Martin Buber Werkausgabe: Band 3 Frühe jüdische Schriften 1900-1922 9783641248529

Jüdische Renaissance und Kultur sind die Wegmarken für Bubers anfängliches Zionismusverständnis. Dieses steht zunächst i

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Martin Buber Werkausgabe: Band 3 Frühe jüdische Schriften 1900-1922
 9783641248529

Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung
Editorische Notiz
Frühe literarische und literarkritische Arbeiten
Zionismus
Jüdische Renaissance und Kultur
Erster Weltkrieg
Palästina
Anhang
Kommentar
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Glossar
Stellenregister
Sachregister
Personenregister

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Martin Buber Werkausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Israel Academy of Sciences and Humanities herausgegeben von Paul Mendes-Flohr und Peter Schäfer

Gütersloher Verlagshaus

Martin Buber Werkausgabe 3 Frühe jüdische Schriften 1900–1922 Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Barbara Schäfer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Die Edition wurde von 1998 bis 2003 aus Mitteln der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung sowie von 2001 bis 2004 aus Mitteln der German-Israeli Foundation for Scientific Research and Development (G.I.F.) finanziert. Seit 2005 wird die Edition von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert. Zusätzlich wurde und wird die Edition durch Zuschüsse der Lucius N. Littauer Foundation, der Memorial Foundation for Jewish Culture, dem Franz Rosenzweig Research Center for German-Jewish Literature and Cultural History und der Hans-Böckler-Stiftung unterstützt.

Copyright © 2007 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Umschlaggestaltung: Init Kommunikationsdesign GmbH, Bad Oeynhausen Satz: SatzWeise GmbH, Bad Wünnenberg ISBN 978-3-641-24852-9 www.gtvh.de

MBW 3 (02678) / p. 5 / 27.11.2006

Inhalt Dank 11 Einleitung 13 Editorische Notiz 51

Frühe literarische und literarkritische Arbeiten Vor Sonnenaufgang (1900) 53 J[izchak] L[eib] Perez – Ein Wort zu seinem fünfundzwanzigjährigen Schriftsteller-Jubiläum (1901) 55 Aus dem Munde der Bibel (1901) 57 J[izchak] L[eib] Perez (1915) 59 Über Agnon (1916) 62 Von jüdischen Dichtern und Erzählern (1916) 63 Der Dichter und die Nation (1922) 66 Vorwort [für E. E. Rappeport] (1922) 67

Zionismus Antworten Martin Bubers auf eine Tendenzrundfrage des Berliner Vereins Jüdischer Studenten im Wintersemester 1900/1901 (1901) 69

MBW 3 (02678) / p. 6 / 27.11.2006

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Inhalt

Gegenwartsarbeit (1901) 71 Eine Section für jüdische Kunst und Wissenschaft (1901) 74 Das Zion der jüdischen Frau (1901) 75 Zwei Sprüche vom Juden-Mai (1901) 82 Bergfeuer. Zum fünften Congresse (1901) 84 Die Congresstribüne (1901) 88 »Wir hoffen, dass es wahr ist« (1901) 90 Wege zum Zionismus (1901) 92 Ein Wort zum fünften Congreß (1902) 95 Theodor Herzl (1904) 107 Herzl und die Historie (1904) 115 Zur Aufklärung (1904) 126 Er und Wir (1910) 129 Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform (1914) 134

Jüdische Renaissance und Kultur Juedische Renaissance (1901) 143

MBW 3 (02678) / p. 7 / 27.11.2006

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Inhalt

Jüdische Wissenschaft (1901) 148 Ein geistiges Centrum (1902) 155 Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung (1902) 166 Der Jude. Revue der jüdischen Moderne (1903) 172 Was ist zu tun? (1904) 177 Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus (1905) 185 Die jüdische Bewegung (1905) 205 Zu Georg Arndts Gedächtnis (1909) 209 Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur (1910) 211 Drei Reden über das Judentum (1911) 1. Rede: Das Judentum und die Juden 219 2. Rede: Das Judentum und die Menschheit 227 3. Rede: Die Erneuerung des Judentums 238

Die Zukunft (1912) 257 Das Gestaltende (1912) 260 Der Wägende (1916) 266 Renaissance und Bewegung (1916) 268

MBW 3 (02678) / p. 8 / 27.11.2006

8

Inhalt

Eine Erklärung (1917) 275 »Kulturarbeit« (1917) 276

Erster Weltkrieg Die Tempelweihe (1915) 279 Die Losung (1916) 286 Argumente (1916) 290 Völker, Staaten und Zion 1. Begriffe und Wirklichkeit (1916) 293 2. Zion, der Staat und die Menschheit (1916) 307

An die Prager Freunde (1916) 321 Judenzählung (1916) 323 Ein Heldenbuch (1917) 324 Die Polnischen und Franz Blei (1917) 327 Unser Nationalismus (1917) 333 Ein politischer Faktor (1917) 336 Asketismus und Libertinismus (1917) 339

MBW 3 (02678) / p. 9 / 27.11.2006

9

Inhalt

Eine unnötige Sorge (1918) 342 Geleitwort [zum Buch Jiskor] (1918) 345 Wandlung (1918) 348

Palästina Die Entdeckung von Palaestina (1905) 351 Das Land der Juden (1912) 354 Der Augenblick (1914) 356 Die Eroberung Palästinas (1918) 360

Anhang Eine Jüdische Hochschule (1902) 363 Kommentar 393 Abkürzungsverzeichnis 443 Quellen- und Literaturverzeichnis 447 Glossar 458 Stellenregister 465 Sachregister 467

MBW 3 (02678) / p. 10 / 27.11.2006

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Inhalt

Personenregister 490 Gesamtaufriß der Edition 499

MBW 3 (02678) / p. 11 / 27.11.2006

Dank Den Herausgebern der MBW danke ich dafür, daß sie mich mit der Bearbeitung dieses Bandes betraut haben. Die von ihnen veranstalteten Arbeitstagungen im Kibbutz Maaleh Hachamisha, unweit Jerusalem, in Schloß Blankensee bei Berlin und in Schloß Elmau in Bayern, bei denen Buber-Experten aus der ganzen Welt zusammenkamen, waren unverzichtbar, um die Weite und Komplexität des Buberschen Werkes zu begreifen. In Princeton konnte ich von der Präsenz von Olga Litvak, Leora Batnitzky und Lionel Grossmann profitieren. Die reichen Schätze der Firestone Library der Princetoner Universität und des Jewish Theological Seminary in New York standen mir räumlich und zeitlich uneingeschränkt zur Verfügung. Besonderen Dank schulde ich schließlich den Mitarbeiterinnen der Martin Buber-Arbeitsstelle (vormals am Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin, seit 2005 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) Martina Urban und vor allen ihrer Nachfolgerin Heike Krajzewicz sowie Helen Przibilla. Sie koordinierten auch die konstruktive Zusammenarbeit mit dem Gütersloher Verlagshaus. Princeton, Sommer 2006

Barbara Schäfer

MBW 3 (02678) / p. 12 / 27.11.2006

MBW 3 (02678) / p. 13 / 27.11.2006

Einleitung 1. Thematik dieses Bandes Im Vorwort zu dem 1963 erschienenen Sammelband Der Jude und sein Judentum, in dem viele der Artikel dieses Bandes der Martin Buber Werkausgabe abgedruckt sind, bezeichnet Martin Buber seine dort zusammengestellten Schriften als Beiträge zur »jüdischen Sache«. 1 Daß er damit den Zionismus meinte, ist die Grundannahme und editorische Leitlinie dieses Bandes. Buber verweist im selben Vorwort auf eine frühere Veröffentlichung vieler dieser Schriften unter dem Titel Kampf um Israel. 2 »Kampf« sei in einem dreifachen Sinne zu verstehen: 1. der Kampf gegen die feindliche Umwelt, 2. der Kampf gegen die Feinde des Zionismus im Judentum, 3. der Kampf zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb der zionistischen Bewegung um den richtigen Weg der Verwirklichung, der für Buber in erster Linie ein ethischer Kampf war. Fraglos war Buber als reifer Mensch auf diesen letzten Kampf konzentriert, in dem »Zion durch Gerechtigkeit erlöst werden wird« (Jes 1, 27). Spätestens nach dem Tod von Achad Haam (1856-1927) hat sich Buber als der Mahner der zionistischen Bewegung profiliert und ist als das Gewissen des Zionismus in die Geschichte Israels eingegangen. Die Schriften dieser späteren Zeit sind in dieser Werkausgabe den Bänden 20 (Schriften zum Judentum) und 21 (Schriften zur zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Frage) vorbehalten. Doch die Wurzeln der dort dokumentierten Kämpfe gehen auf die vom vorliegenden Band erfaßten Texte zurück. Im Gegensatz zu den dort erkennbaren gefestigten Ansichten präsentiert dieser Band den jungen, nach Orientierung suchenden Buber, der nach anfänglich überströmender Begeisterung sein vorbehaltloses Engagement in der jungen zionistischen Bewegung sehr bald hinterfragt, auf Distanz zu Theodor Herzl (1860-1904) geht und einen vorübergehenden Ausweg im spirituellen Zionismus Achad Haams findet. »Jüdische Renaissance« wird das Schlagwort dieser anderen zionistischen Version, eine wesentlich von Buber geprägte und bis heute mit ihm assoziierte Formel, die er selbst allerdings nach seinem Aufbruch in den Chassidismus modifizierte, um nicht zu sagen zurücknahm.3 1. 2. 3.

JuJ, S. IX. M. Buber, Kampf um Israel – Reden und Schriften, 1921-1932, Berlin: Schocken Verlag 1933. Vgl. dazu im folgenden, S. 28.

MBW 3 (02678) / p. 14 / 27.11.2006

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Einleitung

Die zum Klassiker avancierten Drei Reden über das Judentum vor dem Prager Studentenverein Bar Kochba von 1909/10 offenbaren einen gewandelten Buber. Nun geht es nicht mehr um »Renaissance« als bloße »Wiedergeburt« des jüdischen Volkes im Rahmen des allgemeinen Völkerfrühlings, wie sie sich noch in den ersten Essays zu diesem Thema darbietet. Dazwischen liegt Bubers Versenkung in die Welt des Chassidismus. Nach seiner Rückkehr von dort heißt das neue Schlüsselwort »Erneuerung« im Geiste des späten Jesaja: »Ich schaffe den Himmel neu, die Erde neu« (Jes 65, 17). Buber hat einen neuen geistigen Standort gefunden. Dies ermöglicht ihm auch, sich wieder der zionistischen Bewegung zuzuwenden. Die Jugend wird das Hauptziel seiner erneuten zionistischen Annäherung, was sich in praktischer wie in schriftstellerischer Tätigkeit niederschlägt. Letztere erfaßt Band 8 der Werkausgabe, Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung. 4 Während die dort dargebotenen Texte die gesamte Frage der Erziehung und Pädagogik behandeln, enthält der vorliegende Band aus diesem Bereich nur die für den sogenannten Kulturzionismus so bedeutend gewordenen ersten Drei Reden über das Judentum vor den Prager Studenten. Der pädagogische Impetus tritt darin hinter dem kulturzionistischen Anliegen zurück. Eine schicksalhafte Prägung empfängt Buber aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Sowohl der Austausch mit eingerückten Zionisten, wie z. B. Hugo Bergmann (1883-1975) und Ernst Elijahu Rappeport (18891952), als auch Gustav Landauers (1870-1919) Einflußnahme erschüttern Bubers Weltsicht und mobilisieren seine kritischen Instinkte gegen völkischen Chauvinismus. Die Verantwortung für die im Frühjahr 1916 herausgebrachte neue Zeitschrift Der Jude und die große Kontroverse mit Hermann Cohen (1842-1918) über den Zionismus vertiefen seine bis dahin unzureichende Auseinandersetzung mit den Begriffen Volk, Staat und Nation und schärfen schließlich auch seine politische Wahrnehmung. So dringt Buber in diesem Krieg, den er selbst als den »Durchgang durch das Chaos« 5 bezeichnete, zu einer neuen ethischen Dimension vor, die bereits seine wenig später formulierte »Religiosität« impliziert. Sie sollte fortab sein Denken und Handeln bestimmen. Hier findet Buber seinen Archimedischen Punkt, von dem aus er seine neue spirituelle Welt konstruiert. 6 4. 5. 6.

Hrsg. von Juliane Jacobi, Gütersloh 2005. Die Formulierung stammt aus dem Geleitwort zum ersten Heft von Der Jude mit dem Titel »Die Losung«, in diesem Band, S. 286. Vgl. Bubers Brief an Hugo Bergmann vom 19. September 1919, M. Buber, B II, S. 57-58.

MBW 3 (02678) / p. 15 / 27.11.2006

Thematik dieses Bandes

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Dank dieser Entwicklung vertieft sich Bubers Beziehung zur Zionistischen Organisation weiter. Seine Rede auf dem Karlsbader Zionistenkongreß 1921,7 dem ersten Kongreß nach Kriegsende, ist der Beweis dafür, daß Buber seinen Platz in der Zionistischen Organisation wiedergefunden hat. Auch wenn er sich wegen der für ihn enttäuschenden Aufnahme seiner Rede danach vom Kongreßleben zurückzog, war er dennoch entschlossen, auch die politischen Entwicklungen mitzugestalten und Verantwortung zu übernehmen, wie besonders in Band 21 der Werkausgabe erkennbar werden wird. Der vorliegende Band hat somit die wichtige Aufgabe, Bubers anfänglich verschlungene Wege zu seinem späteren Wirken im Zionismus aufzuhellen. Wenn Buber in der Ausgabe von Der Jude und sein Judentum den »Kampf« im Titel fallen läßt und den Verhandlungsgegenstand als »die jüdische Sache« bezeichnet, läßt dies eine Aussöhnung mit den Grundanschauungen der Zionistischen Organisation erkennen, denn es wird kein Zufall sein, daß er damit die Formel aufgenommen hat, die Theodor Herzl seinen Tagebüchern vorangestellt hatte: »Die Judensache«. 8 Um die in diesem Aufriß bereits umschriebenen, sich wandelnden zionistischen Ansätze und Sichtweisen klarer zu präsentieren, wird in diesem Band von der durchgehend chronologischen Anordnung zugunsten einer themenorientierten Aufteilung in fünf (jeweils in sich chronologisch angeordnete) Blöcke abgewichen: 1. Die frühen literarischen und literarkritischen Schriften. Anders als im ersten Band der MBW, wo Äußerungen zur allgemeinen Literatur aufgenommen sind, geht es hier vorwiegend um jüdische Literatur. 2. Zionismus. Dieser Teil nimmt solche Beiträge auf, mit denen sich Buber vorbehaltlos in den Dienst der zionistischen Sache stellt. Hierher gehören vor allem seine Artikel aus seiner Zeit als hauptverantwortlicher Redakteur des zionistischen Zentralorgans Die Welt, seine unterschiedlichen Darstellungen der Person Theodor Herzls und einige kleinere Propaganda-Texte. 3. Jüdische Renaissance und Kultur. Indem sie zu einer höheren, anthropologischen Ebene vorstoßen, überschreiten die Beiträge zur Jüdischen Renaissance und Kultur in der Regel die zionistische Thematik und bilden damit einen geistigen Schwerpunkt Bubers, der nicht einfach 7. 8.

Unter dem Titel »Nationalismus« aufgenommen in: JuJ, S. 309-319; mit Kommentar wiedergegeben in: Ein Land und zwei Völker, S. 71-86. T. Herzl, BuT, Bd. 2, S. 41.

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Einleitung

in die Zionismus-Debatte integriert werden kann, sondern einen eigenen Reflexionsraum beansprucht. Dieses Hinausgreifen in weitere Kontexte kann als ein Grundbedürfnis Bubers ausgemacht werden und ist ursächlich für seine andauernde kritische Auseinandersetzung mit den zionistischen Prämissen und sein wechselndes zionistisches Engagement. 4. Der Erste Weltkrieg. Die Phase des Weltkrieges hebt sich als ein formativer Abschnitt der inneren Klärung und Standortfindung von allen anderen Lebensphasen Bubers ab. Die diversen Verbindungslinien seiner vorherigen Stationen laufen nun zusammen. Wie oben erwähnt, brachte der Erste Weltkrieg die entscheidende Lebenswende und den endgültigen geistigen Durchbruch. Am Ende des Weltkriegs war Buber vierzig Jahre alt, begann also sein fünftes und produktivstes Lebensjahrzehnt. 5. Palästina. Daß schließlich Bubers Beziehung zu Palästina innerhalb der zionistischen Bewegung in ihrer Verschmelzung von religiösen und nationalen Anschauungen eine Sonderstellung zukommt, soll die getrennte Erfassung seiner Erörterungen zu diesem Thema unterstreichen. Die Beziehung Bubers zum Land Israel ist ein noch zu vertiefendes Thema. Die wenigen hier angeführten Texte mögen als Anregung dienen, um unter Berücksichtigung des Buberschen Gesamtwerkes zu einem besseren Verständnis dieses Themenkomplexes vorzudringen.

2. Die frühen literarischen und literarkritischen Arbeiten Bubers Drang zu »kreativem Schreiben« machte sich schon früh bemerkbar und begleitete ihn sein ganzes Leben. Dies fand in eigenen Beiträgen wie auch in der Auseinandersetzung mit den Werken anderer Ausdruck. Mehrere Texte im ersten Band der MBW zeugen von Bubers ausgeprägtem literarischen Interesse. 9 Daß Buber auch zahlreiche Gedichte verfaßte und sich mit dem Theater beschäftigte, wird der erste Teilband von Band sieben der MBW, Schriften zu Literatur und Theater, vor Augen führen. Der vorliegende Band erfaßt die frühen Beiträge zu jüdischen Themen und Schriftstellern. Jeder einzelne von ihnen läßt einen zionistischen Kontext erkennen, ohne jedoch, anders als die Texte der folgenden Abschnitte, eine programmatische zionistische Botschaft zu verkünden. Die Umarbeitung eines talmudischen Textes in »Vor Sonnenaufgang« aus dem Jahre 1900, die diesen Band eröffnet, ist ein früher Versuch, mit dieser Literaturgattung neue Wege zu beschreiten, dem keine weiteren gefolgt sind. Trotz der Verehrung für die rabbinische Gelehrsamkeit sei9.

Vgl. die Einleitung von M. Treml, MBW 1, S. 24-26.

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Die frühen literarischen und literarkritischen Arbeiten

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nes Großvaters Salomon Buber (1827-1906) ist Buber dessen Weg nicht gegangen, hatte im Gegenteil als junger Mann ein eher gestörtes Verhältnis zur jüdischen Gelehrtentradition. 10 Erst als reifer Mensch und auf dem Umweg über den Chassidismus konnte er sich dieser wieder annähern. Die Ausgestaltung und radikale Umdeutung des Talmudtextes entspringt dem Wunsch kreativer Erneuerung. Offenbar war aber diese Textarbeit für Buber nicht befriedigend, denn er hat, wenn man von einigen frühen Gedichten absieht, 11 keine weiteren Texte aus der rabbinischen Literatur bearbeitet. Erst in der Neuausgabe der chassidischen Texte hat er diesem gestalterischen Drang wieder nachgegeben.12 Unter den ostjüdischen Schriftstellern nahm Jizchak Leib Perez (18521915) den obersten Platz bei Buber ein. In ihrer Biographie über Perez stellt Ruth Wisse fest, daß kein Schriftsteller, mit Ausnahme Theodor Herzls, die jüdische Moderne so entscheidend geprägt habe wie Perez. 13 Von den achtziger Jahren bis zu seinem Tod war er »die beherrschende geistige Persönlichkeit des polnischen Judentums«. 14 Auf dem Hintergrund seiner polnischen Erziehung und Jugend und der daraus resultierenden Vertrautheit mit den polnischen Verhältnissen verwundert es daher nicht, daß Buber die Bedeutung des um eine Generation älteren Perez gesehen hat und infolge seines Vermittlungsbedürfnisses auch im Westen bekannt machen wollte. Bubers Verhältnis zu Perez ist bisher wenig beachtet geblieben. Doch zeugt die Existenz der drei hier vorgelegten Äußerungen über ihn von einer andauernden Beschäftigung Bubers mit diesem Autor. In der Tat dürften Perez literarische Neigungen und Aktivitäten Buber Anstoß und Vorbild gewesen sein, denn sowohl die Wiederentdeckung und Förderung des Jiddischen, Perez vorübergehende Hinwendung zum Sozialismus, seine kritische Zuwendung zum Chassi-

10. Gershom Scholem hat darauf hingewiesen, daß diese Abneigung gegen das Gesetz und die rabbinische Tradition im jungen Buber dem starken Einfluß Friedrich Nietzsches zuzurechnen ist und, darüberhinaus, seiner totalen Ablehnung der Diaspora; vgl. G. Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums, S. 140-144; siehe auch: Paul Mendes-Flohr, Zarathustras Apostel. Martin Buber und die Jüdische Renaissance. 11. So etwa der Gedichtzyklus »Aher«, aus dem Gedichte im 2. Jg. (Juni bzw. August 1902) von Ost und West abgedruckt sind. Sie werden in Band 7.1 der MBW aufgenommen. 12. Zum Umgang mit den chassidischen Textvorlagen vgl. die Dissertation von Martina Urban, Aesthetics of renewal – Martin Buber’s Representation of Chassidism as ›Kulturkritik‹ (vorläufiger Titel; in Vorbereitung). 13. R. Wisse, J. L. Peretz, S. XIII. 14. Ebd., S. 8. Neben Wisse hat Ken Frieden die Stationen von Perez Leben in Classic Yiddish Fiction detailliert aufgearbeitet.

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Einleitung

dismus wie schließlich die Vision seines kulturellen Nationalismus liegen alle auf der Linie, die Buber selbst verfolgte. Perez stand dem Zionismus ablehnend gegenüber und war ein Anhänger des Diaspora-Nationalismus Simon Dubnows (1860-1941). Er forderte eine Heimstätte, d. h. kulturelle Autonomie für die polnischen Juden in Polen. Das minderte Bubers Bewundererung für diesen großen Erneuerer nicht, im Gegenteil, mit dem kulturellen Nationalismus Perez konnte sich Buber weitgehend identifizieren. Daß er ihn hier allerdings zu einem besseren Zionisten erklärt als die von ihm kritisierten »offiziellen« Zionisten, 15 ist unangemessen und nur aus dem Widerstand gegen den politischen Zionismus Theodor Herzls zu erklären, der sich in jener Zeit in ihm zu regen begann und zu einer ästhetisierenden Sicht Zuflucht nehmen ließ. Die Erklärung »Zion ist uns das Reich der künftigen jüdischen Schönheit« 16 – eben jener Schönheit, die Perez aufgezeigt hat – ist der Ausdruck von Bubers noch nicht beendeter Suche nach einem zionistischen Wertesystem, das seinen Wahrnehmungen und Bedürfnissen in dieser Zeit entsprach. Es sollte noch große Wandlungen erfahren. Hier ist es noch völlig frei von den beiden wesentlichen Komponenten seines gereiften Zionismusverständnisses: der religiösen Dimension und dem Land Israel. Bubers Präsentation von Shmuel Josef Agnon (1888-1970) in der 1916 erschienenen Anthologie Treue – eine jüdische Sammelschrift läßt ein instinktsicheres Urteil über den damals noch wenig bekannten Autor erkennen. Diese Vorstellung ist nicht analytisch oder informativ, sondern eine emphatische Ergebenheitserklärung, typisch für Bubers unkonventionelles und immer personenbezogenes Verhalten. Die aus diesen Anfängen entstandene lebenslange Freundschaft zwischen beiden gründete in der beiden vertrauten und von beiden verinnerlichten Welt des Chassidismus galizischer Prägung. 17 Gershom Scholem (1897-1982) konnte in seinen Erinnerungen »Agnon in Deutschland« 18 einen ironischen Kommentar zu diesem Bubertext nicht unterdrücken. Buber sei der Aufforderung des Herausgebers Leo Herrmann (1888-1951) in seinem »charakteristischen leicht erhabenen Stil« nachgekommen. Zu Bubers Formulierung, Agnon habe »die Weihe zu den jüdischen Dingen«, bemerkt er: »Weihe war im Munde Bubers ein Wort der höchsten Aner15. Vgl. in diesem Band, S. 56. 16. Ebd. 17. Vgl. dazu D. Laor, Agnon und Buber: The Story of a Friendship, or: The Rise and Fall of the ›Corpus Chasidicum‹. 18. G. Scholem, Agnon in Deutschland. Erinnerungen, S. 122; vgl. auch die Analyse dieser Buber-Passagen bei E. Lappin, Der Jude, S. 333-334.

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Die frühen literarischen und literarkritischen Arbeiten

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kennung, wenn auch nicht völlig klar war, was er eigentlich damit meinte.« 19 Die Würdigung des gefeierten »Nationaldichters« Chaim Nachman Bialik (1873-1934) zeichnet sich nicht nur durch einen »erhabenen Stil« aus, sie strotzt geradezu von rhethorischem Pathos. Der Erscheinungsort in der Jüdischen Rundschau, dem offiziellen Parteiorgan der deutschen Zionisten, und die öffentliche Euphorie um die Feierlichkeiten zu Bialiks fünfzigstem Geburtstag 20 mögen diese Erhabenheit inspiriert haben. Ganz persönlich ist dagegen das diesen literarischen Teil abschließende »Vorwort« zu Ernst E. Rappeports Gedichtsammlung Loblieder. Rappeport war nach Grete Schaeder »in den Jahren 1910-1920 eine Art zweiter Sohn« für Buber. 21 Zahlreiche Briefe belegen, daß Buber nicht allein für Rappeports geistige Entwicklung, sondern auch für seine materielle Lebenssicherung Verantwortung übernahm. Als Rappeport eingezogen wurde, ermunterte ihn Buber, Berichte über seine Kriegserfahrungen für die 1916 gegründete Zeitschrift Der Jude zu schreiben. Die daraufhin verfaßten zwei Beiträge »Das neue Wort zwischen den Völkern« 22 und »Ketzerworte des Dr. A. A. Rieser« 23 reflektieren die Problematik des jüdischen Soldaten und dessen Loyalitätsverpflichtungen in diesem Krieg. Die (negative) Rezension zu Nathan Birnbaums (1864-1937) 1918 erschienener Bekenntnisschrift Gottes Volk in Der Jude 24 übernahm Rappeport auf Bitten Bubers fast gegen seinen Willen, da er die von Birnbaum als Vorbild hingestellten streng Orthodoxen hoch schätzte. 25 Der feinsinnige idealistische Intellektuelle Rappeport wanderte 1920 nach Palästina aus, konnte aber das Leben in der in diesem »Vorwort« erwähnten Siedlung 26 nicht auf Dauer ertragen und fand schließlich eine Existenz als Geigenbauer. Mit der Veröffentlichung der Loblieder erwies Buber ihm einen letzten Freundschaftsdienst.

19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26.

Ebd. M. Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, S. 218 M. Buber, B I, S. 59-60. Der Jude, 1. Jg., Heft 1, April 1916, S. 52. Der Jude, 1. Jg., Heft 8, November 1916, S. 544-556. Der Jude 3. Jg., Heft 1, April 1918, S. 20-24. Vgl. E. Lappin, Der Jude, S. 392-393. Es handelt sich um Ein Harod; vgl. in diesem Band, S. 67.

MBW 3 (02678) / p. 20 / 27.11.2006

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Einleitung

3. Zionismus Buber und Theodor Herzl

Buber war zwanzig Jahre alt, als er den Zionismus für sich entdeckte. 27 Obwohl fast von Anbeginn ein Anhänger und Verkünder von Achad Haams kulturzionistischer Ausrichtung, waren seine Beziehungen zu Theodor Herzl, dem Begründer des politischen Zionismus, anfänglich eng. Herzl erkannte Bubers Begabung und versuchte, ihn als Mitarbeiter heranzuziehen. Er zeigte für seine kulturellen Interessen Sympathie, obwohl bald ersichtlich wurde, daß Buber damit auch politische Absichten verband, die sich gegen die von Herzl vertretene Kongreßpolitik wandten. Vielleicht war Herzls Aufforderung an Buber, die hauptverantwortliche Redaktion des zionistischen Zentralorgans Die Welt zu übernehmen, sogar ein wohlüberlegter Versuch, Buber stärker in seine Vorhaben einzubinden. Bubers Artikel »Bergfeuer. Zum fünften Congresse«, 28 unmittelbar vor der Übernahme der Redaktion der Welt verfaßt, dürfte genau solchen Erwartungen Herzls entsprochen haben. Wenn auch die übrigen in diesem Band präsentierten Äußerungen Bubers in der Welt und andernorts rückblickend fast alle bereits Opposition gegen die zionistische Leitung erkennen lassen, tolerierte Herzl diese Kritik lange Zeit, weil er glaubte, in der nahen journalistischen Zusammenarbeit mit Buber Einfluß auf ihn nehmen zu können. Er mußte schon während des Fünften Zionistenkongresses im Dezember 1901, nach dem aufsehenerregenden Protestauszug der sogenannten Demokratischen Fraktion 29 aus dem Kongreßsaal, erkennen, daß Bubers Entschlossenheit nicht zu erschüttern war. Buber legte die Redaktion der Welt nach nur vier Monaten unter Vorschiebung gesundheitlicher Gründe nieder und stürzte sich mit voller Kraft in seine kulturzionistischen Agenda. Dies war in erster Linie der Versuch, eine neue Zeitschrift namens Der Jude als Sprachrohr der Demokratischen Fraktion herauszubringen. 30 Buber und seine Mitstreiter Chaim Weizmann (1874-1952) und Berthold Feiwel (1875-1937) konnten jedoch seinerzeit ihr Vorhaben nicht ver27. Siehe dazu M. Treml, MBW 1, S. 39-45. 28. In diesem Band, S. 84-87. 29. Vgl. J. Reinharz, Chaim Weizmann, S. 90. Zu Hintergrund und Geschichte der Demokratischen Fraktion siehe ebd., S. 65-91 (Kapitel: »The Democratic Faction«) und das Kapitel »Radical Zionism and Its Attitude Toward Jewish Tradition« in E. Luz, Parallels Meet, S. 173-202. 30. Siehe dazu den Prospekt »Der Jude. Revue der Jüdischen Moderne«, in diesem Band, S. 172-176.

MBW 3 (02678) / p. 21 / 27.11.2006

Zionismus

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wirklichen, weil der Kongreß die finanzielle Unterstützung versagte. Im Übrigen schien die von Leo Winz (1876-1952) in Berlin gegründete neue Zeitschrift Ost und West auch genau die Leserschaft zu bedienen, die Buber und seine Freunde als Zielpublikum für ihr Blatt im Auge hatten und machte also eine weitere Zeitschrift dieser Ausrichtung überflüssig. Trotz mangelnder offizieller Unterstützung gelang Buber aber die Gründung des Jüdischen Verlags im Jahre 1902, und dies verschaffte ihm nicht nur den angestrebten unabhängigen Spielraum, sondern wurde bis zur im Jahre 1916 erfolgten Gründung der Zeitschrift Der Jude die grundlegende Plattform seiner kulturzionistischen Aktivitäten überhaupt. Die »Jüdische Hochschule« bildete das andere große Projekt der Demokratischen Fraktion, bei dem Chaim Weizmann federführend war. Da der 1902 im Jüdischen Verlag erschienene umfangreiche Prospekt hauptverantwortlich von Chaim Weizmann in Zusammenarbeit mit Feiwel vorbereitet und verfaßt wurde, 31 Buber aber lediglich als Mitautor zeichnete, ist der Prospekt nicht im Textteil, sondern im Anhang dieses Bandes abgedruckt. Bubers eigene Ansichten zur jüdischen Hochschule sind im Artikel »Ein geistiges Centrum« 32 formuliert. Theodor Herzl verfolgte diese kulturellen Initiativen mit viel Wohlwollen, sah sich aber außerstande, finanzielle Unterstützung zu leisten, da der ständige Geldmangel der Zionistischen Organisation ihn immer wieder in Schwierigkeiten brachte – man kann ohne Übertreibung sagen: »ein Nagel zu seinem Sarg war.« 33 Die Jungdemokraten hingegen verstanden die verweigerte Förderung als ungerechtfertigt und faßten sie als gezielte Maßregelung auf. Erst als sie in der emotionsgeladenen Kontroverse zwischen Achad Haam und Max Nordau (1849-1923) um Herzls utopischen Roman Altneuland im Herbst 1902 für Achad Haam Partei ergriffen, kam es schließlich zum Bruch zwischen Herzl und Buber, den Herzl als Sprecher der Jungdemokraten ansah. Hier waren für Herzl die Grenzen der Solidarität überschritten, da es in seinen Augen in diesem Streit um einen Machtkampf um die Leitung des Zionismus ging, um den Versuch, seine Autorität zu unterminieren. 34 Die sich überstürzenden Ereignisse des Jahres 1903 bis zu Herzls Tod – angefangen mit dem Sinai-El-Arisch Projekt, dann Herzls Reise nach Ägypten, den Pogromen von Kischinew, Herzls Reise nach Rußland, 31. Vgl. J. Reinharz, Chaim Weizmann, S. 118. 32. In diesem Band, S. 155-165. 33. T. Herzl, BuT, Bd. 3, S. 49 (Eintrag 24. August 1899) und S. 146 (Eintrag 20. September 1900); Bd. 7, S. 481 (Brief Nr. 5392/19. Dezember 1903). 34. Vgl. B. Schäfer, Die ›Demokratische Fraktion‹.

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dem Uganda-Vorschlag der britischen Regierung und dessen Diskussion auf dem dramatischen Sechsten Kongreß vom 23. bis 28. August in Basel – verhinderten jede Möglichkeit einer Aussöhnung zwischen Herzl und Buber. Als Herzl am 3. Juli 1904 in Edlach starb, hinterließ er Buber den ungelösten persönlichen Konflikt zur Bewältigung. In der Tat beschäftigte Buber sein Verhältnis zum Gründer der Zionistischen Organisation sein ganzes Leben lang. Abgesehen von einigen kleineren Miszellen hat sich Buber in drei wichtigen Beiträgen mit Person und Vermächtnis Theodor Herzls auseinandergesetzt: in dem in diesem Band enthaltenen Text »Herzl und die Historie« von 1904,35 dem ebenfalls hier abgedruckten, im Gedenkheft der Welt zu Herzls fünfzigstem Geburtstag 1910 erschienenen Artikel »Er und Wir« 36 und schließlich in der großen Bilanz der späten Jahre, dem hebräisch geschriebenen Artikel »Pinsker, Herzl we-Zion« (Pinsker, Herzl und Zion) von 1942.37 Bei aller Hochachtung, die er in jedem dieser Beiträge zum Ausdruck bringt, vermochte Buber seinen tiefsitzenden Vorbehalt gegenüber Herzl nicht zu überwinden, wonach Herzl ein Mensch ohne jüdische Kultur war, der darum auch nicht die geeignete Person zur »Lösung der Judenfrage« sein konnte. Damit bezweifelte er die Legitimation Herzls als Führer der Bewegung. 38 Erst mit großem Abstand und im Rückblick auf mehrere Jahrzehnte gelebten Zionismus findet Buber schließlich seinen Frieden in dieser Frage, indem er nach bewundernswerter historischer Detailarbeit Herzls Bedeutung für die jüdische Geschichte klar herausstellt und anerkennt. Aber er erklärt Herzl gleichzeitig zu einer im tiefsten Grunde tragischen Figur, da dieser – obwohl er bei vielen Gelegenheiten, ganz besonders bei der Ugandakontroverse auf dem Sechsten Kongreß, kurz davor war, das »wahre Zion« zu erkennen – die Kraft nicht aufbringen konnte, zu diesem Zion vorzustoßen, weil er zu sehr von den »Dingen dieser Welt« in Anspruch genommen war. 39

35. In diesem Band, S. 115-125. 36. In diesem Band, S. 129-133. 37. Deutsche Übersetzung unter dem Titel »Die drängende Stunde« in: M. Buber, IuP, S. 127-146. 38. Herzl selbst hatte diese Legitimation in Der Judenstaat, S. 67-70, mit der Figur der »negotiorum gestio« aus dem römischen Recht begründet. (»Der Staatsgestor ist genügend legitimiert, wenn die allgemeine Sache in Gefahr und der Dominus durch Willensunfähigkeit oder auf andere Art verhindert ist, sich selbst zu helfen.« Ebd., S. 69). 39. Vgl. dazu B. Schäfer, Martin Bubers Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis Theodor Herzls, S. 502.

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Zur Bedeutung des Fünften Zionistenkongresses

»Dieser Kongreß ist eine Wende. Wir Jungen beginnen, die Sache in die Hand zu nehmen« schreibt Buber am 26. Dezember 1901 an seine Frau Paula Winkler (1877-1958).40 Und wenige Tage später, am 1. Januar 1902, fügt er hinzu: »Es war ein großartiger Kampf, in dem unsere Minorität gesiegt hat.« 41 Herzl hätte dies gern anders gesehen. In seiner Tagebuchnotiz über den Kongreß wird der spektakuläre Protestauszug der 37 »Jungdemokraten« 42 mit keinem Wort erwähnt. Er hat damit offensichtlich die Bedeutung der Ereignisse herunterspielen wollen, denn er vergaß keinen Augenblick, daß diese Tagebücher einmal ein Dokument der Geschichte des Zionismus werden würden, und er wollte jede Aufwertung der neuen Opposition vermeiden. Daß er ihre Aktivitäten nicht unterdrücken konnte, war ihm klar. Wie aus dem in diesem Band wiedergegebenen Bericht Bubers »Ein Wort zum fünften Congreß« 43 und vor allem aus dem Kongreßprotokoll 44 selbst hervorgeht, war dieser Kongreß, der vom 26. bis 30. Dezember 1901 in Basel tagte, durchaus von besonderer Bedeutung, ist jedoch durch den dramatischen Verlauf des Sechsten Kongresses 1903, auf dem der ostafrikanische Siedlungsvorschlag im Mittelpunkt stand, in den Hintergrund getreten. Diese Bedeutung lag nicht etwa in dem oben konstatierten »Sieg der Minorität«, sondern zunächst in drei wichtigen Ergebnissen: der Gründung des Nationalfonds zum Ankauf von Land, 45 dem Beschluß, nach der in diesem Jahr erreichten Aktionsfähigkeit der Jüdischen Kolonialbank in London eine Tochterbank in Palästina zu errichten – dem ersten Standbein der Zionisten in Palästina – und der Neustrukturierung der Organisation (wonach u. a. das landsmannschaftliche Organisationsprinzip der Kongreßvertretung zugunsten von Fraktionsbildungen geöffnet wurde). 46 Außerdem wurde beschlossen, den Kongreß künftig nur alle zwei Jahre stattfinden zu lassen. Für Buber selbst hatte der Kongreß insofern besonderes Gewicht, als er 40. 41. 42. 43. 44.

M. Buber, B I, S. 171. Ebd. Siehe oben, Anm. 29. In diesem Band, S. 95-106. Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des V. Zionisten-Congresses in Basel, Wien 1901. 45. Der Vorschlag war schon auf dem Ersten Kongreß von Hermann Schapira (18401898) gemacht worden. 46. Aus dieser Tochtergründung, der »Anglo Palestine Bank«, wurde nach der Staatsgründung die bekannte »Bank Le’ummi« (Nationalbank). Die Änderung der Organisationsstrukturen ermöglichte die Bildung weltanschaulicher und politischer Gruppierungen über die Landesgrenzen hinweg. Das erste Beispiel dafür ist die Mis-

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hier sein erstes großes Referat über »Jüdische Kunst« hielt, das mit der Bitte um Subventionen für den neuzugründenden Jüdischen Verlag endete. Darüberhinaus aber hatte die 37 Kopf starke Gruppe der Demokratischen Fraktion, der Buber angehörte, auf diesem Kongreß ihren einzigen und großen Auftritt. Buber war nicht ihr Initiator, arbeitete aber eng mit Chaim Weizmann zusammen, der sich im Laufe des Jahres 1901 als Führer dieser jungdemokratischen Gruppe profiliert hatte. 48 Vor dem Zionistenkongreß hatte Weizmann vom 18. bis 23. Dezember in Basel einen »Jungzionistentag« einberufen. Die Zustimmung dazu hatte er Theodor Herzl in langen Verhandlungen abringen können. Auf dieser Vorkonferenz konstituierte sich die nicht gerade langlebige Gruppe der Demokratischen Fraktion. Sie bildete aber noch keine Sektion des Kongresses, da dies vor der Neufassung des Organisationsstatutes noch nicht möglich war. Diese erste Opposition innerhalb der Zionistischen Organisation forderte mehr Mitsprache bei den Entscheidungsprozessen und verlangte wissenschaftlich theoretische Diskussionen über Grundfragen des Zionismus auf den Kongressen, darunter die sogenannte »Kulturfrage«. Die Vorkonferenz formulierte mehrere Spezialanträge, die im Kongreß eingebracht werden sollten, sowie die Vorlage für eine allgemeine Resolution mit folgendem Wortlaut: »Der Congreß erklärt die culturelle Hebung, d. h. die Erziehung des jüdischen Volkes in nationalem Sinne als eines der wesentlichsten Elemente des zionistischen Programmes und macht es allen Gesinnungsgenossen zur Pflicht, an ihr mitzuarbeiten«. 49 Mit der Annahme dieser Resolution konnten die Jungdemokraten gegen den erbitterten Widerstand der orthodoxen Vertreter einen großen Sieg auf diesem Kongreß erringen, und insofern war Bubers Einschätzung zutreffend. Die Kulturfrage wurde damit zumindest theoretisch, wenn auch nicht in der Praxis, Bestandteil des zionistischen Programms. 50 Aber trotz dieses Erfolges fühlten sich die jungen Kulturzionisten von der Führung der Zionistischen Organisation allein gelassen und mußten nach Wegen außerhalb der Organisation suchen, um ihre Ziele zu verfolgen. Ohne diesen erhofften Rückhalt verlor die Demokratische Fraktion

47. 48. 49. 50.

rachi-Fraktion der toratreuen Zionisten und das bekannteste politische die späteren Arbeiterparteien. »Referat über jüdische Kunst«, Abdruck in: Die Welt, 6. Jg., Nr. 3, 17. Januar 1902, S. 9-11; siehe dazu G. Schmidt, The Art and Artists of the Fifth Zionist Congress, S. 8. J. Reinharz, Chaim Weizmann, S. 73-91. In diesem Band, S. 103. Zu den Diskussionen über die Kulturfrage auf dem Fünften Kongreß vgl. M. Stanislawski, Zionism and the Fin de Siècle, S. 107-109.

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den anfänglichen Schwung und löste sich im Verlaufe des Jahres wieder auf. Buber konzentrierte sich auf den Jüdischen Verlag, der 1902 ohne finanzielle Unterstützung der Zionistischen Organisation in Berlin gegründet wurde; und Weizmann setzte alles daran, die Jüdische Hochschule voranzutreiben, wobei er ideell auch von Herzl unterstützt wurde.

4. Jüdische Renaissance und Kultur Renaissance und die Kulturfrage im Zionismus waren die beiden Pole, in deren Spannungsfeld sich Bubers grundsätzliches Verständnis von Nation und damit auch seine Sicht des Zionismus über die Jahre entwickelte. Jacob Burckhardts (1818-1897) Renaissance-Interpretation und die Lehren seines Schülers Friedrich Nietzsche (1844-1900) stehen am Anfang dieser geistigen Wanderung; Achad Haams Werk und Wirken führt Buber zur jüdischen Nation. Buber selbst dringt aus diesen Grundpositionen zu seiner eigenen – am Ende – religiösen zionistischen Weltsicht vor.

Die Jüdische Renaissance im Schatten Nietzsches

Die Jüdische Renaissance ist nicht nur für die Erforschung des Werkes Martin Bubers, sondern für die Analyse der Jüdischen Moderne überhaupt ein so zentrales Thema, daß die Literatur dazu kaum noch überschaubar ist. In jüngster Zeit haben die Untersuchungen Asher Biemanns (Herausgeber des sechsten Bandes der MBW, Sprachphilosophische Schriften) zum Renaissancebegriff sowie die Jacob Golombs zur Rezeption Nietzsches durch Buber und im Zionismus allgemein das Verständnis dieses Phänomens vertieft, und diese Einführung knüpft an ihre Erkenntnisse an. 51 Der Schatten Nietzsches war lang, wie vor allem Jacob Golomb betont. 52 Daß er aber abnimmt und auch andere Konturen sichtbar werden, ergibt der Vergleich der diversen »Renaissance«-Texte. In dem 1901 in Ost 51. A. Biemann, Aesthetic Education in Martin Buber: Jewish Renaissance and the Artist; ders., The Problem of Tradition and Reform in Jewish Renaissance and Renaissancism; J. Golomb, Nietzsche and Zionism, und ders., Nietzsche und die Jüdische Kultur. 52. In Kapitel 5 von Nietzsche and Zionism, das Buber behandelt, stellt J. Golomb fest, daß Buber sich nie von dem »Überfall« Nietzsches in seiner Jugend erholt hat, und dieser selbst in seine endgültige Standortformulierung, den ›Hebräischen Humanismus‹, eingedrungen ist; dort, S. 188.

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und West veröffentlichten ersten Beitrag, »Juedische Renaissance«, 53 präsentiert sich Buber noch ganz als Epigone seiner beiden ersten Lehrmeister Burckhardt und Nietzsche. Die Rede ist von der »Selbstbesinnung der Völkerseelen«, von der »grossen allgemeinen Schönheitskultur«. »Das Geheimnis des Neuen« offenbart sich »in der Seele des einzelnen Menschen, in der Struktur der gesellschaftlichen Wechselbeziehungen, in der künstlerischen Geburt von Werken und Werten, in den ewigen Kreisen des Kosmos, in den letzten Rätseln alles Seins, […] und die Wiedergeburt feiert ihre stillen Sonnenfeste«. An dieser Wiedergeburt nimmt jeder Einzelne und jedes Volk teil, es geht um die »Wiedergeburt des Menschentums.« Bubers Vision für das jüdische Volk ist hier noch die recht unbestimmte Vision vom »Glanz einer neuen Schönheit«, die vor allem »manchen Krankheitsstoff […], manches Hemmnis niederzwingen« soll. Die nationalen geistigen Werte des Judentums, die Buber in erster Linie mit Hilfe Achad Haams entdecken sollte, und die in seinen späteren Abhandlungen im Vordergrund stehen, kann er noch nicht benennen. Das Exil wird pauschal als »Folterschraube« verdammt, die »Zwingherrschaft des Gesetzes« angeklagt, ja sogar der Chassidismus noch als eine »krankhafte Erscheinung« abgetan. 54 In diesem ersten Text Bubers zur Renaissance steht die Analyse der Misere, die Klage über die Situation, ganz im Sinne Nietzsches, im Vordergrund, und es ist die Erziehung zur Ästhetik, die sie überwinden soll. A. Biemann 55 verweist darüberhinaus auf den Einfluß Julius Langbehns (1851-1907), dessen Rembrandt als Erzieher 56 um die Jahrhundertwende stark rezipiert wurde und den allgemeinen Renaissance-Diskurs mitbestimmte. Obwohl eine direkte Abhängigkeit nicht nachzuweisen ist, sind einige Passagen des ersten Renaissance-Textes Bubers geradezu eine Anwendung der Langbehnschen Thesen. So, wenn er unter »allgemeinste Gesichtspunkte« schreibt: »Diese Bewegung wird vor allem das einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl der Juden wieder auf den Thron setzen. Das ist ein Losungswort gegen die reine Geistigkeit.« 57 Biemann hebt hervor, daß Langbehn eine neue Aufklärung verkündete, deren Ziel nicht der Appell an den Intellekt, sondern »das Erwachen der Sinnlichkeit« war. Die Bedeutung der Kunst war nicht mehr, kulturelle Verschie53. In diesem Band, S. 143-147. 54. In diesem Band, S. 146. 55. A. Biemann, Aesthetic Education in Martin Buber, chapter 4: Rembrandt and Renaissance. 56. J. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, Leipzig 1896. 57. In diesem Band, S. 146.

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denheit und persönliche Erbauung zu bewirken, sondern »a way to unlearn the enlightenment of the intellect and to repair the rift between mind and nature.« 58 Genau diesen Grundgedanken verfolgte Buber in seinem Projekt der Jüdischen Renaissance. Der radikale Tenor der »Schelilat ha-galut« (hebr. für: »Negation des Exils«) 59 schlägt uns auch aus dem Text »Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung« 60 von 1902 ebenso wie aus »Das Gestaltende«61 von 1912 entgegen. Immer, wenn Buber die kreativen Kräfte im Judentum beschwört, dient diese »Schelilat ha-galut« als Negativfolie. Erst die Begegnung und Auseinandersetzung mit Achad Haams nationalen Ideen half Buber, die im Aufsatz von 1901 nur umrissene Erneuerungsprogrammatik auszufüllen. Auf die zunehmende Vertrautheit mit dessen Werk wird unten genauer eingegangen. Hier sei nur hervorgehoben, daß bereits der zweite Renaissancetext, »Von der Renaissance«, 1903 verfaßt und 1905 als erster Teil von »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus« veröffentlicht, diese Lücke füllt, indem er die schöpferischen Kräfte im Judentum selbst benennt: den Chassidismus und die Haskalah ebenso wie einzelne Individuen wie Spinoza (1632-1677). Der pauschalen Ablehnung des Exils hat eine differenzierte Evaluierung bestimmter Bewegungen und Phänomene der neueren Exilsgeschichte – wie die Wiederbelebung des Hebräischen und die Existenz der jiddischen Sprache – Platz gemacht. Die Anprangerung des »Rabbinismus« und die »Zwingherrschaft des Gesetzes« erhält Buber – im Gegensatz zu Achad Haam – aber aufrecht. Sie bleiben die ewigen Gegner. »Von der Renaissance« wurde als erster Teil von »Renaissance und Bewegung« 1916 in seiner ursprünglichen Fassung wiederabgedruckt. 62 Die in »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus« enthaltene Version von 1905 enthält dagegen Erweiterungen, die aus der Gesamtintention dieses speziellen Beitrags zu erklären sind und im Text von 1916 fehlen. Wie im Textkommentar 63 näher ausgeführt, kann »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus« als ein Manifest Bubers betrachtet werden, mit dem er in der ungeklärten Situation nach Herzls plötzlichem Tod einen Führungsanspruch in der Gesamtbewegung anmelden wollte. 64 58. Biemann, ebd., S. 12. 59. Vgl. zum Begriff die grundlegende Analyse Eliezer Schweids, The Rejection of the Diaspora in Zionist Thought: Two Approaches. 60. In diesem Band, S. 166-171. 61. In diesem Band, S. 260-265. 62. In diesem Band, S. 268-273. 63. In diesem Band, S. 412. 64. Man könnte Buber daher politische Ambitionen unterstellen, ganz ähnlich wie es

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Hier hat Buber historische Erklärungen und Kommentare zur Entwicklung der Kulturfrage eingearbeitet, die den proklamatorischen Gesamtcharakter der Abhandlung unterstreichen. Dieser erhellt auch aus den Überschriften der beiden übrigen Abschnitte: »Von der Politik« und »Von der Kulturarbeit«. »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus« ist der Ort, wo Buber nietzscheanische Renaissance-Ideen und Achad Haamsche nationale Kulturwerte zum ersten Mal zusammenführen will, ein Versuch, der nicht geglückt ist. Dafür ist die spätere Umarbeitung dieses Essays ein Beweis: »Von der Renaissance« nahm Buber in Verbindung mit einem ganz anders gearteten Text 65 als »Renaissance und Bewegung« 1916 wieder auf. 66 Der zweite Abschnitt, »Von der Politik«, erschien im Jahre 1916 als Einzeltext. 67 »Von der Kulturarbeit«, der dritte Teil im Manifest von 1905, war eine überarbeitete Version des bereits 1902 publizierten »Ein geistiges Centrum«. 68 Dieser Text wurde bei späteren Veröffentlichungen nur unter seinem Originaltitel wieder abgedruckt. Die Komposition dieser drei Texte zu »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus« erzielte offenbar nicht die von Buber erhoffte Wirkung. Der Text in seiner Gesamtheit gibt aber Auskunft darüber, wie stark Buber darum rang, die Idee der Jüdischen Renaissance und die Kulturfrage miteinander zu verbinden. Der Renaissance-Gedanke erfuhr bei Buber mehrere Wandlungen und wurde schließlich durch die Formel vom »Hebräischen Humanismus« ganz ersetzt.69 Der den Weltkrieg-Abschnitt abschließende Beitrag »Wandlung«70 thematisiert den komplizierten Prozeß dorthin und kann als Epitome dieser sich durch den gesamten Band ziehenden Dialektik zwischen Renaissance-Idee und Kulturfrage angesehen werden. Bubers reifer Zionismus war deren Ergebnis.

65. 66. 67. 68. 69. 70.

S. Zipperstein für Achad Haams große Rede »Die Wiederbelebung des Geistes« auf der Minsker Konferenz 1903 getan hat, vgl. Zipperstein, Elusive Prophet, S. 187. Dies ist ein 1910 verfaßter ungarischer Text mit dem Titel »Renaissance. Eine Feststellung«; vgl. dazu in diesem Band, S. 428. Siehe Anm. 62. Siehe den Kommentar zu »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus«, in diesem Band, S. 411. Ebd., S. 412. Diese Formel taucht erstmals 1918 im Beitrag »Wandlung«, in diesem Band, S. 348 auf. In diesem Band, S. 348-349.

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Achad Haam und die Kulturfrage

Mit der Lektüre der zu jener Zeit nur auf Hebräisch veröffentlichten Essays Achad Haams begann Bubers Eintritt in den Zionismus. 71 Die Voraussetzungen dafür hatte, nach Jacob Golomb, Friedrich Nietzsche geschaffen.72 Achad Haam lieferte dazu die Materialien. Sein spiritueller Zionismus, der in zunehmender Auseinandersetzung mit dem politischen Zionismus Theodor Herzls Profil gewann, kreiste um die Bedeutung der Kulturfrage für die zionistische Idee. Achad Haam forderte die geistige Wiederbelebung des Judentums vor dem Beginn der Rückkehr in das Land der Juden. Die Gefahr des Scheiterns der zionistischen Idee bei übereilter Verwirklichung erfüllte ihn mit geradezu existenzieller Angst. Darum wurde er nicht müde, vor überstürzten Schritten zu warnen und eine sorgfältige, stufenweise Vorbereitung des zionistischen Projekts zu fordern. Diese Vorbereitung verstand er in erster Linie als eine Wiederbelebung der reichen geistigen Werte des Judentums selbst, d. h. der jüdischen Tradition und Kultur, durch Erziehung. Die das Judentum auszeichnenden Werte waren aus Achad Haams Sicht allerdings nicht religiöser, sondern ethischer Natur, wenn sie auch in der Vergangenheit das Gewand der Religion angenommen hatten. 73 Das hervorragende nationale Merkmal des Judentums war dessen absolute Ethik. Kein anderes Volk konnte sich darin mit dem jüdischen vergleichen. Um diese Besonderheit zu erkennen und sich zu ihr bekennen zu können, mußte die Erziehung zu jüdischem Leben und jüdischer Kultur durch dazu geeignete Lehrer oberste Priorität bei der Vorbereitung auf die Rückkehr nach Zion haben. Aus dieser Forderung entstand Achad Haams Lehre von Palästina als dem »Geistigen Zentrum«, das er als Alternative zu Herzls »Judenstaat« entwickelte und das auch Buber – mit einigen Modifikationen – anfänglich propagierte. 74 Das Geistige Zentrum als der Wirkungsort der wahren Lehrer des Judentums sollte auf die nicht so schnell aufzulösende Diaspora einwirken. Es würde gebraucht, so lange diese existiert. Diese Lehre verbreitete Achad Haam in mehreren Essays, deren Übersetzung in die deutsche Sprache eines der ersten Projekte des Jüdischen Verlags unter Bubers Verantwortung war. Martin Buber gehörte von Anbeginn zu den Verehrern Achad Haams und bemühte sich um die Verbreitung seiner Ansichten. »Die Wiederbe71. Vgl. M. Treml in MBW 1, S. 39; siehe auch J. Reinharz, Ahad Ha-am und der deutsche Zionismus. 72. Siehe oben, S. 25. 73. Vgl. Achad Haam, »Nationale Ethik«, in: Ders., Am Scheidewege, Bd. 2, 1923, S. 139-159. 74. Vgl. den Beitrag »Ein geistiges Centrum«, in diesem Band, S. 155-165.

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lebung der Herzen«, wie Achad Haam die Aufgabe formulierte, entsprach der von Buber propagierten Wiedererweckung der Instinkte, der Stärkung der Intuition. Die im vorliegenden Band wiedergegebene Hommage zu Achad Haams sechzigstem Geburtstag mit dem Titel »Der Wägende« 76 gibt dieser Verehrung wortreich Ausdruck. In seiner lebenslangen Beschäftigung mit Achad Haam formulierte Buberer allerdings auch vorsichtige Kritik an dessen Grundpositionen, vor allem an seinem Festhalten an der Evolutionstheorie. 77

Die hebräische Sprache als Teil der Kulturfrage

Eine der Säulen der Kulturfrage im Zionismus war die Wiederbelebung und Verbreitung der hebräischen Sprache. Galt für die »politischen« Zionisten unter Theodor Herzl und seinen Nachfolgern die Sprachenfrage als von nachgeordneter Bedeutung, 78 so war für die Kulturzionisten die hebräische Sprache eine unverzichtbare Voraussetzung für die angestrebte Erneuerung des Judentums. Sie war das Vehikel und der Hort der geistigen Güter des Judentums, nur sie hatte die Kultur des Judentums durch die Jahrtausende am Leben erhalten. Ohne die hebräische Sprache war ein Neuanfang von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Während sich in Osteuropa im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine wachsende Anhängerschaft für die Wiederbelebung und Erneuerung des Hebräischen bildete, fand der Gedanke im Westen nur ein laues Echo. Assimilation und Emanzipation waren schon zu weit fortgeschritten. Aber die Hebräische Bewegung gewann an Kraft, unter anderem durch die Emigrationswellen aus dem Osten am Ende des Jahrhunderts, die die Idee in der westlichen Diaspora verbreiteten. Auch in Berlin entstand eine »hebräische Kolonie«, deren bekanntester Sprecher Schai Isch Hurwitz (1861-1922) war. 79 75. Siehe dazu Achad Haam, »Die Lehre des Herzens«, in: Ders., Am Scheidewege, Bd. 1, 1923, S. 195-210, vgl. auch in diesem Band, S. 278. 76. In diesem Band, S. 266-267. 77. Vgl. in diesem Band, S. 241 f.; zu Bubers Auseinandersetzung mit Achad Haams Erbe siehe auch B. Schäfer, Jewish Renaissance and Tehiyya –Two that are One? 78. Bekanntlich offenbarte Herzl schon in seinem Judenstaat von 1896 seine grundlegende Fehleinschätzung dieser Frage, wenn er schreibt: »Wir können doch nicht Hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiss genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen? Das gibt es nicht. Dennoch ist die Sache sehr einfach. Jeder behält seine Sprache, welche die liebe Heimat seiner Gedanken ist« (Der Judenstaat, S. 75). 79. Siehe dazu S. Nash, In Search of Hebraism. Shai Hurwitz and his Polemics in the Hebrew Press.

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Martin Buber stand mit diesen Kreisen in Kontakt, obwohl die deutsche Sprache inzwischen längst seine geistige Heimat geworden war. In seiner Kindheit in Galizien durch den Großvater Salomon mit hebräischer Literatur vertraut geworden, mußte er nach seinem Eintauchen in die deutsche Geisteswelt mit Beginn seiner Universitätsstudien in Wien den Weg zum Hebräischen erst wiederentdecken. Seine Chassidismusstudien seit 1905 waren ein Ansatz dazu, sein Engagement für den Kulturzionismus ein anderer. Daß dieser Weg nicht einfach war, beweist das einleitende Bekenntnis seines Vortrags »Die hebräische Sprache« anläßlich der Konferenz für hebräische Sprache und Kultur 1909 in Berlin: »Nicht ohne schwere Bedenken habe ich der Aufforderung des Komitees, die Diskussion über den Kongress einzuleiten, Folge geleistet. Das schwerste Bedenken aber war dies, dass ich über die Sache der hebräischen Sprache in einer fremden Sprache reden muss, weil es mir nicht gewährt ist, in hebräischer Sprache zu d enken und ich es nicht über mich bringe, die Gedanken, die in der fremden Sprache gedacht sind, in die eigene, aber weniger vertraute, zu ü ber s et ze n.« 81

Buber, der durch seine Bibelübersetzung zusammen mit Franz Rosenzweig (1886-1929) als Sprachschöpfer in die Geschichte der deutschen Sprache eingegangen ist, verblieb sein ganzes Leben lang im emotionalen Zwiespalt zwischen dem Deutschen und dem Hebräischen. Seit seiner Übersiedlung nach Palästina im Jahre 1938 stand zweifellos die hebräische Sprache im Vordergrund. Aber schon in seinen Prager Reden, besonders dem Beitrag »Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform«, 82 bekannte er sich klar zum Primat der hebräischen Sprache: »Das Element, das jüdische Element, das ich für das wesentliche halte zur Aktualisierung unseres inneren Judentums ist die hebräische Sprache.« Und er beschreibt den »jedem, der wirklich Hebräisch getrieben hat, vertrauten, seelischen, formal-geistigen Einfluss, ich meine die Beeinflussung der Form unseres Denkens durch das Hebräische, die Verknüpfung unserer Empfindungen und die Art, wie aus unseren Empfindungen, Vorstellungen und Begriffe entstehen, die Beeinflussung dieser Prozesse durch das Hebräische.« 83

In der Auseinandersetzung mit Hermann Cohen während des Ersten Weltkrieges über »Zionismus und Religion« erfährt diese Überzeugung eine weitere Bestätigung: In seinem Brief an Hermann Cohen unter dem Titel »Begriffe und Wirklichkeit« schreibt Martin Buber: 80. 81. 82. 83.

Das belegt der Beitrag »Die Zukunft«, in diesem Band, S. 257-259. In diesem Band, S. 211. In diesem Band, S. 134-142. In diesem Band S. 138.

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»Wir sehen [im Hebräischen] nicht eine ›profane‹, wohl aber eine im hohen Sinne weltliche, alles Geistliche mitumfassende Sprache, die Sprache des mächtigen geschichtlichen Zusammenhangs, des ganzen einigen Volkstums, zu dem auch die Gebete, aber nur als ein einzelner Abschnitt diese großen Buches, gehören. Und ferner sehen wir im Hebräischen die Sprache, in der sich die ursprüngliche jüdische Geistesart verdichtet hat und aus der sie – unabhängig von allen Inhalten – sich jedem erschließt, der sie vollkommen aufnimmt (womit ich allerdings eine tiefere Kenntnis meine, als die zum Verständnis der wichtigsten Gebete genügt.)« 84

Der Prager Bar Kochba und die Drei Reden über das Judentum

Nach seinem Rückzug aus der zionistischen Welt nach dem Tode Herzls und seiner Versenkung in die Welt des Chassidismus kehrte Buber mit seiner ersten Rede vor dem Prager Studentenverein Bar Kochba 85 wieder in die zionistische Öffentlichkeit zurück. Leo Herrmann, der Obmann des Bar Kochba, hatte ihn im November 1908 dazu eingeladen.86 Die zionistische Führung war zu dieser Zeit zerstritten, die Jungen ohne Orientierung. Im Bar Kochba fand Buber eine geistige Heimat, denn die um etwa zehn Jahre jüngeren Studenten in Prag erinnerten ihn an seine eigene, nun überwundene Krise der Orientierungslosigkeit, und er wollte ihnen helfen. In der hebräischen Festgabe für Leo Herrmann aus dem Jahre 1954 erschien eine Vignette Bubers,87 deren deutsche eigenhändige Vorlage zusammen mit dem hebräischen Manuskript im MBA erhalten ist und die hier zum besseren Verständnis des Hintergrundes wiedergegeben sei: »Als Leo Herrmann damals vor mehr als dreiundvierzig Jahren, als ich fast zweiunddreissig war, mich aufforderte, nach Prag zu kommen und dort einen Vortrag zu halten, wirkte das auf mich anders ein als die gewohnten Einladungen. Und zwar nicht bloss deshalb, weil gerade damals in mir jene Gedanken über den jüdischen Menschen unserer Zeit und sein Judentum zur Reife gelangt waren, die dann in meine erste der drei ›Reden‹ eingegangen sind, sondern weil mir zum ersten mal die Aufforderung in allem Ernst als Forderung gegenübertrat. Foderung, einem bestimmten Menschenkreis etwas zu geben, was nach der Überzeugung des die Forderung Aussprechenden eben dieser bestimmte Mensch, ich, ihm geben könne. 84. In diesem Band, S. 306. 85. Zum Studentenverein Bar Kochba vgl. H. Kieval, The Making of Czech Jewry, S. 93153 und Ph. Sievert Bloms Dissertation Martin Buber and the Spiritual Revolution of the Prague Bar Kochba. 86. Leo Herrmann an MB, 14. November 1908, M. Buber, B I, S. 268-269. 87. »Lifne arbaim wechamesch schanim« (hebr.: vor fünfundvierzig Jahren), in: Prag wiruschalajim (hebr.: Prag und Jerusalem), Gedenkbuch für Leo Herrmann.

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Bis dahin war alles, was ich an Rede und Schrift in die Welt gehen ließ, einfach von mir her gekommen, von meinen eigenen Eindrücken, Stimmungen, Gefühlen, Überlegungen aus: an der Entstehung meines Werkes hatte der keinen Anteil, an den es gerichtet war; auch wenn ich frei, ohne mir auch nur Stichworte aufgezeichnet zu haben, zu einem mir mehr oder weniger bekannten Publicum sprach, war es mir nicht zumeist gegenwärtig, nicht da, wo das Wort dem Erdboden der Seele entspriesst. Nun wurde zum ersten Male mein Wort als Antwort angefordert, als Antwort auf eine Frage, denn das war es, was Leo Herrmann mir zu verstehen gab: da war ein Menschenkreis, eine Gemeinschaft von Menschen, die jeder sich selber und die einander ein Frage fragten, und nun kam ihr Abgesandter zu mir und verlangte von mir die Antwort. Diese Tatsache, dass ich im prägnanten Sinne zu antworten hatte, erweckte in mir jenes ganz konkrete Bewusstsein der Verantwortung für das Wort, das jetzt nicht mehr mit philosophischen oder literarischen Kriterien, sondern lebenden Menschen genug zu tun hatte, die den Weg suchten. Daher kam es, dass – noch in der Nacht nach jenem Brief Leo Herrmanns die zur Reife gediehenen Gedanken zusammenschossen, und bald danach stellte sich auch eine neue, festere, konkretere Gestalt der Rede ein. Es war eine Wende. Ich habe sie denen zu verdanken, die mich riefen, und vor allem ihrem Sprecher, dessen Physiognomie mir schon in seinem Brief erschien, dem Jüngling mit der Eigenschaft der Offenheit und Direktheit im Blick und im Ton. Meine Großmutter 88 (es ist der Spruch, den ich unter allen am häufigsten zitiere) pflegte zu sagen: ›Man weiss niemals vorher, wie ein Malach [hebr.: ein Bote, Engel] aussieht.‹ Dieser, der erste der ›Boten‹, die mich heimgesucht haben, sah einfach wie ein Mensch aus. Daran habe ich denken müssen, als wir einander, nicht lange vor seinem Tode, zum letztenmal begegneten und einander, ich weiß nicht warum, so stark wie nie zuvor in die Augen sahen. Ich habe es ihm nicht gesagt, dass er der erste Bote war. Ich kann es ihm nicht mehr sagen. Ich sage es doch ihm.« 89

Wie die kurze Vorrede zu den Drei Reden über das Judentum angibt, folgte Buber mit der Veröffentlichung dieser Reden en bloc dem Bedürfnis, einer andauernden geistigen Beschäftigung mit dem Problemkreis des Judentums in der Moderne einen vorläufigen Abschluß zu geben. Die Drei Reden sind dieser Vorrede zufolge als Vorarbeiten für ein im Entstehen begriffenes größeres Werk anzusehen, das Buber mehrfach90 angekündigt, aber nie geschrieben hat. In der programmatischen »Vorrede« zur Gesamtausgabe seiner Reden von 192391 beschreibt er seinen 88. Adele Buber (gest. 1911), vgl. zu ihr G. Schaeder, Martin Buber, S. 28. 89. Ms. Var.350/36 b, h. 90. Neben dieser Vorrede z. B. im Erstdruck der zweiten Rede in Jüdischer Almanach 5670, S. 9. In seinem Brief an MB vom 22. August 1911, M. Buber, B I, S. 299-300, scheint Hans Kohn auf dieses Buch zu verweisen und nicht, wie dort Anm. 6 vermutet wird, auf Daniel. 91. JuJ, S. 3-9.

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eigenen nachträglichen Klärungsprozeß hinsichtlich mancher Passagen und Gedanken der Drei Reden durch die Jahre hindurch: »denn mancher ungenaue, ja uneigentliche Ausdruck der frühen Reden klärt sich durch die späteren, meinem eigenen Weg zur Klarheit gemäß. Da ich aber die entscheidende Klarheit erst erlangte, nachdem (kurze Zeit nachdem) die letzte dieser Reden gesprochen war, obliegt es mir, ihnen eine Erläuterung vorauszuschicken, geeignet, alles bisher durch das Ungenaue und Uneigentliche begünstigte Mißverstehen aufzulösen, soweit mein Wort dies vermag.« 92

Alle Versuche, die Drei Reden in einfacher Sprache zu resümieren, sind immer wieder an ihrer einzigartigen Rhetorik gescheitert. 93 Auch diese Einführung beschränkt sich darauf, einige Grundlinien nachzuzeichnen, erhebt aber keinerlei Anspruch, der den Texten inhärenten Problematik in ihrer ganzen Fülle gerecht zu werden. Es scheint mir vor allem wichtig, darauf hinzuweisen, daß erst aus der Gesamtkomposition der Drei Reden ihre gedankliche Struktur klar wird, daß nur in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit die einzelnen Reden ihr Gewicht und ihre Bedeutung erhalten. Es ist die dritte Rede, »Die Erneuerung des Judentums«, die die Klammer für die früheren Reden abgibt, indem sie die dortigen Gedanken wieder aufnimmt und in die Dialektik dieser Rede einbettet. Erst dadurch beziehen jene ihren vollen Sinn. Diese innere Verklammerung der Drei Reden wird bei der Einzelinterpretation der Reden oft übersehen.94 Die erste Rede stellt die Frage: Wer sind wir Juden? Buber nennt dies am Ende »die persönliche Judenfrage«. Die ganze Rede ist ein Appell, sich Rechenschaft abzulegen. Religion und Nation reichen nicht aus, um das Judentum zu erklären. Erst die »Abstammung«, und das, was diese »in uns gelegt hat: unser Blut«, begründet das Judentum für Buber. »Von allem aber das Innerlichste in uns ist nicht das, was wir die Persönlichkeit nennen, sondern die tiefste Schicht unseres Seins und unserer Persönlichkeit ist eben das Blut […] das große Erbe der Zeiten«. 95 Dieses Erbe trägt jeder Jude in sich und »es ist nicht bloß die Art der Väter […], sondern auch das Schicksal der Väter, und alles, das Leiden, das Elend, die Schan92. Ebd., S. 3. 93. Das erste Beispiel ist die hebräische Rezension Hugo Bergmanns in: Haschiloach, 26. Jg., 1912, S. 549-555; als ein jüngeres möchte ich die Darstellung Maurice Friedmans in seinem Kapitel »The Prague Bar Kochba and the Three Speeches on Judaism«, Martin Buber’s Life, S. 124-147, anführen. Auch die jüngste Analyse durch Shalom Ratzabi in Between Zionism and Judaism, S. 343-358, wird die Diskussion über ihre Interpretation noch nicht abschließen. 94. Ein Beispiel dafür ist Ph. Sievert Bloms Dissertation über den Bar Kochba, dessen Schlußfolgerungen diesen Gesamtzusammenhang vernachlässigen. 95. In diesem Band, S. 419.

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de«. Mit dieser tiefsten Schicht wieder in lebendigen Kontakt zu treten, ist die Aufgabe, vor die jeder Jude gestellt ist. Diese Kontaktaufnahme führt automatisch zur Erkenntnis der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. Ganz schlicht gesprochen, fordert Buber hier dazu auf, sich in die jüdische Geschichte und Kultur zu vertiefen, um zu verstehen, was das Judentum ist. Das war eine der Hauptforderungen des Kulturzionismus zu allen Zeiten. Wer sich dieser Aufgabe stellt, muß zunächst erkennen, daß die Situation des einzelnen Juden in der Zerstreuung zutiefst zwiespältig ist. Konflikte bestehen zwischen Umwelt und Innenwelt, zwischen »der Welt der Eindrücke und der der Substanz«, zwischen »Atmosphäre und Blut«, zwischem »dem Gedächtnis der eigenen Lebensspanne und dem Gedächtnis von Jahrtausenden«. Der Jude muß sich entscheiden – was nicht etwa die einfache Wahl zwischen zwei Gegensätzen bedeutet, sondern einen Ausgleich zu schaffen. Es geht um »eine Entscheidung über die Suprematie, über das, was das Herrschende und was das Beherrschte in uns sein soll. Dies ist, was ich die persönliche Judenfrage nennen möchte.« 97 Solch Streben nach innerer Einheit wird später in der dritten Rede als eines der drei Grundelemente des Judentums bezeichnet. Auch die zweite Rede beschäftigt sich mit der Einheit. Ist die erste Rede ein Appell, die existenziell bedrohte Situation des Juden in seiner Zeit zu erkennen und sich zum Ziel der Einheit zu bekennen, so beschreibt die zweite Rede die Bedeutung der Einheitsidee in der Geschichte und behandelt damit das Verhältnis des Judentums zu den Völkern der Welt. Buber grenzt zunächst das jüdische Streben nach Einheit von dem der Zoroastrier ab, wo sich dieses Streben nur auf das objektive Sein beziehe. Auch das Einheitsstreben in der indischen Religion, ist nicht vergleichbar, weil es sich im Zeitlosen bewegt. Das jüdische Streben nach Einheit aber vollzieht sich in der Menschheitsgeschichte, und es hat in seinen schöpferischen Phasen solche großartigen Beiträge wie den Gott der Hebräischen Bibel, die Ideen von Allgerechtigkeit und Alliebe, den Messianismus und dessen Verkleinerung, den Sozialismus, hervorgebracht. Die Zeit des Exils degenerierte allerdings zunehmend zu einer Epoche unproduktiver Geistigkeit. Sie war gekennzeichnet von dem Kampf gegen den Einfluß der Umwelt, in dem es nur noch ums Überleben ging. Dieser Kampf war zutiefst unschöpferisch, denn das Streben nach Einheit erlahmte in ihm. Nur wenige hatten die Kraft, diesem Sog stand zu halten. Jüdische Ketzer und Mystiker waren es, die in unterirdischer Kontinuität das kreative Er96. Ebd. 97. In diesem Band, S. 225.

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be des Judentums aufrecht erhielten. Diese verborgene Kreativität gilt es, heute wieder an die Oberfläche zu holen. Das ist die persönliche Aufgabe jedes einzelnen Juden, die von ihm geforderte Tat, dem zweiten Grundelement des Judentums in der dritten Rede: »das Judentum wieder frei zu machen für seine Tat in der Menschheit«. Die dritte Rede ist von einer unverkennbar messianischen Grundstimmung durchzogen. Sie beschreibt die Qualität der erneuerten Kreativität, die Buber mit dem »absoluten Leben« gleichsetzt, in der Zukunft. Dies kann nicht das Ergebnis von evolutionären Entwicklungen oder Verbesserungen, sondern nur eine absolute Umkehr, ein Neuwerden von der Wurzel her sein. Negativbeispiele sind hier sowohl ein bekannter Repräsentant der Reform, Moritz Lazarus (1824-1903), wie auch Achad Haam, der Vater des Kulturzionismus. Deren Definitionen des Judentums als Einheitslehre bzw. Prophetismus greifen zu kurz. Jene »ist nur ein Element und der Prophetismus nur ein Stadium des großen geistigen Prozesses, der Judentum heißt. Der geistige Prozeß des Judentums vollzieht sich in der Geschichte als das Streben nach einer immer vollkommeneren Verwirklichung dreier untereinander zusammenhängender Ideen: der Idee der Einheit, der Idee der Tat und der Idee der Zukunft«.98 Damit läßt Buber seine vorherigen Erklärungsansätze des Judentums hinter sich, hat seine neue Formel gefunden. »Das Blut als die tiefste Machtschicht der Seele« aus der ersten Rede ist, wenn auch nicht aufgehoben, so doch eine untergeordnete Größe geworden. Die notwendige Erneuerung vollzieht sich unter diesen drei Leitideen: Einheit – Tat – Zukunft. Auch wenn diese einzeln abgehandelt werden, sind sie in Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden (ebenso wie die Drei Reden, möchte man hinzufügen), wirken allerdings nicht immer simultan, sondern mit unterschiedlicher Intensität in der Geschichte. Vordringlich für die Erneuerung ist »eine schöpferische Synthese der Ideen des Judentums nach dem Weltgefühl des kommenden Menschen«.99 Diese Ideen sind die »natürlichen Tendenzen des Volksgeistes, die sich nach Vervollkommnung sehnen.« Sie haben ein Leben des heroischen, aber immer wieder verlorenen Kampfes in der Geschichte hinter sich, was Buber an den Stationen der Propheten, des Urchristentums und des Chassidismus aufzeigt. Aber das »Weltgefühl« beginnt gerade zu keimen und wird bald blühen. Seine Gestaltung und die Erneuerung des Judentums sind zwei Erscheinungsweisen eines Vorgangs. Wie die endgültige Synthese zustande kommt, kann Buber nicht sagen: »Wir wissen, 98. In diesem Band, S. 243. 99. In diesem Band, S. 255.

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dass es kommen wird, wir wissen nicht wie es kommen wird. Wir können nur bereit sein.«100 Die ungeheure Wirkung der Drei Reden über das Judentum auf die Zuhörer ist von Bar Kochba-Mitgliedern wiederholt beschrieben worden. 101 Sie mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß Buber hier – bewußt oder unbewußt – Elemente der Geschichtskonstruktion Hegels, vielleicht sogar im Gewande von Heinrich Graetzens »Konstruktion der jüdischen Geschichte«, 102 aufgreift.103 Auch ein Buber gegenüber kritisch eingestellter Zeitgenosse wie Gershom Scholem bezeugt: »Ich wüßte aus jenen Jahren kein Buch über das Judentum zu nennen, das auch nur annähernd solche Wirkung gehabt hat.« 104 Scholem schreibt allerdings auch: »Ich gehöre zu denen, die in ihrer Jugend, als die Reden erschienen, tief von ihnen bewegt wurden und die – wie es auch ihrem Autor selber geschah – diese Seiten viele Jahre später nur noch mit dem Gefühl tiefer Entfremdung lesen können.«105 Es ist insbesondere die erste Rede, die in späterer Zeit in Verbindung mit einigen anderen Äußerungen Bubers aus der Vorkriegszeit Irritationen bis heftige Kritik hervorgerufen hat. 106 Die in dieser Rede in vielen sprachlichen Varianten immer wieder beschworene »Gemeinschaft des Blutes« hat Buber diskreditiert und ihn als Verkünder von Blut und Boden-Mystik in Verruf gebracht. Es ist gewiß zu einfach, die Bubersche Rhetorik mit dem »Zeitgeist« begründen zu wollen,107 zumal dieser schwer zu fassen ist und seine Darstellung immer der Subjektivität des Interpreten ausgeliefert sein wird. 108 100. In diesem Band, S. 256. 101. Hans Kohn an MB, 22. September 1911, M. Buber, B I, S. 299; Leo Herrmann, Aus Tagebuchblättern, I: Erinnerungen an Bubers ›Drei Reden‹ in Prag; Hugo Hermann, Buber in Prag; Robert Weltsch, Erinnerungen an ein vergessenes Buch (um nur die bekanntesten zu nennen). 102. Heinrich Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Eine Skizze. 103. Wie sehr die Drei Reden den zeitgenössischen Diskurs aufnahmen, beweist auch der aus dem Kreis um Constantin Brunner erhobene Plagiatsvorwurf; vgl. dazu M. Treml, MBW 1, S. 55-59. 104. G. Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums, S. 148. 105. Ebd. 106. Z. B. bei Walter Benjamin; vgl. G. Scholem, Walter Benjamin, S. 41. Siehe auch das Interview von Muki Zur und Avraham Shapira mit Scholem, in: G. Scholem, On Jews and Judaism in Crisis, S. 14. 107. M. Friedman hat auf die absurde Tatsache hingewiesen, daß Alfred Rosenberger in den Nürnberger Prozessen durch seine Anwälte Passagen Bubers als Beweis für den Zeitgeist der Vorkriegsjahre beibringen ließ, um sich vom Vorwurf des Antisemitismus zu entlasten; vgl. M. Friedman, Martin Buber’s Life, S. 133. 108. Unter den zahlreichen Versuchen, den Zeitgeist dieser Epoche zu rekonstruieren, sei

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Angemessener scheint es mir, Buber selbst zu Worte kommen zu lassen, der im Jahre 1951 die hebräische Übersetzung dieser Rede mit folgender Anmerkung für das israelische Lesepublikum versah: »Einige Jahre nach der Niederschrift dieser Worte kamen die schlimmsten aller Menschen an die Macht und befleckten den Begriff des ›Blutes‹, den ich hier gebraucht hatte. Darum möchte ich hier bekannt machen, daß an jeder Stelle, wo ich den Begriff Blut benutzt habe, ich in keinem Falle einen Zusammenhang mit dem Begriff Rasse, der meines Erachtens keine Grundlage hat, herstellen wollte, sondern die Folge von Zeugung und Geburten in einem Volk im Sinn hatte, die das Rückgrat zur Aufrechterhaltung unseres Wesens sind.« 109

Eine endgültige Würdigung der Drei Reden steht, wie bemerkt, noch aus. Sie wird nicht ohne Bubers eigene Aussage in der »Vorrede« von 1923110 auskommen können. Diese »Vorrede« spricht vom »Judentum als einem Phänomen der religiösen Wirklichkeit«, und Buber erklärt darin die Drei Reden als Station auf dem Weg zu ihr.

