachen und Auferwecken

zum Leben, uns dort als eine Wirkung des h. Geistes entgegentritt. c) „Von der Gewalt des Teufels."

Wir haben,

wo wir die Lehre vom Teufel behandelten,

mit

allem Nachdruck auszuführen gesucht, daß es für unser religiöses Leben

ganz gleichgültig sei, oder nicht.

ob jemand einen persönlichen Teufel glaube

Das scheint durch diesen Satz widerlegt zu werden, so­

fern es aussieht, als ob derjenige, welcher überhaupt an keinen Teufel glaubt, auch nicht für die Erlösung von der Gewalt desselben danken

könne; also jedenfalls minder dankbar sein müsse, einen Teufel glaubt.

als der, welcher

Doch auch das ist Schein! Auch, wer das Da­

sein des persönlichen Teufels bestreitet, wird „die Gewalt des Teufels anerkennen müssen":

die objektive Macht des Bösen in der Welt,

welche sich von der Sünde in uns eben so unterscheidet, wie die er­ starrende Macht des Frostes,

der über der Erde lagert, und den,

bis Gottes neue Sonne kommt, keine Mittel brechen,

von der Em­

pfindung des Frierens, gegen welche wir uns durch wärmere Woh­

nung und dichtere Kleidung schützen; oder, wie „die Seuche, die im Finstern schleicht" und tausende wegrafft, von der Krankheit, an der nur einzelne leiden.

So ist allerdings außer und neben der Macht,

welche die Sünde in den Einzelnen und über sie ausübt, eine größere Gewalt der Sünde in der Welt, so hat sich dieselbe von den Menschen aus in alle Mächte des Lebens, die gesammte Anschauungsweise, die

Wodurch hat uns Christus erlöst?

349

Sitten, die Einrichtungen, die Gesetze, in alle Verhältnisse und Ord­ nungen eingenistet, und in ihnen ein von den einzelnen Persönlich­ keiten unabhängiges und selbstständiges Dasein gewonnen; so umgiebt

uns ihr Einfluß, wie der Gifthauch des Sumpfes, gegen den man sich vergebens abzusperren versucht, und unter dem auch die Gesun­

desten leiden; so bleibt sie eine Macht,

die uns auf allen Wegen,

hindernd und unsere besten Bestrebungen vereitelnd, dazu uns selbst stets von neuem versuchend, entgegentritt, auch, wo wir bereits per­

sönlich „von allen Sünden erlöst" sind; so bedürfen wir zu dieser Erlösung von allen unsern Sünden auch noch der Errettung von dieser Macht der Sünde diese tu Christo gefunden.

in

der Welt;

so haben wir aber auch

Christus hat die Gewalt des Bösen im

Leben gebrochen; und zerstreut und vernichtet es in fortschreitendem siegreichem Kampfe.

Ein neues Leben, Lieben, Streben, Hoffen ist

mjt ihm nicht bloß in die Herzen der Einzelnen, sondern in die Welt

gekommen und gleichfalls zu einer Weltmacht emporgewachsen, mäch­ tiger, als die Macht des Bösen war und ist.

Es ist. Frühling ge­

worden auf Erden, ob auch noch Nachfröste kommen;

der Herr hat

ein Reich, wenn ihm auch noch widerstanden wird; es giebt gegen­ über den verwirrenden Mächten

der Welt,

dem bösen Geiste der

Menschen und der Zeit einen heiligen Geist des Herrn; es giebt ein Wort der Wahrheit,

eine heilige Gemeinschaft des Glaubens, der

Liebe und der Hoffnung, zu denen wir flüchten können und Kräfte

des ewigen Lebens empfangen, durch welche wir überwinden! Christus hat uns erlöst nicht bloß von allen Sünden, sondern auch von der Gewalt des Teufels:

wie er selbst diesen Sieg über das Böse, das

bis dahin die Welt beherrscht hatte, ausdrückt in dem Worte:

„Ich

sah wohl den Satan vom Himmel fallen, wie einen Blitz" (Luk. 10,18). 3) Wodurch hat uns Christus erlöst?

„Nicht mit

Gold

oder Silber,

sondern

mit seinem heiligen,

theuern Blute und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben." Der Ausdruck ist hergenommen aus 1 Petri 1,18.19.

„Und wisset, daß

ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Golde erlöset seid von euerm

eitlen Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem theuern Blut

Christi,

als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes." — Und

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung,

350

wir mögen uns freuen, daß gerade dieser Ausspruch seine Stelle in unserm Katechismus gefunden hat; weil er vor allem andern geeignet

ist, über die zu verhandelnde Frage, in Beziehung auf welche so viele Licht zu verbreiten und Frieden in die Ge­

Verwirrung herrscht,

müther zu bringen. das zeigt zunächst die Höhe

„Nicht mit Silber oder Gold":

des Preises, welchen Christus für unsere Erlösung gezahlt hat; näm­ lich,

daß er ein Köstlicheres gegeben habe, als, was sonst für das

Kostbarste gilt: sich selbst. — „Nicht mit vergänglichem Silber oder

Gold": Preises,

das lenkt weiter

unsere Aufmerksamkeit auf die Art des

und bringt uns zum Bewußtsein, daß und warum dieses

Vergängliche, Aeußerliche, Stoffliche für das, worauf es hier an­ komme,

d. i. für die Erlösung

„von unserm eitlen Wandel nach

väterlicher Weise" nicht ausreichend war.

den

„„heiliges""

Blut

als

Das mahnt uns endlich, „sein kostbares

den er gegeben,

„nicht vergänglichen" Preis,

des unschuldigen

und

unbefleckten

Lammes" nicht, wie „vergängliches Silber oder Gold", d. i. als etwas

Aeußerliches, Stoffliches, Geistloses zu behandeln.

Wollte Gott, daß

diese so nahe liegende Mahnung gehört worden wäre,

daß sie noch

heute gehört würde! Als man zuerst begann,

dem Geheimniß der Erlösung nachzu­

sinnen, wie dasselbe wohl zusammenhinge:

da stellte man sich vor,

Christus habe sein Blut dem Teufel als Lösegeld gegeben: um uns

von diesem loszukaufen: sei es nun, daß man den Teufel als den Kerkermeister ansah, welcher die Menschen zu verwahren habe, oder

daß man meinte,

derselbe habe durch

Anrecht auf uns erlangt,

unsere Sünde ein gewiffes

für welches er entschädigt werden müsse.

— Später ward diese Vorstellung

der Erlösung

vom Teufel

ab­

gelöst durch die andere einer Erlösung von dem Zorne Gottes. Gottes

Zorn über die Sünde muß versöhnt werden und wird versöhnt durch

das Blut Christi.

In dem einen, wie in dem andern Falle wird

die Erlösung als ein ganz äußerlicher Handel vorgestellt, in welchem

das

Blut Christi,

das

ebenso

äußerliche Lösegeld abgiebt.

welchem Maße dies der Fall war,

Frage,

In

sieht man am besten aus einer

welche im Mittelalter die beiden großen Mönchsorden der

Dominikaner und der Franziskaner in die heftigste Bewegung setzte:

Wodurch hat uns Christus erlöst?

351

ob das Blut Christi den Zorn Gottes versöhne mittelst des in ihm selbst liegenden Werthes (ex insito valore), oder nur, weil es Gott

gefallen habe, es für ausreichend gelten zu lassen (ex acceptilatione): so wie aus der fernern Frage,

wieviel von diesem kost­

baren Blute zur Stillung des göttlichen Zornes und Befriedigung seiner Gerechtigkeit erforderlich

gewesen sei?

Ein Tropfen habe dazu ausgereicht.

Die Antwort war:

Was Christus mehr Blut ver­

gossen habe, sei ein überschießendes Verdienst und bilde zusammen mit den überschießenden guten Werken der Heiligen (d. h. mit den­ jenigen Werken, welche dieselben über das zur Erwerbung der Selig­

keit nöthige Maß hinaus verrichtet hätten) nun

die Schatzkammer

aus welcher heraus die Kirche,

der guten Werke,

Papst den Mangel an guten Werken decke, und den Ablaß ertheile!

insbesondere der

der sich an uns finde,

Wer sieht nicht, daß in dieser Weise das

Blut Christi ganz, wie „Gold oder Silber", behandelt worden ist;

wer erkennt nicht, wie hier der eigentliche Grund zu dem scheußlichen

Kram liegt, in dem man schließlich Vergebung der Sünden rein für Geld verkaufte?

Nimmer wäre dieses Gräulichste möglich gewesen,

wenn man nicht zuvor das Blut Christi schon, wie Geld, behandelt

hätte. — Ungewarnt durch diese Abenteuerlichkeiten ist es übrigens neuerdings auch in der evangelischen Kirche einigen besonders Gläu­ bigen eingefallen, von einer besondern „gottmenschlichen Beschaffenheit

des Blutes Christi, in welcher der Werth desselben bestehen solle, zu

sprechen.

Das heißt in der That noch über das Mittelalter hinaus

die „Heiligkeit" und „Kostbarkeit" des Blutes Christi in den Stoff, die Masse setzen. Nicht viel weniger äußerlich und materiell ist es, wenn man

nach einer gleichfalls im Mittelalter aufgebrachten Theorie die Kraft

der Erlösung in die Menge der Leiden Christi setzt.

gang ist folgender:

Der Gedanken­

„Die Menschen sind unter Gottes Zorn.

Nach

seiner Liebe möchte er ihnen vergeben; nach seiner Gerechtigkeit kann er es nicht, bevor nicht dieser durch die Sünde der Menschen belei­ digten Gerechtigkeit

genug

geschehen.

durch

ein

entsprechendes Maß

Kein Mensch kann

von

diese Genugthuung

Strafen leisten,

weder für sich noch weniger für andere, denn jeder ist Sünder, und

die Menge der Sünden unendlich.

Da ist Gott Mensch geworden,

352

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung.

und hat als

solcher

durch

die unendlichen Leiden,

welche er

an

unserer Statt auf sich genommen, die Genugthuung für unsere un­

endlichen Sünden geleistet."

Die Erlösung ein reines Rechenexempel!

Die Kraft des erlösenden Leidens Christi — wie — die

Menge

dieses Leidens!

Als wenn

schon angedeutet

nicht Petrus warnte,

„nicht mit vergänglichem Silber oder Golde", bei denen

es aller­

dings, wie auf den Stoff, so auch auf die Zahl der Stücke an­ kommt! als wenn nicht Christus selbst schon diese Theorie und alles,

was

an

sie streift,

zunichte gemacht hätte,

dadurch,

daß er kein

Bedenken getragen hat, sein Leiden, so weit er es sittlicherweise ver­

mochte — zu lindern'),

und damit jedenfalls

die Menge seiner

Leiden gemindert, diese selbst zu „endlichen" gemacht hat!! Allen diesen Theorien gegenüber,

welche das Geistige in das

Materielle, das Dynamische in das Mechanische ziehen, vollends das

Sittliche,

welches Bibel und Katechismus so stark betonen — (das

des

„heilige Blut"

„unschuldigen und unbefleckten Lammes";

„unschuldige Leiden und Sterben") in

der Wurzel vernichten,

das

es

wenigstens nur nebenbei in Rechnung bringen: alle dem gegenüber

ist auf Grund nicht nur dieses einzelnen Ausspruches, sondern der ge-

sammten h. Schrift zu behaupten, was freilich auf den ersten Anblick manchen befremden wird, was darum aber nicht minder wahr ist: das

Blut Christi hat es überhaupt nicht gethan; sondern, was uns „von unserm eitlen Wandel nach väterlicher Weise erlöset hat", das ist die That Christi, die That des Blutvergießens gewesen!

That gegen

That, Kraft heiliger, verzeihender und erbarmender Liebe gegenüber der Ohnmacht, der Verzweiflung, dem Trotze der Menschen: die haben

— „nicht den Zorn Gottes versöhnt" (das brauchten sie nicht; denn

„also hat Gott die Welt geliebt, daß er den eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben,

nicht verloren werden, sondern

das ewige Leben haben" (Joh. 3, 16), — wohl aber haben sie die

Scheidewand,

die uns von Gott trennte,

die Furcht vor feinem

Zorne, den Widerstand gegen das Heilige und den Heiligen, ja die

’) Joh. 19, 28. Qualen am Kreuz. Mark. 15, 23).

„Mich dürstet." (Der Durst gehört mit zu den größten Vergl. damit die Ablehnuug des betäubenden Trankes

Wodurch hat uns Christus erlöst?

Feindschaft ’) wider ihn weggenommen;

353

die haben nicht in jenem

juristischen und kalkulatorischen Sinne der göttlichen Gerechtigkeit,

die einer solchen „Satisfaction“ nicht bedurfte, genug gethan; wohl aber haben sie Genügendes vollbracht, der Menschheit zu helfen, indem sie eine solche Fülle göttlicher Lebens- und Liebeskräfte der

Welt offenbart und in sie eingesenkt haben,

That und höchsten Offenbarung

daß an dieser einen

der Gnade und Wahrheit Gottes

fort und fort aller Menschen Geschlechter sich ausrichten und gesun­

den.

Das und nur das ist auch die Meinung der h. Schrift.

So

oft dieselbe von Kreuz, Blut, Wunden spricht, oder in kühner Gegen­ überstellung sagt: „durch dessen Wunden ihr seid heil geworden": so thut sie das nur, um diese That, die Liebe, den Gehorsam bis zum

Tode, ja bis zum Tode am Kreuze (Phil. 2,8) uns anschaulich zu

machen!

Denn Tod heißt eben nur Tod, ohne über die Art und

Weise desselben etwas auszudrücken; jene Ausdrücke dagegen „malen gleich als ob er unter uns gekreuzigt

uns Christum vor Augen, wäre" Christi.

(Gal. 3, 1).

— Ebenso verhält

es

sich

mit

Auch hier kommt es nicht sowohl auf das,

dem Leiden

was Christus

litt, als vielmehr auf das, wie er litt, und was er in sein Leiden hineinlegte, also vielmehr auf sein Thun, als auf sein äußeres Er­

dulden an;

auch hier hat die Größe und die Menge des Leidens

keine andere Bedeutung, nung,

als daß an ihm die Reinheit der Gesin­

die durch nichts zu überwindende Liebe und Geduld,

Gottvertrauen und

seine Ergebung

in

Gott zu Tage kam,

sein

und

Christus sich unter dem Leiden im höchsten Sinne als der offen­ barte,

„welcher keine Sünde gethan hat,

ist auch kein Betrug in

seinem Munde gewesen; welcher nicht wieder schalt, da er gescholten

ward; nicht brauete, da er litt: er stellte es aber dem anheim, der da recht richtet" (1 Petri 2, 22. 23).

Die dem gegenüber auf das

Aeußerliche als solches, sei es das Blut, sei es die Zahl der Leiden, Gewicht legen, die mißbrauchen den Buchstaben der Schrift. —

’) Röm. 5, 10. — „Da wir noch Feinde waren." — Kol. 1, 21 (Ephes. 2, 12); Jak. 4, 4. — 2 Kor. 5, 19: „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber."

Elte st er, Materialien. 2. Auflage.

354

2. Hailptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung.

Auch der Tod Christi hat es nicht für sich

allein,

losgelöst

von dem Leben, dessen Spitze und Vollendung er ist, gethan.

Das

liegt schon darin, daß dieser Tod nur dadurch sittlichen Werth hat,

daß er kein bloßes Verhängniß, sondern eine That war.

Denn eine

solche steht niemals isolirt von dem sonstigen Sein und Thun da.

So ist auch der Tod Christi oder, besser gesagt, seine Hingebung in

den Tod nur die höchste Offenbarung und der Gipfelpunkt der Liebe Christi zu Gott und den Menschen,

erfüllt.

welche sein gesammtes Leben

„Niemand hat eine größere Liebe, als

Wie er selbst sagt:

daß er sein Leben lasse für seine Freunde" (Joh. 15, 13); und, wie der Apostel spricht:

„Daran haben wir erkannt die Liebe,

daß er

sein Leben für uns gelassen hat" (1 Joh. 3,16). — Das folgt aber

auch daraus, daß überhaupt dem Tode ein solches Leben voranging.

Wozu war das nöthig, und warum hat Gott Jesum nicht schon als Kind sterben lassen, als ihm Herodes nachstellte; warum hat danach

er selbst, „bis seine Zeit gekommen war", sein Leben geschont, wenn

er, um uns zu erlösen, eben nur zu sterben brauchte? Sagt man, ein solcher frühzeitiger Tod des Herrn ohne seine Lehrthätigkeit u. s. w. hätte darum nicht genügt,

weil niemand die Bedeutung desselben daß also

verstanden haben würde: so hat man damit eingeräumt, der bloße Tod nicht ausreiche,

kommen müsse.

sondern noch

etwas anderes dazu

Andererseits bedenkt man nicht,

daß ja der liebe

Gott diese Bedeutung uns anderweitig hätte mittheilen und offen­

baren können; und daß

diese seine Offenbarung und Belehrung

über den Werth und die Kraft des Todes Christi jedenfalls eben so

viel,

wo nicht mehreren, Glauben verdienen und Heil hätte wirken

müssen,

als

alle die Lehren,

wie wir meinen,

welche man danach in

Gott hat eben nicht eine Lehre vom Leiden Sohnes in die Welt gesandt,

Aber

und Sterben seines

so wenig als eine Theorie der Er­

lösung, sondern er hat Christum in die Welt gesandt, gelehrt,

der Kirche,

ohne Offenbarung darüber aufgestellt hat.

der gelebt,

gelitten hat, gestorben und auserstanden ist, zum Beweise,

daß alles dieses zu unserer Erlösung nothwendig war, diejenigen

und daß

die Wahrheit verkennen und einseitig verfahren,

welche

den Tod des Herrn, sei es ausschließlich, sei es auch nur vorzugs­

weise, betonen.

Wozu hat uns Christus erlöst?

355

Fragen wir nach dem allen, wodurch uns Christus erlöst hat? so werden wir nunmehr keine andere Antwort haben, als die: durch seine gesammte, allerdings in seiner Hingebung in den Tod gipfelnde,

Erscheinung.

Irgend wer hat gesagt: „Gewöhnliche Menschen zahlen

durch das, was sie leisten, höher geartete durch das, was sie sind." Er hat uns erlöst durch

Das gilt im höchsten Maße von Christo.

das, was er war: natürlich, daß dieses sein Sein nun auch in Wort und That, in Leben und Sterben heraustrat und sich offenbarte: denn derohne wäre es eben kein wahres Sein gewesen.

Aber wir

haben kein Recht, irgend eine dieser Offenbarungen in Wort, in That, in Leiden, in Sterben weder von den andern noch von ihrem innersten

Lebensgrunde zu trennen; werden vielmehr mit allem unsern Forschen

nach dem wie? und wodurch? des Erlösungswerkes schließlich immer wieder bei dem ankommen und uns dabei beruhigen müssen: „Gott war in Christo, und versöhnte die Welt mit ihm selber, und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu; und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung" (2 Kor. 5, 19f.) und bei dem andern:

„das Wort ward Fleisch, und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater voller Gnade und Wahrheit." — Und — „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade" (Zoh. 1,14.16).

4) Wozu hat uns Christus erlöst? Wie die Erklärung der Aussagen über die Person Christi schließ­ lich darauf hinauskommt, daß Jesus Christus „unser Herr" sei:

so gipfelt die Erörterung über das Werk Christi in dem Ausspruche, das alles habe er gethan, „auf daß ich sein eigen sei und in

seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit" u. s. f.

Also das Ziel der gesammten Wirk­

samkeit Christi ist die Beseligung der Menschen, und zur Verwirk­

lichung dieses Zieles nur nöthig, daß, gleichwie Christus sich für

uns gegeben hat, also nun auch wir uns ihm ergeben, sein eigen

werden, mit ihm zusammenwachsen, ihm in unverbrüchlicher Treue dienen. Oder mit andern Worten: „der Christus für uns muß ein Christus in uns werden" (Galat. 2, 20).

Wo diese Bedingung nicht

23*

356

2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung,

erfüllt wird, da gehen wir trotz alles dessen, was Jesus Christus

für uns gethan hat, verloren!

Diese Seligkeit, wie auch

das Verhältniß zu Christo, durch

welches sie begründet wird, obwohl sie beide tief innerliche persön­ liche, wo das nicht, überhaupt nicht sind, sind nicht vereinzelte, son­ dern etwas Gemeinsames, auf Gemeinsamkeit Beruhendes, Gemeinschaft

— das „Reich Gottes"

Begründendes.

Schon,

da Christus auf

Erden wandelte, ist er allerdings auch den Einzelnen nachgegangen, und hat namentlich in manchen Fällen neben seiner in das Große und Weite gehenden Wirksamkeit sich ächt seelsorgerlich um die ein­ zelne Seele bemühtl); 2 3 trotzdem hat er niemals nur Einzelne ge­

winnen und als solche, ohne daß sie sich untereinander berührten, in

trauriger Jsolirung stehen lassen wollen: sondern, die er gewonnen und erworben, die hat er immer auch für einander gewinnen, und

in dem Glauben an ihn vereinigen gewollt; und hat diese Einheit und Gemeinschaft der Seinen, wie als sein oberstes Gebots und letztes Gebets, so auch als das höchste Gut, als dasjenige ausgex) Lied 511. („Wohl dem, der sich mit Ernst bemühet.") v. 3. Was hilft's, daß Christus ist geboren

Und uns die Kindschaft wiederbringt? Dem bleibt das Himmelreich verloren, Der nicht hinein durch Buße dringt: Daß Gottes Geist ihn neu gebiert, Und er ein göttlich Leben führt. v. 7.

Was hilft uns Christi Tod und Sterben, Wenn wir uns selbst nicht sterben ab?

Du liebst dein Leben zum Verderben, Legst du die Lust nicht in sein Grab! Umsonst gab Christus sich dahin, Stirbt nicht in dir der alte Sinn u. s. f.

*) Seine Jünger. — Die Samariterin am Brunnen Joh. 4. — Zachäus, Luk. 19, 2 f. 2) „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander liebet, wie ich

euch geliebet habe" (Joh. 13, 34). 3) „Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden; auf daß sie alle eins seien, gleich wie du, Vater, in mir, und ich in dir, daß auch sie in uns eins seien; auf daß die Welt glaube, du habest mich gesandt" (Joh. 17, 20f.).

Vom heiligen Geist (Dreieinigkeit).

357

sprochen, worin die einzelne Seele Befriedigung findet'). — So ent­ steht und entwickelt sich einerseits auch jetzt die persönliche Frömmig­ keit nur in der frommen Gemeinschaft, in dem Verkehre mit denen, welche den Glauben an Christum in sich tragen; so führt andererseits

persönliche Frömmigkeit zur Gemeinschaft mit denen,

diesem Glauben durchdrungen sind, und

welche von

ist jedes Jsolirtbleiben,

vollends Abschließung und Trennung, Zeichen einer matten oder einer krankhaften Frömmigkeit, so giebt es keine andere Weise, den Glau­ ben an Christum zu beweisen, als die freudige Wirksamkeit für sein

Reich, oder, wie er es ausdrückt, die Arbeit in seinem Weinberge, die allerdings ein Mehreres, als die Thätigkeit in einem kirchlichen

Amte, nämlich jede Wirksamkeit für Ausbreitung der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Friedens Christi in Haus, in Volk, in allen Ord­

nungen und Verhältnissen, aus allen Gebieten des Lebens umfaßt; so leuchtet endlich ein, daß, wie jede Freude, jede Wonne, jede Regung durch Gemeinsamkeit gesteigert wird, so auch die „Freude in dem Herrn", die Seligkeit, nur da voll und ganz sein werde, wo Bewußt­ sein der Gemeinschaft ist. —

Damit haben wir den Uebergang zur Erörterung des dritten Artikels gefunden, der von dem Leben Christi in uns und der darauf beruhenden Gemeinschaft, oder von dem heiligen Geiste und von der Kirche handelt.

Der dritte Artikel. Während die beiden ersten Artikel des Apostolischen Glaubens­ bekenntnisses augenscheinlich jeder nur von einem Gegenstände han­

deln, macht der dritte Artikel zuerst den Eindruck einer Zusammenwürfelung der verschiedenartigsten Dinge.

Dieser Schein schwindet,

und tritt auch hier die Zusammengehörigkeit alsbald hervor, so wie

man nur einen Blick in die Erklärung Luther's wirft: sofern sich

nunmehr die Kirche oder die Gemeinde der Heiligen als der Kreis oder die Behausung darstellt, innerhalb welcher der h. Geist wirkt, >) Vergl. sämmtliche Parabeln vom „Reiche Gottes": besonders

großen Abendmahle".

die „vom

358

2. Hauptstück.

Dritter Artikel.

das andere dagegen, was noch übrig ist,

als Gabe oder Wirkung

desselben auftritt. —

Diese Beziehung zwischen den einzelnen Bestandtheilen des dritten Artikels ist sorgfältig zu beachten, weil man allein von ihr aus zu einer befriedigenden Anschauung sowohl des h. Geistes als auch der

christlichen Kirche zu gelangen vermag. gehen,

Es wird niemandem ent­

daß tausende und abermal tausende, die in der Kirche find,

und denen man das Wehen und die Wirkung des h. Geistes wohl

anmerkt, wenn sie gefragt werden, was denn dieser Geist sei,

ent­

weder gar keine oder solche Antwort haben, die wohl Worte enthält, aber denen bei ihnen selbst jeder irgend wie faßbare Begriff fehlt. Und eben so ungenügend

und

dürftig find ihre Vorstellungen von

der Kirche, ihrem Wesen und ihrer Bedeutung.

Das ist die Folge

davon, daß man sich gewöhnt hat, die Lehre von dem h. Geiste und

die Lehre von

der Kirche,

Geist und Kirche gesondert und unab­

hängig von einander zu behandeln,

und namentlich in Beziehung

auf den h. Geist immer die Frage so stellt, was derselbe in sich und

bei Gott sei; statt mit der h. Schrift und unserem Glaubensbekennt­

nisse davon auszugehen und

sich vor allem daran zu halten, wie

dieser Geist sich offenbart habe, und was und wie er in dem Herzen der Einzelnen, wie in der von ihm in's Leben gerufenen und durch­

walteten Gemeinde wirke. messenen, Stellung

Bei solcher ungehörigen, wo nicht ver­

der Frage war und ist es kein Wunder, wenn

eine genügende, vollends eine das schlichte Verständniß befriedigende Antwort ausblieb. — Vom heiligem Geiste.

1) Folgt man diesen Andeutungen, so stellt sich nach der Schrift

und dem Glaubensbekenntnisse der heilige Geist uns dar:

als der­

selbe göttliche Geist oder dasselbe göttliche Leben, welches ursprüng­ lich und in seiner ganzen Fülle in Jesu Christo war;

und sich von

ihm aus auf seine gesammten Jünger ergossen hat und fort und fort ergießt;

und sie mit ihm als dem Haupte und unter einander zu

einer unauflöslichen Gemeinschaft, seinem geistlichen Leibe oder der christlichen Kirche,

verbindet.

— Für die Schriftmäßigkeit dieser

Gesammtbeschreibung ist wohl kaum nöthig,

einzelne Stellen anzu-

Boin heiligen Geist (Dreieinigkeit).

sofern das gesammte Neue Testament dafür eintritt.

führen:

im

mag

359

besondern

auf die

Doch

Reden Jesu beim Johannes 13—17,

desgleichen aus die Briefe Pauli hingewiesen werden.

Zergliedern wir diese Beschreibung, so wird wohl niemand be­

streiten, daß das göttliche Leben oder der göttliche Lebensgeist, welcher

durch Christum der Menschheit mitgetheilt und ihr eingepflanzt ist, in Christo

und in seiner ganzen Reinheit und Fülle

ursprünglich

Desgleichen steht fest,

war.

daß

dieses Leben und zwar seinem

Wesen nach dasselbe, wie es in ihm war (Joh. 15, 1—5), oder sein

Geist,

sich nach dem Maße der Gaben Christi nicht nur über die

Apostel, sondern über seine gesammten Jünger ergossen hat (Apostg. 1, 15; 2, 1—4; 8, 15f.;

10, 44-47; 19, 6); und nach der Ver­

heißung (Apostg. 2, 17 f. u. 38. 39) auf alle seine Gläubigen ergießen

soll; so daß, wer diesen Geist nicht hat, Christo überhaupt nicht an­ gehört (Röm. 8, 9).

Endlich, daß dieser sein Geist alle seine Gläu­

bigen sowohl mit ihm als dem Haupte (Ephes. 4, 15. 16), wie auch

unter einander (Joh. 17, 21—23) zu einer unauflöslichen Gemein­ schaft verbinden will (1 Kor. 12, 13); und die als diese vom Geiste

Christi geborne und diesen seinen Geist in sich tragende „Gemeinde

der Heiligen" die Behausung des Geistes Gottes (Ephes. 2, 19—22; 1 Kor. 3, 11. 16. 17;

1 Petri 2,5)

und

der

geistliche Leib Jesu

Christi ist (Ephes. 4, 15. 16; 1 Kor. 12, 4f.).

2) Man hört in der Christenheit nicht sogar selten die Klage: „wenn wir doch in der Zeit,

gelebt hätten,

da der Heiland

auf Erden wandelte,

ihn selbst hätten sehen und hören und aus seinem

eignen Munde die gnadenreichen Verheißungen

können, von denen wir jetzt nur lesen."

hätten empfangen

Nichts ist ungerechtfertigter,

als dieses Zagen! Die Erscheinung Christi ist kein vorübergehendes

Meteor, das nur einmal am Horizonte der Menschheit erschienen ist,

und, nachdem es verschwunden, nur in der Erinnerung einen mehr

und

mehr erblassenden Schimmer zurückgelasfen hat.

Quelle des Lichts

und

des Lebens,

Sie ist eine

aus der fort und fort immer

helleres Licht und reicheres Leben sich in die Menschheit ergießt; ein

ihr eingesenkter Strom des Lebens, der in das ewige Leben fließt (Joh.

4, 14).

Wir sind mit Nichten schlechter daran,

als die Apostel zu

der Zeit, da sie den Herrn leiblich hatten, als irgend einer, der zu

2. Hauptstück.

360

Dritter Artikel.

Er selbst spricht: „Ich will euch nicht Waisen

seinen Füßen gesessen.

ich komme zu euch" (Joh. 14, 18).

lassen:

Er hat sein Wort ge­

er ist „bei uns alle Tage bis an der Welt Ende" (Matth.

halten: 28, 20).

Er ist bei uns in dem Worte, welches uns seine zeitliche

Erscheinung schildert und uns an-der Hand seiner Apostel vor ihn bringt, daß wir ihn hören und sehen, wie sie ihn geschaut.

in uns

Er wohnt

durch seinen h. Geist, von dem er sagt, daß „er und der

Vater in ihm zu uns kommen und Wohnung bei uns machen wollen"

(Joh. 14, 23);, der seine Stelle vertreten (Joh. 14, 26; 16, 7.14.15), ja, der erst uns in die ganze Wahrheit führen und ihn in uns ver­

klären werde (v. 13).

Die Jünger haben die Erfüllung dieser Ver­

heißung im Glauben erfahren, und, weil sie dieselbe erfahren, unge­ der

achtet

Energie,

ja der

glühenden Sehnsucht,

künftigen herrlichern Erscheinung

Jesu

mit der sie der

entgegensahen,

niemals be­

dauernd auf die Zeit ihres leiblichen Zusammenseins mit ihm zurück­

geblickt: im Gegentheil, Paulus hat es ausgesprochen: „ob er auch Christum gekannt hätte nach dem Fleisch, so kenne er ihn jetzt nicht

mehr also" (2 Kor. 5, 16).

heißungen des Herrn,

Troste,

Es zeigt wenig Vertrauen auf die Ver­

und wenig Erfahrung von der Kraft, dem

dem Frieden des h. Geistes, wenn man das,

was wir an

dem h. Geiste Jesu Christi haben, für ein Minderes und nicht viel­ mehr für ganz dasselbe, als,

was

wo

nicht ein Höheres hält (Joh. 14, 12),

die Vorzeit an der leiblichen Erscheinung Jesu,

die erst

durch den Geist Jesu verklärt werden mußte, besaß. — 3) In

dem Athanasianischen Glaubensbekenntnisse findet sich

neben andern Bestimmungen über die drei Personen in der gött­ lichen Dreieinigkeit des Vaters, des Sohnes und des h. Geistes auch

die: „unter diesen Personen sei keine die erste, keine die letzte, keine die größeste, keine die kleinste: sondern alle drei Personen seien mit einander gleich ewig, gleich groß."

Es ist da auf das Verhältniß

in Gott übertragen, was zunächst von unserm Verhältniß zu Gott

und der Stufenfolge seiner Offenbarung, weiter von dieser Offen­ barung selbst gilt. Wir glauben nach dem Apostolicum an Gott',

den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, und an Jesum Christum, Gottes eingebornen Sohn, und an den heiligen

Geist: und sind das doch nicht drei Glauben, sondern ist ein einiger

Vom heiligen Geist (Dreieinigkeit).

361

Glaube, gleich stark, gleich groß, gleich fest, ob uns das Walten und

der Wille Gottes in seiner Schöpfung, in Natur und Geschichte, entgegentritt, oder ob wir „seine Klarheit in dem Angesichte („in der

Person") Jesu

Christi schauen"

unserm Herzen

das Wehen seines Geistes verspüren,

Geiste Zeugniß giebt,

(2 Kor. 4, 6),

oder endlich

in

der „unserm

daß wir Gottes Kinder sind" (Röm. 8,16).

Und gehen diese drei Richtungen des Glaubens oder, wenn man den Ausdruck gestatten will,

einander her,

diese

drei Glauben

nicht nur so neben

sondern sie durchdringen einander,

und sind nur in

dieser gegenseitigen Durchdringung voller — christlicher — Glaube. Die durch die Betrachtung der Welt geweckte Frömmigkeit bereitet den

Glauben an Christum vor, und gipfelt in ihr, oder „der Vater zieht zum Sohne" (Joh. 6, 44); der Glaube an Christum lehrt die Welt

und Gott in ihr verstehen. — Die Hingebung an Christum ist die Bedingung für das Empfangen seines Geistes (Joh. 14, 23);

der

Geist verkläret Christum. — Das wäre nicht möglich, wenn nicht der

Gegenstand, das Objekt, das sich je unserm Glauben darbietet, der­ artig wäre, daß ein solcher Eindruck entstehen müßte; wenn es nicht

ein und dasselbe göttliche Wesen,

der ewige Vater der Liebe wäre,

der uns in der Schöpfung, Erhaltung und Regierung der Welt, in

der

geschichtlichen Erscheinung

unsers Herrn Jesu Christi und in

dem in der erlöseten Menschheit waltenden Lebensgeiste, dem Geiste der Heiligung, gleich stark, gleich mächtig entgegentritt und uns von

Stufe zu Stufe an sich zieht.

Das ist der „dreieinige" Glaube, der

in jedem Christenherzen lebt, möge es sich desselben in dieser Weise

bewußvsein oder nicht; das ist die „Dreieinigkeit", welche das apo­

stolische Glaubensbekenntniß, gleichfalls, ohne das Wort zu nennen, klar und bestimmt lehrt.

Aber über diese naheliegende („sie ist nicht

fern von uns" — Röm. 10, 6—8), jedem christlichen Verstände zu­ gängliche Dreieinigkeit der göttlichen Offenbarung hinaus hat das Denken auch das dieser Offenbarung Gottes immerhin zu Grunde

liegende,

überweltliche,

innergöttliche Verhältniß in

dem Wesen

Gottes selbst zu ergründen gesucht, und hat auch darüber eine Lehre

ausgestellt mit einer Schärfe und Sicherheit, die jedenfalls das Maß

menschlicher Erkenntniß überschreitet.

Denn

„wer hat des Herrn

Sinn erkannt oder wer ist sein Rathgebcr gewesen?" (Röm. 11,34f.)

2. Hauptstück.

362

Dritter Artikel.

Und an diese Lehre hat man dann das Heil gebunden und ausge­

sprochen, „wer diesen Glauben nicht rein und nicht ganz halte, könne nicht selig werden."

Dem gegenüber ist an das zu erinnern, was

bereits bei der Lehre von der Person I. Christi ausgeführt ist, daß

unser Herr und Heiland, Johannes im 6., nicht gesagt hat: wer sich über die Geheimnisse der Dreieinigkeit den Kopf zerbreche, solle selig

werden; sondern, „wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben,

Tage." der

und ich werde ihn auferwecken am jüngsten

Desgleichen ist nicht der ein Kind Gottes und ein Christ,

für den h. Geist als die dritte Person in der Gottheit eifert

und verdammt; sondern, wer das Zeugniß des Geistes vernimmt und demselben als der Stimme Gottes vertraut und folgt.

Wem

aber „dieser Glaube" fehlt, wer zweifelt, ob das Walten und die

Führung und der Zuspruch des Geistes auch heute Gottes seien, oder wer sie für mindere und nicht zureichende hält: nun über seine Selig­ keit soll man ja nicht absprechen;

aber das wird man doch sagen

müssen, daß einem solchen noch entweder der Herzensfriede oder Ein­ sicht und Klarheit abgehen. —

Von der Wirksamkeit

des

h. Geistes nach der Erklä­

rung Luther's. —

Die Erklärung Luther's stellt in drei Sätzen dar, der h. Geist an

dem

Einzelnen wirke; sodann,

zuerst, wie

was

derselbe

Geist in derselben Weise („gleichwie") dasselbe, nämlich Be­

rufen, Erleuchten, Heiligen und im Glauben Erhalten, auch an der

gesammten Kirche (der „ganzen Christenheit

auf Erden") schaffe;

endlich das Verhältniß der ersten Wirksamkeit zur zweiten:

daß

nämlich der h. Geist seine Thätigkeit an den Einzelnen ausübe und

seine Gaben ertheile innerhalb

der Gemeinschaft der Gläubigen,

„der ganzen Christenheit auf Erden" („in welcher Christenheit er mir" u. s. f.),

durch welche Bestimmung letztere also als der Ort

und die Stätte oder auch als der „Leib" des Geistes bezeichnet wird. 1) Der erste Satz sagt im wesentlichen aus,

a) daß niemand sich selbst zu einem Christen machen, oder das

Christenthum aus sich erzeugen könne: sondern jeder wird ein Christ durch die allem Thun des Menschen vorangehende (berufende), dann

Wirksamkeit des heiligen Geistes nach Luthers Erklärung.

363

dem dadurch geweckten Streben des Menschen entgegenkommende, es begleitende und vollendende Wirksamkeit des h. Geistes Gottes oder,

was dasselbe aussagt,

durch die Gnade Gottes in Christo („er­

leuchtet", „geheiligt" und „im Glauben erhalten"). Das ist so klar,

und trägt jeder lebendige Christ das Bewußtsein davon so entschie­ den in sich, daß es kaum noch einer Berufung auf besondere Schrift­ stellen, wie Joh, 15, 16; 1 Kor. 4, 7;

1 Joh. 4, 19 bedarf.

Die

gegentheilige Aufstellung würde zu der Behauptung führen, daß die Sendung Christi überflüssig gewesen wäre; oder sie würde so viele Christusse annehmen müssen, als Menschen ohne ihn zu dem Leben

gelangen, welches erfahrnngsmäßig von ihm ausgeht. — Anderer­ seits versteht es sich eben so von selbst und folgt abermals ohne be­ sondre Belege heiliger Schrift (die übrigens auf jedem Blatte der­

selben zu

lesen sind) aus der Natur des h. Geistes als solchen,

daß seine Wirksamkeit auf den menschlichen Geist Empfänglichkeit des letzteren für dieselbe, weiter Mitwirkung des Menschen voraus­

setzt, sofern ja der h. Geist niemals mechanisch wirken,

als hei­

liger Geist aber unmöglich die Bedingung der Heiligung, sittliche

Entschließung und eigne Anstrengung, aufheben kann. dem Sinn auf „Gnade" warten, daß sie trotz bes

Die also in

„Rufes"

des

Geistes nicht „vom Schlafe aufstehen" (Röm. 13,11) und an ihrem

Heile schaffen wollen (Phil. 2,12): die spotten der Gnade und fallen, ungeachtet auch ihre Berufung von Seiten Gottes eine durchaus ernstlich gemeinte gewesen war, unter das Wort: „Jerusalem, Jeru­

salem! wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, aber ihr habt nicht gewollt!" —

b) Wie niemand sich selbst, so kann auch keiner einen andern zu einem Christen machen.