5. Der Erste Weltkrieg Der »Durchgang durch das Chaos« 111 »Schade […], daß Sie sich in diesen Krieg hineinverirrt haben. Wie schade es ist, werden Sie später an Folgen merken, die sich jetzt noch verstecken; das ist aber äußerlich und das geringste; aber Sie werden um Ihrer selbst willen auszulegen, hinzuzufügen, einzuschränken, zurückzunehmen und zu bedauern haben.«112

Gustav Landauer beschließt mit diesen Sätzen seine Kritik an Bubers öffentlichen Äußerungen zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und, auf grundsätzlicherer Ebene, zur geistigen Richtung, die Buber in seinen Veröffentlichungen in jenen Jahren eingeschlagen hatte. Landauer, aber auch andere Kritiker, warfen Buber aufgrund dieser Veröffentlichungen Kriegsverherrlichung und »Offiziosentum« 113 vor. Es waren vor allem Bubers 1912 vor dem Bar Kochba gehaltene Rede, »Der Geist des Orients

109. 110. 111. 112. 113.

für unseren Kontext vor allem auf Ph. Sievert Bloms Dissertation Martin Buber and the Spritual Revolution of the Prague Bar Kochba verwiesen. M. Buber, Te’uda we-ji’ud (hebr.: Zeugnis und Bestimmung), Bd. 1. S. 29 [eigene Übersetzung aus dem Hebräischen]; vgl. auch M. Treml in MBW 1, S. 59. Vgl. dazu oben, Anm. 91. Diese Metapher stammt aus dem Geleitwort zum ersten Heft des Juden, in diesem Band, S. 286. Gustav Landauer an MB, 12. Mai 1916, M. Buber, B I, S. 437. Ebd., S. 435; zu Berdyczewskis Kritik vgl. in diesem Band, S. 395-396.

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und das Judentum«, sowie das Geleitwort zur ersten Ausgabe seiner neuen Zeitschrift Der Jude mit dem Titel »Die Losung«, 115 die Landauer als »schmerzlich, sehr widerwärtig und sehr nahe an der Unbegreiflichkeit« empfand und die ihn zu der großen Auseinandersetzung im Brief an Buber vom 12. Mai 1916 trieben.116 Landauers Prophezeiung war richtig: Buber mußte sich bis ins hohe Alter für Äußerungen aus dieser Zeit rechtfertigen. Allerdings hat er, wie er schon in der »Vorrede« zu den Reden über das Judentum von 1923 hervorhob, keinen Anlaß gesehen, sie zurückzunehmen oder zu bedauern: »Eine Erläuterung meine ich damit zu geben und nicht eine Berichtigung: da ich das, was mir widerfahren ist, nur als eine Klärung und nicht als eine Bekehrung bezeichnen darf. Eine Erläuterung aber auch und nicht eine Auslegung: denn zu der Klärung gehörte, daß sich mir eben meine Rede selber klärte und ich verstand, was ich zu sagen gehabt hatte und was meinem unzulänglichen Sagen sich doch als Zulänglichkeit eingetan hatte.« 117

Martin Treml hat in seiner Einleitung zum ersten Band der MBW weitere Dokumente zusammengetragen, die den sogenannten »Kriegsbuber«118 in der ersten Phase des Weltkrieges zeigen. Treml hebt dabei zurecht die starke Kontinuität zum Denken der Vorkriegszeit hervor und erläutert, Buber habe sich in dieser Zeit in einer »geistigen und moralischen Krise« befunden.119 Bubers Verhalten im Ersten Weltkrieg wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Seine Verteidiger 120 machen sich in der Regel Bubers angeführtes Argument aus der »Vorrede« von 1923 zu eigen. Einen extrem kritischen Standpunkt entwickelt dagegen Philipp Sievert Blom in seiner Dissertation über Martin Buber und den Bar Kochba. 121 Er bestreitet, daß Buber und die Bar Kochbaner eine wirklich jüdische geistige Revolution auf den Weg gebracht, sondern lediglich zu einer »konservativen Revolution« innerhalb des romantischen Nationalismus rein germanischer Prägung beigetragen hätten. Jeder Versuch, einen einzigartigen

114. 115. 116. 117. 118.

1916 im Band Vom Geist des Judentums erstmals veröffentlicht. In diesem Band, S. 286-289. G. Landauer an MB, 12. Mai 1916, M. Buber, B I, S. 433-438. JuJ, S. 3. Der Ausdruck stammt aus Landauers bereits angeführtem Brief vom 12. Mai 1916; vgl. P. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 135-139, hier S. 136. 119. M. Treml, MBW 1, S. 74. 120. Das sind insbesondere M. Friedman, H. Kohn und E. A. Simon. 121. Philipp Sievert Blom, Martin Buber and the Spiritual Revolution of the Prague Bar Kochba.

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jüdischen Kontext zu insinuieren, sei ein »exercise in cultural myth-making.« 122 Paul Mendes-Flohrs diverse Untersuchungen haben die Komplexität der historischen Gegebenheiten und der jeweiligen Motivationen hinter Bubers Äußerungen sehr differenziert aufgefächert und zu einem besseren Verständnis des »Kriegsbuber« geführt. 123 Die Auseinandersetzung mit dem holländischen Dichter und Pazifisten Frederik van Eeden (18601932) zu Beginn des Krieges spiegelt Bubers metaphysisches Ringen mit der Bedeutung des Krieges an sich wieder. Buber führt hier den aristotelischen Begriff der »Kinesis« 124 ein, wonach er den Sinn des Krieges in der Chance der Umwandlung der Potentialität in die Aktualität sieht, im »Übergang von der ruhenden Kraft, vom Seinkönnen zum Sein«. 125 Daß diese spirituelle Konstruktion die Brisanz der in dieser Zeit veröffentlichten Beiträge nicht mindern konnte, läßt sich den in diesem Band veröffentlichten Artikeln »Die Tempelweihe« 126 und der bereits erwähnten »Losung«, welche Passagen des ersteren übernimmt, entnehmen. Sie waren es, die in erster Linie die Kritik prominenter Zionisten und Zeitgenossen auslösten. 127 Nach Mendes-Flohrs Urteil gab Bubers bester Freund Gustav Landauer den Ausschlag für Bubers »Umkehr«, die sich, wie noch erläutert werden wird, im Laufe des Jahres 1916 vollzog. Landauer griff Bubers Kriegs-Metaphysik als unhaltbar an und und bezeichnete sie als eine »gefährliche Verirrung«. 128 Der Austausch zwischen Buber und Landauer ist schwer zu rekonstruieren, da es nur den ausführlichen Brief Landauers vom 12. Mai, aber keinerlei schriftliche Gegenäußerungen Bubers gibt. Dieser legte Wert darauf, die Auseinandersetzung von Angesicht zu Angesicht zu führen und unterdrückte den Brief Landauers sogar in seiner zweibändigen Briefausgabe der Landauer Korrespondenz, zu deren Herausgeber Landauer ihn testamentarisch bestimmt hatte. 129 Er wurde in Grete Schaeders Edition der Briefe Bubers 1972 erstmals veröffentlicht. Obwohl wir also über die Auseinandersetzung nicht alles wissen, liegt die 122. Ebd., S. 223. 123. Zunächst in »The Road to I and Thou«, in der Festschrift für N. Glatzer; dann in Von der Mystik zum Dialog. 124. P. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 132-135; siehe auch die Beiträge »Pescara, an einem Augustmorgen. Berlin, nach der Heimkehr« und »Bewegung« in MBW 1. 125. MBW 1, S. 277-278. 126. In diesem Band, S. 279-285. 127. Vgl. den Kommentar zu den jeweiligen Artikeln, in diesem Band S. 430 f. 128. P. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 136. 129. Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen, hrsg. von M. Buber, 2 Bde., Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1929.

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Annahme nahe, daß sie ein entscheidender Faktor für die »Wende« Bubers war, da, in den Worten Mendes-Flohrs, »die Vermutung naheliegt, daß dieser Brief Bubers Wendung von der Mystik, die wir vielleicht lieber als Erlebnis-Mystik bezeichnen sollten, zum dialogischen Denken ausgelöst hat.« 130 Maurice Friedman verweist hingegen auf die von Will Herberg vorgetragenen Erklärungen der Freunde und Schüler Hugo Bergmann und Ernst Simon (1899-1988), wonach der Einfluß Franz Rosenzweigs von großer Bedeutung für Bubers Wende gewesen sei. 131 Rosenzweig hatte für das nicht zustandegekommene zweite Jahrbuch des Prager Bar Kochba, das wie sein berühmter Vorgänger 132 wieder den Titel Vom Judentum tragen sollte, den Artikel »Atheistische Theologie« 133 eingeschickt. In einer scharfen Zurückweisung der neuen Denkweisen des Judentums charakterisiert Rosenzweig diese darin als »den Versuch entschlossener Verdiesseitigung«, als »die Ausgeburt des Göttlichen aus dem Menschlichen«134 und in letzter Konsequenz als ein fehlgeleitetes Verständnis der Offenbarung. Diese Attacke Rosenzweigs ist als eine verhüllte Kritik auch an Bubers Drei Reden über das Judentum verstanden worden. So jedenfalls wurde die Ablehnung des Manuskripts durch den Redakteur des Jahrbuchs, Leo Herrmann, interpretiert. 135 Buber selbst erklärte, den Aufsatz gar nicht zu Gesicht bekommen zu haben.136 Friedman weist die Frage des »intellektuellen Einflusses« als insgesamt irrelevant zurück, spricht aber von einer »symbolischen Bedeutung« dieses Rosenzweigschen Aufsatzes für Buber. Er zitiert Buber selber, der, um Stellungnahme zu Herbergs Vermutung gebeten, 1953 an Friedman schrieb: »I have been influenced decisively not by men, but by events, particularly in the years 1916-1919. I am somewhat astonished that H[erberg] thinks such a change can be effected by other persons instead of life itself. By-the-bye, the change had found already some expression in the first draft of Ich und Du, of 1916«.137

Daß es der Erste Weltkrieg in seiner ganzen Gewalt war, der Bubers Denken verändert hat, scheint umso überzeugender, wenn wir die Stationen 130. 131. 132. 133. 134. 135. 136. 137.

P. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 140. M. Friedman, Martin Buber’s Life, S. 204-205. Vom Judentum. Ein Sammelbuch, Leipzig 1913. 1937 erstmals veröffentlicht, aufgenommen in F. Rosenzweig, Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 687-697. Ebd., S. 696. Eben diesen Vorwurf entkräftet Buber in seiner Erläuterung zum Begriff der »Verwirklichung Gottes« in der »Vorrede« von 1923; JuJ, S. 7. Vgl. die Anmerkung der Herausgeber des Aufsatzes in Rosenzweig, a. a. O., S. 858. M. Friedman, Martin Buber’s Life, S. 399. MB an M. Friedman, 9. September 1953, in: Friedman, Martin Buber’s Life, S. 399400.

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Bubers in diesem Krieg, und besonders im Jahr 1916, näher in den Blick nehmen. Im April 1916 hatten Buber und seine Familie Berlin verlassen, um dem hektischen und oberflächlichen Getriebe der Hauptstadt zu entkommen. Der Entschluß, sich im idyllischen Landstrich zwischen Heidelberg und Frankfurt in Heppenheim niederzulassen, entsprang einerseits dem Wunsch Bubers, seine Ruhelosigkeit zu überwinden, andererseits aber auch dem Bedürfnis nach Neuorientierung. Dies ist die Zeit, in der die Kontroverse mit Landauer stattfindet, in der die Arbeiten für die neue Zeitschrift Der Jude in ihre entscheidende Phase eintreten und in der in Deutschland die Debatte um den »Siegfrieden« oder den »Verständigungsfrieden« ihrem fatalen Höhepunkt zustrebt: der Berufung von Paul von Hindenburg (1847-1934) und Erich Ludendorff (1865-1937) an die Spitze der Obersten Heeresleitung. Die schaurige Vernichtungsdynamik des Weltkriegs erreichte dadurch eine neue Dimension. 138 Der Sieg der antiliberalen nationalistischen Kräfte war von zunehmenden antisemitischen Strömungen begleitet. 139 Auf wirtschaftlichem Gebiet konzentrierten sich die Angriffe auf die Beteiligung von Juden an den »Kriegsgesellschaften« und fanden ihre Parallele in der politischen Initiative der berüchtigten »Judenzählung« vom 1. November 1916.140 Die zu Beginn des Krieges vor allem von Juden so hoffnungsvoll akzeptierte Solidarisierung aller Deutschen über konfessionelle oder weltanschauliche Grenzen hinweg zerbröckelte so plötzlich, wie sie entstanden war. Eine neue Standortbestimmung in diesem Kriege wurde für Individuen wie für Gruppen von existenzieller Bedeutung, und das weitere Kriegsgeschehen – ganz besonders der Eintritt Amerikas in den Krieg und die russische Revolution – beschleunigte den Prozeß dieser neuen Bewußtseinsbildung. 141

Der Jude

Die von Buber im April 1916 herausgebrachte Zeitschrift Der Jude ist der greifbare Ausdruck dieser Konstellationen und bestätigt Bubers Aussage

138. Vgl. dazu W. Mommsen, The Debate on German War Aims. 139. Vgl. zu den Entwicklungen S. Friedländer, Die politischen Veränderungen der Kriegszeit und ihre Auswirkungen auf die Judenfrage. 140. Siehe dazu W. Angress, The German Army’s ›Judenzählung‹ of 1916, und E. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, S. 527-555. 141. Zum Bewußtseinswandel unter den Juden siehe E. Reichmann, Der Bewußstseinswandel der deutschen Juden, und P. Mendes-Flohr, Im Schatten des Weltkrieges.

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über die Bedeutung des Krieges für sein Leben. In dem in diesem Band abgedruckten Leitartikel des ersten Heftes, »Die Losung«, heißt es: »Der Krieg hat die Lage des Judentums inmitten der Völker in ihrer tragischen Problematik gesteigert und furchtbar verdeutlicht. […] Der Geist Europas, vielmehr der Geist des heutigen Europa, welcher der Geist der standhaften Zerrissenheit und des selbstmörderischen Opfermutes ist, hat auch die Juden ergriffen; auch sie sind in diese Katastrophe und Wende der Völkerseele, in diesen Durchgang durch das Chaos [in der Vorlage nicht hervorgehoben] eingetreten.«142

Vergleicht man die Zeitschrift mit dem 1903 vom Jüdischen Verlag publizierten Prospekt Der Jude. Revue der jüdischen Moderne, 143 so wird deutlich, welch langen Weg Buber in der Zwischenzeit zurückgelegt hatte. 144 Nachdem er einige Jahre vor Ausbruch des Krieges über den Prager Bar Kochba wieder ein Wirkungs- und Betätigungsfeld innerhalb des Zionismus gefunden hatte, hatte auch seine positive Einstellung zum Zionismus und, damit verbunden, seine Bereitschaft zu politischem Engagement zugenommen. So schreibt er am 11. November 1915 an Adolf Böhm (1873-1941) zur Ausrichtung der neuen geplanten Zeitschrift: »So wichtig es mir vor dem Krieg erschien, ein Organ für eine neu[e] religiös-kulturelle Aktion im Judentum zu schaffen, so haben mich doch die Ereignisse davon überzeugt, daß wir die Arbeit daran in diesem Augenblick zurückstellen müssen, um eine andere, von dem Augenblick geforderte in Angriff zu nehmen: die Schaffung einer Zeitschrift, die dazu beitragen soll, die jüdischen Interessen und Postulate zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen, insbesondere diejenigen, die sich aus der Lage der östlichen Juden und der voraussichtlichen Neuordnung ihrer Verhältnisse ergeben.«145

Es ginge nun nicht mehr um die Suche nach dem »Wesen des Judentums«. Durch das Erlebnis des Krieges habe sich eine neue Einheit des Judentums, ein neues Selbstbewußtsein herausgebildet, und es sei nun die vordringliche Aufgabe des Judentums, sein Verhältnis zu anderen Völkern zu klären. 146 Dies ist als eine pragmatische Wende Bubers zu politischer Einflußnahme zu verstehen, als der Durchbruch zu politischer Verantwortung, die sich in der nachfolgend analysierten Kontroverse mit Hermann Cohen weiter konsolidierte. Das heißt nicht, daß Buber sich in einen Politiker verwandelte – dies war vor allem die Phase, in der 142. In diesem Band, S. 286. 143. In diesem Band, S. 172-176. 144. Vgl. E. Lappins Kapitel »›Ein gescheiterter Versuch‹ : Metamorphosen eines Zeitschriftenprojektes der Demokratischen Fraktion«, Der Jude, S. 7-17. 145. Ms CZA Z3/1137, zitiert nach E. Lappin, Der Jude, S. 34. 146. »Die Losung«, in diesem Band, S. 288 f.

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Buber den Weg zu seiner dialogischen Philosophie fand –, aber die Arbeit für den Juden steht für eine neue Qualität sozialer und damit auch politischer Verantwortung, zu der erst das Kriegserlebnis Buber befähigte. Nach Mendes-Flohr »verlagert sich der Schwerpunkt der Gemeinschaft vom Pathos zum Ethos.« 147 Der Jude »signalisierte den leisen, aber radikalen Bruch mit jener jüdischen Selbstdefinition, die sich im 19. Jahrhundert kristallisiert hatte«. 148 Die Zeitschrift war kein zionistisches Sprachrohr, aber Buber war ein Zionist, und daher flossen manche zionistische Prämissen in die Gestaltung ein. 149 War das darin propagierte Recht der Juden auf die Besiedlung Palästinas vornehmlich ein zionistisches Postulat, so einte andererseits die Forderung nach kultureller und personaler Autonomie sowie bürgerlicher Gleichberechtigung aller osteuropäischen Juden die Mehrzahl der Juden in Deutschland und bald darüber hinaus. Tatsächlich entwickelte sich die Zeitschrift zu der bedeutenden und niveauvollen Plattform jüdischer Auseinandersetzungen, die Buber vorgeschwebt hatte. Der Jude bot auch das Forum, wo Buber in der großen Kontroverse mit Hermann Cohen erstmals seine Ansichten über Nation und Staat vortrug, die sich erst durch den Krieg in ihm verfestigt hatten.

Die Kontroverse mit Hermann Cohen

Anlaß dieser Kontroverse war Hermann Cohens im Studentenorgan K. C. Blätter veröffentlichter Artikel »Zionismus und Religion«. 150 Er hatte darin den Zionismus ansgesichts des schicksalhaften historischen Augenblicks als eine Gefahr für die vaterlandstreuen liberalen Juden in Deutschland bezeichnet. Der von den Herausgebern der Zeitschrift erbetene Beitrag war jedoch nicht die erste Stellungnahme Cohens gegen den Zionismus. Am 5. Februar 1914 reihte er sich unter die 300151 meist prominenten jüdischen Unterzeichner der in allen wichtigen Zeitungen Deutschlands abgedruck147. P. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 142. 148. P. Mendes-Flohr, Im Schatten des Weltkrieges, S. 27-28. 149. P. Mendes-Flohr nennt die Grundannahme eines ethnischen Nationalcharakters der Juden, die Zulässigkeit einer säkularen Definition des Judentums und besonders den Kampf gegen die Assimilation; ebd., S. 28. 150. H. Cohen, Zionismus und Religion. Ein Wort an meine Kommilitonen jüdischen Glaubens, in: K. C. Blätter Mai/Juni 1916, S. 643-646. 151. Die Angaben über die Zahl der Unterzeichner variieren; vgl. z. B. J. Reinharz, Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, S. 123, wo von »etwa 500 Notabeln« die Rede ist.

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ten »Erklärung« gegen den Zionismus, in der die Zionisten beschuldigt wurden, sie würden »einen national-jüdischen Chauvinismus« verbreiten und die Juden Deutschlands damit »in einen schroffen Gegensatz zu unseren christlichen Mitbürgern bringen […], von denen uns doch nichts unterscheidet als unser Glaube«.152 Zu beiden Äußerungen ist Cohen auf Grund seines hohen Ansehens von anderen gedrängt worden, denn er betont selbst, daß diese Art der öffentlichen Auseinandersetzung ihm wesensfremd sei: »Die publizistische Polemik ist nicht meine Sache. Mein Handwerk ist die Wissenschaft. Und für geistige Fragen ist und bleibt das beste Kampfmittel die positive Darlegung des gedanklichen Gegensatzes.« 153 Der Grundtenor von Bubers »Begriffe und Wirklichkeit. Brief an Herrn Geh[eimen] Regierungsrat Prof. Dr. Hermann Cohen«154 ist in Anerkennung von Person und Ansehen Cohens versöhnlich und ehrerbietig. Leider konnte Buber die ihm von Cohen für den Juden zugesagte Antwort auf seinen Brief nicht in diesem Blatt abdrucken, weil Cohen sich durch den im selben Heft wie Bubers »Brief« veröffentlichten scharfen Angriff Rafael Seligmanns, »Einige Worte über Hermann Cohen«, beleidigt fühlte und so stattdessen denselben Publikationsort wie für den ersten Beitrag, die K. C. Blätter, wählte. 155 Durch den Zionismus provoziert, formuliert Cohen erst in hohem Alter 156 seine Ansichten über Staat und Nation und den Zusammenhang beider mit der Religion. Er konstatiert einen grundsätzlichen Unterschied zwischen »Nationalität« und »Nation«. Demnach ist Nationalität »eine Mehrheit, die von einer staatlich definierten Nation zusammengefaßt wird.« 157 Die Nation als solche wird erst durch die Existenz des allumfassenden Staates geschaffen. Die Juden in Deutschland bilden somit eine »Nationalität« der »Deutschen Nation«. Inhaltlich ist die »Nationalität« ein »anthropologisches Mittel für die Fortpflanzung der Religion, […]

152. Zitat aus dem Hamburger Israelitischen Familienblatt vom 12. Februar 1914, S. 8, nach H. Wiedebach, Die Bedeutung der Nationalität, S. 12. Anlaß zu dieser politischen Inititative war der »Sprachenstreit« um die Unterrichtssprache des wesentlich vom Deutschen Hilfsverein getragenen neuen Technion in Haifa; vgl. Y. Eloni, Zionismus in Deutschland, S. 313-356. 153. H. Cohen, Zionismus und Religion, S. 643. 154. Der Jude, 1. Jg., Heft 5, August 1916, S. 281-289, in diesem Band, S. 293-307. 155. Zur gesamten Kontroverse vgl. H. Wiedebach, Bedeutung der Nationalität, Kap. 4: Gegen Antisemiten und Zionisten (Martin Buber), S. 23-37; und E. Lappin, Der Jude, Abschnitt Ethik und Nationalismus, S. 148-167. 156. H. Wiedebach hebt hervor, daß Cohen lange Zeit nicht zwischen Nation und Nationalität unterschieden hat (Die Bedeutung der Nationalität, S. 9). 157. Ebd., S. 8.

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die naturgemäße Bedingung und Grundlage für den Fortbestand der Religion«. 158 Buber entgegnet im gleichen – für ihn untypischen – rein sachlichen Stil. Die Definition der Nationalität widerlegt er mit der für das Judentum konstitutiven Idee des »Bundes«, die Cohen doch mit dem besten Willen nicht als eine »Naturtatsache« bezeichnen könne. Dagegen spreche ferner die von Cohen selbst als (allerdings »scheinbares«) Verdienst anerkannte Wiederbelebung der hebräischen Sprache durch den Zionismus als Komponente der Nationalität. Auch dies sei alles andere als eine Naturtatsache. Nur wenn zum Ursprung das Ziel, zur Natur der Geist genommen wird, läßt sich nach Buber die Nationalität erklären, nämlich als »eine geistige Realität in Geschichte und persönlicher Aufgabe.«159 Die Nationalität kann nicht auf den Begriff einer Gattung reduziert werden: »Diese Behauptung ist Ihnen nur dadurch ermöglicht, daß Sie, wie Sie den Begriff der Nationalität von seiner Entfaltung im Geistigen ablösten, so umgekehrt den der Nation von seiner Verwurzelung im Naturhaften ablösen; wie Sie den einen zu einer bloßen Naturtatsache machen, so den andern zu einer rein geschichtlichen Existenz: indem Sie die Nation erst durch den Staat ›gestiftet‹ und ›begründet‹ werden lassen«.160

Die Unterscheidung von Nationalität und Nation weist Buber zurück. Vor allem der Primat des Staates bzw. die Begründung der Nation durch diesen trifft auf seinen entschiedenen Widerspruch. »Wie mir als Menschen der Staat überhaupt, so ist mir als Juden der ›jüdische Staat‹ nicht das bestimmende Ziel« schreibt er in seiner zweiten Entgegnung. 161 Und er fährt fort: »Es geht nicht um den jüdischen Staat, der ja, wenn er heute entstünde, auch wieder auf denselben Prinzipien aufgebaut sein würde wie jeder moderne Staat […] es geht um eine Siedlung, die, vom Getriebe der Völker unabhängig und der ›äußeren Politik‹ enthoben, alle Kräfte um den inneren Ausbau und damit um die Verwirklichung des Judentums versammeln kann.«162

Buber antwortet auch noch auf weitere Angriffe Cohens, wie den der Verhöhnung des Messianismus durch den Zionismus und den der heuchlerischen Koalition mit der Orthodoxie. Doch sind in dieser Einführung die

158. 159. 160. 161. 162.

Von Buber in seiner Antwort zitiert, in diesem Band S. 294. In diesem Band, S. 298. Ebd. In diesem Band, S. 314. Ebd.

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Argumente über Nation und Staat hervorgehoben, um die neue Richtung Bubers zu öffentlicher und politischer Mitsprache zu verdeutlichen. Ist die erste Entgegnung Bubers der Versuch, Cohens philosophische Erklärung des Judentums sachlich zu widerlegen, so hat die zweite Antwort eher den Charakter eines Pamphlets. Buber ist enttäuscht darüber, daß Cohen auf keines seiner Argumente eingeht, sondern erneut die »Schlagwort-Argumentation eines erdachten Zionistentypus« vorbringt. »Cohen redet nicht nur an mir vorbei, er liest auch an mir vorbei.« Damit verweist er auf Fehllesungen durch Cohen und nimmt das ausbleibende Echo zum Anlaß, nochmals predigtartig seine Ansichten zum Verhältnis von Judentum und Staat vorzutragen und dabei Cohens »Idee des Staates als die Quintessenz der Ethik« mit aller Entschiedenheit zurückzuweisen. Bei der Darstellung der Aufgaben des Judentums greift er dabei gegen Ende sogar eine längere Passage aus der zweiten Prager Rede wieder auf – Buber hat hier wieder ganz in das Pathos jener Drei Reden zurückgefunden. Um die Bedeutung, die Buber selbst dieser Kontroverse beimaß, zu verstehen, sei hier der Wortlaut des Vorworts zum Sonderdruck von 1917 wiedergegeben: »Diese zwei Aufsätze, die dieser Sonderdruck aus dem August- und Oktoberheft der Monatsschrift »Der Jude«, durch einige Noten ergänzt, vereinigt, enthalten Polemik, und das Polemische scheint durchaus dem Bereich des Augenblicks anzugehören. Daß ich dennoch einer nochmaligen Veröffentlichung in der diesen Bereich überlagernden Form des Buches zustimmte, hat einen doppelten Grund. Zunächst ist, was hier vorliegt, nicht der ephemere Meinungsstreit zweier Einzelner, sondern die Auseinandersetzung zweier Gesinnungen, die als Gesinnung des Vertrags und der Verwirklichung bezeichnet werden mögen. Das Schicksal des Judentums ist der wesentliche Gegenstand der Auseinandersetzung, aber sie greift darüber hinaus in die entscheidende Frage des kommenden Zeitalters: was zu tun ist. Daß mir die Polemik den Anlaß und die Möglichkeit gab, an diese Frage zu rühren, ist der zweite Grund dieser erneuten Veröffentlichung. Sie möge einige Menschen mehr anregen, sich darauf zu besinnen, daß die Gesinnung des Vertrags 163 nunmehr durch die der Verwirklichung abgelöst werden muß.«

Die »Gesinnung der Verwirklichung« ist in dieser Kontroverse bei Buber zum endgültigen Durchbruch gekommen. Einen aufschlußreichen Nachklang fand diese Auseinandersetzung in Bubers »Die Tränen. Zum zehnten Todestag Hermann Cohens (1928)«,164 163. Hervorhebungen nicht in der Vorlage. 164. JuJ, S. 810-811.

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wo er seine Reaktion auf Cohens posthum erschienenes Werk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums 165 beschreibt. Es heißt dort im Rückblick: »Ich dachte [bei der Lektüre dieses Werks]: ›damals, vor drei Jahren, ist es zwischen ihm und mir doch noch um andres gegangen als um Völker, Staaten und Zion‹.« 166 In der Tat, Bubers oben festgestellte »Gesinnung der Verwirklichung« war der Versuch eines Gegenentwurfs zu Cohens abgehoben philosophischer Erklärung des Judentums.

6. Palästina Wir erfahren aus den in diesem Band versammelten zahlreichen Einzelbeiträgen nur wenig über Bubers Beziehung zum »Land Israel«, das doch der innerste Kern der zionistischen Bewegung ist. Ebenso wie die Begriffe »Nation« und »Staat« erst gegen Ende der in diesem Band dokumentierten Periode genauer in den Blick kommen, hat auch die Frage der Bedeutung des »Landes Israel« für den Zionismus bei Buber lange keine philosophische Erörterung gefunden. Wie fern Palästina noch 1905 für Buber war, zeigt der Beitrag »Die Entdeckung von Palaestina.« 167 Während Herzl schon im Herbst 1898 Palästina besuchte, und andere, allerdings sehr wenige Zionisten, wie Leo Motzkin (1867-1933), Heinrich Loewe (1867-1950), Hermann Struck (1876-1944) und einige mehr, das Land bereits aus eigener Anschauung kannten, blieb Palästina für Buber lange Zeit eine unkonkrete Größe. »Die Entdeckung von Palaestina« bleibt zu dieser Zeit im traumhaft Mystischen stecken. Die im Abschnitt »Jüdische Renaissance und Kultur« aufgenommene Abhandlung »Ein geistiges Centrum« 168 relativiert Achad Haams Formel für Palästina als geistiges Zentrum und ersetzt sie durch Bubers Forderung nach »Mitteilungszentren«. 169 Palästina schwebt weiter in utopischer Ferne. Lediglich das Teilstück einer nicht genau zu datierenden Rede vor dem Prager Bar Kochba, »Das Land der Juden«, 170 kann als Ausdruck einer

165. H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Frankfurt a. M. 1919. 166. JuJ, S. 811. 167. In diesem Band, S. 351-353. 168. In diesem Band, S. 155-165. 169. Vgl. den Kommentar in diesem Band, S. 409. 170. In diesem Band, S. 354-355.

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tentativen, unausgereiften Auseinandersetzung mit dem Thema angesehen werden. Buber hat es erstmals im Vorwort der tschechischen Übersetzung der Drei Reden 1911/12 veröffentlicht und wohl deswegen später als einen gesonderten Text veröffentlicht, weil es ihm in der Zeit seiner Prager Reden noch nicht gelungen war, den Fragenkomplex in seine Gesamtsicht zu integrieren. In »Der Augenblick«171 von 1914 ergreift Buber Partei für die Zionistische Organisation gegen den deutschen Hilfsverein im sogenannten »Sprachenkampf« um die Unterrichtssprache am neu erbauten Technion in Haifa. 172 Bubers Verteidigung der hebräischen Positionen im entstehenden Jischuv bleibt ganz dem kulturzionistischen Argumentationsraum verhaftet, offenbart keine innere Annäherung an das Land als reale Größe. Selbst »Die Eroberung Palästinas« 173 vom Beginn des Jahres 1918, also unmittelbar nach der Eroberung Jerusalems durch General Allenby (1861-1936) im Dezember 1917, gibt so gut wie keinen Aufschluß über die Bedeutung des Landes für Buber oder für das Judentum. Dieser letzte Aufsatz ist aber insofern besonders hervorzuheben, als Buber hier erstmals klar den Rechtsanspruch der Juden auf Palästina formuliert. Der gesamte Text ist ein Protest gegen die in seinen Augen ungerechtfertigte Landnahme durch das britische Militär, der Buber den jüdischen Anspruch auf das Land gegenüberstellt. Es heißt darin: »Diese dem Juden allein innewohnende Fähigkeit, das Land Israel zu erlösen, begründet die Forderung, die wir allen fremden Besitzrechten und Besitzansprüchen gegenüber erheben. Nicht den »historischen Rechtsanspruch«, diesen durch alle Gossen des Imperialismus und Chauvinismus geschleiften Mißbegriff, machen wir geltend, sondern den aus dem höchsten Menschenrecht fließenden, den Anspruch der Produktivität. Wir sind die, die aus diesem Land sein Höchstes zu schaffen vermögen, wir allein: uns gehört es.« 174

Buber hat in späterer Zeit die Begründung dieses Rechtsanspruchs weiter ausgeführt, 175 und sie wurde die Grundlage in der Auseinandersetzung mit der arabischen Bevölkerung Palästinas. Alle genannten Äußerungen über Palästina sind in erster Linie kulturpolitische Aussagen, die die Frage der Bedeutung des Landes Israel für das 171. 172. 173. 174. 175.

In diesem Band, S. 356-359. Siehe Anm. 152 und den Kommentar, S. 440. In diesem Band, S. 360-362. In diesem Band, S. 362. Siehe vor allem den Aufsatz »Jüdisches Nationalheim und Nationale Politik in Palästina« von 1929, JuJ, S. 330-342.

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Judentum nicht näher erörtern. Diese Erörterung war Buber in der unseren Band umfassenden Periode, die insgesamt eine Phase der inneren Klärung war, noch nicht möglich und somit einer späteren Zeit vorbehalten.

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Editorische Notiz Die meisten Texte dieses Bandes basieren auf deren Erstveröffentlichung in Zeitschriften. In zwei Fällen wurden Überarbeitungen dieser Erstdrukke in neukonzipierten Broschüren zu Grunde gelegt: bei den Drei Reden über das Judentum und bei Völker, Staaten und Zion, da diese von Buber kommentierte und umfangreichere Fassungen bieten. In diesen Fällen sind die Textabweichungen gegenüber dem Erstdruck im Textapparat verzeichnet; für die Rede »Die Erneuerung des Judentums« ist auch das im MBA erhaltene Typoskript berücksichtigt. Die Textabweichungen der ersten der Drei Reden waren so groß, daß die Fassung des Erstdrucks aus Gründen der Lesbarkeit im Kommentar gesondert abgedruckt ist. Die Orthographie der Textvorlagen wurde beibehalten.

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Vor Sonnenaufgang Nach dem jerusalemischen Talmud (Berachoth 2, 3) 1 Rabbi Chija und Rabbi Simeon gingen einst durch das Thal Arbel zur Zeit der Morgendämmerung. Schwanke Schatten deckten noch die Erde; es war ein trübes, freudloses Schreiten durch dichte Nebel. Wie von einer schweren Last niedergedrückt, mit gesenktem Haupte und glanzlosen Augen, gingen die Meister und gedachten ihres Volkes, dessen Schicksal so dunkel und so schaurig und unentwirrbar war wie das verschleierte Zittern der Erde an diesem seltsamen Morgen. Es schien, als sollte es niemals enden, dieses Weben der verborgenen Mächte. Und die Häupter senkten sich immer tiefer, und die Hände verkrampften sich in Hoffnungslosigkeit. Da begann sich der Himmel leise zu röten. Es war wie ein Wunder. Bewundernd und demütig standen die Weisen da und durch ihren Sinn ging das Wort des Psalmisten: »Wenn der Herr zurückführen wird die Gefangenen Zions, werden wir sein wie die Träumenden«.2 Und ihr Gemüt erhellte sich, und frischen Mut im Herzen, den Geist durchglüht von neuen, lebensvollen Gedanken, beschleunigten sie ihre Schritte, das Lehrhaus aufzusuchen. Klar und licht breitete sich der Weg vor ihnen aus. Hoffnung wollten sie lehren und Thatkraft. Da ging die Sonne auf. Der rote Ball stieg empor, langsam, an Leuchtkraft stetig zunehmend. Durchströmt von Ahnung und Zukunftsfreude sprach Rabbi Chija zu Rabbi Simeon: »Wie diese Sonne aufgeht, allmählich und unaufhaltsam, so wird die Sonne der Erlösung für Israel aufgehen, allmählich und unaufhaltsam, bis das Licht des Tages voll erstrahlt und seinen leuchtenden Segen ausschüttet auf das Volk, das zu neuem Leben erwacht ist.« Noch kämpft heute das Licht mit der Finsternis, noch ringt der junge Tag nach Freiheit und Herrlichkeit, noch ruht der Bann der Nacht auf unseren Gliedern. Aber raffen wir uns auf, erheben wir das Banner der 1. 2.

y Ber 1,1, fol. 2 c. Ps 126, 1.

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Hoffnung und Siegeslust, und tragen wir es stolz hinaus in den Sturm und Kampf des Lebens. Unsere Augen sollen tapfer und fest in die Zukunft blicken, unsere Hände lernen, Waffen und Pflüge zu führen. Werfen wir von uns die Zaghaftigkeit und Gebundenheit des Sklaven, fessellos und mutig wollen wir vorwärts schreiten. Es genügt nicht von Zeit zu Zeit mit müder Stimme zu fragen: »Wächter, wann endet die Nacht?« 3 Selbst müssen wir den Sonnenaufgang wollen und unseren Willen in That umsetzen. Dann erst wird das Licht des Tages voll erstrahlen und seinen Segen ausschütten auf das erwachte Volk.

3.

Jes 21, 11.

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J[izchak] L[eib] Perez Ein Wort zu seinem fünfundzwanzigjährigen Schriftsteller-Jubiläum. 1 Es gibt einen Ort in Deutschland, der heisst Worpswede. Von dem haben noch vor nicht gar zu vielen Jahren die Touristen und Landdurchquerer nichts gewusst. Wenn aber doch einer durch irgendeinen leidigen Zufall hingeführt wurde, beeilte er sich wieder fortzukommen; denn er fand keine Schönheit an jenem Orte, weder an der Natur noch an den Menschen; alles sah ihm grau, schwer und dumpf aus. Aber da kamen einmal einige junge Maler hin, mit dem frischen Unternehmungsdurste und den gesegneten Augen der Jugend, und zugleich mit jener künstlerischen Macht begabt, die Wunder thut an allen Dingen; die sahen sich Worpswede an, und – sie sahen es. 2 Zum erstenmale wurde da der stumme, düstere Ort – gesehen. Die jungen Maler setzten sich da hin, schauten und malten. Jahrelang. Und als die Bilder, die sie da gemalt hatten, hinauskamen in die weite Welt, da waren sich alle Leute plötzlich einig darüber, dass Worpswede ein wunderschönes Stück Erde sei. Und jene, die damals unwillig fortgezogen waren, waren nun die verzücktesten Bewunderer. Das jüdische Volksleben ist das Worpswede der Nationen. Still und unbekannt entwickelt es sich nach seinen eigenen Gesetzen. Keiner wusste von seiner Schönheit; nicht die drin standen: denen hatte der Drang des Tages das reine Schauen verwehrt; und nicht die von draussen zusahen: deren Blick blieb an der Oberfläche haften und erfasste nur das Graue, Dumpfe und Schwere. Aber da kam einer, der hatte das Auge des Künstlers und des Künstlers Hand. Und seinem Auge erschloss sich das tiefe, wogende Leuchten, und seine Hand weckte das Schlummernde zu lichtem, sichtbarem Leben. Also dass alle das Leben des jüdischen Volkes sahen, wie wunderschön es ist in seinem Elend und seinem wilden, sehnsüchtigen Ringen. Dafür sei ihm heute gedankt, aus warmer, liebender Seele gedankt, und der beste Gruss sei ihm entsandt, den unsere Herzen zu entsenden haben: 1.

2.

1876 veröffentlichte Perez sein erstes hebräisches Gedicht »li omrim« (Man sagt mir) in der Zeitschrift Hashachar. Mit seinem Schwiegervater Gabriel Judah Lichtenfeld (1811-1887) brachte er wenig später seinen ersten hebräischen Gedichtband sippurim beschir weschirim schonim (Poetische Erzählungen und verschiedene Gedichte), Warschau 1877, heraus. Die ersten Maler, die sich 1889 in Worpswede niederließen, waren Fritz Mackensen (1866-1953), Otto Modersohn (1865-1943) und Paula Modersohn-Becker (18761907) sowie Fritz Overbeck (1869-1909) und Heinrich Vogeler (1872-1942), siehe die offizielle Internetseite des Künstlerdorfes.

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der Gruss im Namen Zions. Denn mögen die Gesinnungsstrengen ihn verketzern: er sei kein Zionist; uns Jungen, die nicht auf Worte, sondern auf Menschen schauen, ist er mehr Zionist als sie alle; denn er hat Zionismus gelebt . Andere haben uns Ideen und Programme gegeben; aber er hat uns Schönheit gegeben, und die Schönheit unserer eigenen Welt. Jene aber, die uns solches geben, sind Zions getreueste Kämpfer; denn Zion ist uns das Reich der künftigen jüdischen Schönheit. Ein anderer wird in diesen Blättern im Namen der jüdischen Kenner und Literaten sprechen; das kann ich nicht. Ich spreche nur im Namen einiger junger Menschen. Wir lieben jeden, der reinen Auges und reinen Herzens in die jüdische Seele schaut und ihrer Sehnsucht Sprache leiht. Und darum lieben wir auch Dich, Dichter unseres Volkes, und huldigen Dir am Tage Deiner Erinnerungen.

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Aus dem Munde der Bibel Vor mir liegt ein kleines schmales Büchlein. »Aus alten Zeiten«, Gedichte von Maria Janitschek. 1 Die Leser der »Welt« kennen diesen Frauennamen. Sie entsinnen sich einer Erzählung, die der wunderbaren Keuschheit des jüdischen Weibes huldigte. Diese Erzählung war von einer grossen bannenden Glut erfüllt. »Königin Judith« war der Titel. 2 Diese Dichterin sah ein einfaches jüdisches Weib, gross in seiner schlichten hüllenlosen Art, rein und unbezwingbar in der Macht seiner meerestiefen Liebe. Und sie sah den königlichen Reif über der Stirn dieses Weibes. Daran muss ich bei diesem kleinen Buche denken. Sie sieht die heimliche Krone auf dem Haupte unseres Volkes. Die Sammlung enthält altjüdische und altchristliche Gedichte. An den letzteren ist uns bemerkenswert, dass Jesus nur als »der letzte von Israels Heldensöhnen« »zum grossen Lichtsaal« aufsteigt, »wo von Gnadenzeit zu Gnadenzeit der Alte der Tage eine neue Leuchte schafft, die Sterblichen den Weg auf Freiheit weist«. Im Uebrigen kann uns hier nur der erste Theil beschäftigen. Wenn wir diese Gedichte mit anderen uns bekannten biblischen Dichtungen vergleichen, etwa mit Byrons »Hebräischen Melodien«3 oder mit dem »Juda« Börries Münchhausens4 , fällt uns Eines auf: die Hingabe. Die Dichterin schmiegt ihre Seele an die Seele der Bibel, sie legt ihr Ohr an einen unsichtbaren Mund. Das konnten Jene nicht. Byron nicht, weil er so stark und abgeschlossen war, dass er nichts anderes als sich selbst und das Bild seiner Sehnsucht zu sagen vermochte. Münchhausen aber liebt allzu sehr die laute rauschende Rede, als dass er die stille, schwere Art der Bibel in sich walten lassen möchte. Möge der Eine an Tiefe des Geistes und der Schwermut, der Andere an Fülle und Wohlklang des Tones sie übertreffen, dieses Eine, die Hingabe, ist Maria Janitschek allein eigen. Aus dem Munde der Bibel hat sie ihre Dichtungen erlauscht. Erst liebte sie das Buch, dann lernte sie das Land des Buches und das Volk des Buches lieben. Einmal aber, in dem die Sammlung eröffnenden Gedichte »Herkunft«, findet sie Worte für die Einheit von Land und Volk.

1. 2. 3. 4.

Verlag Kreisende Ringe, Leipzig 1900. Die Welt, 5. Jg., Nr. 20, 18. Mai 1901, S. 10-13. Lord Byron, Hebrew Melodies, London, 1815. Juda: Gesänge von Börries Freiherr von Münchhausen mit Buchschmuck von E. M. Lilien, Goslar, 1900; zu Entstehung und Rezeption des Bandes siehe L. Gossman, Jugendstil in Firestone, S. 33-47; siehe auch M. Stanislawski, Zionism and the Fin de Siècle, S. 107.

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»Wo Wasser kostbar wie Fürstenblut, Wo die Nacht voll Räthsel und heimlicher Glut, Wo Engel verlangend zur Erde steigen, Und schlanke Palmen im Samum 5 sich neigen: Da kommen sie her, geheimnissvoll, Ihre Liebe ist brennend wie ihr Groll«

Und ein andermal, im »Moses«, Worte für die Erlösung des Landes durch das Volk, für die Erlösung des Volkes durch das Land. »Sie werden wandern Jahr um Jahr, Jahr um Jahr So weiter wandern, Bis das geträumte Wunderland, Die Heimat, die glühend begehrte Sich aufthut vor ihnen. Bis den abgezehrten Leibern Die verlorene Jugend wieder spendet Der Anblick des väterlichen Bodens, Der Quelle, die ihre Mütter tränkten, Des geliebten Tempels …

Man sieht: hier greift die Dichterin über ihren Stoff hinaus. Es ist nicht mehr die biblische Wüstenwanderung, die sie schaut, nicht die biblische Ankunft in Kanaan, sondern der Zug durch die Jahrhunderte und die künftige Wiedergeburt. So entstehen überall, wo ein Stück tiefen altjüdischen Lebens zu Dichtung oder zu Kunst wird, Symbole für das Walten ewiger, das Volksschicksal gestaltender Mächte. Es ist beinahe, als sei die jüdische Unruhe, die jüdische Sehnsucht nach dem Kosmos auch an jeden grossen jüdischen Stoff geknüpft, so dass er sozusagen sich selbst nicht genügt und über sich hinausstrebt ins Weltenweite. Es seien hier zum Ueberblick nur noch die Gedichtstitel des ersten Theiles genannt: Herkunft; Gomorra; Sarai; Beth-El; Moses; Jesaias, der vom Herrn Berührte; Saul; Davids Werbung; Jonathans Freundschaft; Elias Auffahrt; Esther; Hanna; Jeremias; Daniel. Eine feine Stimmung wie der seltsame matte Glanz des Amethystes ist in diesem Buche. Und hatte Münchhausens »Juda« den Charakter einer prachtvollen, stolz dahinrollenden Ansprache, so wird »Aus alten Zeiten« uns lieb sein als der zarte, scheu sich entringende Gruss einer Frauenseele.

5.

Samum, arab., heißer Wüstenwind.

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J[izchak] L[eib] Perez Wie offenbarer- oder heimlicherweise für alle ostjüdische Dichtung, ist für Perez das Paradox der jüdischen Existenz das Grundmotiv seiner Werke. Das Grundmotiv, nicht der Gegenstand. Der Gegenstand sind die persönlichen Geschicke seiner Menschen, aber die Unterströmung, die nirgends sichtbar, überall spürbar wird, ist das Gefühl des großen Widerspruchs: – des Widerspruchs zwischen dem organisch gewordenen Bewußtsein der Auserwähltheit und der äußeren Welt des Elends und der Verachtung, zwischen der Herrlichkeit der Überlieferung und Verheißung und der dumpfen Pein des Augenblicks, zwischen göttlicher Wahrheit und geschichtlicher Wirklichkeit. Was Perez darstellt, ist das Leid von Individuen, aber was wir lesend gewahren, ist das Martyrium eines Volkes. Was er darstellt, ist das Schicksal von Juden, aber irgendwie ist es immer das Judenschicksal. Jeder dieser Menschen ist Jahrtausende alt und noch der niedrigste unter ihnen ist ein Bruder Jirmijahus. 1 Das Grundmotiv, das Paradox der jüdischen Existenz, baut sich am deutlichsten in drei Typen auf, die durch das Werk Perez’ gehen. Es sind dies: der duldende Jude, der grübelnde Jude, der singende Jude. Der das Leid ohne Frage hinnimmt, der das Leid besinnt, und der das Leid überwindet. Es sind ewige Typen, und ihre mythisch großen Sinnbilder stehen in den Büchern der Bibel: der jesajanische »Knecht Jahwes«, der »seinen Mund nicht auftut, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird« 2 . Hiob, der Gott nach seinen Gründen befragt; und David der Psalmist. In der neuen jüdischen Dichtung und vornehmlich in Perez’ Erzählungen haben sie, verwandelt aus dem Erlebnis der Gegenwart, dem Erlebnis des Paradoxes, eine späte volkstümliche Gestalt angenommen – vielleicht die letzte. Der duldende Jude, der stumme und tragende, der sein Leben nicht tut, sondern erleidet und dessen Erleiden doch eine Kraft ist, wie das Tun, hat von Perez eine neue Verklärung empfangen. Sie gleicht nicht der des »Knechtes Jahwes«, von dem es heißt, er habe »sein Leben zum Sühneopfer gegeben«3 ; dieses Motiv ist dem Judentum fremd geworden, wohl weil das Christentum es aufgenommen hat, aus dessen Hand es in die des größten Dichters unseres Zeitalters, Dostojewskijs, gekommen ist. Nein, die Verklärung des duldenden Juden bei Perez ist eine andere; das Leiden, 1. 2. 3.

D. i. der Prophet Jeremias. Jes 53, 7. Jes 53, 10.

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das er trägt, ist keine Sühne und kein Opfer, es ist nichts weiter als das Leiden eines armen einfältigen Juden, und doch schmettert, wenn er stirbt, die Posaune der Messiaszeit durch die Himmel. Dieses Leiden hat seine Verklärung nicht in etwas, was dadurch bewirkt wird, sondern in sich selber; und Perez liebt und preist den Dulder, nicht weil er etwas bedeutet, sondern weil er da ist. Der grübelnde Jude, der das Leid und den Widerspruch nicht hinnimmt, sondern fragt und fragt, bis ihm Welt und Ich zur Frage geworden sind, hat durch Perez eine klassische Formulierung gefunden in der Gestalt des närrischen Batlen,4 der, während er halb verhungert im Bethaus herumirrt, sich mit fiebernden Gedanken die Frage vorhält: »Wer bin ich?« und sich beobachtet und eine Vielheit von Ichs in sich findet, die er sich nicht zu erklären weiß, und immer tiefer und immer aussichtsloser in die eigene Problematik versinkt. Das ist der Typus der Verzweiflung und des inneren Verhängnisses; doch auch er hat seine Verklärung in sich selber, in seinem verzweifelten Suchen nach der Wahrheit. 5 Aber die Wahrheit kann nicht gefunden, sie kann nur gelebt werden. Das ist der Sinn des dritten Typus, des singenden Juden. Hier hat Perez, der der großen religiösen Bewegung des Chassidismus die tiefsten Anregungen verdankt, die Lieblingsgestalt der chassidischen Legende aufgenommen, den herzensreinen herzenseinigen, unbeirrten Menschen, der, allem Grübeln fremd, das Leid und den Widerspruch, ohne von ihnen zu wissen, überwindet in der unzerteilten, unabgelenkten Inbrunst, mit der er vor Gott singt, spielt, tanzt, lebt. Von dem Geigenspiel solch eines Menschen sagt jemand in einer Erzählung Perez’ die echt chassidischen Worte: »Ach, eine stumme Seele will mit ihrem Schöpfer sprechen und hat keine andere Sprache.« Stumme Seelen sind sie alle drei: der duldende Jude, der gar nicht versucht zu reden, der grübelnde Jude, der es falsch versucht, und der singende Jude, der nicht zu reden braucht, weil er singt, weil sein Leben ein Gesang ist; seine Verklärung ist die höchste und seine Stummheit die wahre Menschensprache. Einer aber ist nicht unter ihnen, einer fehlt in Perez’ Welt: dem unsre Herzen entgegenharren, den unsre Träume herbeirufen, der sich in tausend jungen Menschen bereitet – einer, der nicht duldet, sondern kämpft, nicht grübelt, sondern beschließt, und der sich erwählt hat, was vor Gott nicht weniger, vor uns Wollenden eines großen Willens aber noch mehr

4. 5.

Jiddisch für »Nichtstuer«, nach der Erzählung Der meshugener batlen, einer der drei Erzählungen in: Bakante Bilder (Vertraute Bilder), Warschau 1890. Zur Analyse dieser Geschichte vgl. K. Frieden, Classic Yiddish Fiction, S. 262-266.

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gilt als der Gesang einer Seele: die einige Tat. Der heroische Jude fehlt in Perez’ Welt. Hier ist die Grenze, hier trennen sich die Geschlechter, hier scheiden wir von dem Dichter, dessen Gedächtnis wir huldigen. Eine wundersame Welt hat er abgemalt, eine Welt, die wir lieben – aber es ist eine sterbende Welt. Und die neue Welt wird heute geboren. Wie wenn ein großer Bildner eine Figur ersonnen hat und zeichnet sie, ehe sie sich ihm ganz erfüllt Mal um Mal vor sich hin, Entwurf um Entwurf, und jeder doch eignen Blutes und eignen Wertes, ungleich der Vollendung und doch nur unvollkommner, nicht geringer als sie – solch ein Entwurf des heroischen Juden sind die heutigen Kämpfer. Sie fallen im Krieg, im Krieg eines europäischen Staates gegen einen europäischen Staat. Es ist ihnen noch nicht gegeben, ihren eignen Kampf zu kämpfen. Und doch führen sie in der innerlichen Wahrheit Zions Kampf gegen das Paradox. Noch ist die Zeit nicht da, wo unter den Streichen lebendiger Juden der Widerspruch zerschellt und, von seinem Bann gelöst, Verheißung und Augenblick, Wahrheit und Wirklichkeit sich vereinen; aber die Zions Kampf gegen das Paradox führen, kündigen sie an, und ihr erlöschendes Auge sieht unsre Fahne wehn auf dem Berge des Herrn.

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Über Agnon Sie wollen von mir, lieber Leo Herrmann, ein Wort über unseren Freund Agnon hören. Nicht viele, sondern eines. Hier ist es: Agnon hat die Wei he zu den Dingen des jüdischen Lebens. Es gibt andere, die wie er um diese Dinge wissen, aber ihr Wissen ist dürr. Es gibt wieder andere, die wie er um diese Dinge fühlen, aber ihr Gefühl ist verschwommen. Agnon ist von den Wenigen, die die Weihe zu den Dingen des jüdischen Lebens haben. Die Weihe ist nicht nüchtern und sie ist nicht sentimental, sie ist glühend und fest. So ist Agnon. Weihe: ich meine nicht die falsche, die hochmütig und durchseucht von Gebärde ist, sondern die rechte; sie ist still, demütig und treu. So ist Agnon. Er ist berufen, ein Dichter und Chronist des jüdischen Lebens zu werden; des einen, das heute stirbt und sich verwandelt, aber auch des anderen, werdenden, unbekannten. Galizier und Palästinenser, Chassid und Pionier, trägt er in seinem treuen Herzen die Essenz beider Welten im Gleichgewicht der Weihe. Soll ich sagen, wie wir ihn schätzen? Wir lieben ihn.

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Von Jüdischen Dichtern und Erzählern Zwei Bruchstücke aus einem Vortrag über Perez 1 1. Anderswo ist der Dichter ein Vollender, er vollendet die Rede des Volkes, die rings um ihn lebendig ist, – er ist wie Ahron, der aus dem Geschmeide, das ihm die Menge darbringt, das goldene Bild erbaut. 2 Der ostjüdische Dichter aber ist wie Moses, der mit seinem Stab Wasser aus dem Felsen schlägt: 3 er macht die stumme Seele des Volkes reden. Sein Wort ist nicht so kristallen, so formhaft wie das der Dichter anderer Nationen, aber das ist, weil er nicht vollendet, sondern übernimmt und übergibt, weil er der Dolmetsch einer stummen Seele ist, dienend und getreu. In den Jahrhunderten, in denen das jüdische Volk keine Dichter hatte, hatte es gleichsam keine Sprache, denn es hatte keinen zulänglichen Ausdruck seiner Gegenwart. Es hatte wohl seine Sprüche, seine Sagen, seine Lieder, wie andere Völker auch, aber das Wesentliche, das Geheimnis des gegenwärtigen Lebens ging nicht in sie ein; unausgesprochen, ungehoben schlief es in seiner Tiefe. Ja, keiner schien zu ahnen, daß es solch eine unausgesprochene wesentliche Innerlichkeit gab; war es doch allen die unumstößlichste Gewißheit, daß das Wesentliche für das Judentum auf ewige Zeit ausgesprochen sei in den Büchern der Vorzeit; alles Ereignis der Gegenwart war nur Beispiel und Bewährung, aller Gedanke der Gegenwart war nur Anwendung und Ausgestaltung, alles Gefühl war Hinweis, alles Schrifttum war Kommentar. Die Geister der Toten schwebten gewaltig über dem Volke. Und doch hatte diese Gegenwart ihr eigenes ungeheures Leben, sie war ganz erfüllt von dem größten tragischen Paradox, das je einem Volk zuteil wurde: sie war ganz Widerspruch – zwischen göttlicher Wahrheit und geschichtlicher Wirklichkeit. Das Paradox hatte seine Versöhnung und Überwindung in der Religiosität, aber es hatte keinen Ausdruck in der Zeit, kein Bild, keinen Spiegel, kein Gleichnis – es hatte keine Sprache. Diese fand es, fand das jüdische Leben erst in der Dichtung. Die ostjüdische Dichtung hat sich in hundert Jahren entwickelt, aber sie ist erst in unserem Zeitalter mündig und selbständig geworden. Auch 1. 2. 3.

[Anmerkung Buber:] Ein anderes Stück desselben Vortrags ist in dem vorjährigen Jüdischen Nationalkalender erschienen [vgl. den vorangehenden Perez-Text in diesem Band, S. 59-61]. Vgl. Ex 32, 1-7. Vgl. Ex 17, 4-7.

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über ihr schwebte lange, die unbefangene Äußerung hemmend und beschränkend, die Geisterschar der großen Toten. Sie mußte sich erst vom biblischen Inhalt, dann von der biblischen Form freimachen; dies ist ihr völlig erst in unserer Zeit gelungen, da zugleich an die Seite der neuhebräischen Dichtung, gleichberechtigt wiewohl nicht gleichartig, die Dichtung in der Volkssprache trat, dem jiddischen Idiom, das, in den Wanderschaften der Juden gewachsen, der Wanderschaften Spur und Gepräge trägt. Beide suchten das große Motiv des jüdischen Lebens, das Paradox zu gestalten; aber der hebräischen Dichtung, die auch in der Verselbständigung ihren Zusammenhang mit den urzeitlichen Gesängen nicht verleugnete, fiel der Beruf zu, das Pathos des Widerspruchs, die großen Töne der Klage, der Sehnsucht, der Empörung, des Kampfes, des Aufbaus, der Erneuerung erklingen zu lassen, der jiddischen Dichtung die volkstümlichere Aufgabe das vielfältige Kleingetriebe zu schildern, in dem sich das Paradox sichtbar darstellt, die Melancholie des Widerspruchs und seinen Humor, das Leiden der bedrückten Kreatur und die allen Widerspruch überwindende zärtliche Freudigkeit des frommen Gefühls auszuformen. Ihr Element ist die Welt der Wirklichkeit, das jener die Welt des schöpferischen Wunsches. In dieser Trennung der Bereiche ist es begründet, daß die moderne hebräische Dichtung ihr Bestes in der Lyrik, die jiddische ihr Bestes in der Erzählung schuf.

2. Trotz seiner vielfachen lyrischen und dramatischen Versuche ist Perez vor allem ein Erzähler. In seinen Gedichten ist er häufig von Heine, in seinen Dramen von den früheren Werken Maeterlincks 4 und den legendären Visionen des Polen Wyspianski 5 abhängig, in seinen Erzählungen ist er ganz er selber. Innerhalb des Grundcharakters, der ihnen mit der modernen jüdischen Erzählung überhaupt gemeinsam ist, haben sie eine eigene, ihnen eigentümliche Wesensart. Den aller modernen ostjüdischen Erzählungskunst gemeinsamen Grundcharakter, den ich meine, könnte man etwa als Episodismus bezeichnen. Die ostjüdische Erzählung stellt ihrer Natur nach eine Episode dar, eine Episode nicht in einer größeren Handlung, sondern in dem Einerlei des Alltags. Breite, epische Zusammenhänge sind ihr fremd; ein 4. 5.

Maurice Maeterlinck (1862-1949). Stanislaw Wyspianski (1869-1907) gelangte sowohl als Schriftsteller und Dramatiker wie auch als Maler zu Ruhm.

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jüdisches Epos, einen jüdischen Roman im wahrhaften Sinne des Wortes gibt es bisher nicht – vielleicht werden sie erst in einem künftigen palästinensischen Gemeinwesen entstehen können. Den Anlauf, den einst in einer Epoche des Kampfes zwischen einer gesetztestreuen und einer aufklärerischen Generation der Tendenzroman 6 genommen hat, hat zu keiner entscheidenden dichterischen Tat geführt, und was später gekommen ist, vor allem das Bedeutendste davon, die Romane Mendeles7 sind nur Folgen von Episoden. Das mag daran liegen, daß das Leben des Golus 8 keine großen einheitlichen Zusammenhänge von Ereignissen darbietet; es mag auch an der unzulänglichen architektonischen Begabung der jüdischen Erzähler liegen; wie dem sei, die jüdischen Erzählungen sind Episoden – und zwar nicht der Art, wie alle Novellen es sind, umrissene Berichte eines in sich beschlossenen Vorgangs oder Abenteuers, sondern aus dem Alltag gelöste Stücke Leben, so aus dem Alltag gelöst, daß die Fäden noch an ihnen hängen, die sie mit ihm verknüpften. Innerhalb dieses Grundcharakters möchte ich die Erzählungen von Perez dahin kennzeichnen, daß sie Episoden der Seele sind. Man vergleiche sie etwa mit denen Mendeles oder denen Scholem Alejchems. Mendele schilderte, was er auf seinen Fahrten zu sehen bekommen hat; Scholem Alejchem läßt sich von den Leuten erzählen; Perez berichtet von dem, was man nicht sehen und hören kann, von dem Herzen der Menschen. Mendeles Welt besteht aus Begebenheiten, Scholem Alejchems aus Rede, Perez aus Empfindung. Mendele baut das Leben einer Gegend, eines Städtchens, einer Gemeinde mit allen ihren gewöhnlichen und doch wunderlichen Menschlein auf; Scholem Alejchem läßt seine Leute ihre Beziehung zur Umwelt und die daraus sich ergebenden Situationen in der jedem einzelnen von ihnen eigentümlichen Sprache vortragen; Perez will das Einsamste und Beziehungsloseste, das schweigende Geheimnis der Seelen erfassen. Er hat nicht die gelassene, überschauende Sachlichkeit des ersten, nicht den sicheren, unerschütterlichen Humor des zweiten, aber er hat Musik und Mysterium. Er ist nicht so weise wie der große Mendele und nicht so volksunmittelbar wie Scholem Alejchem, aber er ist in einem prägnanteren Sinne als sie beide ein Dichter. Jene sind Gestalten, die in die Kulurgeschichte des Judentums eingehen werden; er wird nie anderswo leben als in seiner Dichtung, nie etwas anderes sein als ein Dichter, ein Dichter der Seelen. Weil er dies aber rein und echt war, wird er dauern. 6. 7. 8.

Gemeint sind Romane wie Ahavat Zion (Zionsliebe, 1853) und Aschmat Schomron (Samarias Schuld, 1865 und 1866) des Haskalah-Schriftstellers Abraham Mapu (1808-1867). Mendele, Pseudonym von S. Y. Abramowitsch (1835-1917). Golus, jidd. »Exil«.

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Der Dichter und die Nation Bialik zu Ehren Gesunden, gesicherten Völkern ist der große Dichter eine Freude, eine Erhebung, ein Stolz. Einem kranken, gefährdeten Volke ist er mehr: Bestätigung des Lebens und Zuspruch gegen den Tod. Wenn das kranke Volk um seine Sprache (und das heißt: um seine Vitalität) bangt, wer gibt ihm die Gewißheit, daß sie blutkräftig geblieben ist? Kein Sprechklub und keine Zeitung, wohl aber das Kind und der Dichter. Und der Dichter mehr noch als das Kind: weil er nicht Fortdauer allein, sondern neues Wachstum erweist. Der große Dichter ist in aller Wahrheit die Blüte der Sprache: darin sie das Werk ihrer Fruchtbarkeit vollzieht. Das ist nicht mehr Aktion, nicht mehr Zwecksetzung, nur noch das untrügliche Sprießen. Ohne dessen bestätigenden, zusprechenden Anblick würde alle Aktion bald erlahmen. So bezeugt und bestärkt der Dichter die Kr aft . Aber die R i cht u ng der Kraft? Ein Volk ist noch nicht zum wirklichen Leben genesen, wenn seine Kraft sich erneuert hat, es kann sie wie ein Toller vertun und nun erst in das eigentliche Verderben sinken, es kann sie wie ein Engherziger ausnützen und nun wesenlos hindauern, zum wirklichen Leben den Weg findet es nur, wenn es eben s ei nen Weg findet: auf neuer Straße seinen Weg w i ed erfi nd et . Hilft ihm auch dazu der Dichter? Er kann dazu helfen. Durch programmatischen Anruf kaum. Aber durch die Redlichkeit seines Worts. Seines prüfenden, strafenden, sichtenden, läuternden Worts. Aber nicht dieses allein. Auch des ganz stillen, unpathetischen, ganz »lyrischen« Worts: durch die Redlichkeit, mit der es gesprochen wird. Durch die Redlichkeit seiner Ausdruckwahl, durch die Redlichkeit seiner Lippenbewegung hilft der große Dichter, der vorbildliche, zur Richtung und zum Weg. Und dieser – nur der Bote, der seinem Auftrag treu bleibt – ist der große Dichter.

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Vorwort Mein Freund Elijahu Rappeport, einst Mathematiker und Doktor der Philosophie, jetzt Mitglied einer Landarbeiter-Genossenschaft im Tale Jesreel (Palästina), 1 hat diese Loblieder zumeist im Krieg geschrieben, den er als österreichischer Offizier an der galizischen Front erlebte. Ich weiß über diese Loblieder nichts anderes zu sagen, als daß sie es wirklich sind: sie sind zum Lob Gottes geschrieben. Wenn es in ihnen »Du« heißt, ist nicht eine sinnbildliche Figur, sondern der ewigseiende Empfänger unseres Wortes gemeint, und wenn es in ihnen »ich« heißt, nicht ein fiktives Dichtersubjekt, sondern der Sprecher in all seiner lebendigen Bedingtheit. Das scheidet sie von einer modernen Lyrik, die ihnen überlegen und unterlegen ist. Auch diese Spätlinge noch sind »ein gülden Kleinod Davids«. 2

1. 2.

Rappeport lebte zu dieser Zeit in Ein Harod, vgl. M. Buber, B II, S. 156 (Rappeport an MB., 5. Februar 1923). Ps 57, 1.

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Antworten Martin Bubers auf eine Tendenz-Rundfrage des Berliner »Vereins Jüdischer Studenten« im Wintersemester 1900/1901 1. Frage:

Sind die Juden ein Volk, d. h. eine durch Abstammung und historische Entwicklung geeinte Gemeinschaft? Abstammung und Geschichte sind eherne Tatsachen, die nur von Schwachsichtigen oder Böswilligen, allenfalls auch von Opportunisten 1 aller Art ernsthaft in Abrede gestellt werden können. Für die aus dieser Tatsache sich ergebende Gemeinschaft ist das Wort »Volk« durchaus angemessene Bezeichnung. 2. Frage:

Bist Du Nationaljude, d. h. bist Du Dir des nationalen Charakters des Judentums bewußt (ohne Beeinträchtigung des darin eingeschlossenen religiösen Charakters)? Erhellt eigentlich schon aus der Antwort auf 1. Aber ich bin auch Nationaljude in dem Sinne, daß ich die Fortdauer und Höherentwicklung des nationalen Charakters des Judentums wünsche und an ihnen mitarbeiten will. Das erst nenne ich Nationaljudentum. Und dieses Nationaljudentum hat in mir Irreligiösem eine heiße Liebe zu den volkstümlichen »religiösen« Bräuchen geweckt und entfaltet. 3. Frage:

Bist Du Zionist, d. h. siehst Du in der Schaffung einer öffentlich-rechtlichen Heimstätte für das jüdische Volk 2 die Lösung der Judenfrage? Ich bin Zionist. Zionismus nenne ich ein Nationaljudentum, das seine 1. 2.

[Anmerkung Buber:] Opportunisten (im weitesten Sinne) nenne ich alle, die von einem Interesse besessen, alle innere Freiheit und Geisteswahl in sich ertöten. Es gibt also mammonistische, religiöse, sozialistische etc. Opportunisten. Dies verweist auf die Formulierung des »Baseler Programms« vom Ersten Zionisten-

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eigenen letzten Konsequenzen zieht. Meiner Ansicht nach kann nur eine bodensässige und autonome, Eigenproduktion treibende Nation ein großes freies Volksleben führen. Ich bin von der Möglichkeit der hierzu nötigen Landgewinnung überzeugt. Selbstverständlich ist es Privatsache jedes einzelnen Nationaljuden, diese beiden Konsequenzen zu ziehen oder nicht zu ziehen. 4. Frage:

Beruht der V[erein] J[üdischer] St[udenten] auf nationaler Grundlage, d. h. wird er durch das in 1 genannte Band verbunden? In Wirklichkeit – d. h. nach den vom Willen der einzelnen V. J. Ster völlig unabhängigen Tatsachen – beruht er natürlich auf der genannten Grundlage und hat nur in ihr sein Existenzrecht. Im Bewußtsein einiger V. J. Ster ist dies allerdings nicht der Fall, wohl weil sie niemals die Notwendigkeit einer einheitlichen Grundlage gefühlt haben; sonst wäre das ungeheuerliche Kartell- »O d er« 3 nicht zustande gekommen. 5. Frage:

Wenn ja, soll er seinen national-jüdischen Charakter mehr betonen? Ja, nach der Parole Lassalles: 4 aussprechen das, was ist. Und dann auch, weil eine Vereinigung junger Menschen nicht zur »Interessenvertretung«, sondern zur Ausbildung des eigenen Wesens dieser Menschen, zu ihrer Selbsterziehung da ist, und diese ist für uns, richtig verstanden, nur in nationalen Formen möglich. Betont der Verein dies nicht, so wird es mit der Zeit auf weniger ehrenvollem Wege zu einer solchen Betonung gelangen: durch die Entwicklung der Dinge im Deutschen Reiche.

3. 4.

kongreß 1897, wo von einer »öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte« die Rede ist. Wohl eine nicht dokumentierte Selbstbezeichnung des Studentenvereins. Ferdinand Lassalle (1825-1864).

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Gegenwartsarbeit Der Zionismus tritt in die Phase der Gegenwartsarbeit ein. Das ist natürlich nicht so zu verstehen, als ob jene Programmpunkte, welche die Arbeit an der Zukunft bestimmen, in den Hintergrund treten sollten. Ist es doch gerade der Erst a r k u ng und Verfei ner u ng unseres activen Glaubens an die Zukunft zu verdanken, dass diese neuen Gesichtspunkte zum Durchbruche gelangt sind. Als wir Jungen mit glühendem, bebendem Herzen und vor Thatbereitschaft fiebernden Händen uns der Bewegung, als dem lebendigen Ausdrucke unserer Sehnsucht, anschlossen, da war unser Glaube ein kernfrischer Enthusiasmus, eine Flamme, die zum Himmel schlägt, weiter nichts. Es war etwas Grosses an unserer Begeisterung, aber auch etwas Unselbständiges und Unbeholfenes. Wir liessen uns von der guten Sache gefangen nehmen und wollten uns beschenken lassen. Wir streckten die Hände aus und baten um Arbeit. Für viele war das ja das Richtigste, was sie für ihre eigene und des Ganzen Entwicklung thun konnten. Für andere aber war es ein Raub an ihrem Selbst und ihren künftigen Leistungen. Sie baten um Arbeit. Die dachten sie sich im Sinne ihrer Ideen, die weltumspannend, wunderschön und unausführbar waren. Arbeit wurde ihnen zugewiesen, tüchtige, fruchtbare Arbeit im Dienste der Organisation und Agitation. Es wurde doch bei ihnen nichts Ganzes daraus, kein rechtes Werk und keine rechte Freude. Lag das wohl an ihnen oder an der Arbeit? Es waren willensstarke und leistungsfähige Menschen; es war ein schönes und reiches Thätigkeitsgebiet; aber beides passte nicht zueinander. Man hatte der Eigenart der Befähigung zu wenig Rechnung getragen. Darum lösten sich die einen ab, die anderen blieben, aber ohne den beglückenden Lebenshalt, den man von einem grossen Ideale empfängt, dem man dient. Bis allmählich hie und da der Gedanke zu tagen begann, dass es vielleicht doch noch eine andere zionistische Arbeit gibt, die gerade für diese Menschen geschaffen ist. Ich habe bereits gesagt, woraus dieser Gedanke sich bei den jungen Zionisten – denn aus ihrer Mitte ist er in Wahrheit emporgekommen – entwickelt hat: aus den Wandlungen, die ihr Glaube an die Zukunft durchmachte. Dieser Glaube war anfangs utopisch und phantasievoll, mehr auf deductivem als auf empirischem Wege entstanden; in Poesie und Stimmungsglut getaucht, aber vage und ohne festen Inhalt. Hier hat die Agitationsarbeit, die so viel leere Rhetorik und phrasenselige Gedankenträgheit grosszog, doch wieder erzieherisch gewirkt, und zwar auf zweifache Art. Positiv dadurch, dass sie die jungen Schwärmer mit dem

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Reiche der Thatsachen und der grausamen Wirklichkeit bekannt machte; negativ dadurch, dass sie sie unbefriedigt liess und so veranlasste, eine andere wesenhaftere Bethätigungsform zu suchen. Unser Glaube begann den Wegen der geschichtlichen Nothwendigkeit nachzugehen und die gegenwärtigen Verhältnisse mit klarem, unbefangenen Auge zu betrachten. Daneben reifte eine Selbsterkenntnis heran, die uns befähigte, den Kreis unserer zionistischen Aufgaben selbst zu ziehen, so weit sie von unserer subjectiven Veranlagung abhängig sind. Innere und äusserer Erkenntnis ergänzten sich: wir wurden der Bewegung gegenüber selbständiger. Wir giengen verschiedene Wege; aber uns vereinigte ei ne Idee: wir stehen in einer Bewegung, in der Politik nur die letzte unentbehrliche Consequenz bedeutet, die strengster und straffster Centralisierung bedarf und in der Organisation und Agitation nur weitverzweigte und entbehrliche Hilfsmittel sind, die relativ decentralisiert sein und in den Händen der gerade hierfür Befähigten liegen müssen. Dagegen sehen wir das Wesen und die Seele der Bewegung in der Umgestaltung des Volkslebens, in der Erziehung einer wahrhaft neu en Generation, in der Entwicklung des jüdischen Stammes zu einer starken, einheitlichen, selbständigen, gesunden und reifen Gemeinschaft. Das heisst: in jenen Processen, deren vorläufig noch unzulänglicher Ausdruck die Losungsworte der »Hebung« sind, die der Londoner Congress 1 uns brachte. Zu diesem Ergebnisse kommen zwei Gruppen auf verschiedenen Wegen. Die einen glauben, dass die Gewinnung unseres »Kinderlandes« sich erst auf dem Boden der wiedergeborenen jüdischen Cultur, als deren Frucht und Folge, entwickeln werde; die anderen, die der Erde und der bodensässigen Volkseinheit allein culturschöpferische Kraft zuschreiben, wollen nur eine Verbesserung und Veredlung unseres Menschenmaterials. Diese Verschiedenheit ist aber rein akademischer Natur; das unmittelbare Handeln wird von ihr gar nicht beeinflusst. Jedenfalls macht eine so exceptionelle Bewegung wie die unsere, die eine so einzigartige und im letzten Grunde unvergleichbare Volksbefreiung anstrebt, auch ein exceptionelles Programm nöthig: das einer grossen und radicalen Volkserziehung. Zu diesem Programme sind erst die ersten Ansätze vorhanden; es muss ausgestaltet werden. Ich denke es mir gleichsam als Programm des angewandten Zionismus: auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis aufgebaut, concret, lebensvoll, im schönsten Sinne praktisch, ohne Formeln, alle Störungen berücksichtigend, allen Kräften Bethätigung zuwei-

1.

»Soziale, wirtschaftliche, spirituelle und physische Hebung des Judentums« war die Losung des Vierten Zionistenkongresses in London vom 13.-16. August 1900.

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send, weit, aber nicht vieldeutig, das Höchste an That verlangend, aber auch das Höchste an Beseligung bietend. Es genügt anzudeuten, was dieses Programm leisten soll. Es soll vor allem die heute noch lose und rhapsodisch nebeneinander wirkenden Bestrebungen der Volkshebung zusammenfassen, kräftigen und leiten; es soll die Erzieher erziehen und die Unsicheren anregen. Es soll ferner jene sammeln, die in der Aera der Volksversammlungen ihr individuelles Arbeitsbedürfnis nicht befriedigen konnten und abseits traten. Es soll allen modernen national-jüdischen Bewegungen Raum schaffen innerhalb der Bewegung und so einem grösseren Zionismus die Wege bahnen. Es soll den Zionismus erweitern, indem es alle geistigen Factoren der Wiedergeburt vereinigt, und es soll ihn zugleich vertiefen, indem es von dem starren und oberflächlichen Formelkram der Agitation zu einer innig lebendigen Erfassung des Volksthums und der Volksarbeit führt. Es soll endlich neben die Propaganda durch das Wort die heute schon allerorten sich durchringende Propaganda durch productive Thätigkeit setzen. Wir sehen, wie in unserem Zeitalter auf allen Gebieten Theorie und Wort durch Leben und That verdrängt werden. Die moderne Naturwissenschaft, die nicht mehr erklären, sondern beschreiben will, die neueste Kunstentwicklung, die Richtungen durch Persönlichkeiten ersetzt, die politischen Parteien, die sich immer mehr von Abstractionen und theoretischen Schlagworten ab- und den wirtschaftlichen Forderungen des Tages zuwenden, die einzelnen Menschen endlich, die der religiösen und ethischen Schablone müde sind und nach Gesetzen des individuellen Lebens, nach neuen, aus individueller Wahl stammenden Lebensgemeinschaften verlangen – sie alle sind Zeugnisse für diese grosse Umwandlung, die sich in unseren Tagen vollzieht. Der Zionismus tritt in diese Gesammtentwicklung ein, indem er die jüdische Gegenwartsarbeit proclamiert. Man könnte zwar gerade aus diesen Gesichtspunkten heraus behaupten, er brauche kein Actions-Programm aufzustellen. Aber unsere junge Bewegung bedarf eines Zusammenhaltes ihrer Thaten, eines Einheitspunktes, in dem die Wünsche zusammenströmen, und aus dem die Gebote wieder ausstrahlen. Nur ein Programm kann die Einheit aller Regenerationsarbeiten nach aussen hin documentieren. Nur ein Programm der potenzierten Thätigkeit, wie wir es uns denken, kann die weckende und befruchtende Macht ausüben, die zu allen Zeiten von den Manifesten des triumphierenden Lebens ausgieng und Welten umgestaltete. Und nur ein so lches Programm kann die Unseren zu der geistigen Freiheit und Selbständigkeit heranziehen, die einst alle Programme entbehrlich machen wird.