Was wir thun können und

allerdings

auch thun sollen, ist: Lehren durch Wort und Beispiel, ermahnen, tragen, dulden, lieben: daß aber und wie dieses unser Thun wirkt,

das ist des Geistes. Wie Paulus schreibt: „ich habe gepflanzt, Apollo hat begossen, Gott, aber hat das Gedeihe» gegeben" (1 Kor. 3, 6. 7).

Es ist das um so mehr festzuhalten, als nicht nur die

Mittlerschaft („Vaterschaft"), welche die römische Kirche sich und

ihren Priestern in Sachen des Glaubens beilegt,

dicht an dieses

364

2. HaiHtstück.

Dritter Artikel.

„zum Christen Machen" streift und praktisch auf dasselbe hinaus­

kommt; sondern es auch in der evangelischen Kirche nicht selten den

Predigern, Lehrern u. f. w. zum Vorwurf gemacht wird, wenn die Leute sich nicht bessern, „sich nicht erbauen". — Nichts ist un­

billiger, als dies; nichts leistet so sehr einerseits der Indolenz, an­

dererseits priesterlicher Ueberhebung Vorschub.

Geist beruft u. s. w.",

oder:

Darum:

„der heil.

„Christus ist der Anfänger und

Vollender unsers Glaubens" (Ebr. 12, 2); andererseits ist es von

Anfang bis zu Ende der eigne Glaube, nicht der eines andern, der

es thut.

Und beide Sätze sind

nur verschiedene Seiten derselben

biblischen Wahrheit. 2) Dasselbe, was von dem Einzelnen gilt, gilt auch von der

Kirche. a) Auch die Kirche ist weder von selbst entstanden, noch ist sie von Menschen gemacht, sondern sie ist eine Schöpfung des h. Geistes.

Die Apostel haben sich nicht hingesetzt und gesagt:

„wir wollen die

christliche Kirche stiften": sondern Gott hat seinen Geist über die

Apostel ausgegossen: und die Kirche war da. Und zwar war es ein Akt, der die Einzelnen mit diesem Geiste erfüllte und zu Glie­ dern der Kirche machte, und der die „Gemeinde der Heiligen"

d. i. die Kirche in's Leben rief, indem er alle unter einander zur Einheit verband. In diesem Sinne ist die Kirche eine göttliche

Stiftung. Um aber hierbei nicht irre zu gehen, muß man sorg­ fältig darauf achten, was in diesem Schöpfungsakte der Kirche in's Leben gerufen ward und in die Erscheinung trat.

Nichts von alle

demjenigen, ohne welches sich dermalen unzählige die Kirche kaum

zu denken vermögen:

Gebäude, Talare, Bekenntnisse, Katechismen,

Gesangbücher, Agenden, auch keine Pfarrer und Superintendenten, d. i. Aemter und Behörden und, was dergleichen mehr ist. Nichts von alle diesem, geschweige Papstthum und Lutherthum, ist vom

Himmel gefallen; und war an dem Ursprünge der Kirche da.

Sondern, was da war, das war die vom Geist, erfüllte und durch den Geist verbundene Schar von Jüngern Christi, die

Gemeinschaft der Gläubigen: welche nun im Laufe der Zeit aus dem Geiste, der sie erfüllte, dem „Geiste der Kraft, der Liebe

und der Zucht" (2 Tim. 1, 7), je nachdem das

Bedürfniß sich

Wirksamkeit des heiligen Geistes nach Luthers Erklärung.

365

herausstellte (Apostg. Kap. 6; 11; 13), diejenigen Aemter, Ordnungen und Einrichtungen erzeugte, welche zu ihrem Gedeihen nöthig waren.

Denn, wie die christliche Kirche, nach der in ihr wirkenden Kraft, eine Schöpfung des h. Geistes Gottes ist, so ist sie in ihrer jedes­

maligen Erscheinung durch und durch das Produkt geschichtlicher Entwicklung, und menschlicher, allerdings geistdurchwirkter, aber bei

alle dem menschlich bedingter und deshalb auch nicht sündenfreier und unfehlbarer Thätigkeit.

Dies ist der Sinn und die Bedeutung

der aus der Neformatiou stammenden Unterscheidung der sichtbaren

und unsichtbaren Kirche, damals einer der schlagendsten Waffen der Reformation; und richtig verstanden noch heute ein unveräußer­ licher Grundsatz der evangelischen Kirche.

Ist immerhin der Aus­

druck schief, sofern es nicht zwei Kirchen, eine sichtbare und eine un­ sichtbare, sondern nur eine Kirche giebt, die ihr Wesen im Unsicht­

baren hat, mit ihrer Erscheinung in die Sichtbarkeit fällt: so hat doch die Sache ihre Richtigkeit; und bildet die Anerkennung, daß das unsichtbare Wesen der Kirche niemals ganz in die sichtbare Er­

scheinung aufgeht, umgekehrt jede sichtbare Erscheinung sich immer

wieder an dem unsichtbaren Wesen zu messen und aus demselben zu bessern und zu erneuen hat —: nach, wie vor, den Grundunterschied zwischen katholischem und protestantischem Wesen, und ist das, was

unsere Kirche zur evangelischen macht.

b) Wie die Kirche nicht von Menschen gemacht,

sondern vom

Geiste in's Leben gerufen ist, so ist auch ihre Erhaltung, Förderung, Reinigung und Einigung nicht ein Werk menschlicher Willkür, son­ dern des göttlichen Geistes, der sie hervorgebracht hat.

Ebenso wenig

läßt sich in der Kirche irgend etwas Kirchliches, was diesen Namen verdient, durch menschliche Kunst und Anstrengung machen. Wohl mag man Kirchen bauen, Bekenntnisie aufstellen, Gottesdienste anordnen, Konventikel stiften, und hat dergleichen und anderes mehr in heiligem

und unheiligem Eifer reichlich gethan.

Aber, wo nicht Gottes Geist

und Odem dahinter war, ist durch deren keines die Kirche gefördert

worden, und mehr, als Schein oder Clique, entstanden.

Frühling,

auch Frühling der Kirche läßt sich durch kein Einheizen machen: sondern, wenn Gottes Winde wehen, grünet die Saat, und blühet Baum und Strauch.

Andererseits versteht es sich von selbst, daß

2. Hauptstück.

366

Dritter Artikel.

jeder seine Schuldigkeit thue, damit, wenn der Frühling kommt, der­

selbe den Acker bestellt finde. 3) Christus und Christenthum sind geschichtliche Erscheinungen, mit denen man nicht anders, als auf geschichtliche Weise, in Berüh­

rung kommen kann.

Man kann von ihnen nichts vernehmen,

ge­

schweige ihre Kraft erfahren, als innerhalb des Kreises, in welchem sich eine Kunde von ihnen vorfindet, und bis zu welchem ihre Wir­

kungen reichen.

„Wie sollen sie anrufen, an

Wie Paulus schreibt:

den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber glauben, von dem sie nichts

gehört haben?

Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?--------- So

kommt also der Glaube aus der Predigt; die Predigt aber aus dem

Worte Gottes" (Röm. 10, 14. 17).

Daraus folgt:

a) Man wird Christ nur durch irgendwelche, irgendwie vermittelte Berührung mit der Christenheit, innerhalb des Kreises, in welchem der Geist Christi seine „berufende, erleuchtende, heiligende" Wirksam­

keit ausübt, nicht im Heidenthum oder Judenthum oder Muhamedanismus durch die Berührung mit einem derselben.

b) Wie christlicher Glaube nur in Berührung mit christlichem Glauben entstehen und sich verbreiten kann,

so vermag er sich auch

nur in der Gemeinschaft mit solchem in voller Lebendigkeit zu erhalten

und weiter zu entfalten.

Es ist eine bekannte Thatsache, daß Kin­

der bis zu einem gewissen Alter, wenn sie durch irgendwelchen Zu­

fall aus der menschlichen Gesellschaft entfernt wurden, einem thierischen Dasein entwickelten;

Menschen,

die durch Krankheit oder sonst wie das Gehör verloren,

die Sprache vollständig,

und selbst Erwachsene,

welche viele Jahre

von allem Verkehr mit Menschen ausgeschlossen waren, zu

einem gewissen Grade wieder verlernt haben.

in denen,

sich nur zu

daß andere mitten unter den

So würde auch

welche sich andauernd von jeder religiösen,

der christlichen Gemeinschaft absondern,

Glaube wieder verschwinden,

dieselbe bis insbesondere

auch der bereits erwachte

wenn es möglich wäre,

sich inmitten

der Christenheit von dem Einflüsse des Christenthums jemals ganz

abzusperren.

Aber auch die,

welche in keine Kirche kommen, leben

und athmen in der Lebenslust,

mit welcher das Christenthum alle

Verhältnisse durchdrungen hat: in tausend und aber tausend Kanälen kommt, sie mögen wollen oder nicht wollen, die Kunde und der Ein-

367

Wirksamkeit des heiligen Geistes nach Luthers Erklärung.

fluß des Evangeliums zu ihnen. Damit soll weder ihre Absonderung

entschuldigt, noch behauptet werden, daß ihnen dieselbe nicht schade: sondern es soll nur verständlich gemacht werden, wie so viele gänz­

lich unkirchliche Menschen noch Christen, oft sogar recht gute Christen

Christenthum und Christenheit gehen eben weit über

sein können.

die gottesdienstlichen Versammlungen und über den kirchlichen Orga­ nismus hinaus. —

Hieraus ergiebt sich, was von dem bekannten Satze der römi­ schen Kirche zu halten sei,

„außer der Kirche sei kein Heil",

und daß „niemand Gott zum Vater haben könne, die Kirche zur Mutter habe".

der nicht

Derselbe hat nur insofern Wahr­

heit, als man erstens unter Kirche weder die römische Kirche noch den kirch­

lichen Organismus, sondern die Gesammtheit der Wirkungen des Geistes Christi, „die ganze Christenheit auf Erden" versteht, und den

Satz: „Wo die Kirche ist, da ist der Geist" durch den andern nicht

minder wahren und nicht weniger nothwendigen:

„Wo der Geist

ist, da ist die Kirche", ergänzt; als man zweitens unter „Heil" nur den vollen und vollbewußten

Heilsbesitz begreift, welcher dem Menschen in Christo zu Theil ge­

worden ist, und in dessen Besitz allerdings niemand, als in Verbin­ dung mit ihm, gelangen kann. Denn Heil überhaupt, Sehnsucht

nach demselben, die, wo sie redlich ist, niemals und nirgends ganz unbefriedigt bleibt, Besitz von irgend welchen Heilsgütern, kurzum Morgenröthe des Christenthums:

die ist allerdings auch vor dem

Christenthume und außerhalb desselben.

Wie die christliche Kirche

in Beziehung auf die Frommen des A. Bundes dies immer,

die

alte Kirche und Luther in einzelnen seiner Aeußerungen, noch be­ stimmter aber Zwingli solches auch in Beziehung auf edlere Heiden

anerkannt haben. Die Behauptung, welche außerchristlichen Frommen alles Gute und Göttliche abspricht — wo aber Gutes und Gött­ liches

ist,

da

sind

auch Heilsgüter — ist

lediglich

Folge

der

Knechtschaft unter einem falschen System oder der Angst, Christus und das Christenthum könnte ihren Werth verlieren, wenn man

zugestände, daß auch in den andern Religionen noch Spuren und Weissagung der Wahrheit sei. Als wenn die Sonne aufhören würde,

368

2. Hauptstuck.

Dritter Artikel.

Sonne zu sein, weil man anerkennt,

daß auch die Sterne Glanz

haben.

Endlich darf die Behauptung,

daß außer der Kirche kein Heil

sei, nicht über die Gegenwart und das Diesseits ausgedehnt, nicht zu einem Urtheile über das zukünftige Leben gemacht werden.

sind desselben

Die des Heils in Christo noch nicht theilhaftig sind,

jetzt noch nicht theilhaftig, wohl aber können und sollen auch sie seiner — und wenn auch erst in dem zukünftigen Leben - theil­ haftig werden; nach dem Worte:

geholfen werde,

„Gott will, daß allen Menschen

und alle zur Erkenntniß

„Denn es ist ein Gott und

der Wahrheit kommen.

ein Mittler zwischen Gott und den

Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung, daß solches (jedem) zu seiner Zeit ge­ predigt würde" (1 Tim. 2, 4—6).

„Denn

dazu ist Christus auch

gestorben und auferstanden und wieder lebendig

geworden, daß er

über Todte und Lebendige Herr sei" (Röm. 14, 9).

Die den Herrn

hier nicht gefunden haben, denen er hier nicht verkündigt ist: denen

wird er droben erscheinen;

nach dem tiefsinnigen Wort des Petrus-

Briefes, welches die Kirche von je an, wenn auch in verschiedenem

Umfange und mit mehrerer oder minderer Entschiedenheit und Klar­

heit, auf die Möglichkeit einer „Bekehrung" und Erlösung noch in dem anderen Leben bezogen hat:

1 Petri 3, 19 f.; 4, 6 (vergl. den

Abschnitt von der Höllenfahrt). —

Bereits vorher ist angedeutet,

in welcher Weise

die römische

Kirche Gotte als dem Vater die Kirche als Mutter gegenüber und zur Seite stellt; und auch sonst ist in ihr die Bezeichnung der Kirche als der h. Mutter Kirche gang und gäbe. Diese Bezeichnung, welche mitunter auch von überfrommen Protestanten nachgeahmt wird, ist

unbedingt zu verwerfen, sofern sich an dieselbe mehr oder weniger

der verderbliche Wahn knüpft, daß die Kirche den Menschen zu einem Christen und selig mache: während es nach evangelischer Lehre allein der Geist Gottes ist,

der in der Kirche (in dem oben angedeuteten

Sinne) „mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergiebt" u. s. w.

Einen irgendwie ertragbaren Sinn könnte diese Be­

nennung nur haben, wenn sie — was aber nicht der Fall ist — stets nur in dem Sinne gebraucht würde,

in welchem man umgekehrt

Wirksamkeit des heiligen Geistes nach Luthers Erklärung.

369

einzelne besonders wirksame Glieder der Kirche als „Väter der Kirche"

bezeichnet. 4) Damit ist

bereits

auf

diejenige Ergänzung hingedeutet,

welcher die Ausführung Luther's über die Wirksamkeit des h. Geistes, um der Sache gerecht zu werden,

wenn man sie nur genau ansieht,

noch bedarf; die sie aber auch, aus sich selbst erzeugt.

Ist es

nämlich mit dem „gleichwie" ernst gemeint (und das ist der Fall): so liegt darin,

daß, wie die Kirche die Stätte und das Mittel ist,

„in welcher" und durch welche der h. Geist ans die Einzelnen wirkt, so wieder die Einzelnen und jeder Einzelne die Organe bilden, durch

welche

derselbe Geist die Kirche fördert.

Nach dem Worte Pauli:

„Lasset uns rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen an dem, der

das Haupt ist, Christus, aus welchem der ganze Leib zusammengefügt ist, und ein Glied am andern hanget durch alle Gelenke, dadurch eins

dem

andern Handreichung thut nach

Gliedes in seiner Maße und macht,

dem Werke eines jeglichen

daß der Leib wächst zu seiner

selbst Besserung; und das alles in der Liebe" (Ephes. 4, 15. 16). —

Es ist dies abermals ein wesentlicher Unterschied zwischen der römi­

schen und der evangelischen Kirche,

sofern jene eigentlich nur eine

Wirksamkeit der Kirche auf die Einzelnen (des Leibes auf die Glie­ der) zugesteht, diese dagegen die Wechselwirkung beider auf einander

lehrt, und,

unbeschadet der Anhänglichkeit und Achtung,

welche sie

ebenfalls von ihren Gliedern gegen die Kirche fordert *), jedes Glied, auch das geringste, je nach dem „Maße seiner Gabe" zu derjenigen

erbauenden, fördernden, reinigenden Einwirkung auf das Ganze be­

rechtigt, welche ihre Begründer, die Reformatoren, in so hervorragen­ der Weise ausgeübt haben.

Je mehr es neuerdings auch in der

evangelischen Kirche zur „Kirchlichkeit"

gerechnet werden will,

die

einzelnen Christen, wie die einzelnen Gemeinden, ächt römisch nur als ein „Objekt"

für die Thätigkeit der „Kirche",

„als Pflanz­

stätten" christlicher Frömmigkeit zu betrachten, und Gehorsam und

Unterwerfung unter die Kirche zu fordern: um so entschiedener ist daraus hinzuweisen,

derlehre ist,

daß es schon ein Stück evangelischer Kin­

daß „der h. Geist mich durch

’) Matth. 18, 15-18. Elte st er, Materialien. 2. Auflage.

das

Evangelium

2. Hauptstück.

370

Dritter Artikel.

berufen, mit seinen Gaben erleuchtet und im rechten Glauben ge­ heiligt und erhalten hat, gleichwie er die ganze Christenheit auf

Erden sammelt, erleuchtet, heiligt und bei I. Christo erhält im rechteil einigen Glauben."

„Wo der Geist ist, da ist die Kirche," und

wenn es nur zwei oder drei sind, die in seiner Kraft zusammenstehen (Matth. 18, 20).

Ja, in dem Ablaßhandel und zu Worms reprä-

sentirte der einige Luther, obschon ein armer Bettelmönch und eines

der niedrigsten Organe der Hierarchie, der ganzen „Kirche" gegen­

über die Kirche; und die ganze „Kirche" hätte die Pflicht gehabt,

ihn, den einigen, zu „hören", wie er seinerseits nie aufgehört hat,

der Kirche, d. i. „der ganzen Christenheit auf Erden" die ihr ge­ bührende Ehre zu geben. —

Von der Kirche. Die christliche Kirche, die „Gemeinde der Gläubigen", wird in der h. Schrift am häufigsten und bezeichnendsten mit einem Leibe

verglichen, ja sie wird geradezu der Leib Christi genannt. — Der Ausdruck: „Leib Christi", „Leib des Herrn", kommt in der h. Schrift in mehrfacher Bedeutung vor.

Einmal in buchstäblicher

Bedeutung bezeichnet er den natürlichen Leib Jesu; sodann in über­

tragener Bedeutung die Gemeinde des Herrn als den geistlichen Leib I. Christi, endlich in besonderer Beziehung die das Abendmahl des

Herrn feiernde Gemeinde oder auch die Feier des Abendmahls selbst,

sofern durch diese Feier die Gemeinde im hervorragendsten Sinne mit

Christo und unter einander vereinigt und zu „einem Geiste und einem Leibe" wird (1 Kor. 10,17; Ephes. 4, 4). — Wir halten uns hier nur an die zweite Bedeutung, wie sie uns

in der bereits angeführten Stelle, Ephes. 4, 15. 16, entgegentritt,

an die zunächst wir unsere weiteren Erörterungen anknüpfen. 1) Verfolgt man die Vergleichung, so ist Christus also das Haupt; der Geist Christi ist das den gesammten Leib beseelende Leben; die einzelnen Christen sind die Glieder; die Gelenke dagegen

die Ordnungen, Einrichtungen und Aemter, welche die Einzelnen unter einander zu einem Ganzen verbinden, und durch welche es mög­

lich wird, daß das Leben Christi im Leibe Christi, d. i. in seiner Ge­

meinde ungehemmt cireulirt, und jedes Glied jedem andern und dem

Die christliche Kirche.

Ihr Wesen.

371

Ganzen je mit seiner Gabe dient; und wieder der ganze Leib jedem

Gliede diejenige Pflege und Stärkung zu Theil werden läßt, welcher es bedarf.

Solche Gelenke sind z. B.

der Katechumenen-Unterricht.

Wie

der

öffentliche Gottesdienst,

wäre es möglich

ohne dahin

einschlagende Einrichtungen die Jugend regelmäßig im Christenthume

zu unterweisen; den Trost, die Ermahnung, die Auslegung des gött­ lichen Wortes sicher und ausreichend an die Gemeinde zu bringen? Dahin gehören ferner die Einrichtungen zur Leitung der Gemeinde; die Kranken- und Armenpflege,

die Sorge für die Verlaffenen oder

im Glauben Zurückgebliebenen; sammt den entsprechenden Aemtern: dem Predigtamte, dem Amte der Kirchenältesten, der Helfer und,

was

dergleichen

mehr

ist.

Weiter diejenigen Institutionen und

Aemter, durch welche wieder die einzelnen Gemeinden unter einander verbunden und zu größeren und immer größeren Kirchenkreisen als

Kreis-, Provinzial-, Landesgemeinden vereint werden:

die verschie­

denen Behörden und Synoden in ihren mannigfaltigen Abstufungen.

Endlich sind zu den „Gelenken" der Kirche noch die freien Vereine (Bibelgesellschaft, Missionsgesellschaften, Gustav-Adolf-Verein u. a. m.) zu

zählen,

welche den

amtlichen Organen der Kirche helfend und

ergänzend zur Seite gehen, indem sie theils solche Thätigkeiten über­ nehmen, für welche jene nicht die ausreichenden Kräfte, Mittel, auch wohl kein Verständniß haben; theils die nicht im kirchlichen Amte stehenden Glieder der Kirche zu der ihnen geziemenden weitern Wirk­

samkeit für die Kirche anregen und in Stand setzen. 2) Es ist ein überaus

ständniß zugängliches

Bild

faßliches,

auch dem schlichtesten Ver­

des kirchl.

uns in dieser Vergleichung entgegentritt.

Organismus, welches

Aber dieselbe Vergleichung

giebt auch eine vortreffliche Unterlage zur Bestimmung des Begriffs der Kirche, und zu einer jedermann einleuchtenden Darstellung der

Gegensätze, welche in dieser Beziehung zwischen der evangelischen und der römischen Kirche und sonst noch stattfinden. — Nach

wesentlich

der Lehre

der römischen Kirche nämlich

und Institutionen, beziehungsweise Personen.

ist die Kirche

der Inbegriff der die Kirche zusammenhaltenden Aemter der diese Aemter

bekleidenden

Was man sonst Kirche nennt und zu ihr zählt, die Ge­

meinde und deren Glieder, kommen gegenüber dieser regierenden —

24*

2. Hauptstück.

372

der eigentlichen — Kirche,

Dritter Artikel.

der Kirche im engern Sinne, der Hier­

archie nur insofern in Betracht, als sie Gegenstände der Thätigkeit

der letztern („Pflanzstätten christlicher Gesinnung") sind,

und

der

„Hierarchie", dem „Klerus" zu gehorchen und sie zu ernähren haben.

Sie sind die „Laien", „das Volk, das von dem Gesetze nichts weiß"

(Joh. 7, 49). — Nach

dieser Anschauung sind

die Gelenke des

Leibes der Leib. — Dieser Ansicht schroff entgegengesetzt ist die andere, nach welcher

die Kirche die Summe der Einzelnen ist, sei es aller oder der meisten oder

auch nur etlicher.

Denn auch das kommt vor, daß, wie auf

der Gaffe oder in einem Club

irgendwelche zusammenlaufen und

dekretiren, „das preußische Volk oder Deutschland beschließt u. s. w.;"

so auch in der Kirche irgendwelche viele oder wenige, „Kirchliche", und

sogar sehr

denen kein Mensch Auftrag gegeben, zusammentreten

„wir sind die Kirche."

erklären:

man den Leib zerhackt, und darauf, sei

Das ist gerade so, als ob

es einen Theil der Glied­

maßen oder auch alle, auf einen Haufen wirft und spricht: „Das ist

der Leib."

In der

römischen Kirche das Gerippe,

hier

der

Haufen, die Masse. — Und nicht viel besser ist der Kirchenbegriff, der in der richtigen Erkenntniß, immer irgendwelche Verbindung

daß

zu jeder Gemeinschaft doch

und Organe gehören,

die Kirche

allerdings als „Gesellschaft" mit gewissen Ordnungen und Einrich­

tungen auffaßt; aber als eine, die sich rein willkürlich gebildet und ebenso verfaßt hat.

Die Anschauung von der Kirche, wie etwa einer

Aktiengesellschaft. —Dem allem gegenüber steht die evangelische Begriffsbestimmung der Kirche als der „Gemeinschaft des h. Geistes in den Herzen

der Gläubigen"

d. i. der aus dem Geiste Christi

getonten und von ihm durchwalteten Gemeinde mit ihren

dem­

selben Geiste entsprungenen Ordnungen und Einrichtungen, oder

des „geistlichen Leibes I. Christi." —

Von den Eigenschaften der Kirche.

I. Einheit. — Es ist nur ein Christus, also auch nur eine Christenheit. Und zwar soll dieselbe nicht nur eine über die ganze Welt zerstreute, nur

Die christliche Kirche.

Ihre Einheit.

373

hie und da zufällig verknüpfte Schaar, sondern „ein Geist und ein Leid", eine organisch verbundene Gemeinde sein, vgl. Ephes. 4, 4f. —

Joh. 10, 16: „Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus

diesem Stalle.

Und dieselbigen muß ich herführen, und sie werden

meine Stimme hören, und wird eine Heerde und ein Hirte werden."

— Joh. 17, 20—23:-------- „auf daß sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir, und ich in dir, daß auch sie in uns eins seien,

auf daß die Welt glaube, du habest mich gesandt.-------- " Das wird in irgendwelcher Weise auch überall anerkannt.

Zu­

nächst die römische Kirche will Einheit der Kirche: aber sie will die Einheit auf Kosten jedes selbstständigen, eigenthümlichen Lebens und auf dem Wege der Gewalt.

Darum hat sie auch nie dieselbe er­

reicht, noch wird sie jemals wahre Einheit erreichen.

sie

Sondern, was

durchgesetzt hat, ist Einförmigkeit innerhalb des von ihr be­

zwungenen Gebiets; in Folge dessen geistlicher, auch wohl leiblicher

Tod, beziehungsweise Absprengung alles dessen, was lebenskräftig

genug war, sich ihrem Zwange zu entziehen. Die Reformation hat ursprünglich gleichfalls die eine heilige

allgemeine christliche Kirche ernstlich gewollt, und ist sehr gegen ihren Willen durch die Schuld der römischen Hierarchie in die Spaltung hineingedrängt. Später freilich hat sie kraft der in ihr nachwirkenden römischen Grundsätze gleichfalls weitere Spaltungen erzeugt; vollends ist die aus ihr geborne Kirche durch ihre wachsende Abhängigkeit vom Staate in einer Weise zerrissen worden, daß ihre äußere Erschei­

nung nicht mehr den Anblick eines Leibes, sondern nur von zerrissenen

Gliedmaßen (disjecta

membra poetae) gewährte.

Namentlich in

Deutschland entstanden so viele „Kirchen", deren keine sich um die andere

bekümmerte, als es Staaten gab: und deren waren einst über drei­ hundert und sind noch jetzt — viele.

Diese trostlose Entwicklung, dazu

die offenbare Unmöglichkeit, unter den dermaligen Verhältnissen auf

dem bis jetzt befolgten Wege Einheit der evangelischen Kirche zu erreichen, hat manche evangelische Theologen ehedem und noch jetzt bewogen, Einheit überhaupt nur für eine Eigenschaft der „unsicht­

baren Kirche", für ein Ideal zu erklären, das sich in der sichtbaren Kirche nie verwirklichen lasse.

Offenbar ein Akt der Verzweiflung,

dem nicht bloß der christliche Glaube,

sondern auch — die Logik

2. Hauptstück.

374 widerspricht.

Kirche,

Ist nämlich

Dritter Artikel.

Einheit ein Attribut der unsichtbaren

oder — besser ausgedrückt— gehört

sie zum

Wesen

Kirche, so ist sie auch nicht eine „platonische Träumerei",

der

noch soll

sie dafür gehalten werden, so wenig als die „unsichtbare Kirche" eine

solche ist1):

sondern sie ist und soll erkannt werden als eine der

Kirche von dem Herrn der Kirche gestellte Aufgabe und ein Ziel, nach dessen Verwirklichung jedes lebendige Glied der Kirche unablässig

zu trachten und dafür zu wirken hat. Wie denn auch die Geschichte zeigt, daß von je an den die Kirche spaltenden Tendenzen einigende (unirende) zur Seite gegangen, und daß es nicht „Idealisten" und Schwärmer oder Indifferente und Ungläubige,

sondern Besonnenste

und Gläubigste und Praktischste, wie Paulus, gewesen sind, die gegen die Zerreißung der Kirche angekämpft und jede Spaltung für fleisch­

lich (Sünde) erklärt haben (1 Kor. 1, 12; 3, 4).

Die unter uns eingeführte „Union" das

ist zunächst — wie sie

geschichtlich gar nicht anders konnte — als Vereinigung der

lutherischen und resormirten Kirche zu einer evangelischen Kirche

aufgetreten.

Aber in der in ihr liegenden Rückkehr zu den ursprüng­

lichen Prinzipien der Reformation trägt sie bei folgerichtiger Durch­ führung derselben den Keim und die Kraft und die Grundsätze in

sich,

aus

denen die „eine h. allgemeine Kirche Christi"

geboren

werden wird, und auch allein geboren werden kann. —

Die der Union zu Grunde liegenden, mit steigender Klarheit in das Bewußtsein getretenen Gedanken lassen sich am besten zusam­

menfassen in dem Satze der „Einheit in der Mannigfaltigkeit", wie

denselben schon Paulus 1 Kor. 12 ausgesprochen hat.

Wie der Leib

nicht bloß viele, sondern auch vielerlei Glieder hat und ist doch ein

Leib, also auch Christus.

Und, wie gerade in der Mannigfaltigkeit

der Glieder, die wir am menschlichen Leibe vor allen andern Leibern finden,

die Schönheit und die Kraft des Menschenleibes und seine

Angemessenheit zum Organ des menschlichen Geistes liegt: so ist auch in

der Kirche die größtmögliche Mannigfaltigkeit der Gaben und

eine weitgehende Verschiedenheit der Glieder bei gleicher Unterord­ nung unter den Geist, weit entfernt, die Einheit zu stören, vielmehr

’) Melanchthon in der Apologie der Augsburger Confession.

Die christliche Kirche.

Ihre Einheit.

375

die Bedingung für die allseitige Entfaltung des Geistes und für das

Gedeihen des Leibes Christi.

wo bliebe das Gehör?"

„Denn, wo der ganze Leib Auge wäre,

Und „so alle Glieder ein Glied wären, wo

bliebe der Leib?"

Legen wir uns den Inhalt dieses Grundgedankens sowohl nega­ tiv als auch positiv auseinander.

1) Die Einheit der Kirche soll nicht auf dem Wege der Einer-

leiheit verwirklicht werden.

In der ganzen Kirche einerlei Lehre,

Verfassung, Form des Gottesdienstes herab bis auf Form und Farbe und Schnitt der Gewänder und die eine gottesdienstliche Sprache:

das ist der römische Weg,

der die Kirche aus

einer Gemeinschaft

des Glaubens zu einer Gesetzes- und Zwangs-Anstalt gemacht

hat;

in der alles,

was von dieser einerlei Satzung abweicht, ent­

weder getödtet oder zur Heuchelei genöthigt, wo nicht, aus der Kirche ausgetrieben wird.

Die reformatorische Kirche hat anerkannt, daß

zur Einheit der Kirche keineswegs nöthig sei,

daß überall in der

Kirche dieselben Ceremonien, Ordnungen und Einrichtungen bestän­

den, und hat von Anfang an in allen diesen Beziehungen die weit­ gehendste Mannigfaltigkeit zugelassen.

Nur für die Lehre hat sie,

weil doch in der Kirche ein Glaube sein müsse (Ephes. 4, 5),

in

verhängnißvoller, aus der alten Kirche überkommener Verwechslung

von Glaube und Lehre,

gleich jener abermals Gleichheit gefordert

und durch diese Forderung der einerlei reinen Lehre nicht bloß die

bedauerliche Spaltung zwischen der resormirten und der lutherischen Kirche herbeigeführt, sondern überhaupt in sich den Geist der Aus­ schließlichkeit und Gesetzlichkeit ausgenommen, welcher die päpstliche

Kirche kennzeichnet. — In der Union endlich — welche weder ein Aufgehen des Lutherischen in das Reformirte, noch dieses in jenes, noch endlich ein aus beiden ausgezogenes und abgeschwächtes drittes

„Einerlei"

hat sein wollen — in

der Union

ist anerkannt,

daß

Differenzen in der Lehre (so weit dieselben nur nicht den Boden des

Evangeliums verlassen oder verleugnen) ebenso wenig die Einheit

der Kirche

hebung

und des Glaubens stören, und einen Grund für Auf­

der kirchlichen Gemeinschaft abgeben,

als dies — unter

gleicher Voraussetzung — bei Differenzen der Verfassung, des Kultus und der Sitte der Fall ist:

daß überhaupt für die Darstellung

2. Hauptstück.

376

Dritter Artikel.

des Glaubens in der Lehre durchaus dasselbe Gesetz der Mannigfaltigkeit gilt, welches für die ganze Kirche und alles

in ihr, wodurch christlicher Glaube dargestellt und mitgetheilt wird,

seine Anwendung findet.

So besteht denn in der unirten Kirche

schon jetzt nicht bloß lutherische oder reformirte oder sonst eine aus­ schließliche Lehre, sondern lutherische und reformirte Lehre und, was

zwischen beiden liegt, in gleicher kirchlicher Berechtigung; und ist damit folgerichtig anerkannt überhaupt alles, was sich als auf dem Grunde des Evangeliums stehend nachweisen kann (1 Kor. 3, 11 f.).

Dadurch ist endlich das Fundament zu der — evangelisch-katho­ lischen — Kirche gelegt, welche, weil sie alle Weisen und alle

Stufen christlichen Glaubens und christlicher Frömmigkeit

in sich berechtigt, darum auch fähig ist, alle Christen in kirch­ licher Gemeinschaft zu vereinigen. —

2) Die Einheit der Kirche soll auch nicht gesucht werden auf

dem Wege einer von einem sichtbaren Mittelpunkte aus durch ein sichtbares Regiment (gleichviel ob Papst oder Consistorium oder

Synode) regierten Universalkirche.

Schon das Wort des Herrn:

„ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle" zielt auf eine Mehrheit von Hürden (Ställen), über die sich die eine

Herde des einen Hirten vertheilen werde.

Desgleichen deutet die

Vergleichung der Kirche mit dem menschlichen Leibe, wie auf Man­

nigfaltigkeit, so auch auf Gruppirung, und Auseinandertreten der Glieder.

gruppenweises Zusammen-

Aber, auch abgesehen von dem

Bilde, leuchtet ein, daß die Kirche in dem Maße, als sie wächst, — zwar nicht — wie es jetzt der Fall ist — in verschiedene, geschweige

einander feindliche, Kirchenparteien zerfallen, wohl aber in eine

mehr oder minder große Anzahl selbstständiger Kirchenkreise (Na­ tional-, Landes-, auch ,,Confessions"-Kirchen) sich werde gliedern

müssen. Betrachten wir irgend welchen größeren Ort in der evangelischen

Christenheit, so finden wir die eine Stadt-Gemeinde überall in eine

Mehrzahl von

Gemeinden

(Parochien

oder

Sprengel)

vertheilt.

Jeder sieht die Nothwendigkeit und den Segen davon ein: sofern ja kein Gotteshaus gefunden werden würde, groß genug, um die eine ungetheilte Gemeinde zu fassen, und, wenn man ein solches Herstellen

Die christliche Kirche.

377

Ihre Einheit.

wollte, keine menschliche Stimme im Stande wäre, sich den Versam­

melten verständlich zu machen.

Aber, auch abgesehen davon, fordert

die sonstige Versorgung der Gemeinde mit Gotteswort,

der Unter­

richt ihrer Jugend, die Seelsorge, die Krankenpflege u. s. f. die Thei­ lung der Menge in kleinere übersehbare Haufen — ähnlich, wie der Herr, als er das Volk speiste,

dasselbe sich lagern ließ in

„Schichten je hundert und hundert, und fünfzig und fünfzig" — weil

nur bei einer solchen Gruppirung die, .welche das Brot austheilten,

im Stande waren, zu jedem zu gelangen; und weil auch heute nur so die Sicherheit gegeben ist, daß niemand bei der „Speisung" über­

setzen werde. Ganz dieselbe Nöthigung findet im größeren Maßstabe statt bei dem ganze Länder und Völker erfüllenden Christenvolke.

Auch hier

muß, soll die Leitung der Kirche denselben wirklich nahe und ihre

Versorgung eine allen Bedürfnissen entgegenkommende sein, noth­

wendig Sonderung „je nach Schichten" eintreten.

Und zwar wird

auch hier das Motiv der Abgränzung einerseits die Möglichkeit, sich

verständlich zu machen, die Sprache, andererseits die mehrere oder

mindere Leichtigkeit des Verkehrs

geben.

Nach jenem Gesetze

entstehen die Nationalkirchen; sofern ja der Deutsche den Deutschen,

der Franzose den Franzosen, der Engländer den Engländer ganz anders und besser verstehen und sich ihm verständlich machen wird, als es bei den verschiedenen Nationen untereinander der Fall ist:

ja, sofern es bei der Jncommensurabilität der Sprachen Deutsches, Französisches, Englisches u. s. w. giebt, und zwar nicht bloß Worte, sondern auch Empfindungen, Anschauungen und tief eingreifendste

Bedürfnisse,

„übersetzen"

welche sich

schlechterdings

in

keine andere Sprache

und darum auch von keiner nicht vaterländischen Kir­

chenleitung befriedigen lasten. Die örtliche Nähe dagegen und das

Interesse rascher und ungehemmter einheitlicher Leitung erzeugt nicht

bloß, sondern fordert, wie „Kreis- und Provinzial-Kirchen", an denen

noch niemand Anstoß genommen hat, so auch Landeskirchen.

So

gewiß die Kirche kein Staatsinstitut ist, und so sehr auch die evan­ gelische Kirche dies von sich weiß, so kann doch dieselbe, ohne ihre Grundsätze zu verleugnen, nie Selbstständigkeit vom Staate, ge­

schweige Herrschaft über denselben, sondern nur Selbstständigkeit im

Dritter Artikel.

2. Hauptstück.

378

Staate in Anspruch nehmen;

oder: sie wird wissen,

daß sie nach

ihrer irdischen Erscheinung nie etwas anderes sein kann,

als eine

Gesellschaft im Staate, welche ihre Angelegenheiten allerdings selbst­

ständig, aber innerhalb der allgemeinen Staatsordnung zu ordnen, insbesondere ihre Güter, Einkünfte, Berechtigungen (deren keines vom

Himmel gefallen ist) nach den im Staate dafür geltenden Gesetzen zu verwalten hat. — Dadurch ist die Gliederung nach Ländern, sind

Landeskirchen gerechtfertigt. — Unkirchlich ist allein die Vermischung der Kirche mit dem Staate, so wie die Abhängigkeit von ihm; des­ gleichen,

wenn die politischen Schlagbäume auch die Kirchen gegen

einander absperren. Sehen wir diese Gliederungen wesentlich durch Nebeneinander­

wohnen (par-oikia Parochie) entstehen, so bilden sich andere durch innere Anziehung, ähnlich, wie sich im Kleinen fast in jeder bedeu­

tenden Stadt, unabhängig von dem Parochial-Verbande, Gemeinden rein durch innere Verwandtschaft zu bilden und um hervorragende Geistliche zu sammeln pflegen. Nichts anderes, als solche durch innere

Verwandtschaft, insbesondere durch gemeinsame Anziehung von be­

deutenden das

geschichtlichen Persönlichkeiten bestimmte Kreise, nur in

Große übersetzt, sind

die

„Confessionskirchen":

wie die

lutherische, welche sich auch viel weniger um Luther's Lehre, als um seine gewaltige Gesammterscheinung gesammelt hat; die reformirte;

die Methodisten, die Brüdergemeinde u. s. w.; gegen welche deshalb

(so lange die brüderliche Liebe ungestört bleibt) ebenso wenig etwas zu sagen ist,

die vielmehr eben so natürlich und von gesteigertem

religiösen Leben zeugend, wie dasselbe fördernd sind', wie das bei jenen Gemeinden im Kleinen stattfindet,

so lange sich letztere vom

Cliquenwesen frei halten. — Nicht das hat die Kirche gespalten und

wird sie schädigen, daß sich der Deutsche vom Deutschen, der lutherisch

Gerichtete von dem Lutherischen, der Reformirte vom Reformirten u.s. w.

angezogen fühlt und sich näher an ihn anschließt: in der Ordnung und soll so sein.

ist das,

das ist vielmehr

Sondern Sünde und Spaltung

daß sich der Bruder vom Bruder reißt;

und je nach der

Temperatur der Zeit entweder fanatisch haßt oder vornehm bemit­ leidet jeden, der kein „Lutheraner" rc. ist. — 3) Andererseits hat sich die kirchliche Einheit auch nicht mit

Die christliche Kirche.