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Eine Section für jüdische Kunst und Wissenschaft In Nr 11 der »Welt« 1 wurde in dem Berichte »Die Berliner Zionisten« eine »Section für Kunst und Wissenschaft des Judenthums« erwähnt. Ich möchte zunächst den Namen richtigstellen. Dieser ist nämlich im vorliegenden Falle nicht Schall und Rauch, sondern etwas durchaus Wesentliches. Eine Kunst des Judenthums kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, und mit der ehrwürdigen »Wissenschaft des Judenthums« haben wir es in unserer Section auch nicht zu thun: Jüdische Kunst, das ist lebendige Kunst eines lebendigen Volkes. Jüdische Wissenschaft, das ist Wissenschaft eines Volkslebens.2 Beide Worte aber bedeuten in unserer Section, dass sie eine weitere und tiefere Auffassung des Zionismus pflegen will: als einer Bewegung unserer Volksseele zum Schaffen, und als einer Bewegung von Ideen, die Wirklichkeit werden wollen. Unsere Section ist sozusagen reichsunmittelbar; sie hält sich nicht an die Partei, sondern an die grosse Bewegung, die um die gleichsam festgewordene Partei und über sie hinaus flutet. Darum galten die bisherigen Veranstaltungen Männern, die gewöhnlich als ausserhalb der »Partei« stehend angesehen werden: Mat hi as Acher, 3 Acha d Ha am. Der nächste Abend (Montag 25. [April] im »Münchner Hof«) soll Max No rd a u s »Aufgaben des Zionimus« 4 und eine Discussion über die Probleme unserer Gegenwartsarbeit bringen. Atelierbesuche und Kunstdemonstrationen, sowie weitere Vorträge, werden folgen. Unsere Section beschränkt sich auf einen kleinen Kreis, aber gerade das lässt uns eine fortschreitende Erhöhung des Discussionsniveaus und Veredlung des Discussionstones erhoffen. Gelegentlich mehr über die Nothwendigkeit solcher Institutionen. 1. 2. 3.

4.

Ausgabe vom 15. März 1901. Eine eingehende Erklärung seines Verständnisses bietet der Beitrag »Jüdische Wissenschaft«, in diesem Band S. 148-154. Pseudonym von Nathan Birnbaum. »Acher« (hebr. für »ein anderer«) ist der Beiname des rabbinischen Schriftgelehrten Elischa ben Abuja (geb. vor 70 n. Chr.), der als Apostat in die jüdische Geschichte eingegangen ist, weil er die jüdische Religion zu hinterfragen begann und sich mit geistigen Strömungen außerhalb des Judentums so intensiv befaßte, daß er der Häresie bezichtigt wurde. Viele jüdische Intellektuelle, unter ihnen auch Buber selbst, haben Elischa ben Abuja, bzw. Acher, als eine Identifikationsfigur der jüdischen Moderne wiederentdeckt und zeitweilig diesen Namen als Pseudonym benutzt. Erschienen bei Achiassaf 1898, abgedruckt in: Max Nordau, Zionistische Schriften, S. 320-328. Es heißt dort, S. 323 – ganz im Sinne von Bubers in »Jüdische Renaissance« vorgebrachter Kritik – »Das Galuth hat ein Chaos aus uns gemacht. Wir sind ein loser Haufe von Individuen ohne organischen Zusammenhang. Diesen müssen wir erst wieder finden.«

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Das Zion der jüdischen Frau Aus einer Ansprache Das Zion der jüdischen Frau – ist damit die Entwicklung gemeint, welche die jüdische Frau dereinst im Lande unserer Sehnsucht als Jüdin und als Frau durchmachen wird? Soll geschildert werden, wie das neue Leben auf freier, eigener Erde, die neue Art des Zusammenlebens mit Menschen in Güte und Schönheit, das ruhevolle gesegnete Schaffen, wie all dies und die anderen Reichthümer, die Zion der jüdischen Frau schenken wird, ihre schlummernden Fähigkeiten zu wunderbarer Kraft entfalten werden – und wie da auf altem, ewig jungem Boden mit der neuen Jüdin zugleich die neue Frau in ihrer Herrlichkeit erstehen wird? Denn nur in einem neuen Lande, das nichts weiss von den alten Formen und Formeln, in das nichts vom Staub und Wust der alten Welt gedrungen ist, nur da kann, wie der neue Mensch überhaupt, so auch die neue Frau sich entwickeln.a Soll nur von diesem Zion der jüdischen Frau, von dieser einstigen Erfüllung und Vollendung ihres Wesens erzählt werden? Ich habe mir heute eine engere, stillere und bescheidenere Aufgabe erwählt. Ich will von dem Zion sprechen, das da sein muss, bevor wir an jenem grossen künftigen Zion zu arbeiten b beginnen: ich meine das Zion der Seelen. In den Seelen muss Zion geboren werden, bevor es in der sichtbaren Wirklichkeit geschaffen werden kann. Wenn alle, die zu uns gehören, ihren Zionismus nicht bloss mit Worten, sondern mit ihrem ganzen Sein bethätigen werden, wenn sie alle ihr Leben als eine heilige Vorbereitung auf das Neue und Wunderbare, das da kommen soll, ansehen und es als eine solche Vorbereitung mit treuem Ernste und fester innerer Thätigkeit c auch leben werden, wenn so ein Zion der Seelen da sein wird, eine große stille Gemeinschaft reifer und thatbereiter Menschen – dann, dessen können Sie gewiss sein, wird das andere, das palästinensische Zion nicht lange auf sich warten lassen. Denn wo die rechte Weihe ist, da ist auch die Kraft. In diesem Sinn nun möchte ich heute von dem Zion der jüdischen Frau sprechen, das heisst von der Wandlung, die in den Seelen der jüdischen Frauen vor sich gehen muss, damit Zion eine Wirklichkeit werde. Zunächst aber bitte ich Sie, einen Blick auf die Geschichte der jüdischen Frau zu werfen. Zur Zeit des jüdischen Staatslebens ruht das ganze a. b. c.

Dieser Satz nicht in JB. JB: bauen beginnen können JB: mit Ernst und Entschlossenheit

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Zionismus

innere Leben auf der Familienorganisation. Die Frau ist die durchaus a gleichberechtigte Beherrscherin des Hauses, und wahrhaft königlich ist die Schilderung, welche die Bibel von ihr entwirft. Sie ist Prophetin und Sängerin, die Anregerin zu allem Guten und Starken und die Spenderin des Kampfpreises. Sie entfaltet zuerst jenen wunderbaren duldenden Heroismus, der ein Erbtheil des jüdischen Stammes bleibt. Sie leitet die grossen Volkswerke ein; es ist bezeichnend, dass die Tradition die Befreiung aus Aegypten auf das Verdienst der edlen Frauen zurückführt. In der Epoche des Aufbaus eines geistigen Vaterlands nach dem Verlust der Heimat, in der Zeit der Entstehung des Talmud bildet sich die Hochschätzung der Frau noch stärker aus. In den Schriftwerken dieser Zeit tritt sie als die naive Meisterin auf, deren freies und ungetrübtes Gemüth das Wesen der Dinge erfasst, und die, frisch zugreifend, die Dinge resolut erledigt. b Aber die höchste Bedeutung erlangt die Frau in der Zeit des Ghettos. Hier drängt sich alles Leben in der Familie zusammen. Das freie Staatsleben wird durch das engere, aber freudige Familienleben ersetzt. Hier tritt die Frau als Schöpferin einer geschlossenen Familiencultur auf. Sie nimmt dem Manne einen grossen Theil seiner Geschäfte ab und ermöglicht es ihm, c seinen geistigen Interessen nachzugehen. Mitten in der schwersten Verfolgung spendet sie ihm Muth und Zuversicht. Sie erzieht ihre Kinder zu tapferen und willensfesten Juden. Sie bringt in das Haus eine wunderbare Naturfrische, welche d das verlorene junge Grün der Heimat soweit als möglich ersetzt. Sie erhält gleichsam den lebendigen Zusammenhang mit der Mutter Erde und gestaltet das Leben zu einem vollen aus. Die jüdische Frau ist es, die in dieser Leidenszeit die Männer zum Ausharren im Glauben aneifert. Die spanischen Frauen trieben ihre Ehegatten an, sich mit ihnen in den Tod zu stürzen. Wie es sich mit den deutschen Jüdinnen verhielt, das können Sie aus jenem alten, von Herrn Yo r k- S tei ner in seiner Novelle »Maskir« 1 angeführten Memorbuche ersehen, aus der langen, langen Liste der jüdischen Märtyrer, die im grossen Kampfe der europäischen Völker gegen die Juden gefallen sind. Eine Stelle dieses Buches lautet: 1.

Heinrich York-Steiner, Maskir, in: Ders., Der Talmudbauer. Unterwegs. Erzählungen, Berlin 1904.

a. b. c. d.

Nicht in JB. JB: bewältigt. JB ergänzt: unbehindert JB: die fast […] ersetzt

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Das Zion der jüdischen Frau

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»Gedenke der Toten im Bamberg: Frau Gutta mit ihrem vier Tage alten Kinde; Frau Gnenmelin, die ihren Knaben Salomon und die drei Kinder mit eigenen Händen geschlachtet hatte; das junge Mädchen Matrona und ihre Schwester Rahel, die sich ins Feuer stürtzten; Hanna, die Heldin aus Blois, mit dem Kinde, das sie im Feuer geboren …« a

Stellen Sie nun neben die königlichen Gestalten der Staatszeit, neben die mütterlichen und leidensstarken Gestalten des Exils die Gestalten der grossen Mehrzahl der heutigen jüdischen Frauen. Was Sie erblicken, ist Entartung. Entartung des Volksthums, Entartung des Hauses, Entartung der Persönlichkeit. Diese Erscheinung hat zwei Ursachen, die einander auszuschliessen scheinen: die Verfolgung der Juden und deren sogenannte Emancipation. In der grossen Zeit des Ghettos waren die Leiden des Juden so unsagbar schwer, wie tief und innig seine Freuden waren. Im Guten und im Bösen war er in ein grosses Schicksal hineingestellt, und daran entwickelte er sich. Das Leid löste seine Kraft aus, den ihm eigenen passiven Heroismus, das häusliche Glück seine Herzensgüte und Opferfreudigkeit; beide vereint liessen ihn treu werden, treu der Vergangenheit und treu den Genossen. Das wurde allmählich anders. Die Verfolgung wurde mit der fortschreitenden sogenannten Civilisation kleinlicher und perfider, sie bedrohte nicht mehr in jedem Augenblicke b das ganze Sein, sie drängte sich in jede Stunde des Lebens, in jede Thätigkeit des Alltags; aus dem einen Dolchstiche waren tausend Nadelstiche geworden, aus dem grossen Schicksal, das aus dem Menschen das Heldenthum herauslockte und »eine Fülle von Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller Art«, war ein mühselig schleppendes, gequältes und gehetztes Dasein geworden. Und mit den kleineren Leiden wurden auch die Freuden kleiner. Die schöne Einheit des Hauswesens lockerte sich, der gesteigerte Kampf ums tägliche Leben trennte die Ehegatten und hinderte die Kindererziehung, die scheinbar grössere Gefahrlosigkeit wirkte der starken Volkswehr, den zusammenhaltenden und nach aussen abschliessenden Eigensitten entgegen. Dieser Auflösungszustand wurde durch die Erklärung der legalen Gleichberechtigung der Juden in hohem Grade verstärkt. Ihr Trieb der Selbsterhaltung passt sich den neuen Daseinsbedingungen in ebenso extremer Weise an, wie extrem früher ihre Abgeschlossenheit war. An dem nun entstehenden Assimilationsfanatismus, nehmen die Frauen, die sich

a. b.

Die letzten beiden Absätze nicht in JB. »in jedem Augenblicke« nicht in JB.

MBW 3 (02678) / p. 78 / 27.11.2006

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Zionismus

am leichtesten der Umgebung anschmiegen und deren Art annehmen, am lebhaftesten theil. Und indem alles dem Fremden nacheifert, wird der innere Ausbau des Judenthums lahmgelegt, alle Eigenkraft abgethan, die Familie zerstört, die allgemeine Solidarität aufgehoben, die selbstständige Cultur vernichtet. So erklärt sich die Entartung so vieler jüdischer Frauen. Die straffe Familienorganisation, in der die Lebenskraft unseres Volkes ruhte, zerfällt unter dem Andrang des Fremden; mit den jüdischen Sitten geht auch das jüdische Haus, mit der Treue auch die Liebe verloren. Das Gefühl der Verlassenheit, das der Mangel an innerer Freude erzeugt, sucht man durch äusserliches, möglichst geräuschvolles Wohlleben zu betäuben. So wird die Frau ihrem Wirkungskreis immer mehr entfremdet. Sie, die früher Herrin im eigenen Hause war, wird jetzt die Sklavin ihrer christlichen Dienstboten. Ihr Bestes verkümmert. Sie gibt sich einem öden, nervösen Müssiggange hin. Die schöne alte Wohlthätigkeit der Juden wird bei ihr zum Protzenthum. Der königliche Schönheitsdrang der jüdischen Frauen wird durch sie zu einer geschmacklosen und ungesunden Prunksucht verzerrt, wie wenn jemand ein schönes Nationalkostüm zu einem grellen Faschingsnarrenkleide umgestalten würde. Die innige, hingebende Gläubigkeit der Jüdin ist ihr verloren gegangen, ohne einer neuen starken Lebensanschauung Platz zu machen; die beschwerlicheren Bräuche werden aufgegeben, einige leichtere, ohne Erfassung ihres Sinns, ohne das Gefühl ihrer Weihe, in möglichster Eile abgethan. Unter dem Einflusse dieses kleinlichen und inhaltlosen Vegetierens verliert der jüdische Mann immer mehr jeden hohen Eifer und geht völlig im Erwerbsleben auf, und die Jugend, die Jugend, welche das Leben und die Zukunft ist, in deren Hand das Schicksal der kommenden Generation und vielleicht unseres Volkes liegt, wächst haltlos und ohne den Gedanken an eine Zukunft heran. Hat die jüdische Frau nicht Theil an dieser Schuld? Aber grösser als die Schuld der Jüdin am Niedergang ihres Volkes wird ihr Antheil an seiner Wiedergeburt sein. Denn die nationale Erneuerung kann in ihrem innersten Kern nur von der jüdischen Frau ausgehen. Für ein Volk ohne Land, für ein Volk in der Zerstreuung ist sein Haus der Träger seines Lebens. Im Galuth a 2 ist das jüdische Haus die jüdische Nation. Von unserem Herde, von dem uns stets das Feuer des Lebens kam, wird uns auch die Erlösung kommen. Was kann nun die Frau im Dienste ihres Volkes thun? Zunächst dassel2.

Galuth, hebr. »Exil«.

a.

JB: Golus

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Das Zion der jüdischen Frau

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be, was der Mann thut: in Wort und Schrift thätig sein für die Verbreitung der nationalen Idee, zur Selbsthilfe rufen und nicht müde werden.a Aber sie kann unendlich mehr thun als der Mann. Wenn dieser für den Gedanken der nationalen Einheit wirkt, kann sie aus der Liebe und dem tiefen Gemütsverständnisse das lebendige Volksthum erneuern. Die Frau hat in ungleich höherem Grade als der Mann die Gabe der wirthschaftlichen Intuition und der wirtschaftlichen Tätigkeit. So kann sie die Ursachen der Judennot erfassen und ihr abzuhelfen suchen, nicht durch Almosen, sondern durch grosse b Volkstaten. Und sie kann dies besser als der Mann; denn es ist ihr eigen, ihr ganzes Herz einzusetzen. Sie kann durch die Wärme des Gemüthes und die Frische des Willens, die in ihr ist, die auseinanderstrebenden Glieder des Volkes wieder zusammenschliessen helfen, aus ihrer Volksliebe kann ein neues Seelen-Vaterland entstehen. Um dies aber zu können, muss sie sich selbst erziehen. Sie muss erkennen, dass sie nur dann eine ganze lebendigec Persönlichkeit werden kann, wenn sie die Eigenart ihres Stammes hochhält, wenn sie das Jüdische in sich pflegt und entfaltet. (in den weiteren Verlaufe des Vortrages werden die Aufgaben der jüdischen Frau, namentlich die Hebung des Selbstbewusstseins, das lebendige Studium jüdischer Geschichte und Litteratur und der hebräischen Sprache, die Pflege einer echt jüdischen Geselligkeit erörtert. Diese Forderungen werden dann, wie folgt, zusammengefasst): d So in heimatlicher Atmosphäre aufwachsend, wird die jüdische Frau auch das Haus und das Familienleben wieder dazu machen, was es einst war: Zu einem Mittelpunkte des Lebens, zu einer Stätte der Gesundung, zu einer Quelle immer neuer Kraft. e Stellen Sie sich dies neue Haus vor: jüdische Kunstwerke an den Wänden, jüdische Bücher auf dem Tische, jüdische Sitten in innig frohem Verständnisse geübt. f Dann wird in der Familie wieder die stille Kraft sich sammeln, die alles Feindselige lachend überwindet. Dann wird die Frau wieder Königin sein und es wird von ihr heissen, wie von der Frau der Sprüche Salomonis: »Kraft und Schönheit

a.

b. c. d. e. f.

Dieser Absatz abweichend in JB: Die Frau kann im Dienst ihres Volkes Innerlicheres tun als der Mann. Wenn dieser für den Gedanken der nationalen Einheit wirkt, kann sie aus der Liebe und dem tiefen Gemütsverständnis das lebendige Volkstum erneuern. »grosse« nicht in JB. JB: gefestigte Diese redaktionelle Anmerkung nicht in JB. JB: Energie Dieser Satz nicht in JB.

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Zionismus 3

sind ihr Gewand, und sie freut sich des kommenden Tages.« Sie wird wieder Anregerin sein und ihren Mann, wenn er verzweifelt, a den Weg der Selbsthilfe führen. Sie wird kämpfen und dulden wie die alten Heldinnen. Sie wird wieder Cultur fördern und Cultur vermitteln. Vor allem andern aber: sie wird wieder Mutter sein. Sie wird sich nicht schämen, wenn ihr Kind jüdisch aussieht, im Gegentheil: sie wird stolz darauf sein. Nicht bloss deshalb, weil es der Typus ihres Stammes ist. Sie wird auch wissen, dass grossen Meistern Hollands und Italiens der jüdische Typus als Schönheitsideal galt. Sie wird diesen Schönheitstypus zu entwickeln suchen, soweit dies im fremden Lande möglich ist. b Sie wird in ihren Kindern durch sorgfältige Körperpflege, durch harmonische Entfaltung ihrer Kraft auch den persönlichen Muth c erziehen, dessend der Jude so sehr bedarf. Sie wird das Grundleiden des modernen Juden, das Ueberwuchern des Nervenlebens, im Keime ersticken. Eine gleichmässige Entwicklung von Geist und Körper wird ihr Werk sein: lebensfroh und lebensmuthig der Geist, der krafterfüllte Körper willig und bereit, die grossen Befehle des Geistes auszuführen. So in modern jüdischem Milieu e aufwachsend, im Judenthume erzogen und zugleich von der menschlich milden Weisheit seiner Mutter in die Welt eingeführt, wird der Jude der Zukunft zugleich ganz Jude und ganz Mensch sein. Wenn ich nun aber zum Schluss alles, was ich gesagt habe, und alles, was der jüdischen Frau noch zu sagen wäre (und es wäre noch viel zu sagen), in einem einzigen Worte zusammenfassen soll, so weiss ich kein anderes, als jenes, das in seiner ganzen tiefen Schönheit f nur Frauen verstehen und erleben können: Li ebe. Treue lebendige Liebe zu dem grossen Schicksale Ihres Volkes, starke hilfreiche Liebe zu seiner Gegenwart und zu jedem Armen und Unterdrückten Ihres Volkes, der neben Ihnen in dumpfer gehetzter Sehnsucht dahinlebt, hoffende arbeitsfreudige Liebe zu Ihres Volkes selbstherrlicher Zukunft, die Ihnen in leuchtenden Träumen erscheint. g Solche Liebe allein, in stiller Hingebung geübt, kann der jüdischen Frau ihre edle Art neu wiedergeben; aus solcher Liebe der jüdischen Frau allein kann das Zion der Seelen hervorgehen. Und 3.

Prov 31, 25.

a. b. c. d. e. f. g.

Nebensatz nicht in JB. Die letzten drei Sätze nicht in JB. JB ergänzt: und die Spontaneität des Handelns JB: deren JB: einer neuen jüdischen Atmosphäre JB: Bedeutung Großschreibung der Personaladjektive sowohl im ED wie auch in JB, wohl, um den Charakter des Appells zu unterstreichen.

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Das Zion der jüdischen Frau

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wenn einst aus diesem inneren Zion und seiner Macht heraus das Zionsland zur Wahrheit wird, dann wird unsere Arbeit da drüben, unsere Sprache, unsere Feste, unser ganzes Leben da drüben wird im Zeichen der jüdischen Frau stehen. Denn Culturideen finden und theoretisch entwickeln mag der Mann, a sie verwirklichen, lebendige fortwirkende Cultur schaffen kann nur die Frau. b Was bedeutet das aber: Cultur, jüdische Cultur schaffen? Das bedeutet nichts anderes als dies: Wie immer weitere Strecken des einst so saftreichen, nun verkümmerten Heimatsbodens dem Tode entrissen und dem Leben wiedergegeben werden sollen, so sollen immer neue Gebiete der einst so schaffensstarken, von den Jahrtausenden verwüsteten Volksseele dem Tode entrissen und dem Leben wiedergegeben, den Werken des Lebens wieder zugewandt werden. Solche C u lt u r d es Lebens aber kann nur durch jene Liebe geschaffen werden, die stärker ist als der Tod: die Volksliebe der neuen jüdischen Frau. Denn das Zion der jüdischen Frau heisst: Liebe.

a. b.

JB: finden und begründen kann der Mann allein JB: kann er nicht ohne die Frau.

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Zwei Sprüche vom Juden-Mai Im Jüdischen Volkskalender für 56611 hat Doctor Heinrich Lo ewe zwei deutsche Historien-Lieder aus dem XVI. Jahrhundert herausgegeben, die von einem Wiedereroberungszuge der kaukasischen Juden nach Palästina erzählen.2 Wer hat sie gelesen? Und doch gehören sie zu den seltsamsten und reizvollsten Documenten der Volksphantasie. Ihre Entstehungsgeschichte ist, wie es bei solchen Bänkelsänger-Liedern nicht anders sein kann, nicht bekannt. Sie könnte dem Völkerpsychologen ein köstlicher, offenbarungsreicher Fund sein. Mehr aber noch dem Zionisten, der die grossen Sympathien Europas ersehnt. So aber, wie die Lieder jetzt dastehen, geschichtslos und nur aus sich selbst verständlich, können sie das Beste nicht dem zionistischen Realpolitiker, wohl aber dem zionistischen Träumer bieten. Für den strahlen aus der phantastischen Naivetät des Ganzen ein paar Verssprüche hervor, die in einfachen kargen Worten seine Frühlingssehnsucht wiederspiegeln. Im zweiten Liede wird der Heereszug der jüdischen Stämme mit ihren Waffen, Pferden und Fahnen geschildert. Und auf den Fahnen stehen Sprüche geschrieben, von denen man sich staunend fragt: Wie kamen sie in die Feder des fremden Zeitungsmannes? Denn sie sind stark und uns in Wahrheit eigen. Die von Sebulon und Manasse sind mir heute eingefallen. Auf der einen Fahne in rothem Golde die Worte: »Ich dürrer Baum zur Stunden – will’s Gott, ich grünen will.« Auf der anderen Fahne unter dem Bilde eines grauen Mannes die Worte: »Ich hab’ noch viel zu erwarten – Leib und Leben setz’ ich daran.« Wie eine schöne Liebkosung kamen mir diese Verse im Mai: als streichelte etwas meine Haare und brächte meine Seele zur Ruhe. Und aus meiner Freude heraus möchte ich heute die alte Frühlingsbotschaft an andere weiterschicken. Zunächst an die Nüchternen und Zweifelsüchtigen. Denen möchte ich sagen: Was taugen Eure weisen Theorien, wenn der Baum grünen will? Wollt ihr beweisen, dass er’s nicht kann? Das Treiben und Knospen allerorten widerlegt Euch. Wollt Ihr ihm vorschreiben, dass er’s nicht soll: es würde ihm nicht gut bekommen? Seine junge Kraft lacht Eures klugen 1. 2.

Entspricht dem bürgerlichen Jahr 1901/2. Heinrich Loewe (1869-1951), einer der ersten deutschen Zionisten, ging im Rahmen seiner Tätigkeit als Bibliothekar auch wiederholt volkskundlichen Themen nach und veröffentlichte 1900 die Schrift Zur Kunde von den Juden im Kaukasus. Der Beitrag im Jüdischen Volkskalender dürfte aus diesen Studien hervorgegangen sein.

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Zwei Sprüche vom Juden-Mai

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3

Warnens. Ihr redet, er aber wächst. Euch bewegt der Gedanke, ihn aber bewegt das Leben. Ihr kennt nur Voraussetzungen und Schlüsse, das Leben aber kennt Wunder an jedem Orte und in jedem Augenblicke. Ein Wunder ist nichts als Natur, die über Euch hinausgeht. Und wenn der Frühling kommt, wirft er alle Eure Berechnungen über den Haufen. Denn der Frühling, wenn er an diesem Orte und in diesem Augenblicke unerwartet emporblüht, ist das grösste Wunder. Und wie blinde machtlose Thoren steht Ihr da vor diesem jauchzenden Kindesglauben: »Ich dürrer Baum zur Stunden – will’s Gott, ich grünen will.« Und an die Halben und an die Seelengeizhälse möchte ich die Botschaft senden. Denen möchte ich sagen: Ihr glaubt – aber was fangt Ihr mit Eurem Glauben an? Habt Ihr Eurem Glauben schon hingegeben, was Ihr habt und seid? Habt Ihr schon um Eures Glaubens willen gelitten und Opfer gebracht? Habt Ihr Euch schon je gesagt: »Was liegt an mir, wenn es nur lebendig wird?« Aber Ihr habt die Sache Eures Glaubens wie einen Bettler behandelt. Ihr habt Euren Schekel gezahlt und Euren Share gezeichnet und liesset Euch weiter in Eurer satten Laune nicht stören denn Ihr waret überzeugt, genug gethan zu haben. Oder Ihr waret unzufrieden – und es gibt wahrlich überall im Leben und in der Welt Dinge genug, um einen unzufrieden zu machen – und gienget abseits, um bitter ruhig zuzusehen, wie dieses Volk – seinen Lebenskampf weiterkämpft. Und rufen doch tausend und tausend Arbeiten nach Menschen; und heimlich ist der und der und der von Euch gerade für diese und jene Arbeit geschaffen; aber nun stehen Mann und Werk verwaist da. Und kann doch nur das voll gelingen, darein ein Volk seine ganze Glut und Kraft legt. Und der Segen der Erfüllung kann nur dem stillen Helden werden, der alle Schäden kennt und doch freudigen Mundes spricht: »Ich hab’ noch viel zu erwarten – Leib und Leben setz’ ich daran.« Botschaft des Frühlings und der Sonne möchte ich heute senden an die Kalten und an die Lauen. Jenen möchte ich sagen: Erkennet das Leben! Und diesen: Gebt Euch dem Leben hin! Ba r u ch ben Ner i ja hu 4

3. 4.

Beachtenswert ist hier der im Deutschen ungewöhnliche genitivische Gebrauch von ›lachen‹. Dieses Pseudonym Bubers verweist auf Baruch, den Schreiber und Gefährten des Propheten Jeremia. In der mdl. Überlieferung gilt er als Priester und Prophet.

MBW 3 (02678) / p. 84 / 27.11.2006

Bergfeuer Zum fünften Congresse. Die Congresse sind die Bergfeuer des Zionismus. Sie leuchten hinaus in die Welt und reden mit Flammenzungen. Hier lebt etwas – sagen sie. Sie sagen es so, dass es jeder verstehen muss. Aber den Leuten in den Niederungen kommt es unglaublich vor, dass hier etwas leben solle; nein, das kann man gar nicht glauben, antworten sie auf die grosse Sprache der Bergfeuer. O, sie lernen schon glauben. Denn ein Flammenzeichen folgt dem andern; und in deren Lichte taucht zuerst der Sinn der vergangenen Zeiten auf, dann das grausame Bild der Gegenwart, ein schlichtes starkes Programm wird geschmiedet, auseinanderstrebende Massen werden in feste Gestalt gegossen, die Werkzeuge der That entstehen in Mühsal und Glut, und in den Worten thätiger Liebe, die hin- und herfliegen, lebt schon der schöpferische Geist der Zukunft. Ich schaffe, also bin ich 1 – so künden den Kleingläubigen die Bergfeuer. Den Kühnen und Opferfreudigen, aber noch Fernstehenden sagen sie weit mehr. Da sind sie nicht mehr bloss Lebens- und Arbeitszeiten, auch Signal und Ruf. Wir kämpfen, ruft es, für eure und unsere Freiheit kämpfen wir. Seht dieses Volk, das aufgestanden ist; seht ihr nicht, wie jung dieses uralte Volk ist? Wie ein wunderbarer Knabe ist es aufgestanden, unsagbar reich an Möglichkeiten, und sehnt sich nach seinem eigenen Leben. Fühlt ihr nicht, dass dieses Leben der Ewigkeit Schätze neuer Schönheit schenken wird, fühlt ihr nicht, dass hier ein Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit emporsteigen will? An eurer und unserer Zukunft schaffe ich – so tönt es von den Bergfeuern – schaffet mit! Das Schönste aber sagen sie uns selbst. Sie zeigen uns, wie wir geworden sind, seitdem wir unserem Volke leben: stärker, reiner, menschlicher. Und sie zeigen uns, wie köstliche Blüten unseres Volkes zweite Jugend treibt: sein Herr, der Geist, hat den Ghettostaub abgeschüttelt und die Gewänder des Lebens angethan, und er hat Griffel und Harfe, Farben und Klänge gefunden zu seiner Sprache. Wir können die Fülle der Verheissung nicht fassen. Mir ist es wie ein Wunder, und ich muss denken, wie lebenslustige Völker in der Johannisnacht 2 allüberall Bergfeuer entzünden, und wie in selber Nacht nach der Sage die köstlichste Zauberblüte sich öffnen soll, die dem Pflückenden das Leben segnet und unsichtbare Königreiche schenkt. Unseren Reichthum und unsere Freude zeigen 1. 2.

In Anlehnung an Descartes »Ich denke, also bin ich.« Die Nacht vom 23. zum 24. Juni.

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Bergfeuer

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uns unsere Bergfeuer, und wenn wir auch des Leides und der Widerwärtigkeit viel empfangen haben auf dem Wege, so steigt doch der stille Sang unseres Glückes mit den Flammen unserer Freudenfeuer zum dunklen Himmel empor. All dies und unendlich mehr sind die Congresse. Und wenn wir nun einen neuen zu bereiten beginnen, müssen wir unseren Willen von dem Gefühle leiten lassen, ein wie Hohes und Schönes in unsere Hände gelegt ist, Kampf und Triumph, Fest und Arbeit zugleich. Diese auserlesenen Tage sollen grosse und ewige Tage sein. Deshalb sollen vor allem auf dem Congresse nur unsere Tüchtigsten zusammenkommen. Natürlich hat im letzten Grunde – unhistorisch betrachtet – jeder echte Zionist den gleichen, unbestimmbar hohen Wert. Aber die das Volk an den edelsten bedeutsamsten Werktagen des Golusjahres vertreten, sollen alle Selbständiges und Ausgereiftes geben können. Bergfeuer will Höhenmenschen. Mit der Zahl der Delegierten hat diese Erwägung nichts zu thun; wir haben der Tüchtigen genug, und bei sorgfältiger Auswahl seitens der delegierenden Gruppen wird unsere Vorstellung von der Höhe des Congressniveaus leicht verwirklicht werden können. Aber weil unsere Bergfeuer uns Heimatlosen auch das milde Feuer des Heimatsherdes ersetzen müssen, sollen wir uns auf dem Congresse wie eine grosse Familie fühlen können und sollen die schöne Stimmung nicht verlieren. Wenn selbständige Menschen, und gar Juden, zu einer Berathung zusammentreten, bringt wohl jeder eine eigene Nuance, hier sozusagen seinen eigenen Zionismus mit. Aus so verschiedenen Tönen muss aber doch eine volle Harmonie gelingen. Mit dem Vorgefühle dieser Harmonie, mit der Gewissheit, dass das Grundwesen der Bewegung aus allen Anschauungsverschiedenheiten heilig und unberührt hervorgehen wird, soll auch der Unabhängigste den Verhandlungen des Congresses nahen. Und unsere Bergfeuer sind auch eine reine beschwingte Flamme auf dem so lange verwaisten Altare des Volksthums. Man darf vor sie nur reinen und hingegebenen Herzens treten. Der Zionist, den seine Brüder als den Sprecher ihrer Herzen zum Congresse entsenden, rüste sich als zu einem ersten grossen Werke. Er sei sich bewusst, dass an diesen Tagen vor allem intensiv gearbeitet werden soll; dass von jedem stille strenge Arbeit verlangt ist. Und damit es eine rechte Volksarbeit werde, lausche er schon lange vor der Fahrt – am besten vom einem Congresse bis zum nächsten – auf den Herzschlag des Volkes, auf die heimlichen Stimmen, die ihm den dunklen unterirdischen Volkswillen kundthun. Wie seiner Arbeitspflicht, sei er sich seiner Verantwortlichkeit bewusst, die tiefer und ernster ist, als

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in irgend einem anderen Parlamente auf Erden: gibt es doch keines, über dem man die Flügel des Schicksals so machtvoll rauschen hörte. Kann man sich so der Hoheit des Congresses gar nicht innig genug hingeben, so müssen doch auch stets seine Grenzen im Auge behalten werden. An den Gipfeln werden die Bergfeuer entzündet; das Leben selbst verläuft doch zumeist in der Ebene. Man hat die Congresse, wie man ihren wahren Wert nicht immer ganz erkannte, andererseits auch überschätzt, indem man sie beinahe für die »eigentliche« Thätigkeit hielt. Nichts kann falscher sein. Die Congresse stellen das Geschehen fest und zeichnen die Linien weiterer Arbeit vor; diese selbst aber wird in der etwas eintönigen Mühe des Alltags, in dem langsamen opfervollen Vorrücken, in der Selbstverleugnung des undankbarsten Kampfes, in den rastlosen Stunden des Bauens gethan. Diese Erkenntnis ist allmählich zum Durchbruch gelangt und hat im letzten Jahre manch schönes, still vollbrachtes Werk gezeitigt. Wir werden diesmal in Basel frohe Rückschau halten können. In Basel … Das klingt uns nach London 3 fast fremdartig, und doch wieder so vertraut entgegen; bescheiden, aber mit Untertönen wie von Vertiefung und Verinnerlichung. In unserem lieben Basel lässt es sich gut arbeiten und über Dinge der Geistesentwicklung, des Schaffens, des Volksthums, der Wirtschaft, aber auch der inneren Organisation reden. Wir hoffen, es soll ein Arbeitscongress werden, mit einem Zuge echter fruchtbarer Wissenschaft, und zugleich mit einem Zuge intimer Schönheit, die erfreut nach innen zusammenschliesst. Bergfeuer, die gleichsam nach innen lodern und die Umstehenden mit zarter Rosenglut, wie mit dem Scheine eines leisen Glückes übergiessen. Und doch wird wohl auch die Wirkung ins ferne Land eine mächtige sein. Denn wir werden in Basel Grosses zu verzeichnen haben. Unsere Idee ist starken Fusses weitergeschritten, und sie hat einen neuen Boden betreten, auf dem ihr in Blüte und Frucht das Herrlichste entgegenreifen kann. Es sind bereits Thatsachen bekannt geworden, deren mehr formelle Natur doch so inhaltreich war, dass die einigermassen Ehrlichen unter unseren Gegnern sich ihnen beugen mussten, während die Böswilligen ihre pathetischsten Argumente über Bord zu werfen und mit riesigem Aufwand von Spitzfindigkeit und Perfidie nach neuen Wühlmethoden zu suchen genöthigt waren. Der fünfte Congress dürfte uns Worte bringen, aus denen die Seele jener Thatsachen zu uns sprechen wird. Und er wird uns noch Manches und Grosses bringen. Aus den in eini3.

In London hatte vom 13. bis 16. August 1900 der Vierte Zionistenkongreß stattgefunden.

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Bergfeuer

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gen Ländern neugebildeten Organisationen werden sich auch für die Centralisation neue Gesichtspunkte ergeben. Die Fragen der Hebung, die in London skizziert wurden, werden in ihrer vollen Bedeutung als einer der nothwendigsten Wege zu unserem Ziele und in der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Probleme erörtert werden. Das geschäftliche InsLeben-treten der Jüdischen Colonialbank,4 die Bildung des Nationalfonds 5 werden in der ersten Reihe der Discussion stehen. Ueber diese und einige andere Punkte werden wir in den nächsten Heften Einiges mittheilen, das zu Anregung und Meinungsaustauch Gelegenheit geben könnte. Wir sehen dem fünften Congresse mit stolzer Zuversicht entgegen. Wir wollen alles thun, um ihn zu einem Werkfeste der Arbeit, des Geistes und der Schönheit zu gestalten. Wie Bergfeuer lodern unsere Congresse auf in der schweren Nacht des Exiles. Wir schauen in das reiche strömende Flammenspiel, im Innersten bewegt. Und der selige Traum von einem Morgenroth 6 beginnt leise Schwingen zu regen.

4. 5. 6.

Die Jüdische Kolonialbank war im September 1901 geschäftsfähig geworden, vgl. T. Herzl, BuT, Bd. 6, S. 312, Brief Nr. 3502/02. 09. 1901. Der Nationalfonds (hebr. Keren Kajemet) wurde am 29. Dezember 1901 auf dem Fünften Kongreß gegründet. Vgl. den einleitenden Beitrag »Vor Sonnenaufgang«, in diesem Band, S. 53-54.

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Die Congresstribüne Wir eröffnen dem fünften Congresse eine Tribüne. Nicht bloss den praktischen Fragen, die auf seiner Tagesordnung stehen und uns ja kein Neues mehr sind, sondern auch den theoretischen Problemen, die sich in jenen ausdrücken. Welch ein Gewebe feiner und bedeutsamer Erkenntnisdinge ist zum Beispiel der Gedankencomplex, den wir die »Fragen der geistigen Hebung«1 nennen! Warum und worin bedarf das jüdische Volk der Hebung? Und was sind dieser Hebung Sinn, Zweck, Grenze und Werkzeug? Was geschah bisher, das wir dieser unserer Thätigkeit voranreihen könnten? Was aus einer ganz anderswohin gerichteten civilisatorischen Gesinnung der allzu Europäischen? Und was von alten Zionisten seit Jahren naiv und halb unbewusst, mitunter wohl auch mit programmatischen Ansätzen geübt? Was ist die tiefe historische Genese dieser Fragen? Welchen Namen sollen wir der grossen Leidensgeschichte des jüdischen Geistes geben und welcher Martyrien, welcher Stürme, welcher Willenstragödien Erben sind wir, wenn wir von geistiger Hebung reden? Was sind unsere Worte von geistiger Hebung überhaupt? Sind sie nicht bloss der bewusste Ausdruck einer Entwicklung, die sich unabhängig von unserem Einwirken vollzieht und ist es uns nur gegeben, das mächtige Schreiten des Volkes zu constatieren? Oder sollen sie nicht vielmehr die lebendige Concentration sein, die das Geschehene zusammenfasst und neues Schaffen anregt? Freilich, nicht wir sind es, die der hebräischen Sprache neue Welten erobern und heimatliche Schriftwerke dem Volke zu ewigem Besitze schenken; nicht wir sind es, die Monumente nationaler Kunst vor Tausende leuchtender Menschenaugen hinstellen, und nicht uns ist es vergönnt, das ganze ungeheure wundervolle Sein unseres Volkes zu beschreiben, zu analysieren, zu erklären. All dies thun die Schaffenden,2 unsere Brüder. Aber wir sagen das Geschaffene, wir kündigen ganz leise das zu Schaffende an, und darin liegt Directive. Und alle diese Grösse, alle diese Macht, alle diese Schönheit wollen wir dem Volke vertraut und bewusst machen, ihm mit dem Bewusstsein seiner Kraft auch erst deren rechten Gebrauch geben, ihm die sittliche Festigkeit des ruhig Wartenden, des zum Höchsten Bereiten 1.

2.

Max Nordau hielt auf dem Fünften Kongreß ein Generalreferat über »Fragen der körperlichen, geistigen und wirtschaftlichen Hebung«, die auch schon auf dem Vierten Kongreß in London vom 13.-16. August 1900 auf dem Programm gestanden hatten. Siehe dazu den Essay »Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung«, in diesem Band S. 166-171.

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Die Congresstribüne

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verleihen: das nennen wir Volkserziehung, und das ist unsere eigentliche Thätigkeit. Inwiefern nun auch diese nothwendigerweise nur Mittel sein und niemals über den Rang eines solchen hinausgehen darf, und wie Aufgaben und Methoden einer so aufgefassten Volkserziehung im einzelnen zu bestimmen sind, auch das sind Fragen, die einer eingehenden Erörterung bedürfen. Man kann noch tiefer graben. Mögen für heute diese aus einem einzigen, allerdings wesentlichen Beispiele geholten Andeutungen genügen. Sie zeigen hinlänglich, wie sehr ein lebendiger, sachlich und persönlich vertiefter Meinungsaustausch über die Grundfragen des fünften Congresses und unserer Bewegung überhaupt noth thut. Wer Zionist ist, glaubt daran, dass die Idee die Wirklichkeit gestaltet. Kein Zionist wird daher die Bedeutung ehrlicher theoretischer Verständigung in Frage stellen. Dieser Verständigung eröffnen wir eine Tribüne in den Spalten unseres Blattes. Für die Aufnahme in diese Tribüne soll naturgemäss nicht diese oder jene Gedankenrichtung massgebend sein, sondern nur der objective Wert des Gesagten, Umfang und Tiefe der Anschauung. Wir hoffen, dass sich daraus eine Discussion ergeben wird, die vor der des Congresses einiges voraus hat: ruhige, vertiefte Sachlichkeit, klare Sonderung und Gegenüberstellung der Probleme, ein unherabziehbares Niveau. Wir erhoffen von dieser Discussion manche Klärung und Gesundung für die zionistische Idee, und auch für die zionistische Bewegung. Ich habe zu Anfang bemerkt, dass diese unsere Tribüne auch den praktischen Fragen des Congresses gewidmet sein soll. Das wird durch einen Beschluss des grossen Actionscomités wesentlich erleichtert werden. Es sollen nämlich die Referenten ihre Grundthesen einen angemessenen Zeitraum vor dem Congresse in diesem Blatte bekanntgeben, damit sowohl in unseren Spalten als auch in den einzelnen Vereinen und Gruppen zu ihnen Stellung genommen werde. Diesem bedeutsamen Meinungsaustausche können wir aber jetzt schon durch Vorwegnahme der theoretischen Discussion vorarbeiten. Es ist nun jedem, der etwas zu sagen hat, die weiteste Gelegenheit gegeben, zu sprechen, anzuregen, zu fördern. Jeder, der etwas Ganzes und Echtes zu sagen hat, welcher Art es auch sei, ist willkommen. Die Schranken sind geöffnet. Es lebe der fruchtbare Kampf! Baruch 3

3.

Vgl. zu diesem Pseudonym S. 83, Anm. 4.

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»Wir hoffen, dass es wahr ist« Das ist der Titel eines Artikels, den die Chicagoer Wochenschrift »The Reform Advocate« vom 19. October [1901] an leitender Stelle bringt. Unterzeichnet ist der Aufsatz von Emil G. Hirsch. Rabbiner Dr. Emil G. Hirsch, eine in der amerikanischen Judenschaft sehr bekannte Persönlichkeit, gehörte bisher, wie manche unserer Leser unter anderem auch aus einem Briefe Max Nordaus in Nr. 16 des IV. Jahrgangs der »Welt« (1900) 1 wissen dürften, zu unseren innigsten Gegnern. Was er unter dem obengenannten Titel vorbringt, war daher wohl angethan, uns zu überraschen. Denn Herr Hirsch tritt darin sehr warm und nachdrücklich für den Zionismus ein – allerdings nur für einen Zionismus, der Erfolg hat. Für den kämpfenden Zionismus hat er nichts übrig, dem siegreichen aber gehört sein ganzes Herz. Er hat erfahren, unserer Sache stünden grosse Erfolge bevor. Nun hofft er, dass die Zionisten »von der Theorie zur Praxis übergehen werden«. Man sieht: Herr Hirsch hat sich mit unserer Thätigkeit der letzten Jahre nicht sehr genau beschäftigt. Er hofft auf eine Entwicklung, die so weit sie gesund und zweckmässig ist, längst begonnen hat und stetig fortschreitet. Gleichviel. Was aber dann, wenn in unseren Reihen die Praxis eingezogen ist? Dann, sagt Herr Hirsch, »werden wir und viele andere Zweifler vom Kriticismus zur Mitarbeit übergehen.« Nun – wir hoffen, dass es wahr ist. Im Uebrigen mag es zwar schöner sein, sich einer Idee anzuschliessen, als einem Erfolge. Aber es ist immerhin ehrlich und anerkennenswert, sich von dem Aufstiege und den glücklichen Wirkungen einer guten Sache überzeugen zu lassen. Wir werden Herrn Hirsch gern Gelegenheit geben, sich innerhalb eines praktischen und erfolgreichen Zionismus zu bethätigen. Eines hat Herr Hirsch begreiflicherweise übersehen: dass der Erfolg in geradem Verhältnisse zur Zahl und Opferkraft der Mitarbeiter wächst. Er hat übersehen, dass daher der Grad des Erfolges auch in seine Hand, auch in die Hand seiner Freunde und – wenn ich mich so ausdrücken darf – Gesinnungsgenossen gelegt ist. Nun sind diese Hände wohl zum Gebete für unsere Sache gefaltet, was sie früher nicht waren. »Wir flehen inbrünstig«, sagt Herr Hirsch, »dass diese guten Nachrichten sich erfüllen mögen.« Das ist gewiss eine erfreuliche Thatsache. Aber nicht minder erfreulich wäre es, wenn diese Hände sich für unsere Sache nicht blos falten, sondern auch regen würden. Es sei hier nur daran erinnert, dass die 1.

»Ein Brief von Max Nordau«, Die Welt, 4. Jg., Nr. 16, 19. April 1900, S. 5.

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»Wir hoffen, dass es wahr ist«

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Jüdische Colonialbank, die erste Grundlage und Voraussetzung unseres Erfolges, an diese – so zahlreichen – Hände in einem ganz bestimmten Sinne appelliert hat und noch appelliert. 2 Wollen die Männer, die in dem Erfolge das Wesen des Zionismus sehen, für diesen Erfolg nur beten, nicht auch an ihm ba u en? Gar sehr charakteristisch in ihrer Klarheit und Offenherzigkeit ist aber die Motivierung der Umkehr, die Herr Hirsch gibt. »Wir haben,« so heisst es wörtlich in seinem Artikel, »zu früh von der anbrechenden Aera der allgemeinen Verbrüderung gesungen. Von unseren Kanzeln sind allzu oft die Variationen dieses einen Themas erschollen, das dem Herzen des modernen Liberalismus so theuer ist, der Emancipation der Menschenrasse von Irrthum, Sünde, Hass, Vorurtheil und allem Uebrigen. Von unserer Phraseologie berauscht, haben wir die Kraft verloren, zu unterscheiden zwischen dem ringenden Strahl unsicherer Dämmerung und der Glorie mittaglicher Sonnenflut. Weil wir die Erfüllung unserer Träume wünschten, erklärten wir, sie hätten sich erfüllt.« »Dieser Humanitarianismus hat es allzusehr vernachlässigt, sich an historische Thatsachen und Kräfte zu erinnern. Die Enttäuschung musste kommen. Sie ist jetzt gekommen.« Das sind deutliche und beachtenswerthe Worte, die weithin gehört werden dürften. Seit Jahren kommen aus allen Ländern Stimmen führender Persönlichkeiten, repräsentativer Männer, die laut und eindringlich den Bankerott der Assimilation verkünden – derselben Assimilation, deren Herolde dieselben Männer vor kurzem noch waren. Eine Stimme kommt nach der anderen. In ihrer Reihe fehlte uns die Stimme der Vereinigten Staaten Amerikas, des Freiheitslandes. Sie musste kommen. Sie ist gekommen. Die Juden Amerikas – diesen Schluss zieht Rabbiner Dr. Emil G. Hirsch aus seinen Ausführungen – werden für einen Zionismus der That leicht zu gewinnen sein. Wir hoffen von Herzen, dass diese gute Botschaft wahr ist. Baruch 3

2. 3.

Die Jüdische Kolonialbank hatte größte Schwierigkeiten, die für ihre Aktionsfähigkeit benötigten Zeichnungen zusammernzubekommen, vgl. dazu z. B. T. Herzl, BuT 6, S. 148, Brief Nr. 3163/23. 01. 1901. Vgl zu diesem Pseudonym S. 83 Anm. 4.

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Wege zum Zionismus Es gibt verschiedene Zionismen und verschiedene Weg zum Zionismus. Der vulgärste Weg ist der vom Antisemitismus aus. Dem X. geht es hierzulande nicht gut, er wird bedrückt und beleidigt, seiner Lust nach Behaglichkeit und seiner »Menschenwürde« wird das Europaleben unerträglich; und nun tritt ein innerer Process ein, als dessen Ergebnis eines schönes Tages ein ausgewachsener »Zionismus« dasteht: der gute Mann sehnt sich fort, in ein eigenes Land, wo niemand mehr ihn ungestraft bedrücken und beleidigen dürfte, wo seine Behaglichkeit und seine Menschenwürde unangefochten einherstolzieren könnten, und da er vom Judenstaat gehört hat, acceptiert er für seinen stolzen Traum diese stolze Bezeichnung. So mag sich ein Proletarier der angeblichen Intelligenz aus seinem Elend nach dem gepriesenen Zukunftsstaat hinsehnen. Ein anderer Weg, der weniger instinctmässig und weniger egoistisch, aber deshalb durchaus nicht wertvoller ist, ist der des abseitsstehenden Mitgefühles. Y. fühlt sich zwar hier ganz wohl; aber da in ihm doch noch ein – ihm übrigens oft unbegreiflicher – Rest von Solidarität steckt, wurmt es ihn manchmal, dass »die armen Juden da draussen im Osten es so schlecht haben«. Ist er nun gar nichts weiter als ein satter Bürger, so hilft er sich über diese unbequeme Stimmung mit Philanthropie hinweg. Gehört er aber zu denen, denen es dennoch hie und da einmal passiert, zu denken, wenn auch nicht gerade eigene Gedanken, so wird er »Zionist« mit der edelmüthigen Begründung: »Den armen Leuten muss geholfen werden.« Man denke an jene »Socialisten« des Mitgefühls, die von der Lebensanschauung, auf die sie schwören, auch nicht die allergeringste Ahnung haben. Beträchtlich höher steht schon die Ansicht, der Zionismus sei wahr, weil d a s Volk leide und daher gerettet werden müsse. Diese einfach Synthese »Das Volk« ist schon eine erfreuliche Entwicklungsstufe. Z., der ihr huldigt, ist sowohl über die kleinen Schmerzen, aus denen X. seine grossen Lieder macht, als auch über die molluskenhaft wohlwollende Souveränetät des Y. weit hinausgehoben. Er i d ent i fi c i er t s i ch . Er fühlt sich als Glied eines grossen Organismus, wenn er auch dessen Sonderbarkeit und Räthselhaftigkeit noch nicht ahnt. Und er empfindet den Zionismus als die Lebensfrage des jüdischen Volkes. Das ist schon ein Mensch, mit dem man reden kann. Aber auch nicht mehr. Ich sehe davon ab, dass ein solcher Zionist sehr leicht dazu verleitet werden kann, eines der Mittel – z. B. wirtschaftliche Hebung – als Selbstzweck anzusehen und sich mit einer halben Heilung zu begnügen. Vor allem aber ist

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Wege zum Zionismus

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dieser Standpunkt viel zu eng und viel zu – utilitarisch. Er entspricht dem jener gewiss sehr braven englischen Moralisten, denen das grösstmögliche »Glück« der grössten Zahl als das höchste Ideal erscheint. 1 Wie traurig hört sich das schöne Wort »Glück« aus zahnlosem Munde an! Und wie jene Ofenbank-Perspective ist es, die ungeheure wundervolle Welt dahinsteuern zu lassen, dass möglichst viele Wesen sich wohl fühlen! Wenn je grosse Werte des Lebens aus dem Glücke hervorgiengen, so war es ein Glück, in das tiefste Tragik und unsagbarstes Leid gemischt waren. Und lässt sich solches Glück – d as Glü c k d er Pers ö nli chkei ten – anstreben? Ich will möglichst deutlich sagen, was ich meine. Wenn ich für mein Volk zu wählen hätte zwischen einem behaglichen, unfruchtbaren Glükke, wie es in alten Zeiten manchem seiner Nachbarn zutheil geworden war, und einem schönem Tode in letzter Anspannung des Lebens, ich müsste diesen wählen. Denn er würde, und sei es auch nur einen Augenblick lang, etwas Göttliches schaffen, jenes aber nur etwas Allzumenschliches. 2 Schaffen! Der Zionist, der die ganze Heiligkeit dieses Wortes fühlt und ihr nachlebt, scheint mir auf der höchsten Stufe zu stehen. Neue Werte, neue Werke schaffen, aus der Tiefe seiner uralten Eigenart heraus, aus der eigenartigen, unvergleichlichen Kraft seines Blutes heraus, die so furchtbar lange in die Fesseln der Unproductivität geschlagen war – das ist ein Ideal für das jüdische Volk. Die Monumente seines Wesens schaffen! Seine Individualität sich ausklingen lassen in einer neuen Auffassung des Lebens! Eine neue Art, eine neue Form, ein neues Spiel der Möglichkeiten vor die Augen der Unendlichkeit hinstellen! Eine neue Schönheit erglühen lassen den Schönheitsdurstigen, die im Dunkel heran, einen neuen Stern emporgehen lassen auf dem zauberhaften Nachthimmel der Ewigkeiten! Erst aber sich durchringen, mit blutigen Händen, unerschrockenen Herzens sich durchschlagen zu seinem Wesen selbst, aus dem alle diese Wunden auftauchen werden. Sich entdecken! Sich finden! Sich erkämpfen! Dieser Weg bedeutet: Sein Volk suchen, weil man es liebt, und vor keiner Widerwärtigkeit zurückschrecken, die man findet. In seinem Volke das Material für eine Statue sehen, und sich nicht dadurch verwirren lassen, dass dieses Material nicht Marmor von Paros oder Carrara, sondern zähes, schwerfälliges, widerstrebendes Gestein ist. Dieser Weg bedeutet:

1. 2.

G. Schmidt, First Buber, S. 106 verweist hier auf John Stuart Mill (1806-1873). In Anlehnung an Friedrich Nietzsches Menschliches, Allzu Menschliches.

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Für sein Volk ein Leben wollen, aber kein Leben, das sich mit Leben begnügt, sondern ein reiches, ganzes, schöpferisches, fortzeugendes Leben. Ich habe nur versucht, die Haupttypen zu zeichnen. Es gibt noch andere Wege zum Zionismus, Seitenwege gleichsam. Am eigenthümlichsten unter ihnen ist vielleicht der Weg des Socialtheoretikers, der seine Ideen an uns realisieren möchte. Der Zionismus erscheint ihm als die Möglichkeit eines riesigen, socialen Experiments. Die Männer, die so zu uns kommen, gewöhnlich ohne rechtes Verständnis für die ganze Schönheit unserer nationalen Idee und unfähig, zu ihm vorzudringen, sind dennoch eine befruchtende Kraft. Sie bringen neue Elemente in unsere Discussionen, sie zwingen uns, zu den grossen Strömungen unserer Zeit eine positive Stellungnahme zu finden. Die übrigen Wege bieten verschiedenartiges Interesse. Da ist der Weg des judaistischen Gelehrten, der seiner Wissenschaft eine sichere Stätte wünscht; der Weg des Künstlers, der seinem jüdischen Schaffen Verständnis und Verwertung sucht; des Technologen, der seinem Volk ein modernes Leben bauen helfen will und zugleich grosse Möglichkeiten einer freien allseitig begünstigten Bethätigung ahnt. Da ist der Weg des Unsteten, der ein eigenes Milieu gefunden hat und sich daran klammert, und der Weg des jungen Halb-Skeptikers, der freudig nach einer heimischen Lebensanschauung greift. Da ist der Weg des Historiosophen, dem die Vergangenheit geheimnisvolle Winke gab, und der Weg des Politikers, der in Asiens wunderbare Zukunft schaut. Da ist der Weg des Religiösen, und da ist der schöne, versonnene Weg des Romantikers, der anders als der Religiöse die alten seelenvollen Traditionen und ihr stilles Leben liebt. Da sind schnöde, unedle Wege, von denen wir nicht reden wollen. Da ist aber auch der grosse Weg des Helden, der in einer Zeit ohne Lorbeer geboren wurde. Da ist der gerade rücksichtslose Weg des Träumers, der seinen Traum leben will. Und da ist auch, von jungen Rosen überhangen, von jungem Lerchensang überschallt, von junger Morgensonne beschienen, der Schmerzensweg des Dichter-Propheten, der sterben wird, ohne seine Sehnsucht geschaut zu haben. Und doch sind d i e Zionisten, die mehr als den Zionismus, das schimmernde Zion selbst in sich haben, keinen dieser Wege gegangen. Es sind die, die keinen Weg zu gehen brauchten. Es ist das jüdische Volk. Dieses Volk ist jenes Material unserer Bildhauerei. Es wird durchaus nicht bearbeitungsfähig durch seinen Zionismus. Aber es bedeckt sich mit einem grossen, weissen Leuchten, das dem des Marmors gleicht. Von diesem Leuchten geht die Hoffnung aus. Und von dieser das Schaffen.

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Ein Wort zum fünften Congreß 1 »Sie meinten: Im Anfang sei Das Geld. Nein! Im Anfang ist Die Idee.« (Aus der Eröffnungsrede Th. Herzl’s auf dem fünften Zionistenkongresse)

I. Aus Basel zurückgekehrt, möchte ich einige aufklärende Worte über eine Sache sagen, die vielfach mißverstanden wurde. Es handelt sich um die Thatsache, daß etwa vierzig Delegierte, als der Congreß beschloß, vor der Abstimmung über die Anträge des Culturausschusses die Wahlen ins Actionscomité und in die ständigen Commissionen vorzunehmen, den Saal verließen und erst zurückkehrten, als der Idee, die sie vertraten, Genugthuung gegeben war. Man hat dieser ›Secessio in Montem Sacrum‹ 2 (diesen Spott-Ausdruck acceptieren wir gern, indem wir seine wörtliche Bedeutung festhalten) so obstruse Motive unterschoben, man hat so lächerliche Gerüchte über sie verbreitet, dass ich mich veranlaßt sehe, wenigstens für meine Person aus der ursprünglich beabsichtigten Reserve herauszutreten. Der fünfte Congreß ist einer der besten gewesen. Zwar gieng die Debatte, namentlich am ersten Tage, nicht allzu sehr in die Tiefe. Aber ein großer Ernst und eine unermüdliche Arbeitsfreudigkeit lag über allen Verhandlungen. Und es wurde viel geleistet. Ja, es walteten in den einzelnen Leistungen modernere Gesichtspunkte, als auf früheren Congressen. Wir Jungen brachten den Reformen der Organisation, der Directive für die Bank, der Schaffung des Nationalfondes im Großen und Ganzen warme Sympathien entgegen und freuten uns über die meisten nach diesen Richtungen gefaßten Beschlüsse, an deren Zustandekommen wir redlich mitgearbeitet hatten. Neben diesen productiven Leistungen ist in erster Reihe die höchst bedeutsame Rede Israel Zangw i l ls gegen die Männer 1. 2.

[Anmerkung der Redaktion:] Wir geben an dieser Stelle den gediegenen Ausführungen eines verdienten Gesinnungsgenossen Raum, ohne uns jedoch in allen Punkten mit den dargelegten Ansichten einverstanden erklären zu können. Lat., der Auszug zum Heiligen Berg; bezieht sich auf den Ständekampf in Rom, in dem die Plebejer 494 v. Chr. auf den benachbarten Heiligen Berg auszogen, um Zugeständnisse von den Patriziern zu erzwingen. Die Folge war die Errichtung des Volkstribunats.

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der Ica zu erwähnen. Endlich muß man anerkennen, daß in den Arbeiten der Ausschüsse ein moderner Geist herrschte. Namentlich sind in dieser Hinsicht die Anträge des Bankausschusses und des Culturausschusses bemerkenswert. In diesen Anträgen äußerte sich eine überaus erfreuliche innere Entwicklung der Partei, die Entwicklung zu einem Volkszionismus. Zu beklagen ist es nur, daß diese vom Congresse zur Bearbeitung einiger Gegenstände und Vorlegung von Anträgen über dieselben gewählten Ausschüsse entweder gar nicht genügend zum Worte kamen oder zusehen mußten, wie ihre Anträge, statt nach parlamentarischem Usus einer regelrechten Abstimmung unterbreitet zu werden, lediglich vom Präsidium zur Kenntnis genommen und nach summarischer Verlesung »dem Actionscomité übergeben« wurden. Der Congreß scheint in diesen Fällen vergessen zu haben, daß er seine Ausschüsse doch wohl nicht um des »Kowed«4 willen, sondern zu dem Zwecke gewählt hat, damit sie ihm seine Thätigkeit erleichtern und die complicierten Specialfragen für die Abstimmung sozusagen präparieren. Unterbleibt diese Abstimmung, dann entfällt die Existenzberechtigung dieser Ausschüsse. Vollends lächerlich ist es, wenn der mitgliederreichste der Ausschüsse, der Agitationsausschuß, überhaupt nicht zum Worte kommt. Ist er überschüssig, dann schaffe man ihn doch ab. Man hat mir freilich von einem Delegierten erzählt, der zu den Vorsitzenden der Landmannschaften kam und andeutete, ein »Aemtchen« wäre ihm nicht unlieb. Da die Befriedigung solcher ehrsamer Aspirationen doch wohl nicht zu den wesentlichen Zwecken des Zionistencongresses gehören dürfte, sollte man nur nothwendige Ausschüsse wählen, diese dann aber auch zum Worte und ihre Anträge zur Abstimmung kommen lassen. Von den drei wichtigsten Referaten, dem Francis Montefiores über die Bank, dem Max No rd au s über die Frage der Hebung und dem Theodor Herzls über die Organisation, habe ich nur an dem letzten ehrliche Freude gehabt: es enthielt im Wesentlichen gesunde zweckmäßige Reformgedanken. Einen nicht gerade erhebenden Eindruck machte auf meine Freunde und mich Mo ntefi o res Bankreferat. Sir Francis Mo ntefi o re mag ja nicht bloß einen unserer besten Namen tragen, sondern auch ein ganz vortrefflicher Mann sein: von unserer Colonialbank versteht er nicht mehr als einem gebildeten Laien zu verstehen gegeben ist. Er besitzt eine aristokratisch elegante Gestalt und er wird stets Beifallsturm entfesseln, namentlich wenn er den uns allen theuren Namen sei-

3. 4.

Abkürzung für Jewish Colonization Association (J.C.A.) Jiddisch für Ehre, Ansehen.

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nes Großonkels nennt. Aber sein Referat war keineswegs geeignet eine sachliche Debatte über die Gegenwart und Zukunft einer jüdischen Volksbank einzuleiten, deren Actionsfähigkeit kurze Zeit vor dem Congresse proclamiert wurde. Für einen so bedeutungsvollen Augenblick in der Geschichte der Partei hätte man einen sachkundigen Referenten ausersehen sollen. Ich sehe davon ab, daß es uns wehe that, statt von der wohlbekannten jüdischen Colonialbank stets von einer »Israelitischen« zu hören und nicht als Stammes-, sondern als »Glaubensgenossen« apostrophiert zu werden; dieser Assimilanten-Jargon hätte hier, auch wenn er bloß auf mangelhafte Kenntnis der deutschen Sprache zurückzuführen ist, doch wohl vermieden werden können. Vor allem aber haben wir von Sir Francis Montefiore nichts, aber auch gar nichts über die wirkliche Situation und über die Entwicklungsmöglichkeiten der Bank gehört; daß sie mit allen Sicherheiten umgeben sein wird (das Einzige, was gesagt wurde), wußten wir bereits aus dem officielen Communique und auch ohne dieses aus dem unbedingten Vertrauen, das wir dem Directorium und dem Aufsichtsrathe entgegenbringen. Diese Inhaltslosigkeit und Unsachlichkeit des Referates hat sich auch schwer gerächt: Die Debatte wurde fahrig, unsicher, irrlichtartig und nahm erst allmählig, nachdem von oben einige von den Aufklärungen gegeben worden waren, die im Referate hätten enthalten sein sollen, festere Formen an. Hierdurch konnten einerseits wichtige Gesichtspunkte nicht in genügender Weise gewürdigt werden, andererseits wurden Stunden der so kostbaren Congreßzeit im Hin und Her des Redens verzettelt. Eine rednerisch glänzende Leistung war wie immer die Rede No rd au s. Sachlich gab sie nicht das, was wir von ihr erwartet hatten. Statt der Fragen der körperlichen, geistigen und wirtschaftlichen Hebung des jüdischen Volkes behandelte sie eigentlich nur eine der wirtschaftlichen Fragen, die Thatsache, daß der Jude ohne Capital Geschäfte treibt, ohne Capital in die Intelligenz-Berufe eintritt, und die Folgen dieser Thatsache. Das wurde freilich mit einer bewundernswürdigen Logik entwickelt, wie von goldenen Gedankenketten getragen. Aber es reicht zur Lösung eines Problems nicht hin, es auf ei ne Formel zu bringen, möge sie noch so genial sein. Das zeigte sich denn auch in den praktischen Vorschlägen, die sich daran schlossen und nicht als zulänglich bezeichnet werden können. Aber das wurde ja vom Referenten selbst zugegeben. Wesentlicher ist, daß Nordau die Mehrzahl der jüdischen Studentenschaft, in offenbar gar nicht beabsichtigter Weise, nur von seiner These hingerissen, schärfer kritisiert hat, als sie es verdient und als es ihrer schwierigen kampf5.

Moses Montefiore (1784-1885).

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erfüllten Lage in der jüngsten Zeit, dieser sich von Stunde zu Stunde verschärfenden Lage, entsprochen hätte. Aber noch viel wesentlicher erscheint es mir, daß Nordau die Fragen der geistigen Hebung lediglich vom Gesichtspunkte seiner These aus betrachtet hat. »Alles, was hierüber gesagt werden kann, ist leere Redensart, so lange die Voraussetzung einer gründlichen, allseitigen Volksbildung fehlt, nämlich Geld.« Mit diesen Worten war alles verurtheilt, was auf den bisherigen Congressen über diese Fragen gesagt wurde, war alles im Vorhinein verdammt und verworfen, was auf diesem Congresse die Referenten über Jüdische Wissenschaft, Jüdische Kunst, Hebräische Sprache und Literatur, Volksbildung und Volkserziehung zu sagen hatten. Mit welcher Berechtigung? Es müßte doch wohl erst nachgewiesen sein, erstens daß wir kein Geld haben, zweitens daß alles leere Redensart ist, solange wir keins haben, drittens, daß Geld nicht etwa ei ne, sondern d i e Voraussetzung einer gründlichen, allseitigen Volksbildung ist, viertens endlich, daß die Fragen der geistigen Hebung überhaupt einfach mit Volksbildung identisch sind. Ich werde versuchen, das Gegentheil aller dieser Behauptungen zu beweisen. Zunächst muß das Selbstverständliche betont werden, daß eine gründliche, allseitige Volksbildung nicht mit einem Schlage gemacht wird, sondern sich allmählich aus vielen kleinen Arbeiten herausgestaltet, sich aus dem langsamen ununterbrochenen Zusammenwirken vieler Organe entwickelt. Volkserziehung ist typisches Beispiel organischer Entwicklung. Was dem Congresse obliegt, ist die Aufgabe des Arztes dem Organismus gegenüber: Die vereinheitlichende, zusammenfassende, kraftsparende Hygienik, das Arbeitsprogramm. Haben wir wirklich kein Geld? Ich meine, wenn ich bei uns Geld finde, gewiß nicht den Schekel. Ich bin nicht so verblendet, um nicht zu wissen, daß der Schekel kaum hinreicht, um einen so complicierten Apparat, wie unsere Organisation und Agitation es ist, in Betrieb zu erhalten. Ja, ich gestehe: Ich habe mit einem Congreßantrag, den mir ein am Kommen verhinderter Referent, einer unserer besten Männer, übersandte und der dahingieng, der Congreß möge für die Arbeiten der geistigen Hebung zunächst den Betrag von 30.000 Francs votieren, im Interesse der Sache genau dasselbe gethan, woraus ich dem Präsidium einen so schweren Vorwurf machte: Ich habe ihn unter den Tisch fallen lassen. Und ich habe es zwar nicht gerade gebilligt, aber doch leidlich verstanden, daß der Congreß den von mir vertretenen, einstimmig gefaßten Antrag des Culturausschusses auf Gewährung eines im Jahre 1902 rückzahlbaren Darlehens von 2000 Mark an den neugegründeten Jüdischen Verlag abgelehnt hat – was übrigens, wie ich bei dieser Gelegenheit einzelnen Gerüchten gegen-

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über hervorheben möchte, nicht vor unserem Exodus, sondern nach unserer Rückkehr geschehen ist. Vom Schekel also will ich hier nicht reden. Aber ich erinnere daran, daß wir ja bereits Einiges für die Volksbildung gethan haben. Wir haben z. B. in den östlichen Ländern bereits Hunderte von Schulen gegründet. Kleine, unscheinbare stumme Schulen. Aber die Schulen sind ein Anfang. Und ei n Anfang i s t stet s ei ne g ro ße S ache. Es gab eine Zeit, da auch der Zionismus klein, unscheinbar und stumm war. Und wie groß war er damals doch! Ich wiederhole es: wir haben Geld. Wir haben Geld für den Anfang unserer Culturarbeit gehabt, wir werden auch für deren Fortführung Geld haben. Für sie werden wir stets Geld bekommen; nicht vom Congresse, sondern zunächst von uns selbst, d. h. von der Opferwilligkeit derer, die es thun. Und später nicht bloß von uns, sondern von allen, die Wert und Fruchtbarkeit, unseres Thuns erkennen. Po s i t ive Ar bei t i s t d i e ei nd r i ng li chste Pro p a gand a u nd d i e u ners chö p fli chs te Geld q u elle. Es mehren sich übrigens die Fälle, wo Nichtzionisten, denen aber die Zukunft des lebenden Judenthums am Herzen liegt, entweder Gelder übergeben oder nach unserer Directive und nach unserem Beispiele zu arbeiten begonnen haben; so sind z. B. in letzter Zeit einzelne hebräische Sprachcurse und einzelne Toynbeehallen entstanden. Diese Thatsachen werden sich auf ungeahnte Weise steigern, wenn wir erst für die Volkserziehung ein einheitliches, systematisches, in allen Punkten detailliertes Programm ausgearbeitet haben werden. Dieses Programm wird erstens die Zionisten zu intensiverer Arbeit und größerer Opferfreudigkeit anregen, zweitens das Geld der opferwilligen Juden dahin lenken, wo etwas nicht mehr für einzelne Nothleidende, sondern für die jüdische Zukunft selbst gethan wird, drittens allen, die das Judenthum lieben, Bethätigung in seinem Dienste schaffen. Es wird kraftsparend wirken und an die Stelle einer planlosen Thätigkeit eine unvergleichlich intensivere, systematische setzen. An unseren Congressen aber ist es, dieses Programm zu schaffen. Solange wir kein Geld hätten, müßten wir Arbeitspläne vorbereiten, für die Zeit, in der wir welches haben würden. Da wir aber Geld haben, da dieses Geld nachweisbar im Zunehmen begriffen ist, und mit jedem weiteren Werke wachsen muß, weil jedes Werk neue Menschen heranzieht, wird diese unsere Pflicht zu einer unabweisbaren. Denn Geld ist nur ei ne Voraussetzung der Volksbildung; die andere ist der organisierte Wille. Es hat einer langen Arbeit bedurft, den Willen zu wecken; eine noch viel längere wird nothwendig sein, um ihn zu organisieren. Daneben muß berücksichtigt werden, dass die Fragen der geistigen Hebung sich durchaus nicht auf Volksbildung beschränken. Es handelt sich hier vielmehr um zweierlei: um Vered lu ng u ns eres Mens ch en-

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ma ter i als und um P flege d er vo r h and enen Kei me ei ner jü d i s chen Cu lt u r. Wir haben unser Volk für unser Palästina zu erziehen. Und wir haben die Ansätze zu einer selbständigen jüdischen Cultur, die sich in der jüngsten Zeit aus spontaner Thätigkeit der erwachten Volksseele herausgebildet haben, zu pflegen und zu entwickeln, weil wir die Continuität festhalten müssen, weil die palästinensische Cultur, von der wir träumen, nicht vom Himmel fallen, sondern nur die volle Entfaltung der heute aufsprießenden Keime sein wird. Ich bin durchaus überzeugt, daß diese Gedanken, die ich hier nicht eingehender ausführen kann, auch Max No rd au vertraut sind. Aber er hat leider trotzdem seine These mit einer Einseitigkeit verfochten, in der ihn kein materialistischer Geschichtsauffasser übertreffen könnte. In der Ueberzeugung, daß daraus in den zionistischen Kreisen verderbliche Mißverständnisse über die Culturarbeiten hervorgehen werden, denen vorgebeugt werden muß, in dem Gefühle, daß nach vierjähriger Culturdebatte endlich auf diesem Congresse eine Parole für geistige Zionsarbeit ausgegeben werden muß, beschlossen wir Jungen, zunächst im Culturausschusse, dann im Plenum für die Sache der jüdischen Cultur zu wirken. Denn wir sind des Glaubens, daß die Sehnsucht nach einer jüdischen Cultur die Seele des Zionismus ist und daß nur d er Körper schön ist, den die Seele gestaltet. Wie es uns nun mit unserem Glauben und mit unserem Beschlusse auf dem fünften Zionistencongresse ergangen ist, soll ein zweiter Artikel erzählen. (Schluß folgt.)

II. Einige Tage vor dem Congresse wurde in Basel die Conferenz der zionistischen Akademiker abgehalten, die auch als Jungzionistentag bezeichnet wird. Diese Conferenz, die von der officiellen Parteipresse kaum berührt wurde, der aber die hebräischen und Jargonorgane beinahe ebenso eingehende Berichte und Besprechungen widmeten, wie dem Congresse selbst, ist in der Entwicklung des Zionismus eine erhebende und ermuthigende Thatsache. Die Referate waren denen des Congresses im allgemeinen gleichwertig, das Niveau der Discussion war ein höheres als bei diesem. Die große Bedeutung der Conferenz liegt aber in etwas anderem: In der lebendigen Erkenntnis, daß der Zionismus zwar eine Menge von Arbeitsgelegenheit und eine stattliche Anzahl von Arbeitskräften umschließt,

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daß aber aus beiden nicht jene breite und intensive Thätigkeit hervorgegangen ist, die allein eine Bewegung den Weg zum Ziel führt; und dies deshalb nicht, weil das Organ fehlt, das jeder Kraft die ihr eigene Bethätigung zuweisen und alle zu einer einheitlichen großen Production verbinden würde. Dieser Mangel ist umso trauriger, als die Arbeitsgelegenheiten, denen die Menschen fehlen, die innersten Lebensbedingungen der Bewegung, und die Arbeitskräfte, denen die adäquate Bethätigung fehlt, die zionistischen Intellectuellen sind. Die Folge war, daß in fünf zionistischen Jahren für die Erziehung und Vorbereitung des Volkes für Palästina nichts Wesentliches, jedenfalls nichts Einheitliches und Centralisiertes unternommen worden ist, während mehr oder minder flott darauf los agitiert und organisiert wurde; und daß andererseits die Intellectuellen, die Menschen der geistigen Initiative, sich immer mehr zurückzogen, weil ihren Anregungen der Boden entzogen wurde, weil für sie in der Bewegung, die in so kurzer Zeit so sehr Partei geworden war, kaum noch ein Platz war. Diese letztere Thatsache steht in auffallendem Gegensatz zu der Entwicklung anderer moderner Bewegungen, denen die Intellectuellen in immer stärkerem Maße zuströmen, weil sie hier das ihnen zugehörige Macht- und Arbeitsgebiet am besten finden und ihre Ideen in gleichgestimmter, verständnisvoller Menschengemeinschaft verwirklichen können. Und ebenso befindet sich unsere Arbeit in einem offenkundigen Gegensatze zu der Arbeit anderer, aus dem Dunkel und der Erniedrigung zu einer Wiedergeburt aufstrebenden Nationen: steht bei diesen die geistige und sittliche Regeneration im Mittelpunkte alles Thuns, so daß sogar die wüthendsten Agitatoren die Culturgüter der Nation wenigstens als Vorwand im Munde führen, so ist bei uns, die wir das regenerationsbedürftigste Volk der Welt befreien wollen, die Sehnsucht nach Vermehrung des ziffernmäßigen Parteibestandes die treibende Kraft geworden. Man hat so lange die Ansicht verbreitet, nicht auf das Leben des Volkes in allen seinen Momenten einzuwirken, sondern der Partei Geld und Leute zuzuführen, sei die heiligste Aufgabe des Zionisten, bis sie zum verderblichen, lebensfeindlichen Dogma erstarrte. Man arbeitet mehr für die Partei als für das Volk. Aber kein Charter kann helfen, wenn das Volk nicht reif ist, den Charter zu verwirklichen. Zu einer so eigenthümlichen, so fast analogielosen Colonisation, wie die von uns beabsichtigte ist, bedarf es eines körperlich, geistig, sittlich s t ar ken Menschenmaterials; eines Menschenmaterials, das stark genug ist, die schwersten und mühseligsten Arbeiten zu bewältigen, den abgründlichsten Gefahren zu trotzen, den brotlosesten Enttäuschungen standzuhalten. Das Volk zionistisch machen, ist nur eine Theilaufgabe jenes ungeheueren Werkes: Dem Volke Kraft zu geben. Der Glaube an Zion ist nicht Kraft genug; eine Losbindung der

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entfesselten Instincte, eine Belebung aller Functionen, eine Umgestaltung des Volkslebens thut Noth. Eine Revolutionierung, wenn man es so nennen will; dann waren aber auch jene Propheten Revolutionäre, die im Exil das Volk für ein neues Palästina erziehen wollten, – und es nicht vollbrachten, weil sie Einzelne und ohne Zusammenhang blieben. Für die angedeutete Unzulänglichkeit des heutigen Zionismus – die Hypertrophie der äußeren Propaganda auf Kosten der eigentlichen Volksarbeit – gibt es unter den gegenwärtigen Verhältnissen nur ein Heilmittel: Die Schaffung einer Arbeitsgemeinschaft. Einer Arbeitsgemeinschaft, die zum Theil selbst das bisher Vernachlässigte in die Hand nehmen und durchführen, zum Theil auf die Partei im Sinne einer solchen Thätigkeit einwirken soll. Das ist die Erkenntnis des Jungzionistentages; und seine That: die ersten Schritte zur Bildung einer solchen Arbeitsgemeinschaft gemacht zu haben. Aus dieser Conferenz ist eine Gruppe hervorgegangen, der schon jetzt viele der besten Elemente unserer Jugend angehören und deren definitives Arbeitsprogramm erst zu Ostern dieses Jahres festgestellt werden wird. Diese Gruppe, die vorläufig mit dem ein wenig irreführenden Namen »demokratische Fraction« bezeichnet wird, (dem hübschen Worte »Fractionisten gegen Frackzionisten« sind bereits Flügel gewachsen), hat unter ihre leitende Gesichtspunkte die selbständige Culturarbeit und die organisch-wissenschaftliche Begründung des Zionismus aufgenommen. Die Bedeutung der ersteren habe ich anzudeuten versucht. Von der Nothwendigkeit wissenschaftlicher Grundlagen für unsere Ideen dürften wohl schon die meisten überzeugt sein. Solange wir sie nicht haben, ist kein Halt und keine Festigkeit in unserer Arbeit. In unserer Propaganda operieren wir mit Begriffen, die nicht geklärt sind, mit Behauptungen, für die uns die statistischen Belege fehlen. Wichtiger noch ist, daß unser eigener Zionismus voller Lücken ist und eine geschlossene Lebensanschauung nicht aufkommen läßt. Ueberall mangelt es an Positiven. Anderen Parteien haben große Theoretiker vorgearbeitet; auf Carl Mar xens »Kapital« konnte das Ideensystem einer Weltbewegung aufgebaut werden. Wir haben nur Ansätze aufzuweisen. So ist denn auch hier Ungeheures zu thun. Die Vorarbeiten müssen sich (nach den zwei Seiten unseres Programmes: Volk und Land) um zwei Mittelpunkte gruppieren: ein Bureau für jüdische Volksstatistik und eine wissenschaftliche Expedition nach Palästina. Diese Gesichtspunkte, ebenso wie die Anschauungen der »Fraction« über andere Fragen (Bank, Organisation, Colonisation u. A.) brachten deren Vertreter in den Ausschüssen und im Plenum des Congresses zum Ausdruck. In das Ressort des Culturausschusses (der natürlich aus Vertretern aller Gruppen und Landsmannschaften zusammengesetzt war)

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gehörten hiervon: die Culturarbeit und die Volksstatistik. Der Ausschuß beschloß den dargelegten Gesichtspunkten entsprechend, dem Congresse eine allgemeine Resolution und einige Specialanträge vorzulegen. Die Resolution lautete: »Der Congreß erklärt die culturelle Hebung, d. h. die Erziehung des jüdischen Volkes in nationalem Sinne als eines der wesentlichsten Elemente des zionistischen Programmes und macht es allen Gesinnungsgenossen zur Pflicht, an ihr mitzuarbeiten.« Die Specialanträge betrafen: Die Subventionierung der Nationalbibliothek in Jerusalem, die Einrichtung einer besoldeten statistischen Commission, Untersuchungen über die Gründung einer jüdischen Hochschule, die Förderung des neugegründeten »Jüdischen Verlags« (Berlin), die Umwandlung der ständigen Culturcommission in landsmannschaftliche Commissionen. Am wichtigsten war selbstverständlich die Resolution, deren Annahme die Sanctionierung der Culturarbeit durch den Congreß bedeutete. Die Debatte und theilweise auch die Beschlußfassung über die Culturarbeit pflegte auf den bisherigen Congressen mit einer ans systematische grenzenden Consequenz »vertagt« zu werden. Die Referate wurden stets mit gebürender Aufmerksamkeit angehört; damit glaubte man aber auch, der leidigen Angelegenheit genug gethan zu haben, und als es zur Besprechung und Verwertung der aufgestellten Gesichtspunkte kam, hatte man plötzlich die Tagesordnung des Congresses entdeckt und die Arbeit am Menschenmaterial, d i e Her au sbi ld u ng d es Volkes zu ei nem Macht fac to r (denn das ist der tiefste Sinn der Volkserziehung) mußte der »Lebensnothwendigkeit der Bewegung«, d. h. dem Drum und Dran des Parteigetriebes weichen. Zu einer sachlichen Besprechung, welche die Ansichten geklärt und das ewige Mißverständnis, die Culturarbeit sei »gegen die Religion gerichtet«, zerstreut hätte, ließ man es nicht kommen. Eine Beschlußfassung unterblieb entweder vollständig, oder die positiven Anträge wurden »der vorgerückten Stunde halber« (diese Stunde war immer vorgerückt) nur in der bereits im 1. Artikel erwähnten, die Partei-Executive nicht im Geringsten verpflichtenden Form von »Resolutionen« angenommen (denn welcher Grund lag vor, sie i n d i es er Fo r m nicht anzunehmen?). Ich muß allerdings bemerken, daß ganz vereinzelte Anträge auch zum Beschlusse erhoben wurden; aber um die Ausführung war es nicht viel besser bestellt, als wären es nur Resolutionen gewesen. 6 Man lese um die Nichtigkeit dieser Behauptungen controllieren zu können, die Congreßprotokolle. Dasselbe Schicksal drohte den Culturfragen auf dem V. Congresse. Die 6.

[Anmerkung Buber:] Eine Ausnahme bilden selbstverständlich die vom Congreß bewilligten Subventionen.

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»Fragen der Hebung« waren auf die Tagesordnung des zweiten Tages gesetzt. Aber schon am letzten Vormittag wollte man die Reihenfolge ändern: Am zweiten Tage sollte nur No rd au sprechen, dann sollte man sofort zur »Organisation« übergehen, und die Hebungsfragen sollten drankommen, sobald sich Gelegenheit hierzu bieten wird. Hingegen verlangten wir, daß nach dem ersten Tage eine Nachtsitzung stattfinde, die der Bank gewidmet sein solle, daß die Specialreferate über die Hebungsfrage sofort nach der Rede No rd a u s gehalten werden und so deren praktische Ergänzung bilden (die letztere Annahme wurde durch No rd au s Rede enttäuscht, die sich in entschiedenen und apriorischen Gegensatz zu den meisten Specialfragen stellte.) Dieser Antrag gieng durch. Nun hätte die Discussion wohl auf die Referate folgen sollen,7 statt dessen kam die Organisation daran. Als die Debatte über diese abgebrochen wurde, gieng man zum – Nationalfond über. Als beide endlich erledigt waren, war der Montag da und nun mußte die – Bankfrage abgeschlossen werden. Als dies geschehen war, war es Montag Abend: Die letzte Sitzung des Congresses. Wir hatten ruhig ausgeharrt, nachdem vom Präsidium die Erklärung abgegeben worden war, daß man die Fragen der Hebung vo r d en Wa hlen erledigen würde. Und unsere Erwartung schien sich zu erfüllen: Den Referenten des Cultusausschusses, zu denen zwei »Fractionisten«, ich und Dr. Wei tzma nn (Genf) gewählt worden waren, wurde das Wort ertheilt. Wir verlasen die Anträge und gaben die nothwendigsten Begründungen. Nach uns hätten entweder die ersten zu den Hebungsfragen eingetragenen Redner (es waren deren nicht weniger als 60) oder Generalredner zum Worte kommen sollen. Statt dessen bekamen wir die beiden auf dem Congresse anwesenden russischen Rabbiner zu hören. Es ist immerhin möglich, daß sie sich als die Ersten zum Worte gemeldet hatten. Vielleicht sollte auch damit einer gewissen paritätischen Gerechtigkeit Ausdruck gegeben werden. Wir wußten es nicht. Als aber dann plötzlich die Debatte abgebrochen und der Uebergang zu den Wahlen angekündigt wurde, erhoben wir Protest, erinnerten an die Erklärung des Präsidiums und verlangten entweder Fortsetzung der Debatte (Antrag Li li en) oder Abstimmung über die Anträge des Culturausschusses (Antrag Bu ber); zum Mindesten wurde die Annahme der allgemeinen Resolution verlangt (Antrag Mo t zki n). Vor unseren Augen stand das ständige Schicksal der Culturfrage, dieses ewige verständnislose Vertagen und Verzetteln, all diese blinde Feindseligkeit und Gleich7.

[Anmerkung Buber:] Der Verlauf des Congresses belehrte uns übrigens, daß die Referate nicht vorgetragen, sondern dem Congresse gedruckt vorgelegt werden sollen und das Hauptgewicht auf die Discussion gelegt werden soll. [Vgl. dazu: »Die Congresstribüne«, in diesem Band, S. 88-89.]

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giltigkeit gegen das Werden der Volksseele, diese unaufhörliche Sünde gegen den Geist. Der Congreß sollte endlich erkennen und aussprechen, daß nicht bloß im Anfang die Idee war, daß sie in jedem Augenblicke und über jeder unserer That sein muß, die bestimmende Herrin, sie, die Idee aller modernen Bewegungen, d i e Id ee d er Entw i ck lu ng: Zion kann man nicht machen, zu Zion muß man sich entwickeln – das schrie in unseren Herzen. Der Congreß die zionistische Legislative, sollte die Volksarbeit, die Seelenarbeit anerkennen und sanctionieren. Das verlangten wir. Und weil wir lang genug gewartet hatten, erhoben wir Protest gegen jede weitere Verschleppung. Unser Protest wurde vom Präsidium, theils vom Congresse abgewiesen. Als dies geschehen war, verließen wir und unsere Freunde den Saal, ohne Verabredung, ohne Zeichen, alle von dem Gefühle übermannt: An den Arbeiten des Congresses können wir jetzt nicht theilnehmen. Von der Gallerie folgten wir den Wahlen, für die Vorschläge vom Permanenzausschusse vorbereitet waren und [die] beinahe unverändert, aber mit vielen Formalitäten angenommen wurden. Nach den Wahlen gab der Präsident durchaus loyale und entgegenkommende Erklärungen über die Culturanträge ab, unterstützte sie mit seinem ganzen Einflusse, und nachdem vier Generalredner gesprochen hatten, wurde unsere Resolution (natürlich ohne daß wir mitgestimmt hätten) angenommen. In diesem Augenblicke kehrten wir in den Saal zurück. Nun sind zwei Möglichkeiten vorhanden: Entweder war es ursprünglich ni cht beabsichtigt, über die Culturanträge abstimmen zu lassen, oder man wollte nur zuvor die Wahlen vornehmen. War das Erstere der Fall, so waren wir zweifellos im Recht; darüber sind wohl keine Worte nöthig. War hingegen das Letztere der Fall, so bedeutete dies in einer Sitzung, die eine Nachtsitzung und zwar die letzte eines langen und unsagbar arbeitsreichen Congresses war, nichts Anderes als: Für die Wahlen bedarf es eines relativ »frischen« Congresses, für Culturanträge genügt ein völlig ermüdeter. Denn sonst wäre kein Grund vorhanden, nicht zuvor die letzteren zu erledigen. Und auch zu dieser Auffassung sind nach allem, was ich gesagt habe, Commentare überflüssig. Die Culturanträge betrafen das geistige Schicksal der Bewegung. Die Wahlen betrafen die Bestätigung der vom Permanenzausschusse vereinbarten Namen. Ich habe nur noch Eines hinzuzufügen. Dr. Max No rd a u hat sich einem Interviewer des »Echo sionist« gegenüber dahin geäußert, in der Fraction sei das Golus. Der Zionismus habe die Einigkeit geschaffen, die Fraction bringe die Spaltung hinein, die ein Charakteristikon des Golus sei. Das hätte ich Dr. Max No rd au , der auf dem ersten Congresse jene

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unvergleichliche Psychologie des einigen und einheitlichen Ghettos gegeben hat, denn doch nicht zugetraut. In all den Jahren, die ich über das Wesen unseres Exils nachgedacht habe, ist mir Eines immer klarer geworden: Die hervorstechende Eigenthümlichkeit war die Einigkeit um jeden Preis, die Einigkeit auf Kosten der Individualitäten, die Einigkeit, der alle jungen Triebe, alle kühnen Schöpferkräfte zum Opfer gebracht wurden. Eine seelenfeindliche Einigkeit. Und sie war nothwendig: Als Schutz gegen das Eindringen des Feindes, Untergrabenden. Aber nun, in dem Neulande der Geister, das wir uns geschaffen haben! Nun brauchen wir kein so theuer erkauftes Bollwerk mehr. Nun sollen die Einzelnen wachsen, sich bethätigen, sich durchsetzen, zu ihrem Rechte kommen, ihre Anschauungen verwirklichen. Ja, auch wir wollen eine Einigkeit. Nur eine Einigkeit, die sich als Harmonie aufbaut aus freien, vollen Stimmen.

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Theodor Herzl Ende 1895 und Anfang 1896 erschienen zwei Bücher von Theodor Herzl: »Das Palais Bourbon«1 und »Der Judenstaat«. 2 Er war fünfunddreißig Jahre alt, als er kurz hintereinander diese zwei Werke veröffentlichte, die einen seltsamen Gegensatz und doch keinen Widerspruch bedeuten. »Das Palais Bourbon« ist eine Sammlung von Aufsätzen über parlamentarische Menschen und Zustände Frankreichs. Sie waren zuerst in der Neuen Freien Presse gedruckt, deren Pariser Berichterstatter Herzl damals gewesen ist. Man merkt ihnen diesen Ursprung nur selten an. Sie haben einen Zug von Seelenforschung und zuweilen eine durch Ausscheidung des Zufälligen und Darstellung des Wesentlichen monumentalisierende Charakteristik. Bemerkenswert ist dieser Blick für das Wesentliche, der in die Wahlversammlung von dreißig Bauern in einem Dörfchen mit gleicher Luft und Schärfe taucht wie in die große Krisensitzung der Kammer und immer das wahrhaft Wirkliche, die entscheidende Geste herausholt, immer schöpferisch überlegen, immer mitfühlend ironisch. Denn dies im letzten Grunde sind in eigentümlicher Mischung die Bedeutsamkeiten Herzls, die wir aus diesem Buche kennen lernen: die innige Ironie und die Lyrik der Geste. Seine Ironie, den krausen Geschicken Einzelner gegenüber fast zärtlich, bekommt zornige Wucht, wenn das politische Getriebe als Ganzes betrachtet wird: das Parlament, dieses schläfrige oder tobende Ungetüm, »voll dunkler Regungen und arm an Ausdrücken«, und dann wieder die Parlamentarier, »Masken mit groben Zügen und voll schrecklicher Starrheit«; der große Staatsmann, »der aus einer tiefen Überlegung heraus sich nur kleiner Mittel bedient«, und die kleinen Staatsmännchen, diese Schwätzer mit ihren erhitzten Köpfen. Und der Journalist, der über ihre Reden und Bewegungen in ehrfurchtsvoller Gegenständlichkeit zu berichten gehalten ist, teilt unterm Strich sein Lachen über sie alle mit, ein schönes Lachen, voll Freiheit und Synthese, das Lachen des Geistes, wenn die Hände müde geworden sind, all das überflüssige Pathos in Schnellschrift zu verzeichnen. In dieser Ironie ist auch etwas heimliches Pathos, aber ein notwendiges. Es ist das Aufstreben vom Reiche des Nutzzwecks zu einer vom Zweck befreiten Anschauung. In dieser aber waltet ein positiver ästhetischer Wert: die Schönheit der Geste. Die schöne Geste ist ein Epiphainomenon, ein zweckloses Gebilde, das 1. 2.

Theodor Herzl, Das Palais Bourbon. Bilder aus dem französischen Parlamentsleben, Leipzig 1895. (Das Palais Bourbon war der Sitz des französischen Parlaments). Theodor Herzl, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Leipzig und Wien 1896.

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aus dem Zwecktreiben emporblüht. Die Geste hat selbstverständlich Absicht, aber ihre Schönheit ist unvorhergesehene Zutat, die aus dem Innerlichsten, oft aus dem Unbewußtesten des beseelten Organismus quillt. Von ihr ist wohl zu unterscheiden die Pose, die im Anfang Anspannung ist, welche die Linie verzerrt, und später Mechanisierung, welche die Linie verglättet. Die echte wahrhaft schöne Geste hat Herzl wie wenig Anderes geliebt. In seinen Pariser Studien widmet er ihr einen intensiven, innigen Kultus. Einmal sitzt er in einer sozialdemokratischen Versammlung, hört den grellen Phrasen des Redners zu und betrachtet das begeisterte Publikum, von Erbarmen und Ironie erfüllt. Da besteigt ein Arbeiter die Tribüne und singt ein neues Lied. Er stellt sich auf die Fußspitzen, reckt sich gewaltig, scheint über Menschengröße zu wachsen. Die rechte Hand schwingt er hoch über seinem Haupte. Diese Hand ist verstümmelt. »Der Daumen fehlt. Irgend ein brutales Ungefähr an der Maschine. Doch arbeitet er wieder mit seiner armen Hand, das sieht man. Jetzt flattert und zittert sie fortwährend über seinem Kopf, als wollte er sie den rächenden Genossen zeigen.« Sie haben sich nun den Kehrreim gemerkt, nun singen sie alle mit. »Es braust. Leidenschaftlich erheben sie alle ihre Hände, aber zuhöchst flattert die verstümmelte Hand des Sängers. Und großartig weht über der Sammlung ein Hauch der Revolution.« In den letzten zwei Monaten seines Aufenthaltes in Paris schrieb Herzl »den Judenstaat«. Hier schweigt der Ironiker, und vereinzelte lyrische Töne sind ganz diskret gegeben; so wenn die Fahne des projektierten Staates beschrieben wird. 3 Sonst ist alles ernst und umgrenzt, sachlich durchdacht und in einer verdichteten, objektivierenden Sprache gesagt. Und doch steht das Buch in einem starken Zusammenhang zu jenem. Man bemerkt ihn lange nicht vor scheinbarem Widerspruch. Dort die radikale Ironisierung der Politik; hier wird ein eminent politisches Unternehmen vorgeschlagen. Dennoch ist es eine natürliche Weiterentwickelung. Der Ekel an der kleinen Politik erzeugte die Sehnsucht nach großer, die Erkenntnis der Nichtigkeit all der Tagesgeschichte den Willen, ein Werk der Weltgeschichte vorbereiten zu helfen. Auch die Tagesgeschichte wird Weltgeschichte, – wenn sie vorüber ist: wenn aus den tausend Sinnlosigkeiten ein Sinn sich auferbaut. Was fehlt, ist die immanente Einheitlichkeit, der Strom, der den Wellen von vornherein einen Sinn gibt, die reine Linie. Statt mit hellen Herzen und frohgespannten Muskeln dem Meere 3.

Die Stelle lautet: »Wir haben keine Fahne. Wir brauchen eine. Wenn man viele Menschen führen will, muss man ein Symbol über ihre Häupter erheben. Ich denke mir eine weisse Fahne, mit sieben goldenen Sternen. Das Weisse Feld bedeutet das neue, reine Leben; die Sterne sind die sieben goldenen Stunden unseres Arbeitstages. Denn im Zeichen der Arbeit gehen die Juden in das neue Land.« Der Judenstaat, S. 76-77.

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entgegenzuschwimmen, muß man durch Pfützen waten, unlustig und angewidert. Ach, eine Politik, an deren Anfang eine Idee stünde! eine Politik, die die harmonische Entfaltung dieser Idee wäre! eine Politik, voll von Überraschungen, weil sie aus den an ihr teilnehmenden Menschen ihr Tiefstes herauslocken und verwerten würde, und doch voll schöner Einheit, weil die Idee die Meisterin wäre, alle Köpfe, alle Hände ihr Werkzeug, alle Tat ihre Schöpfung! Das war der allgemeinere Antrieb zum »Judenstaat«. Der speziellere war das Gefühl des Judenschicksals. Es muß schon hier gesagt werden, daß dieses Gefühl ein enges war, aus Mitleid und mehr äußerlichem eigenem Erleben geboren, und durchaus nicht das ausschöpfte, was heute von sensiblen Naturen an tragischer Fülle des Judenschicksals gefühlt werden kann. Von diesem erfährt, wer in der einzig bestimmenden Zeit der Jugend an seinem Judentum vorübergeht, nur daß Gröbste und Handgreiflichste, das gar nicht zum wesentlich Tragischen gehört. Dem es aber gegeben war, sein Judentum in sein Leben aufzunehmen, um es zu leben, der erweitert sein eigenes Martyrium um das Martyrium von hundert Volksgenerationen, er knüpft die Geschichte seines Leibes an die Geschichte zahlloser Leiber, die einst geduldet hatten. Es wird der Sohn der Jahrtausende und deren Herr. Solches hat Herzl nicht gewonnen. Er hat die Judenverfolgung überall gesehen, zum Teil unmittelbar empfunden. An jüdischem Emotionsmaterial, an umfassender Kenntnis des Judentums, dessen nach innen gekehrter Verteidigungskampf, dessen nach außen projektiertes mystisches Hoffen in einer reichen und bedeutsamen Literatur niedergelegt sind, hatte er in seiner Jugend nichts empfangen, vor Allem nichts von der vollen und heroischen Stimmung des neuen Judentums, das ganz und gar Werden und Verheißung ist. So wurde ihm die Judenverfolgung zur Judenfrage und der gemeinsame Feind zur Grundlage der jüdischen Nationalität. »Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu«, 4 heißt es im »Judenstaat«. Die Erkenntnis, daß die wahre Judenfrage eine innere und individuelle ist, nämlich die Stellungnahme jedes einzelnen Juden zu der ererbten Wesensbesonderheit, die er in sich vorfindet, zu seinem inneren Judentum und daß dieses allein das Volk statuirt, war Herzl versagt. Deshalb ist er im »Judenstaat« und in allen seinen späteren Kundgebungen an dem Problem der jüdischen Eigenart und ihrer Produktivierung, daß eines der merkwürdigsten Kulturprobleme ist, vorübergegangen. Die Judenfrage ist ihm nie zur Judentumsfrage geworden; sie ist für ihn stets eine Judenheitsfrage geblieben. Diese hat er allerdings richtig erfaßt und meisterhaft dargestellt, wenn er sie auch allzu exklusiv 4.

Der Judenstaat, S. 26.

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auf die Judenwanderung zurückführte, der einen Abfluß zu schaffen denn auch der nächste Zweck der Staatsgründung ist, deren Plan er in seinem Buche entwirft. Im »Palais Bourbon« sprach Herzl noch von »den Juden, die zufällig in einer antisemitischen Zeit ihr Leben verbringen müssen«. Im »Judenstaat« blickt er tiefer, erfaßt das Hervorgehen des Antisemitismus aus den wirtschaftlichen Verhältnissen, begreift deren unvermeidliche Weiterentwicklung, sieht in der Judennot nicht mehr eine zufällige, sondern eine historisch notwendige Erscheinung. Und aus dieser Einsicht daraus präzisiert er seine Forderung: Gründung einer jüdischen Volkssouveränität, eines Judenstaates. Eine Forderung, die der vorherzlische Zionismus schon vielfach erörtert hatte. 5 Aber hier war sie zum erstenmale klar und scharf ausgesprochen, hier zum erstenmale in eingehender Untersuchung der praktischen Möglichkeiten ein Weg zum Ziele gezeigt. Deshalb vermochte erst Herzls Buch aus der Idee ein Programm, aus der Bewegung eine Partei zu schaffen, und die Massen mitzureißen. Zunächst entstand nun die Institution des Zionistenkongresses und auf dem ersten Kongresse zu Basel 1897 wurde Herzl zum Führer der neuen Partei gewählt. Das war nicht seine Absicht gewesen. »Ich selbst halte meine Aufgabe mit der Publikation dieser Schrift für erledigt« 6 hatte er erklärt. Nun riß ihn seine Sache mit, riß ihn empor. Und damit begann sein zweites Leben, dessen sieben Jahre das Dokument einer seltsamen Seelenwanderung oder vielmehr Seelenoffenbarung gewesen sind. Denn nun gab sich ein anderer und größerer Menschen kund. Worte waren sein Material gewesen, nun wurden es Menschen. Er hatte Taten entworfen, nun wurde es ihm gegeben, sie auszuführen. Nun galt es nicht mehr, stimmungsvolle Feuilletons und geistreiche Stücke zu schreiben, sondern einen uralten, königlichen Traum zu verwirklichen. Ein glückloses, ahnungsreiches Volk kam fast wie Marmor unter seine Hand. Und er wuchs mit seinem Material. Der Journalist wurde der Mann seiner Tat, mit jener suggestiven Macht begabt, welche nur die Berufung verleiht. Seine Ironie bewahrte er sich im Verkehr mit Gegnern, sonst ging sie in einer lächelnden Besonnenheit unter, auf deren Grunde sein unerschütterlicher Selbstglaube ruhte und die allen Enttäuschungen stand hielt. Sein lyrisches Gefühl der Geste verließ ihn nicht; jedes Projekt, jeden Erfolg schätzte er nicht bloß politisch, sondern auch ästhetisch ein, nach dem Stimmungswert der darin enthaltenen Geste, und das gereichte 5. 6.

So z. B. Moses Hess (1812-1875) in seinem Rom und Jerusalem oder Leon Pinsker (1821-1891) in seiner Autoemanzipation. Der Judenstaat, S. 6.

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zuweilen zum Schaden, weil er manches Projekt von außen aufnahm und lose einfügte, statt alle sich aus einem einheitlichen Plane entfalten zu lassen, manchen äußeren Erfolg überschätzte und als Fortschritt der Bewegung behandelte. Mit diesem Verhalten war ein straffes und gewissermassen physiologisches Selbstgefühl verbunden, das ihm die großen und immer natürlichen Gesten eines wohlwollenden und etwas schwerfälligen Fürsten gab. Sein Mitleiden war stark und tief erregt, es gab Augenblicke, da es wirklich die Millionen umfasste, und es beeinflußte nicht immer günstig das Tempo seiner Arbeit; jede Judenverfolgung trieb ihn an, sofort und mit den noch unzulänglichen Mitteln dieser Anfangsjahre die Realisierung dessen zu versuchen, das nur als langsames und allmähliches Werk der sich geistig und sittlich entwickelnden, im Willen und in der Fähigkeit erstarkenden Volksgeneration denkbar ist. Dabei hatte er eine große Art, Menschen für seine Auffassung zu gewinnen, Menschen zu beherrschen, zu bestimmen, zu verwenden. »Mit der Zentralisierung lassen sich Wunder wirken, wenn im Mittelpunkt einer ist, der zu befehlen versteht«, hatte er einmal gesagt. Er war nun so einer geworden. Und die Zentralisierung war eine vollständige. Er hatte trotz aller Komitees und Direktorien in Wahrheit die Gewalt eines Diktators. 7 Bald hatte er auch die Seele eines Diktators, mit weiten Entschlossenheiten und weiten Irrtümern, hilfreicher Kraft und despotischer Meinungsunterdrückung, vor allem aber mit einer bewunderungswürdigen Energie der Hingabe an die Aktion. Immerhin gab seine Starrheit nach, wo eine große unpersönliche Macht mit großer Geste ihm entgegentrat. So hatte er die Wirtschaftsordnung des Judenstaats noch recht manchestermäßig entworfen; nun lernte er die Bedeutung der Genossenschaft 8 kennen und huldigte einer sozialistischen Idee. Nur die großartige Renaissance aller Volkskräfte, die sich seit einigen Dezennien im östlichen Judentum anbahnt, blieb ihm fremd. Der hebräischen Sprache, die in unseren Tagen eine eigenartige und durchaus moderne Literatur hervorgebracht hat, machte er nur äußerlich Konzessionen. Alle geistige und künstlerische Produktion, die dieser einzigartigen Volksverjüngung entstammt, blieb für ihn ein Mittel der Propaganda, wurden von ihm niemals als Selbstzweck erfaßt. Das ist das erste Paradoxon dieser sieben Jahre Theodor Herzls: er kam, ganz und gar Sohn des Westens, an die Spitze einer Bewegung, dessen starke Wurzeln ganz und gar im Osten sind. Das zweite Paradoxon ist der Gegensatz zwischen seiner Ursprüng7. 8.

Hier spricht vor allem Buber, das Mitglied der Demokratischen Fraktion, der ersten organisierten Opposition im Zionismus. Dieser Idee hat Herzl vor allem in seinem Roman Altneuland Ausdruck verliehen, den Buber in diesem Nachruf nicht einmal erwähnt.

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lichen seelischen Veranlagung, die zu innerst allem politischen Getriebe widerstrebte und nur nach der reinen Linie der großen Taten Sehnsucht trug, und seiner nunmehrigen Arbeit, die nicht immer ins Freie und Große gehen konnte. Doch läßt sich dieses Paradoxon bis zu einem gewissen Grade auflösen, wenn auch nicht so vollständig, wie der scheinbare Widerspruch zwischen »Palais Bourbon« und »Judenstaat«. Er hatte den Parlamentarismus negiert, nun gründete er eine Art von Parlament, den Zionistenkongreß. Aber dieser gab einem bisher unfreien und unselbständigen Volke eine Vertretung und damit das äußere und suggestive Zeichen seiner Einheit, und zugleich den im Wechsel dauernden Träger seiner Befreiung; er trat nur einmal im Jahre auf wenige Tage zusammen und stellte in abgekürzter Form das Fortschreiten einer jungen Bewegung dar; so konnte er sich Großzügigkeit und Echtheit bewahren. Noch schärfer hatte Herzl alles Programm bekämpft; »welche Qual«, schrieb er aus Paris, »ist das Programm für die unbeschränkten Geister unter den Berufspolitikern – und wie überflüssig sind die Grenzen eines Programms für die ohnehin schon Bornierten«. Nun half er ein Programm schaffen, das sogenannte Baseler Programm, 9 dem er bis auf das im vorigen Jahre eingebrachte programmwidrige Projekt einer Ansiedlung von Juden in Britisch-Ostafrika treu anhing. 10 Aber dieses Programm war die wenigstens zeitweilig notwendige Zusammenfassung der verschiedenartigen und ihre Sondermeinung mitunter recht stürmisch betonenden Kongreßelemente und es beschränkte sich daher auch auf die lapidare Erklärung des Zieles: »Schaffung einer öffentlich rechtlich gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina« und auf eine knappe Andeutung der Mittel. Das Schlimmste ist, daß diese Mittel in der Anwendung nicht immer groß waren und daß man manchmal an jenes Wort Herzls von dem großen Staatsmann denken mußte. 11 Namentlich machte sich häufig ein leidiger Opportunismus breit, der wohl in irgendeinem Maße jeder Politik anhaften mag, hier aber in besonders empfindlicher Weise die Linie störte. 9. Das Baseler Programm wurde auf dem ersten Kongreß im Sommer 1897 verabschiedet und formulierte die Grundlagen des Zionismus. Es blieb bis zur Gründung des Staates Israel im Mai 1948 maßgeblich. 10. Es ist unterdes durch die Forschung erwiesen, daß die Befürwortung des Ostafrikaprojektes durch Herzl rein taktischen Erwägungen entsprang, da der Vorschlag der britischen Regierung eine erste offizielle Anerkennung von internationaler Seite darstellte. Der Vorschlag wurde bekanntlich von der britischen Regierung zurückgezogen und auch von dem ersten Kongreß nach Herzls Tod abgelehnt. Vgl. Isaiah Friedman, Herzl and the Uganda Controversy. 11. Siehe das oben, S. 107 angeführte Zitat aus dem Palais Bourbon über den großen Staatsmann, »der aus einer tiefen Überlegung heraus sich nur kleiner Mittel bedient«.

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Das dritte Paradoxon, unlösbar und von entscheidender Bedeutung, ist die Tatsache, daß Herzl ein Staatsmann ohne Staat war, der vielmehr der Aufgabe zu dienen hatte, einen Staat zu errichten, und daß er bei dieser Sachlage nicht darauf ausging, vorerst eine starke Ansiedlung von Juden in Palästina zu schaffen und dann von der Türkei Rechte für sie zu fordern, sondern es als das nächste Ziel betrachtete, von den Mächten Garantien für die Autonomie der zu gründenden Ansiedlung zu erlangen. Demgemäß verhandelte er mit Fürsten und Regierungen, konnte aber als Vertreter einer so großen Masse von jüdischen Kleinbürgern und Halbproletariern, ohne staatlichen oder kapitalistischen Rückhalt und ohne die Grundlage einer schon bestehenden großen Kolonie, kein Resultat erzielen, das die Bahn schon jetzt freigemacht hätte. Hierzu kam, daß eines der Postulate, die Herzl im »Judenstaat« für den Beginn der Aktion aufgestellt hatte, eines der allerwichtigsten, die wissenschaftliche Erforschung von Volk und Land als Basis eines systematischen Arbeitsplanes, nur ganz langsam realisiert wurde; erst gegen Ende 1903 konstituierte sich eine Kommission zur Erforschung Palästinas, und die Arbeit der Judenstatistik ist bis heute der Initiative Einzelner überlassen geblieben. Die diplomatische Aktion wurde ausschließlich in den Vordergrund gerückt und die Volksmassen lebten in einer ewigen Spannung, von jeder Audienz bis zur nächsten. Das Beste der zionistischen Diplomatie war das für sie geschaffene Werkzeug, die Jüdische Kolonialbank, diese denkwürdige Volksbank mit ihren hunderttausend Aktionären. Doch muß eine andere Institution des Zionismus, der Jüdische Nationalfonds, aus der Opferwilligkeit des Volkes entstanden, zum Ankauf von Volksdomänen in Palästina bestimmt, als ethisch und politisch bedeutsamer bezeichnet werden. Trotz aller Schwächen übte Herzl einen unbeschreiblichen Einfluß auf seine ganze Umgebung aus. Es ging etwas Bannendes von ihm aus, dem kaum zu widerstehen war. Am mächtigsten aber wirkte er auf die Massen des Volkes, die ihn nie gesehen hatten. Die Volksphantasie wob eine zärtliche Legende um ihn, tauchte seine Handlungen in das Dämmer des Geheimnisses, schmückte seine Stirn mit messianischem Glanze. Auch das Ostafrikaprojekt, welches das Ideal des Volkes verletzte, konnte seine Macht nicht erschüttern. Enttäuschungen wie Erfolge steigerten sein Selbstvertrauen und seine Zukunftssicherheit. So nahm ihn der Tod hin. Er starb, all der tragischen Paradoxa kaum bewußt, die er in seiner Seele trug. Sein Sterben war von der Mittagshöhe seiner Sonne bestrahlt. Er ließ auch in seinen Gegnern das Bild einer sonnenvollen, harmonisch gebundenen Erscheinung. Niemand hat die Reinheit seines Wesens, die Treue seiner Hingabe, die Aufrichtigkeit seines Wirkens angezweifelt. Er war ein Dichter; das Schicksal führte ihn seinem Volke zu und machte ihn

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zum Helden; aber er hat nie aufgehört, Dichter zu sein. Er hat viel geirrt, aber es gilt von ihm sein eigenes Wort: »Es gibt im Leben eines Volkes … Individuen ohnegleichen. Ihre Fehler und Vorzüge gehören zum unveräußerlichen Eigentum der Nation, die solche Gestalten hervorbringt. Sie müssen sich nach ihrer Natur ausleben, schaden, nützen, das Volk hinreißen … ; sie müssen Irrtümer wie eine fruchtbare Nilüberschwemmung über das Land ausgießen, für einen fernen Zweck.« 12

12. Zitat aus Das Palais Bourbon, vgl. in diesem Band, S. 127-128.

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Herzl und die Historie Für einen Menschen, der nur dann spricht, wenn er etwas zu sagen hat, ist es ein schwerer Entschluss, sich am Grabe eines verehrten und grossen Mannes mitzuteilen. Der Schauer der Ewigkeit will Worte nicht aufkommen lassen, und alles, was Menschenrede zu geben vermag, erscheint entsetzlich dürr und armselig, wo die sprachlose Macht des Todes sich kundgetan hat. Wenn man sich dann aber mit aller Kraft auf Leben und Zukunft besinnt und sich aufrafft, auch in dieser stillen, harten Stunde seine Meinung zu bekennen, dann erkenne man sich als durch den eigenen Entschluss gleichsam geheiligt und gebunden, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit und die ganze Wahrheit zu sagen, soweit man mit seinem bischen Sinne und Verstand sie ergreifen und beherrschen kann. Da sollen alle Hymnen schweigen, und nur die gefasste, gesammelte Klarheit soll sprechen. Nicht durch überschwängliche Lobeserhebung, sondern allein durch den Versuch, die Menschennatur in ihrer ganzen Tragik zu ergründen, wird der Tote geehrt. De mortuis nil nisi veritas. 1 In diesem Sinne habe ich an anderer Stelle2 mich bemüht, Theodor Herzls Persönlichkeit darzustellen, und möchte hier ein paar Worte über seine Bedeutung in der jüdischen Bewegung sagen. Wenn irgendwo, so ist es hier unerlässlich, h i sto r i s ch zu schauen. Die jüdische Bewegung, die alles umfasst, was sich an bewusst Jüdischem aus dem Dunkel zum Lichte, aus der Gefangenschaft zur Freiheit, aus dem Vegetieren zum Schaffen beweg t – die in unserer Zeit die zionistische Partei und die nationale Gruppe der jüdischen Arbeiterpartei, 3 die organisierten Schwitzarbeiter Whitechapels und die organisierten Kolonisten Palästinas, die Seufzerrhythmen der Jargondichtung 4 und die monumentalen Symbole der jüdischen Bildkunst, die Gedanken AchadHaams und die Taten Theodor Herzls umfasst –, diese jüdische Bewegung ist kein Ding von gestern und ehegestern und kein Werk einzelner Menschen, sondern das urtümlichste Lebensphänomen der jüdischen Nation, die zuerst ruckweisen und verworrenen, dann immer gleichmässigeren und geordneteren Reaktionsgeberden eines gefesselten, gepeinigten Volksorganismus. Ihre stärkste, sozusagen zentrale Energie, die 1. 2. 3. 4.

Usprünglich heißt der lateinische Spruch: de mortuis nil nisi bene, dt.: über die Toten nur Gutes. Buber wandelt das »bene« hier in »veritas«, Wahrheit, ab. [Anmerkung Buber:] In der Münchener Zeitschrift »Freistatt« vom 23. Juli. [siehe den vorangehenden Beitrag]. D. i. der Bund. »Jargon« war in weiten Kreisen ein Synonym für die jiddische Sprache.

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Sehnsucht nach einem neuen Nationalleben in Palästina ist dieselbe, ob sie Tag für Tag in bald dumpfem, bald schluchzendem Gebete, ob mitten in Jahrhunderten der Erniedrigung in einer gewaltsamen messianistischen Entladung, ob nach dem späten Eintritt in die europäische Zivilisation in den ersten ungelenken Schritten einer nationalen Politik und in den tastenden Versuchen einer vorbereitenden Arbeit an Volk und Land zur Aeusserung gelangt. Was ein einzelner Mann, und sei es auch der von einem grossen Teile des Volkes zur Diktatur erhobene, in der Bewegung geleistet hat, wie weit er es vermocht hat, Bote der Macht, die Herzen und Hände der neuen Juden erregt, oder nach seinem eigenen Worte »Diener am Licht« 5 zu sein, kann nur bestimmt werden, wenn man zuvor seinen unmittelbaren Vorgängern ihren Ort angewiesen und gewürdigt hat, was sie an neuen und fortwirkenden Elementen in die Sache hineingebracht haben. Die richtige Fragestellung scheint mir diese zu sein: nachdem die durch die französische Revolution gekennzeichnete Entwicklung der Völker den Juden die Möglichkeit gegeben hat, nicht bloss als einzelne nach dem Glück der anderen Menschen, sondern auch als Volksganzes nach der Selbständigkeit der anderen Nationalitäten zu streben, welche Männer haben es verstanden, einerseits die uralte Idee im Geiste der neugewonnenen Kulturwerte zu erneuern, anderseits Bewusstsein und Willen der Judenheit neu zu beleben und zu aktivieren, und welchen Anteil hat jeder einzelne von ihnen an dem Werke der Generationen: der modernen Form der jüdischen Bewegung? Es seien hier nur drei von diesen Männern genannt, Repräsentanten drei verschiedener Zeiten, drei verschiedener Milieus: Hess, Pinsker, Birnbaum. Nur mit mancherlei Einschränkung darf man Hess als Repräsentanten seiner Zeit bezeichnen. Er ist nicht bloss (wenn man von episodischen und fast wirkungslosen Kundgebungen absieht) der erste der Erwachenden, sondern auch der Erwecker des nächsten Geschlechtes, in dessen Welt schon viele seiner Gedanken gehören, dem einige seiner Gedanken sogar vorauseilen. Seine hegelisierende Geschichtsschematik mutet uns fremdartig, seine kräftige lebensvolle Synthese des Nationalen und Sozialen durchaus verwandt an. Sein Buch, das 1862 erschien, 6 ist nicht bloss 5.

6.

Diener (hebräisch: schammasch) ist die Bezeichnung für das Hilfslicht an dem achtarmigen Chanukkaleuchter, mit dessen Hilfe jeden Tag ein neues Licht entzündet wird. Als solchen »Diener am Licht« sah Herzl sich selbst in dem vermutlich autobiographischen Aufsatz »Die Menorah«, den er im Dezember 1897 in Die Welt (1. Jg. Nr. 31, 31. Dezember 1897, S. 1-2) veröffentlichte, vgl. dazu St. Beller, Herzl, S. 84-85. Moses Hess,: Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage, Wien 1862.

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Bekenntnis, nicht bloss Proklamation, sondern auch und vor allem Verheissung; und es enthält Ideenskizzen, die der heutige Zionismus noch nicht zu Ende gedacht hat. Wenn er es erfasst, dass in den ostjüdischen Massen allein das lebendige Saatkorn der Zukunft ruht, wenn er, wie später Achad-Haam, in der Regeneration der Herzen die erste Aufgabe erblickt, wenn er in tiefer Erkenntnis des Volkstums die Bedeutung des Chassidismus für die jüdische Bewegung zu würdigen weiss, greift er den meisten Protagonisten der nächsten Generation voraus. Er hat aus der Fülle jüdisch-historischer und jüdisch-soziologischer Wirklichkeit, die ihm die schauende Kraft seines Gefühls zugetragen und die verbindende Kraft seines Denkens geformt hatte, die Theorie des jüdischen Nationalismus geschaffen, deren beide Grundsätze, die Erklärung der jüdischen Nationalität, deren Wiedergeburt ein Teil der grossen geschichtlichen Bewegung der modernen Menschheit ist, und die Forderung der Restauration des jüdischen Staates als Basis dieser Wiedergeburt die Grundsätze aller späteren Programmatik geblieben sind. Hess war ein Einsamer in einer Zeit, die für seine Idee noch nicht reif war. Ein breiteres Wirken war ihm nicht beschieden. Er konnte nur einzelne gewinnen, verwandte Geister, Söhne der Zukunft, wie er selbst einer war. Pinsker, der seinen Mahnruf »Autoemanzipation!« 7 zwanzig Jahre nach »Rom und Jerusalem« in die Welt schickte, war schon von einer aufsteigenden, wenn auch noch schwachen Welle nationalen Bewusstseins getragen. Er ist demgemäss schon weniger Bahnbrecher, mehr Fortsetzer. Hess hatte die Lage des Volkes offenbart, Pinsker schilderte sie, stellte sie in kausalen Zusammenhang ein. Hess hatte die Seele der Nation entdeckt, Pinsker gab ihre Analyse. Analyse ist sein Grundelement. Mit dem Skalpel in der Hand geht er an die Probleme heran. Er analysiert die Emanzipation und zeigt, dass sie nur ein Postulat der Rechtslogik, niemals ein spontaner Ausdruck des Gefühls gewesen ist. Er analysiert den Antisemitismus und weist ihn als unheilbare Psychose nach. 8 Er analysiert vor allem die jüdische Entartung selbst und charakterisiert in unvergesslicher Weise ihr schwerstes Symptom, die Anorexie, den Mangel an Bedürfnis nach nationaler Selbständigkeit. Der Analytiker wird glücklich ergänzt durch den Realpolitiker; die Diagnose wächst ihm nie über die Prämissen der heilenden Tat hinaus. Er fasst die Tat positiver, praktischer, detaillierter auf als Hess; er erörtert oder streift doch mindestens die Fragen der Souveränität, der Neutralität, der Garantien, der Landnahme, der Natio7. 8.

Leon Pinsker, Autoemanzipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden, Berlin 1917. Pinsker identifiziert diese Psychose als »Gespensterfurcht« und kreiert in diesem Zusammenhang den Terminus »Judeophobie«, Autoemanzipation, S. 12.

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nalsubskription; er verlangt als Nächstes einen Nationalkongress (wie früher schon Laharanne) 9 , den er sich allerdings noch recht undemokratisch vorstellt. In der Wahl des Territoriums ist er nicht so instinktsicher wie Hess, für dessen historischen Sinn nur Palästina in Betracht kam; das machte die furchtbare, zur Aktion drängende Judenverfolgung. 10 Doch erkennt er mit edler Besonnenheit, dass die Aktion nur eine langsame und allmähliche sein kann. »Weit, sehr weit entfernt ist der Hafen, den wir mit der Seele suchen … Dem tausendjährigen Wanderer jedoch darf kein noch so weiter Weg zu lang sein.«11 Pinsker war es schon gegönnt, den Anfang der Tat zu schauen, zum Teil selbst zu lenken. Achad Haam hat manches Dunkle und Traurige aus dieser Zeit erzählt. Doch es war ein Anfang. Mochte in der Kolonieengründung nicht alles rein und vorbildlich sein, die Bilu waren doch die ersten Heroen des neuen Judentums. Mochte auch mancher Geist halb und mancher Wille brüchig sein, es ging doch ein junger, befreiender Sturm durch die Herzen. Es war eine Zeit des Elends, es war eine Zeit der Hoffnung. Man hielt den Atem an und ging mit fiebernder Seele herum. Es war, als müsste ein Wunder geschehen, und manch einer fühlte zitternd in sich die Berufung erwachen. In dieser Zeit begann der zwanzigjährige Nathan Birnbaum in Wien eine Zeitschrift herauszugeben, welche »Selbstemanzipation« hiess. Fast zehn Jahre später, 1893, veröffentlichte er eine kleine Broschüre: »Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes im eigenen Lande«.12 In diesen zehn Jahren war er, war die Bewegung herangereift, durch Arbeit und Nachdenken innerlich gewachsen. Gleichzeitig war die Bewegung auch äusserlich erstarkt, auf dem Wege natürlicher Evolution. Das zionistische Milieu entstand, zerklüftet und unfertig, aber verheissungsvoll. Es muss betont werden, dass ich hier nur den damaligen Birnbaum charakterisieren kann, nicht den späteren, schon durch das seither eingehaltene Pseudonym »Mathias Acher«13 gekennzeichneten, der über jenen hinauswuchs, in der »Jüdischen Moderne« und in späteren Arbeiten das 9. Hess zitiert in seiner Broschüre lange Passagen der 1860 erschienenen La nouvelle question d’Orient des französischen Christen Erneste Laharanne, vgl. Ernst Silberner, Moses Hess, S. 400-402. 10. Gemeint sind hier die Pogrome nach der Ermordung Zar Alexanders II, zu Beginn der achtziger Jahre. 11. Dieses Zitat aus Pinskers Autoemanzipation, S. 29, hat Achad Haam seinem berühmten Nachruf auf Pinsker »Dr. Pinsker und seine Broschüre« von 1892 (in der Sammlung Am Scheidewege) vorangestellt und beschließt ihn auch damit. 12. Nathan Birnbaum, Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande, als Mittel zur Lösung der Judenfrage. Ein Appell an die Guten und Edlen aller Nationen, Wien 1893. 13. Vgl. zu diesem Pseudonym oben, S. 74, Anm. 3.

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zu vollenden sich anschickte, was Moses Hess begonnen hatte: die Synthese der nationalen und der sozialen Idee im Judentum, und sich dann immer weiter vom politischen Zionismus entfernte. Ich betrachte hier nur den Vorgänger Herzls, den Autor der Broschüre. Was diese an Neuem gebracht hat, ist zunächst die Vertiefung des jüdischen Nationalismus, namentliche nach der Seite der Kulturprobleme hin, dann das modern formulierte Postulat der »staats- und völkerrechtlichen Gleichstellung« des jüdischen Volkes. Hier war in voller Klarheit die grundlegende, volkspsychologische Einsicht ausgesprochen, dass die jüdische Nationalität in der i nneren Ei g ena r t des Volkes begründet ist, hier in konsequenter Weiterführung Hess’scher Gedanken die Möglichkeiten einer neuen jüdischen Ku lt u r in Palästina erörtert, hier die schon heute vorhandenen Kulturkeime, insbesondere die Renaissance der hebräischen Sprache, 14 gewürdigt. Hier aber auch wurden die Grundlinien einer nationalen Politik gezogen, die sich auf d a s Volk und d i e Vö lker stützt. Kaum drei Jahre später erschien Herzls »Judenstaat«. Dieses kluge und energische Buch, mit der zusammengehaltenen Prägnanz seiner Forderungen, mit der überzeugenden Sachlichkeit seiner Begründungen, wirkte in einer Zeit des Gärens und Werdens, der Konventikel und Diskussionen vielfach klärend, mancherorten sogar befreiend. Man wird jedoch, wenn man das bis dahin ideell und programmatisch Erreichte überblickt, sich der Erkenntnis nicht verschliessen dürfen, dass die wesentliche historische Bedeutung des Buches lediglich in seinem Exposé der A kt i o n beruht. Was Hess nur angedeutet, Pinsker skizziert, Birnbaum an einzelnen Punkten ausgeführt hatte, vollendete der »Judenstaat«: er gab einen Entwurf des Weges. Das Ziel hatten jene ebenso richtig und teilweise mit weiter ausschauendem Blick bestimmt, die Ausgangspunkte hatten sie mit tieferem Verständnis der nationalen Idee, mit tieferer Ergründung des jüdischen Volkswesens dargestellt. Für sie war das völkerrechtliche Postulat einfach eine Konsequenz ihres Nationalismus: sie verlangten den »weiten, freien Boden« (Hess), das »eigene Land« (Pinsker), die »Volksheimat« (Birnbaum) als Voraussetzung der Entwicklung des Judentums zu neuem Leben und neuer Kultur, Herzl ging ausschliesslich von der Notlage der Juden aus, der Abhilfe zu schaffen ist. Jene betrachteten die Judenfrage von innen, Herzl von aussen. Jenen war sie die Frage der Erhaltung und Regeneration einzigartiger, unvergleichbarer und unersetzlicher Werte, Herzl war sie »ein verschlepptes Stück Mittelalter«. 15 Jene sahen in der Assimilation eine verhängnisvolle Abirrung, 14. Birnbaum wurde am Ende seines Weges ein radikaler Verfechter der jiddischen Sprache. 15. Der Judenstaat, S. 11. (Einleitung).

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Herzl erschien sie durchaus »nicht unrühmlich«, aber im grossen unmöglich; zweimal wiederholt er es im »Judenstaat«: »Wenn man uns in Ruhe liesse … aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen.«16 Wenn man uns in Ruhe liesse … Wenn es keine »Notlage der Juden« mehr gäbe, hätte dann noch das nationale Ideal die Flamme unserer Seele, das Bauen an der Volksheimat die Aufgabe unseres Lebens zu sein? Der »Judenstaat« sagt: nein, in einem Ton der Selbstverständlichkeit. Die wahren Juden sagen: dann erste recht! denn dann könnten wir mit freieren Köpfen und stärkeren Armen Grösseres leisten als jetzt und in unmittelbarerer Zuversicht der Erfüllung gewärtig sein. Ihnen ist die Nation ein totkrankes Wesen, an dessen Sein ihr Sein mit unzerreissbaren, geliebten Banden geknüpft ist, an dessen Leben ihr Leben hangt, dessen Sterben ihr Sterben wäre; ein totkrankes Wesen, dem man aber nicht bloss die Gesundheit wiedergeben, sondern mit ihr die Unsterblichkeit schenken könnte. Die Unsterblichkeit – die auch ihre Unsterblichkeit wäre; denn in der Volksheimat würde ihr Wirken nicht mehr abbrechen, ihr Schaffen nicht mehr ins Leere gehen, der Strom ihrer Menschlichkeit sich nicht mehr in Wüstensand verlieren, sondern ihr Seelenwerk würde von Geschlecht zu Geschlecht getragen werden wie eine nie verlöschende Fackel in einem wunderbaren Fackeltanze. Für den Herzl des »Judenstaats« aber sind wir ein Volk, weil »der Feind uns ohne unseren Willen dazu macht«. 17 Und die gleiche Auffassung waltet allen Eigenwerten der Nation gegenüber. »Wir können doch nicht hebräisch miteinander reden … Das gibt es nicht … Wir werden auch drüben bleiben, was wir jetzt sind.« 18 Herzl ist später in manchem dem Judentum näher getreten; diese Grundauffassung ist ihm geblieben. Noch in »Altneuland« wird ein Judenstaat geschildert, der nicht eine einzige Institution, nicht ein einziges Kulturgut besitzt, in dem sich die Volkspersönlichkeit der Neuhebräer in ihrer Sonderart ausgeprägt hätte. Es mag hier nicht unerwähnt bleiben, dass diese Verschiedenheiten ihren wesentlichen Ursprung in Geburt und Erziehung hatten. Hess war ein Westjude, der, ein Nachkomme ostjüdischer Rabbinen, in der Kindheit jene tiefeingreifenden, die Lebensnote bestimmenden Eindrücke eines traditionellen und doch lebendigen, im letzten Grunde mehr nationalen als religiösen Judaismus empfangen hatte, die das am unmittelbarsten wirkende Dokument der jüdischen Ko nti nu i tä t sind; und als er »nach einer zwanzigjährigen Entfremdung« zu seinem Volke zurück16. Ebd., S. 11-12 und 26. 17. Ebd., S. 26. (Abschnitt »Wirkung des Antisemitismus«) 18. Ebd., S. 75. (Abschnitt »Sprache«)

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kehrte, hatte er dessen Geschichte mit dem grossen freien Blick durchforscht, den die eingeborene Liebe allein verleihen kann. Pinsker war ein Ostjude mit westlicher Bildung; er wuchs inmitten der jüdischen Massen auf, von ihrem Düster umgeben, von ihren Seufzern umklungen, mit hingegebenem Herzen; so durchdrang ihn in Blut und Nerven das Leid seines Stammes; er litt es nicht mi t , er nahm es in sich auf, bis es ganz und gar sei n Leid war, sein ureigenstes Leid, das er aus totwunder Seele hinausschrie: »Unser Vaterland – die Fremde, unsere Einheit – die Zerstreuung, unsere Solidarität – die allgemeine Anfeindung, unsere Waffe – die Demut, unsere Wehrkraft – die Flucht, unsere Originalität – die Anpassung, unsere Zukunft – der nächste Tag.« 19 Von Birnbaum, dem gegenüber die historische, das Lebensganze umfassende Perspektive naturgemäss unanwendbar ist, sei nur die meist glücklich wirkende Mischung von Ost- und Westjudentum erwähnt und die instinktstarke Erfassung der jüdischen Proletarierpsyche – die das Urproblem der jüdischen Bewegung ist – aus einem Leben in voller nationaler Individualität und einem intensiven, nie unterbrochenen Sozialgefühl heraus. Herzl war ein Westjude ohne jüdische Tradition, ohne jüdische Kindheitseindrücke, ohne jüdische Erziehung, ohne in der Jugend selbsterworbenes jüdisches Wissen; er war in einem nichtjüdischen Milieu aufgewachsen und mit den jüdischen Massen nie in Berührung gekommen; keine menschliche Kreatur war ihm so fremd gewesen wie ein jüdischer Proletarier. Er war dem passiven Judentum treu geblieben, nicht aus Judentum, sondern aus Charakter; er trat in das aktive Judentum ein, nicht aus Judentum, sondern aus einer sich solidarisierenden Mannhaftigkeit. Er war ein ganzer Mann, er war nicht ein ganzer Jude. Ich habe seine Menschengestalt in ihrer schönen Grösse und Ueberlegenheit, in ihrer edlen Hingabe und Tatkraft, in ihrer geraden unbeugsamen Treue, auch in ihren menschlich weiten Irrtümern in diesen sieben Jahren des Kongresszionismus von Herzen bewundert; als Jude ist er mir immer halb und unvollkommen erschienen. Es ist grundfalsch, ihn als jü d i s che Persönlichkeit zu feiern. Spinoza und Israel Baalschem,20 Heine und Lassalle, auch Hess und Smolenskin21 waren Juden. In Theodor Herzl hat nichts element ar Jüdisches gelebt. Er war keine Offenbarung des Volksdämons. Die Seele unseres Volkes hat im Golus nur einige Worte gestammelt, die ihr Innerstes verkündeten; Herzl gehört nicht zu diesen Worten. Daneben wollen mir die Fehler seines Systems klein und unbedeutend 19. L. Pinsker, Autoemanzipation, S. 20. 20. Israel ben Eliezer Baal Schem Tov (ca. 1700-1760). 21. Peretz Smolenskin (1842-1885).

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erscheinen, die fast alle aus dieser einen Tatsache herkamen. Der folgenschwerste war, dass er nie die jüdische Bewegung als Ganzheit erfasste. Er hat nie begriffen, dass die zionistische Partei nur das bewusste Glied eines grossen Organismus, dass die zionistische Aktion nur der geordnete Teil einer grossen Evolution ist. Er hat den Zionismus ausschliesslich als etwas betrachtet, das gemacht wird, nicht als etwas, das w i rd und an dem alles Machen nur Vollstrecken ist; nicht als eine innere Entwicklung, die in ihren Aeusserungen von der arbeitenden Menschenhand nur gefö rd er t werden kann. So hat er auch an dieser Entwicklung nicht fühlend teilgenommen. Er hat von der jüdischen Renaissance nie mit dem Herzen gewusst. Er las wohl mitunter Uebertragungen von Bialiks Gedichten und sah sich Urys 22 jüdische Titanen an; aber das alles war für ihn nur Propaganda. Er liess den Aufruf eines Vereins jüdischer Mutualisten, der sich – eine trotz aller Schwierigkeiten überaus glückliche Idee – unter den rumänischen Handwerkern gebildet hatte, in die »Welt« geben und nahm Nachrichten von der Gründung nationaler Arbeiterorganisationen mit dem Billigungsgefühl des Parteiführers auf; aber er kümmerte sich nicht weiter um dergleichen. Er liess den Kongress tausend Francs für die Nationalbibliothek und tausend Francs für die Schule in Jaffa bewilligen; seiner Seele waren sie fremd. Einige unabhängig denkende Intellektuelle, welche die Partei verlassen hatten, waren in seinen Augen Renegaten, und Achad-Haam ein obskurer, hämischer Journalist. »Trachten Sie, sich zur Bewegung zurückzufinden«, schrieb er einmal an einen Vertreter des radikalnationalen Parteiflügels.23 Zur Bewegung! Er konnte nicht anders, als die Bewegung ganz und gar mit sich identifizieren. Das war die Wurzel seiner grössten Schwäche, aber auch die seiner grössten Kraft. Er glaubte an sich selbst nicht als an eine Person, sondern als an die Sache. Dieser Glaube gab ihm die stete, unerschütterliche Energie, die ihn zu dem konsequentesten Tatmenschen der neujüdischen Aera machte. Dadurch, dass er die Massen und einen grossen Teil der Individuen um seine Sache gruppierte, entzog er manchen anderen Punkten der Bewegung die besten Säfte; aber es ist anzuerkennen, dass er sie dadurch an dem einen erwählten Punkte um ein gewaltiges Stück weiterbrachte. Es war das grosse Verdienst seines Buches, dass es den Weg zeigte. Es war das grössere und nie genug zu würdigende Verdienst seiner Tätigkeit, dass er den Weg g i ng . Er was ein langer Weg, aber er ging ihn. Er sah 22. D. i. der Künstler Lesser Ury (1861-1931). 23. Diesen Satz schrieb Herzl nicht an irgendeinen Vertreter, sondern an Buber selbst, vgl. B. Schäfer, Die Demokratische Fraktion, S. 305.

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nicht nach rechts und links, aber er sah auf sein Ziel. Er zertrat manches junge Keimen auf seinem Wege, aber sein Schritt blieb fest. Er kämpfte gegen Andersmeinende, als wären sie Feinde der Sache; denn die Sache und seine Tat waren für ihn eins, und seiner Tat fühlte er sich allein gewachsen. In diesem Gefühl war sein aufrechter, unerschütterlicher Optimismus begründet, und seine straffe, unermüdliche Energie. Er hatte den Stolz seiner Berufung, einen zuweilen zerstörenden, oft fruchtbaren Stolz. So konnte er in gleichmässig souveräner Haltung den widrigsten Hindernissen zum Trotz das leisten, was er geleistet hat. Seine Leistung kann man im wesentlichen wohl in ei nem Wort zusammenfassen: Formgebung. In einer Zeit des Gärens und Werdens, des Wogens und Treibens war er gekommen. Tausend Dinge bereiteten sich, noch war alles ungeklärt, Einfälle schwirrten hinüber und herüber, Pläne reiften still in verschwiegenen Herzen. Die grundlegenden Schriften waren geschrieben, die Gedanken lebten in der Diskussion, aber die Idee hatte sich zu keiner gemeinsamen Programmformel verdichtet. Es war eine Zeit der Ahnung und der Sehnsucht, der weiten Geistesflüge und der bebenden Seelenschwingungen. Es war die Zeit der Vieldeutigkeit, aus der noch alles werden konnte. Herzl brachte die Eindeutigkeit herein, seine Eindeutigkeit. Der geistige Stoff des Zionismus war eine noch unbestimmte Masse mit unendlichen Formmöglichkeiten. Herzl legte seine Hand mit festem, gestaltendem Druck darauf. Eine sichere, aber unachtsame Hand. Wieviel edle Möglichkeiten wurden getötet! Immerhin eine Künstlerhand. Die zionistische Organisation entstand. Fast will es mir erscheinen, dass es zu früh geschah. Aber nun war sie da. Nun hatte sich die Bewegung in einer Partei konzentriert. Zum Guten und zum Bösen. Zum Guten, weil nun ein Arbeitsorgan da war, das ein Werkzeug der grossen Doppelaufgabe werden konnte: der Gew i nnu ng und der Vor berei t u ng von Volk und Land. Zum Bösen, weil nur die erste Hälfte der Aufgabe Geltung hatte, und weil auch sie allzu eng aufgefasst und behandelt wurde: die Gewinnung des Volkes als Agitation für den Beitritt zur Partei und den Beitrag zu den Parteiinstitutionen; die Gewinnung des Landes als diplomatische Tätigkeit. Dass das Volk zu kolonisationsfähigem Menschenmaterial erzogen, dass in dem Lande ein national organisiertes Zentrum der künftigen Ansiedelung geschaffen, dass Volk und Land von Grund aus erforscht werden muss, 24 diese Vor24. [Anmerkung Buber:] Diese letztere Forderung wurde allerdings im »Judenstaat« wiederholt ausgesprochen; die Ausführung ist jedoch zu einem Teil (Palästina) erst nach dem letzten Kongress in Angriff genommen, zum anderen (Judenstatistik) bis heute der von der Partei nicht einmal unterstützten persönlichen Initiative überlassen geblieben.

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bereitungsaufgabe wurde fast gar nicht beachtet. Es wurde des weiteren nicht erkannt, dass die wahrhafte Gewinnung des Volke nur auf dem Wege einer Regeneration der Herzen, 25 und die wahrhafte Gewinnung des Landes nur auf dem Wege positiver Arbeit in Palästina geschehen kann. Und deshalb muss heute nach sechs Kongressen, im dritten Geschäftsjahre unserer einzigartigen Volksbank, 26 nach dem verheissungsvollen Aufblühen unserer schönsten, bedeutungsvollsten Institution, des Nationalfonds, 27 vor allem nach sieben, von intensivster, hingebendster, energiedurchglühter Tätigkeit erfüllten Arbeitsjahren des Mannes, den wir verloren haben, heute muss gesagt werden: die Aufgabe liegt noch vor uns. Es ist noch alles zu tun. Von den politischen Erfolgen ist es schwer zu reden, weil das Material nicht zugänglich ist. Herzl war der erste Jude, der im Exil jüdische Politik gemacht hat. Das wird nie vergessen werden. Herzl hat im Namen unseres Volkes mit den Machthabern Europas verhandelt. Diese Tatsache kann in unserer Geschichte nicht unverzeichnet bleiben. Aber den Verhandlungen fehlte naturgemäss der staatliche Rückhalt, fehlte auch der kapitalistische. Und doch wollte er nicht jenen anderen Weg eingeschlagen, den Weg der langsamen, bescheidenen und aussichtsreichen Politik: der zweckdienlichen Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern und Gewerbetreibenden, ohne Autonomie, aber im Hinblick auf Autonomie; und zunächst den Weg einer ebenso bescheidenen und verhältnismässig einfachen Diplomatie: der Verhandlungen mit der Türkei wegen Aufhebung der die Besiedelung hindernden gesetzlichen Bestimmungen. 28 Die Frage entzieht sich heute jedem weiteren Urteil. Und jenseits alles abschliessenden Urteils steht für uns auch, im Lichte der Historie betrachtet, die Persönlichkeit Theodor Herzls. Es ist uns nicht gegeben, seine heimlichste Art zu erschliessen, seinem Geiste den Ort zu bestimmen.29 Er, der den Zionismus zum Gegenstand des öffentlichen Interesses gemacht hat, war selbst im Grunde ein durchaus unöf25. Die Formulierung verweist auf Achad Haams berühmten Aufsatz »Die Lehre des Herzens«, hebr. »techijat ha-levavot« (Am Scheidewege, Bd. 1, 1923, S. 195-210). 26. Die zionistische Bank »The Jewish Colonial Trust« bzw. »Jüdische Kolonialbank« wurde am 20. März 1899 als Aktiengesellschaft in London eingetragen, begann ihre Geschäftstätigkeit aber erst im Jahre 1902, nachdem das benötigte Geschäftskapitel gezeichnet war. 27. Der Jüdische Nationalfonds, bekannt unter dem hebr. Namen »Keren Kajemet LeIsrael« wurde nach mehreren Vorläufen auf dem fünften Kongreß 1901 zum Erwerb von Boden in Palästina gegründet. Erst 1907 wurde er in London eingetragen. 28. Das genau versuchte Herzl auf verschiedenen Wegen, wie die Tagebücher beweisen. 29. Buber hat dann aber abschließend mit seinem hebräischen Aufsatz »Pinsker, Herzl we-Zion« im Jahre 1942 diese Bestimmung vorgenommen, vgl. B. Schäfer, Er und Wir, S. 497.

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fentlicher Mensch. In manche äussere Konflikte eingestellt, die Weltanschauung und Parteiung, Denkgewohnheiten und Beruf umspannten, trug er in seiner Seele tief verschlossen schweren, unausgeglichenen inneren Widerstreit, kaum bewusst, dennoch leidvoll. Er war hart und innig, masslos und haltungsvoll, vornehm und nachtragend, Stimmungsmensch und Tatmensch, Träumer und Praktiker. Das Rätsel seines Wesens ist ungelöst. Er war der Heros einer Uebergangszeit. Er war der Herr eines kranken Volkes. Seine grösste Tat ist die, die er nicht mit seinem Willen gewirkt hat: dass er diesem Volke ein Bild gab. Nicht das Bild eines wirklichen Menschen. Ein ideales Bild, ein aufrichtendes, ermutigendes Vorbild. So bilden die Dichter in ihren Werken ihren Wunsch von sich zur Gestalt; sie schaffen den, der sie sein möchten. Theodor Herzl war kein bedeutender Dichter im Wort und in der Kunstform. Er war ein grosser Dichter im Unbewussten des eigenen Lebens. Lebend, bauend, irrend, Gutes und Böses für sein Volk bewirkend, stellte er, ohne es zu wissen, eine Bildsäule auf vor dem Volke, die das Volk mit seinem Namen nennt. Eine Bildsäule ohne Irrtum und Fehle, mit den reinen Zügen des Genius, die Stirn durchleuchtet vom Glanze des Messias. Ein Geschenk der Illusion. Ein Geschenk der Gnade.

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Zur Aufklärung Zu dem in No. 45 der »Jüdischen Rundschau« erschienenen Artikel »Wahrheit für Wahrheit« 1 von »Veritas«, 2 den ich erst spät zu Gesicht bekommen habe, will ich zunächst über die darin gehandhabte Methode Einiges bemerken. Diese Methode besteht darin, dass Herr Veritas aus dem Zusammenhange gerissene Sätze von mir anführt und daran mit den überleitenden Worten »wo mi t er s agen w i ll« die unsinnigste, geradezu bei den Haaren herbeigezogene Missdeutung knüpft. Diese Methode besteht ferner darin, dass von Auesserungen wie »Theodor Herzl war kein bedeutender Dichter im Wort und in der Kunstform. Er war ein grosser Dichter im Unbewussten des eigenen Lebens« einfach die zweite Hälfte unterschlagen wird, wodurch beinahe das Gegenteil des von mir Gesagten herauskommt; dass Sätze, die nicht zu einander gehören, zusammengetan, und Sätze, die auf einander folgen, verstreut werden, bis endlich der von Herrn Veritas gewünschte Sinn erlangt ist. Aber ihren Höhepunkt erreicht diese ehrenhafte Methode darin, dass sie ganze Perioden als aus meinem Aufsatze stammend i n Anfü hr u ng s zei chen »zitiert« d i e i ch ni e ges chr i eben ha be: man wird die Seite 381, 1. Spalte, 4. Absatz »angeführten« ersten zwei Sätze vergeblich bei mir suchen, 3 und auch dem Sinn nach sind sie eine Verzerrung und Entstellung meiner Ausführungen. Solcher literarischen Redlichkeit gegenüber bleibt mir nichts übrig als die Leser der »Rundschau« zu ersuchen, meinen Aufsatz zu vergleichen. Hingegen möchte ich mit Herrn Veritas selbst über einen anderen Punkt abrechnen. Das ist der von ihm beliebte persönliche Ton, der noch tief unter seiner soeben charakterisierten Methode steht und gegen den ich mich auf das entschiedenste verwahre. Was in aller Welt berechtigt diesen Herrn dazu, an der Sachlichkeit meiner Gesinnung zu zweifeln und meine prinzipielle Kritik wie heimtückische Angriffe zu erörtern? 1. 2. 3.

Veritas, »Wahrheit für Wahrheit«, in: Jüdische Rundschau, 9. Jg., Nr. 45, 11. Nov. 1904, S. 380-383. Dieses Pseudonym nimmt ironischerweise das im lateinischen Vers von »bene« zu »veritas« abgewandelte Wort aus Bubers einleitenden Worten in »Herzl und die Historie« auf. (Siehe in diesem Band, S. 115) Der Absatz lautet: »Herzl habe eigentlich garnichts neues geschaffen, denn er hat bereits alles fertig vorgefunden. Hess, Pinsker und Birnbaum haben ihm nicht allein vorgearbeitet, sondern ihm alles fertig in die Hand gegeben, das ganze Material, ja, ein Material, das er sogar nicht zu erfassen vermochte, denn sie haben das Ziel mit weitschauenderem Blick bestimmt, die Ausgangspunkte mit tieferem Verständnis der nationalen Idee, mit tieferer Ergründung des jüdischen Volkswesens dargestellt.«

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Zur Aufklärung

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Sollte es in unserer Partei so weit gekommen sein, dass man nach sieben Jahren schriftstellerischer und organisatorischer Arbeit in der Bewegung nicht eine von der vorherrschenden Ansicht abweichende Anschauung äussern darf, ohne der niedrigsten Beweggründe verdächtigt zu werden? Möge dieser Herr, der es wagt, den Ausdruck schmerzgeborener, schmerzvoller Ueberzeugung wie einen Ausfluss hämischer Gehässigkeit zu behandeln, öffentlich erklären, worauf er Behauptungen gründet wie die, ich suchte, anscheinend lobend, bis ins Zwerghafte zu verkleinern. Möge er sagen, wodurch – in meinem Leben, in meinen Schriften – er sich zu solcher Auffassung berechtigt glaubt. Zu der Sache selbst kann ich nur auf die einleitende Frage meines Aufsatzes hinweisen: »welche Männer haben es verstanden, einerseits die uralte Idee im Geiste der neugewonnenen Kulturwerte zu erneuern, anderseits Bewusstsein und Willen der Judenheit neu zu beleben und zu aktivieren?«4 Für den ersten Teil dieser Frage habe ich den Vorgängern, für den zweiten Herzl die dominierende Stellung zuweisen zu müssen geglaubt. Ich habe nachgewiesen, dass die Entwicklung der Id ee sich im wesentlichen vor Herzl vollzogen hat; 5 ich habe dargelegt, dass die Entwicklung der Bewegu ng Herzl das Wesentliche zu verdanken hat: Weg und Form. »Es war das grosse Verdienst seines Buches«, sagte ich, »dass es den Weg zeigte. Es war das grössere und nie genug zu würdigende Verdienst seiner Tätigkeit, dass er den Weg g i ng .« Allerdings: auch die Irrtümer dieses Weges habe ich nicht verschwiegen, nach meinem Wissen und Gewissen handelnd. Ueber diese Irrtümer, die Herr Veritas für Vorzüge hält, werde ich mich mit ihm nicht auseinandersetzen. Es gibt ein subjektives Apriori, gegen das man nicht ankämpfen kann. Bei vielen Zionisten besteht es darin, dass sie die Partei über die Idee setzen. Was meine Auffassung der Persö nli chkei t Herzls betrifft, möchte ich hier nur auf meinen Aufsatz in der »Freistatt« vom 23. Juli 6 verweisen, wo sie genauer ausgeführt und motiviert wird. Dieser Aufsatz schliesst mit den, Herzls Buche »Das Palais Bourbon« entnommenen Worten: »Es gibt im Leben eines Volkes … Individuen ohnegleichen. Ihre Fehler und Vorzüge gehören zum unveräusserlichen Eigentum einer Nation, die solche Gestalten hervorbringt. Sie müssen sich nach ihrer

4. 5.

6.

In diesem Band, S. 116. [Anmerkung Buber:] Es blieb Herrn Veritas vorbehalten, die Männer, die eine erst später und von anderen i n g rö ss e rem Ma s s st abe realisierte Idee geschaffen und ausgestaltet haben, als Handlanger zu bezeichnen; so wären demnach z. B. Marx und Lassalle zu nennen. In diesem Band, S. 107-114.

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Natur ausleben, schaden, nützen, das Volk hinreissen … ; sie müssen Irrtümer wie eine fruchtbare Nilüberschwemmung über das Land ausgiessen, für einen fernen Zweck.«

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Er und Wir I Als das Volkstum für uns, die wir heute dreißig und älter sind, noch das war, das wir uns erobert hatten und das wir zu verteidigen hatten gegen den Ansturm der »Tatsachen«, als es für uns noch Idee war und nicht der Weg, Parole und nicht das Leben, Programm und nicht das Werk: da sahen wir an den Menschen, die uns in der jüdischen Bewegung begegneten, nicht ihr Menschentum; wir sahen nur, ob sie unserer Idee, unserer Parole, unserem Programm konform waren oder nicht. Es war, als stünden wir ohne einen Augenblick der Rast und Besinnung, Tag für Tag, Jahr für Jahr, im Schlachtgetümmel, wo man von Menschen umringt ist und kein Menschengesicht sieht. Und es darf nicht vergessen werden, daß wir nach vielen Fronten kämpfen mußten. Das soll aber nicht beschönigen, daß wir Doktrinäre waren, lyrische Doktrinäre: wir fühlten die Größe und die Schönheit im Sturm der Historie, der uns umbrauste (oder zu umbrausen schien?), in der Woge der Tat, die uns trug (oder zu tragen schien?), in den Flammen des jüdischen Erlebnisses, das uns die Seele sprengte (dies Eine war gewiß kein Schein – erinnert euch, ihr, die ihr nun dreißig und älter seid, erinnert euch!) – aber wir fühlten sie nicht, wir fühlten sie nicht genug in den einzelnen Menschenbildern, die uns entgegentraten. Wir fühlten sie nicht genug, weil wir Doktrinäre waren, die vor allem nach dem Inhalt eines Menschengeistes fragten. Wie denkst du über das Wesen des Judentums? wie denkst du über die jüdische Kultur? wie denkst du über die Arbeit in Palästina? Das war das Richtmaß. Die entscheidenden Jahre des Erdenlebens sind seither vergangen, und wir sind anders geworden. Ganz langsam und unmerklich wuchs das Volkstum in unsere Menschlichkeit hinein, bis es mit ihr zu voller Einheit und Natur verschmolz. Da erkannten wir im Lichte der Unbedingtheit das Judentum, das in uns lebt als die Wirklichkeit der Wirklichkeiten, das ewig ist wie die lebendige Seele und unantastbar wie sie. Da war es keine Idee mehr, sondern Richtung, Schwung, Sicherheit unseres Weges; keine Parole mehr, sondern Ton, Rhythmus, Melodie unseres Lebens; kein Programm mehr, sondern Trieb, Energie, Sinn unseres Werkes. Nun erst lernten wir in Wahrheit das Menschentum der Menschen sehen, die uns in der jüdischen Bewegung begegneten und – begegnet waren. Nun erst erkannten wir, daß das Entscheidende – das Entscheidende für die Menschheit, für das Judentum, für die jüdische Sache – nicht der In-

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halt eines Menschengeistes, sondern seine Art ist. Gleichviel, ob unsere Anschauung vom Wesen des Judentums, von der jüdischen Kultur, von der Arbeit in Palästina dieselbe geblieben oder eine andere geworden ist: unser Richtmaß wurde hinfällig vor dem Menschentum, dessen wir inne wurden. Wie kläglich zerschellt die kleine Welle des Kampfes an den Felsentoren der Seele! Das reine Schauen kam über uns. Und nun erst durften wir uns in Wahrheit auf einen Menschen besinnen, der tot ist.

II Theodor Herzl dachte über die jüdische Sache anders als wir, er sah sie anders. Nicht von den Einzelheiten, nicht von seiner Auffassung dessen, was zu tun und was zu lassen sei, nicht von seinen Zustimmungen und Ablehnungen soll hier gesprochen werden. Was das im Grunde war, worin er anders dachte, anders sah als wir, das habe ich damals, vor sechs Jahren, als ich mich vom Schlachtgetümmel, vom heroischen Leben an der Oberfläche noch nicht freigemacht hatte, als ich noch in der Gewalt der Doktrin, im Inhaltsurteil befangen war, so – und wie ich allerdings noch jetzt glaube, richtig – formuliert: 1 »Die Erkenntnis, daß die wahre Judenfrage eine innere und individuelle ist, nämlich die Stellungnahme jedes einzelnen Juden zu der ererbten Wesensbesonderheit, die er in sich vorfindet, zu seinem inneren Judentum, und daß dieses allein das Volk statuiert, war Herzl versagt. Deshalb ist er im ›Judenstaat‹ und in allen seinen späteren Kundgebungen an dem Problem der jüdischen Eigenart und ihrer Produktivierung, das eines der merkwürdigsten Kulturprobleme ist, vorübergegangen.«2 Ich wiederhole es: richtig erscheint mir diese Formulierung auch heute noch. Aber jenseits ihrer, von ihr unberührt, erscheint mir das Wes ent li che. Das Wesentliche nenne ich dies, daß in diesem Mangel eingeschlossen Theodor Herzls Grö ße ruhte, seine für uns – für uns als Juden – vorbildliche Größe. Und daß sie uns doch wieder, so wie sie sich in ihm dargestellt hat, ewig unzugänglich bleiben muß, weil sie naiv, primär, elementar ist: wie alle Größe das Werk eines Mangels, eines elementaren Mangels, den wir nicht besitzen, – wir Problematiker. Woher kommt uns denn die Erkenntnis, daß die wahre Judenfrage eine innere ist? Daher kommt sie uns, weil uns das Judentum in uns als Pro-

1. 2.

[Anmerkung Buber:] In der Wochenschrift »Freistatt« vom 23. Juli 1904. In diesem Band, S. 109.

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blem gegeben ist; – weil uns unsere Innerlichkeit als Problem gegeben ist; – weil uns das Dasein als Problem gegeben ist. Das ist das große und tragische Judenerbe: die Problematik, die Golusform der inneren Entzweiung. 3 Der inneren Entzweiung! Aus der Sehnsucht, sich von ihr zu erlösen, sind alle großen Einheitsgebilde des Judentums entstanden. Aber der Golusjude, zum Schaffen neuer Einheitsgebilde zu schwach, wurde an ihr zum Problematiker. Dem Elementaraktiven ist seine Innerlichkeit als eine Fülle von Impulsen gegeben, deren er nur inne wird, um sie auszuwirken. Dem Elementaraktiven ist das Dasein als eine Fülle von Wirklichkeit gegeben, die ihn umbildet, die aber ungeduldig darauf wartet, von ihm umgebildet zu werden. Dem Problematiker ist seine Innerlichkeit als eine Fülle von Fragen gegeben, die von ihm eine Antwort heischen, und nur im Absoluten, nie im Persönlichen eine endgültige Antwort erlangen können. Dem Problematiker ist das Dasein als eine Fülle von Widersprüchen gegeben, die von ihm gelöst werden wollen, und nur im Metaphysischen, nie im Empirischen eine endgültige Lösung zulassen. Des Elementaraktiven Trieb zu handeln ist so stark, daß es ihn hindert, in reiner Kraft zu erkennen. Des Problematikers Trieb zu erkennen ist so stark, daß es ihn hindert, in reiner Kraft zu handeln. Der Elementaraktive wird sich seines Judentums bewußt: da erwacht in ihm der Wille, den Juden zu helfen, denen er sich nun zugehörig fühlt, sie dahin zu bringen, wo ihnen Freiheit und Sicherheit zuteil werden kann. Nun tut er, was ihm sein Wille eingibt. Etwas anderes als das sieht er nicht. Der Problematiker wird sich seines Judentums bewußt: da umfängt ihn der ungeheure Widerspruch, das ungeheure Paradox dieser Existenz »Jude«. Er sieht alles, alle Entartung, alle Schuld, alle innere Hemmung. Ehe er handeln kann, muß er erst tausend Verzweiflungen niederringen. Der Elementaraktive wandelt im Lichte, auch wenn er irrt. Der Problematiker leidet im Dunkel, auch wenn er erkennt. Der Irrtum des einen ist zuweilen fruchtbarer als die Erkenntnis des anderen.

3.

Diese Problematik ist der Hauptgegenstand der ersten der Drei Reden über das Judentum.