Ihre Einheit.

379

Aufrechterhaltung des äußern Friedens, daß sich die Christen

nicht „untereinander beißen und fressen" (Gal. 5, 15),

oder „Toleranz"

dung"

zu begnügen.

mit „Dul­

Bloße „Toleranz",

wenn

nicht mehr geleistet und gefordert werden soll, ist sogar etwas Ent­ würdigendes

und (was

einst ein vielbewunderter Wortführer der

streng kirchlichen Partei von

unternommen hat)

überhaupt zu beweisen

der Toleranz

dem Evangelio Widerstreitendes.

etwas

dings nicht aus dem von ihm geltend gemachten Grunde,

Aller­ daß sie

dem Christenthum etwas vergebe und zu viel gewähre; sondern, weil sie unterchristlichen Motiven entstammt und

Abgesehen

davon,

wenig leistet.

zu

verabscheuenswürdige pharisäische Hoch­

welcher

muth, andererseits, welche religiöse Gleichgültigkeit, beziehungsweise, wie

Mattherzigkeit

viel

und Charakterschwäche sich

„Duldung" verbergen kann:

hinter

dieser

was ist es doch für ein Miserables,

wenn man von den Christen nichts weiter verlangt, als daß Brüder in Christo sich nicht wegen abweichender Ansichten die Köpfe ein­

schlagen, aus dem Lande jagen oder als Ketzer verbrennen. Freilich hat die Christenheit Jahrhunderte gebraucht,

um auch

nur dieses

einzusehen; und, ginge es nach gewissen Leuten, und hätten dieselben als sie Lust haben,

so viele Macht,

man

würde es noch heute nicht —

denke nur an Tyrol — an Verfolgungen fehlen.

und mehr von ihm zu fordern, mitleidige Duldung. zu geben hat,

Trotzdem

der Christ hat dem Christen mehr zu gewähren

bleibt es dabei:

als vornehm herablassende oder

Was er in Anspruch zu nehmen, und was er

ist brüderliche Anerkennung.

der Gemeinde ist in Deutschland

In den Gliedern

die Geneigtheit zu solcher Aner­

kennung nicht bloß bei Evangelischen, sondern auch bei Katholischen in weiten Kreisen bereits vorhanden, und damit Großes und Herr­

liches vorbereitet. gegenseitig

Doch erst,

wenn die Kirchen

dieselbe entgegen tragen,

als solche sich

wird auch bei uns die erste

Stufe kirchlicher Einheit erstiegen sein. 4) Ein zweites, was unerläßlich zur Einheit der Kirche gehört, ist,

was wir das allgemeine kirchliche Bürgerrecht nennen

möchten (Ephes. 2, 19):

daß jeder Christ,

welcher Besonderheit er

auch angehöre, in jeder christlichen Gemeinde als ein „Hausgenosse

Gottes"

ausgenommen und

nicht bloß

aus Gnaden und als ein

380

2. Hauptstück.

Dritter Artikel.

Christ zweiter Klasse, sondern von Rechts wegen und als ein Bruder zu allen kirchlichen Handlungen zugelaffen werde, an denen er seiner­

seits mit christlichem Gewissen Theil nehmen kann. — Natürlich daß er sich dabei in die in der Gemeinde bestehenden Ordnungen zu fügen hat, und nicht verlangen darf,

daß seinetwegen geändert

werde, was den religiösen Bedürfnissen jener entspricht.

noch viel,

Es fehlt

daß dieser Grundsatz selbst in der evangelischen Kirche

die ihm gebührende Würdigung finde: aber das traurigste Zeichen

der Zeit und ein unwiderleglicher Beweis des wiedererwachenden Fanatismus ist doch, daß, während bereits 1630 — zur Zeit des

dreißigjährigen Krieges — die reformirte Synode zu Charenton beschloß, Lutheraner unbeschadet ihres Lutherthums zum Abendmahl zuzulassen, neuerdings bairische, mecklenburgische, hannoversche, ja

selbst preußische Lutheraner in der unirten Landeskirche es für fromm halten, Reformirte und Unirte vom „lutherischen" Abendmahle,

das somit nicht mehr das Abendmahl „des Herrn" sein soll, aus­ zuschließen. 5) Endlich gehört zur Einheit der Kirche nothwendig irgend­

welche gliedliche Verbindung der verschiedenen Kirchen unter einan­ der (Eph. 4, 15. 16), durch welche Geist und Gaben derselben nicht

bloß — wie das jetzt selbst innerhalb der evangelischen Kirche fast ausschließlich der Fall ist — auf dem Wege der Litteratur oder durch gelegentliche Besuche Einzelner oder wohl gar nur durch gegenseitige

Bestreitung einander zugeführt werden, sondern durch welche ein geord­ neter Zusammenhang und dem entsprechende regelmäßige Einwirkung

aller Kirchen auf jede und jeder auf alle ermöglicht wird.

Hierfür

ist bis auf allerkümmerlichste Anfänge in neuerer Zeit (das Zusam­

menwirken der englischen Episcopal- und der preußischen Landes­ kirche bei Aufrichtung und Besetzung des evangelischen Bisthums zu

Jerusalem — die Eisenacher Konferenz) seitens der Kirchen noch gar nichts gethan; nur einzelne freie Vereine, Missionsgesellschaften, Bibelgesellschaft,

Gustav-Adolf-Verein, von denen namentlich

der

letztere Außerordentliches zur Einigung zunächst der Deutschen, weiter

aber auch der Evangelischen in Frankreich, Schweiz, Holland, Ungarn,

Türkei, ja bis über das mittelländische Meer und den Ocean hinaus gewirkt hat: nur diese stehen als Propheten einer bessern Zeit, wie

Heiligkeit der Kirche (nicht Unfehlbarkeit).

als Mahnung

381

an das, was schon jetzt auch von den Kirchen ge­

schehen sollte und könnte, da. — Denn alles dieses (unter 3. 4. 5)

Ausgeführte ist ja möglich, sobald sich dieselben nur sämmtlich von

dem sündigen Hochmuth und der Lieblosigkeit und der Faulheit zu Christo bekehren. —

II.

Heiligkeit der Kirche.

1) Gegen

das Prädikat der Heiligkeit

findet bei uns Evan­

gelischen allgemein große Voreingenommenheit statt, weil wir dabei von der römischen Kirche her sofort, sei es an den heiligen „Klerus", sei es an die „unfehlbare" Kirche, sei es an beides, denken.

Aber

beides sind doch nur Entstellungen, welche sich an die Wahrheit an­ gehängt haben. —

a) Was das erstere,

die besondere Heiligkeit des Klerus,

be­

trifft, so brauchen wir eigentlich nur zu erinnern, daß wir ja nicht sprechen:

„Ich glaube heilige Mönche, Nonnen,

Priester,

Papst",

sondern; „ich glaube eine heilige allgemeine christliche Kirche"; und

innerhalb

derselben mit der Schrift das

allgemeine Priester-

thum aller Christen behaupten (1 Petri 2, 9).

Dessenungeachtet ist

es nöthig, noch weiter auf die Sache einzugehen, weil sich trotz des

tiefgewurzelten Abscheus gegen „heiliges Priesterthum" und des noch größeren gegen „Pfaffenthum"' auch unter uns noch unbewußt ein starker Ueberrest der römischen Anschauung erhalten hat,

daß wir es wollen,

der, ohne

selbst ohne besondere Verschuldung der so Ge­

scholtenen, immer wieder jenes Pfaffenthum, das wir hassen, erzeugt und auch sonst die Gesundheit des kirchlichen Lebens und die Sitt­

lichkeit gefährdet.

Es zeigt sich

dieser katholische Sauerteig theils

schon in der — gang und gäben meist ganz unbefangen gebrauchten

— Bezeichnung der Prediger als der „Geistlichen"; als wenn nicht alle Christen den Geist Christi haben müßten, hat,

„der ist nicht sein" (Röm. 8, 9):

und wer ihn nicht

theils aber und noch mehr

tritt er hervor in der Rede, die man alle Tage selbst von ganz Ver­ ständigen und sonst Grundevangelischen hören kann: „dies und das,

was sich doch für jeden andern ehrlichen Christen, insbesondere auch für die so Urtheilenden schicken soll,

schicke sich für einen Prediger

nicht." — Das ist eine grundverderbliche Rede,

welche von vorn

2. Hauptstück.

382

Dritter Artikel.

herein die Amtsträger der Kirche, insbesondere die Verkündiger des göttlichen Wortes in eine schiefe und absonderliche Stellung drängt,

ihnen wider Willen eine höhere Würde und größere Heiligkeit aus-

nöthigt, und, da schließlich doch niemand heiliger sein kann,

als

jeder Christ sein soll, selbst Redliche öfter verleitet, ihre besondere

„geistliche" Würde eben in allerhand Absonderlichkeiten des Betra­ gens, der Kleidung, selbst des Tonfalls und, was dergleichen noch

mehr ist,

zu suchen.

Da ist aus das Schärfste zu betonen, daß,

was sich für den „Geistlichen" nicht ziemt, sich für keinen ernsten und gesetzten Christen schicke; und wieder, daß, was sich für einen

solchen schicke und

bei ihm nicht die Mannes- und Christenwürde

beeinträchtige — daß das sich auch mit der Amtswürde vertragen

werde.

Nur, daß der Amtsträger als der zur Wirksamkeit in wei­

terem Kreise Berufene im verstärkten Maße die Pflicht hat (die übrigens jedem in seinem Kreise gleichfalls obliegt) die Schwachen zu tragen und niemandem muthwillig Aergerniß zu geben; und sich

überall zu fragen:

nicht bloß,

was erlaubt ist, und wozu er ein

Recht hat, sondern, was erbaut, und was frommt (1 Kor. 10, 23. 24. 32; Röm. 14, 1 f.; 15, 1. 2).



Mit

soll von dem Geistlichen nicht mehr fordern,

einem

Worte:

man

als daß er sich ge­

wissenhaft bemühe, in allen Stücken und in jeder Beziehung ein

rechter

Mann und Christ zu sein. 'Andererseits, was man

von

dem Geistlichen als von dem, der für alle Vorbild und Muster sein

das sollen alle je nach der Weise, welche durch Alter,

soll, heischt:

Geschlecht und Lebensstellung bedingt ist, an ihrem Theile auch thun.

Das,

nicht raisonniren, ist das „allgemeine Priesterthum"

(1 Petri 2, 9). b) Daß die „Unfehlbarkeit" der Kirche, keinen Grund und

Boden der Schrift unter sich habe, braucht für einen Evangelischen nicht erst bewiesen zu werden. — Aber sie ist auch in sich selbst ein Widersinn. sind

und

Wo (auch nach römischer Lehre) alle Einzelnen Sünder des Ruhmes

ermangeln,

den

sie an Gott haben sollten

(Röm. 3,23f.); wo selbst die „Säulen der Kirche", die hohen Apostel, bekennen, „daß sie's noch nicht ergriffen hätten oder schon vollkommen

wären", und „sich selbst verführen würden, wenn sie sagten, sie haben

keine Sünde"

(Philipp. 3, 12s.;

1 Joh. 1,8;

1 Tim. 1, 15. 16):

Heiligkeit der Kirche (nicht Unfehlbarkeit).

383

da giebt es doch nichts allem gesunden Denken Widersprechenderes, als behaupten,

daß

dessenungeachtet die Gemeinschaft aller dieser

insgesammt Sündigen und Unvollkommenen nicht sündig und fehl­ bar, sondern sündlos, heilig und unfehlbar sei.

Das ist doch gerade,

als wenn einer sagte, er habe zwar vom Scheitel bis zur Sohle nicht

ein gesundes Glied, sondern alles sei krank und thue ihm weh, trotz­

dem aber sei sein Leib kerngesund. — Das ist auch der Grund der Verlegenheit,

in welche die römische Kirche stets geräth, so wie sie

angeben soll, wo eigentlich in ihr der Sitz, und wer der Träger und

dieser von ihr in Anspruch genommenen Unfehlbarkeit

das Organ

sei.

In der Regel wird der Papst dafür angesehen.

schismatische,

nicht bloß

andere sind

sondern auch

Aber es hat

ketzerische Päpste

gegeben;

abgesetzt worden; des lästerlichen Privatlebens

einer

ganzen Reihe von Päpsten gar nicht zu gedenken. — Desgleichen

haben

die Concilien,

auch

sogenannte ökumenische, vielfach geirrt,

und eins dem andern widersprochen. — Das Uebelste aber ist, daß die römische

Besserung

Kirche

durch

diesen

Anspruch

an

ernstlichen

jeder

ihrer selbst gehindert wird, und genöthigt ist, nicht nur

für die Gegenwart das Bedürfniß derselben zu leugnen, sondern auch für die Vergangenheit jedes Unrecht,

Missethat zu beschönigen

und,

das

sie begangen,

wie einen ewigen Fluch,

hundert zu Jahrhundert mit sich herumzuschleppen.

und jede

von Jahr­

So bleibt sie, so

lange sie unfehlbar sein will, wie sie ist; bis sie mit diesem Dogma — oder im Laufe der Zeiten — in ihr selbst bricht. —

Um so wichtiger ist es, in der evangelischen Kirche es als einen schlechthin unveräußerlichen Satz festzuhalten:

daß es

in dem ge­

lammten Gebiete der Kirche, wie keinen Menschen, so auch kein Amt noch irgend eine Stelle gebe,

die nicht sehlbar wären.;

und denen

darum nicht in geziemender Weise, und zwar von einem jeden Gliede

der Kirche, welches den Fehl erkannt zu haben glaubt, widersprochen werden dürfe; ohne daß die betreffende Person oder Stelle ein Recht

hätte, in einem derartigen Widersprüche eine Durchbrechung der kirch­ lichen Ordnung zu sehen, oder sich selbst in ihrer Würde verletzt zu

fühlen.

Und daß, wo irgend eine Person oder Stelle in der evan­

gelischen Kirche sich praktisch die Stellung giebt (denn theoretisch wird es keine wagen), daß sie immer Recht haben müsse, und dem-

2. Hauptstück.

384

Dritter Artikel.

gemäß jeden, auch den bescheidensten Widerspruch gegen sie als ein

Attentat gegen das „Amt" oder gegen das „Kirchenregiment" an­ daß da die evangelischen Grundsätze verlassen, und das

sehen will:

„Papstthum" in feiner schlimmsten Gestalt hergestellt ist.

2) Um das Prädikat der Heiligkeit zu verstehen, muß man sich

erinnern,

daß dasselbe in der h. Schrift zunächst den einzelnen

Gläubigen beigelegt wird! Wie ist es da gemeint? „Heilig" bezeich­ net an erster Stelle das von dem gewöhnlichen Gebrauche Ausgeson­

derte, das Gottesdienstliche. übertragen,

stellt es

In diesem Sinne auf die „Gläubigen"

die Christen als die von der Welt Ausgeson­

derten, „Auserwählten", zu Gott in besondere Beziehung Gestellten

(„Heilige und Geliebte Gottes") dar.

„Heilig" ist sodann, was der

Sünde entnommen,

vollkommen ist.

sittlich rein und

In diesem

Sinne ist streng genommen nur einer heilig: Gott, der da spricht:

„ich bin heilig, ihr sollt auch heilig sein;" und der, welchen er uns zur Heiligung gesandt hat, werden Heilige genannt:

I. Christus.

Aber auch die Christen

„Ihr seid das auserwählte Geschlecht,

das Königliche Priesterthum,

das heilige Volk," weil sie in dem

Glauben an Christum ein Leben empfangen haben, welches über die sündige Welt hinausliegt, welches die Welt nicht kennt noch zu geben

vermag.

„Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch;

nicht gebe ich euch, wie die Welt giebt" (Joh. 14, 27). — Um ein auch in der Schrift nicht ungewöhnliches Bild zu brauchen: ein Christ gleicht einem Baume (Matth. 7,17s.), welchen der Herr des Wein­

bergs (Mark. 12, 1) aus der Wildniß ausgehoben („auserwählt") und in den Weinberg gepflanzt und auf ihn durch Wort und Sa­ krament

Christum

„gepfropft"

hat.

Welcher Baum

nun

dieses

„Edelreis" „annimmt", der ist von demselben Augenblicke an nicht

etwa schon ein vollkommner, ja nicht einmal ein fruchttragender Baum, sondern im Gegentheil ein schwaches, dünnes, oft wohl gar

ein schiefes und krummes Bäumchen, das noch viel Pflege braucht,

das beschnitten und gebunden und gerichtet werden muß: aber es ist

„ächt" und ein Baum „des Wohlgefallens": weil es mit dem Edel­ reise, mit dem

es verwachsen ist,

Trieb angenommen hat,

seiner Zeit.

edlen Saft und Kraft und den

aus dem es die rechten Früchte bringt zu

So ist der Christ „heilig", well er in der Hingebung

Heiligkeit der Kirche (nicht Unfehlbarkeit).

385

an Christum das Leben Christi in sich ausgenommen hat, aus dem heraus und in das hinein er täglich mehr und mehr wächst'). In

demselben Sinne („gleichwie") ist die Kirche heilig.

ist es ihrem Ursprünge nach,

Sie

sofern sie nicht das Produkt natür­

licher menschlicher Entwicklung, Wissens oder Könnens, sondern von

dem h. Geiste „berufen" u. s. w., eine Schöpfung des Geistes Christi ist. — Sie ist es aber auch wegen des Waltens dieses Geistes in

ihr

als dem

Sitze und

der Trägerin des

in Christo der

Menschheit eingesenkten Lebens, das sich nun von ihr aus in die Welt

ergießt

und

dieselbe nach

allen Verhältnissen mehr

und

allen Richtungen hin und in

durchdringt und

mehr

Sauerteige durchsäuert (Matth. 13, 33).

vollkommen wäre.

gleich

dem

Nicht, daß sie darum schon

Im Gegentheil, auch sie „trägt diesen Schatz in

irdischen Gefäßen" (2 Kor. 4, 7), und „ist noch nicht erschienen, was wir sein werden" (1 Joh. 3, 2); ja, häufig ist sogar die „Welt" in sie eingedrungen

Andererseits

und hat das ihr eigenthümliche Leben verdunkelt.

jedoch ist sie selbst in ihren dunkelsten Zeiten niemals

ganz von dem Geiste Christi verlassen gewesen, sondern hat in dem

Worte und Sakramente des Herrn,

wie in dem geweckteren Leben

einzelner geförderter Christen immer noch die Quelle und die Mittel

und die treibenden Kräfte bewahrt,

durch welche sie danach wieder

zu reinerem Leben erweckt worden ist, und unaufhaltsam dem Ziele

der Heiligkeit zuschreitet, zu dem sie berufen ist (Ephes. 5, 27). — 3) Auch die Bedingung,

um dies Ziel zu erreichen, ist die­

selbe für die Kirche, wie für den Einzelnen.

Wo Paulus den be­

kannten Ausspruch thut: „Nicht, daß ich es schon ergriffen hätte, oder schon vollkommen wäre, ich jage ihm aber nach, ob ich es auch er­

greifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin" — da

') Man vergleiche von hier aus, was über „die Gerechtigkeit allein aus dem Glauben" gesagt ist. Wenn einer nur glaubt! Wenn ein Bäumchen nur annimmt! Aber was liegt in diesem „nur" nicht alles? Nicht weniger, als vollständige Umwandlung aus der wunderbaren Kraft, die Gott in das Edel­ reis gelegt hat. — An sonstige Vergleichungspunkte, daß der zu veredelnde Stamm mit dem Pfropfreise verwandt sein, desgleichen, daß er im Safte stehen und

Triebkraft haben muß, wollen wir nur nebenbei erinnern. aber sie machen anschaulich, worauf es ankommt. — tzltester, ^Materialien. 2. Auflage.

Sie beweisen nichts,

25

2. Hauptstück.

386 fügt er hinzu:

Dritter Artikel.

„wie viele unser vollkommen sind,

die lasset uns

also gesinnt sein" (Phil. 3, 12—15). Da hat er also als die eigent­

liche christliche Vollkommenheit das erklärt,

daß der Christ in dem

Bewußtsein, noch nicht vollkommen zu sein, unablässig nach Voll­ kommenheit „sich strecke".

Dasselbe führt Luther in seiner Erklärung

der Taufe aus: was bedeutet solches Wasfertaufen? „Daß der alte Adam durch tägliche Reue und Buße in uns ersäufet werde und

täglich herauskomme ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe."

Darauf hat endlich schon Christus

gedeutet, als er die Fußwaschung vollzog und dabei sprach: „auch,

wer gewaschen sei, bedürfe,

daß er sich die Füße wasche," und —

„werde ich dich nicht waschen, hast du kein Theil mit mir" (Joh. 13, 1f.).

Die Heiligkeit des Christen besteht in seiner Bußfertig­

keit; d. h. nicht darin, daß er einmal, oder auch, daß er ab und zu Buße thut, als vielmehr in der Bereitwilligkeit, mit der er sich täg­

lich und immer wieder und mit allem, was in ihm ist, in die rei­ nigende Fluth des Wortes eintaucht und sich die „Füße waschen läßt".

So beruht auch die Heiligkeit der Kirche wesentlich auf stetiger Reformation.

Richt auf einer einmaligen, oder einer stoßweise ab

und zu wiederkehrenden, oder theilweisen: sondern darin, daß der Grundsatz der Reformation in sie ausgenommen, und sie bereit und

so organisirt ist, daß an ihr jederzeit „Fußwaschung" vorgenom­

men werden könne.

Es ist ein großer Irrthum, wenn man nur die

Reinigung und Erneuerung

Reformation hält.

der Kirche im XVI. Jahrhundert für

Reformation, die Nothwendigkeit, der Trieb, der

Ruf nach ihr, nur nicht die Bereitwilligkeit, sich dieselbe gefallen zu lassen —: ist so alt, wie die Kirche. Im XVI. Jahrhundert endlich brach dieser Trieb sich Bahn: die evangelische Kirche wurde geboren. Aber es wäre ein arges Mißverständniß, wenn man mit dieser ein­ maligen „Reformation" die Reformation für abgemacht hielte (auch, „wer gewaschen ist, bedarf, daß er die Füße wasche" —), oder, wenn

man zwar die Nothwendigkeit fortwährender Reinigung zugestehen, aber dieselbe begränzen und von vorn herein auf gewisse einzelne

Seiten oder Punkte beschränken wollte. wenn der Christ erklärte:

Das wäre gerade, als

diese und diese und diese Seite meines

Lebens bin ich bereit, an Gottes Wort prüfen zu lassen und, wenn

Heiligkeit der Kirche (nicht Unfehlbarkeit).

387

ich bei solcher Prüfung Unvollkommnes finde, davon abzulassen.

die andern dagegen soll mir niemand,

An

auch nicht das Wort Gottes

rühren; denn da weiß ich, daß ich vollkommen bin.

So ist auch die

Reformation des XVI. Jahrhunderts nicht verfahren.

Sie hat der

Prüfung an Gottes Wort keinerlei Gränzen gesteckt; sie hat vielmehr unbedenklich und unverzagt ihre bessernde Hand an alles gelegt, was

sie als der Besserung daß

bedürftig erkannte; und ausdrücklich erklärt,

sie auch die drei alten ökumenischen Glaubensbekenntnisse, die

sie unverändert stehen ließ, nur darum anerkenne, weil sie dieselben mit dem Worte Gottes in der Schrift übereinstimmend finde.

„Daraus folgt,

heiten,

daß weder das Alterthum, noch die Gewohn­

noch die Menge, noch die Weisheit der Menschen,

noch

die Urtheile, noch die Befehle, noch die Edikte, noch die Beschlüsse, noch die Kirchenversammlungen, noch die Erscheinungen, noch die

Wunder dieser h. Schrift entgegengesetzt werden dürfen, vielmehr alles nach ihr geprüft, geordnet und gebessert werden muß.

In

Folge dessen nehmen wir auch die drei Symbola, das Apostolische, Mcänische und

Athanasianische an, weil sie mit

dem

Worte

Gottes übereinstimmend (Confessio Gallicana). In gleicher Weise hat sie auch ihr eigenes Bekenntniß erneuter Prü­

fung an dem Worte Gottes

unterstellt,

und sich erboten,

dasselbe,

wo sie aus Gottes Wort des Bessern belehrt würde, zu bessern:

„Zuletzt wollen wir dieses unser Bekenntniß dem Urtheile heiliger

biblischer Schrift unterwerfen und nns erboten haben, wenn wir

aus der genannten h. Schrift eines Bessern berichtet werden, daß wir jeder Zeit Gott und seinem heiligen Worte mit großer Dank­ sagung gehorchen wollen" (Baseler Bekenntniß 1532).

So ist unsere Kirche entstanden, die „evangelische":

weil sie

sich allein auf das Evangelium gründet, in allen Stücken dem Evan­ gelia gehorcht,

nichts, als das Evangelium, will.

Nur, wenn sie

diesen Grundsätzen treu bleibt, wird sie bleiben, was sie ist, und wie

sie sich nennt; nur unter der Bedingung stetiger Besserung ihrer selbst wird sie vor den gewaltsamen Erschütterungen und der Noth­

wendigkeit, mit der bisherigen Entwickelung

zu

brechen, bewahrt

bleiben, die sich früher oder später unausbleiblich einstellen, wo der

25*

2. Hauptstück.

388

Dritter Artikel.

Trieb nach Reformation zurückgedrängt

wird,

oder wo nur theil-

oder ruckweise reformirt werden soll. — III.

Die Allgemeinheit.

1) Das Prädikat der Allgemeinheit bezeichnet die Bestimmung

der Kirche, die allgemeine zu werden, das gesammte menschliche Ge­ schlecht in sich aufzunehmen.

Diese Bestimmung ist dermalen schon

ebenso wenig verwirklicht, als die Kirche bereits die eine und reine, sittlich voükommne ist.

Wir „glauben" die eine heilige allgemeine

christliche Kirche; aber dieser Glaube, welcher wesentlich mit unserm

Glauben an Christum, als den Erlöser der Welt,

das Haupt der

Menschheit, zusammenhängt, bürgt uns, daß die Bestimmung einst

werde verwirklicht werden.

Christus ist nicht bloß für ein Volk, eine

Zeit,, eine Bildungsstufe, sondern schlechthin für alle gekommen: darin liegt, daß auch alle zu ihm kommen, alle in seine Gemeinde eingehen sollen. Oder: das Christenthum ist nicht bloß eine Religion, wie die andern, sondern die Vollendung der Religion: daraus ergiebt

sich, daß es, wie den Drang, so auch

die Fähigkeit besitze,

alle

Menschen und alles Menschliche in sich aufzunehmen, wie von ihnen ausgenommen zu werden.

Bestritten kann das auch nur von denen

werden, die entweder das Christenthum nicht für die vollendete Re­

ligion halten, oder überhaupt Religion nicht als etwas dem Menschen

Wesentliches ansehen. 2) Das Ziel der Allgemeinheit, welchem die Kirche zustrebt, wird erreicht theils durch die an den Gränzen des Christenthums

sich mehr von selbst vollziehende, theils durch die ausdrücklich beab­

sichtigte und mit eigens hierauf gerichteter Anstrengung vor sich gehende Ausbreitung des

Christenthums:

letztere die Missions­

thätigkeit der Kirche im engern Sinne. — Auch diese ist im Grunde so alt, wie das Christenthum.

Schon die Apostel „gingen hin in

alle Welt und lehrten alle Völker"; vollends ward Paulus ganz, wie

unsere Missionare, von der Gemeinde zu Antiochia zu Missions­ zwecken ausgesandt (Apostg. 13, 1f.). — Auch zu unsern Vätern ist

das Christenthum auf dem Wege der Mission gekommen.

Ucberhaupt

hat Missionsdrang und Missionsthätigkeit eigentlich niemals in der Kirche aufgehört: ob

sie gleich sich nicht immer auf gleicher Höhe

Allgemeinheit der Kirche.

389

gehalten haben; entweder, weil das Leben in der Kirche überhaupt matter war, oder auch, gaben zu lösen hatte.

weil die Kirche augenblicklich andere Auf­

So hatte z. B. die reformatorische Kirche noch

so viel mit ihrer eignen Befestigung und Ordnung zu thun, daß sie

unmöglich an Ausdehnung ihrer Wirksamkeit unter den Heiden denken konnte. Kaum aber war sie einigermaßen zur Ruhe gekommen, als auch in ihr die missionirende Thätigkeit wieder erwachte. Gegen­ wärtig giebt es wohl kaum eine kirchliche Denomination, in welcher

nicht Gesellschaften und Anstalten zur Verbreitung des Christenthums unter Heiden, Muhamedanern und Juden beständen. 3) Wie die Mission darauf beruht,

daß Christus der Erlöser

der Welt ist, so kann und wird sie nur in dem Maße zum Ziele

führen, in welchem immer lauterer und reiner Christus allein verkündet, andererseits Christus in allen Gestalten bereitwillig anerkannt wird.

Denn nur e r, nicht die Systeme, welche über ihn

und neben ihm gebaut sind,

geschweige die Entstellungen und Ver­

dunklungen vermögen die Menschheit zu beseligen: andererseits, wo e r nur von einem menschlichen Gemüthe lebendig ausgenommen ist, da theilt er diesem Gemüthe, diesem Volke seinen Frieden mit und" gießt seine Fülle aus, welche Gestalt er auch in ihnen angenommen hat. — Das war der Fehler der eifrigen, aber engherzigen Partei

in der apostolischen Kirche, welche dem Apostel Paulus so viel zu

schaffen machte, daß sie den Heiden nicht Christum allein, sondern allerdings Christum, aber daneben noch das ganze „Gesetz" brachte,

und von den Bekehrten nicht bloß Glauben d. i. christliche Gesinnung und Gesittung, sondern auch Beschneidung, mit einem Worte JudenChristenthum forderte. Und das war der Grund, warum Paulus,

obschon er ihre persönliche Berechtigung anerkannte, ihren Forderungen so unnachgiebig widerstand.

Hätten sie Recht behalten, nimmer wäre

das Christenthum zu seinem Rechte gekommen, nimmer die Religion „der Völker" geworden; sondern wäre eine jüdische Sekte geblieben,

als welche es Inden und Heiden anfänglich erschien; und als solche verkommen, wie denn in der That diese judenchristlichen Nazarener, Ebioniten u. s. w. sämmtlich verschollen hat man aber meist bei Ausbreitung

und begeht ihn noch heute.

sind. — Denselben Fehler

des Christenthums begangen

Selten hat man sich begnügt, den Hei-

2. Hauptstück.

390

Dritter Artikel.

den nur das Christenthum zu bringen, sondern man hat sich bemüht, sie in eine bestimmte Form desselben einzuzwängen, sie vor allem zu

römischen, aber auch zu lutherischen, anglikanischen, methodistischen

u. s. w. Christen zu machen.

Es liegt auf der Hand, daß in dieser

Weise das Ziel der Allgemeinheit der Kirche gewiß nicht erreicht

werden wird.

Abgesehen von dem Gräuel, daß noch heute römische

Priester mit List und Gewalt in schon ganz christianisirte Länder sich

eindrängen und die Bekehrten mit Hülfe französischer Kanonen um­

bekehren, und auch evangelische Missionen sich gegenseitig die Neu­ bekehrten abjagen (Matth. 23, 15): so leuchtet ein,

daß selbst bei

redlichem Verfahren das einseitige Geltendmachen einer Weise alle

diejenigen von dem Christenthume sernhalten, beziehungsweise inner­ halb desselben in die Spaltung treiben müsse, welche für diese Weise

einmal nicht geartet sind, und sie nach ihrem Entwicklungsgänge niemals auch nur werden verstehen.

Man denke nur Hottentotten

und lutherische Lehre von der Allgegenwart des Leibes Christi, über­

haupt die Streitfragen der lutherischen und reformirten Theologie! Allerdings vermag niemand Christum anders zu predigen, als er ihn

erkannt hat, und soll es auch nicht.

Aber was jeder soll, ist: in

heiliger Ehrfurcht vor Christo, in welcher Gestalt derselbe auch er­

scheine, erstens sich niemals in eines andern Wirkungskreis eindrängen (Röm. 15, 20. 21; 2 Kor. 10, 14—16): sodann auch in seinem eignen Wirkungskreise niemandem sein Christenthum aufdrängen: sondern

allerdings „reden, wie er glaubt," danach aber abwarten, welche Ge­ stalt das von ihm verkündete Evangelium in den Herzen und in dem Leben seiner Hörer annimmt, und Gott für jede preisen, möge sie

auch von der feinigen noch so sehr abweichen.

Mit einem Worte:

es sollen bei der Mission dieselben Grundsätze verwirklicht werden, welche die Reformation (Besinnung auf das Wesen des Christenthums) und die Union (Einheit in der Mannigfaltigkeit) kennzeichnen. — 4) Das Prädikat der Allgemeinheit hat noch nach einer andern Seite hin seine Bedeutung.

Die eine heilige allgemeine christliche

Kirche will nämlich nicht bloß die Christen aller Orten, sondern auch

aller Zeiten von den Ursprüngen der Kirche an bis zu ihrer Voll­ endung umfassen.

Es ist ein Strom des Lebens, der sich von der

ersten Erscheinung des Herrn bis zu seiner Wiederkunft mit immer

Sekte und Kirche.

Allgemeinheit der Kirche.

die Menschheit

breiteren Ufern durch

auf Erden",

summte Christenheit

391

Und erst diese „ge­

ergießt.

in der die ganze Herrlichkeit des

Herrn entfaltet, und die Fülle aller Gaben des Geistes, die „ganze

Wahrheit" erschienen sein wird, erst sie ist die Kirche Christi, der die Verheißungen gelten: der „Leib" oder, wie sie mit einem andern

Bilde genannt wird, die „Braut des Herrn". was

Alles, was wir oder

sich selbst sonst Kirche nennt, sei es in der Richtung neben

einander,

sei es in der nach einander,

anderes sein wollen,

als

ist nur und darf nie etwas

eine Welle in diesem Strome, ein mehr

oder minder bedeutendes Glied in der Entwickelung dieses Leibes.

Es ist ebenso unkirchlich, wie es ungeschichtlich ist, wenn man irgend eine Zeit,

und

wäre

es

die apostolische

oder die reformatorische,

vollends die unsrige, als wären sie schon das Ganze oder repräsen-

tirten dasselbe, aus diesem Zusammenhänge herausreißt; es ist der

Anfang und der Ansatz zu allem Sektirerischen, wenn man sich gegen irgend eine Zeit oder irgend eine Entwickelung der Kirche vor oder

neben uns abschließt; cs ist die äußerste Anmaßung, wenn ein Theil sich dem Ganzen gleichstellen, eine Kirche sich für die Kirche Christi

ausgeben will; wie solches die römische Kirche von je an gethan hat, aber auch die evangelische

in einzelnen ihrer Denominationen dazu

mehr oder minder starken Ansatz zeigt.

5) Von hier aus läßt sich auch erst der Begriff der Sekte im Unterschiede von Kirche feststcllen.

Regel gefaßt wird,

„Kirche" ist nicht, wie es in der

immer nur die größere,

kleinste Gemeinschaft.

Sekte die kleinere und

Die Zahl trägt zur Kirchlichkeit gar nichts

bei: „wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin

ich mitten unter euch." erkennung.

Ebenso wenig thut es die staatliche An­

Der Staat mag die Sache so ansehen; und demgemäß

die religiösen Gemeinschaften, welche in ihm bestehen, klassifiziren;

die von ihm anerkannten „Kirchen" begünstigen und mit Vorrechten die nicht anerkannten „Sekten" dagegen dulden oder ver­

versehen, folgen:

für die religiöse Betrachtung der Sache kann das keinen

Ausschlag geben.

Christus spricht: „Du bist Petrus und auf diesen

Felsen d. i. auf den

Glauben

in

dir lebenden und von dir ausgesprochenen

— nicht aber auf Anerkennung

oder Nichtaner­

kennung des Herodes oder Pilatus oder sonst eines von denen,

2. Hauptstück.

392 welche

Gewalt haben,

16, 13 f.; 20, 25f.).

entscheiden. — Was ist

neben

dem

ich

will

Am

Dritter Artikel.

meine Gemeinde bauen"

(Matth.

allerwenigsten aber wird Anmaßung

eine religiöse Gemeinschaft zur Kirche macht,

sich von selbst verstehenden christlichen Gehalte das

Festhalten an dem Zusammenhänge, wie wir ihn dargestellt haben. Was „die Gemeinschaft der Heiligen" sucht, das Walten des Geistes Christi in der „ganzen Christenheit auf Erden" anerkennt, und bereit

ist, in herzlicher Liebe Bruderhand zu reichen und Bruderdienste zu leisten und zu empfangen, das ist Kirche.

wo dieselben nur angenommen werden,

Sekte dagegen ist alles, was sich gegen das Christ­

liche außer ihm engherzig, wo nicht gar feindselig, ab- und dasselbe von sich ausschließt.

Es liegt auf der Hand, in welchem Grade nach

diesem Maßstabe alle jetzt bestehenden Kirchen und kirchlichen Par­

teien noch an Sektenhaftigkeit kranken; wie aber unter allen diejenige Kirche,

die sich am meisten ihrer Kirchlichkeit rühmt und sich „die

Kirche" nennt,

die römische,

grundsätzlichen. Verwerfung Princip

des

in ihrer starren Ausschließlichkeit und

alles dessen,

was nicht römisch ist, das

Sektirerischen am stärksten an

sich

trägt,

und

am

wenigsten geeignet ist, die „katholische", wie sie sich nennt, d. i. eben die „allgemeine" Kirche Christi zu werden.

Von der Vergebung der Sünde. Unter den Stücken,

welche „der heilige Geist in der Christen­

heit mir und allen Gläubigen verleiht", wird zuerst die Vergebung der Sünde genannt. — Derselben

ist im Katechismus

bereits in

einem andern Zusammenhänge in der Erklärung zum II. Artikel ge­ dacht („erlöst, erworben und gewonnen von allen Sünden" u. s. w.);

und auch wir haben daselbst ansführlich von ihr gehandelt. An dieser Stelle dürfte nur noch hervorzuheben sein,

Geiste zugeschrieben wird, ist.

daß hier dem heiligen

was dort von dem Herrn Christo gesagt

Dies ist in der That bedentungsvoll. 1) was wir gleich Anfangs

als

Darin liegt nämlich:

das Wesen des trinitarischen

Glaubens hervorgehoben haben, daß wir, die wir Jesum „nur" im

Geiste besitzen,

darum nicht ein Haar breit schlechter daran seien,

Vergebung der Sünde.

393

als diejenigen, die ihn iin Fleische geschaut haben.

Denn in diesem

Geiste ist eben er bei uns, und giebt und wirkt dasselbe und zwar seinem eignen Wort in einem größern Umfange und Maße,

nach

was er den ©einigen gab, als er noch leiblich unter ihnen weilte. Darum können und sollen wir diesem Geiste mit demselben Glauben uns hingeben nnd fest darauf vertrauen,

daß,

was Christi Geist

uns sagt und in Wort und Sakrament der Vergebung unserer Sün­

den uns vergewissert, das ebenso gewiß sei, unsere Sünde von uns nimmt,

und eben so sicher alle

als wenn der Herr Christus heute

noch leiblich zu uns träte und spräche: „mein Sohn, deine Sünden

sind dir vergeben".

Es wäre denn, daß er unwahr wäre in seinen

das er seinen

Verheißungen und das Wort nicht gehalten hätte,

Jüngern gegeben, daß er ihnen den „Tröster" senden wolle, der sie an seiner Statt in die ganze Wahrheit führen und ihn verklären

werde (Joh. 16, 13 f.).

Nur ist nicht einzusehen,

was einer,

der

solches meinte und diesen Verheißungen Jesu nicht traute, dann noch an ihm hätte selbst, wo er ihn im Fleische zu schauen vermöchte?