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III Dies ist die vorbildliche Größe Theodor Herzls, daß er ein reiner und starker Elementaraktiver war. Vorbildlich nenne ich sie, weil sie eine Aufgabe stellt, eine der größten Aufgaben, die die Menschenseele kennt: in sich zur Einheit zu gelangen. Denn es gibt für den Problematiker einen Weg zur Überwindung seiner Problematik. Freilich, zum Naiven, Primären, Elementaren hat er keinen Zugang. Dieses wird nur besessen, nicht erworben. Er kann seine innere Entzweiung nicht aufheben. Aber er kann sich über sie hinaus schwingen, jene Geeintheit der Seelenkräfte, die fähig wird Erleu cht u ng zu empfangen; Erleuchtung, die Werk und Tat lehrt. Keines Problems Dunkel ist so tief, daß die Erleuchtung es nicht durchstrahlen könnte. Aber um sie zu empfangen, muß der Problematiker so einheitlich werd en, wie der Elementaraktive von vornherein i s t . So ist der Elementaraktive sein Vorbild. Dies ist die höchste Form der Erziehung: einheitliches Dasein. Wir werden von einem großen Toten erzogen. Durch sein einheitliches Dasein, das uns jetzt lebendiger als je ist. Es gibt aber keine Befreiung des Judentums, keinen Weg zu einem neu en Judenvolke ohne Überwindung der Problematik. So allein können die schöpferischen Instinkte losgemacht werden. Denn die Problematik ist die Hemmung des Schöpferischen. Spinoza ist das große Beispiel, wie sich der Jude seiner Problematik entwinden muß, um zur echten Erkenntnis, das ist zur Einheit und zur Erleuchtung, zu kommen. Die Erde Palästinas wird uns nicht umwandeln, wenn wir uns nicht selbst umwandeln. Sie wird nur festigen, sichern, vollenden können. Es g i bt a ber ei ne Umw and lu ng d u rch d en Wi ll en. Das haben alle schöpferischen Juden gewußt. Spinoza ist das große Vorbild für das denkende Leben. Aber das, worauf es für uns heutige Juden, die wir in der Krisis, in der Entscheidung, im Übergang stehen, vor allem ankommt, ist nicht das denkende, sondern das handelnde Leben. Theodor Herzl ist ein Führer zum handelnden Leben.

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IV Während ich dies niederschreibe, kommt es plötzlich über mich: jetzt würde er fünfzig Jahre alt werden. Ich habe das früher nicht so verstanden, wie in diesem Augenblick, dieses Einfache und Grausame, vor dem das Herz stillstehen und der Mund verstummen muß. Und nun fühle ich es, wie ich es noch nie fühlte, daß wir verwaist sind. a Und nun weiß ich, wie ich es noch nie wußte was uns fehlt. Nicht dieses oder jenes Programm. Nicht diese oder jene Methode. Nicht diese oder jene Arbeit. Nur Größe! Theodor Herzls Fahrten nach dem Ziel mögen Irrfahrten gewesen sein. Aber wenn er von seinen Fahrten sprach, zittert die Seele der Millionen vor Sehnsucht, vor Erwartung, vor Glück. Vor Glück über ihn! Vor Größe, vor Größe durch sei ne Größe zitterte die Seele, die stumme Seele der Millionen, wachte, stammelte, lebte. Aus solchem Leben allein kann das neue Volk geboren werden, das wir ersehnen. Reine Kraft! Einheit! Größe! Um dieses Eine laßt uns das Schicksal bitten.

a.

Die folgenden Zeilen sind in JuJ gestrichen.

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Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform Vor t r a g gehalten am 2. Mai 1914 im Verein jüdischer Hochschüler Ba r Kochba i n Pr a g Liebe Freunde! Ich möchte Euch bitten, das was ich hier sage, nicht als einen Vortrag zu betrachten, sondern als einen Versuch von mir, mit euch, von denen ich mehrere nicht kenne, in Kontakt zu kommen, und einen Versuch, den Beginn einer Aussprache über das uns allen wichtigste Problem zu stiften. Das was ich in diesem Sinne sagen möchte, ist weniger eine Reihe fertiger Formulierungen, also durchaus nicht das, was ich in einem öffentlichen Vortrag zu geben versuche. Dinge, die sich mir zu Formulierungen gestaltet haben, in der mir möglichst reifen Form darzubieten, sondern ich möchte ein paar Thesen aufstellen und euch bitten, das ihr das saget, was ihr zu diesen Dingen auf dem Herzen habet. Ihr könnet mir keine grössere Freundlichkeit erweisen, als dadurch, dass ihr mir freimütig ganz rückhaltlos saget, wie ihr zu diesen Dingen gedacht, und ich dann versuche, manches von dem, was noch unerklärt ist, zu erklären. Das Problem, das ich meine und das ich das uns wichtigste genannte habe, ist der Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform. Um das klar zu machen, was ich meine, möchte ich darauf hinweisen, dass heute allgemein eine ganz unrichtige Klassifizierung der Menschen herrschend ist. Man klassifiziert die Menschen in unserer Gesellschaft gewöhnlich im weitesten Sinne nach ihrem Bekenntnis, nach ihren Meinungen über z. B. soziale und politische Gegenstände, nach ihrer Parteizugehörigkeit. Ganz abgesehen davon, dass die Partei ein so künstliches, mittelbares, bestandloses Gebilde ist, durchaus unserer Zeit, die eben eine Uebergangszeit ist, zugehörig, ganz abgesehen davon halte ich diese Klassifizierung nach Bekenntnissen für falsch. Es ist nicht wahr, dass das die verschiedenen Arten von Menschen sind, z. B. der Sozialist, der Liberale, Konservative, das sind gar nicht die entscheidenden Arten von Menschen und der wirklichen Einteilung der Menschen gegenüber, ihrer Art nach, ihrem Wesen, ihrem Leben nach, ist diese Unterscheidung nach Bekenntnissen und Meinungen eine ganz zufällige und unwichtige. Vielmehr scheint mir die richtige Unterscheidung die zu sein, zwischen dem fiktiven Sozialisten und dem realen Sozialisten, zwischen dem fiktiven Liberalen und dem realen Liberalen, zwischen dem fiktiven Konservativen und dem realen Konservativen allgemein ausgedrückt, zwischen den

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Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform 1

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Menschen, die den Liberatismus, Sozialismus, Konservatismus meinen, und zwischen den Menschen, die ihn leben. Jedes dieser heute mehr oder weniger volkstümlichen Bekenntnisse stellt bloss als Bekenntnis betrachtet einen Zusammenhang von Meinungen dar, der die Menschen, die sich zu diesen Meinungen bekennen in keiner wirklich ihr Leben bestimmender Weise gestaltet und ich möchte behaupten, dass zwischen einem wirklichen Sozialisten und einem wirklichen Konservativen, das heisst zwischen einem Menschen, der seinen Sozialismus lebt und sein ganzes Leben durch dieses bestimmt sein lässt, dass es die Realität, die Verkörperung ist, dass zwischen diesem Menschen und dem realen Konservativen, der seine Idee geradeso wahrhaft verwirklicht und vollständig zu leben versucht, dass zwischen beiden Menschen ein grösserer, echterer Zusammenhang besteht, als zwischen dem realen und fiktiven Sozialisten, zwischen dem realen und fiktiven Konservativen, zwischen dem realen und fiktiven Liberalen, d. h. zwischen den Menschen, die sich in dieser etwas konfusen Zeit als zusammengehörig betrachten. Eben nun für diese Einteilung die ich für die richtige halte, bestehen zwei Kriterien; man kann fragen, um beim Sozialisten zu bleiben, woraus kommt der Sozialismus dieses Menschen, und worin äussert sich der Sozialismus dieses Menschen. Das erste Kriterium nenne ich die Lebensanschauung, das zweite die Lebensform. Der Sozialismus eines Menschen ist dann real zu nennen, wenn er aus einer realen Lebensanschauung kommt, wenn dieser Mensch in der Struktur seines Wesens, in seiner Natur, in seinem Temperament, Charakter ein Sozialist ist, wenn dieses sein Bekenntniss nur Ausdruck dieser Lebensart ist, wenn sich darin nur etwas formuliert, was er vorformelhaft in dem konzentrierten Zustand des sprachlosen Daseins schon vorgebildet besitzt. Und das zweite Kriterium ist: Der Sozialismus ist real, wenn er nur auch dieses Leben formt, wenn er nicht bloss Disposition bleibt, sondern wenn er aus der Disposition und Lebensanschauung auch dieses Leben formt, zum Leben, zum Inhalt auch Gestalt gibt und der Mensch dieses Leben lebt wie ein Werk, wie ein Kunstwerk, gestaltet, durchgebildet. So verhält es sich auch mit dem Zionismus. Was wir im allgemeinen Zionismus zu nennen gewohnt sind, ist eine etwas bestandlose Kategorie, wie das, was wir Sozialismus nennen, weil wir uns nach dem Bekenntnis richten und zwei verschiedene Dinge, den Zionismus als blosses Bekenntnis und den gelebten Zionismus, den Zionismus als reale Lebensanschauung und Lebensform, durcheinanderwerfen; das sind zwei verschiedene Dinge. Der Zionismus als Bekenntnis ist eine vielleicht parteitaktische, 1.

Vermutlich »Liberalismus«

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parteistrategisch recht nützliche Sache, – ich habe keine eigentliche Sachverständlichkeit auf diesem Gebiete, aber das Empfinden ist sehr stark, dass er mit dem wesentlichen Leben, mit den wesentlichen lebendigen Problemen, die uns angehen, gar nichts zu tun hat, das die Menschen, die Zionisten nur nach dem Bekenntnisse sind, die ich die fiktiven nennen muss, mit den wirklichen Zionisten, die ihren Zionismus zu leben versuchen, eben nur den Namen gemein haben. Für diesen realen Zionismus gibt es ein doppelt Kriterium: woher er im einzelnen Zionisten kommt und worin er sich bei ihm äussert. Die erste Frage, woher er kommt, welcher Lebensanschauung der reale Zionismus dieses Menschen, den wir im Auge haben, entspricht, diese Frage kann man auch so stellen; was für eine Art Menschen ist dieser Zionist? Es ist im Grunde eine Frage nicht nach dem spezifisch jüdischen, sondern nach dem menschlichen Gehalte dieses Zionisten. Und wenn wir fragen: Was für ein Mensch ist er? dann können wir auch unmittelbar beurteilen, welcher Art sein Zionismus ist. Ich möchte nun dies in eine abstrakte Form einer These bringen: Ich möchte Zionisten als Lebensanschauung in diesem Sinne diejenigen unter den Juden nennen, die das, was sie sind, wahrhaft und vollkommen sein wollen, diejenigen unter den Juden, die darnach streben, sich zu verwirklichen; die anderen, ob die sich Zionisten oder wie immer nennen mögen, die anderen wären die, die sich mit dem begnügen, was sie empirisch, tatsächlich sind, welche nicht ihr im empirischen Sein noch nicht realisiertes Wesen verwirklichen wollen, sondern die sich mit dem augenblicklichen, d. h. mit dem Nicht sein, mit dem Unwirklichen begnügen. Das wirkliche Sein ist die Verwirklichung dessen was im Menschen angelegt ist; die sich mit dem Empirischen, Tatsächlichen, als mit diesem Nichtwirklichsein begnügen, bleiben im Fiktiven. Diese Menschen eignen sich nicht dazu, Zionisten zu sein, und zumindest so lange sie in diesem Zustande des nicht wirklichen, des fiktiven Menschentums, der verdammten Bedürfnislosigkeit, um ein Wort Lassalles zu gebrauchen, verharren, können sie nicht hoffen, Zionisten zu werden. Dies ist, ganz formal ausgedrückt, was ich unter Zionismus als Lebensanschauung verstehe. Zionismus als Lebensform – das lässt uns wohl gleich an die so schwierige Frage der jüdischen Lebensformen denken. Wir sind von der Lebensform der jüdischen Tradition abgeschnitten und wir haben keine neue. Es hat sich meines Wissens auch in Palästina noch keine jüdische Lebensform entwickelt, in dieser Beziehung ist Palästina noch ein Stück des Galuth. Was kann anstelle dieser Lebensform, die wir nicht haben, treten? Ohne Form können wir nicht leben, wir können das wahrhaft vollkommene Leben eines Zionisten ohne eine jüdische Lebensform nicht leben.

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Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform

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Was kann uns diese Lebensform geben? Man hat behauptet, der Zionismus könne es. Aber mit aller Schärfe möchte ich aussprechen, dass der Zionismus als Bekenntnis das nicht kann. Nur der Zionismus als gelebtes Leben, als Realität kann auf unser Leben formend einwirken. Ich möchte nur an ein paar herausgegriffenen Hauptpunkten charakterisieren, was ich unter dem Leben, unter der Lebensform eines realen Zionisten verstehe. Ich sagte schon: die Lebensanschauung eines realen Zionisten ist diese, dass dieser Mensch sich verwirklichen will; dieses allgemein menschliche Fundament ist dieses, dass dieser Mensch, das was er ist, wahrhaft und vollkommen leben will. Da muss er erst wahrhaft und vollkommen dasein, ich meine, einfach menschlich. Ich kann mir keinen Menschen denken, der zugleich ein Spieler und Zionist, zugleich lüstern und Zionist, zugleich boshaft und Zionist sein kann. Wenn er das erste ist, dann ist er noch nicht Zionist, denn dies ist das einfachste Fundament der Realität, dass ein Mensch zunächst da sei, wahrhaft und vollkommen und darum kann er nicht negativ sein. Allerdings ist diese Formulierung noch negativ; dieses natürliche Ethos ist zunächst noch negativ, es sind damit bloss die Inkompatibilitäten charakterisiert. Es gibt noch ein allgemeines menschliches positives Ethos, das dem Zionistsein zugrunde liegt und das kann man etwa charakterisieren, wenn man den Gegensatz aufstellt: Unbedingtheit gegen Opportunität. Der ist in diesem Sinne Zionist, der hat die menschliche Fundierung zum Zionismus, der der Stimme folgt und nicht den Stimmen, der die Unbedingtheit entscheiden lässt gegen alle Opportunität, und da dies die wahrhafte, wenn auch in tausend Formen auftretende Natur der Entscheidung selbst ist, kann man sagen, der ist in diesem Sinne Zionist, der im Zeichen der Entscheidung lebt. Dieses meine ich, ist die menschliche-natürliche Grundlage; um auf diese Formulierung zurückzukommen, diejenigen, die das, was sie sind, wahrhaft und vollkommen sind und ich füge hinzu, dazu muss man wahrhaft und vollkommen überhaupt sein. Nun erst können wir davon sprechen, was ich mit den Worten meinte: wahrhaft sein, was einer ist. Ich glaube, etwas brauche ich hier nicht zu sagen, das was das ist, was einer von uns ist, was diese tiefste Wurzelschicht im Juden ist, was wir als die eigentlich, nährende urlebendige Schicht unseres Daseins empfinden: unser Judentum. Das also wahrhaft und vollkommen sein, was wir sind, das bedeutet: abgesehen vom Persönlichen, darüber ich nicht sprechen kann, abgesehen davon ist die Schicht, die ich meine, das Judentum. Das bedeutet, unser inneres Judentum aktualisieren, lebendig machen, real machen, verwirklichen. Diese Verwirklichung unseres inneren Judentums ist ein Gegenstand, über den ich nicht in ein paar einleitenden Worten,

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sondern in langen, von Tag zu Tag fort gesetzten Gesprächen mit euch sprechen müsste und auch wollte. Ich möchte also ein paar Punkte herausgreifen, die mir wichtig erscheinen, weil ich oft gesehen haben, dass sie auch gerade von jungen Menschen seltsamerweise noch nicht genügend erfasst worden sind. Ich sagte: Aktualisierung unseres Judentums. Wir sind Juden unserem Wesen nach, wir wollen unserer Wirklichkeit nach Juden werden. Dieses, dass wir das noch nicht sind, das dies die meisten von uns noch sehr, sehr wenig sind, dürfte wohl uns allen klar sein. Denn das Bekenntnis kann uns nicht fördern, der blosse Wille, uns als Juden zu deklarieren, ebenso wenig. Das Element, das jüdische Element, das ich für das wesentliche halte zur Aktualisierung unseres inneren Judentums ist die hebräische Sprache. Es ist darüber gesprochen worden, welche Güter, welche Werte das Dasein einer Nation statuieren. Das ist eine terminologische Untersuchung, die mich wenig interessiert, wie überhaupt Begriffsbestimmungen eine etwas zweifelhafte und willkürliche Angelegenheit sind. Ich glaube nicht, dass die Bestimmung des Begriffes wichtig ist. Aber da ist gegenüber der Frage sicher: Unter allen Eigentümlichkeiten des Volkes, Gütern und Werten, gibt es nur eins, das eine wirkliche Aufspeicherung lebendiger Volksenergie ist, die jedem offen steht, der aus ihr schöpft und sich mit ihr erfüllen will: die Sprache. Man sieht gewöhnlich das Erlernen des Hebräischen etwas äusserlich an, etwa: wir seien eine Nation, also müssten wir eine Sprache haben; wir müssen uns für Palästina vorbereiten und Palästina sei das Land, in dem unsere Sprache lebendig wird. Das alles meine ich nicht, sondern ich meine etwas, was jeder Jude an sich erfährt, jeder, der ernsthaft Hebräisch treibt: dass er im Laufe seiner Erfahrung dieser Sprache immer mehr Jude wird, den judaisierenden Einfluss des Hebräischen, nicht durch die Texte, die man im Hebräischen liest, nicht deshalb, weil man irgendwelche noch so ehrwürdige Urkunde unseres Volkes im Original kennen lernt, und besser versteht, sondern ich meine jenen undefinierbaren, aber jedem, der wirklich Hebräisch getrieben hat, vertrauten, seelischen, formal-geistigen Einfluss ich meine die Beeinflussung der Form unseres Denkens durch das Hebräische, die Verknüpfung unserer Empfindungen und die Art, wie aus unseren Empfindungen, Vorstellungen und Begriffe entstehen, die Beeinflussung dieser Prozesse durch das Hebräische. Im Hebräischen hat sich unsere spezifische, unsere urjüdische Art zu denken, in einer Art konzentriert wie in keinem anderen Volke heute, wie in keiner der mir bekannten Sprachen die Art der anderen Völker. Das letzte mag eine Hypothese sein, jedenfalls habe ich in mir selbst [Erfahrungen?] mit dem Hebräischen erlebt, die stärker und grösser waren, als irgend etwas, was ich von Erfahrungen anderer Leute, die

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Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform

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mit ihrer Sprache nicht ganz natürlich lebendig zusammenhingen, sie erst erlernt haben, entnehmen konnte. Das ist etwas, was ich nicht analysieren will, aber es ist von grösster Bedeutung. Wir dürfen uns der Tatsache nicht verschliessen, dass wir samt und sonders assimiliert sind, dass der Einfluss, den andere Sprachen, andere Kulturen, der Geist anderer Völker auf uns ausgeübt hat, nicht bloss der inhaltliche Einfluss, nicht der Einfluss auf unsere Wertungen und Gefühle, auf die natürliche Werteskala in uns ist, sondern ich meine: der Einfluss, den diese Sprachen und der Geist dieser Völker auf unser Wesen selbst ausgeübt hat, auf unsere Denkform ist ein stärkerer, als wir mitunter zu glauben geneigt sind: man kann nicht deutsch denken, ohne etwas von der deutschen Art zu denken, anzunehmen; damit meine ich nicht irgend welche Kulturwerte, sondern die deutsche Art. Wir können aus der wunderlichen und tragischen Situation, aus der wir doch herauswollen, nicht anders herausfinden, als dass wir uns dem grossen Einfluss der hebräischen Sprache unterwerfen. Die wenigsten von uns werden dazu kommen, hebräisch zu denken, aber sie werden zunächst eine Ahnung bekommen und dann allmählich ein grosses Erleben davon, was hebräisch denken ist. Es ist tatsächlich eine ganz andere Art zu empfinden und zu denken, als unsere europäische Art. In dieser zyklopischen Art des Denkens, der Verbindung von Urworten steckt ja etwas elementar anderes als unser Europäertum; wenn wir das in uns aufnehmen, dann sind wir nicht vollkommen, aber so sehr wir es können, mit Asien und mit der Entstehung und dem Werden und Wesen unseres Volkstums verbunden. Hebräisch scheint mir in diesem Sinn das Wesentlichste, aber nicht das einzige. Ihr wisst wohl, dass es meine Ueberzeugung ist, dass es für das Judentum kein Heil gibt, wenn man sein künftiges Leben sich als eine Fortsetzung des gegenwärtigen denkt, sondern dass es eine, ich möchte sagen, die eigentliche, tragende Weltanschauung meines Lebens ist, dass es einen neuen Anfang im Judentum geben muss, dass wir von neuem ansetzen müssen, dass das Judentum erneuert werden muss, damit es wahrhaft leben könne. Aber diese Erneuerung können wir uns nicht denken als einen Anfang, als eine Schöpfung aus dem Nichts und auch nicht als eine Schöpfung aus der fruchtbaren Natur und dem Geist Palästinas, etwa so wie die revolutionäre Doktrinäre, z. B. die Leute um Bakunin 2 sich vorstellen, die Neuordnung der menschlichen Gesellschaft werde aus der fruchtbaren Kraft der Revolution hervorgehen. Allerdings ist Palästina etwas Positives, was die Revolution nicht ist, und kann uns unge2.

Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814-1876).

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Zionismus a

heure Werte geben, aber, das Neuwerden. Wir können nicht etwa in Palästina völlig neu anfangen. Und so wenig ich der Meinung bin, dass es gut und glücklich ist, das sich in Palästina der Geist des Rabbinismus breit macht, so sehr ich auf der Seite derer stehe, die gegen diesen Geist ankämpfen, so bin ich doch überzeugt, dass im Leben jedes einzelnen von uns das Judentum nicht anders erneuert werden kann als durch Anschluss an die grossen historischen Werte, als an die vorbildliche Konzentrierung des jüdischen Geistes, als an die vorbildlichen Verdichtungen der urjüdischen Art. Gewiss gibt es da eine Scheidung zwischen Fruchtbarem und Unfruchtbarem, zwischen dem, was wir in uns aufnehmen wollen, und dem, was wir ablehnen müssen. Aber die Unwahrheit ist es, dass der einzelne Mensch sein Gewordensein, seine ethnische Vorgeschichte, seine Vorgeschichte als Volk ignorieren darf. b Ein Beginn ohne Anschluss, ein Beginn aus dem Nichts wäre für das Volk und das Individuum ein Leben aus Luftwurzeln, ein wurzelloses Leben. Ich hoffe, dass wir darauf noch zu sprechen kommen. Wenn das für den einzelnen, und ich betone, dass ich nur die einzelnen hervorgegriffen habe, wenn dies für den einzelnen Juden für den einzelnen Zionisten bedeutet, wirklich als Zionist da sein, so gehört dazu noch ganz wesentlich etwas, was auch manchmal nicht genügend gewürdigt ist: dass dieses sein Leben in der Gemeinschaft sein muss; keine Isolierungsversuche können zu dem wahrhaften Leben führen, das ich meine. Denn machen wir es uns klar: Jude sein, bedeutet eine Verbundenheit, es bedeutet ja etwas ganz anderes als dieser bestimmte Mensch sein. Es bedeutet keine individuelle Potenz, sondern eine Gemeinschaftspotenz. Sich als Jude entdecken, das Judentum in sich entdecken, ist etwas ganz anderes als sich als dieses Individuum entdecken. Sich als Juden entdecken bedeutet sich in der jüdischen Gemeinschaft als ihr verbunden entdecken, denn diese Eigentümlichkeit, diese unsere Art ist nicht unsere persönliche, sondern ist Verbundenheit mit einem Volke, einem Volke, das nicht irgend einmal war, sondern einem Volke, das da ist und um uns herumlebt. Sich als Jude verwirklichen wollen heisst also, seine Verbundenheit mit seinem Volke verwirklichen wollen. Und wahrhaft als Jude leben wollen heisst wahrhaft und vollkommen im jüdischen Volke leben wollen, das bedeutet, das wahrhafte und vollkommene Leben für die Gemeinschaft wollen. Denn es ist unmöglich, wahrhaft und vollkommen zu leben mit einer Gemeinschaft, die nicht so lebt.

a. b.

Text so in der Vorlage. Die Vorlage hat: nicht ignorieren darf.

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Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform

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Dies also ist realer Zionismus, ein Zionismus der in der jüdischen Gemeinschaft und an ihr realisiert wird. Dazu ist dreierlei für den einzelnen nötig: lebendige Kenntnis des Judentums, wie es geworden ist, und des Judentums, wie es ist, nicht nur der geistigen Werte, sondern der Juden, die da sind und aus welchen wir uns nicht herausheben, sondern zu welchen wir tauchen wollen. Zweitens: lebendiger Zusammenhang mit diesem Volke, Schliessung oder Wiederschliessung einer lebendigen Verkehrsgemeinschaft und dazu ist es nicht nötig, dass man Fühlung zu gewinnen versucht mit dem Ostjudentum, als dass jeder mit allen den Juden herzlich verkehrt, mit denen er zusammen lebt, die er um sich herum findet, mit jedem aller Stände, aller Bildungsschichten, damit er aus seinem Leben mitten unter den Juden eine Wirklichkeit, eine Wahrheit für das Leben im Judentum macht. Und als drittes: Lebendige Arbeit. Es ist nicht möglich, in einer Gemeinschaft, sei es in welcher Rolle, in welcher Funktion immer, in einer Gemeinschaft wahrhaft zu leben ohne ihr zu dienen. Man kann einer Gemeinschaft nur durch Arbeit dienen. Dies ist es, was ich unter einem realgelebten Zionismus verstehe. Ich brauche nicht zu sagen, was sich für jeden solchen realen Zionisten als natürliche Konsequenz ergibt, das Streben nach Palästina. Das ist selbstverständlich, dass ich darüber kaum zu sprechen brauche. Ich möchte nur betonen, dass das Streben nach Palästina doch ja nicht romantisch aufgefasst werden sollte, als Ideologie, als Romantik, dass es gar nichts bedeutet, wenn es nicht bedeutet, dass einer nach Palästina geht. Er kann allen Zusammenhang aufgeben, er kann Hals über Kopf gehen und seine Familie zum Aufruhr treiben, seine Familienbande lösen und an seine wirtschaftliche Zukunft vergessen oder er kann es vorbereiten. Ich meine, das ist das einzige Streben, das sich so nennen darf, dass ein Mensch gewillt, sein eigenes Leben und das Leben seiner Kinder in Palästina aufzubauen, dass er darauf tätig wartet, das heisst, nicht nur wartet, sondern vorbereitet, und das bedeutet, dass er an sich und an anderen arbeitet für Palästina. Dass er sein persönliches Gehen vorbereitet und dass er schon jetzt versucht in einen unmittelbaren Kontakt mit dem jungen jüdischen Palästina zukommen; den aus äusseren Gründen schwer zu schliessenden Kontakt dennoch zustande zu bringen und trotz der ungeheuren Schwierigkeiten eine Art von Verkehrsgemeinschaft schon jetzt zwischen dem Galuth, in dem er lebt, und dem werdenden jüdischen Volke in Palästina, den Elementen, die ihm zugänglich sind, zu schaffen. Dieses Streben nach Palästina fasse ich auf als einen natürlichen elementären Egoismus des realen Zionisten. Der reale Zionist erlebt, dass er seine Realität nicht vollenden, seinen Zionismus, sein Judentum nicht voll erleben kann im Galuth und deshalb aus diesen per-

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Zionismus

sönlichen Antrieben, aus dieser grossen, ich möchte sagen heiligen Selbstsucht, will er nach Palästina gehen, geht er nach Palästina. Dies ist das wesentliche, was ich zunächst über diese Menschenart, über den realen Zionisten, über Zionismus als Lebensanschauung und Lebensform im Gegensatz zum Zionismus als Bekenntnis zu sagen hätte. Nur ein Wort noch, um einem Missverständnis vorzubeugen möchte ich sagen, dass wenn ich von zweierlei Menschenarten rede, dass ich da durchaus nicht an zwei radikale und unüberwindlich getrennte Menschenklassen denke, dass ich glaube, dass es aus der einen zur anderen ein Aufwärtsstreben gibt. Ich glaube, dass man Zionist nicht bloss sein, sondern auch werden kann; es gibt nirgends unüberwindliche Sonderungen; diese sind dazu da, damit wir uns zurecht finden, damit wir unsere Skala von Werten aufbauen auf dem Fundamente der Wirklichkeit. Es gibt ein Streben, Zionist zu werden, aber dieses Streben ist etwas unendlich Grösseres, Schwereres, Schöneres als das, was man gewöhnlich Zionist werden nennt, als der Entschluss sich zum Zionismus zu bekennen. Es ist das Streben zur Verwirklichung des wahren Menschen, den man in sich fühlt: man fühlt ein wahres Menschentum in seiner Nähe, man hat es noch nicht, aber man entscheidet sich dafür und man beschliesst, es zu einer Realität zu erheben.

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Jüdische Renaissance und Kultur

Juedische Renaissance Wir leben in einer Epoche der Kulturkeime. a hAuf der einen Seite kündigt sich eine grosse allgemeine Schönheitskultur an. Das allerorten erwachende Kunstgefühl, die Entwickelung des modernen Kunstgewerbes, das Hineintragen der Schönheitslinie in das Thun und Erleben des Alltags, die mannigfachen Versuche einer ästhetischen Jugenderziehung, das Streben nach Sozialisierung der Kunst, und so viele andere Zeichen, die uns die Stunde zuträgt, deuten dahin. Auf der anderen Seite sehen wiri b die nationalen Gruppen sich um neue Fahnen scharen. Es ist nicht mehr der elementare Selbsterhaltungstrieb, der sie bewegt; nicht die äussere Abwehr feindlichen Völkeransturms ist der Grundzug dieser Erscheinung. Nicht der Besitzdrang und die territoriale Expansionskraft der Nationen will sich nun ausleben, sondern ihre individuelle Nuance. Es ist eine Selbstbesinnung der Völkerseelen. Man will die unbewusste Entwickelung der nationalen Psyche bewusst machen; man will die spezifischen Eigenschaften eines Blutstammes gleichsam verdichten und schöpferisch verwerten; man will die Volksinstinkte dadurch produktiver machen, dass man ihre Art verkündet. hHier werden nationale Kulturen angestrebt.i Goethe’s Traum einer Weltlitteratur nimmt neue Formen an: nur wenn jedes Volk aus seinem Wesen herausspricht, mehrt es den gemeinsamen Schatz. So sehen wir in der tiefen Einheit der Evolution c allgemeine und nationale Kultur verschmelzen. Was den besten Geistern unserer Zeit vorleuchtet, ist ein von Schönheit und gütiger Kraft durchtränktes Menschheitsleben, in dem jeder Einzelne und jedes Volk mitschafft und mitgeniesst, ein Jedes in seiner Art und nach seinem Werte. Jener Teil des jüdischen Stammes, der sich als jüdisches Volk fühlt, ist in diese neue Entwickelung hineingestellt und wird von ihr durchglüht wie die anderen Gruppen. Aber seine nationale Teilnahme an ihr hat einen ganz eigenen Charakter: den der Muskelanspannung, des Aufa. b. c.

JBI: Wir leben in einer Zeit, die eine Epoche der Kulturkeime einzuleiten scheint. Wir sehen Die in h i gesetzten Passagen sind in JBI ausgelassen. JBI: Einheit des Werdens

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Jüdische Renaissance und Kultur

schauens, der Erhebung. Das Wort »Auferstehung« drängt sich auf die Lippen: ein Erwachen, das ein Wunder ist. Freilich, die Geschichte kennt keine Wunder. a Aber sie kennt Ströme des Volkslebens, die zu versiegen scheinen, aber unter der Erde weiterfliessen, um nach Jahrtausenden hervorzubrechen; und sie kennt Samenkörner des Volkstums, die sich Jahrtausende lang in dumpfen Königsgräbern ihre Keimkraft bewahren. Dem jüdischen Volke steht eine Auferstehung von halbem Leben zu ganzem bevor. Darum b hat man seine Teilnahme an der modernen national-internationalen Kulturbewegung eine Renaissance genannt. Es scheint zum Wesen der Schlagworte zu gehören, dass sie missverstanden werden. Das kommt wohl daher, dass sie immer nur ei ner Seite des Geschehens abgelauscht werden, was gleichsam die Rache der anderen Seiten herausfordert. So ging es auch der »jüdischen Renaissance«. Wenn man von Renaissance spricht, denkt man zunächst an die grosse Zeit des Quattrocento. Auch diese hat man eine Zeit lang missverstanden: man hat sie als Rückkehr zu den Denk- und Sprachformen des Altertums, als Erneuerung des klassischen Lebensstils aufgefasst. Aber als man tiefer in ihre Geschichte eindrang, erkannte man, dass Renaissance nicht Rückkehr, sondern Wiedergeburt bedeutet: eine Wiedergeburt c des ganzen Menschen. d Aus der dialektischen Enge der Scholastik zu einer weiten seelenvollen Naturanschauung, aus mittelalterlicher Askese zu warmem flutendem Lebensgefühl, aus dem Zwange e der Sekten und Innungen zur Freiheit der Persönlichkeit. Das Geheimnis des Neuen, der reiche Sinn des Entdeckers, das freie Leben der Wagnisse und der überströmenden Schaffenslust beherrschen diese Zeit, und die Zeitpsyche ist es, die f aus Marlowe’s Helden, Mortimer 1, spricht, wenn er im Augenblicke vor seiner Hinrichtung sagt: »Beweint mich nicht, Der, diese Welt verachtend, wie ein Wand’rer Nun neue Länder zu entdecken geht.« 2 1. 2. a. b. c. d. e. f.

Gemeint ist Mortimer d. Jüngere aus Christopher Marlowes (1564-1593) Drama Edward II. von 1594. Marlowe, Christopher, Edward II (1594), 5. Akt, 6. Szene. JBI: die Geschichte will keine Wunder kennen. JBI fährt fort: dürfen wir seine Teilnahme an der modernen nationalinternationalen Kulturbewegung eine Renaissance nennen. JBI ergänzt: , eine Erneuerung JBI: Menschen, den Weg aus JBI fährt abweichend fort: engsinniger Gemeinschaften zur Freiheit der Persönlichkeit. JBI ergänzt: (wie Dilthey in seiner schönen Analyse jener Epoche gezeigt hat)

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Juedische Renaissance

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Jene Zeit steht im Zeichen der »neuen Länder«. Nein, keine Rückkehr – aber auch kein »Fortschritt« in dem hsehr langweiligeni Gebrauchssinne dieses Wortes. In der Seele des einzelnen Menschen, in der Struktur der gesellschaftlichen Wechselbeziehungen, in der künstlerischen Geburt von Werken und Werten, in den ewigen Kreisen des Kosmos, in den letzten Rätseln alles Seins – überall werden neue Länder entdeckt, überall tauchen schlummernde Welten wie grüne Inseln aus Meerestiefen auf, alle Dinge sind erneut, in jungem Licht gebadet, aus frischen Augen blickt die alte Erde, – und die Wiedergeburt feiert ihre stillen Sonnenfeste. »Jüdische Renaissance« … Man hat darunter eine Rückkehr zu den alten, im Volkstum wurzelnden Gefühls-Traditionen und zu deren sprachlichem, sittlichem, gedanklichem Ausdruck verstanden. Man braucht diese Vorstellung nur an der Quattrocento-Renaissance zu messen, um ihre Kleinheit und Unzulänglichkeit einzusehen. Eine solche Rückkehr würde den edlen Namen »Renaissance«, diese Krone der Geschichtszeiten, in keiner Weise verdienen. Wir müssen schon tiefer graben, wenn wir die Zukunft unseres Volkes verstehen wollen. Zahlreicher als in irgend einer anderen Zeit sind in der unseren jene Menschen, die den Sinn für das Kommende besitzen, jene Johannes-Naturen, die an den eignen Schmerzen die werdende Gestaltung eines neuen Menschheitslebens erkennen. Diesen Hellsichtigen ist es heute vergönnt, die Boten einer neuen Renaissance a mit Augen zu schauen. Aus dem Gähren einer Kulturbewegung, das ich hzu Anfang dieser Zeileni zu schildern versucht habe, sehen sie schon die künftigen Formen emportauchen. Sie leiden, wie einst die Propheten litten: weil sie wissend und einsam sind; und weil sie in der Zukunft schönere, glücklichere Entwicklungsbedingungen erblicken, die sie nicht erreichen sollen. Ihrer aus Leiden geborenen Prophetie müssen wir uns anvertrauen. Sie zeigt uns das Nahen einer Wiedergeburt, an der jeder Einzelne und jedes Volk teilnimmt, ein Jedes in seiner Art und nach seinem Werte. Einer Wiedergeburt des Menschentums. Einer Herrschaft der »neuen Länder«. Schwieriger als jedem anderen Volke wird es dem jüdischen werden, in diese Wiedergeburt einzutreten. Ghetto und Golus, nicht die äusseren, sondern die inneren Feindesmächte dieses Namens halten es mit eisernen Fesseln zurück: Ghetto, die unfreie Geistigkeit und der Zwang einer ihres Sinnes entkleideten Tradition, und Golus, die Sklaverei einer unproduktiven Geldwirtschaft und die hohläugige Heimatlosigkeit, die allen einheitlichen Willen zersetzt. Nur durch einen Kampf gegen diese Mächte kann das jüdische Volk wiedergeboren werden. Der äusseren Erlösung a.

JBI: Menschheits-Renaissance

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Jüdische Renaissance und Kultur

von Ghetto und Golus, die nur durch eine weit über das heute Gewährte hinausgreifende Umwälzung geschehen kann, muss eine innere vorausgehen. Den Kampf gegen die armselige Episode »Assimilation«, der zuletzt in ein wortreiches und inhaltsarmes Geplänkel ausgeartet ist, soll ein Kampf gegen tiefere und mächtigere Zerstörungskräfte ablösen. Dieser soll latente Energien in thätige umsetzen, Eigenschaften unseres Stammes, die sich in seiner Selbständigkeits-Geschichte geäussert haben, um in den Qualen der Diaspora zu verstummen, unserem modernen Leben in dessen Form wiederschenken. Auch hier keine Rückkehr; ein Neuschaffen aus uraltem Material. An dieser Stelle seien nur die allgemeinsten Gesichtspunkte angedeutet; aus stiller Zusammenarbeit der Mitstrebenden wird mit der Zeit, so hoffe ich, ein positives, festgefügtes Aktionsprogramm hervorgehen. Nicht das Programm einer Partei, sondern das ungeschriebene Programm einer Bewegung. Diese Bewegung wird vor allem das einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl des Juden wieder auf den Thron setzen. Das ist ein Losungswort gegen die reine Geistigkeit. Als wir noch das kleine weltbewegende Volk jenes seltsam gesegneten Erdenwinkels waren, da s chu fen wir Geistiges, aber wir waren voll starken expansiven Lebensgefühls, das oft genug überschäumte und sich, wenn das eigene Gesetz keinen Raum dafür liess, in den fremdartigen Orgien der unproduktiven Nachbarvölker auszuleben versuchte; und in Wahrheit blühten gerade aus diesem Lebensgefühl, lose in ihm ruhend wie Seerosen auf den Fluten, unsere grossen Gei s tes - S ch ö p fu ngen auf. Das Exil wirkte wie eine Folterschraube: das Lebensgefühl wurde verrenkt. Die äussere Knechtung der »Wirtsvölker« und die innere Zwingherrschaft des Gesetzes trugen in gleichem Masse dazu bei, das Lebensgefühl von seinem natürlichen Ausdruck, dem freien Schaffen in Wirklichkeit und Kunst, abzulenkenh; es verirrte sich in krankhafte Erscheinungen, wie Chuzpe und Chassidismusi. Die Bewegung, die in unserer Zeit anhebt, wird den Juden wieder dazu bringen, sich als Organismus zu fühlen und nach harmonischer Entfaltung seiner Kräfte zu streben, ins Gehen, Singen und Arbeiten so viel Seele zu legen wie in die Behandlung intellektueller Probleme, und eines gesunden und vollkommenen Leibes in Stolz und Liebe froh zu werden. Sie wird den Zwiespalt zwischen Denken und Thun, die Inkongruenz von Enthusiasmus und Energie, von Sehnsucht und Opfermut aufheben und die einheitliche Persönlichkeit, die aus ei ner Willensglut heraus schafft, wiederherstellen. Sie wird Staub und Spinnweb des inneren Ghetto von unserer Volksseele abkehren und dem Juden den Blick ins Herz der Natur verleihen, ihn lehren, Bäume, Vögel und Sterne seine Geschwister zu

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nennen und an der Individualität aller Wesen seine eigene zu messen. Sie wird durch Erziehung eines lebendigen Schauens und durch Sammlung der schöpferischen Kräfte die Gabe jüdischen Malens und Meisselns erwecken a ; und vor dem dunklen Tasten jungjüdischer Dichter die Feuersäule der Auferstehung einherwandeln lassen. Den Festen der Tradition wird sie eine zweite Jugend schenken: wir werden lernen, das Werdende zu feiern, das künftige Erringen, die geahnte Wiedergeburt; von starren Denkmälern schützender Tradition wird sie uns zu jungen Weihegärten eines jungen Volkes führen. Sie wird uns die Schlichtheit und Wahrhaftigkeit eines freithätigen Lebens zuteilen. Sie wird uns vo r einer äusseren eine innere Heimat schaffen: dadurch, dass sie das Judentum zu neuer Einheit zusammenschliesst und uns so das Ruhen im Brudertume der Herzen gewährt; dadurch, dass sie uns im Neuhebräischen eine moderne Sprache schenkt, in der allein wir die wahren Worte für Lust und Weh unserer Seele finden können; dadurch, dass wir in eine Lebensgemeinschaft eintreten, welche die alte angestammte und doch wieder eine neue ist. Ueber unsere Tage wird der Glanz einer neuen Schönheit ausgegossen. Diese nationale Bewegung ist die Form, in der sich die neue Schönheitskultur b für unser Volk ankündigt. Uns liegt ein innerer Kampf ob, c bevor wir den Weg der anderen Völker betreten. Manchen Krankheitsstoff müssen wir entfernen, manches Hemmnis niederzwingen, bevor wir reif werden zur Wiedergeburt des Judenvolkes, welche nur ein Teilstrom ist der neuen Renaissance d .

a. b. c. d.

JBI: entfalten JBI: die neue menschliche Kultur JBI fährt abweichend fort: ehe wir ihres Segens teilhaftig werden können. JBI: Menschheits-Renaissance

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Jüdische Wissenschaft I. Auf die Tagesordnung des fünften Zionisten-Congresses ist unter den Fragen der geistigen Hebung auch der Punkt »Jüdische Wissenschaft« gesetzt worden. Es dürfte manchen braven Zionisten geben, der diesem Punkte rathlos gegenübersteht. Was ist jüdische Wissenschaft? Zu welchem Zwecke und wie übt man jüdische Wissenschaft? Wo ist sie? Was hat sie mit dem Zionismus zu schaffen? Und was mit den Fragen der geistigen Hebung des jüdischen Volkes? All dies ist nicht ohne weiteres klar. Wir müssen versuchen, die Bedeutung einer jüdischen Wissenschaft und ihren Zusammenhang mit unseren Bestrebungen klarzulegen. Eine jüdische Wissenschaft kann einen dreifachen Sinn haben. Sie kann, je nach ihrem Ausgangspunkte, entweder Wissenschaft des Judenthums sein, oder Wissenschaft der Judenfrage, oder Wissenschaft des Zionismus. Im ersten Falle würde sie von der historischen und gegenwärtigen Wirklichkeit des jüdischen Volkes ausgehen, sie würde sich die Beschreibung und Erklärung des thatsächlich Gegebenen zum Ziele setzen und keine praktischen Gesichtspunkte hineintragen, es sei denn den, aus dem Gewirre der widerstreitenden Erscheinungen einheitliche Entwicklungen herauszulösen. Im zweiten Falle hätte sie sich mit einem eminent praktischen Problem zu beschäftigen, mit der Pathologie der gegenwärtigen Judenschaft und mit der Anomalie ihrer Beziehungen zu den anderen Völkern; sie hätte es nicht so leicht, wie die Wissenschaft des Judenthums, objectiv zu bleiben, denn schon bei der Auswahl des Materials würde der Zweck mitreden. Noch schwieriger würde die Objectivität einer Wissenschaft des Zionismus werden; a sie würde nicht von einer Frage, sondern von einer Antwort ausgehen; von einer Antwort, die in den meisten Fällen nicht wissenschaftlich, sondern intuitiv, jedenfalls subjectiv gefunden wurde, und die nun begründet werden soll; da könnte nicht mehr bloss bei der Auswahl, sondern auch bei der Ausgestaltung, Deutung und Bewertung des Thatsachenmaterials der Zweck leicht das entscheidende Wort führen. hNoch weniger befriedigend sehen die beiden letzteren Auffassungen aus, wenn man sie von einem anderen grossen Gesichtspunkte betrachtet.

a.

JBI: Noch schwieriger würde einer Wissenschaft des Zionismus werden, die Objektivität zu wahren;

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Jüdische Wissenschaft a

b

Das wird uns eine Analogie zeigen.i Diese beiden Auffassungen erinnern an die wissenschaftliche Behandlung actueller social-politischer Themen, und zwar in dem einen Falle an eine von einem unbefangenen Volkswirtschaftler, in dem anderen an eine von einem Parteigelehrten unternommene. Den Unterschied beider Fälle wollen wir hier nicht berücksichtigen. Aber offenbar sind beide nur Stückwerk und für den Tag gemacht, wenn sie nicht an die grossen Traditionen der Wissenschaft vom socialen Leben überhaupt anknüpfen. Sie dürfen es sich nicht herausnehmen, mehr sein zu wollen, als Anbau und Uebergang. Und nur wenn sie nicht mehr sein wollen, sind sie etwas. So darf auch die Wissenschaft der Judenfrage oder des Zionismus nicht mehr sein wollen, als Anbau und Uebergang. Aber Anbau woran? Uebergang wozu? Es kann eigentlich nur ei ne jüdische Wissenschaft geben: die Wissenschaft des Judenthums, die t hei ls vo n s elbs t i n ei ne w i s senscha ft li che Behandlu ng d er Ju denfr a ge und d es Z i oni s mu s au sla u fen mü s ste (da sie die historische und sociologische Erklärung der gegenseitigen Verhältnisse bringen würde), t hei ls vo n i hr ergä nzt werd en kö nnte c , wie die theoretische Nationalökonomie von der Wirtschaftspolitik. Aber wo ist diese Wissenschaft des Judenthums? Man wird mir antworten: sie ist nicht da. Und man wird hinzufügen: und eine Wissenschaft kann nicht gemacht werden. Das ist richtig. Sie ist nicht da. Und sie kann nicht gemacht werden. Sie ist nicht da, denn es gibt weder ein abgegrenztes Arbeitsgebiet, das ihr zugehörte, noch eine definierte Methode, die in ihr systematisch angewendet würde. Und sie kann nicht gemacht werden, denn eigentliche Wissenschaft entsteht nicht aus Plänen, Schemen und Programmen so voll des guten Willens sie auch sein mögen, sondern aus der weitsichtigen, aber engbegrenzten Forschung der Wissensmenschen. Pläne und Programme sind ihr nicht Fundament, sondern Giebel. Und doch sprechen wir nicht etwa bloss von wissenschaftlich betriebenem Zionismus, sondern von jüdischer Wissenschaft. Ich gebe zu, dass dieser Ausdruck nicht ganz correct ist; er soll nur aus praktischen Gründen beibehalten werden. Aber acceptiert man ihn für das was wir meinen (ich werde seine relative Berechtigung zu begründen versuchen), dann sind auch die Antworten auf die Frage, wo diese Wissenschaft denn eigentlich sei, nicht ganz richtig. Denn wenn man will, ist sie doch da: zum kleinen Theile in der s o g ea. b. c.

In h i gesetzte Passagen fehlen in JBI. JBI: Die beiden letzteren JBI hat keine Hervorhebungen.

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na nnten »Wissenschaft des Judenthums«, zum grösseren in den verschiedenartigsten Disciplinen. Und es handelt sich nicht um ein Machen, sondern um ein Herauslösen und Angliedern. Dieses Herauslösen und Angliedern soll aber nicht geschehen, um eine in den Augen der Wissenschaftslehre giltige selbständige Wissenschaft zu schaffen – ein selbständiger Stoff ohne selbständige Methode genügt niemals, um eine besondere Wissenschaft zu begründen – sondern um das Unsere zu sammeln, um ein sich fortentwickelndes Inventar des Judenthums aufzustellen, um zu sehen, was wir sind, was wir haben und können. Ist dies zwar auch ein praktischer Gesichtspunkt, wie jene, von denen ich früher gesprochen habe, so wird er doch der Objectivität und der Vollständigkeit des in Frage stehenden Wissenschaftscomplexes nichts anhaben können. Es sollen also aus den in Betracht kommenden Disciplinen die das Judenthum betreffenden Partien herausgelöst und an die bestehende s o genannte »Wissenschaft des Judenthums« angegliedert werden. Es ist zu hoffen, dass durch diese und die daran zu knüpfende organisatorische Arbeit, sowie durch die Entwicklung und Vertiefung der nationaljüdischen Bewegung das Interesse für das neu abgegrenzte Stoffgebiet eine wachsende Steigerung erfahren wird, und dass jüdische Gelehrte der verschiedenen Disciplinen, jeder auf seinem Gebiete, sich der Erforschung der blossgelegten Probleme widmen werden. Wie steht es nun um die sogenannte »Wissenschaft des Judenthums«, die den Krystallisationskern für den zu schaffenden Complex bilden soll? Das eine steht wohl fest, dass sie ihren grossen Namen mit Unrecht führt. Sie hat wohl seit jeher bedeutende Männer zu den Ihren gezählt. Sie hat wohl ihre Methode in kritischer Feinheit und heuristischem Scharfsinn erstaunlich ausgebildet. Sie hat wohl einen seltenen Eifer im Suchen, Vergleichen und Feststellen an den Tag gelegt. Aber sie blieb, was sie war, und musste es bleiben: eine Abtheilung der Philologie. Ihr Gegenstand war das altjüdische Schriftthum; der Weg ihrer Forschung war der philologische. Den Namen »Wissenschaft des Judenthums« verdient sie noch viel weniger, als etwa die Germanistik den Namen einer Wissenschaft des Deutschthums. Laien haben hjai wohl auch andersartige wissenschaftliche Schöpfungen zu ihr gerechnet. Aber eine Geschichte des jüdischen Volkes wird doch wohl der historischen Wissenschaft zugehören, eine Abhandlung über die Gesetzgebung der Bibel oder des Talmud der allgemeinen Rechtsgeschichte, Studien über jüdische Volkskunde der Folkloristik, a Forschungen über Denkmäler altjüdischer Kunst der Archäologie und a.

JBI: Studien über jüdische Sagen und Bräuche der Volkskunde

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Jüdische Wissenschaft

der Kunstgeschichte. Und auch die Arbeiten über jüdische Rassen, hüber deren Entwicklung,i über die psychophysische Eigenart b , über das altjüdische Wirtschaftslebens, über die sociale Schichtung unseres Volkes, über die Evolution seiner specifischen Sitten und seiner specifischen Sittlichkeit, über den Weg des jüdischen Geistes und der jüdischen Cultur, alle diese Arbeiten, die wir erhoffen, werden nicht jener auf die philologische Methode angewiesenen Wissenschaft, sondern der Anthropologie, der Ethnologie, der Wirtschafts-, der Social-, der Sitten-, der Culturgeschichte zugehören, Disciplinen, die andere Zwecke und so auch andere Mittel haben. Theoretisch verschmelzen können diese beiden Gebiete – die philologische Judaistik einerseits und die jüdischen Capitel c der anthropologischen, historischen und socialwissenschaftlichen Disciplinen andererseits – niemals. Sie können nur praktisch verbunden werden. Dass dies möglich ist, dafür erwächst uns in unseren Tagen ein überaus eigenthümliches und wertvolles Beispiel: die Jewish Encyclopaedia 1 h, von der in diesen Blättern noch eingehend gesprochen werden solli. Aber diese Jüdische Encyklopädie ist, ein so monumentalesd Werk sie auch sonst sein möge, dennoch ein unvollkommenes Beispiel, oder wenn man will: nur ein Beispiel. Sie kann vor allem gerade als Encyklopädie kein rein wissenschaftliches Unternehmen sein: sie wird wissenschaftlich bedeutsame Abhandlungen bieten, aber kein wissenschaftliches Ganzes; das verwehrt ihr ihre Form, ihr System, ihre Aufgabe. In den Thatsachen e wird sie gründlich, hvielleicht erschöpfendi sein können, hreich und tief in den Deutungen;i die grossen Zusammenhänge wird sie nicht heben können, die das letzte Ziel der wissenschaftlichen Thätigkeit sind; ja es wird ihr nicht möglich sein, von irgend einer Erscheinungsseite des Judenvolkes ein ganzes festgefügtes Bild zu geben; sie müsste denn dem Gesetze ihres Wesens untreu werden und sich zu einer Reihe grosser selbständiger Arbeiten auswachsen. Das erscheint mir und wohl jedem Kundigen nach der Anlage des Werkes ausgeschlossen. Die Jewish Encyclopaedia, die manchem wie ein Abschluss aussieht, kann in Wahrheit nur als eine grossartige Vorarbeit bezeichnet werden. Wenn wir ferner bedenken, dass die Encyclopädie manche der oben a

1.

Die erste Jewish Encyclopedia erschien in 12 Bänden in New York von 1901-1906.

a. b. c. d. e.

JBI: über das jüdische Rassenproblem JBI ergänzt: des Judentums JBI: und die das Judentum behandelnden Kapitel JBI: denkwürdiges JBI: In der Mitteilung der Tatsachen

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genannten Disciplinen – z. B. die socialwissenschaftlichen – nicht genügend berücksichtigt und wohl auch nicht berücksichtigen kann, so wissen wir wohl schon, wo wir anzusetzen haben. hDarüber in einem zweiten Artikel. 2 i

II. Ich habe hin meinem vorigen Artikel (Nr. 41 der »Welt«)i nachzuweisen versucht, dass es keine im strengen methodischen Sinne giltige jüdische Wissenschaft geben kann, sondern nur einen jüdischen Wissenschaftscomplex, der durch Herauslösung der das Judenthum betreffenden Abschnitte aus den verschiedenen Disciplinen und durch systematische Angliederung dieser Abschnitte an die modern aufgefasste philologische Judaistik hergestellt werden könnte. Das vorausgeschickt, werde ich ihn im Nachstehenden aus Zweckmässigkeitsgründen als »jüdische Wissenschaft« bezeichnen. Damit wäre unsere erste Frage: »Was ist jüdische Wissenschaft?« im Wesentlichen beantwortet. Eigentlich wissen wir aber auch schon ihren Zweck. Wir sollen jüdische Wissenschaft treiben, um das jüdische Volk in seinen Grundlagen, seiner Entwicklung, seiner gegenwärtigen Verfassung kennen zu lernen. Das hat eine doppelte Absicht. Zunächst die, das zu erkennen, was man liebt. Dann aber auch aus dem Gegebenen zu erforschen, was unserem Volke noththut und was es zu erwarten hat, seine Bedürfnisse und seine Möglichkeiten. Die einen wie die anderen, um einen Plan jüdischer Politik grössten a Stiles wissenschaftlich entwerfenb zu können, d. h. um an das zu gehen, was wir als »Wissenschaft der Judenfrage« bezeichnet haben. Der Zweck ist also ein theoretisch-praktischer. Das Praktische an ihm mag sogar überwiegend sein. Nun ist es selbstverständlich, dass es nicht der richtige Weg wäre, wenn alle, die es angeht, sich durch sämmtliche in Frage kommenden Disciplinen durcharbeiten und jeder sich selbst das Jüdische herausschälen müsste. Das wäre eine Kraft- und Zeitvergeudung, die wir uns keineswegs gestatten können. Es werden vielmehr Mittel gesucht werden müssen, die es allen möglich machen würden, jüdische Wissenschaft einheitlich und systematisch zu studieren. Unter diesen 2.

Siehe der folgende Abschnitt »II.«

a. b.

JBI: großen JBI: fundieren

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Jüdische Wissenschaft a

Mitteln gibt es namentlich zwei , die ich das Werk und die Hochschule nennen möchte. Sie entsprechen der doppelten Function der Wissenschaft: der thätigen und der empfangenden. Ich habe bereits ausgeführt, warum die Jewish Encyclopaedia nur als eine Vorarbeit aufgefasst werden darf. Der jüdischen Wissenschaft b wird ein Werk zu schaffen sein, das nicht nach lexikalischen h(oder gar demonstrativen)i Gesichtspunkten, sondern nach einem wissenschaftlichen Plane entstehen müsste. Biographica und Allgemeinheiten würden einer strengen Darstellung der naturwissenschaftlichen, historischen, sociologischen Thatsachen und Zusammenhänge Platz machen müssen. Dieses Werk denke ich mir als Sammelschöpfung, an der die bedeutendsten jüdischen Gelehrten theilnehmen würden, jeder sich seiner Aufgabe als einer Mission bewusst, jeder das Seine selbständig und abgeschlossen gebend, und doch alle zusammen- und ineinanderwirkend. Dieses Werk wäre, vollendet, eine Etappe der geistigen Arbeit, von der aus man wohl schon versuchen könnte, in die Zukunft des jüdischen Volkes zu schauen. Von einer jüdischen Hochschule war in der jüngsten Zeit mehrfach die Rede. Der Gedanke lebte in den besten Juden dieser Tage. Er wurde auf dem Zionisten-Congresse ausgesprochen. Dann tauchte er wiederholt in Zeitschriften auf. Dann in positiver Form in Amerika, durch die Persönlichkeit seines Apostels 3 mit der Encyclopaedia zusammenhängend. Hierauf wieder Zeitschriftendiscussion. Aus alledem haben sich für mich einige Leitsätze herausgebildet, die namentlich zu der amerikanischen Gründung in entschiedenem Gegensatz stehen. Sie lauten, möglichst knapp und präcis gefasst: 1. Eine jüdische Hochschule ist eine Nothwendigkeit, als das Hauptmittel zur Heranbildung eines modern jüdisch d enkend en Geschlechtes, als die Vorbereitung einer Zukunft für die jüdische Wissenschaft, als die Centrale der Bestrebungen einer geistigen Hebung unseres Volkes. 2. Der Lehrstoff der Hochschule ist die jüdische Wissenschaft oder Wissenschaft des Judenthums in dem von mir dargelegten Sinne. 3. Der Lehrstoff ist nicht nach dem hergebrachten unzulänglichen Schema »Geschichte, Literatur, Theologie«, sondern nach moderner wissenschaftlicher Methodik (etwa Anthropologie, Geschichte – worin selbstverständlich auch Literatur- und Religionsgeschichte eingeschlossen wäre – und Socialwissenschaft) in Abtheilungen zu gliedern. 4. Der gegenw är t i ge Sitz der Hochschule kann nur in Europa sein, wo allein das in Betracht kommende Menschenmaterial zu finden ist. 5. Die 3.

Gemeint sein dürfte Isidore Singer (1859-1939).

a. b.

JBI: gibt es zwei besonders wichtige JBI: Es

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Jüdische Renaissance und Kultur

Hochschule wird von der (im Nachstehenden besprochenen) jüdischen Akademie durch eine von dieser ernannte Vertretung geleitet. 4 Die jüdische Akademie, von der ich hier spreche, wäre die Institution, in deren Thätigkeit das »Werk« und die Hochschule zusammentreffen würden. Wir haben gesehen, dass dem »Werke« heute noch beinahe alles fehlt: der systematische Plan, die Abgrenzung und Gliederung des Stoffes, der Entwurf der Form, die Organisation der Arbeitenden. Ebenso fehlt der Hochschule noch beinahe alles. All dies kann nicht von einzelnen gegeben werden, sondern nur von einer hierzu berufenen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft möchte ich die jüdische Akademie nennen. Sie hätte die jüdische Wissenschaft aus dem Zustande der Monographie und der Verstreutheit in den des Werkes und des Gelehrtwerdens überzuführen. Heute ist noch Werk wie Hochschule unmöglich. Aufgabe der Akademie wäre es, sie möglich zu machen und ihre Leitung zu übernehmen. hDarüber ein andermal.i

4.

Vgl. dazu die im Anhang abgedruckte, von Chaim Weizmann hauptverantwortlich recherchierte und verfaßte Abhandlung »Eine Jüdische Hochschule«, in diesem Band S. 363-391.

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Ein geistiges Centrum I. Achad-Haam, der tiefste Denker der jüdischen Wiedergeburt, hat vor wenigen Wochen auf dem Kongresse der russischen Zionisten zu Minsk 1 seine Forderung nach einem geistigen Centrum für unsere Nation noch einmal in klaren und starken Worten ausgesprochen. »Ein geistiges Centrum, der Renaissance unseres Volksgeistes geweiht, eine Heimstätte, in der sich alle Strahlen unserer Seelenkräfte sammeln könnten.« Dieses Ziel stellte er neben das einer Heimstätte für das Volk, nicht als etwas dem Wesen nach Anderes und Unabhängiges, sondern als die zweite notwendige und gleichwertige Seite desselben Ideals: der Volksbefreiung. Freilich könnte man, so meinte er, dieser Zielsetzung vorwerfen, sie verkenne die natürliche Entwickelung eines Volkes: diese vollziehe sich ständig von unten nach oben, von den Anfängen seines wirtschaftlichen Wachstums, seines körperlichen Erstarkens durch eine lange Evolution zur Entfaltung der geistigen Kräfte. Solche an sich richtige Einwände rechnen nicht mit der einzigartig hund unvergleichbari a abnormen Art und Lage der jüdischen Nation. Wir entwickeln uns von oben nach unten. Wir sind b wie jener seltsame Bachur, 2 der Philosoph Salomon Maimon, den Kant als seinen grössten Gegner ehrte, 3 und der erst nach mancherlei Philosophieren das deutsche Alphabet erlernte. Auch ihm hätten die Klugen und Evolutionskundigen raten mögen, erst mit dem Buchstabieren fertig zu werden und dann erst ans Philosophieren zu gehen! »Wir müssen gleichzeitig von unten nach oben und von oben nach unten bauen. Das mag nicht natürlich sein, aber es ist notwendig.« 4 Dieses Paradoxon, das jeden, der noch in jenem sonderbarsten Erdreiche, im jüdischen Volke wurzelt, doch als die unmittelbarste Wahrheit 1. 2. 3.

4. a. b.

Erste allrussische Zionistenkonferenz vom 4. bis 10. September 1902. Bachur, hebr. »junger Mann«. Salomon Maimons (1753-1800) Abhandlung Versuch ueber die Transzendental-Philosophie (1790) wurde Kant durch den Berliner Arzt und Philosophen Markus Herz (1747-1803) übermittelt. Kants Lob brachte für Maimon den Durchbruch als Philosoph und wurde der Beginn eines langjährigen philosophischen Austausches, vgl. Encyclopaedia Judaica, Eintrag zu Salomon Maimon. Vgl. Achad Haam, »Die Renaissance des Geistes«, in: Am Scheidewege, Bd. 2, 1916, S. 137. In h i gesetzte Passagen fehlen in JBI. JBI: seien

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ergreifen muss, wird den Losgelösten vielleicht vergeblich entgegengehalten werden. Diese kommen stets mit fremder Historie a , weil sie die eigene nicht erkannt haben. Darum wird es gut sein, die Diskussion von dem Gebiete der Theorie, auf dem Analogiebeweise mehr gelten als die intuitive Erkenntnis absolut unvergleichbarer Individualität, auf das des Willens und des Strebens nach Einwirken auf das Geschehende zu verpflanzen. Selbstverständlich kann nur mit denen geredet werden, welche die Produktivierung der Volksart und die Entfaltung der Volksseele überhaupt für unbedingt wünschenswert und erstrebenswert halten. Diejenigen, die nur von »sozialem Empfinden« – das in Wirklichkeit in diesem Falle nichts anderes als eine Art von Mitleid ist – erfüllt sind, und denen die Judenfrage vor allem eine Frage der Judenheit, und erst in der zweiten oder dritten Reihe oder auch gar nicht eine Frage des Judentums ist, kommen hier nicht in Betracht. 5 Aber auch jene, denen die Wiedergeburt des jüdischen Geistes etwas absolut Wertvolles ist, wollen die »Kulturarbeit« nicht als gleichberechtigt neben der ökonomischen und politischen dulden. b Ihre Einwände haben zwei Grundtypen. Der eine lautet etwa: »Wie könnt ihr das Volk geistig und sittlich erziehen, ohne es vorher durch wirtschaftliche Hebung befähigt zu haben, eure Erziehung aufzunehmen?« Und der andere: »Alle Kulturgüter, auf deren Schaffung eure Arbeit hinzielt, müssen Stückwerke bleiben, wenn nicht zuvor durch die territoriale Einigung und Vereinheitlichung dem Volke die Möglichkeit einer stetigen normalen Entwickelung gegeben ist.« Auf einen dritten Einwand allgemeiner Art, der ein Eingreifen in die »Evolution« für zwecklos, ja unmöglich erklärt, kann ich hier nicht näher eingehen.6 Er beruht im letzten Grunde auf heiner allzu exklusiven Anerkennung und Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung, oder aufi jenem »historischen Determinismus«, der, aus einer einseitigen Verallgemeinerung der naturwissenschaftlichen Methode erwachsen, die Menschheitsgeschichte kausal konstruieren will, während sie nur teleologisch zu begreifen ist. Wenn wir nun zu jenen beiden spezielleren Einwänden zurückkehren, so ist es sofort klar, dass sie zwei verschiedene Seiten unserer Kulturarbeit 5. 6. a. b.

Die Unterscheidung von »Judenheit« und »Judentum« ist eine der Grundlehren Achad Haams. [Anmerkung Buber:] Dies soll in einer 1903 erscheinenden »Evolution und Revolution im modernen Judentum« betitelten Arbeit geschehen. [Nicht erschienen]. JBI: mit Argumenten aus fremder Historie Hier beginnt der im dritten Abschnitt von »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus« unter dem Titel »Von der Kulturarbeit« eingearbeitete Text.

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a

betreffen: der erste die Bestrebung, die schlummernden oder niedergehaltenen Kräfte zu wecken und loszubinden; der zweite die Versuche, den vorhandenen Kräften Bethätigung, und dadurch auch weitere Entwickelung, und zwar Bethätigung und Entwickelung innerhalb des eigenen Volkstums und der eigenen Gemeinschaft zu ermöglichen. Diese beiden Seiten b hängen innig zusammen, – hdie zweite ist ja nur eine Art Weiterführung der ersten,i und jede dient der anderen, denn die erste bereitet den schaffenden Geistern ein aufnahmsfähiges Volk und die zweite ermöglicht eine freiere und reichere Produktion von nationalen Kulturgütern, die wieder in die Erziehung und Höherbildung des Volkes eingreifen. So herrscht denn auch auf jedem Punkte und in jedem Augenblick die lebendigste Wechselwirkung zwischen beiden Seiten c h(ebenso wie auch zwischen ihnen und anderen Momenten der Kulturarbeit, die hier nicht besprochen werden)i. Dennoch ist es offenbar, dass die erste Form der Arbeit sich zunächst und unmittelbar mit den Volksmassen, die zweite mit einer geistig höchstentwickelten, schöpferisch begabten Minderheit beschäftigt. 7 Dementsprechend verhält es sich mit den beiden angeführten Haupteinwänden. Der erste dieser Einwände sieht dem von Achad Haam citierten ähnlich, aber er holt nicht wie dieser seinen Beweis aus der »normalen Entwickelung der Völker«, sondern aus den »wirklichen Verhältnissen«. Wie wollt Ihr, so lautet etwa die Frage, den jüdischen Lumpenproletarier erziehen, da er doch weder Musse noch physische Möglichkeit hat, Eure Erziehungselemente durch Lesen oder Zuhören in sich aufzunehmen? Schafft ihm erst Zeit und Freiheit, schafft ihm menschliche Daseinsgrundlagen und einen normalen Organismus, dann erst könnt Ihr daran denken, seinen Geist auszubilden. So nachdrücklich sich dieser Einwand auf die thatsächlichen Verhältnisse beruft, so unbekannt ist ihm doch ihre spezifische Natur. Das Vorgebrachte mag ja ziemlich genau zutreffen, wenn es sich etwa um den ruthenischend Bauer handelt: beim Juden ist es grundfalsch. Wäre nämlich der jüdische Kleinkrämer oder Lumpenproletarier etwas geistig Indifferentes, das nur für einen mehr oder minder engen physischen Le7.

Dies ist Achad Haams Idee von der geistigen Elite, die er in dem Geheimbund »Bne Moshe« vergeblich umzusetzen versucht hatte; vgl. dazu: L. Simon, Ahad Ha-Am, Kap. 5 (Sons of Moses), S. 76-94.

a.

Abweichend in JBI: Jene beiden spezielleren Einwände betreffen zwei verschiedene Funktionen unserer Kulturarbeit: JBI: Funktionen JBI: Funktionen JBI: slawischen

b. c. d.

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bensbedarf Gedanken zu produzieren imstande ist, so wäre es diesem tiefsten wirtschaftlichen Elende gegenüber ein thörichtes, ja grausames Beginnen, Erziehungsexperimente anzustellen. Nun sind aber diese Kleinkrämer und Lumpenproletarier gerade die geistig prononzierteste aller Menschengruppen. Das Leben des ruthenischen a Bauern ist ein kraftökonomisches System. Er denkt kaum mehr, als zur Befriedigung seiner verschiedenen direkten und indirekten physiologischen Bedürfnisse notwendig ist. Manchmal kommt ihn eine nachdenkliche, fast immer praktisch zugespitzte Neugier an, manchmal ein schwerfälliges, inhaltsarmes Sinnen. Das ist auch alles. Das Leben des jüdischen »Luftmenschen« hingegen ist alles eher als kraftökonomisch. Ein grosser Teil seiner Zeit und Kraft gehört einer geistigen Arbeit, die nichts mit seinen Bedürfnissen, ja überhaupt nichts mit einem wirklichen Leben zu thun hat. Er denkt viel nach. Aber nicht über seine Erinnerungen und seine Wünsche. Nicht über Menschen und Dinge seiner Umgebung. Er denkt nach über die vielverschnörkelten, unlebendigen Deutungen von Stellen einiger uralter Bücher; einiger Bücher, von deren geschichtlicher Bedeutung, von deren intellektuellenb , sittlichen, künstlerischen Werten, von deren lebensvollem Hintergrunde er keine Ahnung hat. Sein Denken steht ausser aller Beziehung zu irgend etwas Wirklichem. Und diesem wesenlosen Denken, diesem Spinnen von Abstraktionen ist er mit hstetigeri Maasslosigkeit ergeben. Nicht nur die vielen, die das »Lernen«, das heisst eben das scharfsinnige aber lebensfremde und unfruchtbare Grübeln über Bücherstellen, zu ihrem Lebensberuf machen und sich von ihren Frauen erhalten lassen, auch die absoluten c Geschäftsmenschen sind von dieser spezifisch jüdischen Geistigkeit erfüllt; sie durchtränkt ihr ganzes Thun, jedes Wort, jede Geste mit einer Fülle spitzfindiger Reflexion. Auch der Bauer d ist kein Instinktmensch, auch er denkt nach, bevor er etwas thut, in seiner langsamen schwerfälligen Art. Aber sein Denken ist dem jeweiligen Zwekke angepasst; es geht nicht über diesen hinaus. Der Jude denkt in jedem einzelnen Falle wohl kürzer e, aber zugleich doch viel mehr und viel mannigfaltiger. Und in seine praktischste Erwägung weben sich, ohne sie übrigens meistens zu beeinflussen, tausend lebensfremde Reminiscenzen und Gedankenschnörkel ein. Er denkt, um zu denken; überall findet er Gelegenheit dazu; und auch der Elendeste, Gedrückteste gönnt sich noch a. b. c. d. e.

JBI: slawischen JBI: geistigen JBI: ausschließlichen JBI: slawische Bauer JBI: schneller

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diesen Luxus. Es giebt nirgends sonst in der Welt Menschen, die zugleich solche Not leiden und solchen Geistesluxus treiben würden. Der »Luftmensch« ist der eigentliche Luxusmensch. Diese jüdische Geistigkeit ist eine ungeheure Thatsache, vielleicht die markanteste der ganzen grossen jüdischen Volkspathologie. Und darum a handelt es sich gar nicht darum, geistige Interessen zu wecken, sondern geistige Interessen umzugestalten. Hier ist ja unaufhörliche Geistesarbeit da; aber sie ist verzerrt, starr, krank, verschroben, wirklichkeitsfremd, unproduktiv, huneuropäischi, unmenschlich. Auf sie einzuwirken, sie zu heilen, sie umzuwandeln ist die grosse Forderung. Nicht erst die Fähigkeit, geistige Nahrung aufzunehmen, ist heranzubilden; diese Fähigkeit ist da und wird Tag für Tag bethätigt; aber andere Nahrung ist herbeizuschaffen und so, dass sie auch angenommen werde; dies ist notwendig, damit das Volk geistig gesund werde, und so ist es das Problem des Lebens. Denn (wenn man von dem sich in moderne Lebensformen von selbst einlebenden jüdischen Industrieproletariat absieht) man wird dem eigensinnigen Juden erst dann menschliche Daseinsgrundlagen schaffen können, wenn man in ihm den Wunsch nach ihnen erweckt hat, und das ist eine Sache der geistigen Erziehung. Solchen Darlegungen gegenüber wird, wo sie als unwiderlegbar erkannt worden sind, zuweilen auf die künftige palästinensische Heimstätte und auf die Macht des mütterlichen Bodens hingewiesen. Mich hat es durchschauert, als ich kürzlich von einer Chewras lomde schas8 (Verein der Talmudlerner) in einer der Kolonien, ich glaube in Rischon L’zion, 9 las. Das mag ja vielleicht ein Vorteil sein; und gewiss sind die gegenwärtigen Kolonien und die Heimstätte, wie wir sie uns vorstellen, zwei inkommensurable Grössen. Auch bin ich durchaus überzeugt, dass die territoriale Einigung, die erneute Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Volkselementen, die Möglichkeit ruhiger, steter Bethätigung aller Kräfte, vielleicht auch die klimatischen Verhältnisse des Landes, unter deren Einwirkung ja einst die Rasse entstanden ist, einen grossen heilvollen Einfluss auf das gesamte Volksleben ausüben werden. Aber ich glaube, dass all dies doch nichts anderes thun kann, als die vom Volke selbst mitgebrachten Keime des Neuen zur Entfaltung bringen, Kulturkeime sich zu Kulturwerken anwachsen zu lassen. Ich weiss nicht, ob man behaupten darf, es werde auch mit dieser ganzen krankhaften jüdischen Geistigkeit 8. 9.

Schas: hebräisches Akronym aus shisha sedarim, deutsch: »sechs Ordnungen« (des Talmud/der Mischna). Rischon le-Zion, 1885 gegründeter, südlich des heutigen Tel Aviv gelegener Ort.

a.

JBI: deshalb

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aufräumen, der Orient werde diese Entartung einer orientalischen Eigenschaft heilen. Ich glaube nicht, dass man bei einer Unternehmung, zu deren Wesen ihre Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit gehört, und deren Misslingen den Tod einer grossen Kulturmöglichkeit bedeuten würde, daran denken darf, ein Volk wie tote Fracht auf Schiffe zu verladen, hinüberzuführen und dann vom Boden alles zu erwarten: die Erlösung des kränksten aller Völker a zu einem wahren Leben. Man muss vielmehr daran gehen, die jüdische Geistigkeit umzuwerten, nicht durch Theorien, sondern durch Arbeit: durch die Heranbildung immer neuer Schichten eines kolonisationsfähigen Menschenmaterials, und zugleich einen Plan zu entwerfen, auf Grund dessen es sich, wenn die »Kolonisation im grossen Stile« beginnt, bewerkstelligen liesse, dass gerade diese entwickeltesten Schichten zum Kristallisationskern der Ansiedlung werden.10 Die Heranbildung des Menschenmaterials hängt mit der nationalen Erziehung aufs innigste zusammen; in der wirklichen Kulturarbeit treten sie immer einheitlich auf. Jede Chederreform 11 bringt uns einer starken, reifen und kolonisationsfähigen Volksgeneration näher; und wir können keine Ackerbauschule gründen, die nicht wie ein Quell nationaler Verjüngung wäre. Die wesentlichste Frage der nationalen Erziehung ist selbstverständlich die Jugenderziehung. Zwar lässt sich auch auf die Erwachsenen einwirkenh, und darüber wird, sobald man an die Organisation dieser Seite der Kulturarbeit herantreten wird, manches zu sagen seini. Doch ist es offenbar, dass nur jungen und unfertigen, noch richtungslosen Seelen gegenüber ein Werk grosser Umgestaltung möglich ist, und auch hier nur stufenweise im Wechsel der Generationen. Allerdings ist diese Arbeit stets wieder von einem Einwirken auf die Erwachsenen abhängig: eine durchgreifende Chederreform (in modern nationalem Sinne) ist zwecklos, wenn nicht gleichzeitig die Eltern über deren Notwendigkeit aufgeklärt hund bewogeni werdenh, ihre Kinder in die neuen Schulen zu schickeni; und wenn das Haus zerstört, was die Schule gebaut hat, wird allezeit nur Halbes herauskommen. Das mag ein Dilemma sein; aber eines, das durch intensives Thun aus dem Leben geschafft werden kann und muss. Dieses intensive Thun zu ermöglichen und zu organisieren, wird eine Centralisierung der nationalen Erziehung, die Schaffung einer grossen volkspädagogischen Institution erforderlich sein. Diese Frage ist – infolge der ei10. Dies ist eine Beschreibung, wie Achad Haams »Geistiges Zentrum« funktionieren soll. 11. Cheder, hebr.«Zimmer«, traditionell religiöse Elementarschule. a.

JBI: die Erlösung der am schwersten kranken aller Nationen

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genartigen Verhältnisse, in denen sich insbesondere die zunächst in Betracht kommenden russischen Juden befinden – noch nicht spruchreif und kann heute nur als Anregung aufgeworfen werden. Bis sie in ein weiteres Stadium tritt, muss der Appell an alle Berufenen genügen, intensiver als bisher für die nationale Erziehung an den Orten ihrer Wirksamkeit thätig zu sein. Kann in dieser Sache demnach das Problem des geistigen Centrums noch keine zureichende Formulierung finden, so verhält es sich ganz anders mit einer anderen Seite der Kulturarbeit, die mit einer bestimmten, schon jetzt centralisirbaren Form der nationalen Erziehung zusammenhängt. Den Grundzug dieser Arbeit habe ich als die Bestrebung charakterisiert, den vorhandenen Kräften Bethätigung und weitere Entwickelung zu ermöglichen.12 Bevor ich auf diesen Komplex von Fragen näher eingehe, muss ich zu dem ihn betreffenden Einwande Stellung nehmen. Er wird namentlich in jüngster Zeit von einigen Zionisten in ziemlich gleichmässiger Weise gegen meine Freunde und mich erhoben. »Ihr strebt eine jüdische Kultur an«, wird uns gesagt, 13 »die wird aber erst in einem jüdischen Gemeinwesen entstehen können; jetzt und hier sind Anfänge einer jüdischen Kultur umöglich«. In diesem Einwande werden drei Dinge missverstanden: unsere Bestrebungen, das Wesen der Kultur und der ganze Gang der jüdischen Volksgeschichte, den gegenwärtigen Moment in seiner historischen Bedeutsamkeit nicht ausgeschlossen. Es wird darin vorausgesetzt, es gebe keine jüdische Kultur, sondern wir strebten erst eine an. Das ist ganz unrichtig. Es gibt eine jüdische Kultur, und es hat nie aufgehört, eine zu geben. Man darf Kultur nicht mit voll b entwickelter Kultur verwechseln. Diese hat das jüdische Volk zu keiner Zeit, auch nicht zur Staatszeit, besessen. Aber es hat einer Erscheinung, wie z. B. der ganzenc Entwickelung der jüdischen Mystik gegenüber keinen Sinn, von der Kulturlosigkeit der Diaspora zu sprechen. Vollends müssig ist dies aber angesichts historischer Phänomene, wie der Auferstehung der hebräischen Sprache. Wenn das nicht Aeusserungen der jüdi12. [Anmerkung Buber:] Daran schliessen sich die Versuche, die gesamte geistige und künstlerische Produktion von Juden, soweit sie der Ausdruck jüdischer Wesensart oder doch ein Zeichen der Wi ed e rg e bu r t d es S chaf fens in unserem Volke sind, zu sammeln und der Volksgemeinschaft zuzuführen. 13. [Anmerkung Buber:] Einmal wird uns gar vorgeworfen, wir »versuchten«, »schon heute Kulturwerte zu schaffen«! Als ob man das versuchen könnte! a. b. c.