Wer trotz dieser Verheißungen Christi zweifelt,

daß Christi Geist

Macht habe, „täglich alle Sünde reichlich zu vergeben",

der würde

wohl noch vielmehr an seiner zeitlichen Erscheinung, dem „Menschen"

Jesus gezweifelt und mit den Pharisäern gesprochen haben: „Wer ist

der, daß

er

Gotteslästerung

redet;

wer kann

Sünden vergeben,

denn allein Gott?" (Luk. 5, 21).

2) Zum anderen liegt darin,

daß die Vergebung

der Sünde

eine geistig vermittelte, nicht eine mechanische — die man einem nur so ansprechen könne — noch eine willkürliche ist.

Sie war bei

Jesu bedingt einerseits durch die aufrichtige Reue und den hingeben­

den Glauben an ihn, die er sah (Luk. 5, 20), andererseits durch „die Kraft, die von ihm ausging, zu helfen jedermann" (ebend. v. 17). —

Sie ist

noch heute an dieselben Bedingungen geknüpft.

Wer. sich

Jesu nicht hingiebt, wer sich von ihm nicht von der Sünde „helfen" lassen will, dem wird heute die Vergebung der Sünde ebenso wenig zu Theil, als der Herr sie damals einem solchen würde zugesprochen

haben.

3) Ebenso beruht die Gewißheit der Vergebung lediglich auf dem Zeugniß des Geistes in uns.

Namentlich um diese handelt es

394 sich.

2. Hauptstück.

Dritter Artikel.

Es wird weniger in Zweifel gezogen, daß noch heute vollkräf­

tige Vergebung möglich sei;

als vielmehr,

wie man gewiß werden

möge, daß „ich", „ich" derselben wirklich theilhaft sei.

Die Sehn­

sucht nach dieser Gewißheit hat schon manchen in die römische Kirche getrieben, die ihren Priestern bekanntlich auf Grund von Joh. 20, 23

die M acht zuschreibt,

die Vergebung

Christi Statt („richterlich") in

theilen;

an Gottes und

der Sünde

durchaus zweifelloser Weise zu er­

andere hat sie bewogen, in der evangelischen Kirche wieder

allerhand katholisirende Absolutionsformeln einzuführen.

Aber zuerst

ist in der Stelle Joh. 20 doch nur von den Aposteln,

in wciterm

Umfange von Jüngern Christi, in keiner Weise von römischen Prie­

stern die Rede.

Sodann ist selbst den Aposteln die Verheißung nur

bedingungsweise ertheilt.

„Nehmer hin den h. Geist:

was ihr in

diesem Geiste vergebet, das ist vergeben; was nicht, nicht." Gerade,

wie einst (Matth. 16,13f.) dem Petrus, da er im Namen aller seinen Glauben an I. als den Christus bekannte, — bedingungsweise —

verheißen war:

„du bist Petrus, und auf diesen Glauben will ich

meine Gemeinde bauen (vergl. Apostgsch. 2, 14f.), und soll, was du in diesem Glauben lösest, auch im Himmel gelöset, was du in ihm

bindest, auch droben gebunden sein"

fvergl. Apostgsch. 10 (des. v. 47.

48) und 11, und — Gal. 2,11—18:], dagegen demselben Petrus, da

er leidensscheu den Weg des Herrn kreuzen will,

gegen kommt:

„Weiche von mir, Satanas,

denn du meinst nicht,

(Matth. 16, 21 f.).



was göttlich,

sondern, was menschlich ist"

Endlich vermag

doch

Christ sich der Absolution seines Priesters als er eben an ihn und an sie glaubt.

wahr eine absonderliche Seelenstellung, Worte zu

die Drohung ent­

du bist mir ärgerlich, auch

der katholische

nur insofern zu trösten,

Da ist

es doch aber für-

dem Priester und

seinem

glauben, was man dem Worte und Geiste Christi nicht

glauben kann oder nicht glauben will. — Schließlich bleibt es dabei,

daß ein jeder der Vergebung seiner Sünde, wie überhaupt des Heils, bei sich selbst gewiß werden

muß; was auf eine sichere und nicht

täuschende Weise nur mittelst „des

Geistes

geschieht,

der

unserm

Geiste Zeugniß giebt, daß wir Gottes Kinder sind" (Röm. 8, 16). Vermag einer die Gewißheit, nach der er sich sehnt, in dieser Weise

nicht sofort zu erlangen, weil sein Gewissen lauter schreit, als Gottes

Die letzte» Dinge (Vollendung der Kirche).

395

Geist und Gottes Wort: so hat er die Hülfe nicht im Aberglauben, sondern im Glauben zu suchen, inbetji er die Mittel benutzt, welche

uns dazu gegeben sind,

barer

an

daß sie die Stimme des Geistes vernehm­

uns bringen und unsern schwachen Glauben stärken: in

anhaltendem, herzlichem Gebet, in fortgesetztem Umgänge mit Gottes

Wort, im Gebrauch des Sakramentes, namentlich aber auch in dem brüderlichen Verkehr und

dem rückhaltslosen

Ausschütten

unserer

Herzensbedrängnisse gegen diejenigen, denen Gott ein christlich Herz für uns gegeben hat.

Es brauchen das nicht immer solche zu sein,

die unbedingt über uns stehen.

Genug, wenn sie in dem Augen­

blicke, da es gilt, die Stärkeren sind und die Freudigkeit des Geistes haben, die uns fehlt: so mögen sie uns wohl in unsern Anfechtungen

ausrichten, obschon wir sonst die geistig Begabteren und Hervor­

ragenderen sind. Trost,

Man denke nur an Luther und Bugenhagen.

Der

den wir in solcher christlichen Gemeinschaft und in dem Zu­

spruch des Bruders finden, läßt uns erfahren,

daß Christus noch

heute kräftig in seiner Gemeinde waltet und uns gewährt, was wir

bedürfen: andererseits läßt er uns aber auch recht verstehen, was in den Worten des Katechismus liegt:

„in welcher Christenheit er —

der h. Geist — mir täglich alle meine Sünde reichlich vergiebt" u. s. w.

Von den letzten Dingen. In der Erklärung Luther's werden Auferstehung des Fleisches

und ewiges Leben ebenso, wie die Vergebung der Sünden, als Früchte

des heiligen Geistes dargestellt. ausgedrückt ist,

Das ist festzuhalten, sofern dadurch

daß auch diese nicht ein durch bloßes Machtgebot

mechanisch Gewirktes, sondern geistig vermittelt sind: daß Entwicke­ lung stattfindet.

Für gewöhnlich werden sie unter der angegebenen

Ueberschrift behandelt; und folgen auch wir diesem Gebrauch, da er Gelegenheit bietet, hier noch einmal, als an ihrem eigentlichen Orte, der Vollendung der Kirche zu gedenken, deren die lutherische Er­ klärung nicht Erwähnung thut. — Das Wesentliche über dieselbe ist

bereits bei der Lehre von der Wiederkunft Christi vorgekommen, ugh

ist hier nur noch Folgendes hinzuzufügen,

2. Hauptstück.

396

Dritter Artikel.

1) Die h. Schrift setzt überall einen organischen Zusammenhang zwischen Leib und Seele, Geist und Natur, Mensch und Erde, end­ lich zwischen dem einzelnen Menschen und dem menschlichen Geschlechte. Demgemäß kann sie, und mit ihr ein jeder, der auf demselben Stand­

punkte steht, gar nicht umhin, ebenso die Vollendung der Kirche oder des Reiches Gottes auf Erden, wie die Vollendung des Einzelnen, als eine geistig-leibliche zu denken; und mit Paulus (Röm. 8,18f.;

1 Thessal. 4, 17) und Petrus (2 Petri 3, 1s.) und den Ahnungen des

schon

Alten Testamentes (1 Mos. 3,17. 18; Jes. 11, 6f.) -

entsprechend der Erneuerung und Verklärung des menschlichen Leibes als der Bedingung für ein höheres Dasein des Einzelnen — auch

auf Erneuerung .und Verklärung

der kosmischen Unterlage des ge-

sammten Geschlechts („auf einen neuen Himmel und eine neue Erde")

zu hoffens. 2) Diese Erneuerung wird vorgestellt als erfolgend durch das

Einschlagen eines neuen Schöpfungsaktes Gottes als des Geistes in

die für diesen Akt reifgewordene, mehr und mehr geistgetränkte Ent­ wickelung,

durch

welches Einschlagen das inzwischen gewordene hie

und

da zerstreute Gute gesammelt und zu neuem höhern Organis­

mus

gestaltet („auferweckt"),

noch nicht überwundene,

in der Natur,

das

in

der bisherigen Entwickelung

noch durch dieselbe zu überwindende, Böse

wie in der Menschenwelt,

ausgeschieden („gerichtet")

werden soll.

3) Dieser Anschauung kommt auch unser sonstiges Denken ent­ gegen.

Einmal durch die Erwägung,

endung

des

Reiches Gottes

daß,

wenn überhaupt Voll­

gedacht werden soll,

diese nicht wohl

anders, als durch einen irgend wie einmal eintretenden Abschluß und

Abbruch der bisherigen mit Sünde behafteten Entwickelung, gedacht werden könne: weil ohne einen solchen Abbruch (ohne Durchbrechung „des Leibes dieses Todes" Röm. 7, 24) im Einzelnen, wie in dem

Gesammtorganismus,

Sünde aufhören stellung

solle.

nicht eiuzusehen ist, wie die Nachwirkung der — Andererseits erhält die altbiblische Vor­

einen starken Halt in den Nachweisungen der Wissenschaft

hinsichtlich

der bisherigen Entwickelung

der Erde

durch mehrfache

*) Vergl. den Aufsatz in der Protest. Kirchenzeitung 1858 Nr. 46: „die seufzende

Kreatur".

Die letzte» Dinge (Auferstehung des Fleisches). Katastrophen zu immer

höheren Gestalten,

bis sie endlich zur Er­

scheinung des menschlichen Geschlechtes auf ihr reif war.

demnach

dagegen

gesagt

daß

werden,

Kinder Gottes" (Röm. 8, 19) nur

,397

Was kann

auch die „Offenbarung der

nach

und aus einer ähnlichen

Katastrophe werde hervorgehen können? 4) Es ist zu erinnern, daß alles, was über diese Zukunft uns

gesagt ist, prophetischer Natur ist und gleich allem Prophetischen erst

dann wird ganz verstanden werden können, wenn es wird seine Er­ füllung

gefunden

haben.

Desgleichen, daß auch wir über die über

diese Zeitlichkeit hinaus liegenden Dinge nur in unzutreffenden Bil­

dern und Gleichnissen zu

machen,

uns

den Vorwitz

reden

vor Phantastereien dämpfen,

daß

vermögen.

zu hüten:

Das soll uns nüchtern andererseits aber auch

er nicht über diese Andeutungen

der

Schrift abspricht, weil er sie nicht, wie das Alltägliche, versteht. — II. Auferstehung des Fleisches.

1) Dieselbe Warnung ist in verstärktem Maße zu erheben in Be­ treff der Vorstellungen, welche sich die Menschen über das zukünftige

Leben

der Einzelnen

welche

handgreiflich bewiesen haben will, was sich allein dem Ge­

müthe und Gewissen,

machen.

Neben

einer kahlen Verständigkeit,

aber da auch mit unverleugbarer Gewalt er­

weist, ist nichts so sehr geeignet die christliche Freudigkeit rücksichtlich

des zukünftigen Lebens zu gefährden,

als

die Ueberschwänglichkeit

und die Phantasiegebilde, in welchen viele in dieser Beziehung ihren Weit entfernt, daß solche Phantasien wirklich trösten,

Trost suchen.

verderben sie mir den Geschmack an dem, was der Seele in der That

Halt und Frieden zu gewähren vermag, und machen, wenn sie — was ja selten ausbleibt — vor dem besonnenen Denken zerfließen,

leicht

auch

an

der ewigen Wahrheit irre.

Gegenüber diesen Ver­

suchen, sich ein Bild zu machen von dem, was jenseit dieses Lebens

liegt, und mit dem Morgen umzugehen, als wäre es das Heute, hat sich der Christ einfach auf das ebenso demüthige, wie glaubensstarke,

Wort zurückzuziehen:

„Meine Lieben,

wir sind nun Gottes Kinder,

und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.

Wir wissen aber,

wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden: denn wir

werden ihn sehen, wie er ist" (1 Joh. 3, 2).

398

Dritter Artikel.

2. Hauptstück.

Speziell die Lehre von der Auferstehung angehend, haben wir

uns vor zwei Abwegen zu hüten: Meinung,

einmal vor der weit verbreiteten

als wäre der Inhalt dieser Lehre bereits durch die Vor­

stellung von der Unsterblichkeit der Seele erschöpft; andererseits vor grobsinnlichen Auffassung derselben, als sei in der

der rohen und

damit die Auferweckung und Wiederannahme von Haut und

That

Haaren u. s. w., kurzum von Fleisch gemeint. Unsterblichkeit der Seele, so wenig der Glaube an sie —

wie öfter von einer stark sein wollenden Gläubigkeit geschieht —

gering zu schätzen, vielmehr als Keim und Grundlage des Vollkomm-

neren zu achten

und,

wo er sich findet,

als ein Hohes anzusehen

ist —: Unsterblichkeit der Seele ist zunächst ein rein negativer Be­

als, daß die Seele nicht stirbt; im

nichts aussagt,

der eben

griff,

übrigen aber alle berechtigten, aus tiefstem Bedürfniß des Glaubens

und der Liebe stammende, Fragen ohne befriedigende Antwort läßt: ja,

der geeignet ist durch seinen Mangel an jeder weitern Bestim­

mung beängstigende Fragen hervorzurufen.

Denn unwillkürlich und

immer wieder schließt sich an diese bloß negative Fassung die Vor­

eines gegen das

stellung

irdische Leben zurückstehenden, der Fülle

desselben ermangelnden, mehr oder weniger leeren und schattenhaften Daseins an;

wie uns das in den Mythen der Griechen über den

Hades und noch

den „Scheol",

mehr in den traurigen Gedanken der Ebräer über

„in

Merkwürdig und

dem

Gott lobt",

keiner

so recht entgegentritt.

als Ahnung höherer Wahrheit zu beachten ist in

der griechischen Säge der Zug,

daß,

als Odysseus zur Unterwelt

niedersteigt, die Geister der Verstorbenen („die Schatten") erst von

als sie von

dem

Blute des von Odysseus geschlachteten Opferthieres getrunken;

frei­

da ab Gedächtniß und Sprache lich, um

wiedererlangen,

auch dann noch zu klagen,

daß selbst ein Achilleus lieber

der Hörige des geringsten Mannes auf Erden, als in der Unterwelt König über alle Schatten sein wolle. der Grieche von

der Ahnung

Ein Zeichen, wie tief schon

durchdrungen war,

daß Fülle und

Kräftigkeit des jenseitigen Lebens nur in neuer Berührung mit dem Leiblichen, in erneuter Leiblichkeit möglich ist.

Dieser Ahnung und Sehnsucht des geängsteten Menschenherzens bringt

die christliche Lehre. von

der Auferstehung volle und ganze

Befriedigung; nur muß sie nicht so in das Grobsinnlichc herab­ gezogen und entstellt werden, wie es freilich schon früh in der christ­ lichen Kirche geschehen ist und zu den abenteuerlichsten Vorstellungen und Fragen geführt hat, z. B. ob wir in dem künftigen Leben auch die ausgefallenen Zähne, abgeschnittenen Nägel und Haare u. s. w. wiederbekommen sollen; ja, wie es im Anschluß an die entschieden unrichtige Uebersetzung von Hiob 19, 25—27') selbst in dem sonst so köstlichen und trostreichen Liede „Jesus meine Zuversicht" aus­ gesprochen wird (v. 5): „Dann wird eben diese Haut mich umgeben, wie ich glaube: Gott wird werden angeschaut dann von mir in die­ sem Leibe, und in diesem Fleisch werd' ich Jesum sehen ewiglich." Zum Glück ist diese Lehrauffassung nachweisbar eben so unbib­ lisch, wie sie unvernünftig und untröstlich ist. — In der That widerspricht sie allem vernünftigen Denken. Schon bei dieses Leibes Leben ist das Fleisch in einem beständigen Fluß, streng ge­ nommen nicht einen Augenblick dasselbe, sondern in einem fort­ währenden Angebildet- und Ausgeschieden-Werden begriffen. Vollends geht es nach unserm Tode in den allgemeinen Naturprozeß und kraft desselben in immer andere und neue Leiber der Pflanzen, Thiere und auch Menschen über. Die Stoffe, welche während unseres gesammten Lebens, wie im Momente unseres Todes, die Bestandtheile unseres Körpers bilden, sind vordem Bestandtheile von tausend und aber tausend Leibern anderer gewesen und werden es wieder sein: so daß bei dieser Lehrauffassung die Frage, wessen sie in der Auf­ erstehung der Todten sein werden, noch viel näher liegt, als die der­ selben Vorstellung entstammende und ihr gegenüber vollkommen be­ rechtigte Frage der Sadduzäer: „Wessen unter den sieben Brüdern, die nach dem Mosaischen Gesetz einer nach dem andern dasselbe Weib gehabt, dieses Weib nun in der zukünftigen Welt sein werde?" (Matth. 22, 23—30.) Unser Herr entzieht bekanntlich dieser un') Die Stelle heißt (nach de Wette): „Aber ich weiß, daß mein Netter lebt, und zuletzt wird er auf der Erde stehen. Und wenn nach meiner Haut dieses da zerstört ist, auch ohne Fleisch werd' ich Gott schauen:" Was Bunsen erklärt: „Wenn Hiob's Krankheit auf's Aeußerste gestiegen sein werde, so daß er einem

bloßen Gerippe gleicht, also noch vor seinem Tode werde er Gott zu seinem Heile schauen."

widerleglich scheinenden Frage Grund und Boden, indem er die widersinnige Voraussetzung verneint, die ihr zu Grunde lag: als ob das zukünftige Leben nichts, als Fortsetzung und Abklatsch des irdi­ schen Daseins, sein werde. „Ihr irrt, und wisset die Schrift nicht noch die Kraft Gottes. In der Auferstehung werden sic weder freien noch sich freien lassen, sondern sie sind gleich als die Engel Gottes im Himmel." — Ist schon damit die Identität des zukünftigen Leibes mit diesem fleischlichen Leibe geleugnet: so ist vollends die Lehre des Apostels Paulus von der Auferstehung 1 Kor. 15, 35—57 ein einiger Protest dagegen. Paulus ist so davon durch­ drungen, daß Fleisch und Blut (und wohl verstanden kann das hier nicht etwa, wie man es deuten möchte, als „Sünde" oder „Hingebung an die Sinnlichkeit", sondern dem Zusammenhänge nach eben nur als Bezeichnung der irdischen Leiblichkeit aufgefaßt werden) — daß diese das Himmelreich nicht erben können: daß er lehrt, daß selbst diejenigen, welche die Erscheinung Christi noch in diesem Leibe er­ leben würden, nicht anders und nicht eher in die Herrlichkeit ein­ gehen könnten, als bis sie verwandelt wären (v. 51): ein Gedanke, den er im 2. Korintherbriefe (5, l f.) wiederholt, da, wo er diese Verwandlung des Leibes bei Leben desselben, im Gegensatz gegen das im Sterben stattfindende Ablegen des alten „Kleides" d. i. eben des „Fleisches", unter dem Bilde eines „Ueberziehens" des neuen Kleides über das alte Kleid darstellt. — Dem darf endlich auch nicht das Apostolische Glaubensbekenntniß entgegengehalten werden. Wenn das letztere wirklich der hier auseinandergesctzten Lehre des Herrn, wie des Apostels, in der Schrift widerspräche, so wäre das nur ein Zeichen, daß es abgeändert werden müßte. Denn das Be­ kenntniß hat sich nach der Schrift, nicht aber diese nach jenem zu richten. Aber es widerspricht nicht! „Fleisch" heißt bekanntlich nicht bloß Fleisch, sondern auch „Mensch", und zwar bezeichnet es den Menschen in der Totalität seines Daseins, nach seiner ganzen vollen Persönlichkeit (Zoh. 1,14; Apostelg. 2, 17 und an vielen Orten). Endlich heißt es, wie schon vorher angedeutet ist: Sünde. Hier ist es offenbar in der zweiten Bedeutung gleich „Mensch" genommen; und ist von jedem der Schrift, wie des kirchlichen Sprachgebrauchs Kundigen zu erwarten, daß er es so und nicht anders nehme. Beleg

401

Die letzten Dinge (Auferstehung des Fleisches).

dazu bilden die beiden andern allgemeinen Glaubensbekenntnisse, das

Nicänische, welches in derselben Zeit entstand, in welcher das Aposto­

lische zum Abschluß kam, wie das spätere Athanasianische.

Während

nämlich in jenem der Satz lautet: „ich warte auf die Auferstehung

der Todten", heißt es in diesem:

„Und zu seiner Zukunft müssen

alle Menschen auferstehen mit ihren eignen Seibern." *) —

Was Schrift und Christenthum lehren, ist mit einem Worte: persönliche Fortdauer des Menschen, und zu dem Ende Wieder­

bekleidung der Seele nicht mit diesem Fleische — was kann einem wohl an diesem liegen, ja wie untröstlich ist der Gedanke daran für

jeden, der im eigentlichen Sinne die Last „des Leibes dieses Todes" getragen hat — sondern überhaupt nur mit einer neuen Leiblichkeit; oder nach dem Ausdrucke des Apostels, „daß wir auch, wo wir ent­ kleidet würden,

darum

Damit

5, 3).

sind,

nicht bloß erfunden werden sollen" (2 Kor.

ohne dem Fürwitze Raum zu geben, alle die

Fragen beantwortet, welche

die Lehre von

der Unsterblichkeit der

Seele übrig ließ: ob eine Erinnerung an das Diesseits stattfinden

ob ein gegenseitiges Wiedererkennen möglich sei, und dem

werde,

ähnliche.

In

der Behauptung der vollen Persönlichkeit sind sie in

sich selbst bejaht.

Kommt indeß

diese Lehre nicht ebenfalls

hinaus? In keiner Weise.

auf „das Fleisch"

Zwischen Fleisch und Leib ist ein Unter­

schied, wie zwischen Stoff und Kleid, Kalk und Haus (2 Kor. 5, lf.).

Es giebt leinene, wollene, Es

aber auch seidene und brokatne Kleider.

giebt Häuser von Erde und

So giebt es

auch Leiber

andere von Marmor oder Eisen.

nicht nur von Fleisch („Ihr wisset die

Schrift nicht, noch die Kraft Gottes".

Matth. 22,29), sondern auch

von Licht und Luft und Aether und Sonnenstrahlen.

Die Meinung

ist: Die Seele hat sich hienieden ihren Leib aus den Stoffen ge-

*) So sagt auch Luther im großen Katechismus (Bodemann:

„Evangelisches

Cvncordienbuch" 313): „Daß aber hie stehet „Auferstehung des Fleisches", ist nicht

wohl deutsch geredet. weiter,

Denn, wo wir Deutschen Fleisch hören,

denn in die Scharren („non ulterius cogitamus,

denken wir nicht

quam de macello").

Auf recht Deutsch aber würden wir also reden: „Auferstehung des Leibes oder des

Leichnams."

Doch

liegt nicht große Macht daran, so man nur die Worte recht

versteht."

Eltester, Materialien. 2. Auslage.

26

2. Hauptstück.

402 woben,

Dritter Artikel.

welche ihr diese Erde darbietet und sich damit das Organ

geschaffen, dessen sie zu eigener Vollkraft, wie zum Wirken hienieden bedarf.

Sie hat

demselben

ihr Gepräge eingebildet

und

in der

groben irdischen Leiblichkeit den Keim künftiger „geistiger" Leiblichkeit

erzeugt, in analoger Weise, wie die Raupe, sich

nimmt,

indem sie Nahrung zu

in sich schon den Leib des Schmetterlings vorbereitet.

Einst wird der Herr diesen Keim beleben.

Von seinem Weckeruf

angeregt wird die Menschenseele das in ihr Schlummernde entfalten und sich, sei es aus den Stoffen, welche ihr die verklärte Erde dar­

bietet, aus dieser, sei es sonst wie und wo („in meines Vaters Hause sind viele Wohnungen", Joh. 14, 2) die neue Leiblichkeit anbilden,

deren auch das künftige Leben zu seiner Vollkräftigkeit bedarf. 2) Keinem

der Schrift Kundigen kann

der Widerspruch ent­

gehen, der in den Aussprüchen derselben über das zukünftige Leben stattfindet, daß nämlich einerseits das ewige Leben als ein unmittel­ bar nach

dem Tode beginnendes,

ja eigentlich als schon hienieden

begonnenes und nie sterbendes dargestellt wird, andererseits die Auf­ erstehung erst mit der allgemeinen Auferstehung und dem allgemeinen

Gerichte erfolgen soll.

Namentlich in den Reden und Verheißungen

des Herrn tritt fast überall das erstere hervor:

„Ich bin die Auf­

erstehung und das Leben; wer an mich glaubt,

wird leben,

gleich stürbe" (Joh. 11, 25);

desgleichen in

ob er

der Parabel von dem

reichen Manne und dem armen Lazarus, die beide unmittelbar nach

dem Tode, der eine in die Seligkeit, der andere in die Verdammniß,

eingehen.

Nicht minder in der tröstlichen Verheißung an den Mit-

gekrenzigten:

Paradiese

„Wahrlich, ich sage

dir,

sein" (Luk. 23, 43); ja,

heute wirst du mit mir im

eigentlich schon in dem Schrift­

beweise für die Auferstehung: „Habt ihr nicht gelesen von der Todten Auferstehung, das euch gesagt ist von Gott, der da spricht:

der Gott Abrahams und

der Gott Isaaks und

Gott ist aber nicht ein Gott

(Matth. 22, 31f.). sprüchen des Herrn,

der Todten,

Andererseits fehlt es

ich bin

der Gott Jakobs?

sondern der Lebendigen"

aber auch nicht an Aus­

die auf die letzte Auferstehung Hinweisen:

zwar in unmittelbarer Verbindung

mit solchen,

Leben als ein schon seiendes darstellen.

und

welche das ewige

Z. B. „Das ist der Wille

des, der mich gesandt hat, daß, wer den Sohn sieht und glaubt an

Die letzten Dinge (Auferstehung des Fleisches).

ihn,

habe das ewige Leben,

jüngsten Tage" Vollends

werde ihn

und ich

403

auferwecken am

(Ev. Zoh. 6, 40; Bergt 5, 28. 29; Luk. 14, 14).

ist es Vorstellung

der Apostel,

daß die Vollendung des

Einzelnen erst gleichzeitig mit der allgemeinen, bis dahin aber ein

„Schlafen" der Verstorbenen stattfinde. — Dieser Widerspruch oder, wenn man lieber will,

diese Verschiedenheit der Lehrdarstellung hat

an und für sich etwas Beunruhigendes; noch mehr aber ist der Ge­ danke an den — Jahrtausende währenden — Seelenschlas für viele

außerordentlich quälend.

Bei

der prophetischen Natur dieser Lehr­

stücke werden wir natürlich darauf verzichten müssen, vollem begrifflichen Abschluß zu bringen.

die Sache zu

Aber so weit dürsten wir

wohl gelangen, daß wir die endliche Lösung ahnen; jedenfalls über

das Entsetzen wegen des Seelenschlafes hinauskommen. — Wie alles, was wir über den Zustand nach dem Tode und das ewige Leben zu

sagen und auch vorzustellen vermögen, ist auch der Schlaf natürlich Aber bleiben wir selbst bei diesem, was ist an dem­

nur ein Bild.

selben Schreckliches? Schrecklich ist nur — unter Umständen — das

Träumen;

Schlaf an sich,

tief und fest in Gottes Hut, im Kreise

der Unsrigen ist süß, und däucht auch, so lange wir gesund schlafen, nicht lang.

Gemeint ist wohl dies: Mit dem Tode des Leibes als

desjenigen Organs, mittelst dessen die Seele mit der Außenwelt zu­ sammenhängt, tritt für dieselbe ein Zustand verminderter Thätigkeit nach außen ein.

Darum

jedoch ist derselbe weder ein Zustand der

Unthätigkeit, noch ein unfruchtbarer und für ihre fernere Entwicklung verlorener').

Die Thätigkeit der Seele

in verstärktem Grade nach innen. der Außenwelt,

der sie erzogen,

richtet sich nur und zwar

Losgelöst von dem Verkehr mit aber auch zerstreut und zer­

splittert hat, ist sie fortan mit sich und ihrem Gott allein.

seliger Zustand für die,

Ein

„welche in dem Herrn gelebt haben und in

dem Herrn gestorben sind" und

nun im Schoße Gottes nicht bloß

„von ihrer Arbeit ruhen" (Offenb. 14, 13), sondern auch in diesem

Alleinsein mit Gott, dem Ausruhen am Herzen Gottes, von den letzten Resten der — bereits vergebenen,

aber, dieweil sie noch im Leibe

*) Dian denke an den analogen Zustand

der Chrysalide oder „Puppe" d. i.

des Insektes in dein verhüllten Zwischenzustande zwischen Raupe und Schmetterling.

26*

2. HlNlptstück.

404

lebten, nicht

ganz überwundenen,

Dritter Artikel. noch auch zu überwindenden —

Unvollkommenheit genesen und sich so zu sagen gesund schlafen.

Eine

Pein dagegen für die Unbußfertigen und Gottlosen, die in keiner Weise Gott, den sie bisher gemieden, zu entfliehen, noch auch von sich selbst,

der Quelle unaufhörlicher Unruhe („dem Wurme, der nicht stirbt") loszukommen vermögen;

dem Frevler begegnet, herwälzt,

nur in

die,

unendlich

Verdammniß „träumen".

mittelbar

ähnlich

wie es schon hier auf Erden

daß er sich in entsetzensvollen Träumen um­

gesteigertem Maße den „Traum" der

So Seligkeit und Unseligkeit,

mit dem Abschlüsse

dieses Lebens,

beide un­

ja eigentlich schon in

ihm beginnend: aber freilich die Vollendung beider und zugleich die endliche Entscheidung, sei es für die eine, sei es für die andere, erst

da eintretend, wo mit dem Abschluß dieser gesammten zeitlichen Ent­

wicklung überhaupt die Vollendung kommt:

der neue Himmel und

die neue Erde und die neue Menschheit in der Herrlichkeit der Kin­

der Gottes.

Bis dahin

aber Frist zur Reue und Möglichkeit der

Bekehrung mitten im Schmerze und mittelst desselben für alle, welche nicht den Funken des Göttlichen in ihnen völlig vernichtet haben!

Doch „wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Rath­

geber gewesen" (Röm. 11, 34. — 1 Kor. 13, 9—13).

Die Betrachtung führt uns jetzt zu

dem dritten, vierten und

fünften Hauptstück, in welchen von den sogenannten Gnadenmitteln

gehandelt wird, jedoch nicht vollständig, sofern nämlich das wichtigste, das Wort Gottes, fehlt. nehmen haben;

Wir werden dies jedenfalls mit hinzuzu­

müssen jedoch, bevor wir in das einzelne gehen, von

den „Gnadenmitteln" überhaupt reden.

Von den Gna-enmittel». Unter Gnadenmitteln oder Heilsmitteln versteht man diejenigen

Mittel,

deren sich

Gott oder der Geist Gottes bedient, um dem

Menschen die Gnade Gottes in Christo zuzuführen, ihm zum Besitze

des Heils zu verhelfen.

Luther in der Erklärung des dritten Artikels

faßt dieselben zusammen in dem einen Ausdruck „durch das Evan­

gelium".

Im einzelnen zählt man zu ihnen: das Wort Gottes

das Gebet und die Sakramente. —

Es ist festzuhalten, daß die Gnadenmittel Mittel sind, daß sie also nicht selbstständig wirken, sondern der heilige Geist wirkt durch sie.

Wie der Katechismus sagt:

„ich glaube, daß der heilige

Geist mich durch das Evangelium berufen" u. s. f.

Und nachher:

„in welcher Christenheit er" — also nicht die Kirche, oder die Gna-

dcnmittel, noch weniger der dieselben verwaltende Priester, sondern „der heilige Geist — mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergiebt" u. s. w.

Es ist ein schwerer, verhängnißvoller

Irrthum, wenn das übersehen, und an Taufe und Abendmahl, ja

auch an Wort Gottes und Gebet dasjenige geknüpft wird, was immer nur Gott oder dem Geiste Gottes zukommt. —

Damit, daß nicht die Gnadenmittel selbst,

sondern der Geist

Gottes durch sie wirkt, hängt unmittelbar zusammen und folgt daraus mit Nothwendigkeit, daß das bloße Vorhandensein, der Besitz oder

der äußerliche Gebrauch eines

Gnadenmittels niemals nütze, im

Gegentheil durch das falsche Vertrauen, welches man aus dergleichen setzt, nur schade.

Sollen die Gnadenmittel nützen, so muß dem durch

406

Die Gnadenmittel.

sie wirkenden Geiste ein Geistiges, Glaube, nicht

gegenkommen.

Aberglaube ent­

Gerade, wie man Lebensmittel essen, trinken, sich

assimiliren muß, wenn sie dem leiblichen Leben Stärkung zuführen sollen.

Brod nur in der Tasche haben oder es in der Hand behal­

ten, führt zu nichts.

Ebenso wenig vermag es, einem Todten Leben

zu geben. Endlich ist noch zu beachten, daß, so wenig das Heil in Christo uns jemals ohne irgend welche Mittel zugeführt wird, ebenso wenig

es immer aller dieser Mittel bedarf, um Heilswirkung hervorzu­ rufen; sondern, daß bei der Mehrzahl derselben wohl auch das eine

oder das andere fehlen kann, und das Werk des h. Geistes am Menschen geht darum nicht minder seinen Gang; und vielleicht kräf­ tiger, als, wo sie alle im Gebrauche sind.

Es gilt in dieser Be­

ziehung das Wort: „der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern von einem jeglichen Worte, das aus dem Munde Gottes geht."

wird das nicht gesagt,

Es

um Gleichgültigkeit oder Nachlässigkeit im

Gebrauche der Gnadenmittel hervorzurufen oder zu entschuldigen: —

jeder ist an die gewissenhafte Benutzung der Mittel und Gaben, welche er empfangen hat, gewiesen und wird gerichtet, je nachdem er sich hierin treu oder untreu gezeigt hat: sondern es wird auf

diesen Umstand aufmerksam gemacht lediglich darum, damit wir uns nicht ohne Grund ängstigen um solche, denen hie das Wort Gottes

verkürzt, dort die Sakramente vorenthalten werden, oder die von dem Gebrauche des einen oder andern durch Gewissensbedenken abgehalten werden. — Andererseits soll es zur Erklärung dienen, wie Gottes

Werk sowohl in den Einzelnen als auch in der Gemeinde habe fort­ gehen können auch in solchen Zeiten, in denen die Predigt des Wortes Gottes selten, und, wo sie vorkam, entstellt, auch die Sakra­

mente mit einem Wüste abergläubischer Gebräuche beladen waren. In solchen Zeiten pflanzte sich das Christenthum durch Einrichtungen,

Sitten, Bildwerke und Aehnliches fort; welches wir freilich nicht ge­ wöhnt sind zum Worte Gottes zu rechnen: wodurch aber nichtsdesto­ weniger eine — wenn auch

verdunkelte und vielfach entstellte —

Kunde von dem Heile in Christo vermittelt, und eine Wirkung seines

Geistes ermöglicht ward.

Die Gnadeumittel.

I. Das Wort Gottes.

407

Das Wort Gottes. I.

Beim „Worte Gottes" pflegt man gewöhnlich sofort an die

„heilige Schrift" zu denken.

Sieht man indeß die Schrift selbst an,

so ergiebt sich, daß der Ausdruck eine weit umfassendere Bedeutung

hat.

Es wird mit demselben bezeichnet: 1) Die Quelle aller Offenbarung

in Gott selber.

Joh. 1, 1.

Niemand wird so thöricht sein, zu verstehen: „Im Anfang war die Bibel."

2) Das schöpferische Wort Gottes.

1 Mos. 1, lf.

3) Die die gesammte Welt durchdringende, insbesondere in der

Geschichte der Menschheit und

Offenbarung Gottes. 4) Jesus

in

dem Gewissen sich kundgebende

Joh. 1, 5 u. 9—13.

Christus,

das

fleischgewordene Wort.

Joh. 1, 14.

Offenb. 19, 13. 5) Die Predigt von Christo: die vorbereitende und weissagende

der Propheten, die von ihm zeugende der Apostel. 6) Das ausgeschriebene Wort.

7) Die Sammlung

derjenigen Schriften,

in welche die Kunde

des Wortes Gottes niedergelegt ist, und mittelst welcher sie auf uns kommt.

II.

Danach

ist

Gottes in Christo, auch

die Schrift die

Urkunde der Offenbarung

sowohl der vorbereitenden

im Judenthume als

der vollendeten in der Person I. Christi.

Und zwar ist sie

die einzige authentische Urkunde: und darum für uns die Quelle und die Grundlage der christlichen Religion. Wie schlechthin unentbehrlich sie ist,

zeigt

die Entstellung,

welche die Mittheilung von Christo schon in der unmittelbar auf die

Apostel folgenden Zeit in der nicht durch Schrift fixirten mündlichen

Ueberlieferung („Tradition") und von

da ab in immer steigendem

Maße erfahren hat.

Ebenso ist sie aber auch

zureichend,

sofern in ihr alles ent­

halten ist und aus ihr selbst ersehen werden kann, Heile uns zu

wissen

nöthig ist.

was zu unserm

Sie bedarf in dieser Beziehung

keiner Ergänzung für angeblich in ihr nicht Mitgetheiltes, Vergessenes

408

Die Gnadenmittel.

oder Verschwiegenes,

1. Das Wort Gottes.

sei es aus anderweitigen resp, geheimen Mit­

theilungen Jesu und der Apostel, sei es aus Aufschlüssen, welche der h. Geist dem „Papste" oder der „Kirche" habe zu Theil werden lassen. Sie ist zum Dritten deutlich.

Nicht so, daß ihre Tiefen sich

jedem ohne weiteres erschlössen: im Gegentheil, sie bedarf, um ver­ standen zu werden, frommen Sinnes und ernster Arbeit, und einer

ganz andern Behandlung, als ihr vielfach unter uns zu Theil wird: daß man nämlich hie und da in sie hineinguckt und dies und das

aus ihr herausreißt.

Sie will nicht bloß flüchtig gelesen, geschweige

durchblättert, sie will im Zusammenhänge betrachtet werden (Apostg. 17, 11).

Ebenso

wenig soll behauptet werden, daß nicht auch bei

einer solchen Behandlung manche Schwierigkeiten

und Dunkelheiten

nicht nur für einige oder auch nur für „das Volk, das vom Gesetz nichts weiß" (Joh. 7,49), sondern

digsten Schriftgelehrten nur,

daß,

was

zum

auch

übrig bleiben. Heile

der

für die der Schrift kun­

Sondern behauptet

Seelen

gehört,

von

wird

jedem,

der redlich danach forscht, selbst in ihr gefunden werden könne und immer auch gefunden werde, ohne daß es zu ihrer Auslegung einer

im besondern Sinne mit dem heiligen Geiste ausgerüsteten Priester­ schaft oder mittlerischen Kirche bedürfte.

Viertens.

Die Auslegung der h. Schrift ist frei.

Mit die­

sem Satze ist die evangelische Kirche als solche in's Leben getreten, mit

ihm steht und fällt sie.

Wo immer eine Stelle in der Kirche oder

eine Schrift' oder Sammlung von Schriften aufgestellt würde, deren

Entscheidungen maßgebend sein sollten für Auslegung der h. Schrift:

da wäre die Kirche in

die „babylonische Gefangenschaft"

zurück­

gesunken, aus welcher sie Luther errettete, als er „diese Mauer der Canonisten brach, daß der Papst oder die Priester allein das Recht

hätten, die Schrift auszulegen". III. Wie man bei einem Bilde schlechtweg Bild sagt, ohne, sei

es den Rahmen,

in welchen es gefaßt ist, sei es die Holztafel oder

Leinewand, auf der es dargestellt ist, sei es endlich die Staffage, die dabei ist,

ausdrücklich zu unterscheiden:

so

ist auch nichts dagegen

einzuwenden, daß man im gewöhnlichen Leben oder im erbaulichen Sprachgebrauch

die Urkunde

Wort Gottes nennt.

des

göttlichen Wortes

kurzweg das

Nur um des Mißverständnisses willen, das

Wort Gottes und heilige Schrift.