JBI: vor allem JBI: voll und allseitig JBI: die ganze

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schen Kultur sind, so wüsste ich wirklich nicht, welcher Kategorie des Geschehens sie zuzuteilen wären. Die zitierte Behauptung ist also nichts anderes als ein Beispiel jener allerdings sehr gebräuchlichen Tyrannis des Begriffes, mit der die moderne Erkenntnis- und Sprach-Kritik endlich aufräumen sollte. Auf Definitionen können wir hier verzichten. Aber das muss betont werden, dass alle Dinge, in denen sich psychophysische Eigenart eines Volkes ausprägt, zu seiner Kultur gehören. Ein Volkslied, ein Tanz, ein Hochzeitsbrauch, eine malerische Sprachwendung, eine Sage, ein Glaube, ein traditionelles Vorurteil, ein Sabbatleuchter, ein Stirnreif, ein philosophisches System, eine soziale That, all dies ist Kultur. 14 a hIn der Geschichte eines Volkes ist nur das »Zufällige«, d. h. das nicht durch die Volksart Bestimmte, nicht kultureller Natur. Alle übrigen Erscheinungen haben eine kulturelle Seite, durch die sie der nationalen Kultur zugehören.i Diese kann ja b arm, krankhaft, einseitig, unentwickelt sein, aber darum hört sie nicht auf, Kultur zu sein. Eben dies lässt sich von der jüdischen Kultur sagen. Sie ist arm, krankhaft, einseitig, unentwickelt. Sie kann nur im eigenen Volkslande reich, gesund, allseitig, vollentwickelt werden. Davon bin ich überzeugt. Freilich mu s s sie es auch dort nicht werden. Das beweisen verschiedene Epochen der Staatszeit. Aber wir werden in unserer Hoffnung durch eine eigentümliche Erscheinung bestärkt. Die Geschichte der Diaspora hat etwas Vulkanisches. Nirgends stetes c Strömen der Produktivität. Es fehlt die Kontinuität der Persönlichkeit und des Schaffens. Die Kraft des Volkes glüht Jahrzehnte, Jahrhunderte lang unter der Erde, um plötzlich hervorzubrechen in einem grossen Menschen, in einem grossen Werke. Und heigentlich fehlt das Schaffen selbst, wie sein köstlichstes Dokument, die Kunst.i Nun tritt aber d, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leise anhebend und immer stärker anschwellend, die innere Umwälzung ein, die ich heinmal alsi »Jüdische Renaissance« bezeichnet e habe.15 Unsichtbare Mächte schenken unserem Volke die Kontinuität wieder und das Schaffen des lebendigen Geistes, und sie schenken ihm das, was es nie besass, die Kunst. Wie müs14. [Anmerkung Buber]: Dies lässt sich gerade am Leben des osteuropäischen Judentums beobachten, wo einem aus allen Lebensäusserungen die leidvolle, dumpf ringende Volksseele entgegenblickt. 15. »Juedische Renaissance«, in diesem Band, S. 143-147. a. b. c. d. e.

Die Anmerkung Bubers ist in JBI in den Haupttext integriert. JBI: Eine Kultur kann freilich JBI: ein stetes JBI: nun tritt allmählich JBI: genannt

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sig ist doch das Debattieren darüber, ob es eine jüdische Kunst gebe! Gewiss giebt es keine in diesem Sinne, wie etwa eine holländische. a Aber das sind ja nur Kategorien, und das grosse historische Wunder ist die Thatsache, dass es überhaupt jüdische Künstler giebt, und die andere, dass in ihrem Sehen, in ihrer Formgebung ganz leise und heimlich etwas von jüdischer Wesensart lebendig wird, etwas von dem Erbcharakter des urreinen b Blutes, das ihre Sehnerven, ihre Handmuskeln umspült. Die Kontinuität der Produktion ist uns wiedergegeben worden. Immer stärker und stetiger wachsen intellektuellec und künstlerische Kräfte aus dem Boden. Die Stimmung eines keimreichen gesegneten Saatfeldes steigt zu uns auf. Eines alten Volkes junges Jahr. Schon überschütten uns hStaunende, uns Berauschtei die Blüten dieses ungeahnten Frühlings. Aber der uralte Erzfeind wacht, jenes Mordpaar d der Jahrtausende: hdie Fäulnis, jene »Schichten verwehter, zerzauster, zerfallender Blätter«, jener »Mulm von gealterten, wetterentwurzelten Eichen«, von dem unser Dichter zu sagen weiss, dass er mit wuchtiger Schwere die Keime niederdrückt, die aufstreben, sich zu entfalten, – und der tödliche Rauhfrost, der im Schoosse des Erdreichs nistet. Die äussere und die innere Hemmung. Zwanzig Jahrhunderte hindurch walteten sie und würgten alle jungen zarten, scheu erwachenden Kräfte. Was die Not und Lebensenge verschont hatte, das erstickten die eisernen Hände des »Gesetzes«, das erstarrte in dem harten Banne, der alles Helle, Freudige, Schönheitsdurstige, Beflügelte verketzerte und vernichtete.i e Aber sie waren nur in der vulkanischen Zeit allmächtig: es waren immer nur wenige einzelne zu besiegen, und gegen sie stand das grösste leibliche und seelische Elend der Menschheitsgeschichte in Waffen. Heute ist es anders; und wenn uns die Wiedergeburt des Volkes kein Schlagwort, sondern ein Lebensernst und eine Lebensfrage ist, dann ist uns ein heiliger Krieg befohlen gegen die beiden Widersachermächte, dann dürfen wir nicht zulassen, dass Tag für Tag junge Kräfte des Volkes zu Grunde gehen, wir müssen daran arbeiten, dass sie bewahrt bleiben, dass sie sich entfalten, und dass sie uns bewahrt bleiben, dass sie sich für uns entfalten. Keines Volkes der Erde Führer und Vertreter würden ruhig zusehen, wie ihm an allen Orten, zu allen Zeiten Talente des Geistes und der Kunst, a. b. c. d. e.

JBI: wie es etwa eine holländische gibt. JBI: reinen JBI: geistige JBI: Mörderpaar JBI hat statt des eingeklammerten Textes: Die Enge des Lebens und die Enge des Geistes, das äußere und das innere Ghetto, die noch immer nicht bezwungenen Mächte.

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Fähigkeiten, Möglichkeiten, Menschen verloren gehen. Bei uns wird weiter vegetiert. Ueberall sonst würde eine grosse Aktion ins Werk gesetzt, Bethätigungscentren ins Leben gerufen werden. Bei uns schweigt man und thut, als wüsste man nicht, dass alltäglich Menschen starker und reicher Gaben in unheimlicher Zahl dahingerafft werden; nicht vom Tode, sondern von der Not, die sie ins Joch spannt und alle Himmelsstimmen vergessen lässt, von der Lebensenge, die sie einsperrt a hin das dunkle dumpfe Ghettoi und ihnen keinen Blick gewährt in die weite leuchtende Welt, von der Tradition, die das freie Feuer des Geistes und die bildnerische Heiligkeit der Kunst mit gleichem Sündenfluche trifft. Die aber, die all dies überwunden haben und durch all dies hindurchgelangt sind zu sich selbst und zu ihrem Werke, müssen sie sich nicht der Gemeinschaft entfremden, die sie gelästert und gepeinigt hath, müssen sie nicht mit Inbrunst die dargebotene Hand Europas ergreifeni? Das apriorische Verdammen ist ein gar zu dürftiges Beginnen. Aber die Treugebliebenen, hdie Idealisten der Selbstaufopferung,i haben sie denn mindestens ein eigenes Publikum, zu dem sie reden können? Ist nicht die jüdische Bourgeoisie zu entartet, um sie hören zu wollen, und die jüdische Volksmasse zu dunkel, um sie verstehen zu können? Und die wenigen, die Ohr und Herz für sie hätten, giebt es eine Brücke zu diesen? Giebt es Centren der Mitteilung, der geistigen und der künstlerischen? Hier eröffnet sich eine Fülle von Aufgaben für eine Kulturarbeit. b Und man begreife doch endlich, um was es sich handelt; diesen jungen Kräften, unserem teuersten nationalen Besitztum, hdiesen wunderbar Gewonneneni die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, ihnen Bethätigung und Entwickelung in lebendigem jüdischen Geiste, in lebendiger jüdischer Kunst zu schaffen! So nur kann die Herrschaft jener alten kranken Kultur gebrochen und eine junge auf den Thron gesetzt werden. So nur können wir hoffen, neu den Boden des neuen Palästinas zu betreten. Wir sind in die Epoche der Kontinuität eingetreten. Auch Zion kann nur als eine Konsequenz der inneren Volksentwickelung erstehen.c hVon der Schaffung von Mitteilungscentren wird gelegentlich, vielleicht im Abschlusse an das Wirken unseres »Jüdischen Verlags« in Berlin und verwandten osteuropäischen Unternehmungen, näheres zu sagen

a. b. c.

JBI: eingesperrt hält Ende des in »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus« zitierten Textes. Die folgenden Sätze beschließen den Text in JBI: An uns ist es, sie zu hüten und zu fördern. Wir sind in die Epoche der Kontinuität eingetreten. Es gilt, auch in uns selbst Kontinuität auszubilden, und eine vor allen: die zwischen dem Gedanken und der Tat.

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sein. Von grösserer Bedeutung sind die Ausbildungscentren. Von diesen müssen wieder die den künstlerischen Kräften und die den geistigen Kräften gewidmeten gesondert behandelt werden. Ich möchte zuerst der letzteren gedenken. Vor Kurzem ist im J ü d i s chen Verlag e eine Broschüre erschienen, die den Titel »Ei ne J ü d i s che Ho chs chu le« trägt. 17 Sie ist von meinen Freunden Ber t ho ld Feiwel und Chai m Wei t zma nn und mir unterzeichnet. Im nächsten Hefte dieser Blätter 18 soll ihr ein eingehendes Referat gelten. Heute sei nur noch angedeutet, wie ihr Zweck mit dem, was ich hier gesagt habe, zusammenhängt. Die J ü d i s che Ho chs chu le, deren wirtschaftliche und geistige Notwendigkeit in der genannten Schrift nachgewiesen wird, ist nicht bloss als Ausbildungscentrum, sondern auch als Mitteilungscentrum gedacht. Sie soll die jüdischen Lernenden und die jüdischen Lehrenden vereinigen: den ersten Entwickelung, den zweiten Bethätigung schaffen. Sie soll die erste moderne Stätte des jüdischen Geistes werden, die erste Stätte des modernen jüdischen Geistes, des Wiedergeborenen. Der erste organische Anfang eines geistigen Centrums.i

16. [Anmerkung Buber:] Einige allgemeine Angaben konnte ich in meinem Referate über Jüdische Kunst auf dem V. Zionistenkongresse machen. [Wird erscheinen in Band 7.2 der MBW.] 17. Abgedruckt im Anhang dieses Bandes, S. 363-391. 18. D. i. die Zeitschrift Ost und West. Ein Artikel zu diesem Thema ist dort nicht erschienen.

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Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung Einige Bemerkungen Die Schaffenden sind nicht »die Intellektuellen«. Die reinen Intellektuellen haben zu viel Logik und zu wenig Mysterium him Leibei a . Sie stehen auf der Wahrheit, nicht auf der Wirklichkeit. Das wissen sie nicht, dass Wahrheit nur Bearbeitung, aber nicht Sinn des Lebens ist. Ihr Weg ist eine gerade Linie. »La vérité est en marche …« 1 Sie schlagen sich nicht wund an der Vieldeutigkeit, sie stehen nicht schwindelnd am Abgrunde des Nein, sie vergehen nicht an dem Widerspruch, sie kämpfen nicht mit dem Elohim bis er sie segnet, sie erfahren nicht die grosse Erneuerung der Seele. Die Intellektuellen treten für Ideen ein und wirken im Dienste der Civilisation. Die Schaffenden erleben das Einmalige und – schaffen das Einmalige. Die Schaffenden sind auch nicht »die Künstler«. Die reinen Künstler sind unvergleichlich mehr auf das Machen aus als auf das Werden. Die vollkommene Technik eines Gebildes ist unstreitig eine beglückend schöne Sache, aber unserer Zeit ist der Sinn für das verloren gegangen, was darüber hinausgeht und nicht mehr Glück, sondern Erlösung bringt: die Berufung und das Schicksal des Berufenen. Auch kommt hier ein weiterer Kreis des Materials in Betracht; denn es giebt Schaffende, die ihr Werk aus Menschenseelen, aus Völkern und Kulturen bilden, manche aus dem eigenen Wesen, andere aus ganz losgelösten Werten und Offenbarungen. Der Künstler ist auf Medien der Mitteilung beschränkt, der Schaffende kann auch Dinge zeugen, die ganz innerlich und jenseits aller Sprache sind und die b andere Menschen hnur mittelbari bewegenc . Die Schaffenden sind zugleich die Intellektuellen und die Künstler. Wenn sie mit den Ganglien verglichen werden können, in denen sich der durch Anreize ausgelöste Nervenstrom verdichtet und verarbeitet, so wird ja durch diesen centralen Vorgang zweierlei Reaktion bewirkt: Vorstellung und Willensregung. Die Schaffenden sind die Starken und Vielfältigen, in denen das menschheitliche Geschehen zusammenströmen muss, um zu neuen Entwickelungen in Geist und That zu gelangen.

1.

Franz.: Die Wahrheit ist auf dem Weg. Zitat nicht nachgewiesen.

a. b. c.

In h i gesetzte Passagen fehlen in JBI. JBI: die dennoch andere JBI: zu bewegen vermögen

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Ein Volk wird zusammengehalten durch primäre Elemente: das Blut, das Schicksal – so weit es auf der Entwickelung des Blutes beruht – und die kulturschöpferische Kraft – soweit sie durch die aus dem Blute entstandene Eigenart bedingt wird. Ein Volk wird ni cht zusammengehalten durch sekundäre Elemente: Nutzzweck und Glauben (wie wirtschaftliche oder religiöse Gruppen). Dieses muss immer wieder betont werden: ein Volk ist eine Menschengemeinschaft, deren Daseinsgrund jenseits alles Nutzens und vor allem Nutzen liegt. Die erste Erlösung aber, die dem Einzelnen zu teil wird, ist die Erlösung vom Nutzzwecke. So wird der erlöst, der zum Volke kommt. Er kommt vom Nutzgetriebe zu den ursprünglichen waltenden Kräften, vom Aeusseren des Lebens in sein Inneres, von der Erhaltung im Augenblick zur Erhaltung im Wechsel der Generationen. Er steigt zu den Müttern hinab. 2 Er wohnt bei einem dunklen und gewaltigen Bildner. Und dieses Andere: jenseits alles Glaubens und vor allem Glauben. Der Glaube hat die Macht verloren, Seelen in den Arm zu nehmen und an das Herz der Welt zu legen. Heute lügt er dem Leben und thut deinen wogenden Sinnen Gewalt an. Aber wer seinen Gott verloren hat, mag tief verwaist sein. Auf seinem neuen Wege kann da das Volk eine erste Station werden. Diese wunderbare Reihe von Zeugungen und Geburten, in denen die Art sich entfaltet, diese breite vielverschlungene Verwandtschaft kann für ihn der erste feste Boden werden. Er steht noch in einem engen Bezirke; aber schon sieht er, dass der Weg vom Etwasglauben zum Etwassein führt. Man sollte die guten, reichen und einfachen Worte nicht verschwenden. So auch das Wort »Bewegung« nicht. Man sollte nur da von Bewegung sprechen, wo eine Aufwärtsbewegung von Keimen sich kundgiebt. Kräfte werden gehemmt, Kräfte wollen frei werden, wollen fruchtbar werden: so bewegen sie sich, so bewegen sie die Welt. Die Bewegung eines Volkes ist das Fruchtbarwerden eines Volkes. Denn auch wenn sie erliegt, ist ihre Tragik von einer einmaligen grossen Fruchtbarkeit durchleuchtet. Im Alltagsleben eines Volkes wirken seine Gemeinsamkeiten – Blut, Schicksal, kulturschöpferische Kraft – so zu sagen rein physiologisch: sie bleiben unter der Schwelle des Bewusstseins. Erst in der Bewegung h(oder wenn ein Volk aus Nutzzwecken zu einer Scheinbewegung aufgestachelt wird)i werden sie bewusst, weil die Bewegung eine Einheit braucht und 2.

G. Schmidt, The First Buber, S. 207, verweist darauf, daß dieses öfter wiederkehrende »Herabsteigen zu den Müttern« (in diesem Band auch in »Das Land der Juden«, S. 355) auf den Ausspruch Mephistos in Goethes Faust II (1. Akt, Finstere Galerie, V. 6215 ff., in: Goethe, Faust II, S. 191) zurückggeht.

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diese eben durch die Bewusstwerdung des Gemeinsamen, durch das Werden und Wachsen des Volksbewusstseins zu stande kommt. Durch das Volkstum wird der einzelne allzeit bereichert und gefestigt; durch die Bewegung seines Volkes nur dann, wenn sie es wirklich ist, d. h. wenn er an der Aufwärtsbewegung von tausend und tausend verwandten Keimseelen und an der allgemeinen Produktivierung seines Blutes und seiner Art teilnehmen darf. Zwei a Grundmächte des schöpferischen Lebens sind Wurzelhaftigkeit und gebundene Tragik. Freilich wird der Schaffende stets nicht vom Gestern, sondern vom Morgen die Losung und nicht von dem seit jeher thronenden, sondern von dem werdenden Gotte das Gesetz empfangen. Und die gewesenen Dinge werden Thon in seinen Händen sein. Aber seine Werke sind nur wie Krystalle und nicht wie Früchte, wenn nicht über aller seiner Willkür doch die Macht des vegetativen Wesens steht. So fasst er Wurzel in den Gründen seines eigenen Gewordenseins und kann sich nicht bloss in die freie, wechselvolle Luft, sondern auch in das dunkle und unwandelbar überdauernde Erdreich hinein wachsend ausbreiten. Heute führt Satan den Schaffenden nicht auf einen hohen Berg, ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten zu zeigen. 3 Sondern aus der Unendlichkeit heraus versucht er ihn und lockt ihn sich an das Wesenlose zu verlieren und in die weite Wirrnis zu schweifen, in der alles menschlich Klare und Begrenzte aufgehört hat. Des Schaffenden Reich ist aber da, wo Gestalt und Gestaltung gedeiht. Darin zu bleiben ist ihm die Wurzelhaftigkeit ein mächtiger Helfer. Am seligsten wird sie dem zu teil, der auf eigener Erde sitzt. Auf d er Erde, aus deren Elementen, aus deren Dürre oder Feuchtigkeit, aus deren Frieren oder Glühen, aus deren grauem oder leuchtendem Himmel, aus deren ebener oder gebirgiger Formung, aus deren armen oder üppigem Pflanzentum, aus deren starrer oder zarter Landschaft das Blut und das Leben seiner Ahnen und darin die Anfänge seiner Art entstanden sind. Dem Verbannten aber kann das Gefühl innerlichsten organischen b Zusammenhanges mit vergangenem, gegenwärtigem und kommendem Volkstum eine Heimatlichkeit schaffen, die wohl wie die Sehnsucht unzulänglich, aber auch feuerbeseelt wie sie ist. Die andere Grundmacht habe ich gebundene Tragik genannt. Diese, 3.

Vgl. Mt 4,8.

a. b.

JBI: Die zwei JBI: Das Gefühl des organischen

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d. h. die erlösende Bejahung eines Widerstreites, ist das Wesen alles Schaffens. In dem Schaffenden wird eine tiefe Verzweiflung und Zerrissenheit zur Harmonie. Er ist nicht einer, der an Abgründen vorübergeht, sondern er hat alles gesehen und alles aufgenommen und wagt es, diese niederträchtige Welt zu wo llen. Wie wird nun der in seinem tragischen Gehalte bereichert, der zu seinem Schicksal das Schicksal seines Volkes auf sich nimmt und sich einverleibt! Jude sein ist eine unermesslich tiefe Tragik. Von dieser erfährt, wer an seinem Judentum vorübergeht, nur das Gröbste und Handgreiflichste, das gar nicht zum wesentlich Tragischen gehört. Wer aber sein Judentum in sein Leben aufnimmt, um es zu leben, der erweitert sein eigenes Martyrium um das Martyrium von hundert Volksgenerationen, er knüpft die Geschichte seines Leibes an die Geschichte zahlloser Leichen, die einst geduldet hatten. hEr erweitert seinen Kampf und sein mystisches Hoffen.i Er wird der Sohn der Jahrtausende und deren Herr. Er erhöht Ton, Sinn und Wert seines Daseins. Er schafft sich neue Möglichkeiten und Formen des Lebens. Zauberquellen eröffnen sich seinem Schaffen, und die Elemente der Zukunft sind in seine Hand gegeben. Die Schaffenden sind die heimlichen Könige des Volkes. Sie regieren das unterirdische Schicksal des Volkes, von dem das äussere nur der sichtbare Widerschein ist. Man kann sie, wie ich schon sagte, mit einiger AnalogieBerechtigung als die Ganglien bezeichnen, in denen sich das Erleben des Volkes einerseits in Aussprachen und sinnvolle Gestalt, andererseits in Handeln und Einwirken auf das eigene Geschick umsetzt. Das Volk ist der schwerfällige Körper, dem das Centralorgan zugleich die Ausdrucksmöglichkeit und die Wahlmöglichkeit giebt. Ohne dieses reagiert der nationale Organismus nur in Reflexbewegungen auf die äusseren Anreize. Wo keine Schaffenden sind oder wo sie vom organischen Leben des Volkes losgelöst sind, da fehlt der immanente Zusammenhang zwischen Erleben und Thun, der dieses zur Antwort auf jenes macht, und eine normale einheitliche Kulturthätigkeit, aber auch ein grosses und freies Schicksal ist unmöglich. Bei einem blühenden und selbstsicheren Schollenvolke darf dieser Einfluss der Schaffenden zu Zeiten wohl unter die Schwelle des Gesamtbewusstseins sinken, keineswegs aber bei einem Volke, das die Segel nach einem fernen und befreienden Hafen gespannt hat. Hier muss er vielmehr unvergleichlich intensiver und offenbarer auftreten. So sind bei einigen slavischen Völkern die Dichter in Wahrheit die Gesalbten und die Boten des Wortes.

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Andere sind nur gefesselt, wir aber sind auch tief krank. Und vielleicht das Schmerzhafteste unserer Krankheit ist die Stellung der Schaffenden in der Gegenwart unseres Volkes. Sie sind dem natürlichen Leben der Gemeinschaft, aus der sie stammen, entrückt. Sie sprechen eine ganz andere Sprache als die Massen, aus denen sie emporgestiegen sind. Aber sie haben auch einen ganz anderen Willen. Keine Brücke führt von ihnen zu dem dunklen und keimreichen Volke. Aber sie wollen auch keine Brücke. Ist es nur darum, weil sie lieber in der glanzvollen Fremde Satrapen als bei uns die freiesten Fürsten a und die Geliebten unserer Sehnsucht und unsere schöneren Brüder im Leid sein wollen? Oder fühlen sie sich mit ganzem Wesen einer anderen Gemeinschaft zugehörig? Oder ist auch ihnen jener vielgepriesene Völkerbrei die erstrebenswerte Grundlage ihres Schaffens? Oder ist ihnen all dies einfach – gleichgiltig? Wie es auch sein mag, ihre Fremdheit ist nicht, wie manche Zionisten behaupten, eine Erscheinung des Emanzipations- und Assimiliationsproblems, sondern das Ergebnis einer grossen und grauenhaften Pathologie zweier Jahrtausende unseres Volkes. Die aber die Brücke wollen, jedoch nicht wissen, wie sie erbaut werden könnte, denen ersteht in der Bewegung ein starker und mit jedem Tage wachsender Helfer. Hat sie die Schaffenden erst auf das Volk als auf ein lebendiges zukunftsvolles Wesen aufmerksam gemacht und so ihr Verständnis für das Volk geweckt, so weckt sie auch in diesem selbst immer stärkeres Verständnis für die Schaffenden. Sie bindet seine Kräfte los, sie entfaltet seine Fähigkeiten, sie erzieht es; oder vielmehr sie bewirkt dies alles nicht, sondern sie i st es: das Fruchtbarwerden des Volkes. Sie lockt die Seelenenergie des Volkes heraus b . In der wunderartig aufrüttelnden Hand der Bewegung wird das Volk immer haufnahmsfähiger undi verarbeitungsfähiger. So kommt es den Schaffenden entgegen. Wenn man die Bewegung hebeni als das Fruchtbarwerden des Volkes auffasst, versteht man den Zusammenhang von Schaffen und Bewegung in unserer Volksgegenwart. Beide wurden fast die ganze Diaspora hindurch von der kranken, verzerrten, tyrannischen Ghettokultur niedergehalten und verdorben, bis die zu Schaffenden Geborenen ohnmächtige Ketzer und die ewig auflebenden Flammen der Bewegung taumelhafte Epidemien wurden. Beide mussten jetzt, in dieser Renaissancephase un-

a. b.

JBI: uns freie Fürsten JBI: hervor

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seres Volkstums, erwachen und aufblühen. Und sie werden einander näher kommen, miteinander verschmelzen müssen. Denn sie sind im letzten Grunde Eines: die Unzerstörbarkeit des Werdens in dem tragischsten aller Völker.

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Der Jude Revue der jüdischen Moderne Herausgeber: Dr. Chaim Weizmann. Redaktion: Martin Buber und Berthold Feiwel. Erscheint monatlich von Mai 1903 ab im Jüdischen Verlage, Berlin SW., Grossbeerenstr. 75a Den in deutscher Sprache erscheinenden jüdischen Blättern soll ein neues hinzugefügt werden. Es schöpft seine Existenzberechtigung daraus, dass es in Wahrheit ein neues, ein anderes Blatt sein soll. Eine Revue der jüdischen Moderne wollen wir geben. Was ist die jüdische Moderne? Noch können wir keine erschöpfende Fassung des Begriffes bieten. Sie mit Ernst und Hingabe zu suchen, soll unsere vornehmste Aufgabe sein. Die jüdische Moderne, wie wir sie sehen, ist der Ausdruck der jüdischen Renaissance, ist nicht etwas Gemachtes, sondern etwas Gewordenes, ein Stück Volksentwicklung, ein geschichtliches Phänomen. Sie umfasst alle Lebensmöglichkeiten und Lebensäusserungen des neuen Judentums. 1 b Nicht wie die meisten anderen wollen wir ein Stück aus dem lebendigen Organismus der Nation herausreissen und es als d a s Judentum, als den Inbegriff seines Wesens und seiner Bestimmung hinstellen. Wir wollen nicht von einer mehr oder minder niedrigen Parteiwarte aus die Erscheinungen eines grossen Volksschicksals messen. Eine junge Generation, geschaffen von diesem Schicksal und von ihm getragen, will die vielen Probleme, die sie staunend auf ihrem Wege findet, von klaren unbefangenen Augen erfasst und von sicheren Händen dargestellt sehen, um sie ganz zu erkennen. Für diese Generation, die ihr Volk in sich erlebt, ist das Judentum nichts Gewesenes und Abgeschlossenes und nichts in starre Formeln Gebanntes, sondern das lebendige Volkstum in seiner ganzen Weite und Tiefe, in seiner Vielfältigkeit, in allen seinen Formen 1.

Zur Kritik am hier formulierten Begriff »jüdische Moderne« vgl. den Brief Moses Gasters an Buber vom 19. November 1903, M. Buber, B I, S. 221.

a.

Die zweite gedruckte Vorankündigung [forthin: V2] weicht mehrfach von dieser Überschrift ab: 1. Der Untertitel »Revue der jüdischen Moderne« ist weggelassen. 2. Der voraussichtliche Erscheinungstermin ist Januar 1904. 3. Als Herausgeber werden genannt: Martin Buber und Chaim Weizmann. Die Redaktionsangabe entfällt. Feiwel hatte sich in der Zwischenzeit von der Mitarbeit zurückgezogen, vgl. E. Lappin, Der Jude, S. 16. Dieser Absatz fehlt in V2.

b.

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und Kundgebungen. Aber nicht um seiner selbst willen soll der Erscheinungskomplex des modernen Judentums gesucht und aufgedeckt werden. Es soll versucht werden, die Bestimmung des Volkes aufzuzeigen und aus der Erkenntnis heraus seinen Zukunftswillen zu entfachen. Wir haben bisher kein Organ, das diesem Zwecke ohne alles Vorurteil, ohne alle Phrasen, ohne allen Opportunismus dienen würde. Um so grösser und schwerer wird unsere Aufgabe sein, wenn wir versuchen werden, eine solche Auffassung und Behandlung des Judentums vorzubereiten. Kein Weg ist so dornenvoll wie der Weg Jener, die den Parteien vorangehen wollen. Und das wollen wir. In zweifacher Richtung vornehmlich muss unser Blatt wirken: positive Erkenntnis und produktive Kritik soll es fördern. Welche positive Erkenntnis? Zunächst wollen wir erforschen, wie das Judentum geworden ist. Die pragmatische Geschichtsschreibung des Judentums hat Bedeutendes geleistet; hingegen ist die historische Untersuchung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenhänge noch in ihren Anfängen begriffen. Die jüdische Renaissancebewegung, welche die Volksteile und Volksinteressen wieder aneinander zu gliedern beginnt, hat auch hier den Sinn für das Ganze erweckt und die Aufmerksamkeit auf die Ges amt hei t der nationalen Entwickelung gelenkt. Eine s ynt het i sche Forschung und Darstellung ist es, die wir aus wissenschaftlichen und aus praktischen Gründen benötigen. Vorbereitet kann sie nur durch eine monographische Bearbeitung der so komplizierten Materie werden. Versuche solcher Bearbeitungen wollen wir bringen. Die synthetisch-historische Betrachtungsweise leitet auf allen Punkten zu einer Untersuchung der gegenwärtigen Verhältnisse hin. Auch da kann es sich für eine Zeitschrift nur um eine schrittweise monographische Erschliessung handeln. Wir können hier nur andeuten, welche Gebiete in Betracht kommen. Vor allem soll an eine gründliche Darstellung der allgemeinen Lage der Juden und an eine Aufdeckung ihrer tieferen Ursachen herangeschritten werden. Im Anschluss daran wird die Lage der Juden in den einzelnen Ländern geschildert und geprüft werden. Dieses allgemeine Gebiet sollen speziellere ergänzen. Die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Seiten des jüdischen Lebens der Gegenwart sollen in ihrer Eigenart und in ihren gegenseitigen Einflüssen beleuchtet werden. Die spezifisch-jüdische Oekonomie wird ein Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit sein; innerhalb ihrer werden in praktischer Hinsicht namentlich die Probleme der wirtschaftlichen Organisation, der Auswanderung und der Kolonisation untersucht werden. Von der sozialen Frage werden insbesondere die Themen der gesellschaftlichen Gruppierung, der Klassenschichtung und des gewöhnlich unter

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dem Namen des jüdischen Ausnahmezustandes bekannten Erscheinungskomplexes von Interesse sein. Die jüdische Gesamt- und Sonderpolitik aller Art, vornehmlich aber die nationale und zionistische wird uns in ihren Prinzipien und Aeusserungen beschäftigen. Unser Hauptaugenmerk werden wir naturgemäss den kulturellen Erscheinungen zuwenden. Wir wollen uns, analog der erwähnten historischen Betrachtungsweise bemühen, aus allen Betätigungen des modernen Judentums den Gehalt an kulturellem Eigenwert herauszuholen und so auch hier, wo bisher so oft Unsicherheit und Verschwommenheit geherrscht haben, für Theorie und Praxis die Grundlage positiven Wissens vorzubereiten. Im besonderen aber soll alles, was in Literatur, Kunst und Wissenschaft von Juden geschaffen wird, sollen alle Phänomene der Religiosität, des Ethos und der Weltanschauung, in denen sich die jüdische Volksseele äussert, in den Kreis unserer Betrachtung gezogen werden. Endlich möchten wir, entsprechend der Anschauung, dass die Entwickelung des jüdischen Volkes nur eine Teilerscheinung der allgemeinen Menschheitsentwickelung darstellt und dass vor allem die jüdische Renaissance nur im Zusammenhange mit den die moderne Gesellschaft und das moderne Völkerleben bewegenden Ideen verstanden werden kann, alle Allgemeinprobleme, insofern sie sich auf das Judentum und sein Schicksal beziehen lassen, in die Untersuchung einschliessen. So weit die Erkenntnis im engeren Sinne. Auch Kritik ist Erkenntnis. Aber nur, wenn sie mit ehrlichem Sinne die Wirklichkeit durchforscht und neue bessere Wirklichkeiten schaffen hilft. Die Kritik im jüdischen Lager leidet an zwei grossen Mängeln: sie wird oft von solchen gemacht, die dem lebendigen Judentume ferne stehen und aus ihren Sonderinteressen heraus eher seinen Untergang als seine Entfaltung wünschen, jedenfalls aber keine nationalen Zukunftshoffnungen haben und daher alles Zukunftanbahnende verneinen und stören; aber andererseits verliert sich auch dort, wo man an das Volkstum glaubt und seine Weiterbildung will, die Kritik nur allzu häufig in kleinliche Nörgelei und befangene – parteifanatische oder separatistische – Ungerechtigkeit, sie büsst den Blick fürs Ganze ein und ersetzt Rüge und Anregung durch Spott und Schmähung. Wir hoffen, dass es uns möglich sein wird, einer anderen Kritik die Wege zu ebnen. Einer Kritik, die, so scharf und unnachsichtig sie auch sein mag, doch über alles die Volkssache setzt und nie vergisst, dass auf einem so exponierten Posten Wahrhaftigkeit und Vornehmheit mehr als sonst irgendwo unerlässliche Voraussetzung sind. Von diesem Gesichtspunkte aus soll das Verhältnis von Juden und Nichtjuden zum Judentum behandelt werden. Dann aber auch alle Schäden der jüdischen Gesellschaft, alle Unzulänglichkeiten der jüdischen Gemein-

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schaften und Institutionen, alles Kranke und Zersetzende im jüdischen Volksorganismus. An allen diesen Punkten wird eine gesunde fruchtbare Kritik einsetzen müssen h, die geeignet sein wird, eine Grundlage für lebendige, im besten Sinne realistische Initiative auf allen Gebieten zu bildeni. a Aus dem Gesagten, das nur eine allgemeine Skizzierung unserer Absichten enthält, geht hervor, dass das Blatt, an das wir denken, nicht der Ausdruck von Dogmen und Schlagworten sein kann, sondern nur ein unabhängiges Organ für freien und wertvollen Meinungsaustausch. Und schon damit allein wäre bei dem derzeitigen Stand der deutsch-jüdischen Presse seine Notwendigkeit erwiesen. hEs darf aber wohl auch gesagt werden, dass unbedingter, das Ganze erfassender und alles Einzelne beachtender Wahrheitssinn, wie wir uns ihn als die Seele unseres Blattes denken, die einzige Möglichkeit ist, die Juden- und Judentums-Frage in würdiger Weise der Kulturmenschheit zur Diskussion zu stellen.i b Ein grosses und schweres Unternehmen ist es, das unsere Pläne eröffnen. Wir wissen, dass es nur durch die Zusammenarbeit der Besten und Berufensten gelingen kann. Sie aufzusuchen und heranzuziehen, das eben wird unsere wesentliche Aufgabe sein. Mit ihrer Hilfe wollen wir dann versuchen, den Anfang in der Form einer Monatsschrift zu machen, die – wenn es glückt – zu einer Wochenschrift ausgestaltet werden soll. 2 Unserem Organe glaubten wir nach dem, was wir wollen, den Namen »Der Jude« geben zu dürfen. Wir werden die Einteilung des Blattes im Sinne einer modernen europäischen Revue vornehmen. Artikel über aktuelle Fragen, genügend Raum für längere, zugleich gründliche und gemeinverständliche Abhandlungen aus den genannten Gebieten, genügend Raum aber auch für eine Monatsschau in periodisch geführten Rubriken (wie Bücherschau, Revue der Presse, Volkskunde, Statistisches, Wirtschaftliches, Emigration, Palästina, Hebräische Sprache, Wissenschaft, Kunst und Literatur, Politik, Nationale Bewegung und Zionismus), die zusammen eine stetige Uebersicht über die jüdische Gegenwart ermöglichen sollen. Der belletristische Teil wird mit besonderer Sorgfalt in der Auswahl der Beiträge redigiert werden. Endlich soll jedem Hefte ein Kunstblatt beigefügt werden. Selbstverständlich wird die äussere Ausstattung allen ästhetischen Ansprüchen genügen müssen.c 2.

Dieser Vorsatz konnte nicht verwirklicht werden.

a. b. c.

Zusatz in V2 Zusatz in V2 Die beiden letzten Sätze fehlen in V2.

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Bei Arbeiten und Unternehmungen, die wir bereits auf ähnlichem Gebiete nach unserer Kraft eingeleitet haben, haben wir so viel Sympathie und Förderung gefunden, dass wir sie auch für diesen Plan, den wir hiermit der Oeffentlichkeit übergeben, erhoffen zu dürfen glauben.

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Was ist zu tun? Einige Bemerkungen zu den »Antworten der Jugend« (1904) 1 I. Diese Antworten der Jugend sind der Ausdruck noch unfertiger, suchender, irrender Seelen; ein zuweilen allzu rhetorischer, allzu gesprochener Ausdruck; aber – ein Ausdruck, und ein Ausdruck von Seelen. So viel Seelenlosigkeit ist im gegenwärtigen »Zionismus«, so viel enge Phraseologie in den »zionistischen« Reden und Artikeln,2 so viele Worte der Oberfläche und so wenige Worte aus der Tiefe, daß Freude einen erfaßt beim Anblick eines ehrlichen und frischen Gefühls, beim Anblick dieser rücksichtslosen Eruptivität, dieser Jugend der Jungen. Aus dem sittlichen und geistigen Stillstand einer Partei kann uns nur eine glühende Wahrheit, die Wahrheit der Persönlichkeit, die Wahrheit, die Seele ist, erlösen. Der junge Jude, der in sich und um sich schaut, erkennt das Judentum in der eignen Seele, das Judentum im Blute der Väter und der Mütter und das Judentum im stummen Lebensopfer der Millionenschar der Brüder, und aus diesem Schauen, aus diesem Erkennen wird das Wort und die Tat für das Volk – dies ist die größte Kraft der Wiedergeburt. In den »Antworten der Jugend« sehe ich hier und da Elemente dieser Kraft. Hier und da nur. Denn es gibt auch traurige Blätter in diesen Antworten. Solch ein Blatt ist die psychologisch wichtige, durch die Offenheit des Bekenntnisses unserem Mitgefühl näher gebrachte, aber an sich selbst überaus traurige Geschichte von dem ehrgeizigen Juden und dem unbarmherzigen Gervasius, 3 in der – natürlich wider Willen des Erzählenden – das Judentum wie etwas aussieht, dem man sich anschließt, weil das erwünschte »Bessere« die Aufnahme verweigert. Daß mancher der Unseren dieses Stadium durchmachen mußte, ist vielleicht das furchtbarste Zeichen der Pathologie unserer Lage. Wer von diesen darüber noch nicht 1. 2. 3.

[Anmerkung Buber:] Die Grundlage dieser Ausführungen war eine unter den jüdischen Gymnasiasten Galiziens veranstaltete Umfrage über die Aufgaben der zionistischen Jugend. Buber befand sich in jenen Monaten auf dem Höhepunkt seiner Kritik an der Zionistischen Organisation. [Anmerkung Buber:] Anspielung auf eine Episode des Epos »Herr Thaddäus« des polnischen Dichters Adam Mickiewicz, in der ein alter Schloßverwalter einen polnisch-patriotisch empfindenden jüdischen Spielmann, der in den Streit einiger Edelleute beschwichtigend eingreifen will, derb abfertigt. [Vgl. zu Bubers Verhältnis zum Autor die Einleitung von Martin Treml in MBW 1, S. 22-23.]

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hinausgelangt ist, der neide den Gefangenen des Titus, die unser Heiligtum durch die fremde Stadt tragen, 4 der arbeite an sich, um erst wahrhaft Jude zu werd en, er erkenne, daß er nicht »auf schwindelnder Höhe«, sondern am Fuße unseres Berges steht, daß er nicht ein »freier Jude« ist, sondern ein Jude, dem es aufgegeben ist, erst nach der Freiheit zu streben. Noch einmal: er arbeite an sich! 5 Zwar nicht so traurig, aber ebenso falsch und vielleicht schädlicher ist die Auffassung des Zionismus als einer Tendenz zur Besserung der Lage der Juden, die »in mancherlei Hinsicht viel zu wünschen übrig läßt« (!). Diese Betrachtungsweise ist den Ansichten der sogenannten humanitären Zionisten verwandt, die alles andere, nur keine Zionisten sind. Auch hier im Vordergrund »der Kampf gegen den Antisemitismus«, den Antisemitismus, der für unsere Bewegung nur eine zeitliche Auslösungsursache war, aber mit unserer Idee und unserem Programm nichts zu schaffen hat. Aus einer solchen Auffassung ergeben sich Folgerungen wie die, die einer der Antwortenden ausspinnt: der Kampf gegen den Antisemitismus werde »fürs erste auf der Überwindung unsrer Fehler beruhen«, sodann auf der »Auswanderung der Juden nach Palästina«. Nein, Kamerad! Wenn wir arbeiten, in unserer Seele das Golus abzutragen und Zion aufzubauen, in unserem Geist das negative Judentum auszurotten und das positive fruchtbar zu machen, so tun wir das nicht, um denen zu gefallen, die uns nicht lieben, sondern weil wir unsere nationale Eigenart entwickeln und vollenden wollen, weil wir uns nach der Wiedergeburt sehnen und uns tätig sehnen. Und wenn wir danach streben, die Juden in Palästina zu zentralisieren, so tun wir das nicht, weil »die sich aus dem verschärften Kampf ums Dasein ergebenden Reibungen mit den andern Völkern eine Brutstätte für den Antisemitismus bereiten« und wir daher weichen sollen, sondern weil nur aus der Zusammenströmung des Volkes auf eigener Erde, aus der Erneuerung der geschichtlichen Kontinuität, aus der Kraft des palästinensischen Ackers ein gesunder Volksorganismus, ein in Trieb und in Werk regeneriertes Judentum, der gewandelte jüdische Geist auferstehen kann. Nicht die Besserung der Lage der Juden, sondern die Erlösung der Nation ist der Inhalt unserer Idee. Also ist die wahrhafte Liebe zum Volke nicht die, von der die Kameradin Esther M. spricht, nicht die, »die man immer für die unschuldig Verfolgten und Gemarterten fühlt«, sondern die, die man für das eigene Blut und das eigene Sein fühlt, für seine Väter 4. 5.

Anspielung auf die berühmte Darstellung der die Menorah tragenden gefangenen Juden auf dem Titusbogen in Rom. Vgl. die erste der Drei Reden über das Judentum, in diesem Band, S. 219-227.

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und für seine Söhne, für die Geschlechter, die waren und für die Geschlechter, die sein werden, das Gefühl der Einheit unseres Ich mit alledem, woraus wir gewachsen sind und was aus uns wachsen wird. Lanu welo lachem. 6 Das ist nicht ein anderer, der gemartert wird, Kameradin Esther, das bist du selbst. Jeder von uns fühle mit der ganzen Seele: das Volk bin ich – und das Volk wird auferstehn. Jeder von uns begehre mit der ganzen Seele Palästina fü r s i ch – und wir werden Palästina erlangen. Das hat mich am meisten an den Antworten erfreut, daß ich in einigen von ihnen eben diese Empfindungen und Überzeugungen gefunden habe. Daß der Zionismus eine vo r w är t s drängende Bewegung ist, weil er das bewußt macht, was ist; daß er nicht aus der Not, sondern aus der Sehnsucht entstanden ist, nicht aus dem Sterben, sondern aus dem Leben, aus einem vollen und niedergehaltenen, nach Fruchtbarkeit verlangenden Leben; daß die Nation nur durch den Willen des Volkes, durch das Bewußtwerden dieses gefesselten Lebens wiedergeboren werden kann: – diese Gedanken fand ich in den Antworten und ich fand an ihnen das Zeichen selbständiger Gedankenarbeit, innerer Kämpfe, das Zeichen der Seele. So erschollen also auf die erste Frage (»Worauf beruht mein Zionismus?«) wackere, gesunde, junge Antworten. Nicht im gleichen Maße auf die andern Fragen, die die Arbeit für den Zionismus betreffen. Zwar bricht aus mancher der Antworten ein starkes Gefühl der Berufung durch, ja die Überzeugung, zur vorbereitenden Arbeit sei »einzig die Jugend befähigt«. Aber die Frage, welches diese Arbeit sein solle, hat keine zulängliche Antwort gefunden. »Völlige Selbsthingabe«, »Prägung des Charakters«, »Selbsterziehung«, »Konzentrierung des Geistes«, das sind schöne und erhabene Losungen, aber aus ihnen taucht immer stärker, immer dringlicher die Frage hervor: Was ist zu tun? Der größte Teil der Kameraden antwortete auf diese Frage, man solle die hebräische Sprache und die jüdische Geschichte lernen; einer betonte mit Recht die Wichtigkeit des Studiums der jüdischen Statistik und der Vertrautheit mit den wirtschaftlichen und geographischen Verhältnissen Palästinas; ein andrer forderte ein tieferes Wissen, das Begreifen der spezifisch jüdischen Ideen. Aber das ist nicht genug, das ist noch kein Tatprogramm für diese Jugend, die, wie sie meint, einzig befähigt ist, die Nation zu bereiten und die auf jeden Fall eine breitere, mühseligere und anspruchsvollere Aufgabe hat als die Jugend irgendeiner anderen Nation in irgendeiner anderen Geschichtsepoche.

6.

Hebr.: »uns, nicht Euch!«

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Versuchen wir also klar und offen, unter Verzicht auf alle Parteiformeln, uns die Frage zu beantworten: Was ist zu tun?

2. Es scheint mir, daß man die ganze Aufgabe des jungen Juden in ein ungeheuer einfaches Wort einschließen kann: Mensch werden, und es jüdisch werden. Denn wir sind eigentlich noch nicht »Mensch geworden«. Jeder blicke in sich. Fast jeder wird in sich hinter allem Reichtum des Geistes eine große Leere, eine Ohnmacht zum wahrhaften Leben finden, – viel Verheißung und wenig Erfüllung, viel Möglichkeit und wenig Frucht. Die Fesseln des Golus verwundeten, verwüsteten unsere Seele. Täuschen wir uns nicht – wir sind sehr krank. Aber vermeinen wir nicht, wir würden irgendwann und irgendwo genesen, wenn wir nicht jetzt und hier die Arbeit an der Heilung beginnen. Drei Dinge vor allem versteht der heutige Jude nicht: zu leben, zu schauen, zu schaffen. Diese drei Dinge in sich bilden – das ist es, was uns zu tun obliegt. In sich bilden? Gleichsam erlernen? Kann man das? Die seelischen Fähigkeiten können sich doch nur aus den veränderten Verhältnissen durch die Kraft der Evolution entwickeln? Ein bekannter Einwand – wie oft habe ich ihn vernommen, wenn ich von der Erziehung des Volkes sprach! Er nimmt sich zugleich wissenschaftlich und praktisch aus und ist doch unsäglich hinfällig – vor der Tatsache unseres Willens. Unseren Willen, der auch aus Verhältnissen, als Wi d ers ta nd , erwuchs, stellen wir der Satzung der Evolution gegenüber; oder vielmehr wir erweitern den Begriff der Evolution. Denn unser Wille ist auch eine Naturkraft, eine Kraft, die nach außen wirkt, die Welt umgestaltend, und nach innen, die Seele umwandelnd. Zwar wird nur die Erde Palästinas uns wiederzugebären vermögen, sie allein wird uns die Macht und das Werk geben. Aber um diese Erde zu erringen, müssen wir uns erziehen, richten, was in uns verbogen ist, die Leere füllen, die Ohnmacht zum Leben bezwingen. Damit unser Wille die Verhältnisse ändern könne, muß er vor allem uns selber umwandeln. Das wird begreifen, wer immer in der Jugend den Willen übte, in sich die Ausdauer oder die Güte oder den Mut zu bilden und diese seine Wirkung in der Seele wachsen fühlte, des Staunens und der Freude voll sich zugleich als Schöpfer und als Geschöpf empfand. Jeder, der an sich selber

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das Gesetz der Umwandlung durch den Willen erfahren hat, wird begreifen, welch eine Gnade in diesem unserem Willen ruht. Drei Dinge also wollen wir in uns bilden. Vor allem lernen wir leben. Warum versteht der heutige Jude nicht zu leben, warum fehlt seinem Leben, mag es auch vom Glück überströmen, die Fülle und das Gleichmaß, warum fehlt ihm die Gestalt? Sollte er keine Lebenskraft haben? Es ist doch kein Volk so mächtig in der Erniedrigung, so unbesiegt im Elend! Sollte er das Leben nicht lieben? Es sind unter uns doch wenige, die die Wüste sich zur Stätte und den Verzicht zum Richtmaß erwählen. Sollte er die Schönheit nicht empfinden? Sind wir doch ihre begeisterten Sendboten. Der heutige Jude weiß nicht zu leben, weil er in sich den Zu sa mmenhang nicht hat. Alles, was in ihm ist, alles, was sich aus ihm gestaltet, ist ein Bruchstück. Ein Bruchstück sein Gedanke, ein Bruchstück die Sehnsucht, sein Werk ein Bruchstück. All dies bricht gleichsam unterirdisch hervor, regt sich gewaltsam, fieberhaft, krampfhaft, überfällt die Seele mit einer zitternden Unruhe und versinkt wieder ins Ungeschiedene. Der unterirdische Schatz hat zu seiner Stunde geblüht, aber keine Hand hat ihn ergriffen, kein Bann ist auf ihn geworfen worden, und er ist ungehoben untergegangen. Die Form hat ihn nicht erlöst. Nur der vermag das Haus aufzubauen, der die Einheit im Willen und im Sinn hat. Den andern bleibt es ein Steinhaufen. Der Jude muß zuerst wieder das Leben erlernen, um leben zu können. So wollen wir den Zusammenhang in uns erziehen. – Den Zusammenhang des Denkens. Unser Geist befreie sich von dieser Schar hüpfender Kobolde, deren wir uns berühmen, indem wir sie unsere Einfälle nennen, und er erwähle über sich den Gedanken, den ganzen und einigen, den königlichen Gedanken, der den Abgrund mit unerschrockenem Auge mißt. Ach, diese unsere »guten Köpfe«! Gebt mir »schlechte Köpfe« und laßt sie eines großen Gedankens fähig sein. Gebt mir einfältige Leute ohne Verwicklungen und die Unbeirrbarkeit des Denkens sei in ihnen. Und diese Leute, diese Juden mögen unsere Vergangenheit und Zukunft besinnen! – Den Zusammenhang des Gefühls. Wie viele Schwärmereien gibt es in uns und wie wenig jener stillen Begeisterung, die wie der Glanz der Cherubim über der Bundeslade ist! Wie viele Liebeleien und wie wenig jener heiligen Liebe, die wie Moses

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Stab sprudelndes Wasser aus der Felswand schlägt! 7 Wie viele Ambitionen und wie wenig Stolz! Wie viele Begehrlichkeiten und wie furchtbar wenig jener Sehnsucht, die neue Welten zeugt! Gebt mir Leute, die ungespalten im Gefühl sind: sie mögen Zion lieben! – Den Zusammenhang des Willens. Genug der Aufbrüche und Projekte, genug jener ewigen Anläufe, aus denen nichts entsteht! Wann wird ein Geschlecht von solchem Opferwillen aufwachsen, wie ihn unsere Helden hatten, in welchen Seelen wird Massada wieder aufleben? Stellt euch dieses Geschlecht von Männern vor, diesen Heerhaufen brennender Geister, diesen heiligen Frühling – könntet ihr am Siege zweifeln? Und könnt ihr an ihn glauben – wenn ihr auf uns seht? Auf unsere Ohnmacht und die Knechtschaft unserer Seelen? Darum aber fehlt es dem Juden an Zusammenhang, weil die Katastrophen des Golus ihm den Zusammenhang in jedem Augenblick durchschnitten, weil er Jahrhunderte hindurch auf vulkanischem, bebendem, drohendem Grunde wohnte, und so oft er den Geist zur Einheit spannte, fiel ein neues Unheil nieder und zermalmte alles, was im Geist empfangen war. So wuchs die Unrast und die Unstimmigkeit. Wuchs mit der Verzweiflung und ging vom Vater zum Sohn – ein furchtbares Erbe der Geschlechter. Heute, der Katastrophen nicht ledig, aber frei an Atem und Bewegung, und verjüngten Willens, laßt uns gegen das Golus in unseren Herzen kämpfen! Ein Teil nur dieses Kampfes ist dies, daß wir lernen müssen zu s ch a u en . Zu schauen! Warum versteht der Jude nicht zu schauen, warum ist sein Auge unsicher und unfähig, die Fülle der sichtbaren Welt zu umfassen, warum ist in seinem Denken so wenig Gestaltung, in seinem Erkennen so wenig Eingebung? Warum kann er so selten die ganze Zufälligkeit seines Lebens abtun und mit einer von allen Absichten freien Seele, mit andächtiger Seele einen Baum, einen Bach, einen schönen Menschen ansehn? Warum kann er sich so selten den Dingen hingeben? Der Jude hatte Jahrhunderte hindurch nicht Zeit noch Raum. Er hatte nicht Zeit, um sich von den Bedürfnissen des Augenblicks loszureißen und sich an etwas hinzugeben, »das ihn nichts anging«. Er hatte nicht Raum, um sich mit der Seele über die Mauern jenes engen, finstern Ghettos zu den grauen Bergen, den dunkelgrünen und rotbraunen Wäldern, den blauen Horizonten und goldenen Sternen zu schwingen; diese Mau7.

Ex 17, 4-6.

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ern waren sein Raum und sie versperrten vor ihm nicht bloß die Welt, sondern auch den Himmel. Und überdies war es eine Sünde, zu schauen. Wir aber wissen, daß es Sünde ist, nicht zu schauen; und schmerzlich empfinden wir dieses unser Gebrechen. Und wissen, daß die große Tat bei uns nur aus dem großen Erkennen entstehen kann und daß groß das Erkennen ist, welches s i eht . Lernen wir also schauen und sehen. An der Natur um uns das Auge bilden, die allein ganz in uns eingehen kann. Dann aber auch uns selber, unser Volk und sein Leben sehen. Rings um uns lebt unser Volk. Tagaus, tagein geschehen die unscheinbaren Wunder seines Elends und seiner Größe, geschieht der schweigsame Schmerz und das stumme Ringen der Millionen. Menschen gehen mit dem Zeichen Gottes auf der Stirn und sterben, ohne ihr Werk begonnen zu haben. Und wir leben und sehen nicht. Und dennoch – wo irgendein Jude lebt, da ist das ganze Rätsel des Judentums. Daher wollen wir lernen, auch in uns selber, in die eigne Seele zu schauen. Sie bis zu den tiefsten Schichten durchdringen, in denen die Sonderart unseres Volkstums schlummert, die wir nicht in unfruchtbarer Ablösung, sondern in reiner Intuition erkennen wollen. Hier eröffnet sich uns ein neuer Weg der Selbsterziehung, ein nicht mehr gemeinsamer, sondern durchaus persönlicher, für jeden verschiedener Weg. Hier schweigen die Ratschläge des älteren Kameraden, hier ist jeder sein eigner Erlöser. Aber dieses Schauen und diese innere Arbeit sollen nur der Grundbau für das S chaffen sein. Das Schaffen ist die Veräußerung, Vergegenständlichung des seelischen Lebens. Was den Juden des Ghettos im Leben und im Schauen hemmte, der Mangel an Zusammenhang und das Fehlen von Zeit und Raum, wurde ihm auch zum Hindernis am Schaffen; mehr aber noch als beide ein Drittes, der Zwiespalt von Seele und Körper. Heute, da sich uns deren Bindung zu erneuen beginnt, wollen wir eine neue Zeit jüdischen Schaffens erhoffen. Man darf den Begriff des Schaffens nicht auf die Schöpfung des Künstlers beschränken. Jeder schafft, der aus seiner Innerlichkeit etwas Selbständiges, Ganzes herausstellt. Alle wahrhafte Volksarbeit ist ein Schaffen. Wahrhafte Volksarbeit kann nicht auf bloßer Agitation beruhen, sie muß der Persönlichkeit des Arbeitenden entströmen und sie in der Tat aussprechen. Zionistisches Wirken darf keine Schablone kennen, das der Jugend am wenigsten. Jeder binde sein eignes Leben, seinen Beruf, seine Betätigung an das Leben des Volkes! Jeder besinne sich, und er wird gewahren, daß gerade da, wo er im Leben steht, etwas für das Volk zu tun ist, und daß diese Arbeit gerade die seine ist, daß sie auf ihn wartet. Möge

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jeder in seinem Umkreis, in den Fähigkeit und Lose ihn gestellt haben, wecken und helfen, forschen und schaffen. So wollen wir uns zu Menschen, das heißt für uns: zu Juden erziehen. Leben wir, schauen wir, schaffen wir. Jeder aus ganzer Seele, ihre Sonderart verwirklichend, jeder an seinem nur ihm beschiedenen Orte, jeder anders und alle zusammen. Dann werden Seelen und Werke verschmelzen und Zion, unser Zion wird erstehen.

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Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus 1. Von der Renaissance. hWir sprechen von der jüdischen Renaissance. Wir verstehen darunter das merkwürdige und in seinen Ursachen noch unerklärte Phänomen der fortschreitenden Verjüngung des jüdischen Volksstammes in Sprache, Sitte und Kunst. Wir nennen es mit Recht Renaissance, weil es – in Übertragung menschheitlichen Schicksals auf nationales – der grossen Epoche gleicht, die vor allen anderen diesen Namen in der Geschichte trägt: weil es wie jene nicht etwa eine Rückkehr zu alten Denk- und Lebensformen, sondern eine Wiedergeburt, eine Erneuerung des ganzen Menschen bedeutet, den Weg aus der Halbheit zur Ganzheit, aus dem Vegetieren zum Schaffen, aus der dialektischen Starrheit der Scholastik zu einer weiten seelenvollen Naturanschauung, aus mittelalterlicher Askese zu warmem flutendem Lebensgefühl, aus dem Zwange engsinniger Gemeinschaften zur Freiheit der Persönlichkeit – den Weg von vulkanischer, formloser Kulturpotenz zu harmonischer, gestaltungskräftiger Kulturtat.i a Um dieses wunderbare und beglückende Phänomen b zu begreifen, muss man es als Ganzes erfassen, es bis in seinen Ursprung zurückverfolgen, in jene Zeit in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, da in das erstarrte Dasein des Judentums von innen und von aussen zugleich in zwei mächtigen Strömen – Chassidismus und Haskala – ein neues, unerhörtes und ungeahntes Leben eindrang. Bis um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war die Kraft des Judenvolkes c nicht bloss von aussen niedergehalten, von Angst und Qual, von Lebensenge und Lebensnot, nicht bloss von der Knechtung durch die »Wirtsvölker«, sondern auch von innen, von der Zwingherrschaft des »Gesetzes«, d. h. einer missverstandenen, verschnörkelten, hentstellten,i verzerrten religiösen Tradition, von dem Banne eines harten unbewegten wirklichkeitsfremden Sollens, der alles triebhaft Helle und Freudige, alles Schönheitsdurstige und Beflügelte verketzerte und vernichtete, der das Gefühl verrenkte und den Gedanken in Fesseln schlug. Und das Gesetz erlangte eine Macht, wie sie in keinem Volke und zu keiner Zeit ein Gesetz besass. Die Erziehung der Generationen geschah ausschliesslich im Diena. b. c.

In h…i gesetzte Passagen oder Wörter sind Erweiterungen gegenüber der Fassung von 1903 (fortab: V1), die im Text »Renaissance und Bewegung« in diesem Band, S. 268-273 wiedergegeben ist. V1: Um das Phänomen der jüdischen Renaissance V1: Judentums

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ste des Gesetzes. Es gab kein persönliches, gefühlgeborenes Handeln: nur das Handeln nach dem Gesetze konnte bestehen. Es gab kein eigenesa schöpferisches Denken: nur dem Grübeln über die Bücher des Gesetzes und die Hunderte von Büchern der Deutung des Gesetzes und die Tausende von Büchern der Deutung jener Deutungsbücher war die Mitteilung gewährt. Gewiss, es gab immer wieder b Ketzer; aber was konnte der Ketzer wider das Gesetz? Dogmen, die zu glauben sind, können von Ketzern erschüttert werden, die die Vernunft wider den Glauben anrufen. Aber ein Lebensgesetz, das das Tun bestimmt, kann nur durch die Entwickelung der Menschen zur Selbstbestimmung aufgehoben oder durch die Entwickelung der Menschen zu einem höheren Lebensgesetz überwunden werden. Hier geschah endlich Beides. Jahrhundertelang wird es wohl gleichsam unterirdisch gerungen haben und jene täglich von neuem auftauchenden und täglich von neuem erstickten Ketzereien waren doch wohl Kundgebungen dieses das Gesetz unterminierenden Ringens. Dann aber gab es sich in einem doppelten Ansturm gegen die Weltanschauung und Doktrin des Gesetzes, gegen den Rabbinismus c kund. Zuerst gelangte zum Ausdruck die Entwickelung zu einem höheren Lebensgesetze: in dem Chassidismus, der jüdischend Mystik, der Befreiung des Gefühls; dann die Entwickelung zur Selbstbestimmung: in der Haskala, der jüdischen e Aufklärung, der Befreiung des Gedankens. Beide führten zu geistigen und leiblichen Kämpfen, die von ergreifendster Tragik hund grandiosester Komiki erfüllt waren. f Beide führten, ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, die jüdische Renaissance herbei. Chassid bedeutet: der Fromme, und Chassidismus wäre somit fast mit Pietismus zu übertragen. Das wäre falsch, wenn man dieses Wort in seinem gewöhnlichen Sinne nimmt. Die chassidische Lebensanschauung entbehrt aller Sentimentalität; es ist eine ebenso kräftige wie gemütstiefe Mystik, die das Jenseits durchaus ins Diesseits herübernimmt und dieses von jenem gestaltet werden lässt wie den Körper von der Seele: eine durchaus ursprüngliche, volkstümliche und lebenswarme Erneuerung des Neoplatonismus, eine zugleich höchst gotterfüllte und höchst realistische Anleitung zur Ekstase. Es ist die Lehre von dem tätigen Gefühl als dem Band zwischen Mensch und Gott. Das Schaffen währt ewig; die Schöpfung dauert heute und immerdar fort, und der Mensch nimmt an a. b. c. d. e. f.

V1: selbständiges. V1: immer und immer wieder V1: Rabbinismus, die jüdische Scholastik, kund. V1: neujüdischen V1: neujüdischen V1: waren, zuweilen ins Groteske ausarteten.

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der Schöpfung teil in Macht und Liebe. Alles, was reines Herzens geschieht, ist Gottesdienst. Das Ziel des Gesetzes ist, dass der Mensch selbst ein Gesetz werde. Damit ist die Zwingherrschaft gebrochen. Aber die Stifter des Chassidismus waren keine Verneiner. Sie negierten die alten Formen nicht, sie taten in sie einen neuen Sinn, und damit befreiten sie sie. Der Chassidismus, oder vielmehr die tiefe Seelenströmung, die ihn erzeugte und trug, schuf den im Gefühl regenerierten Juden. Einen anderen Weg ging die Haskala, die natürlich gegen den Chassidismus ebensowohl ankämpfte wie gegen den Rabbinismus, weil sie beide auf »Glauben« und nicht auf »Wissen« beruhten. Die Haskala tritt im Namen des Wissens, der Zivilisation und Europas auf. Sie will aufklären und ist ebenso oberflächlich wie alle Aufklärung, insofern sie von der Erkenntnis als von einem sicheren und unproblematischen Dinge ausgehen zu dürfen glaubt; sie will popularisieren und ist ebenso geistlos hund nichtsnutzigi wie alle hsogenanntei Populärphilosophie, die wie ein echter Parasit von dem Blute anderer lebt. Was sie vor jenema voraus hat, ist zunächst ihr Feind, die starrste und gefestigteste aller Orthodoxien, dann ihr frisches junges Losgehen und dass sie in jedem Augenblick durchdrungen war von dem Gefühle eines heiligen Krieges um die Selbstbestimmung, um das Bestimmtwerden des Handelns nicht durch die Tradition, sondern durch eigenes Denken. Aber auch positiv jüdische, zukunftsvolle Elemente trug sie in sich, so sehr sie auch glaubte, alle Überlieferung aufzuheben. Sie wollte die Juden europäisieren, aber sie dachte nicht daran, sie zu entnationalisieren. Sie widmete der Sprache der Bibel einen intensiven Kultus. Sie machte das erstarrte und der Wirklichkeit entfremdete Hebräisch zum Werkzeug eines lebendigen Kampfes und so bereicherte und kräftigte sie es. Und was für die Sprache getan ist, ist für das Denken getan. So diente die Haskala auch mittelbar der gedanklichen Regeneration des jüdischen Volkes. Aus den inneren Umwälzungen, deren Äusserung und Werkzeug zugleich Chassidismus und Haskala waren, wurde die jüdische Renaissance geboren. Es ist beachtenswert, dass hier dieselben Elemente zusammenwirkten b wie in der grossen Zeit des Trecento und Quattrocento das mystisch-gefühlsmässige, das dort teils als Gottesweisheit hteils als Dichtungi auftrat, und das sprachlich ideelle, das dort Humanismus hiess. c Und a. b. c.

V1: vor den meisten V1: einander bekämpfend zusammenwirkten V1 fährt abweichend fort: Humanismus hieß, und daß wie dort beide Geistesbewegungen nicht etwas Neues, sondern nur Erneuerung versunkener Größe sein wollen: die Anknüpfung an die klassische Zeit des Judentums ist Chassidismus und Haskala gleich eigen; den Inhalt des altjüdischen Geisteslebens, das große Gottgefühl, nimmt

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ebenso wie jene Zeit – dies sei noch einmal hervorgehoben – bedeutet die jüdische Renaissance nicht eine Rückkehr, sondern eine Wiedergeburt des ganzen Menschen: eine Wiedergeburt, die sich sehr langsam, sehr allmählich von den Tagen der Haskala und des Chassidismus an bis in unsere Zeit vollzieht und weiter vollziehen wird. Langsam und allmählich entsteht ein neuer Judentypus. Der Jude der Gesetzesära war ein passiver Held. Er ertrug alle Stadien des Martyriums ohne Schrei und ohne Stolz, mit stummen Lippen und stummem Herzen, regungslos. Sein einziger Widerstand war seine Verschlossenheit und nichts konnte diesen Widerstand brechen. Aber die Passivität hatte nicht nur Grösse, sondern auch Elend und Erbärmlichkeit. Der Jude kämpfte nicht bloss, er handelte und dachte auch passiv. Ein Einziger, Spinoza, hatte der natura naturans genug in sich, um schaffend und ruhevoll aus dem Ghetto in den Kosmos zu treten und Fuss zu fassen im Unendlichen wie keiner vor ihm; aber wieviel der köstlichsten Endlichkeit musste er aufgeben, wieviel des unersetzlichsten Gefühlszusammenhangs mit seines Blutes gewesenen und kommenden Geschlechtern, welch neues und unsägliches Martyrium musste er auf sich nehmen und hinübernehmen in seine grosse Ruhe; welches kaum geahnte Rätsel einer ungeheuren Verschlossenheit hat uns dieser befreite Jude der Gesetzesära hinterlassen! Der neue Jude, der Jude der Befreiungsära wandelte in den Wegen Spinozas, ohne Genie aber mit einem dämonischen Wagemut. Er war nicht mehr passiv, sondern freitätig; er handelte nicht mehr nach dem Gesetze, sondern nach eigenem Denken und Gefühl; und er strebte nach dem Schöpferischen. Das Schöpferische blieb ihm lange versagt und hat sich ihm in seinen letzten Geheimnissen – Selbstentladung, Selbstläuterung, Selbsterlösung – auch heute noch nicht geschenkt. Aber auch die ruhige Betätigung war ihm zunächst nicht gewährt. Der befreite Geist stürmte ins Uferlose, statt im Gegebenen zu wirken oder Neues zu geben. Der unersetzliche Zusammenhang wurde geopfert und nichts Grösseres gewonnen. Die Wiedergeburt des Juden setzt mit einer tragischen Episode ein, die noch heute nicht zu Ende ist und die nicht einmal die Bedeutung einer Befreiung der Rasse von unedlen Elementen hatte: denn auch manche der Besten konnten ihr nicht standhalten; ja gerade diese waren es, die der Wagemut am wildesten durchglühte und am weitesten fortriss. Immerhin erlangten einzelne originale Naturen am Anfange des neunzehnten Jahrhunderts einen eigender Chassidismus, dessen Sprachform die Haskala auf; jener hat die jüdische Uridee, dieser den Hebrasimus erneuert. Erneuert: nicht wiederholt. Die jüdische Renaissance ist, wie ihre größere Namensschwester mehr als eine Neuknüpfung zerrissener Fäden. Auch sie bedeutet – dies sei noch einmal hervorgehoben -

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tümlichen Kosmopolitismus, ein Zuhausesein im Kosmos; aber dieser konnte in seiner Schönheit nur so lange bestehen, als der Geist dieser Juden a sich die Freiheit erobern musste und dadurch eine faszinierende Grösse b gewann. Als die »Geistesfreiheit« aber hauchi für den Juden ein fertiges Gut geworden war, c artete auch dieser Kosmopolitismus in Assimilation aus. Die europäische Zivilisation war von aussen über die Juden zu rasch und zu unvermittelt hereingebrochen, als dass die Haskala sie hätte in Ruhe verarbeiten können. So wurde ein Teil des Volkes verlockt, dessen unausgesprochenen Selbständigkeitsidealen untreu zu werden und statt das Neue sich langsam zu erwerben und zu eigen zu machen, es fertig und auf Kosten der eigenen Seele aus den Händen der kultivierteren d Nationen zu nehmen. Diese pathologische Erscheinung wurde durch zwei Umstände begünstigt: durch die räumliche Zersprengung und durch die von der grossen Revolution bewirkte ganz anormale Beschleunigung des Emanzipationsprozesses. Dass trotz alledem die Assimilation die Renaissance nicht aufzuheben vermochte, dass sie für diese nur ein retardierender Akt geworden ist, ist in einer Haupttatsache des jüdischen Problems begründet: in der fundamentalen Verschiedenheit des östlichen und des westlichen Judentums in Wesen und Schicksal. Das östliche Judentum war seit jeher weniger zersprengt als das westliche; es hatte mehr den Charakter einer grossen und geschlossenen Gemeinschaft und in der Folge auch mehr eigene Kulturelemente. Dazu kam, dass die Zivilisation nach dem Osten nur langsam hinströmte und dass der Emanzipationsprozess hier fast gar keine Gültigkeit hatte. So konnte die Haskala, die wie alle Faktoren der Renaissance hier ihre eigentliche Stätte hatte, das Zivilisationsmaterial allmählich und organisch verarbeiten. hEine Assimilation in grösserem Stile war auch deshalb nicht denkbar, weil das Wirtsvolk hier nicht kulturstärker sondern kulturschwächer war. Hierzu kam, dass die Juden des Osten sozial gesünder waren, weil das Übel der unproduktiven Geldwirtschaft sie in geringerem Masse erfasst hatte.i Mussten ferner die westlichen Juden der Umwelt schon deshalb erliegen, weil sie keine Sprache hatten und mit den fremden Worten auch fremdes Vorstellungs- und Gedankenwesen aufnahmen, so gewannen die östlichen einen Halt in einer überaus merkwürdigen, durchaus anormalen und doch durchaus heilvollen Sprachentwickelung. Es entstand nämlich auf der einen Seite eine reiche, alle Gebiete umfassende hebräische Literatur und Publizistik, und die Sprache a. b. c. d.

V1: dieser Menschen V1: faszinierende Leuchtkraft V1 ergänzt: das man nur zu übernehmen brauchte, V1: zivilisierten

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der Bibel wurde immer mehr zu einem vollkommenen Werkzeug der modernen Wissenschaft und der modernen Ideen, und zugleich zu dem herb aber voll tönenden Instrument einer originalen Dichtung; daneben aber und gleichzeitig entwickelte sich das Idiom des Volkes, das Jüdische, der fälschlich sogenannte »Jargon«, der keineswegs (wie gewöhnlich angenommen wird) ein Dialekt schlechthin, sondern eine res sui generis 1 ist, zu einer völlig gleichberechtigten Sprache, weniger abstrakt aber wärmer als die durch sie ergänzte hebräische, ohne deren reingeistiges Pathos, aber voll unvergleichlich sanfter und derber, zärtlicher und boshafter Akzente; im Jüdischen ist das Volkstümliche selbst Sprache geworden; und diese vielverachtete Sprache hat die Anfänge einer reizvollen Poesie, schwermütig verträumte Lyrik und kräftige, mit guten Augen beobachtende Novellistik geschaffen. Dieser Dualismus ist das stärkste Symptom der jüdischen Renaissance in dem Reichtum ihrer Strebungen und der Pathologie ihrer Äusserungsformen. Man sieht nun, wie es kam, dass, während im Westen Stück für Stück abbröckelte, im Osten die Renaissance Fuss fassen und positive Werte schaffen konnte. Ihr stärkster Ausdruck wurde die jüdische Bewegung, die man auch mit einem mitunter irreführenden Namen als nationaljüdische Bewegung zu bezeichnen pflegt. Sie ist weiter und tiefer angelegt, als nationale Bewegungen zu sein pflegen, ursprünglicher und tragischer. Ihr Inhalt ist national: das Streben nach nationaler Freiheit und Selbständigkeit; aber ihre Form ist übernational. Der Ideenkomplex, den sie erzeugt hat, gehört dem Denken der Menschheit an. Und die Befreiung, die sie meint, rührt an das grosse Symbol der Erlösung. Die jüdische Bewegung ist in ihrem letzten Sinne das Streben nach freier und vollkommener Betätigung der neuerwachten Volkskräfte. Wenn man sich das Volk in der Renaissance (ohne Berücksichtigung aller widerstrebenden oder noch unentwickelten Elemente) im Bilde eines Organismus vorstellen will, so ist die nationale Idee sein hSelbstibewusstsein, die nationale Bewegung sein Wille. Und wie der Wille zuerst reflexmässig und triebhaft auftritt, dann unter dem Einflusses des sich entwickelnden Bewusstseins immer differenzierter und intellektualera wird, so entwickelte sich die jüdische Bewegung unter dem Einflusse des Renaissancegedankens vom Selbsterhaltungstrieb zum Ideal. hSieht die jüdische Bewegung die günstigsten Bedingungen oder die notwendige Voraussetzung für die Erreichung ihres Zieles in der Schaf1.

Lateinisch: eine Sache ganz eigener Art.

a.

V1: geistesbestimmter

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fung einer neujüdischen Gemeinschaft in Palästina und strebt sie diese Schaffung an, so nennen wir sie Zionismus; gleichviel ob dieselbe mit grösserer oder geringerer Ausschliesslichkeit angestrebt wird, ob man an einen zu machenden Judenstaat oder an ein im Laufe der Generationen zu immer grösserer Autonomie heranreifendes Gemeinwesen denkt, ob man diplomatische Verhandlungen mit europäischen Regierungen oder positive Kultur- und Kolonisationsarbeit als das Mittel zum Zweck betrachtet; alle diese und manche andere Anschauungen fassen wir in dem Namen Zionismus zusammen, insofern sie auf dem Boden der Renaissance stehen, d. h. insofern sie die freie und vollkommene Betätigung der Volkskräfte als das Ziel und die Schaffung einer neujüdischen Gemeinschaft in Palästina als den wesentlichen Weg setzen. Hingegen werden wir jene Ansicht und Aktion, die der Regeneration des Judentums im Innersten fremd gegenübersteht und lediglich von der Notlage der Juden ausgehend eine Heimstätte für die Juden anstrebt, nicht als Zionismus, sondern als ein – von mehr oder minder hochherzigen Motiven bestimmtes – humanitäres Unternehmen ansehen müssen, das mit der jüdischen Bewegung wohl Berührungspunkte aber keine Gemeinschaft hat. Aber auch innerhalb des Zionismus selbst können wir zwei Grundauffassungen unterscheiden: den konsequenten und den inkonsequenten. Für den letzteren verdrängt der territoriale Gedanke alle anderen und lässt ihn die Kulturarbeit, d. h. die gegenwärtige und unmittelbare Förderung der Volkskräfte, völlig oder teilweise, offen oder versteckt negieren. Der konsequente nimmt die Kulturarbeit in sein Programm auf, da er sich als die Wi lle gewo rd ene Renaissance fühlt und in ihr seinen natürlichen Wirkungskreis sieht. Dieser Anschauung wird wohl die Behauptung entgegengehalten, sie erzeuge eine Kraftzersplitterung. Diese Behauptung ist falsch. Denn die wahre Kulturarbeit ist zugleich eines der wesentlichsten Mittel zur Erreichung des territorialen Ziels: zur Gewinnung des Landes. Dies zu beweisen sei im Folgenden versucht.i

2. Von der Politik. Die zionistische Politik umfasst naturgemäss drei in notwendiger Beziehung zu einander stehende Momente: Propaganda, Verhandlungen, Kolonisationsarbeit; drei Momente, die sich a nicht etwa in dem Verhältnisse zeitlicher Aufeinanderfolge, sondern in dem gleichzeitigen Zusammena.

JBI: die zueinander

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wirkens befinden. Dass die Kolonisationsarbeit nicht Folge, sondern Unterstützung und vielfach Voraussetzung der Verhandlungen sein muss, geht aus der Geschichte aller Siedlungen klar hervor und wird sich auch in unserer Bewegung immer offenbarer aus den Tatsachen ergeben. Es tut nun meines Erachtens not, im Gegensatze zu der gegenwärtig herrschenden Auffassung zu erweisen, dass alle drei Momente auf k u lt u rellen Erwägungen und Arbeiten gegründet sein müssen, um zu grossen und dauernden Erfolgen führen zu können: dass positive nationale Kulturwerke die einzigen auf das innerste Leben wirkenden Agitationsmittel sind, dass in Ermangelung politischer national-kulturelle Macht die einzige ist, auf die unsere Verhandlungen sich stützen können, dass Erziehung eines tauglichen Menschenmaterials die Prämisse planvoller Kolonisation ist; kurz, dass die zionistische Politik Ku lt u r p o li t i k werden muss, wenn sie trotz ihres Ausnahmecharakters – Politik ohne Polis, vielmehr die Polis erst anstrebend – Ergebnisse erzielen will, die sonst nur der Aktion anerkannter Macht gewährt sind. Zunächst muss das eine aber uns gegenwärtig sein, dass unter Kultur nicht etwas rein Geistiges zu verstehen ist. Die Kultur eines Volkes ist nichts anderes als die Produktivität dieses Volkes, synthetisch d. h. in ihrer Gesamtheit und in ihrem einheitlichen Zusammenhang gefasst. Kulturpolitik ist das konsequente und organisierte Streben der Produktivität nach Freiheit. Die zionistische Propaganda ist doppelter Art; sie umfasst die äussere, die darauf ausgeht, die tatkräftige Sympathie der Völker und der führenden Geister Europas für die Sache zu gewinnen, und die innere, die die weitere Ausbreitung des Zionismus unter den Juden selbst bezweckt. Betrachten wir zunächst die erstere. Vor lauter Audienzen und Verhandlungen hat man im zionistischen Lager die grosse Wahrheit vergessen, dass Regierungen kommen und gehen, Völker aber bestehen. Wobei unter Völkern naturgemäss vor allem deren vorgeschrittenster, geistig freiester und durchgebildetster Teil zu verstehen ist, der ja die Zukunft repräsentiert und verbürgt: die führenden Geister von heute sind das Volk von morgen. Wie hoch die Sympathien der Völker in diesem Sinne zu werten sind, hat die philhellenische Bewegung bewiesen. Sie ist zugleich sehr instruktiv dafür, aus welcher Quelle so mächtige Sympathie entspringt. Diese Quelle ist ein Kulturinteresse und wenn es auch nur wie hier das Interesse der Pietät gegen eine längst gestorbene Kultur ist, von deren Trägern eine Kette von Vererbungen zu dem Volke hinüberführt, das Gegenstand der Sympathie ist. Man könnte nun sagen, dass diese Pietät auch in unserem Falle vorhanden sein sollte. Gewiss, aber Jahrtausende des unseligsten Zusam-

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menlebens mit den Völkern haben ihr entgegengewirkt; überdies ist unsere unbestreitbare Entartung, jene Saat des Exils, die die Renaissance a auszurotten erst begonnen hat, nicht wie die der Griechen dem Blicke entrückt, sondern vor aller Augen. Wir müssen daher, wenn wir unserer Zukunft das moderne, lebendige Europa als Bundesgenossen sichern wollen, etwas anderes in die Wagschale werfen, und dieses andere kann nur ei nes sein: lebendige Kulturtat. Es genügt nicht zu sagen, dass wir die Schaffung einer Heimstätte für das jüdische Volk erstreben. Denn man wird uns mit der Frage antworten: »Was ist denn das jüdische Volk, dass wir aufstehen sollen, ihm ein Heim zu bereiten? Hat es denn noch Kraft zu leben? Was kann es denn noch schaffen?« Zeigen wir ihnen denn, was das jüdische Volk ist: machen wir seine Kraft frei, soweit es in der Fremde möglich ist, bilden und fördern wir es, dass es schaffen kann, so sehr ein Verbannter und Entrechteter zu schaffen vermag, und dann lassen wir die Tat für uns sprechen, lassen wir sie überall die Ahnung erwecken von dem, das d o r t sein wird. Zeigen wir, dass es ein jüdisches Volkstum gibt mit persönlichen nur ihm gegebenen schöpferischen Möglichkeiten und dass es vielleicht berufen ist, auf eigener Erde ein Neuland des Geistes und neue Formen des Zusammenlebens von Menschen zu stiften. Setzen wir alles ein, Wirken, Lebenshaltung und Leistung, suchen wir aus den anderen und aus uns selbst zu machen was irgend wir machen können, um dies zu zeigen. Aber nicht etwa bloss um es nach aussen zu zeigen, sondern unendlich mehr noch für uns selbst. Lassen wir unser eigenes Dasein und jedes andere unserem Wirken zugängliche von dem lebendigen schaffenden Geiste des Volkes durchdrungen werden, damit wir in Wahrheit Zionisten seien, nicht im Sinne eines Bekennens , sondern eines S ei ns: Träger des werdenden Zion. Die Sehnsucht nach Vermehrung des ziffernmässigen Parteibestandes ist die treibende Kraft der zionistischen Propaganda geworden. Man hat solange die Ansicht verbreitet, nicht etwa auf das Leben des Volkes in allen seinen Momenten einzuwirken, sondern der Partei Geld und Leute zuzuführen, sei die heiligste Aufgabe des Zionisten, bis diese Ansicht zum verderblichen Dogma wurde. Ihr gegenüber sei gesagt, dass all diese Arbeit in ihrer gegenwärtigen Form – d. h. nicht etwa eine intensive innere Tätigkeit ergänzend, sondern die b Tätigkeit des Zionisten bildend c – nichts ist gegen das, was zu tun ist. Die zionistische Propaganda muss a. b. c.