409

sich an diesen Sprachgebrauch knüpft, ist es nöthig, auch den Unter­ schied zwischen beiden noch bestimmter hervorzuheben. 1) In der Schrift findet sich nicht bloß Gottes Wort, sondern auch das Wort von Menschen, bösen gottlosen Menschen, von Fein­ den Gottes und des Herrn I. Christi, ja des den Herrn Jesum ver­

suchenden Satans.

Alles dieses, obwohl es nicht Gottes Wort ist,

noch auch hinterher von Gott und seinem Geiste mitgetheilt wird, gehört doch zum Worte Gottes; sofern niemand versteht, was Gott

will, und was der Herr Jesus geantwortet hat, wenn wir nicht wissen, was er von den Pharisäern gefragt, und wie er vom Satan ver­ sucht worden ist.

2) Aehnlich verhält es sich mit den Mittheilungen über Orte, Zeiten, Begebenheiten; den Angaben von Namen, Zahlen, Bergen, Flüssen, Sternen, Thieren und Pflanzen; Siegen und Niederlagen,

deren die h. Schrift voll ist.

Alles dieses bildet den Boden, auf

welchem die Offenbarung einherschreitet, den Aufzug, in welchem sie

der Einschlag ist, den Rahmen und die Staffage, die das Bild ewiger Gottesoffenbarung, das Bild des Erlösers zur bestimmten

Anschauung bringen und einfassen. Aber der Boden, den Christi Fuß betrat, der Staub, den seine

Sohle berührte, ist nicht der Herr; das Gewand, das seinen heiligen

Leib bedeckte, ist nicht er selbst, noch ist es heilig, wie er.

Es ist

ein Unterschied zwischen den Kenntnissen und Kunstfertigkeiten, deren die Bibel erwähnt, und der Wahrheit, die in jenen und

durch sie hindurch fcheint, und mittelst ihrer zur Wahrnehmung ge­ bracht wird. Es giebt so bald keine tiefere Erniedrigung der Schrift, als, wenn man unternimmt, die Urkunde beseligender Gottesoffen­ barung gleichzeitig zu einem Handbuch der Stern- und Naturkunde, Geographie und Geschichte, zur statistischen Tabelle oder zu einem

Exerzier- oder sonst welchem Reglement zu machen (Richter 7,16f ).

Nichts von alle diesem ist um seiner selbst willen mitgetheilt, sondern

nur, sofern es zur Veranschaulichung des Waltens und des Willens, der Kundgebung Gottes dient; sofern sich durch alles dieses die Offenbarung Gottes, wie ein rother Faden, hindurchzieht.

Darum

soll auch bei dem religiösen Gebrauche der Schrift niemandes Auf­ merksamkeit, geschweige sein Glaube an allem diesem haften bleiben.

410

Die Gnadenmittel.

I. Das Wort Gottes.

Propheten und Apostel, „die Lehrer, von Gott gesandt, Gottes Wort

zu verkünden", leiden es nicht, daß man sie, wie Professoren irgend

welcher menschlichen Wissenschaft oder Kunst, wie Schulmeister, be­

handelt. 3) Obgleich der Gebrauch auch dieses menschlichen Wissens und Könnens innerhalb der Schrift durchweg ein religiöser und demgemäß alles in ihr von dem Geiste der Frömmigkeit, dem

heiligen Geiste

Gottes, durchweht ist: so sind doch die heiligen Schriftsteller zu dem

Besitze dieser Kenntnisse und Kunstfertigkeiten in keiner andern Weise und durch keine andern Mittel gelangt, als in welcher derselbe überhaupt erreicht werden kann.

Gewiß ist der Gebrauch, welchen

Paulus in seinem apostolischen Berufe von seinem erlernten Hand­

werke macht,

in hohem Grade von dem Geiste selbstsuchtsloser Hin­

gebung an diesen Beruf, dem heiligen Geiste I. Christi erfüllt: aber

lernen

das Handwerk hat er,

wie jeder andere,

müssen.

Ganz

ebenso verhält es sich mit Lesen und Schreiben, der Kenntniß frem­

der Sprachen z. B. der griechischen, der Gewandtheit der Rede, der wissenschaftlichen Schärfe, kurz dem gesammten Apparat des Könnens und Wissens, den wir ganz unabhängig von dem heiligen Geiste in der Menschheit vorfinden,

ja,

von dem wir sehen,

wie sehr häufig

unfromme Leute in dieser Beziehung die allerfrommsten und heilig­ sten übertreffen.

Es ist ein arger Irrthum und ein der Schrift selbst

zuwiderlaufendes Mißverständniß,

wenn

man auch diesen Apparat

ohne weiteres auf Eingebung des h. Geistes zurücksühreu will.

Was

sagt die Schrift? „Was kein Auge gesehen, und kein Ohr gehört hat,

und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat

denen, die ihn lieben: das hat Gott uns geoffenbart durch s. Geist" (1 Kor. 2, 8. 9).

Was

aber ein Auge sehen,

Menschenherz ersinnen kann:

ein Ohr hören,

ein

dazu sollen auch, die Gott lieben, ihre

Augen und Ohren gehörig aufmachen und den Verstand ihres Herzens

gründlich brauchen; und werden es auch thun.

Solches mitzutheilen,

leiht sich Gottes Geist nicht her! Oder gränzt es nicht nahezu an Lästerung, wo man behauptete, der h. Geist habe den Aposteln ein­

gegeben:

daß

der Flecken Emmahus

60 Feldwege von Jerusalem

entfernt sei, und Aehnliches, was sie von jedem Landbewohner, der zur Stadt kam, erfahren und mit eignen Füßen abschreiten konnten?

411

Wort Gottes und heilige Schrift.

Waren die heiligen Schriftsteller in allem diesem auf ihre Augen und Ohren beziehungsweise auf die ihrer Gewährsmänner gewiesen,

so können wir zwar bei dem Geiste, der sie erfüllte, in ihren Mit­

theilungen auch über dergleichen Dinge bis in das Kleinste hinein ihrer größten Gewissenhaftigkeit und Treue uns vergewissert halten:

andererseits jedoch dürfen wir in dieser Beziehnng bei ihnen nichts erwarten, als, was sie in ihrer Zeit und von ihrem individuellen Standpunkte aus, sei es aus eigner Wahrnehmung wissen, sei es von ihren Gewährsmännern erfahren konnten.

Denn, wie der heil.

Geist diese Dinge niemandem eingiebt, so mehrt und erhöht er sie

auch nicht auf eine von den sonstigen Bedingungen unabhängige Weise; und hat darum auch die Apostel in dieser Beziehung nicht

urplötzlich aus eine höhere Stufe,

geschweige auf eine das Niveau

ihrer, ja aller Zeiten schlechthin überschreitende erhoben. nicht,

Wir lesen

daß der Zeltwcber Paulus, da ihn Christus erleuchtete, da­

durch Kenntniß der neuen Weberei gewonnen; oder daß Petrus, der die Fische des Galiläischen Meeres gefangen, als der h. Geist über ihn kam, dadurch zum Südseefahrer und Walfischfänger geworden. War auch beiden nicht zugesagt; sondern:

„von nun an sollst du

Menschen fangen"; und: „er soll meinen Namen tragen vor Heiden und Könige und vor die Kinder Israels; und ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muß um meines Namens willen": so lautete die Verheißung (Luk. 5,10; Apostg. 9, lös.). Und genau ebenso steht es abermals mit allem ihrem sonstigen menschlichen Wissen und

Können.

Deshalb ist es denn auch ganz in der Natur der Sache

gegründet, nicht bloß, daß wir in allem solchen mit unsern Kennt­ nissen vielfach die Kenntnisse der heiligen Männer Gottes überragen;

sondern auch, da sie bei ihren Wahrnehmungen denselben Täuschungen

der Sinne u. s. w. unterworfen waren, wie auch wir, vollends aber in dem, was sie aus andern Quellen her berichten, doch nichts an­

deres geben konnten, als, was sie empfangen: daß wir in ihren Mit­

theilungen neben dem Charakter ihrer Zeit hie und da auch Unge­ nauigkeiten, Abweichungen und Widersprüchen in den correspondirenden Berichten begegnen.

4) Auch in Beziehung auf das, worin der h. Geist recht eigent­ lich sein Werk hat, in Beziehung auf das Religiöse, findet innerhalb

412

Die Gnadenmittel.

1. Das Wort Gottes.

-der h. Schrift ein Unterschied sowohl der Fülle als auch der Rein­ heit des Geistes statt.

Es ist allerdings ein wahrer Satz, daß der

neue Bund bereits in dem alten verhüllt enthalten,

der alte Bund

in dem neuen nur enthüllt sei (novum testamentum in vetere latet;

vetus testamentum in novo patet). Indeß ist dies doch nur in dem

Sinne wahr, in welchem die zur vollen Pracht entwickelte Blume in dem Stadium niederer Entwicklung in der Knospe schläft.

Eine

Gleichstellung dagegen des A. T. mit dem Neuen widerspricht ebenso jeder

unbefangenen christlichen Wahrnehmung,

wie den ausdrück­

lichen Erklärungen des Herrn (Luk. 10, 24; 9, 55. 56) und auch des Insbesondere der letztere bezeichnet durchweg das,

Apostels Paulus.

in Christo offenbar geworden,

was

als ein Geheimniß,

was bis

dahin aller Welt verborgen gewesen sei (Röm. 16, 25; I Kor. 2, 6f.; Ephes. 3, 3f.; Kol. 1, 26); und Gal. 4, 9 warnt er sogar, zu den

„schwachen

und

dürftigen Elementen"

Mit einem Worte:

kehren.

im Judenthume

ein anderer ist Christus,

zurückzu­

ein anderer

Elias; ein anderer Paulus, ein anderer David (1 Kor. 15; Ps. 6, 5. 6; 1 Kor. 13, 4—7; Ps. 59, 14—16;

Phil. 3, 12f.;

Ps. 18,

21 f.), ein anderer der Geist des Sohnes Gottes, der sn uns „Abba, lieber Vater", schreit (Röm. 8,15), ein anderer der Geist der Furcht in dem selbst „ein Moses treu war in dem Hause als ein

Gottes,

Knecht" (Hebr.3,5).

ein ähnliches Mehr oder Minder,

Und

Klar hat auch im N. Testamente statt. ein Geist,

Klarer oder weniger

Auch hier gilt es:

aber mancherlei Gaben" (1 Kor. 12, 4);

„es ist

es ist dasselbe

Licht, aber die Jntenfität und Lauterkeit des Lichtes, vor allem aber die Farbenbrechung desselben ist verschieden.

kennen,

Niemand wird ver­

daß Matthäus, Johannes, Petrus, Paulus, Jakobus ver­

schiedene Schattirungen des Christenthums darstellen; daß in dem

Briefe des Jakobus eine minder energische Durchführung des christ­

lichen

Grundgedankens

auftritt,

als

in

den

Sendschreiben

des

Apostels Paulus an die Römer und Galater; daß der Brief Judae nicht einmal mit dem Schreiben an den Philemon zu vergleichen ist, daß endlich

auch in den eignen Schriften des Paulus selbst nicht

überall der gleich hohe Flug des Geistes waltet —: wie eben Gott

einem

jeden,

und

jedem

zu verschiedenen Zeiten

„das Maß des

Wort Gottes und heilige Schrift.

413

(Röm. 12, 3) und dem einen Knechte fünf

Glaubens ausgetheilt"

Pfund, dem andern zwei, dem dritten nur eins gegeben hat (Matth. 25, I4f.).

Es ist nur einer, der den Geist nicht nach dem Maß

empfangen hat (Joh. 3, 34), I. Christus, der Eingeborne vom Vater, der allein das Licht ist, das in die Welt kommen sollte. Alle andern sind „nicht das Licht, sondern, daß sie zeugen von dem Lichte" (Joh. l,8f.). —

5) Dies

alles ist sorgsam

zu beachten zur Befestigung und

Bewahrung unsers Glaubens nach zweien Seiten hin. Zuerst gegen

den Aberglauben derjenigen,

welche für alles

in der Schrift,

als

vorgeblich in gleicher Weise unmittelbar von dem Geiste Gottes ein­ gegeben,

denselben religiösen Glauben fordern,

doch nur das „kündlich große Geheimniß"

dessen Gegenstand

der Offenbarung Gottes

im Fleisch und der durch diese Offenbarung vollbrachten Erlösung

der Menschheit sein kann.

„Wenn

du ein Christ sein

und selig

werden willst, so mußt du an der Mittheilung des Lukas, daß die

Schatzung zur Zeit der Geburt Christi die allererste war, und daß

sie geschah zu der Zeit,

da Cyrenius Landpfleger in Syrien war,

mit demselben festen und unverbrüchlichen Glauben sesthalten,

mit

dem du glaubst, daß Jesus Christus der Sohn Gottes, dein und der

ganzen Welt Heiland und Erlöser ist." U. s. f. — Es ist das unge­

fähr dieselbe Forderung, als wenn man von einem Verschmachtenden, der dem lebenden Quelle nahet,

verlangen wollte,

er müsse, wenn

er leben wolle, nicht bloß das Wasser, sondern auch die Felsen und das Moos trinken,

unter denen das Wasser hervorquillt. — Aber

die Forderung ist nicht bloß ungerechtfertigt, sondern sie ist auch im

hohen Grade verderblich.

Sie erzeugt

die schwersten Anfechtungen

für den Glauben, Anfechtungen, in denen schon Unzählige an der Schrift,

wo nicht am Christenthume,

schädigt die Sittlichkeit.

punkte unmöglich ist,

irre geworden

sind. — Sie

Denn, da es doch auch auf diesem Stand­

sich ganz den Widerspruch zu verhehlen,

in

welchem einzelnes in der Schrift mit dem, was für uns denkbar ist, und auch unter einander steht: so wird nun — um den Schein der

Uebereinstimmung hervorzubringen — an dem augenfälligen Sinne der Schrift so lange herumgedeutet, und dem Denken in einer Art Gewalt

angethan,

leiden muß,

daß

darunter

nothwendig

der

und jene innere Unwahrhaftigkeit und

Wahrheitssinn jener Mangel

414

Die Gnadenmittel.

I. Das Wort Gottes.

an einfachem Rechtssinn entsteht,

die wir zu unserm äußersten Be­

fremden nicht selten gerade bei solchen wahrnehmen, denen man im übrigen

nicht abstreiten kann, daß sie es mit ihrer Frömmigkeit

ernst nehmen! — Endlich kommt bei diesem Glauben der Christ

trotz aller scheinbaren Festigkeit niemals aus der Angst um seinen Glauben heraus.

Der geringste Widerspruch

erschreckt ihn; jede

Untersuchung, das Denken selbst scheint gefährlich.

Wie aber Angst

und Haß, Furcht und Abneigung Geschwisterkind sind: so setzt sich in solchen Seelen leicht eine Bitterkeit gegen freier Denkende und

eine Abneigung, ja ein Haß gegen alle höhere menschliche Bildung fest, unter denen in der That ihr Christenthum ernstlich Gefahr leidet.—

Die

schrist-

und

naturgemäße Unterscheidung

zwischen

dem

Worte Gottes und der h. Schrift sichert uns aber auch gegen die

Anläufe, welche von Seiten einer falschen Bildung oder, besser aus­

gedrückt, von Seiten der jetzt so verbreiteten Halbbildung auf unsern Glauben gemacht werden.

Mit Hohn wird von dieser Seite her

nicht selten auf die „Ungeheuerlichkeiten", den „Widersinn" und die

„Widersprüche"

hingewiesen,

daran die Frage geknüpft:

deren die h.

Schrift voll

sei;

und

„das soll Gottes Wort" sein: so daß

namentlich jüngere Christen und einfachere Gemüther oft in die äußerste Gewissensbedrängniß gerathen.

Nun ist es mit alledem

nicht so schlimm. Bei weitem das meiste davon kommt nicht sowohl

aus Rechnung der Schrist, als auf die Dummheit, die Unwissenheit, im besten Fall die Unfähigkeit dieser sogenannten Gebildeten, sich

aus dem beschränkten Kreise ihres Denkens in Sinn und Geist des Morgenlandes, der Zeiten und der Länder zu versetzen, in denen die h. Schriften entstanden sind; ja, auch nur in den uns am nächsten liegenden Büchern die verschiedenen Stylarten, den lehrhaften, den

rednerischen und den dichterischen,

einigermaßen zu unterscheiden.

Mit einer Naivität und Hausbackenheit ohne Gleichen wird, was in die Ursprünge der Menschheit hineinragt, behandelt, als wenn es sich heute aus dem Markte zutrüge; wird wörtlich verstanden, was

bildlich gemeint, nüchtern buchstäblich, was emphatisch, begrifflich,

was dichterische Anschauung ist; und werden auf solche Weise die Anstöße in die Schrist hineingetragen,

liegen,

die nicht entfernt in ihr

sondern lediglich in dem Unverstände.

Statt aller andern

Wvrt Gottes und heilige Schrift.

415

mit denen man am häufigsten unbewehrten Ge­

zwei Beispiele,

müthern entgegentritt.

Was ist innerlich wahrer,

als die Schilde­

wie Bileam, der falsche Prophet, mit seinem Gewissen han­

rung,

delt, und gegen den wiederholt kundgegebenen Willen Gottes durch­ zusetzen sucht,

wozu ihn seine selbstische Lust treibt?

Was erweck-

licher, als die Art, wie Gott auch einen solchen zu fassen versteht, und

dem

sich verstockenden Menschen gegenüber zuletzt sogar ein

Thier das Werkzeug seines Willens und den Dolmetscher seiner Bot­

Aber das Sprechen der Eselin!

schaft werden läßt?

der Baum in seiner Pracht, mich,

macht,

gebt unserm Gott die Ehre."

„Josuas

gleichen steht bei

schrieben, ist:

„Mich,

ruft

spricht die Saat, hat Gott ge­

Versteht Ihr das? — Des­

stillstehender Sonne"

ausdrücklich

ge­

daß die Erzählung einem alten Heldenliede entnommen

„So steht es ja

(Jos. 10, 13).

geschrieben

im Buche der Rechtschaffenen"

Dessenungeachtet verstehen sie die Geschichte nicht:

so nahe ihnen das Verständniß durch die eigene Erfahrung gelegt

ist, laut welcher noch hente einer,

zu vollenden hat, ruft:

erhört fein Flehen.

der Wichtiges, der Entscheidendes

„Zeit, Zeit, eine Stunde Zeit."

Die Stunde

vollbracht", und „war keine Stunde,

Gott hat zwar nicht

nachher".

größer gemacht! Fällen:

Werk

wie diese, weder vorher noch

die Zeit länger,

aber die Kraft

Und ähnlich verhält es sich in unzähligen andern

der scheinbare Widersinn

auf. — Aber so

Und Gott

„verrinnt nicht, bevor das

gewiß

löst sich in erhebendste Wahrheit

dem auch also ist,

und so entschieden es

betont werden muß: so genügt allerdings auf dem Standpunkte, von welchem wir hier reden, der Nachweis auch nur einer einzigen Ab­ weichung,

eines

im

ganz

übrigen

Widerspruchs in der h. Schrift (und Leichtigkeit geführt werden können),

dieses Glaubens zu erschüttern.

unerheblichen

Irrthums

oder

dieser Nachweis wird

um das

gesammte

mit

Gebäude

Denn, hat der h. Geist, der nun

einmal alles in der Schrift in gleicher Weise eingegeben haben soll,

in diesem Stücke geirrt,

warum soll er nicht ebenso gut in allem

andern haben irren können?

Irrthum

heiliger Geist

Wo er überhaupt auch nur bei einem

bliebe!

Gegen

diese Folgerung,

gegen

diese Angst und diese Qual hilft nichts, als die Unterscheidung zwischen „Wort Gottes" und „Schrift", die wir zu begründen gesucht, haben.

416

Die Gnadenmittel.

6)

Das

Auseinandergesetzte

1. Das Wort Gottes.

bestätigt,

daß

ein

gründliches,

namentlich ein wissenschaftliches Verständniß der h. Schrift sich nicht bei

oberflächlicher Beschäftigung mit ihr

erschließt.

Die göttliche

Wahrheit, das Wort Gottes in der Schrift, gleicht dem Schatze im

Acker,

nach welchem

Schaufeln aber,

man graben muß,

um ihn zu heben.

die man anzuwenden hat,

ernster religiöser Sinn und eingehendes Studium. die Schrift zu verstehen,

Die

sind „ora et labora“, Es sind, um

außer dem erleuchteten Auge des Geistes

viele Kenntnisse erforderlich, die nicht jeder sich anzueignen vermag: gründliches Verständniß

der alten Sprachen und zwar nicht bloß

derer, in welchen die h. Schriften abgefaßt sind, sondern auch der verwandten Sprachen und Dialekte; Bekanntschaft mit dem Morgen­

lande,

seinen Sitten,

Gebräuchen,

seiner Anschauungsweise; Ver­

trautheit mit der parallellaufenden Geschichte, den gleichzeitigen und

ältern Religionssystemen und sonstigen Gedankenbildungen und der­ gleichen mehr.

Das legt insbesondere den nichtgelehrten Mitgliedern

der Gemeinde die Pflicht auf, vor allem sich vor jähem Zufahren in ihrem Urtheil über die Schrift oder einzelne Schriftsteüen,

sodann

aber auch vor dem Absprechen über ihnen neue und sie befremdende

Ergebnisse der gelehrten Schriftforschung, geschweige vor Mißachtung

und Verwerfung der Schriftgelehrsamkeit überhaupt zu hüten.

Bei

Bewahrung der vollen Selbstständigkeit ihres Urtheils namentlich in Sachen des persönlichen Heils werden sie anzuerkennen haben, daß die fortschreitende Erkenntniß der Schrift nur ein Werk der gemein­

samen Arbeit sein kann, vor allem derer, welchen Gott in dieser Be­ ziehung Gaben gegeben hat.

Sie werden diese Arbeit,

so weit sie

können, benutzen; wo sie aber derselben nicht mehr zu folgen ver­ mögen,

sich zu bescheiden und ihr Urtheil auszusetzen haben.

Das

allgemeine Priesterthum, welches die evangelische Kirche lehrt, und,

so lange sie die evangelische bleibt, aufrecht erhalten wird, ist keine Einladung zur Nichtachtung der theologischen Wissenschaft; die freie

Forschung in der Schrift, zu der sie berechtigt, kein Freibrief weder zu losem, frommen oder unfrommen, Schwadroniren über die Schrift,

noch zu lieblosem Verdammen solcher, von ihr haben, als wir.

die ein anderes Verständniß

Das dritte Hauptstnck. Vom Gebet. I.

Was das Athmen für das leibliche Leben ist, das ist Beten

für die Seele.

Das Gebet ist die eigentliche Lebenslust der Fröm­

migkeit. — Ohne Gebet giebt es keine lebendige Frömmigkeit. — Es beschränkt sich dasselbe keineswegs nur auf das Bitten. Ob­ schon wir stets des göttlichen Beistandes bedürftig sind, so ist doch in

zahllosen Fällen die Seele so sehr von dem Gefühle der erfahrenen Hülfe Gottes erfüllt, daß sie nur danken kann.

Ja, selbst in den

Momenten vorwaltender Empfindung des Bedürfnisses gründet sich der Muth, letzteres vor Gott zu bringen, und die Freudigkeit, auf Erhörung zu hoffen, auf die dankbare Erinnerung an das, was Gott

bisher an uns gethan hat, wie es darum heißt:

„In allen Dingen

lasset eure Bitte im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden" (Phil. 4, 6). In gleicher Weise wird die Betrachtung der Größe und Herr­

lichkeit Gottes, die Versenkung in „die Wunder seiner Werke" zum Lobe und zur Anbetung Gottes führen. Indeß auch mit dem „Beten, Loben und Danken" ist der Um­

fang des Gebetes noch nicht erschöpft.

Es erweitert sich

dasselbe

überhaupt zu dem Verkehr der Seele mit Gott, in welchem der Mensch mit allem, was ihn bewegt, niederdrückt oder erhebt, vor

Gott tritt; nnd wobei er vielfach nichts anderes bezweckt, als sich eben nur vor Gott anszusprechen. Eltester, Materialien. 2. Auflage.

Gerade, wie ein Kind zu seinem 27

418

Die Gnadeumittel.

Vater oder

zur Mutter eilt,

2. Das Gebet (3. Hauptstück). seine Erlebnisse

zu berichten,

seine

Freude auszujubeln, seine Noth zu klagen, zu hören, was die Eltern

wenn es nur des Vaters oder der Mutter

dazu sagen: zufrieden, Ohr findet,

und in ihrem theilnehmenden Blicke Verständniß und

Mitempfindung für sich wahrnimmt. Es versteht sich von selbst,

daß das Gespräch mit Gott nicht

ein lautes, ja, daß es auch als ein inneres nicht immer in Worte gefaßt zu sein braucht.

Wir beten oft am erhörlichsten, wo uns nur

„der Geist mit unaussprechlichen Seufzern vertritt" (Röm. 8, 26).

Ebenso wenig soll und darf es nach der Weise jüdischer Frömmigkeit an einen, bestimmten Ort oder an eine bestimmte Stunde gebunden

sein. Gott ist uns in dem Kämmerlein eben so nahe, wo nicht näher, tote in dem Tempel; und hört,

was von der Kanzel gebetet wird,

genau so gut, als, was wir von dem Altare sprechen.

immer für uns Zeit,

Er hat auch

wo wir nur für ihn ein volles Herz haben.

Darum darf sich der Christ zu jeder Zeit und aller Orten im Gebete

an Gott wenden, wann und wo immer er den Drang dazu verspürt:

wie geschrieben steht:

„Betet ohne Unterlaß"

(1 Thessal. 5, 17);

dann möglich ist, wenn das Gebet nicht an Ort, Zeit, Worte, ja nicht einmal an das mit Bestimmtheit an Gott Denken was nur

gebunden ist, vielmehr als Beten schon das kräftige Verlangen der

Seele nach Gott, der Gebetsdrang (Ps. 42, 2) anerkannt wird, der in unserer Seele wirkt,

und unbewußt

auch

diejenigen Momente

durchzieht, in denen über dem Bewußtsein der Welt nothwendig das bewußte Denken an Gott zurücktritt.

Aber eben dieser kräftige Drang

wird den Frommen treiben, dem, was in ihm lebt, auch in Worten,

sei es in stillen ober je nach seiner Eigenthümlichkeit lauten Worten, Ausdruck zu verleihen.

Nicht minder wird es ihm — abgesehen von

dem gemeinsamen Gebete im

öffentlichen Gottesdienste, das seiner

Natur nach bestimmte Zeiten und einen bestimmten Ort fordert — Bedürfniß sein,

Stunden zu haben,

in denen er, so zu sagen, mit

seinem Vater im Himmel allein ist und ihm so recht sein Herz aus­

schütten kann.

Morgen-, Mittag-, Abend-Gebete widersprechen weder

der Würde und Geistigkeit des Gebetes (Joh. 4, 24), noch der christ­ lichen Freiheit: im Gegentheil sind sie ebenso der Ausdruck des „Betens ohne Unterlaß", wie sie andererseits dasselbe nähren und wecken. —

419

Das „Unser Vater" (wie? um was? auf welchen Erfolg hin? wir beten sollen).

Als Muster für unser Beten,

II.

das einsame,

wie das ge­

meinsame, hat uns der Herr das „Unser Vater" gegeben. Dasselbe will natürlich nicht eine heilskräftige Formel sein, die

man

nur nachzusprechen habe,

um

erhört zu werden.

Die es so

treiben, mißbrauchen das Gebet des Herrn, und plappern, trotzdem

sie

wie die Heiden (Matth. 6, 7). —

die Worte Christi brauchen,

Ebenso

wenig

will es uns wehren,

daß wir nie in einer andern

Weise noch mit andern Worten beten dürften.

Es soll uns vielmehr

nur zum Vorbilde dienen, an welchem wir unsere Gebete prüfen; so

wie

Sporn,

zum

damit wir uns

zu

rechtem

Beten

ermuntern

mögen. Aus diesem Grunde soll und wird der Christ immer wieder zu

ihm zurückkehren.

Insbesondere, „wenn

wir nicht wissen, wie wir

beten sollen, wie sich's gebührt" (Röm. 8, 26), wenn wir uns matt

im Geiste und leer fühlen und

das eigne Wort uns versagt:

da

sollen wir uns dies Gebet vorhalten und uns andächtig in dasselbe

versenken: und

Namentlich

wir werden wissen,

im öffentlichen Gottesdienste gebührt dem Gebete des

Herrn immer seine Stelle; nicht,

oder gar,

verleihen, prägen;

um was wir zu beten haben.

auch

nicht,

um dem Gottesdienste Weihe zu

um ihm erst den christlichen Charakter aufzu­ um durch das Draufsetzen des U. V. unsern

sonstigen Gebeten Nachdruck zu verleihen: sondern, um den Geist des Gebetes zu wecken, aller Gedanken zu sammeln, aller Wünsche, Hoff­ nungen, Bitten zu läutern und zu verklären, indem sie mit dem vor­ betenden Christus sprechen: „U. V. im Himmel" u.s. w. Schon mancher,

wenn er nach eifrigstem Beten und Singen an das Gebet des Herrn

kam, hat da erkannt,

wie unvollkommen sein Gottesdienst gewesen,

um wie Nichtiges, Thörichtes,

Eitles er gebeten; und hat,

da er

fertig zu sein meinte, angehoben, zu beten. — Das „U. V." zeigt uns, wie? um was? und auf welchen Er­

folg hin wir beten sollen.

Wie? Unübertrefflich sagt Luther: „wie die lieben Kinder ihren lieben Vater bitten."

Schlichtes und doch so großes Wort, das den innersten

Kern, die Macht, die das Christenthum verleiht (Joh. 1,12), und

seine Seligkeit umfaßt! Fürwahr, wer so zu seinem Gotte steht, der ist 27*

Die Gnadenmittel.

420

ein Christ; möge

2. Das Gebet (3. Hanptstück).

er im übrigen Vorstellungen vom Christenthume

haben, welche er wolle! Was gehört zu solchem kindlichen Bitten? 1.

Freudiges rückhaltloses Vertrauen,

wir

daß

den

Muth

haben, mit allem, was uns bewegt, vor Gott zu kommen (Philipp. 4, 6; 1 Petri 5,7): andererseits ihm aber auch das ganze Herz bis

auf die letzte Falte zu erschließen, ohne ihm weder ein Großes noch

ein Kleines zu verhehlen.

Versteck spielen?

Wird auch ein Kind mit seinem Vater

und, während es sich in scheinbarer Offenheit er­

geht, dem Vater gerade

das

verhehlen, woran möglicherweise die

Gedanken des Kindes mehr, als an allem übrigen, haften?

„Aber,

wenn nun das ein solches ist, daß es der Vater nicht sehen darf?" Was du deinem Gotte nicht zeigen darfst — er sieht es ja doch —:

das sollst und darfst du auch nicht in die läuternde und sichtende Kraft

dir leiden.

des Gebetes!

Das- ist eben

Darum: bist du

irgend wie zweifelhaft, ob etwas recht, wohllautend, geziemend sei:

lege es auf diese Wagschale, versuche, ob du mit Gott darüber reden, es von ihm erbitten kannst: und du wirst selten mit deinem Urtheile

fehlgreifen. — 2.

Willigkeit, zu hören, was Gott redet; zu nehmen, was und

wie Gott giebt.

Wenn

du vor Gott trittst, sollst du nicht immer

nur dies oder jenes haben wollen: sondern du sollst vor allem hören

wollen, was er sagt.

Nun spricht er: „aber, mein Sohn, wie magst

du nur so Thörichtes bei dir denken, so Schädliches von mir ver­

langen?"

Wirst du trotzen? — Oder er giebt, aber er giebt auf

andere Weise, oder er giebt Minderes, als du erwartest!

Wirft du,

wie die ungezogenen Kinder, deine Hand zurückziehen und sprechen:

das ist nicht genug?

Du weißt, Gott kann nicht anders, als gut

und weise, mit dir verfahren; er wird nicht, „wo seine Kinder Brot

begehren, ihnen einen Stein, wo sie um einen Fisch bitten, eine Schlange bieten" (Luk. 11, 11): du bist mit allem, was dein Vater thut, zufrieden, und dankst ihm für sein weises Versagen nicht min­ der, wie für sein gnädiges Gewähren.

3.

Bereitschaft, zu thun, was Gott gebietet.

Es ist im Grunde

jedes Gebet eine Unwahrheit, wo nicht ein Hohn, bei welchem nicht der ernste Wille ist, nach unsern Kräften auf dasjenige hin mitzu-

Das „Unser Bater" (rote ? um rocro? auf ivelcheu Erfolg hin? wir beten sollen).

wirken, um welches wir bitten.

421

Ohne diesen Willen ist das Gebet

entweder kein Herzenswunsch, oder es ist das lästerliche Verlangen,

daß Gott unsere Faulheit und Nichtsnutzigkeit unterstütze. 4. Herzliche brüderliche Liebe: ohne Neid, Hader, Haß; Engherzigkeit und Selbstsucht:

ohne

„Unser" Vater! — „unser" täglich

Brot gieb „uns" heute!

Um was? Zuerst ist festzuhalten, daß wir jedenfalls mit Gott über alles bis auf das Kleinste reden dürfen, vorausgesetzt nur, das wir nach dem Ausgeführten entschlossen sind, zu hören, was er uns erwidert, zu thun, was er sagt.

Aber auch das Bitten ist mit nichten, wie

viele meinen, nur auf das Himmlische und Geistige beschränkt: viel­ mehr lehrt die vierte Bitte, daß wir mit vollem Vertrauen auch um

Leibliches zu Gott flehen können. Freilich scheint letzteres gegen das erstere sehr zu kurz zu kommen.

Sechs Bitten um geistige Güter

und nur eine um leibliche und auch diese nur auf das Nothdürftigste beschränkt.

Aber erwäge man nur, was Luther — und mit Recht

— unter diesem täglichen Brote begreift: „Alles, was zur Leibes

Nahrung und Nothdurft gehört, als Essen und Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut; fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und getreue Oberherrn, gut Regiment,

gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen:" und man erkennt, daß das leibliche

und zeitliche mit nichten zu kärglich bedacht, sondern, daß ihm nur

die gebührende Stellung und Richtung, so wie das rechte Maß, an­ gewiesen ist.

Daß nämlich 1. die Sorge nm das Zeitliche gegen

das Ewige zurücktrete (darum die Bitte um das tägliche Brot erst

die vierte); daß 2. das Leibliche nur um des Geistigen und Himm­

lischen willen begehrt werde (darum der sofortige Uebergang von dieser Bitte wieder zu Bitten um geistige Gaben); daß endlich 3. von unsern Bitten um Irdisches aller Uebermuth (darum nur Brot), alle kleinmüthige Sorge (wir sollen nur um das tägliche Brot für

heute bitten), endlich die Engherzigkeit ausgeschlossen sei, die nur an das eigene Bedürfniß denkt. Der Christ soll beten und wirken, daß jedem Menschen sein bescheidenes Theil gegeben werde, dessen er bedarf,

um die Zwecke, zu denen er da ist, zu erfüllen und „in aller Gott-

Die Gnadenmittel.

422

seligkeit und Ehrbarkeit

ein

2. Das Gebet (3. Hcnlptstück).

ruhiges

und stilles Leben

zu führen"

(1 Tim. 2, 2). — Auf welchen Erfolg hin? Das zeigt der Schluß des Gebetes:

denn „dein ist das Reich

und die Kraft und die Herrlichkeit".

Dein ist das Reich.

unsers Willens

Das höchste Ziel des Gebetes ist Einigung

mit dem göttlichen Willen; zunächst in der Gestalt

unserer Ergebung in diesen

Willen.

bitten sollen, wie sich's gebühret;"

richtes und Schädliches von Herzen gedankt,

gebeten,

„Wir missen nicht,

wie wir

wir haben schon so oft um Thö­

über das wir nachher selber Gott

daß er unsere Wünsche nicht erhöret, sondern

„über unser Wissen und Verstehen" (Ephes. 3, 20)

nach

seiner

Weisheit uns gegeben hat, als daß wir Gotte gegenüber auf unsern

Willen bestehen könnten.. Vielmehr werden wir all' unser Wünschen,

Hoffen, Begehren, auch die theuersten und, die uns unbedingt noth­ wendig scheinen, stets demüthig seinem väterlichen Rath und Willen anheimgeben.

So sprechen wir am Schlüsse: dein ist das Reich; du

weiß'st am besten, was

deinen Kindern frommt;

darum nicht, wie

ich will, sondern, wie du willst: Bin ich doch nichtNegente, Der alles führen soll; Gott sitzt im Negimente Und führet alles wohl!

Zu dieser unbedingten Ergebung erhebt sich der Christ um so freu­ diger,

je gewisser er ist,

„Kraft" sei,

das

daß bei Gott, wie der Wille, so auch die

durchzusetzen, was er als das Heilsame für seine

Kinder erkannt hat.

Wie hoffnungslos uns die Lage erscheine, wie

wenig wir einen Weg zum Ziele erblicken: „Weg hast du allerwegen, An Mitteln fehlt dir's nicht;"

und: „Was er sich vorgenommen, Und, was er haben will, Das muß doch endlich kommen Zu seinem Zweck und Ziel."

In der Vorwegnahme dieses Triumphes des Willens und Reiches

Gottes, in welchem Triumphe wir einst mit triumphiren werden, in

Das Gebet im Namen Jesu.

423

der dankbaren Erkenntniß dessen, was Gott bereits gethan hat, und der darauf gegründeten Zuversicht auf dasjenige, was er ferner thun wird,

in dem Vollgenusse der geistigen Gaben,

mit denen er uns

gesegnet hat, und gegen welche alle zeitliche und leibliche Noth weit

zurücktritt, schließt der Betende: dein ist die Herrlichkeit. die

Gegenwart noch

Trübsal,

Schwäche, Kämpfe

Mag auch

zeigen:

„unser

Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat" (1 Joh. 5, 4); „wir sind selig in der Hoffnung" (Röm. 8, 24) und „warten allein des Heilandes I. Christi des Herrn,

Leib verklären wird,

welcher auch unsern nichtigen

daß er seinem verklärten Leibe ähnlich werde,

nach der Wirkung, damit er kann auch alle Dinge ihm unterthänig

machen" (Philipp. 3, 20. 21). „Wie wohl ist mir, o Freund der Seele, Wenn ich in deiner Liebe ruh'!

Ich steig' aus dunkler. Schwermuthshöhle, Und eile beiiien Armen zu.

Dann iiniB die bet Iranernt scheiden, Wenn mit der glisse ()ol)er Freuden

Die Viede strahlt ant deiner Brust. Hier ist mein Hiininel schon auf (5rden; Dem ums; ja volle (>/nnge werden, Der in dir sindet Ruh' und Lust."

III.

Eine besondere Verheißung hat der Herr dem „Gebete

in seinem Namen" gegeben: „Wahrlich" — so ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er es euch geben.

habt ihr nichts

gebeten

in

meinem Namen;

Bisher

„bittet, so werdet ihr

nehme», daß eure Freude vollkommen sei" (Joh. 16, 23. 24).

Was heißt im Namen Jesu beten? Es ist eine jämmerliche Oberflächlichkeit,

die einfach durch das

Gebet des Herrn, durch Matth. 7, 21, endlich auch durch den richtig

verstandenen Wortlaut unserer Stelle widerlegt wird, wenn man die Erhörung des Gebetes an den Umstand bindet, daß der Name Jesu in ihm vorkomme, oder daß das Gebet an Jesum gerichtet sei.

Ausdruck „in meinem Namen"

bezeichnet ein

Der

ähnliches Verhältniß

des Jüngers zu Christo, wie dasjenige, welches Christus Gott gegen­ über für sich in Anspruch nimmt, wenn er sagt, daß er im Namen Gottes gekommen

sei (Joh. 5, 43):

das Verhältniß nicht blos des

Gesendetseins von Gott, sondern auch des völligen Dnrchdrungenseins

Die Gnadeiunittel.

424

2. Das Gebet (3. Hauptstück).

der innersten Gemeinschaft mit ihm.

von ihm,

meinschaft Joh. 14, 10 beschreibt:

Wie er diese Ge­

„Glaubst du nicht,

daß

ich

im

Vater, und der Vater in mir ist? Die Worte, die ich zu euch rede,

nicht von mir selber;

rede ich

der Vater aber,

der thut die Werke" (vergl. Joh. 17, 21):

Namen Christi, wenn er also

Geiste durchdrungen ist,

der in mir wohnt,

Christ im

so betet der

mit Christo geeint und von seinem

daß er nicht von ihm selber redet, sondern

der Geist Christi, Christus selbst es ist, der die Bitte, welche er aus­

spricht, in ihm bewirkt (Galat. 2, 20). Man kann sich, was mit diesem Ausdrucke gemeint ist, annähernd wenn man sich vergegenwärtigt, was

derselbe be­

zeichnet, wo er auf andere Verhältnisse angewendet wird.

Allerdings

deutlich machen,

nur annähernd:

sofern keine sonstige Verbindung an Innigkeit und

vollkommner geistiger Durchdringung jemals unserm Verhältniß zu

Christo

gleich kommt. — Wann kann man sagen, daß ein Mensch

im Namen eines andern,

gewissermaßen als sein alter ego handle?

Wenn er a) im Auftrage und mit

Vollmacht des

andern,

b) in

dessen Angelegenheit und endlich c) auch in der Weise handelt, in welcher der andere verfahren würde, wenn er zur Stelle wäre.

Auftrag zum Bitten von Christo haben wir im allgemeinen in seiner Anweisung:

„Bittet, so wird euch gegeben" (Matth. 7, 7);

im einzelnen besitzen wir ihn in dem Maße, als es ein von Christo gewecktes Bedürfniß ist, welches uns zum Bitten treibt: Hunger und

Durst nach Gerechtigkeit, das brennende Verlangen nach Wahrheit, theilnehmende Liebe, christliches Erbarmen u. s. f.

Wo wirklich diese

und nur diese uns drängen, da tragen wir seine Vollmacht in uns.

Je mehr dagegen unser Gebet aus der Anhänglichkeit an der Welt und

uns

selbst

stammt,

um so

weniger wird

er sich

dazu be­

kennen. — Die Angelegenheit, um deren willen der Herr, in die Welt ge­ kommen ist,

und für die er auch uns thätig wissen will, ist das

Reich Gottes, und in demselben das Heil der Seelen. hiefür bitten, werden wir nie fehlbitten.

Wenn wir

Desgleichen nicht,

wenn

wir im einzelnen bitten, sei es für eine Thätigkeit, die wesentlich zum

Reiche Gottes gehört, sei es für eine, welche eine Vorbedingung für dasselbe bildet,

oder um die wesentlichen Unterlagen und nicht zu

Das Gebet im Namen Jesn.

entbehrenden Träger derartiger Thätigkeiten.

425

Nnr wird die Frage

sein, in wiefern solches in einem bestimmten Falle zutreffe.

Es ist

ja unbedingt nothwendig, daß das Reich Gottes gepredigt werde:

aber ist auch das nothwendig, daß du oder ein anderer bestimmter Mensch — heute — hier — predigen,

und daß eure Predigt den

von euch erwarteten und erbetenen Erfolg habe? Es könnte ja sein, daß der Herr wollte, daß ihr schweiget; oder auch, daß der diesmalige

Mißerfolg nöthig wäre, um künftige größere Erfolge vorzubereiten.

— Desgleichen, um für das Reich Gottes thätig zu sein,- braucht der Mensch eine gewisse Summe von Gesundheit, Kraft u. s. w.

Aber

wenn nun Gott beschlossen hat, uns und andere durch Leiden zu

vollenden, weil er weiß, daß das für unser Heil nothwendig ist, und weil er voraussieht,

daß wir durch unser Dulden kräftiger wirken

und mehr schaffen werden,

als durch vorstürmendes Thun?

Je

weniger der Christ über alles derartige, wenn er nicht vermessen sein will, von vorn herein Gewißheit bei sich haben kann: um so mehr hat er die Pflicht, in dem Maße, als seine Bitte in das einzelne

eingeht, daran zu denken, daß Gottes Wege doch wohl andere sein können, als er voraussetzt, und darum seinem Herrn auch in der

demüthigen Weise zu folgen, mit welcher dieser — der Sohn Gottes

— dergleichen Bitten ganz in den Willen und das Ermessen seines himmlischen Vaters stellte. „Ist es möglich, gehe dieser Kelch an mir vorüber, doch nicht, wie ich will, sondern, wie du willst" (Matth. 26, 39). — „Jetzt ist meine Seele betrübt, und was soll

ich sagen?

Vater, hilf mir aus dieser Stunde?

ich in diese Stunde gekommen.

Doch dazu bin

Vater, verkläre deinen Namen!"

(Joh. 12, 27.)

Solches Beten wird immer erhört.

Auch, wo dann der Kelch

nicht vorübergeht, wie er ja an Christo nicht vorüberging, tritt der

„Engel des Herrn zu uns, der uns stärkt" (Luk. 22, 43); tönt auch in uns die Stimme wieder: „ich habe meinen Namen verklärt, und

will ihn übermal verklären" (Joh. 12, 28).

Und diese Erhörung ist

unstreitig eine unvergleichlich höhere, als jede, auch die herrlichste

einzelne Gewährung sein würde oder auch gewesen ist. Das Einzelne, das den Moment erfüllt, geht mehr oder weniger mit dem Momente vorüber.

So groß die Gabe war, so unaussprechlich beglückt wir

Die Gnadenmittel.

426

3. Die Sakramente.

uns durch sie fühlten: der neue Tag bringt neue Bedürfnisse, erzeugt neue Bedrängniß, neue Noth.

Es ist natürlich und kann nicht an­

daß in solchem Falle zwar nicht der Dank und die Er­

ders sein,

innerung — gewiß nicht — wohl aber das Gefühl der Glückseligkeit

und

der

Befriedignng

gegen

die Empfindung

des

gegenwärtigen

Moments zurücktreten. Ja, nicht blos dies: sondern auch die Gaben

Gottes selbst, soweit sie zeitlich sind, bleiben nicht.

Lazarus, welchen

der Herr durch sein Gebet aus dem Grabe erweckte,

doch wieder

dem Grabe anheimgefallen.

Aeußerliches

und Zeitliches

„die

ist schließlich

Darum kann

auch kein

vollkommene Freude"

gewähren,

welche der Herr als den Erfolg des Gebetes in seinem Namen ver­

heißt. Nur, was der Mensch am inwendigen Menschen gewinnt, das bleibt und erzeugt in ihm, möge er nun das Aeußere dazu bekommen

oder nicht, die Freude, welche nicht wieder von uns genommen wird

(Joh. 16, 22; 15, 11). „Ich bin gewiß, .daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch

Fürstenthum noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,

weder Hohes noch Tiefes

noch keine andere Kreatur uns mag

scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist,

unserm

Herrn" (Nöm. 8,38. 39)').

Von den Sakramenten. I.

Der Begriff des Sakraments

ist erst von den christlichen

Gottesgelehrten aufgestellt worden, um darin gewisse religiöse Hand­

lungen zusammenzusassen. — Man versteht darunter: Heilige von Christo selbst eingesetzte Handlungen,

welche ein sichtbares Zeichen

und die Verheißung der Gnade haben. Also zuerst:

und Wein.

Handlungen; nicht Dinge, wie Wasser, oder Brot

Diese gehören wohl zum Sakrament und

dienen ihm,

9 Ueber Erhörmig des Gebetes siehe noch: Protestantische Kirchen-Zeitung, 1865 S. 841, und Worte der Verständigung (Berk. 1870, jetzt bet Ambros. Barth, Leipzig) S- 15!),

Begriff und Zahl in der evangelischen und katholischen Kirche.

aber sie

sind

nicht das Sakrament.

Die Firmung.

427

Sakrament ist vielmehr die

Taufhandlung, die Feier des Abendmahls.

Doch nicht jede religiöse Handlung (Eid, Predigt, Bestattung)

ist darum schon ein Sakrament, sondern nur solche, welche ein von Christo selbst eingesetztes Zeichen (das Eintanchen oder Besprengen mit Wasser; das Brechen, Geben, Essen des Brotes, das Dar­

reichen, Trinken des Kelches) und die Verheißung der Gnade haben. („Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden"; „zu meinem Gedächtniß" — „zur

Vergebung der Sünden.") Als solche von dem Herrn selbst eingesetzte Handlungen

II.

erkennt die evangelische Kirche nur die Taufe und das Abendmahl an.

Die römische Kirche dagegen hat jetzt sieben Sakramente (die

Siebenzahl ist erst im zwölften Jahrhundert festgestellt): nämlich außer Taufe und Abendmahl noch Firmung, Buße, Priesterweihe,

Ehe und letzte Oelung. — Doch ist der Unterschied insofern nicht

ganz so groß, wie er aussieht, als einerseits die evangelische Kirche die meisten der von der römischen Kirche für Sakramente gehaltenen

Handlungen gleichfalls hat, auch im übrigen kcineswcges.das Sinn­ volle ,

unter

Umständen

Abrede stellt, nur,

Erbauliche

der sonstigen

Gebräuche

in

daß sie dieselben nicht als Sakramente gelten

läßt: andererseits auch die römische Kirche unter ihren sieben Sa­ kramenten doch wieder einen Unterschied der Werthschätzung macht,

und insbesondere Taufe und Abendmahl über die übrigen hervor­ hebt. —

A.

Die Firmung wird von dem Bischöfe ertheilt, indem er

mit den Worten:

salutis“

den

„signo te signo crucis ct consirmo te chrismate

„Firmling"

mit dem geweihten Oel (Chrisam)

Kreuzesform an der Stirn salbt,

in

und ihm sodann einen leichten

Backenstreich giebt, zum Zeichen, daß er bereit sein solle, fortan die Schmach Christi zu tragen.

Zweck und Bedeutung dieses Sakra­

mentes soll Stärkung des Glaubens und Mittheilung des h. Geistes

sein; die Einsetzung desselben auf Apostg. 8, 14 f. beruhen. Die evangelische Kirche findet in diesem einmaligen Vorgänge

keinen göttlichen Befehl und dauernde Einsetzung; vermag überdies nachzuweisen, daß Ausgießung des Geistes „ganz, wie auf die Apostel",

Die Gnademnittel. 3. Die Sakramente.

428

ohne Firmung, ja selbst noch vor Vollziehung der Taufe vorgekom­

men, und dann wohl noch diese, keineswegs aber auch die Firmung was

oder,

derselben

(Apostg. 10, 44—48). Handlung,

ähnlich

ausgesehen,

nachgeholt

worden

sei

Sie selbst sieht in ihrer Konfirmation eine

in welcher einerseits

der Confirmand

öffentlich

seinen

Glauben bekennt, andererseits auf solches Bekenntniß die Gemeinde ihn im Namen des Herrn unter ihre vollberechtigten Glieder auf­ nimmt, und in solcher Weise beiderseits — von Seiten des Confir­

manden,

wie von Seiten des Herrn — der Tanfbund,

dem Kinde geschlossen war, besiegelt und bekräftigt wird.

der über Nirgends

zeigt sich übrigens so sehr, wie wenig der Name zur Sache thut, als bei dieser Handlung, welche trotz des fehlenden Namens in der evan­

gelischen Kirche unzweifelhaft viel höher gehalten und ernster gehand­ habt wird, als es in der römischen Kirche mit dem Sakrament der

Firmung geschieht: sofern wir die Konfirmation stets nur nach gründ­ licher Unterweisung und nicht vor dem vierzehnten Jahre vollziehen,

während dort die Jugend schon nach

dem vollendeten elften Jahre

gefirmt werden kann.

B.

In Bezug auf die Buße haben die Evangelischen anfangs

geschwankt,

ob sie dieselbe nicht auch zu den Sakramenten zählen

sollten; ein neuer Beweis, wie wenig festbegränzt der Begriff Sa­

krament, und wie nothwendig es ist, jede dieser Handlungen, auch

Taufe und Abendmahl, für sich zu betrachten. — Abgesehen von dem Namen, war indeß und ist auch geblieben der Unterschied, daß die

evangelische Kirche das Wesen der Buße in Reue und Glauben setzt, die römische Kirche dagegen außer der Reue noch das spezielle Sün-

denbekenntniß vor dem Priester (die Ohrenbeichte) und die Ausfüh­

rung der von demselben auferlegten Büßungen und sonstigen guten Werke verlangt').

1. Die Ohrenbeichte hat ihren Namen von der Weise, wie das

Beichtkind dem Beichte sitzenden Priester (Beichtvater) die Beichte in das Ohr ablegt. — Das Wesentliche an ihr ist, daß nach der Satzung

der römischen Kirche jeder katholische Christ gehalten ist, wenigstens

]) Contritio cordis, confessio aris, satisfactio operis. Nach dieser Lehre soll auch schon die bloße adtritio, d. i. der Wunsch, Neue zu haben, statt der wirk­ lichen Reue genügen. —

Die Ohrenbeichte.

429

einmal im Jahre dem Priester seine Sünden zu bekennen und ein­

zeln

aufzuzählen. — Die evangelische Kirche verwirft einstimmig

diese Einrichtung mit dem lebhaftesten Abscheu; weil dieselbe, abge­

sehen von der Tyrannei über die Gewissen,

ermöglicht,

welche sie

eine wahre Marter für zarte Gewissen ist (denn wer kann merken,

wie oft er fehlet? Ps. 19, 13); während andrerseits die Mehrzahl der

Beichtenden

durch

sie verleitet wird,

sich mit dem Bekennen

der

alleräußerlichsten und oberflächlichsten Dinge und einer entsprechen­

den Erkenntniß der Sünde abzufinden. 2.

In diesem Sinne hat auch die lutherische Kirche anfänglich

die Beichte ganz freigelassen,

und erst später „um des rohen und

ungeschlachten Haufens willen" die Privatbeichte wieder als kirch­

liche Ordnung eingeführt.

Nach

dieser Einrichtung soll

niemand

zum Abendmahl zugelassen werden, welchen nicht der Pfarrer vorher „verhört" und absolvirt hat: so jedoch, daß niemand gehalten wäre, seine Sünden aufzuzählen;

sondern jeder nur das beichte,

er Gewissensbeschwerde empfände.

werden soll, vermag,

So wenig

den eine solche Zucht

auf rohe Gemüther auszuüben

noch auch die Handreichung,

haften Gemüthern gegeben ist,

worüber

der Segen verkannt

die in dieser Ordnung zag­

die ohne eine derartige Nöthigung

trotz des Bedürfnisses, ihr Herz auszuschütten, niemals dazu gelan­

gen:

so überwiegend sind die Bedenken,

welche vom

Standpunkte auch der Privatbeichte entgegen stehen. sprache und unumwundene Darlegung

evangelischen

Eine solche Aus­

des Herzenszustandes

setzt,

wenn sie sittlich sein soll, ein persönliches Vertrauen voraus, welches

nicht von Amts wegen gefordert werden kann; am wenigsten in der evangelischen Kirche, deren Diener

Menschen:

nicht „Priester" sind, sondern

Männer, Jünglinge, Greise.

Aber

auch

das innigste

Vertrauen vorausgesetzt, vermag der Mensch, und zwar, je wahrhafter

er ist, und je tiefer er empfindet, um so weniger, sich nicht zu jeder Stunde und auf die bestimmte Minute ausführlich über sich auszu­

lassen, sein Herz auszuschütten.

Wie man ja selbst Gott gegenüber

vielfach nur in unaussprechlichen Seufzern zu reden im Stande ist

(Röm. 8, 26). — Die Folge davon ist, daß die Privatbeichte in den meisten Fällen zur bloßen Formalität herabsinkt, in andern dagegen

zu.einem unleidlichen Zwange wird:

der Indiskretion,

so wie der

Die Gnndemmttel.

430

3. Die Sakramente.

Ueberhebung „von Amts wegen", zu der sie Veranlassung giebt, nicht

zu erwähnen.

3.

Aus diesen Gründen hat die unirte evangelische Kirche als

kirchliche Ordnung nur die allgemeine Beichte: in welcher die gesammte Gemeinde — mit dem Prediger — Gotte ihre Sünden in einem gemeinsamen, alle Besonderheiten umfassenden Sünden­

bekenntnisse beichtet: mit der Maßgabe, daß solche, welche noch einer besonderen Aussprache auch vor dem Geistlichen begehren, eingeladen

werden, sich an ihn zu wenden, welcher vermöge seines Amtes be­

reit sei, ihnen nach Kräften dienen.

mit seinem Rathe und Troste zu

der Freiheit, der Wahrhaf­

Hier ist allen Erfordernissen:

tigkeit, der Fürsorge für Geängstete und Angefochtene genügt; hier endlich auch die Vorschrift, Jak. 5, 16: seine Sünde!" verstanden.

„Bekenne einer dem andern

„Einer dem andern!"

Unsere natürlichen

Beichtväter sind unsere Eltern, Gatten, Geschwister, Freunde: und

nur, wenn sie jenes sind, sind alle diese Verhältnisse christlich gehei­ ligt.

Nur, wo einer so einsam im Leben steht, daß er sonst nieman­

den hat, vor dem er

in brüderlichem Vertrauen sein Herz auszu­

schütten vermöchte, oder der seine Zweifel u. s. w. lösen kann: da ist

er darauf gewiesen und hat das Recht sich an den Geistlichen als an den erfahrenen Bruder in Christo zu wenden,

und dieser hat

die Pflicht, ihm mit seiner Erfahrung zu dienen!

Mit der Beichte ist noch die Absolution oder Lossprechung ver­ bunden.

Der römische Priester ertheilt dieselbe als „Richter" über

die Sünde an Gottes Statt: so, daß, wen er losspricht, der ist von

seiner Sünde los;

wem er dagegen die Absolution verweigert, über

dem bleibt die Schuld. — Die

evangelische Kirche bescheidet sich

selbstverständlich, „die Gnade Gottes und die Vergebung der Sünden

— Bußfertigen — zu

gung, vorausgesetzt,

verkünden".

Doch ist diese Verkündi­

daß die Bedingung erfüllt wird, unter Oer sie

nach dem Gebote und der Verheißung des Herrn geschieht, nicht minder,

sondern wohl

in einem höheren Grade kräftig,

Ueberhebung. — In der lutherischen Kirche

und auch neuerdings wieder,

als jene

hat man ab und zu,

um die Zuversicht der Empfangenden

zu mehren, volltönendere Formeln der Lossprechung gewählt,

als:

„Im Namen und anstatt des Herrn Jesu spreche ich dir Vergebung

Priesterweihe. Ehe. Letzte Oelung. deiner Sünde zu", und Aehnliches.

431

Aber die großen Worte thun es

nicht: sondern Glaube und Geist, als die allein die rechte Zuversicht

schaffen. soll:

Wo es aber wirklich der Spruch des Geistlichen thun

da ist man ganz wieder vom evangelischen Glauben in den

Aberglauben gesunken, vergl. S. 393 u. f. —

C.

Das Sakrament der Priesterweihe. Da die römische Kirche

in dem Abendmahle nicht blos eine Kommunion, sondern auch ein Opfer sieht, welches sie täglich Gott darzubringen hat: so bedarf sie

auch dazu eines mit besonderen Kräften ausgerüsteten Priesterstan­

des. — Sie gewinnt denselben durch ihre „von den Aposteln her in ununterbrochener Succession der Bischöfe sich fortpflanzende

Weihe", welche in 7 Graden (4 niederen und 3 höheren, Subdiakonat,

dem

dem Diakonat und dem Presbyteriat) aufsteigend in

dem Sakrament der Priesterweihe gipfelt.

Der katholische Priester

erhält durch dieselbe „eine zwiefache Gewalt:

1. über den wahren

und eigentlichen Leib Christi, um nämlich Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi zu verwandeln.

2. über den geistlichen

Leib Christi, oder über die Gläubigen der katholischen Kirche, um dieselben von ihren Sünden loszusprechen." — Die Weihe drückt

dem Geweihten einen unzerstörbaren Charakter höherer Heilig­ keit auf, so daß auch der unwürdigste Priester die Macht hat und ungeachtet aller sittlichen Verirrungen behält,

gleich. dem sittlich

reinsten die Wandlung zu vollziehen und an Gottes Statt von Sün­

den loszusprechen. Zu bemerken ist noch,

daß die weiteren Weihen zum Bischof

u. s. w. kein besonderes Sakrament sind, sondern als „die Fülle und der Höhepunkt des Sakraments der Priesterweihe" angesehen werden.

Sodann: daß die „Kleriker" vom Subdiakonus Leben (dem Coelibat) verpflichtet sind. —

an zum ehelosen

Die evangelische Kirche kennt weder Priester noch einen beson­

deren geistlichen Stand (eierns), und darum auch keine Priester­

weihe. Sie begnügt sich, zu ihren Aemtern, in Sonderheit dem Predigtamte in feierlicher Weise durch Gebet und Handauflegung ab­ zuordnen (zu ordiniren); behält sich überdies vor,

jedes derselben,

wo die Bedingungen einer gesegneten Amtsführung aufhören, wieder.

zurückzunehmen. — Wegen dieser fehlenden „Weihe" will die römische

Die ©nabenmittel.

432

3. Die Sakramente.

Kirche die „Diener am Worte" der evangelischen Kirche nicht für

voll anerkennen, verweigert ihnen den Namen der „Pfarrer" und weiß nur von lutherischen u. s. w. „Prädicanten" zu reden.

Aber

die Geschichte hat langst entschieden, wo die größere Würde und Weihe des Geistes sei; und das evangelische Volk hält seine evange­

lischen „Prediger", die ihrem Amte wohl vorstehen, sehr hoch.

Mit

um so größerer Abneigung und unverhohlener Mißachtung blickt es dagegen auf die,

welche den Mangel an innerer Würdigkeit durch

äußere Salbung ersetzen möchten, oder als lutherische u. s. w. Pfarrherrn hierarchische Gelüste entwickeln. —

D. Die Ehe ist gewiß von Gott eingesetzt und von Christo ge­

heiligt. Sie ist jedoch keine einzelne Handlung, sondern eine das ganze Leben umfassende Verbindung zweier Menschen, zu deren vollgültigem (sakramentalem) Abschluß gerade nach römischer Lehre

nicht einmal die priesterliche Einsegnung nöthig ist. —

E. Das Wesentliche bei der letzten Oelung ist, daß der Priester

dem Kranken, nachdem er ihm Beichte gehört und das Abendmahl (die ,,Wegzehrung") gereicht hat, beide Augen, die Ohren, die Nase, die Lippen, die Hande, die Füße, als äußere Werkzeuge der Sünde,

mit dem geweihten Oele in Kreuzesform salbt und dazu spricht:

„durch diese heilige Oelung vergebe dir der allmächtige Gott, was du immer durch das Gesicht, durch das Gehör, den Geruch, den Ge­

schmack und die Rede, durch das Gefühl, durch den Gang gesündigt hast, im Namen des Vaters, des Sohnes und des h. Geistes.

Amen!" — Die Kraft dieses Sakramentes, dessen Stiftung durch Christus Mark. 6,13 „angedeutet," und welches später durch den

Apostel Jakobus (5, 14. 15) den Gläubigen „anempfohlen" und „bekannt gemacht" worden sein soll, besteht nach der römischen Lehre darin, daß es

die dem Kranken selbst unbekannten und ver­

gessenen Sünden austilgt, die Ueberbleibsel und die Strafen der Sünde verringert oder ganz auslöscht, die Seele stärkt, und die Gesundheit

des Leibes — sofern es dem Heile des Kranken ersprießlich ist, — wieder bewirkt. —

Die evangelische Kirche erkennt den Ernst an, mit welchem die römische Kirche ihre Sterbenden auf den Tod vorbereitet (sie selbst

giebt bekanntlich ihren Kranken das Abendmahl), leugnet auch nicht

Wirksamkeit und Bedeutung der Sakramente.

433

das Sinnvolle und Erweckliche des einen oder anderen jener römischen Gebräuche; aber sie bestreitet deren Einsetzung von Christus und

die ihnen zugeschriebene Kraft; findet endlich auch die Berufung auf Jak. 5, 14. 15 durchweg als auf einem Mißverständniß und unrich­ tiger Uebersetzung beruhend.

Oel war schon im Alterthum eine

Arznei; und Salben mit Oel wurde namentlich in der ersten Christen­ heit häufig angewendet als Mittel jener wunderkräftigen Heilungen, von deren Vorkommen die heilige Schrift erzählt (1 Kor. 12, 9).

Der Rath des Apostels geht also dahin, daß, wo jemand erkranke,

er Hülfe suche sowohl für den Leib, wie Zuspruch für die Seele, bei denen, welchen Gott in dieser Beziehung Gaben gegeben.

„Er

rufe zu fich die Aeltesten d. h. entweder die Vorsteher oder die Greise, die Erfahrenen der Gemeinde (beides kommt in diesem Falle aus

dasselbe hinaus) u. s. w., nicht aber, wie die römische Kirche über­ setzt: „die Priester der Kirche". — III.

Noch wichtiger, als die verschiedene Zahl der Sakramente,

ist der Unterschied, welcher zwischen den beiden Kirchen in Beziehung

auf die Wirksamkeit der Sakramente stattfindet.

Nach römischer Lehre

„enthalten" die Sakramente die Gnade, und „bewirken" deshalb

auch mit Nothwendigkeit das Heil, sobald sie nur richtig (rite) voll­ zogen werden: unabhängig von dem subjektiven Zustande des Em­ pfängers. Oder die Sakramente wirken „ex opere operato“. —

Andererseits sind sie zum Heile unbedingt nothwendig, so daß nie­ mand ohne Sakrament durch den bloßen Glauben selig wird. —

Die evangelische Kirche sieht in den Sakramenten nur Mittel des Heils, welche dem Empfänglichen die Gnade „mittheilen" und zuführen.

Ohne den Glauben des Empfängers wirkt das Sa­

krament nichts; während, wo das Sakrament nicht erlangt werden

kann, auch schon der bloße Glaube zur Seligkeit genügt.

„Denn

nicht die Abwesenheit, sondern die Verachtung des Sakramentes schadet." — Von allem diesem kann die evangelische Kirche nicht das

Mindeste nachlassen.

Eher könnte sie sich entschließen, noch eine oder

die andere Handlung als Sakrament anzuerkennen, wie sie nach dem Früheren hinsichtlich der Buße in dieser Beziehung anfänglich ge­ schwankt hat, als daß sie jemals die magische d. h. die von dem Glau­

ben des Empfängers gelöste Wirksamkeit der Sakramente zugestände. Eitester. Materialieu. 2. Auftage. 28

Die Gnademmttel.

434 IV.

3. Die Sakramente.

Bedeutung und Wichtigkeit der Sakramente. — Die Sa­

kramente sind sinnbildliche Handlungen, welche einen inneren Vor­ gang auf sinnensällige Weise darstellen, und dadurch den Glauben

kräftig anregen, stärken und des Heiles gewiß machen. — Sie sehen

das „Wort Gottes" voraus, und werden von demselben gewisser­ maßen getragen: sofern ohne die Predigt des Wortes Gottes niemand

weder den Vorgang, den sie abbilden, noch die Verheißung, die an

sie geknüpft und welche der eigentliche Gegenstand des Glaubens ist, nur verstehen würde *). — Sie theilen auch kein anderes und höheres Heil mit, als welches durch das Wort zugeführt wird,

sondern bieten dasselbe Heil nur

auf eine andere Weise bar8). — Aus diesem Grunde vermag der Herr auch ohne sie durch das

bloße Wort selig zu machen'). — Deshalb wird auch kein Evan­ gelischer die Quäker für Nichtchristen und für des Heils verlustig

erachten, welche bekanntlich weder Waflertaufe noch äußere Feier des Abendmahls haben, weil sie meinen, Christus habe in diesen Hand­ lungen nur den in ihnen abgebildeten inneren Vorgang darstellen

und mit besonderem Nachdruck einschärfen wollen; die äußere Wieder­ holung dagegen habe er eben so wenig,

wie bei der Fußwaschung,

geboten (Joh. 13, 14). — Aber eben so wenig wird auch ein der

Schrift und des menschlichen Herzens kundiger Evangelischer sich

durch ihr Beispiel verleiten lassen, die äußere Wiederholung zu unter­ lassen, und die Sakramente für gleichgültig oder überflüssig zu halten. 0 Matth. 28, 19. 20.

„Gehet hin in alle Welt und lehret (wörtlich über­

seht: „machet zu Jüngern." Dem Sinne nach kommt es auf dasselbe hinaus.) alle Völker und taufet sie — und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen

habe." 2) Christus spricht (Matth. 9, lf.):

„deine Sünden sind dir vergeben."

Er

gebietet desgleichen seinen Aposteln (Luk. 24, 47), „in seinem Namen Buße und Vergebung unter allen Völkern zu predigen". „Wo aber Vergebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit" (Luther im fünften Hauptstück). 3) Luther's Rath: so .jemand das Sakrament nicht nach der Einsetzung Christi

erlangen könne, sich desselben lieber zu enthalten. Sein Trost: wenn der Priester einem das Abendmahl verweigere, sich des nicht zu sorgen. Mit einem solchen werde der Herr das Abendmahl geistlich halten. — In der alten Kirche galt die Btuttaufe (der Märtyrertod) für einen vollen Ersatz der Wassertaufe, so außer­ ordentlichen Werth man auch auf letztere legte.

435

Wirksamkeit und Bedeutung der Sakramente.

Es ist ja richtig, daß ein Vater seinen Sohn segnen, und der Sohn an den Segen des Vaters glauben kann, ohne daß ihn der Vater gerade

an

das Herz drückt oder die Hand auf sein Haupt legt.

Aber es

ist ebenso unbestreitbar in der untheilbaren Natur des Menschen be­ gründet, daß der Vater die Fülle seiner Liebe auch in dieser Weise

ausdrücke, und der Sohn ob derselben doppelt froh werde.

hört es

wesentlich

Verständniß

So ge­

zur Vöüigkeit der Liebe Christi und zu seinem

der menschlichen Natur,

daß

er seine Liebe auch in

diesen Zeichen, gewissermaßen seinem Händedruck und Kuß, dargestellt

wie es zur Vöüigkeit unserer Liebe zu ihm gehört,

hat;

daß uns

nach solcher Besiegelung und Bekräftigung seiner Liebe verlange. —

Kurz:

Unbedingt nothwendig zum Heile sind die Sakramente aller­

dings nicht, aber sie tragen ein Außerordentliches zur Belebung und

Kräftigung unserer christlichen Frömmigkeit bei; oder, wenn man den Ausdruck gestatten will:

die Sakramente machen zwar nicht selig,

aber sie machen fröhlich — in dem Herrn.

V.

Die Wirksamkeit und

Sakramente läßt sich

in

außerordentliche Bedeutsamkeit der

anderer Weise auch so zur Anschauung

bringen. — Festzuhalten ist,

daß diese Wirksamkeit

durchaus auf

der Wirksamkeit des Wortes beruht; selbstverständlich nicht des ge­ druckten,

der Bibel,

die etwa auf dem Tische liegt;

auch nicht der

einzelnen Rede oder Predigt, die bei Verwaltung des Sakramentes gerade gehalten wird;

wirkenden Spruches.

am allerwenigsten irgend welchen zauberhaft

Sondern

des „Wortes,

das im Anfang war

und Fleisch geworden ist und der Christenheit gepredigt wird". Ohne dieses Wort sind die Sakramente leere Zeichen: mit ihm

und durch dasselbe werden sie Sakramente, Mittel, das auszuwirken, was sie bezeichnen.

Dem Brennspiegel gleich, der ohne Sonnenlicht

Spiegel ist; in dem aber und durch welchen, wenn die Sonne scheint, die Sonnenstrahlen sich concentriren unh zünden.

Entzündbares da ist.

Freilich nur, wo

Denn Felsen zündet auch der kräftigste Brenn­

spiegel nicht an. — Die entsprechende Concentrirung der an sich kräftigen Wirkung des

Wortes zu verstärkter Wirksamkeit im Sakrament beruht nun darauf:

1.

Daß das Wort im Sakrament an jeden besonders ge­

richtet wird: „Dir gilt's."

Die Gnadenmittel.

436 2.

Daß in

3. Die Sakramente.

dem Sakramente der ganze Mensch nach seiner

leiblichen und geistigen Seite angefaßt wird. 3.

Daß, wie bereits oben angedeutet wurde, das Zeichen der

Ersatz für die leibliche Berührung, Händedruck, Gruß und Kuß, und,

weil nun auch diese Wirksamkeit hinzutritt, das Sakrament gewisser­ maßen die Fortsetzung der persönlichen Wirksamkeit Christi ist.

Ins­

besondere das Abendmahl ist in diesem Sinne „Leib des Herrn". 4.

Daß solcher Wirksamkeit des „Wortes" im Sakramente ge­

genüber auch der das Sakrament Empfangende sich energischer, als

es der Regel nach sonst geschieht, zusammenfaßt und in seinem Be­ wußtsein, wie in seinem Willen, als „Glied am Leibe Christi", als

Christ erfaßt.

Das ist die große Bedeutung der ihrer Idee nach

nur einmal zu vollziehenden Taufe, beziehungsweise der Konfirmation: daß ähnlich, wie der Mensch, indem er zum ersten Mal „Ich" sagt,

damit zu einer höheren Stufe des Bewußtseins

Person wird,

also in geistlicher Beziehung

Kreatur in „Christo", indem

emporsteigt und

der Mensch,

die neue

sie mit ihrem „ich glaube" aus sich

heraus in die Gemeinde tritt, sich als christliche Persönlichkeit

ergreift und als solche auch von den andern erkannt und anerkannt wird.

Allerdings ist dieses „Person werden in Christo" nicht unbe­

dingt an Taufe und Konfirmation gebunden.

Es werden diese Hand­

lungen leider oft genug vollzogen, ohne daß sie „zünden".

Anderer­

seits kann der Herr (— „Weg' hat er allerwegen" —) es sehr wohl in anderer Weise und

durch andere Führungen bewirken, daß ein

Mensch auch, ohne getauft und confirmirt zu sein, mit voller Klar­ heit und Stärke des Bewußtseins spricht: „Ich bin ein Christ", und:

„ich will mich als solchen erweisen." Mißverständnisse sein,

ohne Taufe,

die

Trotzdem könnten es nur

einen solchen abhielten, dasjenige, was

beziehungsweise Einsegnung in ihm entstanden,

durch

dieselben nachher zu versiegeln und vor der Gemeinde zu bekräftigen. — Das Nähere wird sich bei der Besprechung der einzelnen Hand­

lungen der Taufe und des Abendmahls ergeben. —

Das vierte Hauptstück. Von der Taufe. I.

Auf die Frage:

techismus:

„was ist die Taufe?"

antwortet

„die Taufe ist nicht allein schlecht Wasser,

der Ka­

sondern das

Wasser, in Gottes Gebot gefastet und mit Gottes Wort verbunden." Darin liegt zweierlei: Zuerst, daß die Taufe keine menschliche

Erfindung, sondern eine göttliche Einsetzung sei;

all' den Segen in

sich

und darum auch

tragen könne, den Gott in sie gelegt habe.

Zum andern: daß sie, um diese göttliche und himmlische Wirkung zu entfalten, ihrer Einsetzung gemäß mit „dem Worte Gottes verbunden"

sein müsse.

In beider Beziehung wird hingewiesen auf die Stelle

Matth. 28, 19. 20, in welcher ebenso der Befehl Christi:

hin in alle Welt und lehret alle Völker und des Vaters,

„Gehet

taufet sie im Namen

des Sohnes und des heiligen Geistes" berichtet wird,

als auch das „Wort Gottes" angegeben ist, in welchem alle Hei­

den unterrichtet werden, und

das solcher Gestalt immer mit dem

Taufen „verbunden" sein und bleiben soll: nämlich das Evangelium

von Christo, dessen Gesammtinhalt der Herr in

dem kurzen Aus­

drucke: im Namen des Vaters u. s. f. zusammenfaßt. — Dieses Sachverhältniß wird vielfach übersehen.

Uralt schon ist

die Meinung, daß dazu, daß eine Taufe Taufe sei, es genüge, wenn bei der übrigens richtig und mit der Absicht, zu taufen, vollzogenen

Handlung eben nur die Worte gesprochen werden.

In

„Im Namen

des Vaters" u. f. w.

diesem Sinne „taufen", wie erzählt wird,

Die Gnadenmittel.

438

3. Die Sakramente.

A. Die Taufe (4. Hauptstück).

hie und da römische Missionare ohne irgend welchen Unterricht Kin­ der und Erwachsene, indem sie dieselben, die häufig zu ganz andern Zwecken, z. B., um geheilt zu werden, zu ihnen kommen, verstohlener

Weise, Arznei,

der Seligkeit theilhaftig

„in nomine Dei

dazu sprechen:

mit Wasser benetzen und

patris, filii et Spiritus sancti“.

und

das eben sei die begehrte

unter dem Vorgeben,

oder auch

Und meinen sie dadurch zu Christen

gemacht

zu haben!

Aehnlich wissen

auch Evangelische vielfach von keiner andern Kraft der Taufe, als, welche in diesen heiligen Lauten liegt.

Aber aus dem Katechismus

selbst ist klar, daß „mit und bei dem Wasser" nicht bloße „Laute", nicht einmal nur „Worte", d. h. einzelne „Sprüche",

sondern „das

Wort" d. h. die gesammte Heilswahrheit oder das Evangelium von

Christo sein muß; in welchem Worte der zu Taufende entweder schon unterwiesen ist,

oder

das ihm

mindestens mit der Taufe zugleich

entgegenkommt und auf eine solche Weise an ihn gebracht wird, daß

auch er an den Herrn Christum

glauben,

auch begreifen und ver­

stehen kann, auf welchen Vater und welchen Sohn und welchen Geist er getaufet und in den Bund seiner Gnade ausgenommen sei oder ausgenommen werde.

Ohne

diese Unterweisung, „dieses Lehren"

das — „mit

im Christenthum,

dem Wasser verbunden" oder „mit

und bei dem Wasser ist" und als eine Macht des Herrn hinter der Taufe,

auch hinter der Taufe der Kinder steht, ist bei derselben

überhaupt kein Wort, geschweige Wort Gottes, sondern eitel leerer Schall; und ist darum auch „das Wasser schlecht Waffer und keine

Taufe":

sondern eine bloße Ceremonie und

gräulicher Mißbrauch,

welcher höchstens noch durch den äußeren Pomp und den feierlichen

Ernst,

der immerhin auch

bei

solchem Taufen sein kann, einigen

Eindruck, nur keinen Heilseindruck, hervorzubringen vermag. —

Was bürgt denn nun dafür, Taufe sei, und

daß dieses „Wort" hinter einer

diese dadurch aus dem „Taufen mit Wasser"

zu

einer Taufe „mit Feuer und heiligem Geiste" werde? (Matth. 3, 11.) Was hat gemacht,

sich

als

daß unsere, eure Taufe eine rechte war und

solche kräftig erwiesen hat?

Antwort:

die christliche Ge­

meinde, „die gesammte Christenheit auf Erden", so mit und bei und hinter eurer Taufe war und ist; in deren Wirkungskreis ihr gleich bei eurer Geburt eingetreten seid, die euch aber in der Taufe aus-

439

Bedeutung der Taufe im allgemeinen.

drücklich ihre Hand entgegenreichle, und mit derselben die Unterwei­ sung, die „Zucht und Vermahnung im Herrn", begann, die, in dem durch Schule und Prediger-Unterricht euch bis

Hause anfangend,

hierher begleitet hat, und nicht eher beendet werden wird, als bis

ihr „alles gelehret seid, was der Herr seinen Jüngern befohlen hat" (Matth. 28, 20). Das ist die Wahrheit derjenigen Auffassung, welche die Be­

deutung und Kraft der Taufe vornehmlich darin setzt, daß dieselbe

das Zeichen des Eintritts und der Aufnahme in die christliche Ge­ meinde sei.

Die Taufe Christi ist wohl mehr: Entgegenbringung,

Siegel und Unterpfand der göttlichen Gnade.

Gottes Handschlag

vom Himmel her, daß er will unser Vater sein, und wir sollen seine

Kinder heißen; die Hand, die uns Christus entgegenstreckt, und die uns ergreift,

um diese Verheißungen zu verwirklichen.