JBI: Wiedergeburt JBI: die ganze JBI: ausmachend

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eine Umwertung aller Funktionen, eine Umgestaltung des Volkslebens in seinen Tiefen und seinen Grundlagen werden. Sie muss an die Seele rühren und die Seele verlangena . Die bisherige Agitation rührte nur an die Oberfläche und verlangte nur Schekel und Shareszeichnung 2 b . So macht man kein Volk volksbewusst. Nicht so vollzog sich das Bewusstwerden des internationalen Proletariats, nicht so das des jungen Italien c . Wir müssen die lebendigen Kräfte der Nation hervorlocken, die gefesselten Instinkte losbinden. Das wird freilich nur eine wahre Freiheitsbewegung bewirken können, eine lavaartige, rücksichtslose, bedingungslose Freiheitsbewegung, ohne Kompromisse, ohne Opportunitäten. Eine Bewegung des Kampfes und der Aufopferung. Parteien diplomatisieren, Bewegungen kämpfen. Unsere junge Bewegung ist allzu früh Partei geworden. Sie begann mit den Mächten zu paktieren, bevor sie selbst eine Macht war. Durch eine Reihe von Opportunismen d und Halbheiten schreckte sie den grössten Teil der freiheitlichen Elemente ab. Manche Persönlichkeit, die in dem Ideale der Regeneration das Ideal des eigenen Blutes erfühlt hatte, fiel wieder ab, da man als Prämisse der Bewegung den Antisemitismus, als ihr Wesen Befreiung vom Antisemitismus, als den einzigen Weg die Diplomatie verkündete. Man gewann etwas Massen, etwas »Intelligenz«, – etwas Schekel, etwas Shares. e Man gewann nicht die lebendigen Kräfte der Nation, man gewann nicht die Menschen, denen es gegeben ist, diese Kräfte zu wecken. Denn Zion ist heute nicht was es sein soll: die Losung der reinen, heiligen, sich nicht umsehenden Freiheit. Die nationale Bewegung der Juden hat noch kein Massada der Geister erzeugt. Die nationale Bewegung der Juden hat den jüdischen Volksgeist noch nicht revolutioniert. Ja, auf eine Revolutionierung des Volksgeistes kommt es an: Revolutionäre waren auch jene Propheten, die im Exil das Volk für ein neues Palästina erziehen wollten. Eine Erziehung des Volkes also, eine revolutionäre, von Grund aus aufwühlende Erziehung zur Freiheit, mit uns selbst beginnend und beim letzten Lumpenproletarier endend, soll die zionistische Propaganda werden. Endend? Man wird es eine unendliche Aufgabe nennen. Aber man erhebe sich im Geiste und man wird erkennen, dass in noch viel innerlicherer Bedeutung der Zionismus selbst eine unendliche Aufgabe ist, oder, 2.

Gemeint sind shares (engl. Aktien) der Jüdischen Kolonialbank.

a. b. c. d. e.

JBI: fordern JBI: Aktienzeichnung JBI: das des »jungen Europa« JBI: Anpassungen JBI: Aktien

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was dasselbe bedeutet, ein Ideal, und dass sich dem Ideale mit allen Kräften und in jedem Augenblicke zu nähern a der Sinn des Lebens ist. Aber nicht bloss Propaganda, nicht bloss die einzig denkbare vo llko mmene Gewinnung des Volkes bedeutet die Volkserziehung, sondern sie ist zugleich eine notwendige Grundlage der Verhandlungen und der Kolonisation, und je weiter gediehen sie sein wird, eine desto stärkere und sichere Grundlage. Grundlage der Verhandlungen zunächst in dem bereits in Bezug auf die äussere Propaganda erörterten Sinne. Aber es gilt hier das Problem weiter und tiefer zu fassen. Die Politik ist, wie das Recht, der Ausdruck der realen Machtverhältnisse. Nur eine reale Macht kann mit einer Macht erfolgreich verhandeln. Die Diplomatie, welche die Kunst der Machtverwertung ist, kann wohl leichte Verschiebungen vortäuschen, aber über nichts Wesentliches Illusionen hervorrufen. Aber auch wenn sie es könnte, so wäre sie doch nicht vermögend, der zionistischen Partei den Schein realer Macht zu geben. Unsere Bewegung entbehrt völlig des staatlichen, fast völlig des kapitalistischen Rückhalts: sie entbehrt auch der höchst bedeutsamen Basis, die eine schon bestehende, grosse, wohlorganisierte und produktionskräftige Kolonie gewähren würde. Sie ist daher bestenfalls Machtmöglichkeit, gleichsam der Keim einer Macht, aus dem die Macht erst werden kann, – wenn die Verhandlungen zu einem günstigen Resultate geführt haben. Und auch für diesen Fall konnte bisher keine positive Garantie geboten werden: es konnte nicht in konkreter Weise nachgewiesen werden, dass die zu gründende jüdische Siedlung eine Macht werden, d. h. dass sie in der Lage sein wird, eine etwa eingegangene Äquivalentsverpflichtung einzulösen. Aus dieser anormalen, ungesunden Sachlage erklärt sich leicht die Fruchtlosigkeit der bisherigen Bemühungen. Die Situation erscheint als ein Dilemma ohne Ausweg. Dennoch gibt es einen. Er besteht, so paradox es klingen mag, darin, dass wir trachten müssen, eine Macht zu werden. Wir müssen freilich, um dieses Ziel in uns aufzunehmenb , lernen, mit Generationen statt wie bisher mit Jahren zu rechnen. Aber wenn wir den Mut zu solcher tätigen Resignation nicht aufbringen, wenn wir uns zu aufopferungsvoller Arbeit für künftige Geschlechter nicht aufraffen könnten, dann wäre es mit uns zu Ende und wir hätten nichts mehr zu hoffen. Um eine Macht, ein Machtfaktor zu werden, müssen wir vor allem ein starkes, selbstbewusstes, geeintes und organisiertes Volk sein. In unserem Volke schlummern Gewalten. Sie werden erwachen, wenn das Volk sich a. b.

JBI fährt fort: der hohe Sinn des menschlichen Lebens ist. JBI: um dieses Ziels wahrhaft inne zu werden

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selbst erkennen und beginnen wird, an sich und für sich zu arbeiten. Die entartete und demoralisierte Masse, von der jemand unlängst auf einem Parteitage der österreichischen Zionisten wagen durfte zu sagen, sie könne nur Objekt, nicht Subjekt des Zionismus sein, wird nur das Mitleid, nicht die Sympathie der Menschheit erwerben, sie wird nur Werkzeug, nicht Macht sein. Eine bewusstgewordene Masse, zwar noch nicht genesen, aber schon die Krankheit bekämpfend, zwar noch nicht versittlicht a , aber durchglüht und hingerissen von reiner Sehnsucht, wird Europa ein Phänomen, eine Offenbarung sein. Eine Masse mit gereiftem Willen, mit politischem Sinne, mit wirtschaftlicher Organisation b wird erst eine Nation sein, wird eine Macht sein. Das werden nicht mehr lose, chaotische, hin und her geworfene Haufen sein, sondern ein Volk, das weiss was es will und mit dem man zu rechnen hat. Aber das genügt noch nicht. Das Volk muss auf ein bereits geschaffenes Zentrum in Palästina hinweisen können, um für seine Siedlung Selbständigkeitsrechte zu verlangen. Jede Kolonie entwickelt sich in der Weise, dass Menschen sich ansiedeln, sich organisieren, Werte hervorbringen, und mit wachsender Bevölkerungszahl, Organisationsfestigkeit und Produktionshöhe auch entsprechende Selbstverwaltung erhalten. Nun ist unsere Kolonisation eine recht anormale, da sie erstens kein Mutterland, sondern nur ein Muttervolk hat, und zweitens nicht unokkupiertes, sondern türkisches Land besiedeln will; und die Verhältnisse der Türkei sind durchaus nicht dazu angetan, eine normale Entwickelung unserer Siedlung zur Autonomie im angeführten Sinne als wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Wir könnten daher wohl einmal in die Lage kommen, Verhandlungen mit europäischen Mächten zu führen, aber mit Erfolg wohl nur dann, wenn das Muttervolk, das zum realen Machtfaktor in Europa, und die Siedlung, die zu einem realen Machtfaktor im türkischen Reiche geworden sein wird, zusammenwirken werden. Jedenfalls aber muss die Siedlung d as ei n. Um sie zu schaffen, sind freilich auch Verhandlungen nötig, aber nur eine ungehinderte Kolonisationsarbeit in gewissen zu vereinbarenden Formen betreffend. D ies e Verhandlungen sind im Gegensatze zu den auf vorherige Autonomiezusicherung abzielenden schon heute mit Aussicht auf Erfolg zu führen, da die Aufbringung oder Garantierung der Gegenleistung hier wohl möglich wäre; 3 ein auf wissenschaftlichen Grundlagen aufgebauter Siedlungs- und Exploitierungsplan 3.

[Anmerkung Buber:] Selbstverständlich sollte auch jenseits der Verhandlungen, durch innere Kolonisation (Ansiedlung der städtischen jüdischen Bevölkerung Palä-

a. b.

JBI: gestalten JBI: Organisationskraft

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wäre hierfür von grosser Bedeutung. hDiese Frage, die nicht zu unserem Gegenstande gehört, soll ein andermal erschöpfender behandelt werden; es sei hier nur angedeutet, dassi diese wissenschaftliche Arbeit, wenn sie richtig aufgefasst wird a , die Erforschung von Volk und Land und somit eminente jüdische Kulturarbeit bedeuten hwürdei. Dies alles aber reicht noch nicht hin, um eine Kolonisation, wie sie hier gemeint ist – keine »Kleinkolonisation«, sondern eine Kolonisation in grösstmöglichem Umfange und im Vollbewusstsein der politischen Zwecke und Mittel – eröffnen zu können. Vielmehr ist in diesem merkwürdigsten aller nationalen Probleme alles mit allem so eng verkettet, dass auch für die Siedlungsarbeit die Volkserziehung die notwendige Grundlage abgibt. Denn, es muss immer wieder gesagt werden, kein Charter könnte helfen, wenn das Volk nicht reif ist, den Charter zu verwirklichen. Zu einer so eigentümlichen, so fast analogielosen Kolonisation, wie die von uns beabsichtigte ist, bedarf es eines körperlich, geistig, sittlich s ta r ken Menschenmaterials; eines Menschenmaterials, das stark genug ist, die schwersten und mühseligsten Arbeiten zu bewältigen, den abgründlichsten Gefahren zu trotzen, den trostlosesten Enttäuschungen standzuhalten. Es ist grundfalsch zu behaupten, wir wollten »dem Volke statt Brot Kultur geben«. Wir wollen das Volk befähigen und vorbereiten zu dem Kampfe ums Brot, welcher in Wahrheit der Kampf um die nationale Existenz ist. Wir wollen im Volke jene sittliche Stärke erwecken, die Arbeitsmut und Ausdauer verleiht; wir wollen sein Denken vom Relativismus zur Wirklichkeitserfassung und sein Wollen von Hast und Gier zu kraftvoller Stetigkeit führen. Wir wollen erst kleine, dann immer grössere Scharen heranziehen, die wir in Palästina ansiedeln d ü rfen werden. Wir können von dem Wechsel der Generationen alles erhoffen, wenn wir alles aufbieten, um auf die heranwachsenden Generationen einzuwirken. Der wird das Grösste für den Zionismus getan haben, der die Erziehung der Jugend unseres Volkes in neue Bahnen lenkt. Zu einer grossen jüdischen Kultur gibt es nur einen Weg: durch Kultur.

3. Von der Kulturarbeit. Um dies noch von einer anderen Seite her zu begründen und auf die Erziehungsfrage sowie einige andere Gebiete der Kulturarbeit etwas näher stinas) und durch wirtschaftliche und kulturelle Arbeit in Palästina das Land immer mehr zu einem de facto jüdischen gemacht werden. a.

JBI: wird, würde

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einzugehen, möchte ich zunächst zwei Einwände erörtern, die gewöhnlich neben dem soeben widerlegten, dem der angeblichen Kraftzersplitterung, gegen sie erhoben werden. a Der eine lautet etwa: »Wie könnt ihr das Volk geistig und sittlich erziehen, ohne es vorher durch wirtschaftliche Hebung befähigt zu haben, eure Erziehung aufzunehmen?« Und der andere: »Alle Kulturgüter, auf deren Schaffung eure Arbeit hinzielt, müssen Stückwerk bleiben, wenn nicht zuvor durch die territoriale Einigung und Vereinheitlichung dem Volke die Möglichkeit einer stetigen normalen Entwickelung gegeben ist.« Es ist klar, dass diese zwei Einwände zwei verschiedene Seiten unserer Kulturarbeit betreffen: der erste die eigentliche Volkserziehung, die Bestrebung, die schlummernden oder niedergehaltenen Kräfte zu wecken oder loszubinden; der zweite die Versuche, den vorhandenen wachen und freien Kräften Betätigung, und dadurch auch weitere Entwickelung, und zwar Betätigung und Entwickelung innerhalb des eigenen Volkstums und der eigenen Gemeinschaft zu ermöglichen. Diese beiden Seiten hängen innig zusammen – die zweite ist ja nur eine Art Weiterführung der ersten –, und jede dient der anderen, denn die erste bereitet den schaffenden Geistern ein aufnahmsfähiges Volk und die zweite ermöglicht eine freiere und reichere Produktion von nationalen Kulturgütern, die wieder in die Erziehung und Höherbildung des Volkes eingreifen. So herrscht denn auch auf jedem Punkt und in jedem Augenblick die lebendigste Wechselwirkung zwischen den beiden Seiten. Dennoch ist es offenbar, dass die erste Form der Arbeit sich zunächst und unmittelbar mit den Volksmassen, die zweite mit einer geistig höchststehenden, schöpferisch begabten Minderheit beschäftigt. Dementsprechend verhält es sich mit den beiden angeführten Einwänden. Wie wollt ihr, so etwa lautet die Frage des ersten, den jüdischen Lumpenproletarier erziehen, da er doch weder Musse noch physische Möglichkeit hat, eure Erziehungselemente durch Lesen oder Zuhören in sich aufzunehmen? Schafft ihm erst Zeit und Freiheit, schafft ihm menschliche Daseinsgrundlagen und einen normalen Organismus, dann erst könnt ihr daran denken, seinen Geist auszubilden. So nachdrücklich sich dieser Einwand auf die tatsächlichen Verhältnisse beruft, so unbekannt ist ihm doch ihre spezifische Natur. Das Vorgebrachte mag ja ziemlich genau zutreffen, wenn es sich etwa um den slavischen Bauern handelt: beim Juden ist es grundfalsch. Wäre nämlich der jüdische Kleinkrämer oder Lumpenproletarier etwas geistig Indifferentes, das nur für einen mehr oder minder engen physischen Lebensa.

Hier beginnt der aus »Ein geistiges Centrum« übertragene Text [forthin: GC].

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bedarf Gedanken zu produzieren imstande ist, so wäre es diesem tiefsten wirtschaftlichen Elende gegenüber ein törichtes, ja grausames Beginnen, Erziehungsexperimente anzustellen. Nun sind aber diese Kleinkrämer und Lumpenproletarier gerade die geistig prononcierteste aller Menschengruppen. Das Leben des slavischen a Bauern ist ein kraftökonomisches System. Er denkt kaum mehr, als zur Befriedigung seiner verschiedenen direkten und indirekten physiologischen Bedürfnisse notwendig ist. Manchmal kommt ihn eine nachdenkliche, fast immer praktisch zugespitzte Neugier an, manchmal ein schwerfälliges, inhaltsarmes Sinnen. Das ist auch alles. Das Leben des jüdischen »Luftmenschen« hingegen ist alles eher als kraftökonomisch. Ein grosser Teil seiner Zeit und Kraft gehört einer geistigen Arbeit, die nichts mit seinen Bedürfnissen, ja überhaupt nichts mit einem wirklichen Leben zu tun hat. Er denkt viel nach. Aber nicht über seine Erinnerungen und seine Wünsche. Nicht über Menschen und Dinge seiner Umgebung. Er denkt nach über die vielverschnörkelten, unlebendigen Deutungen von Stellen einiger uralter Bücher; einiger Bücher, von deren geschichtlicher Bedeutung, von deren intellektuellen, sittlichen, künstlerischen Werten, von deren lebensvollem Hintergrunde er keine Ahnung hat. Sein Denken steht ausser aller Beziehung zu irgend etwas Wirklichem. Und diesem wesenlosen Denken, diesem Spinnen von Abstraktionen ist er mit Masslosigkeit ergeben. Nicht nur die vielen, die das »Lernen«, das heisst das scharfsinnige aber lebensfremde und unfruchtbare Grübeln über Bücherstellen, zu ihrem Lebensberuf machen und sich von ihren Fragen erhalten lassen, auch die absoluten Geschäftsmenschen sind von dieser spezifisch jüdischen Geistigkeit erfüllt; sie durchtränkt ihr ganzes Tun, jedes Wort, jede Geste mit einer Fülle spitzfindiger Reflexion. Auch der Bauer ist kein Instinktmensch, auch er denkt nach, bevor er etwas tut, in seiner langsamen schwerfälligen Art. Aber sein Denken ist dem jeweiligen Zwecke angepasst; es geht nicht über diesen hinaus. Der Jude denkt in jedem einzelnen Falle wohl kürzer, aber zugleich doch viel mehr und viel mannigfaltiger. Und in seine praktischeste Erwägung weben sich, ohne sie übrigens meistens zu beeinflussen, tausend lebensfremde Reminiszenzen und Gedankenschnörkel ein. Er denkt, um zu denken; überall findet er Gelegenheit dazu; und auch der Elendeste, Gedrückteste gönnt sich noch diesen Luxus. Es gibt sonst nirgends in der Welt Menschen, die zugleich solche Not leiden und solchen Geistesluxus treiben würden. Der »Luftmensch« ist der eigentliche Luxusmensch. a.

GC: ruthenischen

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Diese jüdische Geistigkeit ist eine ungeheure Tatsache, vielleicht die markanteste der ganzen jüdischen Volkspathologie. Und darum handelt es sich gar nicht darum, geistige Interessen zu wecken, sondern geistige Interessen umzugestalten. Hier ist ja unaufhörliche Geistesarbeit da: aber sie ist verzerrt, starr, krank, verschroben, wirklichkeitsfremd, unproduktiv, uneuropäisch, unmenschlich. Auf sie einzuwirken, sie zu heilen, sie umzuwandeln ist die grosse Forderung. Nicht erst die Fähigkeit, geistige Nahrung aufzunehmen, ist heranzubilden; diese Fähigkeit ist da und wird Tag für Tag bestätigt; aber andere Nahrung ist herbeizuschaffen und so, dass sie auch angenommen werde; dies ist notwendig, damit das Volk geistig gesunde, und so ist es das Problem des Lebens. Denn (wenn man von dem sich in moderne Lebensformen von selbst eingewöhnenden jüdischen Industrieproletariat absieht) man wird dem eigensinnigen Juden erst dann menschliche Daseinsgrundlagen schaffen können, wenn man in ihm den Wunsch nach ihnen erweckt hat, und auch das ist eine Sache der geistigen Erziehung. Solchen Darlegungen gegenüber wird, wo sie als unwiderlegbar erkannt worden sind, zuweilen auf die künftige palästinensische Heimstätte und auf die Macht des mütterlichen Bodens hingewiesen. Ich bin durchaus überzeugt, dass die territoriale Einigung, die erneute Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Volkselementen, die Möglichkeit ruhiger Betätigung aller Kräfte, vielleicht auch die klimatischen Verhältnisse des Landes, unter deren Einwirkung ja einst die Rasse entstanden ist, einen grossen heilvollen Einfluss auf das gesamte Volksleben ausüben werden. Aber ich glaube, dass all dies doch nichts anderes tun kann, als die vom Volke selbst mitgebrachten Keime des Neuen zur Entfaltung bringen, Kulturkeime sich zu Kulturwerken auswachsen zu lassen. Ich weiss nicht, ob man behaupten darf, es werde auch mit dieser ganzen krankhaften jüdischen Geistigkeit aufräumen. Ich glaube nicht, dass man bei einer Unternehmung, zu deren Wesen ihre Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit und deren Misslingen den Tod einer grossen Kulturmöglichkeiten bedeuten würde, daran denken darf, ein Volk wie tote Fracht auf Schiffe zu verladen, hinüberzuführen und dann vom Boden alles zu erwarten: die Erlösung der kränksten aller Nationen zu einem wahren Leben. Man muss vielmehr daran gehen, die jüdische Geistigkeit umzuwerten, nicht durch Theorien, sondern durch Arbeit: durch die Heranbildung immer neuer Schichten eines kolonisationsfähigen Menschenmaterials in dem oben ausgeführten Sinne, und zugleich einen Plan zu entwerfen, auf Grund dessen sich, wenn die Kolonisation in grossem Stile beginnt, bewerkstelligen liesse, dass gerade die entwickeltesten Schichten zum Kristallisationskern der Ansiedlung werden. Die Heranbildung des Men-

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schenmaterials hängt mit der nationalen Erziehung aufs innigste zusammen; in der wirklichen Kulturarbeit treten sie immer einheitlich auf. Jede Chederreform bringt uns einer starken, reifen und kolonisationsfähigen Volksgeneration um einen Schritt näher; und wir können keine Ackerbauschule gründen, die nicht eine Quelle nationaler Verjüngung wäre. Die wesentlichste Frage der nationalen Erziehung ist, wie bemerkt, selbstverständlich die Jugenderziehung. Zwar lässt sich auch auf die Erwachsenen durch Wort und Tat einwirken. Doch ist es offenbar, dass nur jungen und unfertigen, noch richtungslosen Seelen gegenüber ein Werk grosser Umgestaltung möglich ist, und auch hier nur stufenweise im Wechsel der Generationen. Allerdings ist diese Arbeit stets wieder von einem Einwirken auf die Erwachsenen abhängig: eine durchgreifende Chederreform (in modern nationalem Sinne) ist zwecklos, wenn nicht gleichzeitig die Eltern über deren Bedeutung aufgeklärt werden; und wenn das Haus zerstört, was die Schule gebaut hat, wird allezeit nur Halbes herauskommen. Das mag ein Dilemma sein; aber eines, das durch intensives Tun aus dem Leben geschafft werden kann und muss. Dieses intensive Tun zu ermöglichen und zu organisieren, wird eine Zentralisierung der nationalen Erziehung, die Schaffung einer grossen volkspädagogischen Institution erforderlich sein. Diese Frage ist – infolge der eigenartigen Verhältnisse, in denen sich insbesondere die vor allem in Betracht kommenden russischen Juden befinden – noch nicht spruchreif und kann vorläufig nur als Anregung aufgeworfen werden. Bis sie in ein weiteres Stadium tritt, muss der Appell an alle Berufenen genügen, intensiver als bisher für die nationale Erziehung an den Orten ihrer Wirksamkeit tätig zu sein. Hat sich uns somit der erste Einwand als auf einer Unkenntnis der spezifisch jüdischen Verhältnisse beruhend erwiesen, so kann den Vertretern des zweiten eine noch viel weiter reichende Unkenntnis vorgeworfen werden. »Ihr strebt eine jüdische Kultur an,« sagen sie uns, »die wird aber erst in einem jüdischen Gemeinwesen entstehen können; jetzt und hier sind Anfänge einer jüdischen Kultur unmöglich«. In diesem Einwande werden drei Dinge missverstanden: unsere Bestrebungen, das Wesen der Kultur und der ganze Gang der jüdischen Volksgeschichte, den gegenwärtigen Moment in seiner historischen Bedeutsamkeit nicht ausgeschlossen. Es wird darin vorausgesetzt, es gebe keine jüdische Kultur, sondern wir strebten erste eine an. Das ist ganz unrichtig. Es gibt eine jüdische Kultur, und es hat nie aufgehört eine zu geben. Man darf Kultur nicht mit voll entwickelter Kultur verwechseln. Diese hat das jüdische Volk zu keiner Zeit, auch nicht zur Staatszeit, besessen. Aber es hat einer Erscheinung,

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wie z. B. die ganze Entwickelung der jüdischen Mystik, gegenüber schlechthin keinen Sinn, von der Kulturlosigkeit der Diaspora zu sprechen. Vollends müssig ist dies aber angesichts historischer Phänomene wie die Auferstehung der hebräischen Sprache. Wenn das nicht Äusserungen der jüdischen Kultur sind, so wüsste ich wirklich nicht, welcher Kategorie des Geschehens sie zuzuteilen wären. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Kultur eines Volkes nichts anderes sein kann als die Produktivität, das Schaffen eines Volkes. Schaffen nennen wir jede – bewusste oder unbewusste – Vergegenständlichung eines seelischen Erlebens, die zugleich die Verkörperung einer seelischen Eigenart ist. Alle Dinge, in denen sich die psychophysische Eigenart eines Volkes ausprägt, gehören somit zu seiner Kultur. a Ein Volkslied, ein Tanz, ein Hochzeitsbrauch, eine malerische Sprachwendung, eine Sage, ein Glaube, ein traditionelles Vorurteil, ein Sabbatleuchter, ein Stirnreif, ein philosophisches System, eine soziale Tat, all dies ist Kultur. b Dies lässt sich gerade am Leben des osteuropäischen Judentums beobachten, wo einem aus allen Lebensäusserungen die leidvolle, dumpf ringende Volksseele entgegenblickt. Eine Kultur kann freilich arm, krankhaft, einseitig, unentwickelt sein, aber darum hört sie nicht auf, Kultur zu sein. Eben dies lässt sich von der jüdischen Kultur sagen. Sie ist arm, krankhaft, einseitig, unentwickelt. Sie kann nur im eigenen Volkslande reich, gesund, allseitig, vollentwickelt werden. Davon bin ich überzeugt. Freilich mu s s sie es auch dort nicht werden. Das beweisen verschiedene Epochen der Staatszeit. Aber wir werden in unserer Hoffnung durch c die Erscheinung der Renaissance bestärkt, zu deren Problem ich nun zurückkehren muss. Die Geschichte der Diaspora hat etwas Vulkanisches. Nirgends ein stetes Strömen der Produktivität. Es fehlt die Ko nt i nu i t ät der Persönlichkeit und des Schaffens. Die Kraft des Volkes glüht jahrzehnte-, jahrhundertelang gleichsam unter der Erde, um plötzlich hervorzubrechen in einem grossen Menschen, in einem grossen Werke. d Und nun tritt allmählich, leise anhebend, dann immer stärker anschwellend, die innere a. b.

c. d.

Die letzten beiden Sätze in GC etwas abweichend: Auf Definitionen können wir verzichten. Aber das muss betont werden, dass alle Dinge, in denen sich psychophysische Eigenart eines Volkes ausprägt, zu seiner Kultur gehören. GC fährt abweichend fort: In der Geschichte eines Volkes ist nur das »Zufällige«, d. h. das nicht durch die Volksart Bestimmte, nicht kultureller Natur. Alle übrigen Erscheinungen haben eine kulturelle Seite, durch die sie der nationalen Kultur zugehören. Diese kann ja arm […] GC fährt fort: eine eigentümliche Erscheinung bestärkt. GC fährt fort: Und eigentlich fehlt das Schaffen selbst, wie sein köstlichstes Dokument, die Kunst. Nun tritt aber, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leise anhebend

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a

Umwälzung ein, die ich jüdische Renaissance genannt habe. Unsichtbare Mächte schenken unserem Volke die Kontinuität wieder und das stete b Schaffen des lebendigen Geistes. c Daran kann man nicht zweifeln. Wie müssig und unfruchtbar ist z. B. d das Debattieren darüber, ob es eine jüdische Kunst gebe! Gewiss gibt es keine in dem Sinne, wie es etwa eine holländische gibt. Aber das sind ja nur Kategorien, und das grosse historische Wunder ist die Tatsache, dass es überhaupt jüdische Künstler gibt, und die andere, dass in ihrem Sehen, in ihrer Formgebung ganz leise und heimlich etwas von jüdischer Wesensart lebendig wird, etwas von dem Erbcharakter des reinen e Blutes, das ihre Sehnerven, ihre Handmuskeln umspült. Die Kontinuität der Produktion ist uns wiedergegeben worden. Immer stärker und stetiger wachsen intellektuelle und künstlerische Kräfte aus dem Boden. Die Stimmung eines keimreichen gesegneten Saatfeldes steigt zu uns auf. Eines alten Volkes junges Jahr. Schon überschütten uns f die Blüten dieses ungeahnten Frühlings. Aber der uralte Erbfeind wacht, jenes Mörderpaar g der Jahrtausende: h die Enge des Lebens und die Enge des Geistes, das äussere und das innere Ghetto, die noch immer nicht bezwungenen Mächte. Doch sie waren nur in der vulkanischen Zeit allmächtig: es waren immer nur wenige Einzelne zu besiegen, und gegen sie stand das grösste leibliche und seelische Elend der Menschheitsgeschichte in Waffen. Heute ist es anders; und wenn uns die Wiedergeburt unseres Volkes kein Schlagwort, sondern ein Lebensernst und eine Lebensfrage ist, dann ist uns ein heiliger Krieg befohlen gegen diese beiden Widersachermächte, dann dürfen wir nicht zulassen, dass Tag für Tag junge Kräfte des Volkes zugrunde gehen, wir müssen daran arbeiten, dass sie bewahrt bleiben, dass sie sich entfalten, und dass sie uns bewahrt bleiben, dass sie sich für uns entfalten. a. b. c. d. e. f. g. h.

GC: einmal als »Jüdische Renaissance« bezeichnet habe. Nicht in GC. GC fährt fort: und sie schenken ihm das, was es nie besass, die Kunst. Wie müssig GC: Wie müssig ist doch das Debattieren darüber, ob es GC: des urreinen GC: uns Staunende, uns Berauschte GC: Mordpaar GC: die Fäulnis, jene »Schichten verwehter, zerzauster, zerfallender Blätter«, jener »Mulm von gealterten, wetterentwurzelten Eichen«, von dem unser Dichter zu sagen weiss, dass er mit wuchtiger Schwere die Keime niederdrückt, die aufstreben, sich zu entfalten, – und der tödliche Rauhfrost, der im Schoosse des Erdreiches nistet. Die äussere und die innere Hemmung. Zwanzig Jahrhunderte hindurch walteten sie und würgten alle jungen zarten, scheu erwachenden Kräfte. Was die Not und Lebensenge verschont hatte, das erstickten die eisernen Hände des »Gesetzes«, das erstarrte in dem harten Banne, der alles Helle, Freudige, Schönheitsdurstige, Beflügelte, verketzerte und vernichtete. Aber sie waren nur in der vulkanischen

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Keines Volkes der Erde Führer und Vertreter würden ruhig zusehen, wie ihm in allen Orten, zu allen Zeiten Talente des Geistes und der Kunst, Fähigkeiten, Möglichkeiten, Menschen verloren gehen. Bei uns wird weiter vegetiert. Überall sonst würde eine grosse Aktion ins Werk gesetzt, Betätigungszentren ins Leben gerufen werden. Bei uns schweigt man und tut, als wüsste man nicht, dass alltäglich Menschen starker und reicher Gabena dahingerafft werden; nicht vom Tode, sondern von der Not, die sie ins Joch spannt und alle Himmelsstimmen vergessen macht, von der Lebensenge, die sie einsperrt in die dunkle dumpfe Gasse und ihnen keinen Blick gewährt in die weite leuchtende Welt, von der Tradition, die das freie Feuer des Geistes und die bildnerische Heiligkeit der Kunst mit gleichem Sündenfluche trifft. Die aber, die überwunden haben und durch all dies hindurchgelangt sind zu sich selbst und zu ihrem Werke, müssen sie sich nicht der Gemeinschaft entfremden, die sie gelästert und gepeinigt hat? b Das apriorische Verdammen ist ein gar zu dürftiges Beginnen. Aber die Treugebliebenen, haben sie denn mindestens ein eigenes Publikum, zu dem sie reden können? Ist nicht die jüdische Bourgeoisie zu entartet, um sie hören zu wollen, und die jüdische Volksmasse zu dunkel, um sie verstehen zu können? Wie kann ein jüdisches Publikum erzogen, herangezogen werden? Und die wenigen, die heute schon Sinn und Herz für sie hätten, gibt es eine Brücke zu diesen? Gibt es Zentren der Mitteilung, der geistigen und der künstlerischen? Hier eröffnet sich eine Fülle von Aufgaben für die Kulturarbeit. c Diese skizzenhaften Erörterungen sind nicht der Ort, darauf näher einzugehen. Sie sollten nur das Verhältnis des Zionismus zur jüdischen Renaissance und zum jüdischen Kulturproblem in grossen Zügen darlegen. Sie sollten den Zionisten zurufen, dass der Zionismus sich nur auf dem Boden der positiven Kulturarbeit verwirklichen kann. Wir sind in die Epoche der Kontinuität eingetreten. Auch Zion kann nur als eine Konsequenz der inneren Volksentwickelung erstehen. An uns ist es, diese zu hüten und zu fördern. Wir sind in die Epoche der Kontinuität eingetreten. Es gilt, auch in uns selber Kontinuität auszubilden, und eine vor allen: die zwischen Gedanke und Tat. Dies hier sind Gedankenskizzen. Mögen sie Taten anregen!

a. b. c.

GC ergänzt: in unheimlicher Zahl GC: müssen sie nicht mit Inbrunst die dargebotene Hand Europas ergreifen? Ende des Zitats aus »Ein geistiges Centrum«

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Die jüdische Bewegung I. Man kann das Wesen der jüdischen Bewegung nur aus ihrer Geschichte verstehen. Ist sie doch ein urtümliches Lebensphänomen der jüdischen Nation, so alt wie deren Schicksal. Sie umfaßt zuerst die Verteidigung eines bedrohten, dann die aus ruckweisen und verworrenen immer gleichmäßiger und geordneter werdenden Befreiungsversuche eines gefesselten, gepeinigten Volksorganismus. Sie flammt zuerst zu gigantenhaftem Heldentum im Kampf gegen die Römer auf, dessen großartige Vermessenheit man aus dem Josephus 1 wohl nur ahnen kann. Sie schreitet mit unverbrauchter Kraft von Rebellion zu Rebellion. Dann erlischt, von der Gewalt des Feindes erstickt, ihre erste Glut. Das Exil beginnt. Eine Weile schweigt sie, überwältigt. Dann aber, irdischem Kampf entsagend, streckt sie die Arme zum Himmel, klagend, erinnernd, fordernd, streitend. Der Traum der Träume ersteht in neuem Glanze, die Botschaft der Propheten schallt allerorten wie lebendiges Wort in der Luft, das Warten auf den Messias beginnt. Und nun werden jene erschütternden, ganz und gar in menschlicher und irdischer Gemeinschaftssehnsucht brennenden Bitten um die Wiedererbauung Zions geboren und steigen nun Tag für Tag auf aus den engen Bethäusern, aus den finsteren Stuben, in bald dumpfem bald schluchzendem Gebete. Nun weinen Schmerz und Hoffnung im Liede, und der Größte, Jehuda Halevi, dichtet seine Zionlieder. 2 Nun verkünden die Meister der Kabbala in danielischen Zahlengeheimnissen 3 die kommende Erlösung. Und jene seltsamen Männer der Verzückung und der Suggestion tauchen auf, die die falschen Messiasse genannt worden sind. Und immer wieder flackert die jüdische Bewegung auf; fessellos und allmächtig bricht in den Tagen Sabbatai Zewis 4 der Taumel aus, der die Menge allen Besitz verlassen und nach dem Lande der Verheißung ziehen läßt, – bis er von der Wirklichkeit niedergeworfen wird. Auch der Abseitigste wird von den Wogen berührt; Spinoza spricht von der Wiederherstellung des jüdischen Staates. So begegneten sich gewaltsame, fast bewußtlose Entladung mit der Weisheit des Weisesten. Aber auch die messianistische Form der Bewegung, die ihren unlaute1. 2. 3. 4.

Josephus Flavius (ca. 38 – nach 100 n. Chr.). Jehuda Halevi (1086-1140), Zionslieder, mit der Verdeutschung und Anmerkungen von Franz Rosenzweig, Berlin 1933. Gemeint sind mystische Zahlenspiele, die auf dem biblischen Buch Daniel basieren. Der Pseudomessias Sabbatai Zvi (1626-1676).

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ren letzten Ausläufer in dem Treiben der Frankisten hatte, erstirbt, teils von dem alle Exaltation ebenso wie alles Eingreifen verdammenden Rabbinismus, teils von der hier und da eindringenden Europäisierung aufgezehrt. Und nun tritt ein langer Stillstand ein, der bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hineinreicht. Was ihn wohl am meisten bewirkt, ist (wenn man von dem Emanzipationsprozeß absieht) die i nnere Befreiungsarbeit, die sich in Chassidismus und Haskala, in der jüdischen Mystik und der jüdischen Aufklärung, in der Erneuerung des Gefühls und des Gedankens kundgibt. Sie wirkt auf die äu ßeren Befreiungstendenzen so lange hemmend ein, bis sie sich durchgesetzt hat; dann erst beginnt sie, sie zu fördern. Der allmählich entartete Chassidismus zwar wird selbst der Regeneration bedürfen, bevor er bestimmend werden kann; aber die Haskala ging größtenteils in die nationale Bewegung über. Dies geschah jedoch, wie gesagt, erst vor wenigen Dezennien. Bis dahin traten nur sporadisch Erscheinungen auf, die das unterirdische Strömen dokumentieren. Man lese die Briefe des jungen Heine und die Tagebücher des jungen Lassalle und man wird sehen, von einem wie geradezu zionistischen Gefühl auch die Männer, die sich dann vom Judentum entfernten, in der unmittelbarsten Zeit ihres Lebens erfüllt waren. Man durchblättere die Periodica aus der Zeit der syrischen Judenverfolgungen 5 und man wird manche überraschend realpolitischen Pläne der Gründung einer jüdischen Autonomie in Palästina finden, die zumeist auf Anregung von jüdischer Seite zurückzuführen sind. Aber all dies war keine Bewegung. Diese wurde erst durch die nationale Idee erweckt. Eine nationale Idee kann nur aus einem Kampf hervorgehen. In kampflosen Zeiten bleibt die Tatsache des Bestehens einer Nation mit vereinzelten Ausnahmen unter der Schwelle des Bewußtseins; erst in dem Streite um nationale Existenz und nationale Rechte wird sie zum Bewußtseinselement und erst in der geistigen Form des Streites zur Idee erhoben. Den Juden war die Tragik vorbehalten, die nationale Idee aus einem i nneren Kampf hervorgehen zu lassen. Es war der Kampf der im Judentum Wurzelnden gegen die im Assimilationsrausch Abfallenden. Es war im wesentlichen, wenn auch nicht durchweg, ein Kampf des selbstbewußten jüdischen Ostens gegen den sein Selbst aufgebenden jüdischen Westen. Die deutschen Juden glaubten, sich der vollzogenen bürgerlichen Gleichstellung dadurch am würdigsten zu erweisen, daß sie die jüdische Nationalität über Bord warfen. Ihre Führer konstruierten zu die5.

Buber spielt hier auf die Verfolgungen der »Damaskusaffäre« 1840 an. Zur Damaskusaffäre siehe Jonathan Frankel, The Damascus Affair; »Ritual Murder« Politics and the Jews in 1840.

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sem Zweck zwei absonderliche Schemata, eines für die Menge: die »konfessionelle Gemeinschaft« 6 und eines für die auserwählten Geister: die »Mission der Juden«. 7 »Die Juden sind keine Nation, sondern eine Religionsgenossenschaft« und »die Juden müssen zerstreut bleiben, um auf die Völker erzieherisch einzuwirken« – diese beiden Thesen bilden das Programm, das bis auf unsere Tage so unsäglich zersetzend gewirkt hat. Sie sind, wie Salamon Schiller 8 treffend ausführt, »eine der kuriosesten, unnatürlichsten metaphysischen Widersinnigkeiten, die die Menschheit jemals hervorgebracht hat. Gewisse Eigentümlichkeiten sollten mit einem Subjekt verknüpft sein, dessen Substantialität nicht zu greifen war, eine weltgeschichtliche Mission wurde einem Etwas zugeschrieben, das kein lebendiges, geschlossenes Ganzes bildete.« Dieser »Karrikatur der Verkoppelung einer jüdischen von den Propheten stammenden Idee mit einer aus der deutschen spekulativen Philosophie abgeleiteten«, diesem »schmachvollen, feigen Kompromiß zwischen dem Gefühl der Zugehörigkeit zum Judentum und dem aus materiellen Beweggründen kommenden Bedürfnis, als echter Sohn des Volkes zu gelten, in dessen Mitte man lebt«, erstand im Westen in den 60er Jahren ein machtvoller Gegner in Moses Heß, dem freien Sozialisten, dem »Philosophen der Tat«, dem Arbeitsgenossen Marxens und Lassalles, dem Kritiker Stirners, dem Schöpfer der zionistischen Theorie. Im Osten führte in den 70er und 80er Jahren der glänzende Repräsentant der modernen Haskala, der genialste hebräische Publizist, Perez Smolenskin, die nationale Idee in geschichtsphilosophischem Aufbau durch. In den 90er Jahren und in unseren Tagen hat Uscher Ginzberg, bekannt unter dem Schriftstellernamen Achad Haam (Einer aus dem Volke), der größte Denker der neuhebräischen Literatur und einer der konsequenten Wahrheitskämpfer aller Zeiten, sie zu einem geschlossenen Gedankensystem vollendet. In dessen Mittelpunkt steht die Aufgabe einer Regeneration des Judentums durch die Schaffung eines geistigen Zentrums in Palästina, einer vorbildlich jüdischen Sozialkultur, die als die einzige wahre Mission des Judenvolkes anzusehen ist. Die Entwicklung der nationalen Idee, die eine Macht war, schuf die nationale Bewegung. Selbstverständlich wurde diese vor Allem im Osten mächtig, wo sie alle Schichten der Gesellschaft ergriff und bis in das organisierte Proletariat eindrang, in dem sich trotz aller Anfeindungen eine 6. 7. 8.

Diese Richtung wurde z. B. von Hermann Cohen vertreten. Siehe dazu die Kontroverse mit Buber über den Zionismus, in diesem Band, S. 293-320. Dies war die Formel der Reformgemeinden, die im 19. Jahrhundert die Zionsidee ablehnten bzw. umdeuteten. Salomon Schiller (1863-1925).

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starke nationalistische Gruppe bildete. Und wie in allen Phasen der Exilgeschichte jedes Befreiungsstreben von der Tendenz zur Restauration der jüdischen Gemeinschaft in der Heimat des Judentums begleitet war, so begann nun, in der Phase des bewußten Willens, die Arbeit an der Kolonisation Palästinas. Diese Tätigkeit wurde durch die ökonomische Notlage des Volkes angefeuert, freilich auch irregeleitet. Sie nahm nach den russischen Judenverfolgungen9 einen starken Aufschwung. Aber sie war allzusehr auf die Philantropie, allzuwenig auf die Selbsthilfe gestellt. Die wahre Kraft der Bewegung äußerte sich in jenen Ansiedlungsversuchen, die von jungen, ganz der Idee hingegebenen, alle bürgerlichen Aussichten über Bord werfenden Studenten herrührten und phantastisch, aber wunderschön und ein edles Zeichen verjüngten Volkstums waren. Hier sei nur einer Gruppe gedacht, des Charkower Vereins »Bilu«: Diese jungen Menschen wollten nach Palästina gehen, dort »sozialistische Kolonien gründen, diese dann, wenn sie schon gut bebaut und wohlorganisiert sein würden, dem Volke überlassen, um dann selbst wieder neue Kolonien zu gründen, und so fort«. Dieses Programm konnte naturgemäß nur zu einem sehr geringen Teile verwirklicht werden. Aber es verdient, in die Historie einzugehen als das Dokument eines jungen, stolzen, kühnen, opfermutigen Geschlechtes.

9.

Gemeint sind in erster Linie die Pogrome in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts.

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Zu Georg Arndts Gedächtnis 1 Hören wir, was unser toter Freund zu uns spricht. Als er lebte, vernahmen wir nur losgelöste Klänge; nun er uns verlassen hat, fügt sich sein ganzes Leben zu ei ner mächtigen Rede. Halten wir ihr Stand! Der harte Gram liegt auf unseren Herzen; aber Größeres ist von uns gefordert, als Trauern und Klagen. Größeres fordert unser toter Freund von uns. Als er lebte, hat er von sich geschwiegen; nun er uns verlassen hat, spricht sein ganzes Leben aus, was er war. Wir wollen ihm nachleben. Nicht allein sein Bild bewahren, sondern seine reine Kraft unsterblich wirksam, unsterblich heimisch machen in unseren Taten und in unseren Taten Kindern und Kindeskindern. Nehmen wir Tieferes wahr als das Grauen des Schicksals, ertragen wir den Blick des Geheimnisses, lauschen wir der gewaltigen Stimme. Hören wir, was unser toter Freund zu uns spricht. Was ist dies, das wir Galuth nennen, das Galuth der Seele? Was ist dies Siechtum, das die Not vieler Zeiten in uns großgezogen hat? Daß wir schwach geworden sind, die wir einst doch stark waren; daß wir gebeugt schleichen, die wir einst doch aufrecht schritten; daß wir scheu blinzeln, die wir einst doch in die Sonne blickten. Wir gehorchen der Angst, statt wie einst dem Mute; wir handeln aus Zwecken, statt wie einst für Ziele; wir gelüsten, statt zu begehren. Nicht das Heldentum der Väter lebt in uns fort, nur ihre Knechtschaft. Das ist es, was wir Galuth nennen, das Galuth der Seele. Welches ist der Weg, der aus dem Galuth führt? Manche glaubten, ihm nur entfliehen zu können, wenn sie zugleich dem Judentum entflohen; das Galuth ist mit ihnen in die Fremde gegangen. Etliche wollten es nicht länger tragen und gaben sich den Tod, um ihm zu entkommen; das Galuth steht auf ihren Gräbern und starrt uns an. Aber es gibt einen Weg, der aus dem Galuth führt: das ist der Weg der inneren Befreiung. Diesen Weg ist Georg Arndt gegangen. Diesen Weg ist Georg Arndt uns vorgegangen, als er lebte. Nun er uns verlassen hat, spricht sein ganzes Leben zu uns von diesem Wege. Meint ihr, was so vieler Zeiten Not in uns großgezogen hat, das ließe sich nicht tilgen durch eine innere Tat? Ihr vergeßt, daß Eines in uns stark geblieben ist; ein Wunderding: der Wille. Heiligeres ist der Wille in uns als in irgend einem Volke der Erde. Aber unser Wille ist unrein und zerstreut. 1.

Georg Arndt, der Begründer der jüdischen Turnerschaft in Berlin, starb im November 1909.

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Reinigen wir unsern Willen, und er wird unser Heil. Sammeln wir unsern Willen, und wir werden sein Werk. Wollen wir uns selber, und wir sind frei vom Galuth der Seele. Als ein rein Wollender, als ein im Wollen Gesammelter, als ein durch reinen gesammelten Willen Befreiter ging Georg Arndt den Weg, ging er unseren Weg uns vor. Folgen wir ihm nach! Er war ein Mann und ein Jude. Sein toter Mund lehrt uns die heilige Wahrheit, die Wahrheit des Willens: »Wenn wir als Männer leben, werden wir als Juden nicht untergehen«. Hören wir, was unser toter Freund zu uns spricht.

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Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur 1 Nicht ohne schwere Bedenken habe ich der Aufforderung des Komitees, 2 die Diskussion über den Kongress einzuleiten, Folge geleistet. Das schwerste Bedenken aber war dies, dass ich über die Sache der hebräischen Sprache in einer fremden Sprache reden muss, weil es mir nicht gewährt ist, in hebräischer Sprache zu d enken und ich es nicht über mich bringe, die Gedanken, die in der fremden Sprache gedacht sind, in die eigene, aber weniger vertraute, zu ü berset zen. Die Tragik dieser Situation greift weit über den Einzelfall hinaus: Wir können unsere Aufgabe, die es heute zu bestimmen gilt, erst dann klar erkennen, wenn wir dieser Tragik in ihrer ganzen Tragweite erfasst haben, dies aber erst, wenn wir uns die Rolle der Sprache im Leben des Volkes vergegenwärtigen. Über die verschiedenen Erscheinungsgruppen des Volkslebens orientieren wir uns am einfachsten, wenn wir sie in Formen und Inhalte einteilen; 3 je nachdem es sich aber um Phänomene des unmittelbaren Lebens oder um Phänomene des Bewusstseins handelt, können wir Lebensformen und Bewusstseinsformen, Lebensinhalte und Bewusstseinsinhalte des Volkes unterscheiden. Die Lebensinhalte des Volkes umfassen den ganzen Kreis der Zwecke und Interessen, der wirtschaftlichen und sozialen Antriebe, die dieser Volksgemeinschaft eigentümlich sind; die Lebensformen stellen die Gestalt dar, in der sich das Verfolgen und Erreichen dieser Zwecke vollzieht: zu ihnen gehören die Sitten und Gebräuche, die spezifischen Vergesellschaftungs- und Organisationsformen. Die Bewusstseinsinhalte des Volkes umfassen sein ganzes Geistes- und Gemütsleben, insofern es als der Sphäre der nationalen Gemeinsamkeit zugehörig betrachtet werden kann. D i e Bew u s st s einsfo r m d es Volkes aber i s t s ei ne S p r a ch e: es hat wohl andere Bewusstseinselemente, aber keine andere Bewusstseinsfo r m als diese. Nun ist es ja zunächst ganz offenbar, dass die Formen eine unvergleichlich grössere Konstanz besitzen als die Inhalte, ja dass wir, wenn auch 1. 2. 3.

[Anmerkung Buber:] Referat, das auf der Konferenz für hebräische Sprache und Kultur in Berlin (19.-21. Dezember 1909) gehalten wurde. Dem Vorbereitenden Komitee gehörten prominente Hebraisten wie Shai Hurwitz und Ruben Brainin und Wissenschaftler wie Eduard Baneth und Eugen Mittwoch an, vgl. Die Welt, 13. Jg., Nr. 33, 13. August 1909, S. 743. Paul Mendes-Flohr hat in Von der Mystik zum Dialog, S. 182, Anm. 340 darauf hingewiesen, daß Buber hier Georg Simmels methodischer Unterscheidung von Form und Inhalt folgt.

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etwas hyperbolisch, sagen dürfen: die Inhalte wechseln, die Formen dauern. Was aber besonders hervorgehoben werden muss, ist dies, dass die Bewusstseinsformen eine grössere Konstanz besitzen als die Lebensformen; dies ist ja schon in der Grundtatsache begründet, dass das Bewusstsein wie im Individuum so auch im Volke die Ei nhei t der Persönlichkeit, ihr Ich gegenüber allen anderen Lebensfunktionen repräsentiert und dass sich in ihm auch die zeitliche Einheit der Persönlichkeit gegenüber ihren verschiedenen Entwicklungsphasen darstellt. Dazu kommt aber noch ein Weiteres. Was eine Menge, gleichgearteter Individuen erst zur Volksgemeinschaft macht, i s t d i e d u rch d i e s p ezi fi sche Gr undfo r m char ak ter i si er te Geschlo ssenh ei t i hres Ver kehrs , die zu jenem Komplex gefestigter, normierter Beziehungen führt, welche wir das Volksleben nennen. Diese Geschlossenheit des Verkehrs bewährt sich einerseits nach aussen, allen anderen Nationen gegenüber, von denen sie dieses Volk nachdrücklich abgrenzt, andrerseits nach innen allen einzelnen in diesem Volke enthaltenen wirtschaftlichen, sozialen, religiösen Gruppen gegenüber, die sie alle in sich umfasst. Die spezifische Grundform des Verkehrs aber, die ihm die nationale Geschlossenheit verleiht, ist wieder die Sprache. So stellt die Sprache zugleich die Einheit des Volkes gegenüber seinen einzelnen Entwicklungsphasen und die Einheit des Volkes gegenüber seinen einzelnen Bestandteilen dar. Wir dürfen sie daher schlechthin bezeichnen als d i e Ei nh ei t s fo r m d es Volks lebens . Aus diesen einfachen und von jedem nachprüfbaren Prämissen ergibt sich, dass von allen Krankheiten unseres Volkslebens d i es e die schwerste und gefährlichste ist, dass unsere Sprache ihre lebendige Kontinuität eingebüsst hat, und dass sie aufgehört hat, alle Elemente des Volkes mit einander zu verbinden. Denn diese Krankheit bedroht nicht ein einzelnes Organ, sondern die Einheit und den Zusammenhang des ganzen Organismus. Und wenn durch das Fehlen des eigenen Landes uns das no rma le Volksleben versagt ist, so wird durch die Verdrängung der eigenen Sprache das Volksleben überhaupt, der Fortbestand der Nation in Frage gestellt. Insbesondere aber seitdem die Geschlossenheit der Lebensfo rmen gesprengt worden ist. Geben wir uns nicht länger der Illusion hin, es könnte eine Erhebung des nat i o nalen Wi llens , d. h. das, was wir »nationale Bewegung« nennen, den Mangel an nationaler Einheit, den Mangel an nationalen Lebens- und Bewusstseinsformen ersetzen. Eine Erhebung des blossen Willens kann – wie wir am Beispiel aller nationalen Bewegungen erkennen – ein Volk nur für den Kampf einen und vereinigen, für einen Kampf um die nationale Freiheit und Selbständigkeit. Dies hat seine Ursache darin, dass der Wille nur in seiner höchsten, ge-

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steigertsten Intensität die Fähigkeit hat, die Menschen zu einer einheitlich handelnden Gruppe zu verschmelzen, und dass er diese höchste Intensität naturgemäss nur durch jene Erregung erlangen kann, die den Momenten des Kampfes eigentümlich ist. Dazu kommt noch, dass der eigentliche grosse Kampf, der Kampf der höchsten Erregung des Willens, der Kampf gegen den äusseren Feind von vornherein nicht Inhalt und Aufgabe der jüdischen Bewegung ist. 4 Aus dieser Erkenntnis der Eigenart nationaler Bewegungen überhaupt und der jüdischen Bewegung insbesondere erklärt sich die Wandlung, die sich in der letzten Zeit in dieser Bewegung vollzieht: die Wendung auf das Positive hin, das Streben, an die natürlichen Funktionen des Volkslebens selbst anzuknüpfen, von den wechselnden Inhalten auf die ewigen Formen zurückzugreifen, die eben diese Funktionen repräsentieren und zwar dies in d er Weise zu tun, dass das persönliche Leben jedes Einzelnen von diesen Formen und Funktionen durchdrungen und durch sie fruchtbar gemacht werde. Ich kann hier nicht alle Wege verfolgen, auf denen sich diese Wandlung vollzieht, auch nicht den wichtigsten von allen, der darin besteht, dass immer mehr Juden ihr eigenes persönliches Leben in Palästina aufbauen und so die grosse Frage zwar nur für sich, damit aber zugleich vorbildlich lösen. Uns geht hier nur ein einziger Weg an: das Streben, einem möglichst grossen Teile des Volkes die einheitliche Bewusstseinsform, die Sprache wiederzugeben. Dieses Streben ist aber von allem, was au s s er ha lb unseres Landes zur Heilung und Erlösung des Volkes geschehen kann, bei weitem das Bedeutsamste. Denn wenn wir unsere Sprache wieder haben, haben wir unsere Einheit wieder. Zu den gleichen Ergebnissen kommen wir, wenn wir die Bedeutung der hebräischen Sprache für den ei nzelnen Juden betrachten. – Die Sprache ist von allen Funktionen des Volkslebens diejenige, welche zuerst in das Leben des Individuums eintritt. Ehe das Kind zu sprechen beginnt, gehört es nur der grossen Mens chengemeinschaft an; erst mit dem ersten Worte, das seine Lippen formen, wird es in Wahrheit Mitglied seines Volkes , nimmt es an dessen Leben teil. Und wieder zeigt sich die Not und Krankheit unseres Volkslebens in keiner anderen Erscheinung so deutlich wie darin, dass die Sprache, in der die ersten Worte unserer 4.

Diese Skepsis gegenüber dem nationalen Willen steht im Gegensatz zu den Aussagen Theodor Herzls sowohl im Judenstaat wie in Altneuland. Im Judenstaat, S. 86 heißt es: »Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben« und das Motto von Altneuland »wenn Ihr nur wollt, ist es kein Märchen« ist geradezu zum Schlagwort geworden. Vgl. aber die Aussagen u. S. 216 über die Tat als »Resultante unseres Willens und der Lebensbedingungen.«

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Kinder gesprochen sind, fast durchweg nicht die ist, in der die Einheit unseres Volkes in Raum und Zeit einst lebendige Wirklichkeit wurde und war. Denn es ist nicht gleichgültig, sonder von hö chster Bedeutung, in welcher Sprache das Individuum zu sprechen beginnt. In der Sprache eines Volkes haben sich seine Urkräfte aufgespeichert, bereit, in jedem wirksam zu werden, der diese Sprache als den notwendigen, ja einzigen Ausdruck seiner ursprünglichen Regungen erlebt; in der Sprache eines Volkes leben die tiefen Quellen seiner Art und seiner Grösse fort, bereit jeden zu tränken, der diese Sprache in der ersten, bildsamsten Lebenszeit empfängt, der sie nicht als ei ne Sprache, sondern als d i e Sprache, als das wunderbare Wort des Daseins selber empfängt. Alles, was die Abstammung, was das Blut an Volksart, an Volkswesen in den Einzelnen gepflanzt hat, all das wächst erst unter der Wirkung der gesprochenen Sprache zu reinem, vollem Leben heran. Das Blut gibt ihm die Disposition, die Sprache die Aktivität; dann erst können Leben und Lehre auch die Bewusstheit entwickeln. Bei uns fehlt das Mittelstadium ganz oder fast ganz; es ist leicht zu ermessen, was dies für das Volk, was es für den Einzelnen im Volke bedeutet. Dabei bedenke man, dass gerade für uns, gerade für die Juden unserer Zeit die hebräische Sprache eine Bedeutung haben könnte, die die Sprache für kein anderes Volk und für keine andere Zeit hatte. Wenn wir nach dem tiefsten Sinn der Epoche der jüdischen Geschichte fragen, in der wir leben, wenn wir nach dem tiefsten Sinn der jüdischen Bewegung fragen, die aus dieser Epoche hervorgegangen ist, wenn wir fragen, was uns die Berechtigung gab, das Wesen dieser Bewegung als »Renaissance« zu bezeichnen, so ist es dies, dass wir an unsere Antike, an die grosse klassische Zeit unserer Rasse anknüpften, wie die Italiener des Trecento an die klassische Zeit ihrer Rasse anknüpften, und dass wir dies nicht bloss wie sie auf dem Gebiete der Kultur tun, sondern auf dem Gebiete des gesamten Volkslebens. Wir wollen das Judentum retten vor dem Verfall und wir sehen nur Einen Weg, wir haben nur Einen grossen Helfer auf Erden, den wir anrufen können: das ist die Urzeit unseres Volkes. An diese Urzeit knüpfen wir an. Dies und nichts anderes bedeutet die Wiedererweckung Palästinas, des Landes der Urzeit, dies und nichts anderes bedeutet die Wiederbelebung der hebräischen Sprache, der Sprache der Urzeit. Es ist nicht dies allein, dass in dieser Sprache die grossen Schöpfungen der Urzeit geschrieben sind, sondern diese Sprache ist selbst der allergrössten Schöpfungen eine, aus ihren Worten, aus ihren Formen und Fügungen redet der Geist jener gewaltigen Zeit zu uns; aus ihr erfahren wir im Innersten, was Judentum ist; von ihre empfangen wir die Offenbarung unseres reinen eigenen Urwesens. Wer die hebräische Sprache

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wahrhaft in sein Leben aufnimmt: der nimmt die bewegende Kraft des Judentums in sein Leben auf: der weiss fortan, wie er dem Genius unserer Art zu dienen hat. Wer die hebräische Sprache in sein Leben aufnimmt, der nimmt die schöpferische Funktion des Volksgeistes in sich auf; der ist nicht länger bloss nach Inhalt des Denkens und Wollens, sondern der innersten Form seines Daseins nach Jude. Lasst uns eine Schar solcher Juden haben und gebt ihnen Raum zum Wirken: dann erst werden wir in Wahrheit eine jüdische Bewegung haben.a

Schluss Ganz selten ist es Menschen so sehr gegeben, sich ihres historischen Moments und ihrer historischen Aufgabe bewusst zu werden, wie es uns gegeben ist. Wir wissen, dass der Moment, in dem wir leben, ein grosser und schwerer ist; dass es einer jener Momente ist, in denen Tod und Geburt, Niedergang und Aufschwung, Ende und Anfang, Verzweiflung und Hoffnung dicht nebeneinander wohnen, ja ineinander greifen, ineinander verstrickt sind, so dass jedes Ding und jedes Ereignis eine Seite hat, die nach dem Tode, und eine Seite, die nach der Geburt hinschaut, und dass es schliesslich vielleicht nur auf die Tat ankommt: auf die Tat, die entscheiden soll, welche Seite die Zukunft bestimmen wird. Wir wissen, welches die Tat ist, die wir zu tun haben: dass wir unserem Volk die Einheit wiedergewinnen sollen, und dass für den Teil unseres Volkes, der des eigenen Landes entbehrt, die Einheit am reinsten in der Urform seines Bewusstseins, das ist in seiner Ursprache besteht. Aber können wir diese Tat auch tun? Ist denn die Sprache ein Ding, dessen Wachstum von aussen beeinflusst werden kann? Kann man – so wird gefragt – eine Sprache »machen«? Entwickelt sie sich nicht nach ihren eigenen inneren Gesetzen? Diese Fragen, aus einer Doktrin entstanden, die ich hier nicht diskutieren will, sind irreführend. Natürlich entwickelt sich eine Sprache nach ihren eigenen inneren Gesetzen, jedoch nur in ihrer Art und ihrem Bestande, nicht aber in dem Umfang ihrer Verbreitung. Eine Sprache kann durch Menschenwillen verbreitet werden; wenn Eroberer es so oft im fremden Volke konnten, so werden wir es wohl im eigenen vermögen. Allerdings – so wird nun wieder eingewendet – nur soweit, als unserer Tätigkeit nicht die äusseren Verhältnisse, die »Lebensbedingungen« hindernd gegenüberstehen. Dieser, der gleichen Doktrin entsprossene Glaua.

Ende des ersten Teils des Textes in der Jüdischen Rundschau vom 14. Januar 1910.

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be an die Lebensbedingungen ist richtig, wenn er dazu dient, die Ursachen eines Vorgangs vollständig zu erkennen, er ist falsch und schädlich, wenn er sich zum Dogma auswächst, das unseren Willen lähmt und unser Handeln hemmt; er ist nur ein Hilfsmittel für den Erkennenden; nicht eine Anleitung für den Handelnden. Er gilt nur für die Vergangenheit für die Zukunft also erst dann, wenn sie Vergangenheit geworden ist. Unsere Tat ist eine Res u lt ante unseres Willens und der Lebensbedingungen; und zwar hat der Wille umso grösseren Anteil daran, je stärker die Spannung des historischen Moments ist, das heisst je stärker die durch die innere Entwicklung des Volkes gegebenen Möglichkeiten nach bei d en Seiten hin sind: je näher Tod und Geburt, Ende und Anfang beieinander wohnen. Grübeln wir also nicht darüber, ob wir etwas tun k ö nnen, sondern versu chen wir etwas zu tun! Versuchen wir es zu tun, nicht gegen die Lebensbedingungen, sondern indem wir die Lebensbedingungen berücksichtigen, aber auch unseren Willen und unsere Kraft. Was aber ist zu tun? Wie ist das, was wir meinen, zu tun? Ich habe hier nur das Allgemeinste zu sagen, das Ihnen allen wohl bereits geläufig ist, und ich will daher nur versuchen, es klar zu formulieren. Das Leben der hebräischen Sprache in unserer Zeit kann naturgemäss von zwei Seiten betrachtet werden: von der produktiven und von der receptiven Seite aus. Demnach ergeben sich für unsere Tätigkeit im Wesentlichen zwei Gebiete: die Förderung der hebräischen Produktivität, d. h. der hebräischen Li ter a t u r, und die Förderung der hebräischen Receptivität, d. h. der hebräisch-sprachlichen Erzi ehu ng im weitesten Sinne. Selbstverständlich sind diese beiden Gebiete keineswegs streng abgegrenzt; vielmehr dient die Förderung der Literatur nicht bloss den Schaffenden, sondern auch dem Publikum, anderseits kann die Förderung der Erziehung auf die Entwicklung der Schaffenden einwirken. Neben diesen zwei Gebieten wird sich hoffentlich in einem späteren Stadium unserer Tätigkeit noch ein drittes, gewissermassen gemeinsames Gebiet eröffnen: die Arbeit an dem ergänzenden Ausbau der Sprache selbst durch Begründung einer hierzu berufenen Institution. Gegenwärtig aber werden wir uns wohl auf die genannten zwei Gebiete zu beschränken haben. Die Förderung der hebräischen Literatur stellt sich als eine doppelte Aufgabe dar: die Förderung der Schaffenden selber und die Vermittlung zwischen ihnen und dem Publikum. Beide Aufgaben, die wieder mit einander zusammenhängen, sind wohl bereits seit längerer Zeit in Angriff genommen worden; es kann jedoch das, was bisher geschehen ist, bei aller Würdigung der Kräfte und Leistungen erst als ein Anfang betrachtet werden, und zwar als ein Anfang, der in den letzten Jahren auf mehreren

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Punkten infolge der Verhältnisse – vielleicht auch infolge eines gewissen sehr gefährlichen Fatalismus im Angesicht der Verhältnisse – eine höchst bedauerliche Unterbrechung erlitten hat. Ueber die Einzelheiten wird ja auf dieser Konferenz noch eingehend gesprochen werden; ich möchte hier daher nur auf ei nes hinweisen. Es gibt vielleicht kein Volk auf Erden, in dem für die jungen, noch ganz schüchternen und hilflosen Talente so wenig geschieht, wie bei uns, die wir uns das Volk des Geistes nennen. Die anderen Völker wissen, dass diese schüchternen und hilflosen, diese zuweilen eben aus Schüchternheit und Hilflosigkeit leichtfertigen und zügellosen jungen Leute die Zukunft des Volkes darstellen, dass unter ihrer Schüchternheit und Hilflosigkeit Ideen, unter ihrer Leichtfertigkeit und Zügellosigkeit Kunstwerke schlummern, die, wenn sie behütet und gefördert werden, morgen erwachen und die Seele des Volkes erheben, ja vielleicht sein Leben umgestalten werden. Bei uns aber werden die Schüchternen übersehen, die Leichtfertigkeit verurteilt, und an eine Förderung der Talente denkt auch mancher von denen nicht zurück, die es laut beklagen, dass wir keinen Nachwuchs in unserer Literatur haben. Dazu kommt, dass wir noch kein eigentliches literarisches Publikum besitzen, und dass zwischen dem kleinen Publikum, das da ist, und den Schaffenden die Vermittlung erschwert ist. So bleibt manches Wertvolle unveröffentlicht, weit mehr bleibt ungeschrieben, und von den jungen Menschen, die unsere Zukunft sein könnten, gehen viele im Elend zu Grunde, viele andere versinken im Getriebe des Alltags und opfern ihre Seele, um leben zu können. Stellt sich die hebräische Produktivität als eine relative Einheit dar, so wird die Receptivität, je nach den Lebensbedingungen, die wir ja berücksichtigen wollen, in drei räumlich geschiedenen Schichten zu betrachten und je nach deren Verschiedenheit verschieden zu behandeln sein. Die erste Schicht bildet die palästinische Judenheit. Hier geht die Tendenz der Lebensbedingungen mit unserem Willen parallel, und es handelt sich nur darum, die natürliche Entwicklung durch Unterstützung und Ausgestaltung des Schulwesens zu fördern. Die zweite Schicht bildet, wenn man von der zur dritten Schicht überleitenden Zwischenstufe der grossen jüdischen Emigrationszentren absieht, die osteuropäische Judenheit. Hier sind die Lebensbedingungen bereits ziemlich ungünstig; dennoch wird es bei intensiver und zentralisierter Tätigkeit wohl möglich sein, die durch die Verhältnisse gegebene geschlossene Verkehrseinheit der Juden dahin auszunützen, einerseits kleine hebräisch-sprechende Lebensgemeinschaften, gleichsam sprachliche Pioniergruppen, zu bilden, andererseits ein grosses hebräisch lesendes Publikum heranzubilden. Hier wird es auch wohl möglich sein, die Erziehung in grossem Stile zu beeinflussen.

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Die dritte Schicht bildet die Judenheit des Westens. Hier kann (wenigstens nach meiner persönlichen Ueberzeugung) nur auf Einzelne eingewirkt werden, die sich ja allerdings zu kleinen Gruppen zusammenschliessen können, zu Gruppen, welche aber wohl kaum in irgend einem Falle den Charakter starker, geschlossener Lebensgemeinschaften erreichen werden, wie sie mir im Osten möglich erscheinen. Aber Einzelne sind nichts Geringes; vielmehr glaube ich, dass die jüdische Bewegung im Westen nur auf diesem Wege – auf dem Wege eines Ersatzes der verlorenen Lebensformen durch die Bewusstseinsform – Substanz und Seele gewinnen kann. Darum soll diese extensiv geringere Tätigkeit nicht weniger intensiv betrieben werden, ja es wird gerade hier, wo die äusseren und inneren Lebensbedingungen unseren Absichten geradezu entgegenstehen, der aufzubietende Wille am grössten sein müssen. Im Grunde ist das, was wir, so lange wir es als Zukunft betrachten, als Experiment bezeichnen, eben dasselbe, was wir, nachdem es Vergangenheit geworden ist, Entwicklung nennen, Revolution und Evolution sind nur Gesichtspunkte. Jede Revolution von heute wird übermorgen als ein Stück Evolution aufgefasst werden müssen; alles, was wir heute als Evolution erkennen, bestand vorgestern aus revolutionären Momenten. Wir wissen in Wahrheit nichts von der Zukunft; aber wir wissen, dass der Augenblick, in dem wir leben, ein grosser und schwerer ist, dass in seiner Spannung Tod und Leben ineinander verstrickt sind und dass die Entscheidung vielleicht bei unserer Tat ist. Heute erscheint uns diese Tat als eine Möglichkeit, die wir verwirklichen oder vernichten können; einst wird diese Tat oder ihre Unterlassung einen festen bestimmten Platz in der Kette der Kausalität und der Notwendigkeit angewiesen bekommen. Erfüllen wir, was an uns ist: werfen wir unsere Tat in die grosse Wagschale des Schicksals! Wir wissen nicht, ob wir damit wenig oder viel vollbringen; wir brauchen es nicht zu wissen. Aber wir dürfen, wenn wir unsere ganze Kraft einsetzen, hoffen, dass unsere Kraft nicht einsam bleiben wird. Wir können die verborgenen Energien des Volkes nichts anders erkennen als dadurch, dass wir sie handelnd wecken, heraufrufen und wirksam machen. Machen wir auf dem Kongress die Gesamtheit unserer Aktivität offenbar, und die Aktivität des Volkes wird sich offenbaren. Das Volk braucht tätige Ideen; tätige Ideen sind das Licht, das die ewige Urkraft des Volkes erhellen und wieder sichtbar machen wird. In diesem Sinne dürfen wir einander die Worte unseres Dichters zurufen: !tfae flc !tfae fquh (Enthüllet das Licht! Offenbaret das Licht!)

MBW 3 (02678) / p. 219 / 27.11.2006

Drei Reden über das Judentum Freunde, die diese Reden gehört haben, forderten mich auf, sie zu veröffentlichen. Ich habe lange damit gezögert, weil es mir sehr gegenwärtig blieb, wie sie entstanden waren: von einem Juden zu Juden gesprochen, vornehmlich an einen Kreis junger Menschen gerichtet, aus der Eingebung subjektivsten Mitlebens und in einer Sphäre unmittelbarster Wirkung. Ich wollte den Gegenstand nicht in dieser fast intimen Sprache, so fragmentarisch vorgetragen und ohne Belege vor die Augen von Lesern bringen, wollte die Vollendung eines Buches über das Judentum abwarten, die mir damals nahe schien. Es hat sich mir seither erwiesen, daß es noch eine gute Weile dauern wird, bis das Buch zu seinem Ende kommt, ja daß ich zunächst aus seinem Banne treten muß, um wieder Raum und Freiheit zu gewinnen. Da begann ich die Veröffentlichung dieser Reden als notwendig zu empfinden, wie um mich von einer Macht loszukaufen, die mich in Dienst hielt. Und so habe ich mich dazu entschlossen, obgleich meine Bedenken nicht stiller geworden sind. Wenn ich sie berücksichtigen will, kann ich nichts anderes tun als dies: auf ein Buch verweisen das noch nicht da ist und von dem ich nicht zu sagen vermag, wann es da sein wird. a

1. Das Judentum und die Juden Die Frage, die ich Ihnen und mir heute vorlege, ist die Frage nach dem Sinn des Judentums für die Juden. Warum nennen wir uns Juden? Weil wir es sind? Was bedeutet das, daß wir es sind? Ich will zu Ihnen nicht von einer Abstraktion sprechen, sondern von Ihrem eigenen Leben, von unserem eigenen Leben. Und nicht von seinem äußeren Getriebe, sondern von dieses Lebens innerem Recht und Wesen. Warum nennen wir uns Juden? Deshalb nur, weil es unsere Väter getan haben: aus Erbgewohnheit? Oder nennen wir uns Juden aus Wirklichkeit? Aus Erbgewohnheit? Tradition ist edelste Freiheit dem Geschlechte, das sie hell und sinnvoll lebt, aber elendste Sklaverei den Erbgewohnten, die sie zäh und träge übernehmen. Welchen Si nn hat uns dieses Überlieferte, Name, Losung und Wegbefehl: Judentum? Welcher Art ist die Gemeinschaft, von der wir Zeugnis ablegen, wenn wir uns Juden nennen? a.

Diese Vorrede fehlt in JuJ.

MBW 3 (02678) / p. 220 / 27.11.2006

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Jüdische Renaissance und Kultur

Was meint diese unsere Fahrt durch den Abgrund – fallen wir durch den Nebelraum der Jahrtausende ins Vergessen, oder trägt uns der Mächte eine in die Erfüllung? Was bedeutet das, daß wir dauern wollen, nicht bloß als Menschen, Menschengeist und Menschensame, sondern, den Zeiten und der Zeit selber zum Trotz, als Juden? In der großen Vorratskammer der Begrifflichkeit liegen allerlei stattliche und gefügige Antworten bereit für die Klugen, die sich das Lebensgeschäft nicht dadurch erschweren wollen, daß sie den Fragen allzu tief und allzu lang ins Auge sehen. Solche Antworten gibt es auch hier, ihrer zwei zur Wahl; sie heißen Religion und Nation. Aber die Antworten sind unserem Blick nichts anderes als vermummte Fragen. Gibt es eine jüdische Religion? Ich sagte es schon: ich frage nicht nach den Formationen des äußeren Lebens, sondern nach der inneren Wirklichkeit. Das Judentum hat für die Juden so viel Sinn, als es innere Wirklichkeit hat. Gibt es eine in sich wirkliche jüdische Religiosität? Nicht Dogma und Norm, Kult und Regel: gibt es ein heute von Menschen gelebtes eigentümliches Verhältnis zum Absoluten, a das seinem Wesen nach als jüdisch zu bezeichnen ist und das sich in einer Gemeinschaft der Juden konstituiert? Das wissen wir, daß es eine jüdische Religiosität gegeben hat. Die Zeit, die Jakob mit dem Gotte um den Segen ringen, 1 und die Zeit, die Mose in einem Kusse des Gottes sterben ließ, die Zeit des »Urchristentums«, die sich vermaß, den Menschen, der sich vollendet, zu Gottes Sohn zu erheben, und die späte Zeit des Chassidismus, die sich unterfing, Gottes Schicksal auf Erden, im Zusammensein und Zusammenwirken von Menschen zu schmieden, – diese Zeiten hatten eine jüdische Religiosität. Aber unsere Zeit? Wo gibt es eine Gottesinbrunst von Juden, die sie hinausjagte aus dem Zweckgetriebe der Gesellschaft in ein wahrhaftes Leben, in ein Leben, das Gott bezeu gt , ihn aus einer Wahrheit zu einer Wirklichkeit macht, 2 weil es »in seinem Namen« gelebt wird? Freilich, es gibt auch heute ein Bekennen, nein allerlei Bekennen: ein Bekennen aus Treue; ein Bekennen aus Stolz; ein Bekennen aus Trägheit, wie der durch den Raum fallende Stein seine Richtung bekennt. Aber wo gibt es ein Erfü llen? Wo gibt es eine Gemeinschaft, in der nicht jüdisches Beharrungsvermögen (was sie »Tradition« nennen) und nicht jüdisches Anpassungsvermögen (jenes »geläuterte«, das ist entseelte »Judentum« einer mit 1. 2.

Vgl. Gen 32, 23-33. Siehe dazu Bubers Kommentar in der »Vorrede«, JuJ, S. 7.

a.

JuJ: Unbedingten

MBW 3 (02678) / p. 221 / 27.11.2006

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Drei Reden über das Judentum a

Monotheismus verbrämten Humanität ) sich betätigte, sondern unmittelbare jüdische Religiosität, elementares Gottgefühl, b heilige, brennende Elohimgewalt? Wo wird Jahwes Sinn, das Unbedingte, getan? Auf die innere Wirklichkeit hin betrachtet, ist jüdische Religiosität eine Erinnerung, vielleicht auch eine Hoffnung, aber keine Gegenwart. Und die andere Antwort sagt, die Juden seien eine Nation. Ja gewiß, sie sind eine; wie es der Form nach eine jüdische Religion gibt, so gibt es der Wirkung nach eine jüdische Nationalität: sie erweist sich im Leben der Juden zwischen den Völkern. Aber wir fragen ja nicht nach der Wirkung, sondern nach der Wirklichkeit des Judentums für das Selbst der Juden. Wie äußert sich hier die nationale Existenz? Wie der Jude, erleidend und reagierend, zur außerjüdischen Welt steht, was ihm als Juden von dieser zugefügt und wie es von ihm verarbeitet wird, mag seine Art seit siebzig Geschlechtern mitgestalten, ein begründendes Element seines inneren Judentums kann es nicht abgeben; denn sonst wäre er nur Trotzjude, wäre Jude nicht aus eignem Wesen und Bestand, sondern auf Kündigung der Völker; und auf einen Wink der Völker würde sein Judentum nicht mehr lebendige Substanz sein, nur noch Gedächtnisleid und Gedächtnisgebilde wie die Spuren der Jahre und der Lose in unserm Gesicht. Es muß etwas anderes sein: autonome Wirklichkeit. Was ist es aber, das einem Menschen sein Volk zur autonomen Wirklichkeit in seiner Seele und in seinem Leben macht? Was macht es, daß er das Volk nicht bloß um sich: daß er es in sich fühlt? Der einzelne erwachsene Mensch wiederholt auf höherer Ebene einen Prozeß, den schon das Kind durchmacht. Das Kind erlebt zunächst die Umwelt und entdeckt erst allmählich sein Ich, lernt allmählich erst seinen Körper als Sonderexistenz aus der Masse der Dinge scheiden. Dieses Stadium der Wahrnehmungsorientation, wiederholt gleichsam seinen Rhythmus in dem späteren Prozeß der Geistesorientation. Der Einzelne erlebt in diesem zuerst die Wandelwelt der Eindrücke und Einflüsse, die Umwelt, und zuletzt entdeckt er sich, die in den Wandlungen dauernde Substanz. Ursprünglich findet sich der Einzelne eingestellt in einen Kosmos, der sich aus seinen Eindrücken aufbaut und in dem das Ich nur die Gefühlsbetonung hergibt. Aus diesem Kosmos werden ihm zwei große Bezirke durch ihre Umgrenztheit und Deutlichkeit vor allen gegenwärtig: die Heimat, Erde und Himmel in ihrer vertrauten Besonderheit, und der Menschenkreis, der sich ihm in der Grundform des Verkehrs, der Sprache, a. b.