Aber sie ist

und wirkt alles dieses doch nur, sofern sie jenes erstere auch ist.

Der Herr wirkt in seiner Gemeinde. meinem Namen beisammen sind,

„Wo

zwei oder

drei

in

da bin ich mitten unter euch"

(Matth. 18, 20). Die Taufe ist die Thür, durch welche man zur Kirche eingeht.

Bei einer Thür kommt alles daraus an, wer und was hinter der Thür ist.

Auf dem Theater seht ihr auch Häuser, prächtig zu schauen, mit goldenen Portalen und prunkenden Inschriften.

Aber wenn man ein­

tritt, so ist hinter der Pforte dasselbe, was vor ihr war — Bretter! — Die Taufe ist nur dann kein Schauspiel, wenn hinter ihr nicht

wieder nur „Welt", sondern eine Christengemeinde, — ein „HauS Gottes" — und wenn auch nur von zwei oder dreien, ist.

Dann

aber ist hinter ihr auch der Herr, und sie führt zu ihm. — Danach ist auch die Frage nach der kirchlichen Gültigkeit der

Taufe zu beantworten.

In der Regel wird dieselbe danach entschie­

den, ob außer den sonstigen, schon früher angedeuteten, Erforder­

nissen: nämlich der Absicht, zu taufen, und dem Taufen mit Wasser,

die herkömmliche,

angeblich von dem Herrn selbst befohlene, Tauf­

formel: im Namen des Vaters u. s. w. gebraucht worden ist.

Und

allerdings muß darauf gehalten werden, daß der bei der Taufe zur Anwendung kommende Spruch, das ist eben die „Formel", die Taufe

440

Gnadenmittel.

3. Die Sakramente.

A. Die Taufe (4. Hauptstück).

klar und bestimmt als Taufe und zwar als Taufe Christi bezeichne.

Ein Taufen auf den Namen Friedrichs des Großen,

wie

es im

vorigen Jahrhundert vorgekommen sein soll, ist nicht bloß eine Läste­ rung, sondern auch eine Albernheit.

zu nennen,

Eben so wenig wäre es Taufe

wenn einer etwa auf den Namen der Freiheit und der

Gleichheit und der Brüderlichkeit oder der allgemeinen Menschenliebe

und dem Aehnliches taufen wollte.

Weiter ist ja auch, wo wir der

oben gedachten herkömmlichen Formel begegnen, begründet,

daß eine Gemeinde,

die Vermuthung

welche sich derselben bedient,

den

Willen habe, an Christi Wort zu halten und dasselbe zu lehren.

Dessenungeachtet wird man doch nicht ausschließlich nach der Weise,

wie getauft wird, entscheiden dürfen, sondern wird sich die Gemeinde

selbst anzusehen haben.

Taufe gültig,

Ist diese eine christliche, dann ist auch ihre

auch wenn dieselbe nicht mit der jetzt allgemein ge­

bräuchlichen Formel,

sondern, wie die älteste Christenheit,

„auf den Namen Christi"

taufte (Apostg. 10, 48),

einer dasselbe besagenden Formel bediente.

einfach

oder sich sonst

Denn in der That

sind ja mehrere Formeln denkbar, wie beim heiligen Abendmahl

wirklich mehrere vorkommen '),

obschon niemand ohne Noth an der

gebräuchlichen uralten wird ändern wollen.

Wo wir dagegen eine

Gemeinde nicht als christliche anzuerkennen vermöchten,

da würden

wir auch nicht deren Taufe anerkennen können, und wenn sie der nnsrigen bis auf den Buchstaben gliche. — Was der Katechismus in Frage 3 von der Wirkung der Taufe

sagt, ist nicht genau geredet.

Es wird darin der Taufe zugeschrie­

ben, was einerseits nur Christo oder dem Geiste Christi, als dem bewirkenden, andererseits dem Glauben, als dem empfangenden und ergreifenden,

zukommt.

Wie es denn auch in der Erklärung des

zweiten Artikels ausdrücklich heißt: „ich glaube, daß Christus mich erlöset hat,

erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tode

’) Die unirte: I. Christus spricht: „Nehmet hin und esset, das ist mein Leib u. s. f." Die lutherische: „Nimm hin und iß, das ist der wahre Leib ii. s. w."

Die reformirte: „Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Der Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi?" (1 Kor. 10, 16.) Die uralte, tief ergreifende. Geistlicher: „Leib des Herrn!" Communicant: „Amen!" Geistlicher: „Blut des Herrn!" Communj-

cant: „Amen!"

441

Bedeutung der Taufe im allgemeinen.

und der Gewalt des Teufels"; und im dritten: „ich glaube, daß der

heilige Geist mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergiebt" u. s. f.; — wie endlich an unserer Stelle selbst

auf den

Glauben hingewiesen, vollends in dem dazu als Beleg angeführten

Worte Christi der ganze Nachdruck aus den Glauben gelegt, insbe­

sondere das „Verdammtwerden"

nicht an

das Nichtgetauftwerden,

sondern lediglich an das Nichtglauben geknüpft ist.

Luther hat hier

eben nur der Kürze wegen also geredet, um anzudeuten,

daß die

Taufe kein leeres wirkungsloses Zeichen fei, sondern allerdings eine Kraft habe, was nach dem vorher Auseinandergesetzten, so wie nach dem,

was bei den Sakramenten ausgeführt worden ist,

niemand

in Zweifel ziehen wird.

auch wohl

Scharf ausgedrückt müßte es

heißen, die Taufe bilde das Heil in Christo ab, bringe es wirksam entgegen (helfe es auswirken)') und mache desselben gewiß.

Alles

dieses natürlich unter der Voraussetzung, daß sie eine Taufe in dem

oben ausgeführten Sinne sei, andererseits,

daß solchem Taufen in

dem Empfänger Empfänglichkeit d. i. Glaube entgegenkomme.

Wie

das der folgende Abschnitt (Frage 5), der nach dem allem nun wohl

keiner weitern Erörterung mehr bedarf,

so vortrefflich

hervorhebt:

„Wasser thut es freilich nicht, sondern das Wort Gottes, so mit und

bei dem Wasser ist, und der Glaube, so solchem Worte Gottes im

Wasser trauet.

Denn ohne das Wort Gottes ist's gar keine Taufe,

sondern schlecht Wasser (und ohne Glauben

wirkt es

nicht als

Taufe): aber mit dem Worte Gottes ist es (dem Gläubigen) Taufe d. i. ein gnadenreiches Wasser des Lebens und ein Bad der neuen Geburt im heiligen Geist, wie St. Paulus sagt zu Titus u. s. f."

In dem letzten Abschnitte (Frage 6 und 7) wird dem Nachden­ kenden auffallen,

daß in

solches Wassertaufen?"

dem ersten Satze:

denn

die Taufe dargestellt wird als Hindeutung

auf etwas, was noch geschehen soll, nämlich,

in uns

„Was bedeutet

durch tägliche Reue und Buße soll

sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten,

„daß der alte Adam ersäufet werden und und wiederum täglich

herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtig­ keit und Reinigkeit vor Gott ewig lebe":

während in dem zweiten

Vergl. das bei den Sakramenten unter V. Gesagte.

442

® naben mittel.

3. Die Sakramente. A. Die Taufe (l.Hauptstück).

mit Berufung auf Röm. 6 gesagt wird, daß Mehr, als das bereits geschehen sei:

nämlich, „wir sind sammt Christo durch die Taufe

begraben in den Tod":

zugesetzt wird:

wozu freilich am Schluß auch wieder hin­

„also sollen auch wir in einem neuen Leben wan­

deln." —

Um dies zu verstehen, muß man sich zuerst daran erinnern, daß, was St. Paulus an die Römer schreibt, von solchen gesagt ist, welche als Erwachsene und

unter Umständen getauft worden waren,

unter denen nicht leicht jemand in die christliche Gemeinde eintrat ohne ein lebhaftes Verlangen nach dem Heil und ohne die Erfah­ rung, daß es hier zu finden sei.

Sodann, daß der Apostel ja nicht

von der Taufe als abgerissener Handlung redet,

sondern von dem

damit verbundenen Eintritt in die Kirche, also auch in die Gemein­

schaft und den Genuß der dieselben erfüllenden Kräfte des Geistes Christi und Christi selbst. Von solchen durch den Glauben in wesent­

licher Lebensgemeinschaft mit Christo Stehenden konnte allerdings

gesagt werden beides: sowohl, daß sie ihrem inwendigen Menschen nach bereits mit Christo gekreuzigt, gestorben und begraben und neue geworden seien: als auch, daß sie, was an ihrem Herzen bewirkt sei,

im Leben bewähren und das neugewonnene Leben

„im Geiste des

Gemüthes" befestigen und kräftigen müßten dadurch,

daß sie nun

auch die „Gliedmaßen der Sünde" d. i. das äußere Leben mit der nachwirkenden Kraft früherer Gewohnheit und der Macht der Ver­

hältnisse umgestalteten,

und jede von daher neu auftauchende Lust

der Sünde ertödteten, indem sie dieselben wieder und wieder in die

reinigende Fluth des Wortes und Geistes Christi eintauchten und gewissermaßen ersäuften. — Aber dasselbe kann nicht nur,

muß noch heute gesagt werden.

sondern

Jeder lebendig Glaubende ist in

seinem inwendigen Menschen der Lust der Sünde abgestorben, ein neuer Mensch (2 Kor. 5, 17), oder er glaubt eben nicht, ist noch kein Christ. — Und ist

diese

durch den Geist Christi in uns bewirkte

Erneuerung des inwendigen Menschen die wesentliche Bedingung für jede Besserung auch im Einzelnen und Aeußern.

Oder anders aus­

gedrückt, alles, was wir thun, wurzelt in dem, was Gott an uns zuvorgethan, wie der Apostel schreibt:

„Lasset uns ihn lieben, denn

er hat uns zuvor geliebt" (1 Joh. 4, 19), und wie der Herr spricht:

Bedeutung der Taufe im allgemeinen.

443

Die Kindertaufe.

„Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und gesetzt,

daß

übermal:

ihr hingeht und Frucht bringt" (Joh. 15, 16).

Und

Gleichwie der Rebe

„Bleibet in mir, und ich in euch.

kann keine Frucht bringen von ihm selber, er bleibe denn am Wein­ also auch ihr nicht, ihr bleibet denn in mir. — Denn ohne

stock,

mich könnt ihr nichts thun" (Joh. 15, 4.5).' Das ist das, was die

evangelische Kirche meint, wenn sie lehrt, alle christliche „Heiligung" setze unsere „Rechtfertigung" in Christo voraus,

und könne wieder

und wieder nur von dieser ausgehen (Matth. 7, 17fg.). — Anderer­ seits muß der Glaube und die Rechtfertigung,

daß sie sind,

er­

weisen in demjenigen, was und wie sie wirken, wie Paulus an die Galater (5, 25) sagt:

„So wir im Geiste leben, so lasset uns

auch im Geiste wandeln!" — Beides wird in der Taufe dargestellt: sowohl, was Gott in Christo zuvorgethan und noch thut, als auch,

was wir in Gott thun müssen, auf daß sein Werk in uns vollendet

werde. II.

Je mehr in solcher Weise bei

der Taufe der Glaube

betont wird, um so mehr entsteht die Frage, wie man die Kinder­

taufe rechtfertigen wolle.

Frage nicht einzulassen.

Die römische Kirche braucht sich auf diese Sie lehrt,

daß die Sakramente ex opere

operato d. i. unangesehen die subjektive Beschaffenheit der Empfänger

wirken; für sie versteht sich

die Kindertaufe von selbst.

Um so

weniger darf die evangelische Kirche die Frage abweisen.

Und in

der That ist dieselbe in ihr, und zwar nicht bloß von schwärmerischen

Sekten (den Wiedertäufern in Münster — den Mennoniten), sondern auch

von

den besonnensten und nüchternsten Gliedern großer und

angesehener Gemeinden, die sonst in allen Stücken mit der evangel. Kirche übereinstimmen (den Baptisten) aufgeworfen und gegen sie entschieden worden. — Als in keiner Weise durchgreifend wider die Gegner der Kinder­

taufe muß zunächst der Versuch bezeichnet werden, dieselbe aus der Schrift zu beweisen.

Denn obschon mehrfach in letzterer die Notiz

vorkommt, daß dieser oder jener mit seinem ganzen Hause getauft

z. B. Stephanus (1 Kor. 1, 16),

der Kerkermeister zu

Philippi (Apostelgesch. 16, 33), so fehlt doch

jeder Nachweis, daß

worden sei,

zu diesem „Hause" oder, wie es auch heißt, zu „allen den Seinen,"

444

Gnadenmittel.

3. Die Sakramente.

unmündige Kinder gehört haben.

A. Die Taufe (4. Hauptstück).

Wahrscheinlich ist vielmehr, daß

mit diesem Ausdrucke nach dem damaligen Sprachgebrauch neben den sonstigen Hausgenoffen die Dienerschaft bezeichnet sei. — Jeden­

falls finden wir in der Geschichte Spuren von Kindertaufe nicht vor dem Ende des zweiten Jahrhunderts; und auch da hat es noch ge­

raume Zeit, mehr, als ein Jahrhundert gebraucht, ehe sie sich gegen ihre anfängliche Bestreitung und gegen die Neigung, die Taufe aufzuschieben, durchgesetzt hat.

Ebenso ist es nur von der Verlegen­

heit eingegeben, wenn selbst Luther bald von einem besondern „Kinder­

glauben" bald von einer Stellvertretung für den mangelnden Glauben der Unmündigen durch den Glauben der Erwachsenen und Mündigen

geredet hat.

Denn das höbe, wo man damit Ernst macht, den

„rechtfertigenden Glauben"

auf,

den die evangelische Kirche lehrt,

und untergrübe das Fundament der Sittlichkeit in ihr. — So bleibt

in der That für den Standpunkt, der einerseits alles das, was

in

der Schrift von der Taufe gesagt und über sie verheißen ist, lediglich

auf die einzelne, äußere, abgerissene Taufhandlung bezieht,

andererseits die Taufe der Kinder für die ganze volle Taufe hält, nichts übrig, als entweder die evangelische Lehre vom Glauben als un­ entbehrliches Erforderniß bei der Taufe dranzugeben d. h. katholisch

zu werden: oder aber die evangelische Grundlehre festzuhalten, dann aber mit den Baptisten ausschließlich Erwachsene, die ihren Glauben bekennen, zu taufen.

Mögen indeß auch Einzelne auf diesem Stand­

punkte stehen, die evangelische Kirche im Ganzen hat ihn tut Grunde

nie getheilt, und wenn doch, so hat sie ihn längst, zuerst instinkt­

mäßig, darauf mit wachsendem Bewußtsein verlassen. Die flüchtigste Umschau genügt, um zu zeigen, daß die gesammte

deutsche evangelische Kirche — wie auch die Theorie sei — in der

Praxis die Kindertaufe für sich allein nicht für die volle Taufe

hält, sondern sie erst, nachdem die Konfirmation dazugekommen, der­ selben gleichstellt.

Das beweist der Umstand, daß sie die Konfirmation

nur bei denen Eintreten läßt,

welche als Kinder getauft worden

find, bei solchen dagegen, welche die christliche Taufe als Erwachsene empfangen haben, nicht an sie denkt.

Daß sie zweitens die als

Kinder getauften, nachdem sie erwachsen sind, auch wenn sie alle

übrigen Bedingungen erfüllen, dennoch nicht ohne Konfirmation

445

Die Kindertaufe.

weder zum Abendmahle noch zur Pathenschaft und zur Trauung

zuläßt.

Dazu kommt drittens, daß sie die Confirmation entschieden

mit einer viel größeren Feierlichkeit und unter viel tiefer in Has Leben der Einzelnen, wie der Gemeinde, eingreifender Bewegung vollzieht, als solches bei der Taufe der Kinder der Fall ist.

Darum

hat sich die deutsche evangelische Kirche auch gar nicht über Kinder­

taufe zu verantworten; und kann in dieser Beziehung

den Vor­

haltungen der Baptisten: „entweder mit Glauben, dann baptistisch;

oder ohne Glauben, dann katholisch", getrost erwidern: „wir taufen gar nicht ohne Glauben, taufen auch nicht Kinder," sondern wir

fangen nur die Taufe bei den Kindern an, um sie an den Erwachse­

nen, welche ihren Glauben bekennen, zu vollenden.

Worüber sich die

evangelische Kirche gegen Baptisten, wie gegen römische und ihre eigene Buchstabenorthodoxie, zu verantworten hat, ist vielmehr nur das, daß

sie die unzweifelhaft als eine Handlung eingesetzte Taufe in dieser Weise in zwei der Zeit nach weit auseinanderliegende Handlungen

zerlegt hat. Was unser Herr von seinen Worten sagt:

„die Worte, die ich

rede, sind Geist und Leben" (Joh. 6, 63), Paulus aber ganz allge­ mein ausspricht: „der Buchstabe tobtet, aber der Geist macht lebendig" (2 Kor. 3, 6), das gilt auch von den Einrichtungen des Herrn.

Nicht Taufe, nicht Abendmahl ist von ihm als tödtender Buchstabe

eingesetzt: sondern beide sind Vermächtnisse des Herrn an seine Kirche,

welche sie in seiner Freiheit (Joh. 8, 31. 32) zu verwalten hat; nur, daß jede Abweichung von der ursprünglichen Form dem Geiste des Herrn, dem Geiste der Wahrheit und der Liebe, entspreche: einer­

seits dasjenige treu wiedergebe, was der Herr in seine ursprüng­ liche Einsetzung gelegt hat, andererseits das Bedürfniß des Glaubens erfülle und ein angemessener und wahrhafter Ausdruck des That­ sächlichen sei.

In diesem Sinne hat die Kirche auch sonst bei der

Taufe Veränderungen vorgenommen, und unbedenklich die Form

der Untertauchung verlassen und dafür die Besprengung eingeführt. In dieser Freiheit hat sie zuerst das Abendmahl von dem Liebes­

mahle, beziehungsweise dem Passahmahle, mit denen es ursprünglich

verbunden war, gelöst; daraus die letztgenannten Mahle, als nicht

mehr dem Sinne des Herrn entsprechend, ganz abgeschafft.

Aus der-

446

Gnadenmittel.

3. Die Sakramente.

A. Die Taufe (4. Hauptstück).

selben Auffassung hat sie für das Abendmahl je nach

den verschie­

denen Zeiten, Orten und Ländern mannigfaltige, oft sehr von ein­ ander abweichende Formen entwickelt: ich erinnere nur an die bereits

angegebenen verschiedenen Spendeformeln, so wie an die merklichen Abweichungen bei welche knien

der Austheilung:

an je einen, je zwei

u. s. f-,

oder stehen; oder an je 12, welche zu Tische sitzen;

den Prediger; oder, nachdem dieser nur die Einsetzungsworte

durch

gesprochen, durch den, beziehungsweise durch die Diakonen; in die Hand, in den Mund oder auch beim Kelche von Hand

zu Hand.

Trotzdem hält, die evangelische Kirche wenigstens, das Abendmahl

in jeder dieser Formen für ein rechtes Abendmahl, so lange dabei

nur „der Tod des Herrn verkündet" (I Kor. 11, 26), das Brot als Sinnbild des für uns in

den Tod gegebenen Leibes Jesu darge­

und der Kelch als Unterpfand des in dem

reicht,

schlossenen neuen Bundes ausgetheilt wird.

Blute Jesu ge­

So kommt es also auch

bei der Handhabung der Taufe nur darauf an, ob dieselbe die an­

gegebenen Bedingungen erfüllt, d. i. ob sie dem Sinne I. Christi bei der Einsetzung

entspricht, zum andern, ob

sie dem Bedürfnisse

des Glaubens entgegenkommt und der Sachlage gemäß ist. ist in hohem Maße der Fall.

Beides

— Ich beginne mit dem letztern. —

Ihr seid Christen; schwache, unmündige Anfänger im Christenthume:

aber Christen.

Wann seid ihr es geworden?

Ihr werdet

euch, soviel ihr auch nachdenkt, nicht auf eine Zeit besinnen können,

in der ihr Heiden oder Juden gewesen wäret.

So weit eure Er­

innerung reicht, habt ihr bereits von dem Heilande I. Christo gehört (denkt nur an die Weihnachtsfeier und den Weihnachtsbaum);

als

ihr beten lerntet, habt ihr das „Unser Vater" gebetet; seid von Kind

an angeweht und

ergriffen gewesen von

lieber Vater!" ruft (Röm. 8, 14. 15).

dem Geiste, der „Abba,

Das ist bei denen,

unter'Nichtchristen geboren werden, nicht der Fall.

welche

Wohl ist in

ihnen dieselbe Fähigkeit, von Christo ergriffen zu werden, und der

Drang, der jeder Menschenseele von Natur innewohnt, nach Christo hin.

Wohl ist in euch der Anlage nach dieselbe sündige Natur, ver­

möge deren ihr, wie sie, und

sie, wie ihr, nur

durch Buße und

Glauben und durch die neue Geburt im heiligen Geiste Christen und „Kinder Gottes" werden könnt.

Dennoch ist ein Unterschied, wie

Die Kindertaufe.

447

zwischen zweien, übrigens ganz gleichen, Pflanzenkeimen; von denen

der eine in Dunkelheit und

erstarrenden Winterfrost gethan, der

andere dem Lichte und der belebenden Wärme des Frühlings ausge­ setzt wird.

Jener bleibt ohnmächtig, wo er nicht verdirbt: dieser treibt

von dem Moment an, wo ihn die Wärme und das Sonnenlicht berührt.

So seid auch ihr von euerm ersten Athemzuge an — fern von der Macht und Nacht der Finsterniß — unter das Helle Licht des Evan­

geliums gethan, welches den schlummernden Keim des Christenthums

in euch weckte:

also, daß in keinem von euch sich erst das Mensch­

liche für sich, abgesondert von dem Christlichen, geschweige das Heid­

nische oder Jüdische entwickelte, und dann

erst zu dem also Ent­

wickelten der Einfluß des Ehristenthums dazu gekommen wäre und

es hätte überwinden und wegschaffen müssen:

sondern alles, was

in euch entstand, entstand und bildete sich von vorn herein unter dem

erleuchtenden,

reinigenden,

Christenthums.

heiligenden Eindrücke Christi und

des

Gilt da nicht von euch, was wir Apostelgesch. 10,

44—48 lesen, daß, wo euch „durch Gott solche Gnade gegeben,"

niemand berechtigt sei, euch das Siegel und Zeichen derselben vor­ zuenthalten? daß es vielmehr nichts, als Gehorsam gegen Gott und die Anerkennung seiner gnadenvollen Führung, ist, wenn die Kirche

euch, die ihr — ihr möget nun getauft sein oder nicht — in der Kirche seid, und auf welche Christus in der Gemeinde immer schon

seine Hand gelegt und euch an sich genommen hat, die Weihe der

Kirche ertheilt? (Mark. 10,13—16.)

Weil aber doch die Zugehörig­

keit zur Kirche durchaus Sache der eignen freien Entschließung sein

muß, auch das Christliche sich wickelt;

vielmehr

nicht mit Naturnothwendigkeit ent­

die Erfahrung lehrt, daß auch solche,

die von

Christo erfaßt und berufen sind, sich ihm widersetzen und von ihm

losreißen können: so taufen wir euch zwar der Form nach ganz so,

wie wir Erwachsene taufen; sehen aber eure Taufe nicht eher für vollendet und für die volle Taufe Christi an, als

bis ihr nach

empfangenem vorbereitendem Unterricht eingesegnet seid, d. h. bis ihr selber feierlich und öffentlich erklärt habt, daß ihr die Hand des

Herrn, die euch ergriffen hat, auch eurerseits ergreifen und festhalten und

treue Glieder seiner Gemeinde sein und bleiben wollt.

Nun erst werdet

ihr zum Abendmahl zugelassen, und euch auch alle sonstigen Rechte und

448

Gnadenmittel.

3. Die Sakramente.

A. Die Taufe (4. Hauptstück).

Pflichten der Gemeindeglieder zugeeignet, in dem Maße, als ihr solche

nach eurem Alter und nach eurer Stellung auszuüben vermögt. — Dieses der jetzigen Sachlage durchaus entsprechende Verfahren

wäre in der ersten Zeit des Christenthums schlechthin unmöglich ge­ wesen, weil es unwahr gewesen sein würde.

Denn in jenen Zeiten

war die Kirche noch nicht, was sie jetzt ist, eine große, das gesammte

Leben der Völker beeinflussende und mit dem in ihr waltenden Geiste Christi durchziehende Gemeinde, um es kurz zu sagen: „Volkskirche".

Sondern einzeln, Mann für Mann, mußten ihre Glieder erst ge­ sammelt werden aus solchen, die bis dahin die einen dem Heiden-

thume, die andern dem Judenthume angehört hatten; und von denen

man auch, nachdem es hie und da bald größere bald kleinere Christen­

gemeinden und in ihnen auch vereinzelte christliche Hauswesen gab,

nicht sagen konnte, daß die innerhalb solcher Gemeinden Geborenen und von christlichen Eltern Stammenden schon gleich mit ihrer Geburt in das Helle Licht des Evangeliums versetzt, sondern höchstens, daß sie in den Kampf des Lichts mit der Finsterniß d. i. in den Streit

eines noch übermächtigen Heidenthums mit dem erst allmählich sich zur weltbeherrschenden Macht emporringenden Christenthume hinein­ Sofern nämlich auch bei diesen bald nur der eine

geboren seien.

Theil, hier der Vater dort die Mutter, Christ war, bei andern zwar die Eltern der Kirche angehörten, dagegen die Dienerschaft noch im

Heidenthume verharrte, allen aber, auch den am meisten Begünstigten,

außer dem Hause noch das ungebrochene Heidenthum begegnete: die heidnische Schule, die heidnische Sitte, das

heidnische Volksleben,

das heidnische Recht, die heidnische Litteratur: alles das, was jetzt,

von dem Christenthume durchzogen, der Predigt, ebenso viel hülfreiche Mächte zur Seite steht, nisse bereitete.

ebenso

der Kirche

als

als es sonst Hinder­

Unter diesen Umständen wäre die Kindertaufe damals

eine Lüge und ein Gottversuchen gewesen, als sie jetzt das

Bekenntniß und

der Dank für die Gnade ist, die Gott der Herr

seiner Christenheit gegeben.

Diese völlig veränderte Stellung

Kirche übersehen die Baptisten.

der

Sie ziehen nicht in Betracht: daß

der Herr nicht bloß im Himmel, sondern auch in seiner Gemeinde ist, und daß er sich die Völker unterthänig gemacht hat.

Während

andererseits die römische und griechische Kirche und, so viele sonst

Kindertaufe.

Nothtaufe.

Pathen.

449

die Kindertaufe als solche für die volle Taufe halten, vergessen, daß die Taufe unter allen Umständen der „Bund eines guten Gewissens

mit Gott" sein und bleiben wolle (1 Petri 3, 21).

Ob unsere Einrichtung nun auch der Absicht Jesu bei der Ein­

Was wollte der Herr?

setzung der Taufe gemäß ist? liche Handlung einsetzen,

Eine feier­

welche das Zeichen der Zugehörigkeit zu

ihm wäre, die ebenso darstellte, was die Menschen bei ihm und in seiner Gemeinde zu erwarten hätten, als sie das unumwundene Be­

kenntniß zu ihm und dieser Gemeinde forderte.

Ist dies in unserer

Weise nur im mindesten verdunkelt, oder nicht vielmehr im höchsten Maße ausgedrückt? III.

Hinsichtlich der Nothtaufe ist dem unchristlichen Wahne

cntgegenzutreten, als ob Kinder, die ohne Taufe sterben, verdammt würden. Vielmehr ist zu lehren, daß von solchen, zumal wo sie durch

ihre Geburt innerhalb der christlichen Kirche noch eine nähere Ver­ heißung auf Christum empfangen haben, das Wort des Herrn gelte:

„Mein Vater, der sie mir gegeben, ist größer, denn alle;

und nie­

mand kann sie aus meines Vaters Hand reißen" (Joh. 10,29). Aber

eben dieses drückt auch die Nothtaufe aus, und ist darum als eine löbliche und in hohem Grade erweckliche und tröstliche Einrichtung-zu

empfehlen.

Soll und kann sie auch nicht die Kinder selig machen —

dafür wird Gott auch ohne Taufe seine Wege haben — so vermag sie die Herzen der Eltern „fröhlich zu machen",

daß sie mit christ­

licher Freudigkeit sich in den Willen Gottes, wie er es auch füge, ergeben.

Erhält dann der Herr die Kinder am Leben,

so werden

die Eltern darin den zwiefachen Sporn finden, dieselben in der Zucht

und Vermahnung des Herrn zu erziehen. IV. Pathen sind Repräsentanten der christlichen Gemeinde.

So

versteht es sich von selbst, daß nur solche, die in voller Mitgliedschaft der Gemeinde stehen, zu diesem Ehrenamte zugelassen werden können. Dazu sind sie Bürgen für die christliche Erziehung

und sollen bei derselben hülfreich sein.

der Täuflinge

Es wird von ihnen erwartet

und gefordert, daß sie den Eltern, die sie in christlichem Vertrauen zu diesem Liebesdienst berufen,

in der Erziehung

der Kinder mit

Rath und That zur Seite stehen, vorkommenden Falls an den Ver­

waisten Elternstelle vertreten. Elle st er, Materialien. 2. Auflage.

Darum soll man nur solche Pathen-

29

450

Gnadenmittel.

3. Die Sakramente.

A. Die Taufe (4. Hauptstück).

stellen annehmen, bei denen man die Pflichten, welche die Pathenschast auferlegt, erfüllen kann.

Gevatterschaften, die einem nur der

Bettelei oder der Ehre wegen angetragen werden, wie solcher Miß­ brauch namentlich eben eingesegneten jungen Christen gegenüber im

Schwange ist, bei denen man übrigens nicht im entferntesten daran

denkt noch daran denken kann, ihnen die Verpflichtungen und Rechte von Pathen einzuräumen, — die soll man unbedingt ablehnen.

Die

Taufe Christi ist nicht dazu da, zum Gelderwerb gemacht zu werden, noch auch, daß man mittelst ihrer einem „jungen Herrn" oder dem

„Fräulein" eine Höflichkeit erweist.

Das fünfte Hauptstück. Vom heiligen Abendmahl. I.

Das Aeußerliche.

1.

Es ist bekannt, daß das h. Abendmahl (h. Nachtmahl, die

h. Communion, der Tisch des Herrn)') von dem Heilande in der

Nacht, da er verrathen ward, im Anschlüsse an das Passahmahl ein­ gesetzt, und von der ältesten Kirche in Verbindung mit einem voran­

gehenden Bruder- (Liebes-) Mahle (Agape) gefeiert worden ist.

Die

bei dieser Verbindung frühzeitig hervortretenden Uebelstände, welche schon Paulus in seiner Gemeinde zu Korinth zu rügen hatte (IKor. 11), bewirkten,

daß man zuerst das Abendmahl von dem Brudermahl

trennte und beide als besondere Feier beging; sodann die Bruder­

mahle, die sich bei immer weiterer Ausdehnung der Gemeinden immer

weniger in angemessener Weise begehen ließen, überdies ihren Zweck (Ueberbrückung und Ausgleichung

der

zwischen

den

verschiedenen

Schichten der Gesellschaft und den verschiedenen Nationalitäten herr­ schenden Kluft) erfüllt hatten,

nach und nach ganz einschlafen ließ.

Nur in der Brüdergemeinde ist eine wohlgemeinte, aber matte Nach­ bildung versucht. Dem Wesen nach, sind sie in die christliche Gesellig­ keit übergegangen. l) Nur der Name „Sakrament des Altars" ist unangemessen und wird besser vermieden; da wir Evangelischen keinen Priester (außer dem einigen Hohenpriester

I. Christus) und keine Opfer (außer seiner Dahingebung in den Tod) und

Altäre kennen.

keine

452

3. Die Scikwlneitte.

Gnadenmittel.

B. Dns h. Abendmahl (5. Hauptstück).

Diese ursprüngliche Stellung und Verbindung des Abendmahles mit einer vorangehenden immerhin feierlichen,

Mahlzeit

läßt erkennen,

jedenfalls wirklichen

der römischen

wie unberechtigt die von

Kirche aufgestellte, auch in der evangelischen noch hie und da nach­ wirkende Satzung ist,

daß, wer zur h. Communion gehen wolle,

desselben Tages

der Mitternachtsstunde an keinerlei

von

nicht Speise und

Nahrung,

daß eine volle Sättigung

dürfe. — Es ist unser aller Erfahrung, nicht nur den Leib,

irdische

nicht Trank zu sich genommen haben

sondern auch den Geist müde macht; anderer­

seits, daß geistige Anspannung und Gemüthsbewegung, die ein ge­ wisses Maß überschreitet, das Begehren nach Speise und Trank ab­

stumpft,

so daß cs uns bei angestrengter Arbeit und lebhafter Ge­

müthsbewegung sogar unmöglich wird,

das Mindeste zu genießen.

Daraus folgt, daß, wer bei so anfassenden Gelegenheiten, wie Ein­ segnung, Abendmahl u. s. w. — ich sage gar nicht übermäßig essen

und trinken wollte, tigen vermöchte:

sondern sich auch nur so recht behaglich zu sät­

daß der jedenfalls einen noch sehr stumpfen,

nicht gegen das Wichtige,

was vor ihm ist, in sträflicher Weise

gleichgültigen Sinn offenbaren würde.

selbe Erfahrung,

wo

Desgleichen ergiebt aber die­

daß das Sichkasteien und Abhungern

auch nicht

frisch macht, im Gegentheil zu Schwachheiten Leibes und der Seele

führt, die, wenn sie auch niemals den Segen der h. Handlung weg­ nehmen, doch ebenfalls nicht zur Förderung der Andacht, der eignen

wie der Andacht der Gemeinde, dienen.

Was folgt daraus?

Daß,

wie der Katechismus sagt, Fasten und sich leiblich Bereiten eine feine äußerliche Zucht ist, aus der aber kein Gebot gemacht werden darf;

sondern, die jedermann so zu üben hat, wie er weiß, daß er dabei

geistig

der

am

andere

Der eine

frischesten bleibt.

irgend welche Nahrung zu sich zu nehmen:

fahrung an die Hand giebt. unser Essen

enthält

sich

der Speise;

dagegen wird sich pflichtmäßig sogar zwingen müssen,

jemandem

Aergerniß bereiteten,

wie es jedem seine Er­

Nur, wenn wir sähen,

Sorge

um das Heil

daß wir durch

unserer Seele oder

da müßten wir um der Liebe willen uns ent­

halten, und es in Gottes Namen auf eine Leibesschwachheit ankommen

lassen. — 2) Der Herr Jesus hat das h. Abendmahl nicht abgesondert

Das Aeußerliche mit Beziehung auf die Einsetzung.

453

mit den einzelnen Aposteln, sondern gleichzeitig mit der gesammten

Jüngerschar begangen, als ein Mahl, durch welches sie ebenso unter

einander, wie mit ihm, verbunden werden sollten. setzungsworte:

(Vergl. die Ein­

„Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute."

Ferner: Joh. 13, 34:

„Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch

unter einander liebet, gleichwie ich euch geliebt habe."

1 Kor. 10,

16. 17: „Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft

Denn ein Brot ist es:

des Leibes Christi?

Leib,

so sind wir viele ein

dieweil wir alle eines Brotes theilhaftig sind.")

Daraus

folgt: das Abendmahl soll in und mit der Gemeinde begangen wer­

den.

Jede willkürliche Absonderung,

jede Privatcommunion

„für

den Herrn Senator" verstößt gegen den Sinn und die ursprüngliche Bestimmung der h. Handlung. man bemüht sein,

Selbst bei Krankencommunionen soll

die Gemeinde herzustellen und diese ergreifendste

Gelegenheit benutzen,

den Kranken und seine Umgebung nicht bloß

mit Gott, sondern auch unter einander zu versöhnen und ihnen das Gebot Christi sJoh. 13, 34, dazu Joh. 13,1:

„wie er geliebt hatte

die Seinen, so liebte er sie bis an das 6nbe"] einzuschärfen.

3) Der Herr hat angeschlossen an die Gebräuche des Pasiah­

mahles sein Abendmahl in zwei Gestalten') eingesetzt.

Aber er hat

jeder dieser Gestalten eine eigenthümliche Bedeutung ausgeprägt: sofern

das gebrochene und gegebene Brot mehr seine Hingebung in den Tod,

der Kelch dagegen mehr die Wirkung dieses Todes, nämlich den durch die Vergießung des Blutes Christi geschlossenen neuen Bund der Gnade

und Vergebung der Sünden ausdrückt.

Deshalb ist es eine wesent­

liche Verkürzung der Bedeutsamkeit des Abendmahls, wenn die römische Kirche das Abendmahl nur unter einer Gestalt begeht.

verwerflich wird diese Verkürzung dadurch,

Unbedingt

daß sie als Mittel prie­

sterlicher Ueberhebung und Anmaßung dient. — Am unangemessensten

und die Bedeutsamkeit der ursprünglichen Einsetzung am meisten ver­ dunkelnd, ja für unser Gefühl geradezu abstoßend ist die Weise der griechischen Kirche,

die bekanntlich das Brot in den Wein gebrockt

löffelweise darreicht.

4) Abgesehen davon, daß das der Einsetzung des Abendmahls

y) Sub utraque: daher „Ultraquist", wie von dem Kelche (calixj: „Kalixtiner.

454

Gnademnittel.

3. Die Sakrarnente.

B. Das h. Abendmahl (5. Hauptstück).

vorangehende Passahmahl schon an sich eine religiöse, durch fromme

Gespräche und Psalmengesang

geweihte Feier war,

diese Feier noch besonders vorbereitet,

hat der Herr

theils durch seine bei dieser

Gelegenheit gehaltenen Reden (Joh. 13—17), theils durch eine dem

Abendmahle vorangehende sinnbildliche Handlung, die Fußwaschnng (Joh. 13, 1f.),

durch welche er seinen hadernden und sich gegen­

seitig „die Köpfe waschenden" Aposteln (Luk. 22, 24—27) an seinem Beispiele zeigte, in welcher Weise seine Jünger sich gegenseitig die

Wahrheit andienen sollen (Luk. v. 27; Joh. v. 13 und 14; Gal.

6,1.2). Demgemäß ist auch in der evangelischen Kirche eine auf die

Feier des Abendmahls vorbereitende kirchliche Handlung (die sogenannte Der Christ hat die Pflicht,

Vorbereitung oder Beichte) geordnet.

solche, neben seiner sonstigen Vorbereitung und „Prüfung seiner selbst" (1 Kor. 11, 28), welche durch jene öffentliche Handlung nicht ersetzt,

sondern nur ergänzt und weiter angeregt werden soll, gewissenhaft zu benutzen.

Ein willkürliches Wegbleiben von derselben würde sitt­

liche Gleichgültigkeit und Geringschätzung des h. Abendmahls oder hochmüthige Nichtachtung der Gemeinde oder beides verrathen.

Da­

gegen ist Nichttheilnahme an der kirchlichen Vorbereitung kein Hin­

derniß der Theilnahme am Abendmahle, wenn dieselbe durch unab­ wendbare Nöthigung veranlaßt worden; oder auch, wenn erst während

des Gottesdienstes selbst der Drang nach dem Abendmahle entstan­

den ist.

In diesem Falle hat der Herr selbst mit dem,

welchen er

in solcher Weise „besonders vom Volke genommen" (Mark. 7, 33), Vorbereitung gehalten. (Vergl. „den Geist dämpfet nicht"; 1 Theff.

5, 19.

„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid;

ich will euch erquicken"; Matth. 11,28.

„Wer zu mir kommt, den

werde ich nicht hinausstoßen"; Joh. 6, 37.) II.

Die Lehre.

Die Lehre

der

evangelischen Kirche vom

Abendmahl läßt sich nicht verstehen ohne Kenntniß

A.

der katholischen Lehre.

Dieselbe läßt sich auf zwei Haupt­

punkte zurückführen, an welche sich dann noch zwei, beziehungsweise ein Punkt, im ganzen 3 Punkte anschließen.

1) Die Transsubstantiatio. Nach der Lehre der römischen Kirche findet in dem Augenblicke, in welchem der Priester die Einsetzungs­ worte spricht, die (dauernde) Verwandlung der Substanz des Brotes

455

Die Lehre — katholische und evangelische (lutherische u. reformirte).

und Weines in die Substanz

des Fleisches und Blutes I. Christi

statt: so jedoch, daß sämmtliche in die Sinne fallenden Eigenschaften (die accidentia) des Brotes und Weines, Form, Farbe, Geruch,

Geschmack, Gewicht u. s. w., durchaus unverändert bleiben.

Auf der

Patene ist nun nicht mehr Brot, sondern Leib Christi, in dem Kelche

nicht mehr Wein, sondern Blut Christi; bleiben auch solche, gleich­

viel, von wem sie genossen, oder, ob sie überhaupt genossen oder auf­ bewahrt, ja vergraben oder verschüttet werden.

Dieses Ungeheure,

kraft dessen der Sohn Gottes durch den Spruch geweihter Priester täglich auf tausend und abermal tausend Altäre der Kirche herab­ gezogen wird, und sich selbst zu dem von der Kirche darzubringenden Opfer hingiebt, feiert die römische Kirche in dem 1264 eingesetzten

Frohn-(Herrn-)Leichnamsfest. Mit dieser Lehre hängt auf das engste zusammen

lb) die Anbetung der Hostie, die in katholischen Ländern ab und zu auch von Evangelischen gefordert worden ist und gefordert wird; wie z. B. in der vor etlichen 20 Jahren in Bayern befohlenen

Kniebeugung auch der protestantischen Soldaten vor dem „sanctissimum“.

Derartiges kann kein Evangelischer ohne Verletzung seines

Gewissens mitmachen.

gelischer weigern,

Andrerseits wird sich kein verständiger Evan­

das Heiligthum seiner katholischen Mitchristen,

beziehungsweise die dasselbe tragenden Persönlichkeiten durch die ge­ wöhnlichen „militärischen Honneurs" und sonstigen Gruß zu ehren.

Vollends wird er sich hüten,

den Eifer einer katholischen Bevölke­

rung durch verletzende Neugierde oder gar durch muthwillige Ver­

spottung zu reizen.

Wer darüber Züchtigung zu erfahren hätte,

würde nur erduldet haben, was er durch sein eignes Betragen ver­

schuldet hat. —

lc) Die Entziehung des Kelches ist, nachdem lange zuvor die Laien aus abergläubischer Scheu,

dem Blute Christi zu verschütten,

geblieben waren,

nämlich aus Furcht,

etwas von

freiwillig von dem Kelche weg­

erst später zur kirchlichen Satzung erhoben;

und

darauf durch die Behauptung, es sei der Genuß des Kelches über­ flüssig, sofern im Leibe Christi von selbst ja auch das Blut Christi

mitenthalten sei (die Lehre von worden.

der Concomitanz),

gerechtfertigt

Uebrigens wird unter Umständen auch jetzt noch (z. B. in

456

Gnadenmittel.

3. Die Sakramente.

B. Das h. Abendmahl (5. Hanptstiick).

Böhmen) den Laien der sogenannte (ungeweihte) Laien-Kelch gereicht. 2) Das Meßopfer.

Die römische Kirche sieht in dem h. Abend­

mahl nicht bloß eine Kommunion, sondern auch ein Opfer, welches

die Kirche durch die Hand ihrer Priester Gott darbringt, zu ver­

söhnen die Sünden des Volkes. tige Wiederholung

„Die Messe ist die tägliche unblu­

des blutigen Opfers Christi am Kreuz."

Wie

der Sohn Gottes sich einmal für uns am Kreuze geopfert hat zur Tilgung der Erbsünde, so muß er von der Kirche täglich aller Orten geopfert werden zur Vergebung der täglichen Sünden.

2 b) Ein Opfer kann nicht bloß für Anwesende, für Abwesende, Verstorbene u. s. w. dargebracht werden.

sondern auch So werden

denn in der römischen Kirche feierliche und Privatmessen gelesen für allerhand Anliegen und in mannigfaltigsten Nöthen:

für Reisende,

Bedrängte, in Kriegs-, Feuer-, Wassernöthen, bei Landschäden u. s. w. Ja, aus dem Mittelalter wird uns berichtet, daß man das Meßopfer

sogar über verwundete Rosse und Jagdhunde dargebracht habe. Doch

haben wir, über derartige jetzt nicht mehr vorkommende Gräuel zu schreien, so lange kein Recht, als auch bei uns noch heute von dem

„gemeinen Manne" Thiere, die sich verfangen haben, von „Gebildeten" dagegen Warzen, Rose, Fieber u. bergt im Namen der heiligen Drei­

faltigkeit besprochen werden. — Die häufigsten unter diesen Messen sind die sogenannten Seelenmessen zur Abkürzung der Qualen, welche die Verstorbenen im Fegefeuer erdulden müssen.

sie haben selbst Katholische

schon

In Beziehung auf

daran Anstoß genommen, daß,

wenn die Kirche aus dem Fegefeuer erretten könne, sie solches nicht

fleißiger noch — ohne Entgelt thue.

Doch werden auch hierfür von

der römischen Kirche Gründe angeführt. B. Die evangelische Lehre. Dieser gesammten Lehre der römischen

Kirche setzt die evangelische Kirche einmüthig ihre Verneinung, und den Nachweis, daß sie unbiblisch sei, entgegen. Dagegen geht sie in

dem, was sie ihrerseits über das Abendmahl aufstellt, auseinander. Beginnen wir, um den Unterschied nicht größer erscheinen zu lassen, als er ist, mit demjenigen, worin die Evangelischen unter einander,

ja noch mit der römischen Kirche einig sind.

Sämmtliche christlichen Confessionen, auch die reformirte, lehren: daß Christus im Abendmahl wahrhaftig gegenwärtig sei. Zwar wird

Die Lehre — katholische imb evangelische (lutherische u. reformirte).

457

das den Reformirten von übereifrigen Lutheranern öfter bestritten,

als wollten jene „nur eine geistige Gegenwart Christi im Abendmahle zugeben".

Aber

die

Reformirten,

auch

Zwingli,

haben

stets

behauptet, daß sie damit die wahre, wirkliche und wirksame Gegen­

wart des Herrn lehren und glauben: und ringen offenbar danach,

diese „wahre Gegenwart" in mannigfacher Weise zur Anschauung zu bringen. Und in der That vermag ihnen das nur eine sehr massive, ganz im Sinnlichen stecken gebliebene Anschauung zu bestreiten. Wie denn?

Ist nur das Leibliche wirklich?

So daß etwa nur Zahn­

schmerzen wirkliche Schmerzen, Angst, Sorge, Reue, Buße dagegen bloße Einbildungen wären? — Und welches von beidem ist denn das

wahrere, die sinnliche Lust oder die Freude an dem Herrn? — Welches

Stoffliche ist in dem Gebete?

Selbst in der Taufe ist nicht Fleisch

und Blut, und ist doch eine Taufe. bedenken, um zu erkennen,

Nur dieses braucht man zu

daß es allein überreizter Eifer oder

äußerster Materialismus ist, wenn man behauptet, die Reformirten müßten, weil sie die geistige Gegenwart Jesu im Abendmahle lehren,

darum seine wirkliche Gegenwart leugnen!

Die Confessionen weichen von einander nur ab, theils in der Weise, wie, theils in dem,

worin sie den Herrn gegenwärtig

denken. Worin?

Die römische Kirche lehrt, das Brot und der Wein

— oder vielmehr das, was vorher Brot und Wein gewesen, nun aber nicht mehr Brot, sondern in Fleisch und Blut Christi ver­ wandelt ist, — sei der Leib und das Blut Christi.

Die lutherische Kirche behauptet: In, mit und unter der Gestalt des Brotes und Weines verbinde sich während des Genusses

der wahre Leib und das wahre Blut Christi: oder Brot und Wein enthalten Leib und Blut des Herrn (die Lehre von der consub-

stantiatio gegenüber der römischen transsubstantiatio).

Nach der reformirten Lehre bezeichnen das gebrochene Brot und der gesegnete Kelch — nicht überhaupt den Leib, sondern den Leib, der für uns gebrochen, das Blut, das für uns vergossen wird, also den Tod Jesu uud den durch diesen Tod geschlossenen Neuen Bund. Christus aber ist gegenwärtig in der Feier. Oder anders ausgedrückt: nicht das Brot noch der Kelch ist der Leib oder

458

Gnadenrnittel.

3. Die Sakramente.

B. Das h. Abendmahl (5. Hauptstück),

enthält den Leib, sondern das Abendmahl, beziehungsweise die das

Abendmahl feiernde Gemeinde wird der Leib des Herrn genannt, sofern sie Mittel und Träger der vollen persönlichen Gegenwart des

Herrn sind. Wie?

Die römische Kirche lehrt:

fleischlich, mit demselben Leibe, da­

mit Christus gekreuzigt ist, und demselben Blute,

das er damals

vergossen hat.

Die lutherische Kirche desgleichen:

fleischlich,

allerdings nur

während des Genusses; aber so, daß der wahre Leib und das wahre Blut Jesu mündlich auch von den nicht Glaubenden genossen

wird. — Luther selbst hat sich darüber in der Hitze des Streites bis zur Uebertreibung ausgelassen, daß der wahre Leib u. s. w. von unsern

Händen zerbrochen, von unsern Zähnen zerkaut werde u. s. f. dererseits hat er doch

An­

gegen Kapernaitisches Fleischeffen (Joh. 6)

protestirt, und nur von einem Genusse des verklärten Fleisches und Blutes Christi wissen wollen.

Wobei nur schwer deutlich zu

machen ist, einerseits, wie solcher Genuß mittelst unsers irdischen

„Mundes" u. s. w. möglich sei; andererseits, wo da noch der außer­

ordentliche Unterschied zwischen dieser Auffaffung und der Auffassung

der Reformirten blieb! Endlich die Reformirten lehren, wie bereits erwähnt, die gei­

stige Gegenwart Christi und folgerecht den Genuß derselben, wie des Leibes und Blutes Christi, nur für den Glauben:

„daß wir nicht allein mit gläubigem Herzen das ganze Leiden und Sterben I. Christi annehmen und dadurch Vergebung

Sünden und

ewiges Leben erlangen, sondern

der

auch durch den

heiligen Geist, der zugleich in Christo und in uns wohnt, also mit seinem gebenedeyten Leibe je mehr und mehr vereinigt wer­

den, daß wir, obgleich er im Himmel und wir auf Erden sind, dennoch Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinen Beinen

sind, und von seinem Geiste,

von einer

Seele,

wie die Glieder unsers Leibes

ewig leben und regiert werden."

(Heidel­

berger K.)

Was die Reformirten meinen, läßt sich schärfer auch so ausdrücken: Christus ist immer gegenwärtig.

Aber im Abendmahl ist er noch

Die Lehre — katholische und evangelische (lutherische u. reformirte).

auf eine besondere Weise gegenwärtig:

459

indem er uns in demselben

einen Ersatz auch für seine leibliche Gegenwart giebt.

Brot und

Wein find, wie die Zeichen seines Todes, so zugleich die greifbaren

Unterpfänder seiner Nähe, sein Friedensgruß und Kuß, dadurch er selbst uns vergewissert:

„daß sein Leib so gewiß — für mich am Kreuze geopfert und gebrochen, und sein Blut für mich vergossen ist, so gewiß ich mit

Augen sehe, daß das Brot des Herrn mir gebrochen, und der Kelch mir mitgetheilt wird" (Heidelberger K.);

so daß nun auch nach dieser Seite hin nichts mehr an der vollen persönlichen Gegenwart Christi fehlt. III.

Die Begründung.

Es ist eine häufige Rede:

die Reformirten haben

allerdings

auch ein Abendmahl, aber wir haben mehr;

oder auch: wir haben

an dem reformirten Abendmahl nicht genug, wir müssen mehr haben. Das ist eine Thorheit. zu

Nicht daraus kommt es an, was einer mehr

die römischen auch mehr,

haben meint (auf diese Weise hätten

weil sie 7 Sakramente zu haben glauben):

noch auch auf das, was

jemand, weil er an dem Vorhandenen nicht genug zu haben wähnt,

mehr fordert (sonst könnte ja auch einer sprechen, die vierte Bitte

im Vater Unser:

unser täglich Brot gieb uns heute, genüge ihm

nicht, er müsse mehr haben): sondern

einzig und allein auf das,

was der Herr verheißen hat, zu geben.

Daran wird sich jeder

wohl genügen lassen müssen. Was hat der Herr verheißen? 1) Wir haben über die Einsetzung des h. Abendmahls

einen

kürzeren und einen längeren Bericht, jenen bei Matthäus und Markus, diesen bei Lukas und Paulus.

Keiner dieser vier Berichte stimmt

mit dem andern wörtlich überein. würde er schwerlich

Hätte Luther das bedacht, so

die Worte: „das ist mein Leib" zu Marburg

aus den Tisch geschrieben haben. 2) Luther selbst giebt im Katechismus die Worte Christi nach

Paulus, den er aus den andern ergänzt hat, an.

Denn entweder sind das

Wir folgen ihm.

wirklich die Worte, die der Herr bei der

Einsetzung gesprochen hat: dann ist der Bericht bei Matthäus und Markus nur die Zusammenfassung.

Oder der Herr hat geredet, wie

460

Gnadenmittel.

3. Die Sakramente.

B. Das h. Abendmahl (5. Hauptstück),

es bei jenen lautet: dann haben wir in der Ausführung des Paulus

die authentische Auslegung. —

Die Worte des Herrn zerfallen in zwei Aussprüche, den einen bei Austheilung des Brotes, den andern bei Darreichung des Kelches.

Beide gehören zusammen und dürfen um deswillen beide nur in der­ selben Weise ausgelegt werden; nicht aber darf man den einen wört­ lich, den andern bildlich deuten.

Beim Kelche spricht der Herr nicht:

der Kelch ist im Blute, oder: das Blut ist im Kelche; sondern: dieser ist das „Neue Testament in meinem Blute".

Kelch

Das „in

meinem Blute" ist nicht aus „Kelch", sondern auf „Testament" be­

zogen, soll dieses näher bestimmen.

So gewiß das nur heißen kann:

der Kelch ist Sinnbild, Zeichen, Unterpfand des neuen Bundes, der in meinem Blute geschlossen werden wird: so gewiß kann auch das

bei Darreichung des Brotes gesprochene Wort nur das Entsprechende

heißen:

dieses,

nämlich das Brechen des Brotes, oder dieses ge­

brochene Brot ist ein Zeichen meines Leibes, der gebrochen werden

wird; oder es stellt meinen zu brechenden Leib, meinen Tod, dar. — 3) Zu demselben Ergebniß gelangen wir, auch wenn wir die

Worte:

„das ist mein Leib" rein für sich

betrachten.

Zwar hat

Luther geleugnet, daß die Worte: „das ist", jemals heißen könnten:

das bedeute.

Die Wahrheit aber ist, daß sie nicht nur dieses, son­

dern noch viel mehreres bezeichnen können, je nachdem nach dem

Zusammenhänge der Rede bei ihnen ergänzt werden muß, was, als

sich von selbst verstehend, um

der Bündigkeit und Kräftigkeit der

Rede willen ausgelassen worden ist und überall ausgelassen wird: als: „Zeichen," „Grund," „Ursache," „Gegenstand" oder selbst ganze

Sätze.

Wie z. B. hier:

das ist (die Karte von) Palästina, das ist

Jerusalem, das der Jordan u. s. f.

Das ist Gustav Adolf vor der

Schlacht bei Lützen, — das stellt Gustav Adolf u. s. w. vor. — In eurem Album: das ist dein Bruder, das ist seine Haltung, das ist sein Auge, seine Nase, das sind seine Züge: — das ist eine genaue

Abbildung seiner Haltung, seines Auges, seiner Züge! — In der

Schrift, Matth. 13: Der Same ist das Wort Gottes. Steinige gesäet ist, bezeichnet die u. s. f.

Bruder, euer Freund in die Thür tritt: Desgleichen:

Ihr seid meine Freude,

Der auf das

Und wieder, wenn euer das ist er leibhaftig. —

d. i. ihr seid der Gegenstand

Evangelische Lehre nach der Schrift. meiner Freude; ihr macht mir Freude!

461

Dieser Bube ist mein Tod

— die Ursache meines Todes. — Das ist der gestrige Sturm (ge­ wesen,

der diese Verwüstung angerichtet hat);

oder auch:

das ist

die Wirkung des gestrigen Sturms. — Endlich ganz lutherisch: dies (meine Börse) ist (enthält)

meine ganze Einnahme;

dies (diese

Scheunen) ist (enthalten) meine diesjährige Ernte u. s. w. — Welche

von allen diesen grammatisch möglichen Bedeutungen des Wortes „das ist" an einer bestimmten Stelle die logisch nothwendige und

allein wirkliche sei: bestimmt, wie aus dem Vorstehenden hinlänglich hervorgeht,

worten nur

der Zusammenhang.

Dieser läßt bei den Einsetzungs­

die reformirte Auslegung zu.

Von der römischen zu

geschweigen, würde auch nach der lutherischen Ausfassung Leib und Blut des Herrn zweimal vorhanden gewesen sein:

einmal der Herr

selbst mit seinem noch nicht gebrochenen Leibe, und dann derselbe

noch nicht gebrochene Leib gebrochen, ja verklärt in der Hand des

ungebrochenen;

einmal das Blut des Herrn noch nicht vergossen in

den Adern des Herrn und dann dasselbe nicht vergossene Blut ver­ gossen und verklärt in dem Kelche! Das kann der Herr nicht haben

sagen wollen, und wenn doch, so würde er es aus eine solche Weise gesagt haben, daß seine Jünger es absolut nicht hätten verstehen können.

Freilich sagt man: auch viele andere Worte des Herrn seien

den Jüngern erst nach dem Tode des Herrn aufgegangen. Sodann:

der Widersinn falle weg, und die lutherische, beziehungsweise die ka­ tholische Auslegung rechtfertige sich, sobald man festhalte, daß die

Worte des Herrn sich gar nicht auf dieses Mahl bezogen hätten, bei welchem er ja noch leibhaftig zugegen gewesen sei, sondern, daß sie

lediglich den spätern (wirklichen?) Abendmahlen nach seinem Tode gälten!

Sagt das der Herr?

Auf diese Weise kann man aus jeder

Stelle alles und jedes herleiten!

Zum Ueberfluß

haben wir

die

Gewähr, daß die Apostel noch sehr spät nach dem Tode des Herrn

die Worte: „das ist mein Leib, das ist mein Blut", nicht lutherisch,

verstanden haben:

Apostg. 15,20.

Eine Christenheit,

welche die

Enthaltung von „Blut" zur Bedingung der brüderlichen Anerkennung machte, kann unmöglich gemeint gewesen sein, in ihrem Abendmahl

das Blut ihres Herrn zu genießen!

Damit stimmt auch 1 Kor. 10,16.17.

Zwar sagt da Paulus:

462

Gnadenmittel.

3. Die Sakramente.

B. Das h. Abendmahl (5. Hauptstück),

der gesegnete Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Aber er sagt auch: das Brot, das wir brechen,

ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi?

der Gemeinde Christi;

das heißt aber:

denn — setzt er hinzu — ein Brot ist es,

so sind wir viele ein Leib, dieweil wir alle eines Brotes theilhaftig sind.

Kann danach zweifelhaft sein,

daß auch jene Worte nichts

anderes heißen, als: der Kelch, den wir segnen, bringt der uns nicht mit dem Blute d. i. mit dem versöhnenden Tode Christi in Verbindung

und macht uns der Segnungen desselben theilhaft? (Röm. 6,4—6.)') *) Die Stelle 1 Kor. 10, 16 f. ist schwer. Paulus redet nicht mit dogmatischer

Bestimmtheit, sondern emphatisch und in populärem Ausdruck. Was soll das heißen, der Kelch — sei die Gemeinschaft des Blutes Christi? Kann man sich —

genau genommen — dabei etwas Bestimmtes denken? Höchstens: „der Kelch — bringt uns mit dem Blute Christi in Verbindung." Aber wie so thut er das? Jedenfalls ist klar, daß die Worte nicht das Luthersche heißen können: „der Kelch enthalte das Blut"; „theile uns das verklärte Blut mit". Sondern etwa Ähn­ liches, wie das Apostolische: „gewaschen ihre Kleider im Blute des Lammes", oder das Johanneische: „das Blut Christi macht uns rein von allen Sünden"; also: der Kelch d. h. das Abendmahl macht uns der Segnungen theilhaftig, welche durch das Blut i. e. den Tod Christi erworben sind. Dazu kommt nun das „Denn ein Brot ist es: so sind wir viele ein Leib, dieweil wir alle eines Brotes theilhaftig sind." Hier ist ohne Zweifel „ein Leib" gleich „eine Gemeinde", die, entsprechend der in Kapitel 12 bestimmter hervor­ tretenden Anschauung des. Apostels, als der geistliche Leib I. Christi bezeichnet wird. (Vergl. Ephes. 4, 4f. u. 15f., ferner Kol. 1, 18 u. s. w.) — Desgleichen ist ohne Zweifel, daß das „Brot" als das diesen Leib Constituirende erscheint. Nun faßt man freilich die Worte: „denn ein Brot ist es" u. s. w. gewöhnlich als einen nur so beiläufig hinzukommenden Nebengedanken. Aber, selbst so verstanden, zeigen sie das Unmögliche der Lutherschen Auslegung. Denn ungeschickter hätte der Apostel, falls er Lutherisch gedacht hätte, nicht argumentiren können, als: das Brot macht uns des (wahren) Leibes I. Christi theilhaftig, denn es ist ein Brot; so sind wir auch, wir viele, sein (geistlicher) Leib, dieweil wir alle eines Brotes theil­ haftig sind. Vielmehr hätte er — und Paulus konnte doch denken und (wenn auch ab und zu schwerfällig) einigermaßen ausdrücken, was er wollte — sagen müssen: das Brot theilt uns den Leib Christi mit, „denn es ist eben, oder es enthält den (wahren) Leib Christi: und nun erst nach dieser Begründung, die

allein eine Begründung gewesen sein würde, hätte er auch auf die Einheit dieses Brotes und auf die durch dieselbe bewirkte Constituirung der Gemeinde zum geistlichen Leibe Christi übergehen können. Selbst so wären das zwei neben­ einander hergehende Gedanken gewesen, wovon man nicht begriffe, wie und durch welche Gedankenverbindung er von dem ersteren: „das Brot enthält den (wahren) Leib Christi", auf den zweiten: „das Brot macht uns zu dem (geistlichen) Leibe

Evangelische Lehre nach der Schrift.

463

— Vergleiche noch Joh. 6, 26—63, welche Stelle auf entscheidende Weise darlegt,

was unter dem Essen und Trinken des Leibes nnd

Blutes I. zu verstehen ist; nämlich: den ganzen ungeteilten Christus,

vornehmlich

aber

seine Dahingebung in

den Tod im

lebendigen

Glauben sich so zu eigen machen und die in ihm und in dieser seiner

That sich offenbarenden göttlichen Lebens- und Liebeskräfte so in unser

geistig Fleisch und Blut verwandeln, wie das leibliche Essen und Trinken die leibliche Speise und Trank in unser leibliches Fleisch und Blut überführt, und uns also ernährt (cf. Die oben angegebenen

Ausführungen des Heidelb. Katech.) *). Veranlassung und Bedeutung des Streites. — Schwerlich

IV.

würde sich unser großer Luther diesen Gründen entzogen haben, wenn er nicht 1) damals schon so viel mit dem „Geiste" und der „Geisteret" der Zwickauer Propheten, sodann des Thomas Münzer, die schließChristi",

gekommen wäre!

Aber es wäre wenigstens klar gewesen.

so

Indeß,

drückt er sich in keiner Weise aus, vielmehr tritt der durch die Hinweisung auf die Einheit des Brotes eingeführte Gedanke des einen Leibes ausdrücklich

als Grund des von der Gemeinschaft des Leibes handelnden Gedankens auf;

soll und will erklären, warum uud wieso „das Brot, das wir brechen, die Ge­ meinschaft des Leibes Christi sei?"

Liegt es da nicht auf der Hand, was

Paulus mit dem letzteren meint: nämlich die Gemeinschaft mit dem (von ihm sehr real gedachten und in der That sehr realen) geistlichen Leibe d. i. der Gemeinde

Christi?

„Wie könnt ihr Göhenopfer essen,

die ihr durch

das Abendmahl der

Segnungen des versöhnenden Todes („des Blutes") Christi theilhaftig, und Glieder seines Leibes, seiner Gemeinde, geworden seid?

So paßt es von allen Seiten.

Denn ein Brot ist es" u. s. w.

Das Wort Leib hat beidemal dieselbe Bedeu­

tung: und der zweite Satz ist wirklich eine Begründung des ersten.

Möglich aller­

dings ist bei der Ungenauigkeit und dem Schillernden des Ausdrucks, daß das erste Mal, veranlaßt durch

die vorangehende „Gemeinschaft des Blutes Christi",

der

Gedanke an den die Gemeinde der Erlösten begründenden Tod („das Brechen

des Leibes") Christi mit hineingespielt ha^ und der Faden gewesen ist, an welchem innerlich die Gedankenentwicklung sich fortgesponnen hat: wie andererseits, daß schon

im „Blute"

der Gedanke mit an das „Bundesblut des Neuen Testamentes"

„den Neuen Bund" angestreift haben kann.

Die Ausdrucksweise ist eben keine

haarscharfe, sondern eine solche, welche ein Hereinschillern auch anderer Gedankengänge^möglich macht.

’) Wem an weiterer Begründung liegt, vergleiche den „Vortrag über die Pom

Abendmahl handelnden Stellen des N. Testamentes" von H. Krause in der „Mo­ natsschrift für die unirte Kirche".

IV. 6. S. 431.

464

Gnadenmittel.

3. Die Sakramente.

B. Das h. Abendmahl (5. Hmrptstück).

lich in Hellen Aufruhr und Mordbrennerei hinauslief, zu kämpfen

gehabt, und gemeint hätte, sich solcher „Schwarmgeisterei" gegenüber um so fester auf das „Wort" stützen

zu müssen; — wenn nicht

2) der Abendmahlshandel unglücklicher Weise zuerst von dem unru­

higen und Luthern mit Recht widerwärtigen Karlstadt in der ver­

kehrtesten Weise angeregt worden wäre.

Karlstadt lehrte, Christus

habe, als er die Worte „das ist mein Leib" gesprochen, auf sich ge­ zeigt; dann habe er das Brot dargereicht, indem er gesagt, das thut

zu meinem Gedächtniß.

Luther zeigte die Albernheit dieser Auslegung,

indem er sagte, das sei gerade so, als wenn der Herr Christus ge­ sprochen:

„Hier sitzt Hans mit der rothen Joppen,

das thut zu

meinem Gedächtniß." — Als später die Schweizer in die Sache eintraten, meinte Luther, sie wollten den Karlstadt, der sich zu ihnen begeben hatte, und seine Lehre wider ihn in Schutz nehmen; — wenn

nicht 3) die Schweizer und namentlich Zwingli sich ab und

zu

minder deutlich ausgesprochen hätten, so daß allerdings der Schein entstand, als sähen sie in Brot und Wein nur leere Zeichen. Luthern

kam es zuletzt auch nicht auf „Fleischessen" an: aber er wollte nicht,

daß man das Abendmahl nur zu einer frommen Ceremonie und bloßem Gedächtnißmahle herabsetze, an welchem man schließlich nichts habe, als, was der Meusch in eigner geistiger Erhebung und Er­

innerung an ein einmal Geschehenes zu gewinnen vermöchte. Er wollte

festgehalten wissen, daß uns in dem h. Abendmahle eine himmlische Gabe und reale Mittheilung Christi entgegenkomme.

nach

Daß das auch

der reformirten Ausfassung in hohem, wo nicht in höherem

Grade, als nach der lutherischen möglich ist, liegt nach dem vorher Auseinandergesetzten auf der Hand. die Gefahr vorhanden,

werden,

Aber damals war allerdings

daß diese Seite des Abendmahls übersehen

und jede tiefere ahnungsvolle Auffassung über einer allzu­

großen Nüchternheit verschwinden möchte.

Diese Seite, „das Geheim­

niß" des Abendmahls, ja des Religiösen überhaupt festgehalten und auf die Zeit hin bewahrt zu haben, wo das Verständniß zur Er­

fassung und Begründung auch dieser Tiefen herangereift sein würde, das ist ungeachtet seiner Schroffheiten das unveräußerliche Verdienst

unsers Luther im Streite über das Abendmahl. —

V.

Die Bereitung auf den Genuß des Abendmahls. — Wie

Vorbereitung.

Winke für den ersten Gang zum Tisch des Herrn.

das Heil überhaupt nicht von Glaubensmeinungen,

465

sondern vom

Glauben d. i. der Hingebung an die Gnade Gottes in Christo ab­ hängig ist, so hängt auch der Segen des Abendmahls nicht von der mehr oder minder richtigen Ansicht über das Abendmahl,

als viel­

mehr von dem rechten Verlangen nach dem Heil ab (Matth. 5, 6).

Auch

ein katholischer

Christ kann vollen Segen des Abendmahls

haben. — Das hat im Grunde niemand schärfer ausgesprochen, als

Luther in seinem Katechismus, der überhaupt bis auf die erste Frage durchweg so gefaßt ist, kann.

daß jedweder Evangelische nur zustimmen

„Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünde" :

das zeigt, was uns im Abendmahle verheißen ist, und was wir in ihm zu suchen haben; nicht Hader und Streit, nicht dünkelhafte

Ueberhebung des einen über den andern: sondern „Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit."

„Für euch gegeben und vergossen

zur Vergebung der Sünde": das weist darauf hin, was im Abend­

mahle das Wirksame sei; nämlich nicht „Essen und Trinken, die es nicht thun, sondern diese Worte, die dabei stehen; welche Worte neben dem Essen und Trinken sind als das Hauptstück im Sakrament; so

daß, wer diesen Worten glaubt, der hat, was sie sagen, und wie sie

lauten, nämlich Vergebung der Sünden." vergossen zur Vergebung der Sünde":

„Für euch gegeben und

das hält uns endlich vor,

„wer recht würdig und wohl geschickt sei,

das Abendmahl

nießen; nämlich, wer den Glauben hat an diese Worte.

zu ge­

Wer aber

diesen Worten nicht glaubt oder zweifelt, der ist unwürdig und un­

geschickt" — er mag eine Lehre haben, welche es sei, und sich an­ stellen, wie er wolle: „denn das Wort „für uns" fordert eitel gläu­ bige Herzen." — Dem entspricht auch die Mahnung des Herrn „zu

meinem Gedächtniß",

Der Abendmahlsgast hat wohl an anderes

zu denken, als an Luther und Calvin und den Streit der Confessionen.

Nicht, daß ihm und insbesondere euch, die ihr frisch aus der Unter­ weisung kommt,

dieser Unterschied nicht einfallen könnte, ja müßte:

nur soll niemand Werth darauf legen,

noch sich darum ängstigen.

Beim Abendmahl kommt alles darauf an,

daß man zu demselben

als zu Christo kommt, demüthig, hülfsbedürftig, hungernd und dur­ stend nach dem Heil, wie das Lied 366 in unserm Gesangbuche sagt:

„Ich komme als ein armer Gast — o Herr, zu deinem Tische — den Eitester, Materialien. 2. Auflage.

30

466

Gnadenmittel.

3. Die Sakramente.

B. Das h. Abendmahl (5. Hauptstück),

du für mich bereitet hast — daß er mein Herz erfrische." Wer aber als ein stolzer Reformirter oder Lutheraner kommt, an dem wird der Herr kein Wohlgefallen, nnb er selbst jedenfalls mindern Segen haben. VI. Etliche Winke für solche, welche zum ersten Male zum Abendmahle gehen. — Es ist eine sehr gewöhnliche Erfahrung, daß insbesondere junge Christen, die zum ersten Male zum Tische des Herrn kommen, in ihrer Andacht gestört und angefochten werden, wenn sie bei dem Genusse des Brotes und Weines den Geschmack eben nur des Brotes und Weines haben. Sie sind mehr oder minder bewußt der Erwartung gewesen, die Gegenwart des Herrn auch irgend wie leib­ lich schmecken zu können, ja Ivohl — wenn sie sich nicht als Un­ würdige betrachten sollen — schmecken zu müssen. Die sind zu erinnern, daß diese Erwartung selbst nach der römischen Lehre nicht in Erfüllung gehen könne: vollends nicht nach evangelischer. Wo bliebe auch,wenn dasHimmlische sich leiblich schmecken ließe, derGIaube? Andere haben schon geklagt, daß sie bei dem Abendmahl über­ haupt nicht dasjenige gefunden hätten, was sie sich davon versprochen: daß sie im Gegentheil bei andern Gelegenheiten viel mächtiger er­ faßt, viel tiefer ergriffen und erbaut worden wären, als hier, wo sie sogar kalt geblieben. Wenn das richtig ist, so ist es der Beweis, „daß der Wind bläst, wo er will" (Joh. 3, 8); daß der Herr mit feinen Gnadenzügen und Gnadenwirkungen nicht an Zeit, Ort, Ge­ legenheit, also auch nicht an das Abendmahl gebunden und gewissermaßen angekettet ist. Aber in den meisten Fällen ist es nicht rich­ tig, sondern beruht auf einer Täuschung. Weit entfernt, daß die also Zagenden minder angesaßt gewesen wären, war vielmehr ihre Ergriffenheit, und in Folge der gespannten Erwartung und andauern­ den geistigen Arbeit auch ihre leibliche Erregung so groß, daß sie gerade über der Heftigkeit der Bewegung zu keinem ruhigen Genusse der heiligen Feier zu kommen vermochten. Mögen die sich doch um's Himmelswillen nicht ängstigen, noch meinen, keinen Segen gehabt zu haben. Sie sind in hohem Grade gesegnet gewesen; wie sie das wohl an den Wirkungen werden gemerkt haben, welche sich von daher auf ihr Leben ergossen.

Vorbereitung.

Winke für den ersten Gang zum Tisch des Herrn.

467

Mit dieser gesteigerten leiblichen und geistigen Erregung hängen

noch Erscheinungen zusammen, die zu den quälendsten Erfahrungen gehören, welche der Mensch machen kann: daß man nämlich vor lau­ ter Aufregung nicht bloß — im buchstäblichen Sinne des Wortes —

an Leib und Seele friert, sich unerquickt, öde und zerrissen fühlt; sondern auch, daß sich uns mitten in den feierlichsten Augenblicken fremde, widerwärtige,

abscheuliche Gedanken aufdrängen, die man

mit keiner Anstrengung loswerden kann.

Unerfahrene halten das

wohl für Anfechtungen des Satans, jedenfalls für etwas ganz Er­ schreckliches-, und ängstigen sich unsäglich darüber. Der Kundige aber'

weiß,

daß

die Gedankenverbindung in

unserm Geiste nicht bloß

nach dem Gesetze der Gleichheit oder Aehnlichkeit, sondern auch nach dem Gesetze des Gegensatzes vor sich geht; so daß z. B. niemand sich „Weiß" vorstellen kann, ohne daß ihm nicht leicht „Schwarz" ein­

Sodann erinnert er sich, wie auch sonst bei großer Aufregung

fiele.

und gesteigerter Nervosität die gleiche Erscheinung vorkommt, näm­ daß urplötzlich Vorstellungen, Bilder, Gestalten in uns auf­

lich:

tauchen und sich an uns heften, von denen unser innerster Mensch

nicht das Mindeste weiß, die wir sogar hassen und verabscheuen, die

wir aber trotzdem in solchen Zuständen zu erleiden haben.

Die in

solcher Weise Angefochtenen thun am besten, wenn sie auf dergleichen

sie umsummende Gedanken u. s. w. so wenig als möglich reflektiren; vielmehr es machen, wie wir zu thun Pflegen, wenn wir im schwülen

Sommer von Mückenschwärmen überfallen werden.

Da hilft es auch

nicht, daß man in das Ungeziefer hineinschlägt oder heftig läuft: im

Gegentheil wird dadurch die Plage nur ärger.

gegen Ende.

seinen Weg geht,

Je ruhiger man da­

um so eher nimmt die Belästigung ein

So ist es auch mit dieser geistigen Pein.

Im übrigen thut

dieselbe, so quälend sie für die Empfindung ist, dem Segen keinen Abbruch. — Damit ist schon gesagt, was von

dem Streben zu halten ist,

bei dem Abendmahl gewisse vorher bestimmte Empfindungen, insbe­

sondre das Gefühl

so rechter tiefer Zerknirschung

zu haben; und

diese Empfindungen nun in jeder möglichen Weise zu erzeugen.

genug kann davor gewarnt werden.

Nicht

Bei dem Abendmahl, wie bei

allen sonstigen heiligen Handlungen, ja überhaupt bei der Religion, 30*

468

Gnadenmittel.

3. Die Sakramente.

B. Das h. Abendmahl (5. Hailptstück).

kommt unendlich wenig, so gut wie gar nichts, auf die Empfindung, Bewegung, Rührung und dergleichen an.

Es ist eine reine Selbst­

täuschung, wenn einer darin und dadurch Segen gehabt zu haben meinte.

Der Segen liegt ganz wo anders und ist ein anderer: wie

auch die Schrift lehrt:

„Es ist ein köstlich Ding, daß das Herz

fest werde, welches geschieht durch Gnade" (Ebr. 13, 9). aber ist es Betrug und Belügung Gottes, wenn

Vollends

Gott belogen

werden kann, und unser selbst, so jemand durch derartige gewalt­ same Rührung und gemachte Empfindung sonstigen Mangel be­ decken, durch die Zerknirschung eines Tages, die Thräne eines Augen­

blicks die Versäumniß von Jahren ersetzen wollte. doch niemand nach „Empfindung"!

Darum trachte

Es schadet immer.

Im besten

Falle lenkt es die Gedanken von dem, was nöthiger ist, ja, worauf

es allein ankommt, von der Richtung des Willens, der Gesinnung, ab.

Rach der strebe, um die bete man: dann lasse man es gehen,

wie Gott will! —

Endlich: junge Christen haben die Neigung, das Abendmahl auf­

zuschieben.

Sie fühlen sich so unreif, so unwerth: sie möchten lieber

warten, bis sie würdiger sind. Nun ist es schon richtig, daß sie Un­

mündige, Schwache, Unvollkommene, mit einem Worte, daß sie An­

fänger sind. Und ist auch gut, daß sie sich dessen bewußt seien, wenn sie aus diesem Bewußtsein den Antrieb nehmen, Gott um so inniger zu danken, und fortan im übrigen Leben die Demuth, den Gehorsam,

das Streben nach Vollkommenheit, das vor allen dem jungen Christen ziemt, zu entfalten.

Aber das ist nicht nöthig (und dies ist auch

manchem älteren zu sagen), daß sie deshalb mit dem Abendmahle

warten. Worauf wollen sie warten? sind?

Dis sie ganz würdig geworden

Es giebt keine andere Würdigkeit des Christen, als, daß er

wisse: „Herr, ich bin zu gering aller der Treue und Barmherzigkeit, die du an deinem Knechte, oder vielmehr, die du an deinem Kinde

gethan hast," und aus diesem Bewußtsein heraus durch Vertrauen

und Gehorsam danke! — Oder meinen sie, warten zu müssen, bis

sie die Sünde, mit der sie zu kämpfen haben, los sind?

Wird das

auf Erden jemals der Fall sein? Oder wird nicht vielmehr der nie

ruhende, nie auszufetzende Streit mit der Sünde und Schwachheit in uns nur da zu steigendem Siege führen, wo wir in unserer

Vorbereitung.

Winke für den ersten Gang zum Tisch des Herrn.

469

Schwachheit uns an den wenden, der stärken, geben und vergeben kann? Die ihr aufschieben wollt, denkt doch nur an euren christlichen

Glauben: „Ich glaube an die Vergebung derSünde."

Wo bliebe

das, wenn ihr euch die Vergebung vorher verdienen könntet, ver­ dienen müßtet?

Nicht also: sie wird unverdient dargeboten, und

muß unverdient genommen werden, dann senkt sie den Frieden in die Brust, aus

dem das neue Leben quillt.

euch Gott und versiegle ihn, so

Den Frieden

schenke

oft ihr zum Sakramente kommt

und vernehmet das Wort: „Für euch gegeben" — der „Neue Bund" — immer neuer Gnade — „zur Vergebung der Sünden."

Amen!