JuJ: mit »Monotheismus« verbrämten »Humanität« JuJ streicht Text bis Absatzende.

MBW 3 (02678) / p. 222 / 27.11.2006

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Jüdische Renaissance und Kultur

und in der Grundform des Handelns, der Sitte, mitteilt, ihn einbezieht und teilnehmen läßt. Auf diesen drei konstanten Elementen seines Erlebens, Heimat, Sprache und Sitte, baut sich das Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen zu einer Gemeinschaft auf, die weiter ist als die urgegebene Gemeinschaft der Familie und die wahlgeborene Gemeinschaft der Freunde. Er fühlt sich denen zugehörig, die mit ihm die gleichen konstanten Elemente des Erlebens haben, und ihre Gesamtheit empfindet er auf dieser Stufe als sein Volk. Viele bleiben auf dieser Stufe stehen. Uns kommt es darauf an, den zu betrachten, der weiter geht. Was ihn weiter führt, ist das eingeborene, bei vielen Menschen sich abstumpfende, bei anderen aber wachsende und reifende Verlangen nach Dauer, nach bleibender Substanz, nach unsterblichem Wesen. Er entdeckt, daß es nicht allein konstante Formen des Erlebens gibt, sondern auch eine konstante Existenz, alles Erlebens stetigen Träger. Wie das Kind das Ich seiner Körperhaftigkeit, so entdeckt er das Ich seines Geistes zuletzt: als dauernde Substanz. Das Kind erfuhr bei der Entdeckung des Ich seine Begrenztheit im Raume; er erfährt seine Unbegrenztheit in der Zeit. Das Verlangen nach Dauer leitet seinen Blick in der Entdeckung seines Ich über die eigene Lebensspanne hinaus. Dies ist die Zeit jener seltsam weitschwingigen, pathetischen und schweigsamen Gefühle, die nie hernach in gleicher Gewalt wiederkehren, auch wo sie sich zur Idee klären und runden: Unsterblichkeit der Seele, Unsterblichkeit der Kraft, Unsterblichkeit des Werkes und der Tat. Dieser junge Mensch, den der Schauer der Ewigkeit angerührt hat, erfährt in sich, daß es ein Dauern gibt. Und er erfährt es noch nackter und noch heimlicher zugleich, mit all der Einfalt und all dem Wunder, die um das Selbstverständliche sind, wenn es a ngesehen wird: in der Stunde, da er die Folge der Geschlechter entdeckt, die Reihe der Väter und der Mütter schaut, die zu ihm geführt hat, und inne wird, was alles an Zusammenkommen der Menschen, an Zusammenfließen des Blutes zu ihm geführt, a welcher Sphärenreigen von Zeugungen und Geburten ihn emporgerufen hat. Er fühlt in dieser Unsterblichkeit der Generationen die Gemeinschaft des Blutes, und er fühlt sie als das Vorleben seines Ich, als die Dauer seines Ich in der unendlichen Vergangenheit. Und dazu gesellt sich, von diesem Gefühl gefördert, die Entdeckung des Blutes als der wurzelhaften, nährenden Macht im Einzelnen, die Entdeckung, daß die tiefsten Schichten unseres Wesens vom Blute bestimmt, daß unser Gedanke und unser Wille zu innerst von ihm gefärbt sind. Jetzt findet und empfindet er: die Umwelt ist die Welt der Eindrücke und Einflüsse, a.

JuJ: ihn hervorgebracht,

MBW 3 (02678) / p. 223 / 27.11.2006

Drei Reden über das Judentum

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das Blut ist die Welt der beeindruckbaren, beeinflußbaren Substanz, die sie alle in ihren Gehalt aufnimmt, in ihre Form verarbeitet. Und nun fühlt er sich zugehörig nicht mehr der Gemeinschaft derer, die mit ihm gleiche konstante Elemente des Erlebens haben, sondern der tieferen Gemeinschaft derer, die mit ihm gleiche Substanz haben. Einst kam er zu dem Gefühle der Zugehörigkeit aus der äußeren Erfahrung, nun aus der inneren. Auf der ersten Stufe repräsentierte das Volk ihm die Welt, nun die Seele. Jetzt ist ihm das Volk eine Gemeinschaft von Menschen, die waren, sind und sein werden, eine Gemeinschaft von Toten, Lebenden und Ungeborenen, die zusammen eine Einheit darstellen; und dies ist eben die Einheit, die er als den Grund seines Ich empfindet, seines Ich, das in diese große Kette als ein notwendiges Glied an einem von Ewigkeit bestimmten Orte eingefügt ist. Was alle Menschen in dieser großen Kette geschaffen haben und schaffen werden, das empfindet er als das Werk seiner innersten Eigentümlichkeit; was sie erlebt haben und erleben werden, das empfindet er als sein innerstes Schicksal. Die Vergangenheit seines Volkes ist sein persönliches Gedächtnis, die Zukunft seines Volkes ist seine persönliche Aufgabe. Der Weg des Volkes lehrt ihn sich selbst verstehen und sich selbst wollen. Dieses Sicheinstellen in die große Kette ist die natürliche Situation des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Volke, von der Subjektivität aus betrachtet. Der natürlichen subjektiven Situation entspricht aber nicht immer eine natürliche objektive. Diese ist dann gegeben, wenn das Volk, dem sich der Einzelne auf der ersten Stufe, und das Volk, dem er sich auf der zweiten Stufe zugehörig fühlt, dasselbe sind; wenn die Gemeinschaft derer, die mit ihm die gleichen konstanten Elemente haben, und die Gemeinschaft derer, die mit ihm die gleiche Substanz haben, dieselbe sind; wenn die Heimat, in der er aufwuchs, zugleich die Heimat seines Blutes ist, wenn die Sprache und die Sitte, in denen er aufwuchs, zugleich die Sprache und die Sitte seines Blutes sind; wenn das Volk, das ihm die Art seines Erlebens gab, eben das ist, das ihm den Inhalt des Erlebens gibt. Diese natürliche, objektive Situation ist in dem Verhältnis des Juden, insbesondere des Westjuden, zu seinem Volke nicht gegeben. Alle Elemente, die ihm die Nation konstituieren, sie ihm zu einer Wirklichkeit machen könnten, fehlen, alle: das Land, die Sprache, die Lebensformen. Das Land, in dem er wohnt, dessen Natur ihn umfängt und seine Sinne erzieht, die Sprache, die er spricht und die seine Gedanken färbt, die Sitte, an der er teilhat und von der sein Tun die Bildung empfängt, sie alle sind nicht der Gemeinschaft seines Blutes, sind einer andern Gemeinschaft zugehörig. Die Welt der konstanten Elemente und die Welt der Substanz sind für ihn zerfallen. Seine Substanz entfaltet sich nicht vor ihm in seiner

MBW 3 (02678) / p. 224 / 27.11.2006

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Jüdische Renaissance und Kultur

Umwelt, sie ist in tiefe Einsamkeit gebannt, und die einzige Gestalt, in der sie sich ihm darstellt, ist die Abstammung. Und wenn sie dennoch dem Juden eine Wirklichkeit werden kann, so liegt das eben daran, daß die Abstammung nicht bloß Zusammenhang mit dem Vergangenen bedeutet: daß sie etwas in uns gelegt hat, was uns zu keiner Stunde unseres Lebens verläßt, was jeden Ton und jede Farbe in unserem Leben, in dem was wir tun und in dem was uns geschieht, zu innerst a bestimmt: das Blut als die tiefste Machtschichte der Seele. Die Gewalten, aus deren Wirkung sich das Menschenleben, Wesen und Geschick, aufbaut, sind Innerlichkeit und Umwelt; die Disposition, Eindrücke zu verarbeiten, und das eindringende Material. Die tiefste Schicht der Disposition aber, die dunkle schwere Schicht, die den Typus, das Knochengerüst der Personalität, hergibt, ist das, was ich das Blut nannte: das in uns, was die Kette der Väter und Mütter, ihre Art und ihr Schicksal, ihr Tun und ihr Leiden in uns gepflanzt haben, das große Erbe der Zeiten, das wir in die Welt mitbringen. Das tut uns Juden not zu wissen: es ist nicht bloß die Art der Väter, es ist auch ihr Schicksal, alles, Pein, Elend, Schande, b all dies hat unser Wesen hat unsere Beschaffenheit mitgeformt. Das sollen wir ebenso fühlen und wissen, wie wir fühlen und wissen sollen, daß in uns lebt die Art der Propheten, der Sänger und der Könige Judas. Jeder von uns, der auf sein Leben zurück, in sein Leben hineinzublikken vermag, wird die Spuren dieser Macht erkennen. Wer sich das Pathos seiner inneren Kämpfe vergegenwärtigt, wird entdecken, daß etwas in ihm weiterlebt, das sein großes nationales Urbild in dem Kampfe der Propheten gegen die auseinanderstrebende Vielheit der Volkstriebe hat. In unserer Sehnsucht nach einem reinen und einheitlichen Leben werden wir den Ruf tönen hören, der einst die große essäische und urchristliche Bewegung erweckte. Aber wir werden auch das uns entartende Schicksal der Väter fühlen in der Ironie des modernen Juden, die ja nur daraus stammt, daß wir Jahrhunderte lang, wenn wir ins Gesicht geschlagen wurden, nicht zurückschlugen, sondern, der Zahl und der Kraft nach unterlegen, uns zur Seite wandten und uns mit gespannter Überlegenheit als »die geistigen Menschen« fühlten. Und diese lebensferne, gleichgewichtfremde, gleichsam außerorganische Intellektualität selber ist daran groß geworden, daß wir Jahrhunderte und Jahrtausende lang kein gesundes, gebundenes, vom Rhythmus der Natur bestimmtes Leben kannten. Und was frommt es uns, all dies zu wissen? a. b.

In JuJ gestrichen. JuJ: Schmach

MBW 3 (02678) / p. 225 / 27.11.2006

Drei Reden über das Judentum

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In jenen stillsten Stunden, in denen wir uns auf Unaussprechliches besinnen, fühlen wir eine tiefe Zwiespältigkeit unserer Existenz; eine Zwiespältigkeit, die uns so lange unüberwindlich scheint, als wir die Erkenntnis, daß unser Blut das Gestaltende in unserem Leben ist, noch nicht zu unserem lebendigen Eigentum gemacht haben. Um aus der Zwiespältigkeit zur Einheit zu kommen, dazu bedarf es der Besinnung auf das, was unser Blut in uns bedeutet, denn in dem Getriebe der Tage werden wir uns immer nur der Umwelt und der Wirkung der Umwelt bewußt. Vertiefen wir den Blick der stillsten Stunden: schauen wir, erfassen wir uns selber. Erfassen wir uns: ziehen wir unser Leben in unsre Hand, wie man einen Eimer aus dem Brunnen zieht, sammeln wir es in unsere Hand, wie man zerstreute Körner zusammenrafft. Wir sollen uns entscheiden; wir sollen in uns eine Ausgleichung setzen zwischen den Mächten. Wo die natürliche objektive Situation des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Volke gegeben ist, verläuft sein Leben in Harmonie und gesichertem Wachstum; wo sie nicht gegeben ist, gerät der Einzelne, je bewußter er ist, je ehrlicher er ist, je mehr Entschiedenheit und Deutlichkeit er von sich fordert, desto tiefer in einen Konflikt, er wird desto unausweichlicher vor eine Wahl gestellt zwischen Umwelt und Innenwelt, zwischen der Welt der Eindrücke und der der Substanz, zwischen Atmosphäre und Blut, zwischen dem Gedächtnis seiner Lebensspanne und dem Gedächtnis von Jahrtausenden, zwischen den Zwecken, die ihm die Gesellschaft darbietet, und der Aufgabe, seine Eigenkraft zu erlösen.a Eine Wahl: das kann nicht so gemeint sein, als ob es darauf ankäme, das eine oder das andere auszuschalten, aufzugeben, zu überwinden; es wäre sinnlos, sich etwa von der umgebenden Kultur freimachen zu wollen, die ja von unseres Blutes innersten Kräften verarbeitet und uns eingeeignet worden ist. Wir wollen und dürfen uns bewußt sein, daß wir in einem prägnanteren Sinne als irgendein anderes Volk der Kultur eine Mischung sind. Aber wir wollen nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser Mischung sein. Die Wahl meint eine Entscheidung über die Suprematie, über das, was das Herrschende und was das Beherrschte in uns sein soll. Dies ist es, was ich die persönliche Judenfrage nennen möchte, die Wurzel aller Judenfragen, die Frage, die wir in uns selbst finden, in uns selbst klären und in uns selbst entscheiden müssen. Es ist einmal – von Moritz Heimann – gesagt worden: »Was ein auf die einsamste, unzugänglichste Insel verschlagener Jude noch als ›Judenfrage‹ anerkennt, das einzig ist sie.« Ja, das einzig ist sie. Für den aber, der sich in der Wahl zwischen Umwelt und Substanz für a.

JuJ: zu befreien

MBW 3 (02678) / p. 226 / 27.11.2006

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Jüdische Renaissance und Kultur a

diese entschieden hat, gilt es, nunmehr wahrhaft von innen heraus Jude zu sein und aus seinem Blute, mit dem ganzen Widerspruch, mit der ganzen Tragik und mit der ganzen Zukunftsfülle dieses Blutes als Jude zu leben. Wenn wir uns so aus tiefster Selbsterkenntnis heraus bejaht haben, wenn wir zu uns selbst, zu unserer ganzen jüdischen Existenz Ja gesagt haben, dann fühlen wir nicht mehr als Einzelne, dann fühlt jeder Einzelne von uns als Volk, denn er fühlt das Volk in sich. Und so werden wir uns zur Vergangenheit des Judentums nicht stellen als zu der Vergangenheit einer Gemeinschaft, der wir angehören, sondern wir werden darin die Vorgeschichte unseres Lebens sehen, jeder von uns die Vorgeschichte seines eigenen Lebens, und wir werden anders, als wir es sonst vermochten, Werden und Bestimmung erkennen. Und ebenso werden wir der Gegenwart inne werden. Diese Menschen da draußen, diese elenden, gebückten, schleichenden Menschen, die von Dorf zu Dorf herumhausieren und nicht wissen, woher – und wozu sie morgen leben werden, und diese schwerfälligen, fast betäubten Massen, die auf Schiffe verfrachtet werden und nicht wissen, wohin und wozu, sie alle werden wir nicht etwa bloß als unsere Brüder und Schwestern empfinden, sondern jeder von uns, der sich so in sich selber gesichert hat, wird fühlen: Diese Menschen sind Stücke von mir. Ich leide nicht mit ihnen, sondern i ch leide das. Meine Seele ist nicht bei meinem Volke, sondern mein Volk is t meine Seele. Und in diesem gleichen Sinne wird dann jeder von uns die Zukunft des Judentums fühlen, er wird fühlen: Ich will weiterleben, ich will meine Zukunft, will ein neues, ganzes Leben, ein Leben für mich, für das Volk in mir, für mich im Volke. Denn das Judentum hat nicht bloß eine Vergangenheit, ja trotz allem, was es geschaffen hat, meine ich: das Judentum hat vor allem nicht eine Vergangenheit, sondern eine Zukunft. Ich glaube: das Judentum ist in Wahrheit noch nicht zu seinem Werke gekommen, und die großen Kräfte, die in diesem tragischsten und unbegreiflichsten aller Völker leben, haben noch nicht ihr eigenstes Wort in die Geschichte der Welt gesprochen. Die Selbstbejahung des Juden hat ihre Tragik und ihre Größe. Denn wenn wir uns bejahen, dann fühlen wir, wie ich schon sagte, die ganze Entartung mit, aus der wir unsere kommenden Geschlechter befreien müssen. Aber wir fühlen auch, daß noch Dinge in uns sind, die nicht hinausgestellt worden sind, daß noch Gewalten in uns sind, die auf ihren Tag warten. Und diese Tragik und diese Größe des sich bejahenden Juden, diese nun ganz in sein Leben aufnehmen, das heißt als Jude leben. Nicht a.

JuJ: die Substanz

MBW 3 (02678) / p. 227 / 27.11.2006

Drei Reden über das Judentum

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auf ein Bekenntnis kommt es an, nicht auf die Erklärung der Zugehörigkeit zu einer Idee oder einer Bewegung, sondern darauf, daß der, der seine Wahrheit in sich aufgenommen hat, sie lebe, daß er sich von den Schlakken der Fremdherrschaft reinige, sich aus der Zwiespältigkeit finde zur Einheit: daß er sich erlöse.a Denn wie die Juden der Urväterzeit, um sich aus der Entzweiung ihrer Seele, aus der »Sünde« zu befreien, sich ganz an den nichtentzweiten, den einen einheitlichen Gott hingaben, so sollen wir, die wir in einer andern, besonderen Zweiheit stehen, uns daraus befreien, nicht durch Hingabe an einen Gott, den wir nicht mehr wirklich zu machen vermögen, sondern durch Hingabe an den Grund unseres Wesens, an die Einheit der Substanz in uns, die so einig und einzig ist, wie der einige und einzige Gott, den die Juden damals aus ihrer Sehnsucht nach Einheit hinaufgehoben haben an den Himmel ihres Daseins und ihrer Zukunft. b Als ich ein Kind war, las ich eine alte jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte. Sie erzählte nichts weiter als dies: »Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias.« 3 Damals kam ich zu einem alten Manne und fragte ihn: »Worauf wartet er?« Und der alte Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht verstand und erst viel später verstehen gelernt habe; er sagte: »Auf dich.«

2. Das Judentum und die Menschheit Bei einem Volke, das auf eigener Scholle ein sicheres, freies, vollständiges Leben führt, tut es gar nicht not, daß der Einzelne sich auf seine Zugehörigkeit zum Volke besinne; denn ob er sich dessen bewußt wird oder nicht, er gehört seinem Volke von vornherein unverbrüchlich zu durch seine natürliche Teilnahme an dessen Tun und Denken, an dessen Sprache und Sitte. Anders bei einem Volke, das des freien und vollständigen Lebens entbehrt: da steht der Einzelne nicht von vornherein in der Gemeinschaft, sondern er muß sich erst in sie einstellen; sein Zugehörigkeitsbewußtsein erzieht ihn erst zur wahren Zugehörigkeit, zum Mitleben und zur Mitarbeit, und zwar um so stärker, je tiefer er zugleich in seine persönliche Besonderheit, in das Geheimnis seiner Einzigkeit eindringt und je wahrhafter er entdeckt, was er und kein anderer diesem Volke zu geben berufen ist. Ein Ähnliches ist von dem Verhältnis eines Volkes zur 3.

Vgl. b San, 98a.

a. b.

Dieser Satz nicht in JuJ. Dieser ganze Absatz nicht in JuJ.

MBW 3 (02678) / p. 228 / 27.11.2006

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Jüdische Renaissance und Kultur

Menschheit zu sagen. Ein Volk, das im Bau der Menschheit seinen bestimmten, festen, sicheren Ort hat, das nach Land, Sprache und Lebensformen klar und deutlich bestimmt ist, braucht sich gar nicht auf seine Bedeutung für die Menschheit zu besinnen. Indem es seine eigenen Geschäfte besorgt, dient es der Menschheit auf seine Art, und es bedarf keines weiteren Nachweises seiner Daseinsberechtigung. Nicht so ein Volk wie das jüdische, das seinen natürlichen Ort seit Jahrtausenden verloren hat, keine einheitliche Sprach- und Lebensgemeinschaft mehr besitzt und dem immer wieder die Frage nach der Berechtigung seines Daseins und nach der Notwendigkeit seiner Erhaltung entgegengehalten wird, – entgegengehalten wird auch aus seiner eigenen Mitte. Hier tut es not, sich auf das zu besinnen, was an diesem Volk einzig und ewig ist. Es tut not, sich darauf zu besinnen, welches Urelement der Menschenseele, welche Grundform des Menschenlebens sich im Judentum reiner und stärker und wirksamer realisiert hat als in irgend einem anderen Volke und was dieses Urelement, diese Grundform der Menschheit bedeutet hat und bedeutet: wozu die Menschheit des Judentums bedurft hat, seiner bedarf und in aller Zukunft seiner bedürfen wird als der deutlichsten Verkörperung, als der vorbildlichen Darstellung eines der höchsten Elementartriebe des Geistes. Es geht hier um Größeres als das Schicksal eines Volkes und den Wert eines Volkstums; es geht um urmenschliche und allmenschliche Dinge. Um uns darauf zu besinnen, müssen wir das Problem des Judentums in seiner Tiefe erfassen, müssen auf seinen Grund tauchen, dahin, wo sich aus dem Widerspruch das Ewige gebiert. Denn das ist die Natur und das Los des Judentums, daß sein Höchstes an sein Niederstes gebunden ist und sein Erlauchtes an sein Schändliches. Das Judentum ist nicht einfach und eindeutig, sondern vom Gegensatz erfüllt. Es ist ein p o la res Phänomen. a »Dies ist sicher: ein Schauspieler oder ein wahrer Mensch; der Schönheit fähig und doch häßlich; lüstern und asketisch, ein Scharlatan oder ein Würfelspieler, ein Fanatiker oder ein feiger Sklave, alles das ist der Jude.« In diese Worte hat Jakob Wassermann einst das gefaßt, was ich als das Grundproblem des Judentums, als den rätselhaften, furchtbaren und schöpferischen b Widerspruch seines Daseins empfinde: seine Dualität. Man mag dieses Volk selbst betrachten, insonderheit da, wo es in geschlossener Gemeinschaft lebt; man mag sich sein Erleben wiederaufbauen, wie es sich in seiner Geschichte ausgesprochen hat; man mag sein a. b.

Text bis hier nicht in ED. Fehlt in ED.

MBW 3 (02678) / p. 229 / 27.11.2006

Drei Reden über das Judentum

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Schrifttum durchforschen, in dem sein Wesen zum Werke wurde: immer wieder werden die Gegensätze starr und unvermittelt vor einen treten, Gegensätze, wie sie in keinem anderen Sozialgebilde a je so ins Äußerste getrieben nebeneinander standen: die mutigsteb Wahrhaftigkeit neben der Verlogenheit des innersten Lebensgrundes; der letzte Opferwille neben der gierigsten Selbstsucht. Kein anderes Volk hat so niederträchtige Spieler und Verräter, kein anderes Volk so erhabenec Propheten und Erlöser hervorgebracht. Und nicht etwa in verschiedenen Epochen, nicht etwa, daß das Hohe das Urjudentum und das Niedrige die Entartung wäre (wiewohl man das geschichtliche Element nicht verkennen darf); d sondern in jeder Zeit stehen sie beieinander, ja es sind oft dieselben Menschen, in denen und um die das Ja mit dem Nein ringt und die durch seltsame Erschütterungen, Krisen, Entscheidungen den einen oder den anderen Pol erreichen. Ich sagte: Es sind oft dieselben Menschen. Ich hätte sagen sollen: In a llen Juden lebt beides irgendwie. Keiner kann wie der Jude verstehen, was es heißt, durch sich selbst versucht zu werden; keiner hat solche Fülle der Anlage und solche Fülle der Hemmung, wie der Jude. Die Lebensgeschichte eines Volkes ist ja im Grunde nichts anderes als die ins Große projizierte Lebensgeschichte eines Volksmitgliedes, und was uns die Historie des Judentums lehrt, das kann von jedem einzelnen Juden durch Selbstbetrachtung ergänzt und bestätigt werden, wenn er nur unerschrocken und klarsichtig und ehrlich genug ist. Und das gilt es zu sein: unerschrocken und klarsichtig und ehrlich; denn es geziemt uns nicht, der tiefen Wirklichkeit unseres Daseins auszuweichen, und es wird uns kein Heil werden, ehe wir ihr gegenübergetreten sind und ihr standgehalten haben. Damit aber, daß die Frage, ohne die Sphäre des Volkslebens zu verlassen, in die Sphäre des Lebens des Einzelnen eintritt, wird es auch offenbar, daß sie im Grunde etwas Größeres als eine ethnische, e daß sie eine menschheitliche Frage ist. Es ist eine Grundtatsache der psychischen Dynamik, daß die Vielfältigkeit seiner Seele dem Menschen immer wieder als Zwei hei t erscheint, ja man kann, da in der Welt des Bewußtseins Erscheinen und Sein dasselbe bedeuten, sagen, daß sie immer wieder die Form der Zweiheit annimmt. Der Mensch erlebt die Fülle seiner inneren Wirklichkeit und Möglichkeit als eine lebendige Substanz, die nach zwei Polen hinstrebt; er erlebt seia. b. c. d. e.

ED: keiner andern Gemeinschaft ED ergänzt: rücksichtsloseste ED ergänzt: Märtyrer, Passage in Klammern nicht im ED. ED ergänzt: als eine »nationale«:

MBW 3 (02678) / p. 230 / 27.11.2006

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Jüdische Renaissance und Kultur

nen inneren Weg als eine Wanderschaft von Kreuzweg zu Kreuzweg. Die beiden Gegensätze, zu denen es im Menschen hinstrebt, mögen noch so wechselnde Inhalte und Namen haben; die Wahl am Kreuzweg mag als persönliche Entscheidung oder als äußere Notwendigkeit oder gar als Zufall empfunden werden; die Grundform selbst bleibt unverändert, eines der wesentlichen, bestimmenden Urdinge des Menschenlebens, ja vielleicht das wesentliche unter allen, da sich darin das Mysterium der Urzweiheit und damit die Wurzel und der Sinn alles Geistes ausspricht. a In keinem Menschen aber war und ist diese Grundform so stark, so beherrschend, so zentral, wie sie im Juden war und ist. Nirgends hat sie sich so rein und restlos verwirklicht, nirgends hat sie so bestimmend auf Art und Schicksal gewirkt. Nirgends hat sie etwas so Ungeheures, so Paradoxes, so Heroisches, so Wunderbares geschaffen wie dieses Wunderbare: das Streben des Juden nach Einheit. Das Streben des Juden nach Einheit ist es, was das Judentum zu einem Phänomen der Menschheit, die Judenfrage zu einer menschheitlichen Frage macht. Es ist hier nicht der Ort und der Augenblick, die Ursachen und die Entwicklung des extremen Dualitätsbewußtseins b im Judentum darzulegen, aber wer in der Geschichte zu lesen versteht, wird ihr von der Zeit der ersten Urkunden bis auf die Gegenwart wieder und wieder begegnen. Ihr stärkster Ausdruck in der Urzeit ist der c in das Buch Genesis aufgenommene Mythos vom Sündenfall.4 Dieser Mythos, dessen Ursprünglichkeit auch die Babylonisten 5 nicht in Frage gestellt haben, setzt die Elemente Gut und Böse, die deutlichsten und wirksamsten aller Inhalte der inneren Dualität, und er tut es mit einer unvergleichlichen Macht und Klarheit. Er stellt das, was dem Menschen aufgegeben ist, als eine Wahl, als eine Entscheidung dar, und er macht alle Zukunft von dieser Entscheidung abhängig. Er spricht die Erkenntnis des Menschen aus, der in der Zweiheit steht. Man vermeine nicht etwa, dies sei auch im a ltp ers is chen d Dualismus geschehen. Der persische Dualismus bezieht sich nur auf das o bjekt ive Sein, nicht auf das su bjek tive. Er ist eine Weltdeutung, keine 4. 5.

Vgl. Gen 3. Die »Babylonisten« propagierten im sog. »Bibel und Babel-Streit« die These vom Ursprung der Hebräischen Bibel in Babylonien; vgl. dazu Ch. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, Kapitel 5.3 »Wert und Originalität der hebräischen Bibel: Der ›Bibel-Babel-Streit‹« 1902-1904, S. 190-198.

a. b. c. d.

Von »ja vielleicht« bis »ausspricht« nicht im ED. ED: der extremen Dualität ED: (später in das Buch Genesis aufgenommene) ED: persischen

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Selbstentdeckung. Die Zweiheit des Persers ist ein Stück der Wirklichkeit, keine Schuld. Der Mensch ist in seiner Auffassung aufgeteilt wie die Welt. Für den antiken Juden ist die Welt ni cht aufgeteilt; auch der Mensch ist für ihn nicht aufgeteilt, sondern er ist geschieden, gefallen, unzulänglich geworden, gottungleich geworden. Das objektive Dasein ist für ihn einheitlich, Satan ein Diener Gottes. Gespalten ist das subjektive, die äußere Welt aber nur als dessen Symbol. – Man könnte auch versuchen, das Sündenbewußtsein der babylonischen Bußpsalmen a als eine Erkenntnis der inneren Dualität darzustellen; aber hier handelt es sich nur um unerfüllte Riten und um sonstige äußere Unbotmäßigkeit; ein Wissen um Gut und Böse ist nirgends auch nur geahnt. Ich habe das eine klassische Beispiel des Sündenmythos herausgegriffen und kann hier nicht weitere geben. Aber man öffne die große Urkunde der jüdischen Antike, an welcher Stelle man will; man lese in den Geschichtsbüchern die Erzählungen vom Abfall von Jahwe, in den Büchern der Propheten die Anrufe zur Überwindung der Ungerechtigkeit, in den Psalmen den immer wiederkehrenden Aufschrei nach Reinigung durch Gott, im Buche Hiob die Worte der Einsicht in b die Notwendigkeit der inneren Dualität, die der reine Wille nicht überwinden, der der um sich Kämpfende nicht entrinnen kann, aus der nur die Erlösung hinausführt: und man wird überall das Gefühl und die Erfahrung der Entzweiung finden, – und überall d a s S t reben na ch Ei nhei t . Das Streben nach Einheit. Nach Einheit im einzelnen Menschen. Nach Einheit zwischen den Teilen des Volkes, zwischen den Völkern, zwischen der Menschheit und allem Lebendigen. Nach Einheit zwischen Gott und der Welt. Und dieser Gott selbst war aus dem Streben nach Einheit hervorgegangen, aus einem dunklen, leidenschaftlichen Streben nach Einheit. 6 Er war nicht aus der Natur, sondern aus dem Subjekt erschlossen. Der gläubige Jude »fragte nicht nach Himmel und Erde, wenn er Ihn nur hatte«7 (so übersetzte Luther die Psalmworte frei und herrlich getreu zugleich): weil er ihn nicht aus der Wirklichkeit, sondern aus der Sehnsucht geschöpft hatte, weil er ihn nicht in Himmel und Erde ers chau t , sondern ihn sich als die Einheit über der eigenen Zweiheit, als das Heil über dem eigenen Leid er bau t hatte. Der gläubige Jude (und der gläubige Jude war der 6. 7.

Siehe dazu Bubers Richtigstellung in der »Vorrede« von 1923, JuJ, S. 6. Ps 73, 25.

a. b.

ED: Psalmen ED fährt fort: den Zwiespalt zwischen Innenwelt und Außenwelt – und man wird überall das Gefühl

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vo llst ä nd i ge Jude) fand in seinem Gott seine Einheit; er rettete sich in ihm zu jener mythischen Zeit, zu jener kindheitlichen Zeit des ursprünglichen, noch unzertrennten Daseins zurück, da, wie Hiob sagt, »Gottes Geheimnis über meiner Hütte war«;8 er rettete sich in ihm in jene künftige, messianische Zeit der Wiedervereinigung hinüber; er erlö s te sich in ihm von aller Dualität. Denn wie die Idee der inneren Zweiheit, so ist auch die Idee der Erlösung von ihr eine jüdische. Wohl steht ihr die indische Erlösungsidee als die reinere und unbedingtere gegenüber; aber sie bedeutet das Freiwerden nicht von der Dualität der Seele, sondern von ihrer Verstrickung in die Welt. Die indische Erlösung meint ein Erwachen, die jüdische eine Umwandlung; die indische ein Abstreifen des Scheines, die jüdische ein Ergreifen der Wahrheit; die indische ein Verneinen, die jüdische ein Bejahen; die indische begibt sich im Zeitlosen, die jüdische meint den Weg der Menschheit. Sie ist wie alle historische Anschauung die unwesenhaftere, aber die bewegtere. Sie allein kann wie Hiob sprechen: »Ich weiß, daß mein Erlöser a lebt« 9 und wie der Psalmist »Erneue den Geist in mir«. 10 b In ihr allein wurzelt die Erlösungsidee des Juden Jesus. Aus ihr nahm das messianische Ideal des Judentums seine Menschlichkeit. c Und als sich in der jüdischen Mystik der ursprüngliche Charakter der Gottesidee wandelte, als die Zweiheitsanschauung in die Vorstellung von Gott selbst hineingetragen wurde, da wuchs die jüdische Erlösungsidee zur Höhe der indischen empor: sie wurde zur Idee der Erlö s u ng Go t tes ; zur Idee der Wiedervereinigung des Gotteswesens, das den Dingen entrückt ist, mit der Gottesglorie, d die wandernd, irrend, verstreut bei den Dingen wohnt; e zur Idee der Erlösung Gottes durch die Kreatur: dadurch, daß jede Seele aus ihrer Zweiheit zur Einheit kommt, daß jede Seele eins wird in sich, wird Gott f eins in sich. Das Streben nach Einheit ist es, was den Juden schöpferisch gemacht hat. g Aus der Entzweiung des Ich nach Einheit strebend, schuf er die Idee 8. Hi 29, 4. 9. Hi 19, 25. 10. Ps 51, 12. a. b. c. d. e. f. g.

JuJ: Auslöser JuJ: »Einen festen Geist erneue in meinem Innern«. Dieser Satz in ED abweichend: Sie hat, zur Erlösung der Welt hingewandt, eine große jüdische Schöpfung hervorgebracht: das messianische Ideal, das in seinem Grunde der Gedanke der abs o lu ten Zu k unft ist. JuJ: Gotteseinwohnung JuJ: weilt ED ergänzt: wieder ED abweichend: Was ich bisher ausgeführt habe, schließt bereits das ein, um das es

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des Einheitsgottes. Aus der Entzweiung der Menschengemeinschaft nach Einheit strebend, schuf er die Idee der All-Gerechtigkeit. Aus der Entzweiung alles Lebendigen nach Einheit strebend, schuf er die Idee der All-Liebe. Aus der Entzweiung der Welt nach Einheit strebend, schuf er das messianische Ideal, das eine spätere Zeit, auch wieder unter führender Mitwirkung des Juden, verkleinert, verendlicht und Sozialismus genannt hat. Unm i ttelba re Einheit, unmittelbares naives ursprüngliches Erleben der Einheit im Ich und in der Natur war dem Juden versagt. Er ging nicht von der Einheit aus, er kam zu ihr. Als Spinoza den einheitlichsten Weltaufbau des Menschengedankens schuf, hatte auch er die Einheit nicht in der Natur, sondern in der Forderung erlebt, im schöpferischen Willen, i m ei ns gewo rd enen Ich. Sein Ich war Einheit geworden: so konnte er Einheit in die Welt setzen. Denn das ist der Urprozeß des Juden, der Urprozeß, den die großen Juden, in denen das tiefste Judentum lebendig wurde, an ihrem persönlichen Leben mit der ganzen Gewalt asiatischer Genialität zur Erscheinung gebracht haben: das Einswerden der Seele. Das große Asien lebte sich in ihnen dem Okzident vor, das Asien der Schrankenlosigkeit und der heiligen Einheit, das Asien Laotses und Buddhas, welches das Asien des Moses und der Jesaiasse, des Johannes, des Jesus und des Paulus ist. Am Streben nach Einheit entzünden sich im Juden die schöpferischen Kräfte; im Einswerden der Seele wurzelt seine schöpferische Tat . »Nur wenn du ungeteilt bist, hast du Teil an Jahwea deinem Gott« heißt es im Midrasch. 11 b Die schöpferischen Juden sind die Siege über die Dualität, ihre p o s i t iven Überwindungen, das Ja über dem Nein, das Schaffen über der Verzweiflung, der Triumph der Sehnsucht. Sie sind das »Es werde Licht« 12 des Judentums. In ihrem Leben, in ihrem Werk erlöste sich das Volk. Wir können, wenn wir dies ganz erfaßt haben, von hier aus in den innersten Sinn dessen blicken, was wir »Galuth«, d. i. Exil nennen.c Auf die große schöpferische Epoche folgte das lange Zeitalter, das man in Wahrheit das Zeitalter des Exils nennen kann, denn es hat uns aus unserem Urwesen verbannt: die Epoche der unproduktiven Geistigkeit, jener 11. BerR XCVII, 2. 12. Gen 1, 3.

a. b. c.

uns hier wesentlich zu tun ist: das Problem des schöpferischen Juden. Was den Juden schöpferisch gemacht hat, ist sein Streben nach Einheit. JuJ: dem Herrn Das Midraschzitat nicht in ED. ED: Was wir »Golus« nennen.

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Geistigkeit, die fernab vom Leben und vom lebendigen Streben nach Einheit sich von Bücherworten, von Deutungen der Deutungen nährte und in der Luft der ideenlosen Abstraktion ein armseliges, verzerrtes, krankes Dasein fristete. Die natürliche Einheit des Landes und der bodenständigen Gemeinschaft, die nährende Einheit der Erde hatte einst gehindert, daß die innere Entzweiung in Zerrissenheit und Haltlosigkeit ausarte, und sie hatte immer wieder die Kräfte gezeugt, die nach Einheit strebten und Einheit schufen. Nun war sie verloren. Der fruchtbare Kampf innerhalb der Gemeinschaft, der weckende aufrufende Kampf derer, die die Einheit gefunden hatten, gegen die, die sich von ihren auseinanderstrebenden Trieben tragen ließen, der schöpferische Kampf der Propheten und Erlöser gegen die Gottlosen und Selbstzufriedenen war erloschen. Es begann der in seinem Wesen notwendige, aber in seiner Wirklichkeit unfruchtbare Kampf gegen den Einfluß der Welt, der Kampf um die Wahrung der Art. Er war unschöpferisch, ja er richtete sich mehr und mehr gegen das Schöpferische selbst, gegen alles Freie, Neue und Bewegende; denn alles Freie, Neue und Bewegende schien den letzten Bestand des entwurzelten Judentums erschüttern zu wollen. Dieser Kampf entstammte einem Grundtrieb gesunder Selbstbehauptung; aber er artete in blinde Selbstzerstörung aus. In diesem grausamen, verketzernden, einsichtslosen, besinnungslosen Kampf des o ffi zi ellen gegen das u nter i rd i s che Judentum verflachten die großen Einheitsideen zu einer immer geistesleerer werdenden Tradition; und wo das Streben nach Einheit zu neuen Ideen, zu neuen Formen rang, wurde es gewaltsam niedergedrückt. Dazu kam die namenlose Pein des äußeren Lebens, das längste und das schmerzensreichste Martyrium, a das je ein Volk b auf Erden erlitten hat. In dieser ewigen Qual, in diesem Widerstreit von innen und von außen erlahmte das Streben nach Einheit. Das Volk blieb unerlöst. Die großen Stunden der Stille und der Kraft, in denen einst jüdische Menschen den ewigen Zwiespalt erlebt und sich ihm entschwungen c hatten, wurden immer seltener. Außer der Ideenwelt ei nes großen Denkers 13 lebten sie nur fort in der glühenden Innerlichkeit der jüdischen Ketzer und Mystiker. Da schufen sie ein Werk erhabenen Geheimnisses, da wirkten sie an einer unterirdischen Kontinuität, sie gaben die Fackel von Hand zu Hand weiter und hielten die Seele des Judentums bereit für den Augenblick der Befreiung. 13. Gemeint ist Spinoza. a. b. c.

JuJ: ein schmerzensreiches Martyrium JuJ: wie es kaum ein anderes Volk JuJ: entschwunden

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Ist dieser Augenblick gekommen? Gibt es einen solchen Augenblick? Das Judentum ist nicht bloß in seiner Geschichte, nicht bloß im gegenwärtigen Leben des Volkes, es ist auch, es ist vor allem in uns selbst. Solange wir in uns das alte Judentum fühlen, solange wir in uns die Urzweiheit finden und das Streben nach Einheit, können wir nicht glauben, der Urprozeß sei beendet und das Judentum habe seinen Sinn erfüllt. Solange die Elemente gegeben sind, ist die unendliche a Aufgabe gegeben. Und sie wird in jedem von uns zur persönlichen Aufgabe, zum Ethos des Einzelnen, das sich in Stille und Reinheit vollziehen soll. An dem großen Prozeß des Judentums wirkt jeder mit, der die Einheit seiner Seele gewinnt, der sich in sich für das Reine und gegen das Unreine, für das Freie und gegen das Unfreie, für das Fruchtbare und gegen das Unfruchtbare entscheidet, jeder, der die Schacherer aus seinem Tempel jagt. Und wie in uns selbst, so müssen wir im Volke entscheiden und den Negativen, den Schauspielern, den Lüsternen,b den Würfelspielern, den feigen Sklaven die Gemeinschaft absagen. Denn die Ausstoßung des Negativen ist wie im Einzelnen so auch im Volke der Weg zum Einswerden. Es gilt hier nicht die Sache zwischen Nationalisten und Nichtnationalisten oder dergleichen; das ist alles Oberfläche und unwesentlich; es gilt hier die Sache zwischen Wählenden und Geschehenlassenden, zwischen Zielmenschen und Zweckmenschen, zwischen Schaffenden und Zersetzenden, zwischen Urjuden und Galuthjuden. Urjude aber nenne ich den, der in sich der großen Kräfte des Urjudentums bewußt wird und sich für sie, für ihre Aktivierung, für ihr Wer k werd en entscheidet. Knüpfen wir also an das innerste Leben des Urjudentums an, streben wir zur Einheit in unserer Seele, reinigen wir das Volk, c und wir haben an seiner Befreiung mitgewirkt. Daran, das Judentum wieder frei zu machen für seine Tat in der Menschheit. d a. b. c. d.

JuJ: ungeheure ED ergänzt hier: den Charlatans, ED abweichend: ehren wir das Schöpferische Dieser Satz nicht in ED. Ab hier weicht der Text bis zum Ende im ED vollkommen von der Version der DR ab. Er lautet: Aber es ist nicht bloß dieses Persönliche, was uns den Mut und den Glauben zuspricht, sondern auch eine äußere Tatsache. Freilich nur eine kleine und unscheinbare. Aber wenn man das Kleine als Anfang empfindet, ist es mehr als die reichste Fülle, die ihr Ende in sich selber hätte. Die Tatsache, die ich meine, ist das Wiedererscheinen des Schöpferischen im Judentum. Und was das Seltsamste ist: es ist in einer Form erschienen, die dem Judentum der Diaspora gänzlich versagt war, die das antike Judentum nur in sehr wenigen Äußerungsarten besaß – in der Form des künstlerischen Gestaltens. Dem Umfang und mit wenigen Ausnahmen auch dem Grade nach ist es in Wahrheit nur ein Anfang zu nennen. Die erzählende und lyrische

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Dieses ist, wie wir gesehen haben, immer die Bedeutung des Judentums für die Menschheit gewesen und wird es bleiben: daß es an sie immer wieder die Forderung der Einheit heranbringt; die Forderung, die Dichtung, die im Osten zugleich in der hebräischen Sprache und im Volksidiom aufgeblüht ist, hat freilich einige selbständige und bedeutende Erscheinungen hervorgebracht, und zu ihnen gesellen sich etliche starke künstlerische Persönlichkeiten im Westen; das reicht jedoch nicht hin, um wieder von einem schöpferischen Judentum zu sprechen. Wohl aber sind diese Fragmente, diese Anläufe, diese Potenzen, diese Werke ein eigentümliches Phänomen, wenn man sie im historischen Zusammenhang betrachtet. Sie sind seit dem Chassidismus die ersten sichtbaren Zeugnisse, daß die Kraft, die solange unter der Erde glühte, nicht erstorben ist. Und sie sind seit der jüdischen Antike die ersten Zeugnisse für die künstlerische Fruchtbarkeit der g ewo nnenen Einheit. Das Kunstwerk stellt die geschlossene, mit Notwendigkeit gefüllte Einheit dar, die die Natur versagt. Darum kann es nur aus einheitlicher Seele entstehen, aus einer Seele, die in ihrer unerschütterlichen Einheit alle Leidenschaften, alle Antriebe, alle Träume umfängt. Die Anfänge jüdischen Künstlertums haben gezeigt, wie stark und wie fruchtbar das Streben nach Einheit im Juden werden kann. Und noch auf eines ist hinzuweisen. In der jüdischen Antike hat sich das Schöpferische in seinen höchsten Momenten am Ka mp f gegen die Gemeinschaft bewährt. Aber dieser Kampf war gegen etwas geführt, dem man sich doch eigen fühlte und das man bekriegte, um es zu reinigen. Im Golus ruhte das Schöpferische zumeist auf einer Frei ma chu ng , ja oft auf einer Loslösung von der Gemeinschaft, die ihm keinen Raum gab; ich brauche nicht hervorzuheben, wie viele in der Gegenwart diesen Weg gehen. Sie wissen nicht, wie gefährlich er ist: wie leicht sie sich dabei auch von den Wurzeln ihres Schaffens, von den tiefer nährenden Schichten der eigenen Seele ablösen. Das ist das Neue an der jüdischen Dichtung des Ostens: daß hier der schöpferische Jude im Ei nk la ng mit der Gemeinschaft steht. Er erlebt ihr Schicksal und gestaltet es. Aber auch mancher schöpferische Jude des Westens bleibt, wenn er sich auch in der Bewußtheit abgeschieden zu haben glaubt, im unbewußten, wirkenden Grunde Jude und schafft, ohne es zu wissen, immer wieder Symbole des großen jüdischen Urprozesses, auf dem seine Seele ruht: der Erlösung zur Einheit. – In dem Drama »Die goldene Kette« des jüdischen Dichters Perez kommt eine Szene vor, in der all das, was ich hier vom Wesen des Juden und vom Sinn des Judentums angedeutet habe, in eigentümlicher Weise zum Ausdruck kommt. Es ist Sabbatausgang, Sabbatausgang in einer kleinen chassidischen Gemeinde. Nach der Auffassung der Chassidim versöhnt sich die Welt am Sabbat zur Einheit. Alle Gegensätze verschmelzen. Solange der Sabbat währt, gibt es nicht Gut und Böse, nicht Recht und Unrecht. An Stelle des Gerichtes waltet die Gnade. Aber wenn der Sabbat zu Ende ist, wenn die Zaddikim, die heiligen Rabbis, die Hawdalah gemacht haben, dann werden die Gegensätze wieder wach, der Widerstreit ergreift die Welt von neuem, und die Weltenwage, die stille gestanden hat, erzittert zu neuem Wägen von Gut und Böse, von Recht und Unrecht. Aber an diesem Sabbatausgang in der kleinen Gemeinde spricht der Rabbi: »Ich ma che heu te d i e Hawd ala h ni cht . Ich zerschneide nicht mehr, was vereinigt ist. Ich gebe die Welt nicht wieder dem Gerichte preis. Ich spreche die Welt frei. Ein ewiger Sabbat sei fürderhin im Himmel und auf Erden.« Und als die Chassidim entsetzt fragen, ob denn die Welt zugrunde gehen solle, da antwortete er ungefähr so: »Was ihr die Welt nennt, soll zugrunde gehen. Aber die wahre Welt, die Messiaswelt hebt heute an, da wir, die großen, feierfrohen Juden, die Lö s ung bringen.«

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aus der eigenen Entzweiung und der Erlösung von ihr geboren wird. Das Judentum kann nicht, wie andere Völker, der Menschheit neue Gegenstände, neue Inhalte geben, dazu ist das Verhältnis des Juden zum gegenständlichen Dasein, zu den Dingen nicht stark genug; es kann ihr vielmehr nur immer neue Einheit für ihre Inhalte geben, immer neue Möglichkeiten der Synthese. Es war religiöse Synthese in den Zeiten der Propheten und des Urchristentums, es war gedankliche Synthese in der Zeit Spinozas, es war gesellschaftliche Synthese in der Zeit des Sozialismus. Zu welcher Synthese bereitet sich heute der Geist des Judentums? Vielleicht zu einer, die eine Synthese all jener Synthesen sein wird. Aber welches Angesicht immer sie haben wird, eines wissen wir von ihr: daß sie wieder dem tausendfältigen, zerklüfteten, widerstreitenden Getriebe der Menschheit gegenüber die Forderung der Ei nhei t erheben wird, daß sie wieder zur Menschheit sagen wird: »All das, was ihr sucht und übt, wonach ihr strebt und hastet, all eure Taten und all eure Werke, all eure Opfer und all eure Genüsse, all das ist sinnlos, wesenlos ohne die Einheit.« Ein Jude hat einst das Wort gesprochen: Ei ns t u t no t . 14 Damit sprach er die innerste Seele des Judentums aus, die weiß, daß alle Inhalte nichtig sind, wenn sie nicht zur Einheit zusammenwachsen, und daß es in allem Leben auf eins ankommt: die Einheit zu besitzen. Nicht immer stand die Seele des Judentums auf der Höhe dieser Anschauung; aber die Zeiten, in denen sie sich rein und stark zu ihr bekannte, waren die großen, die ewigen Momente der jüdischen Geschichte. In diesen Momenten war das Judentum der Apostel des Orients vor der Menschheit; es war der Apostel des Orients, weil es aus seiner Erfahrung der inneren Entzweiung und der Erlösung von ihr die Macht und die Leidenschaft schöpfte, die Menschenwelt das eine zu lehren, das not tut. Das Judentum hat einst das große Sinnbild der inneren Entzweiung aufgestellt, die Scheidung von Gut und Böse, die Sünde; aber es hat auch immer wieder die Überwindung dieser Scheidung gelehrt: in Gott, bei dem, wie es im Psalm heißt, die Gnade und die Erlösung ist; 15 a im Leben des heiligen Menschen, der die Sünde, die Scheidung von Gut und Böse, nicht mehr kennt, der »rein von Sünde« ist; und in der messianischen Welt, in der, wie es im Buche Henoch heißt, die Sünde für ewig vernichtet wird. 16 So ist und bleibt dies die Grundbedeutung des Judentums für die Menschheit, daß es, der Urzweiheit im innersten Wesen wie kein andres bewußt, 14. Lk 10, 42. Jesus spricht dort diese Worte zu Martha. 15. Ps 130, 7. 16. Vgl. 1 Hen 94-104. a.

JuJ: »die Huld und der Abgeltung viel« ist

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wie kein andres sie kennend und sie darstellend, eine Welt verkündet, in der sie aufgehoben ist: eine Gotteswelt, die im Leben des Einzelnen und im Leben der Gesamtheit verwirklicht werden will: die Welt der Einheit.

3. Die Erneuerung des Judentums Wenn ich von Erneuerung spreche, bin ich mir bewußt, daß dies ein kühnes, ja schier verwegenes Wort ist, das der unserer Zeit geläufigen Weltund Lebensanschauung widerspricht und von ihr nicht anerkannt werden kann. Die typischen Menschen dieser Zeit werden in ihrem Tun von dem Begriff der Evolution beherrscht, das ist von dem Begriff der allmählichen, aus dem Zusammenwirken vieler kleiner Ursachen hervorgehenden Veränderung – oder, wie man wohl auch zu sagen pflegt, Verbesserung. Dieser Begriff, der – man beginnt es zu erkennen – auch auf dem Gebiete des Naturgeschehens nur eine relative Geltung beanspruchen kann, der allerdings die Naturwissenschaften im reichsten Maße angeregt und gefördert hat, hat in dem Bereiche des Geistes und des Willens höchst verderblich gewirkt. Mit nicht geringerer Wucht als einst durch den Calvinismus das Gefühl der unentrinnbaren Prädestination wurde nun das Gefühl der unentrinnbaren Evolution auf die Seelen der Menschen gelegt. Es ist zu einem nicht geringen Teil diesem Gefühl zuzuschreiben, wenn das heroische Leben, das unbedingte Leben in unserer Zeit abgestorben ist. Einst war der große Täter gewärtig, mit seiner Tat das Angesicht der Erde zu ändern und seinen Sinn dem Werden aufzuprägen; er fühlte sich den Bedingungen der Welt nicht unterworfen, weil er in der Unbedingtheit des Gottes stand, dessen Wort er in seinen Entschlüssen spürte wie das Blut in seinen Adern. Diese übermenschliche Zuversicht ist zersetzt worden; das Bewußtsein Gottes und der Tat wurde einem schon in der Wiege abgeschnürt; man durfte nur noch hoffen, der Exponent eines kleinen »Fortschritts« zu werden; und wer das Unmögliche nicht mehr zu begehren vermag, kann nur noch das Allzumögliche vollbringen. So trat an die Stelle der Seelengewalt die Betriebsamkeit und an die Stelle der Opfermacht die Vertragskunst. Und sogar die S ehns u cht nach einem neu en heroischen Leben wurde von dieser Tendenz der Zeit verdorben; das tragischste Beispiel ist wohl das des Menschen, in dem diese Sehnsucht stark war wie in keinem und der dennoch sich dem Evolutionsdogma nicht zu entziehen vermochte: Friedrich Nietzsches. Ich bin mir also bewußt, daß ich, wenn ich von Erneuerung spreche, den Boden dieser Zeit verlasse und den einer neuen, kommenden Zeit

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betrete. Denn ich meine mit Erneuerung durchaus nichts Allmähliches und aus kleinen Veränderungen Summiertes, sondern etwas Plötzliches und Ungeheures, durchaus nicht Fortsetzung und Verbesserung, sondern Umkehr und Umwandlung. Ja, gerade so, wie ich für das Leben des einzelnen Menschen daran glaube, daß es darin einen Moment des elementaren Umschwungs geben kann, eine Krisis und Erschütterung und ein Neuwerden von der Wurzel bis in alle Verzweigungen des Daseins, gerade so glaube ich für das Leben des Judentums daran. Der letzte Jesaias läßt den Herrn sprechen: »Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen«,17 und der Autor der Apokalypse bekennt: »Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde«. 18 Das ist keine Metapher, sondern unmittelbares Erlebnis. Es ist das Erlebnis des Menschen, dem sein Wesen und damit das Wesen der Welt neu geworden ist. Er ist derselbe geistbegabte Körper, der er war, und keine Kraft ist in ihn getreten, die nicht schon in ihm gewesen ist; aber seine Kräfte sind in der großen Erschütterung zur Einheit zusammengeschossen, und es gibt keine Gewalt, die der Urgewalt der Einheit gliche. Dieses eben ist es, woran ich für das Judentum glaube: nicht lediglich eine Verjüngung oder Neubelebung, sondern eine wahrhafte und vollkommene Erneuerung. Wenn auch die Idee der Erneuerung in diesem absoluten Sinne den um den Fortbestand des Judentums besorgten Geistern in unserer Zeit zumeist fremd geblieben ist, so haben sie doch erkannt, daß wir in einem Augenblick der höchsten Spannung und der endgültigen Entscheidung stehen, in einem Augenblick mit doppeltem Antlitz, das eine nach dem Tode, das andere nach dem Leben blickend, und daß das Judentum nicht mehr durch bloße Fortsetzung erhalten werden kann, sondern daß es einzugreifen und umzubilden, zu heilen und zu lösen gilt. Sie halten aber, dem Geist der Zeit getreu, eine relative, das heißt allmähliche und teilweise Erneuerung für das Notwendige und für das Mögliche. Ich kann den Sinn, den das Wort Erneuerung für mich hat, nicht besser darlegen, als wenn ich erörtere, was von diesen Männern und von den durch sie repräsentierten geistigen Strömungen darunter verstanden wird. Es sind dies im wesentlichen zwei Grundauffassungen; und sie sehen das Wesen der Er neu er u ng in verschiedener Weise an, weil sie das Wesen des Ju d ent u ms in verschiedener Weise ansehen: die erste betrachtet das Judentum als eine konfessionelle, die andere als eine nationale Gemeinschaft. Ich will beide nicht nach den Anschauungen ihrer durchschnittlichen, sondern nach denen ihrer höchsten und führenden Vertre17. Jes 65, 17. 18. Apk 21, 1.

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ter erörtern. Für die erste ist dies nichts Leichtes, da ich unter ihren Bekennern keinen eigentlich selbständigen und überragenden Geist gefunden habe; ich will einen der besten, Moritz Lazarus, wählen. Hingegen bietet sich für die zweite die repräsentative Persönlichkeit dar; es ist die des neuhebräischen Denkers Achad Haam. Lazarus, ein kluger a und liebenswürdiger Popularphilosoph, kommt für uns hier schon deshalb besonders in Betracht, weil kürzlich aus seinem Nachlaß eine kleine Schrift herausgegeben worden ist, welche »Die Erneuerung des Judentums« 19 betitelt ist. Mit einem seltsamen Gefühl der Erwartung habe ich auf dem Titelblatt diese Worte gelesen, die seit manchem Jahr als ein dunkles und noch unerschlossenes Heiligtum in meinen Gedanken b ruhten. Und meine Erwartung schien zunächst nicht enttäuscht werden zu sollen. Auf einer der ersten Seiten stand ein Wort, das mich ins Herz traf. Da hieß es, das Ziel sei »die Wiederbelebung, die wirkliche Einführung des prophetischen Judentums«. 20 Ich erschauerte vor der Größe dieses Ziels. »Die wirkliche Einführung des prophetischen Judentums!« Was war denn das prophetische Judentum anderes als die Forderung, in u nbed i ngter Weise zu leben? Nicht im Bekenntnis Gott und im Tun den Nutzzwecken des kleinen Lebens dienstbar sein, nicht im Denken zu Ende gehen und im Handeln auf halbem Wege stehen bleiben, sondern ganz sein zu allen Stunden und in allen Dingen, und sein Gottgefühl allezeit ver w i r kli chen, auf daß, wie Amos spricht, »die Gerechtigkeit sich offenbare wie ein starker Strom!« 21 Niemals in der Geschichte der Menschheit ist die Losung »Alles oder Nichts« mit so gewaltiger Stimme ausgegeben worden. Und das sollte nun erfüllt werden! Wir sollten endlich Juden sein, wie die Propheten sie forderten, das heißt: u nbed i ngte Menschen! Wir sollten uns frei machen von dem Zweckgetriebe der modernen Gesellschaft und anheben, eine Wahrheit aus unserem Leben zu machen! Mochten die Halben, die Trägen, die Gierigen sich immerhin weiter Juden nennen, die allein würden es sein, die mit der Einführung des prophetischen Judentums Ernst machen! Ja, das mußte zur Erneuerung des Judentums führen – und zur Erneuerung des Menschentums! – Aber ich las weiter, und mein Traum zerrann. Ach, das was hier des weitern gepredigt wurde, war etwas ganz, ganz anderes. Diese »Wiederbelebung des prophetischen Judentums« war im Grunde 19. Moritz Lazarus, Die Erneuerung des Judentums: Ein Aufruf, Berlin 1909. 20. Ebd., S. 10. 21. Am 5, 24. a. b.

O: weiser O: in meinem innersten Sinne

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nur eine jüdische Variante dessen, was Luther mit der Wiederbelebung des evangelischen Christentums meinte. Rationalisierung des Glaubens, Vereinfachung des Dogmas, Milderung des Zeremonialgesetzes – das war alles. Negation, nichts als Negation! Nein, es war unrecht, Luthers Namen zum Vergleich heranzuziehen – Luthers Konzeption eines evangelischen Lebens war unendlich schöpferischer gewesen. Dies hier war nicht Reformation, es war nur Reform – nicht Umbildung, nur Erleichterung – nicht Erneuerung des Judentums, sondern dessen Fortsetzung in einer leichteren, eleganteren, europäischeren, salonfähigeren Form. Wahrlich, tausendfach lieber sind mir die Dumpfen und Schwerfälligen, die in der Einfalt ihres Herzens Tag für Tag all das unverkürzt vollziehen, was sie als das Gebot ihres Gottes, des Gottes ihrer Väter empfinden! Wie durfte a dieses schwächliche Programm eine Wiederbelebung des prophetischen Judentums genannt werden? b Gewiß, die Propheten sprachen von der Nichtigkeit aller Zeremonien, aber nicht um das religiöse Leben zu erleichtern, sondern um es zu erschweren, um es wahrhaft und ganz zu machen, um die Heiligkeit der Tat zu proklamieren. Fordern wir etwas anderes c als diese sogenannte »geläuterte Religion«, d fordern wir die Tat in ihrer reinen Unbedingtheit, dann nur dürfen wir uns auf die Propheten Israels berufen! Eine ganz andere, unvergleichlich tiefere und echtere Welt eröffnen uns die Gedanken Achad Haams. Hier ist wirklich etwas von dem Geiste des prophetischen Judentums, freilich nicht in seiner ursprünglichen Glut und ekstatischen Gewalt, sondern in talmudische Problematik und maimonideische Abstraktheit getaucht, aber in der Wahrhaftigkeit des inneren Blickes und der Rücksichtslosigkeit e der Forderung an das Erbe des Prophetentums gemahnend. Dennoch ist auch hier die Idee einer abs o lu ten Erneuerung des Judentums nicht zu finden. Achad Haam erhofft die Erneuerung von der Bildung eines geistigen Zentrums des Judentums in Palästina. Es ist viel darüber gesprochen worden, daß ein solches Zentrum nicht ohne die Grundlage einer wirtschaftlichen Siedlung ins Leben treten könnte, und in der Tat, man kann eine Kolonie irgend einer Art nur auf die natürlichen Daseinsbedingungen aufbauen, sonst bleibt sie ein künstliches Gebilde, das auf die Dauer dem ununterbrochenen a. b. c. d. e.

JuJ ergänzt: sich JuJ: nennen O: Positiveres O ergänzt: die gar keine Religion mehr ist, sondern eine gemässigte, theistisch verbrämte Humanität, eine Humanität ohne Anstrengung, aber voll Salbung, das gerade Gegenteil der prophetischen Idee, O: Unbedingtheit

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Ansturm der zweckbestimmten Umwelt keinen Widerstand zu leisten vermöchte. Aber nicht dies ist hier das Wesentliche. Wie immer sie sich auch gestalten mag, zweifellos würde eine zentrale jüdische Siedlung in Palästina etwas Großes, etwas in der Geschichte fast Beispielloses bedeuten: die Möglichkeit, a daß sich ein gesundes jüdisches Kernvolk bilde, das sicherlich im Laufe der Generationen auch kulturelle Werte erzeugen würde. Wahrscheinlich würde sie auch auf die jüdische Diaspora einen stärkenden und zusammenhaltenden Einfluß ausüben. Aber eine Erneuerung des Judentums im absoluten Sinne könnte sie b nicht verbürgen; und das Zentrum des jüdischen Volkes wird nur dann auch das Zentrum des Judentums werden, wenn es nicht um der Erneuerung willen, sondern au s der Erneuerung und d u rch sie geschaffen wird. Ein geistiges Zentrum kann wissenschaftliche Arbeit fördern, es kann sogar Ideen – wenn auch nicht schaffen, so doch verbreiten und propagieren, ja es könnte vielleicht auch ein soziales Vorbild werden; aber das, wovon ich einzig das Absolute erwarte, die Umkehr und Umwandlung, den Umschwung aller Elemente, wird es nicht bewirken können. Ja, es will mir scheinen, daß für die Erschütterung von Grund aus, die ihm vorangehen muß, die ungeheure Zerrissenheit, die schrankenlose Verzweiflung, die unendliche Sehnsucht, das pathetische Chaos vieler heutigen Juden ein günstigerer Boden sind als das normale und zuversichtliche Dasein des Siedlers im eigenen Lande. Um aber zu begreifen, was den Umschwung, von dem ich spreche, allein bewirken könnte, tut es not, sich darauf zu besinnen, was das Judentum ist, nach dessen Erneuerung wir Verlangen tragen. Man berührt nur die gröbste Tatsächlichkeit der Organisationsform, wenn man es als Konfession betrachtet; man hat eine tiefere Wirklichkeit erreicht, wenn man es als Volkstum anspricht; aber man muß noch tiefer schauen, um sein innerstes Wesen zu erfahren. Das Judentum ist ein geistiger Prozeß, der sich in der inneren Geschichte des Judenvolkes und in den Werken der großen Juden dokumentiert hat. Man hat einen zu kleinen Begriff von ihm, wenn man es, wie es, jeder in seiner Sprache, sowohl Lazarus als auch Achad Haam tun, mit der jüdischen Einheitslehre und mit dem Prophetismus identifiziert. Die jüdische Einheitslehre ist nur ein Element und der Prophetismus nur ein Stadium des großen geistigen Prozesses, der Judentum heißt. Nur wer diesen in seiner ganzen Größe faßt, in der Fülle seiner Elemente und in den vielfältigen Wandlungen seiner ge-

a. b.

O: sie würde die Möglichkeit bedeuten O: es

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schichtlichen Offenbarung, kann die Bedeutung dessen verstehen, was hier von mir Erneuerung genannt wird. Der geistige Prozeß des Judentums vollzieht sich in der Geschichte als das Streben nach einer immer vollkommeneren Verwirklichung dreier untereinander zusammenhängender Ideen: der Idee der Einheit, der Idee der Tat und der Idee der Zukunft. Wenn ich von Ideen spreche, meine ich selbstverständlich nicht abstrakte Begriffe, a sondern natürliche Tendenzen des Volkscharakters, die sich mit so großer Kraft und mit so großer Dauer äußern, daß sie einen Komplex von geistigen Werken und Werten erzeugen, welcher als d a s a bs o lu te Leben d es Volkes angesprochen werden darf. b Jedes Volk von starken spezifischen Gaben hat solche ihm eigentümliche Tendenzen und eine solche, von diesen geschaffene Welt ihm eigentümlicher Werke und Werte, sodaß es gleichsam zweimal lebt, das eine Mal flüchtig und relativ in der Folge der Erdentage, der kommenden und schwindenden Geschlechter, das zweite c Mal – gleichzeitig – bleibend und absolut in der Welt des wandernden und suchenden Menschengeistes. Wenn in dem einen, dem relativen Leben, alles zufällig und oft beängstigend sinnlos scheint, zeigen sich in dem andern, dem absoluten, Schritt für Schritt die großen, leuchtenden Linien des Sinnes und der Notwendigkeit. Das relative Leben bleibt der Besitz des Volksbewußtseins, das absolute geht unmittelbar oder mittelbar in das Bewußtsein der Menschheit ein. Unter den Völkern gibt es aber keines, bei dem diese konstante Erzeugung eines absoluten Lebens, dieser geistige Prozeß des Volkstums, so sichtbar und deutlich wäre wie bei dem jüdischen. In dem relativen Leben des jüdischen Volkes, sowohl in dem, was man gewöhnlich seine Geschichte nennt, als in dem Alltag seiner Gegenwart, wimmelt es von Zwecken, von Hast, von Sucht, von Pein; aber aus alle dem lösen sich strahlend und riesengroß die Ziele und schreiben ihre unzerstörbaren Zeichen an den Himmel der Ewigkeit. Und dem Blick, der das relative Leben durchdringt und in das absolute schaut, offenbart es sich, daß all das Gewimmel in jenem nur dazu da war, d daß dieses daraus erstehe, und daß im Grunde dieses die Wirklichkeit ist und jenes nur der bunte, vielfältige, vorüberhuschende e Schein. Das zeigt sich am Judentum so klar und eindeutig wie nirgendwo anders, a. b. c. d. e.

O ergänzt: die etwa eine von der Wirklichkeit abgelöste, von ihr unabhängige Existenz führten, O ergänzt: und sich in der absoluten Tat des Volkes als in dessen höchster Äusserung und dessen Erlösung verwirklichen will. JuJ: andre O: diente In JuJ gestrichen.

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und deshalb durfte ich gerade das Judentum a einen geistigen Prozeß nennen. Dieser Prozeß vollzieht sich, wie ich schon sagte, als das Streben nach der Verwirklichung dreier Ideen oder Tendenzen, die untereinander zusammenhängen, ja die im Volkscharakter ein Einheitliches sind und nur der Darstellung wegen voneinander gesondert werden müssen, weil in der Geschichte einmal die eine, ein andermal eine andere vorherrscht. Das Streben nach ihrer Verwirklichung ist keineswegs ein steter und gleichmäßiger Strom, sondern immer wieder durch Abläufe geschwächt, von Dürre heimgesucht, bald in der breiten hindernislosen Ebene verflachend, bald in der Enge der Felsenwildnis sich windend und an tausend Hemmungen zersprühend. Der geistige Prozeß des Judentums vollzieht sich in der Form eines Gei stes kamp fes , eines ewig erneuten inneren Kampfes um die reine Erfüllung der Volkstendenzen. Dieser Kampf erklärt sich daraus, daß, wie im Leben des einzelnen Menschen die entscheidenden Tugenden nichts anderes sind als die geformten, umgelenkten, zur Idealität erhobenen Leidenschaften, gerade so im Leben des Volkes die entscheidenden Ideen nichts anderes sind als die ins Geistige und Schöpferische gehobenen Volkstriebe. Und wie im Leben des einzelnen Menschen die Leidenschaften der Formung und Umlenkung widerstreben, in den Bezirk der Tugend einbrechen und ihre reine Erfüllung stören, so widerstreben die Volkstriebe der Vergeistigung und trüben die Reinheit ihrer Erfüllung, das ist ihre Erhebung in das absolute Leben des Volkes. So kämpfen die Ideen gewissermaßenb um sich selber, um ihre Befreiung aus der Enge der Volkstriebe, um ihre Verselbständigung und Erfüllung. Ich will dies in den drei Ideen des Judentums – Einheit, Tat, Zukunft – andeutungsweise darzulegen versuchen, wobei ich aber von den Stadien des Geisteskampfes nur einzelne besonders denkwürdige herausgreifen kann. Die Idee und Tendenz der Einheit ist im Volkscharakter darin begründet, daß der Jude von je mehr den Zusammenhang der Erscheinungen als die einzelnen Erscheinungen selbst wahrnimmt. Er sieht den Wald wahrhafter als die Bäume, das Meer wahrhafter als die Welle, die Gemeinde wahrhafter als den Menschen. Darum hat er mehr Stimmungen als Bilder, und darum auch treibt es ihn, die Fülle der Dinge, ehe sie noch ganz durchlebt wurde, im Begriffe zu binden. Aber er bleibt nicht beim Begriffe stehen; es verlangt ihn, zu höheren Einheiten fortzuschreiten, zu einer höchsten, die alle Begriffe trägt und krönt, gründet und überwölbt, gea. b.

O ergänzt: kat exochen JuJ: recht eigentlich

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a

wissermaßen der Begriff der Begriffe, sie in eins bindend, wie in ihnen die Erscheinungen in eins gebunden wurden. Aber es gibt eine zweite, tiefere Quelle der Einheitstendenz im Juden: es ist die, von der ich schon einmal gesprochen habe: seine Sehnsucht, sich aus seiner inneren Entzweiung in eine absolute Einheit b zu retten und zu erheben. Beide Quellen strömen in der Gottesidee der Propheten zusammen. Es entsteht die Idee der transzendenten Einheit: des weltschaffenden, weltbeherrschenden, weltliebenden Gottes. Das ganze Pathos der Propheten, das gewaltigste Pathos der Menschheitsgeschichte, dient dieser Idee. Aber dies ist ein Gipfel des geistigen Prozesses. Die äußere Quelle wird stärker als die innere, die Begriffsbindung stärker als die Sehnsuchtsbindung. Die Idee verdünnt, entfärbt sich, bis aus dem lebendigen Gott ein unlebendiges Schema geworden ist, welches die Herrschaft des späten Priestertums und die des beginnenden Rabbinismus charakterisiert. Aber die Einheitstendenz läßt sich nicht niederziehen. Der Kampf zwischen dem Schema und der Sehnsucht wogt unaufhörlich; er findet eine vorübergehende Ausgleichung in der Anschauung Philos, entzündet sich von neuem zwischen den Meistern des Talmuds, durchzieht die Bewegung des Urchristentums, füllt die Exkurse der Midraschim, ist die Seele der Kabbala. Aber im Kampfe wandelt sich das Wesen der Einheitsidee selber. Der Gott neigt sich zur Welt herab; die Scharen seiner Emanationen, der Sephirot, kommen, ihn mit ihr zu verbinden; seine Glorie, c die Schechina, steigt zur Welt nieder, um bei ihr zu wohnen; in die Seele des Menschen fallen Funken des Göttlichen. Aus der transzendenten Einheit wird eine immanente: die des weltdurchdringenden, weltbelebenden, weltseienden Gottes: deus sive natura. 22 Es ist der Gott Baruch Spinozas. Wieder ist ein Gipfel des geistigen Prozesses erreicht, eine Synthese der Begriffsbindung und der Sehnsuchtsbindung gefunden. Aber wieder beginnt ein Niedergang, wieder wogt der Kampf. Für einen Augenblick erhebt sich die lebendige Einheitstendenz noch einmal im Chassidismus, dann erlahmt die Bewegung, erlahmt der Kampf; die unfruchtbare Zeit hebt an, unsere Zeit hebt an. Wo sind die Kräfte geblieben, die den Kampf getragen haben? Wo ist die ringende Idee geblieben? Wüstensand ist um unsere Füße; wie das d Geschlecht der Wüste wandern wir und wissen nicht wohin. Aber 22. Lat., Gott bzw. die Natur; die von Spinoza vertretene Grundanschauung, daß die Natur selbst Gott ist. a. b. c. d.

JuJ: als O fährt abweichend fort: zu Trost und Schirm und Erlösung zu flüchten. JuJ: »Einwohnung« JuJ: als ein

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unsere Sehnsucht ist nicht tot. Sie hebt das Haupt und ruft in die Wüste hinaus, wonach sie begehrt, ruft wie einst der Jude Jochanan a in einer Zeit wie die unsere in der Wüste rief: nach der Erneuerung. Die zweite Idee des Judentums ist die der Tat. Sie ist im Volkscharakter darin begründet, daß der Jude mehr motorisch als sensorisch veranlagt ist: sein Bewegungssystem arbeitet intensiver als sein Sinnensystem, er hat im Handeln mehr Substanz und mehr Persönlichkeit als im Wahrnehmen und seinem Leben ist wichtiger, was er zustande bringt, als was ihm widerfährt. 23 Darum hat z. B. alle Kunst des Juden so viel Gebärde, darum ist sie im Ausdruck selbständiger als im Sinn. Und darum auch ist ihm am Menschen die Tat wesentlicher als das Erlebnis. So stand schon in uralter Zeit im Mittelpunkt der jüdischen Religiosität nicht der Glaube, sondern die Tat. Dies darf ja wohl überhaupt als ein fundamentaler Unterschied zwischen Orient und Okzident angesehen werden: für den Orientalen ist die Tat, für den Okzidentalen der Glaube die entscheidende Verbindung zwischen Mensch und Gott. Dieser Unterschied hat sich beim Juden besonders nachdrücklich ausgeprägt. In allen Büchern der Bibel ist vom Glauben recht wenig, vom Handeln um so mehr die Rede. Man denke aber nicht, daß damit seelenlose Werkheiligkeit oder sinnfremde Zeremonien gemeint seien; vielmehr war jede Tat, auch die geringste und scheinbar gleichgiltigste, irgendwie auf das Göttliche bezogen, und das spätere Wort »All dein Tun sei um Gottes willen« 24 gilt schon hier in einem besonders prägnanten Sinne. In der Zeit des naivsten Verhältnisses zu Gott meinten die anbefohlenen Handlungen eine geheimnisvolle, magische Verbindung mit ihm; so war das Tieropfer ein symbolischer Ersatz der Hinopferung des eigenen Lebens, die Flamme des Altars wurde als ein Bote der Seele zum Himmel empfunden. Aber die Handlungen verlieren ihren Sinn, und doch heischt das Gebot die sinnlos gewordenen weiter, weil, wie Jochanan ben Sakkai erklärt, Gott »eine Satzung eingesetzt, eine Entscheidung getroffen hat.« 25 So entsteht aus der Religiosität der Tat das Zeremonialgesetz. 26 Gegen diese Erstarrung empört sich die Tattendenz, sie sondert sich ab und schafft jene Le23. Diese völkerpsychologischen Verallgemeinerungen entfaltet Buber vor allem in »Der Geist des Orients und das Judentum«, der vierten der vor dem Bar Kochba gehaltenen Reden. (siehe: JuJ, S. 46-65.) 24. mAv 2, 17. 25. PesK 40a-b. 26. Im Gebrauch des liberalen Judentums hatte dieser Begriff, den Spinoza und Moses Mendelssohn einführten, stets einen pejorativen Beigeschmack der Ablehnung der Halacha wegen des Vorwiegens »verknöcherter« ritueller Vorschriften in ihr. a.

JuJ: der Täufer

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bensgemeinschaften, die an Stelle des leergewordenen Gesetzes wieder die lebendige, mit Gott verbindende Tat zu üben begehrten. Die erste uns bekannte waren wohl jene im Buch Jeremias erwähnten Rechabiten, 27 deren Ideen und Organisation die gesetzestreuen Redaktoren des Kanons, wohl nicht ohne Absicht, mißdeutet zu haben scheinen. Von ihnen führte wahrscheinlich eine ununterbrochene Tradition bis zu den Essäern, deren uralte Überlieferungen die Historiker bezeugen. Auf diesem Wege ist die Tattendenz gewachsen, die Idee der Tat ist immer reiner, die Anschauung einer Verbindung mit Gott immer größer und heiliger geworden. Aber zur gleichen Zeit wurde das Zeremonialgesetz immer starrer und lebensfremder. Da geschah es, daß die Bewegung aus den sich absondernden Lebensgemeinschaften mitten ins Volk überschlug und hier jene Geistesrevolution entflammte, die heute, irriger und irreführender Weise, Urchristentum genannt wird; sie könnte viel eher, freilich in einem andern Sinne als dem historischen, Ur-Judentum heißen, denn sie hat mit dem Judentum a weit mehr als mit dem zu schaffen, was man heute als Christentum bezeichnet. Es ist eine eigentümliche Erscheinung der Galuthpsychologie, daß wir, bloß deshalb, weil sich an diese Bewegung rein äußerlich, ohne ihr Wesen mit zu übernehmen, vielmehr sie mit fremden Elementen so durchsetzend, daß von ihr selbst nicht viel mehr übrig blieb, der christliche Synkretismus anschloß, daß wir, sage ich, bloß deshalb geduldet, ja selber aufs heftigste dazu beigetragen haben, daß dieser bedeutende Abschnitt unserer Geistesgeschichte aus ihr herausgerissen wurde. Was an den Anfängen des Christentums nicht eklektisch, was daran schöpferisch war, das war ganz und gar nichts anderes als Judentum. Es war jüdisches Land, in dem diese Geistesrevolution entbrannte; es waren uralte jüdische Lebensgemeinschaften, aus deren Schoße sie erwacht war; es waren jüdische Männer, die sie ins Land trugen; die, zu denen sie sprachen, waren – wie immer wieder verkündet b wird – das jüdische Volk und kein anderes; und was sie verkündeten, war nichts anderes als die Erneuerung der Religiosität der Tat im Judentum. Erst im synkretistischen Christentum des Abendlandes ist der dem Okzidentalen vertraute Glau be zur Hauptsache geworden; im Mittelpunkt des Urchristentums steht d i e Tat . c Was aber der Inhalt des Tatstrebens war, das ist in dem sicherlich d ursprünglichsten Stücke der Evangelien, das am zweifellose27. Die Gemeinde streng religiöser Nomaden wird in Jer 35 beschrieben. a. b. c. d.

O fährt fort: sehr viel, mit dem Christentum sehr wenig zu schaffen. O: betont Keine Hervorhebungen in JuJ. JuJ: einem der

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sten auf eine schöpferische Personalität hinweist, in Matth. 5, dem ersten Kapitel der Bergpredigt, aufs deutlichste bezeugt. »Ihr sollt nicht wähnen, daß ich kommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht kommen aufzulösen, sondern zu erfüllen«;28 und was damit gemeint ist, geht aus den darauffolgenden Vergleichen der alten und der neuen Lehre hervor: daß die neue gar nicht neu, sondern die alte, im a bs o lu ten Sinne gefaßt, sein will; daß sie der Tat die ihr ursprünglich zugedachte Freiheit und Weihe, die durch die karge Herrschaft des Zeremonialgesetzes geschmälert und verdunkelt worden ist, wiedergeben, die Tat aus der Enge der sinnlos gewordenen Bestimmungen zur Heiligkeit der tätigen Gottverbindung, zur Religiosität der Tat befreien und erhebenb will. Damit aber alles Mißverstehen zunichte gemacht werde, heißt es in Matth. 5 weiter: »Denn ich sage euch wahrlich: bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Tüttel vom Gesetze, bis daß es a lles gescheh e«; 29 das heißt: bis die Lehre der Unbedingtheit in aller Reinheit, mit aller Seelenmacht erfüllt wird, bis die Welt durch die absolute Tat geheiligt, vergöttlicht ist. Das Urchristentum lehrt, was die Propheten lehrten: die Unbedingtheit der Tat. Denn es war niemals einer großen Religiosität daran gelegen, w as getan wird, sondern einzig daran, ob es in menschlicher Bedingtheit oder in göttlicher Unbedingtheit getan wird. Und dieses Kapitel, die Ur-Bergpredigt, schließt mit den Worten, die in bedeutsamer Weise an ein Wort des III. Buches Mosis c variieren: »Darum sollt ihr vollkommen sein, g lei chw i e euer Vater im Himmel vollkommen ist.« 30 Sind alle diese Worte, ist vor allen dieses Wort Gleichwie d nicht ein e jü d i s ches Bekenntnis im allerinnersten Sinne? Und können wir nicht denen,f die uns neuerdings eine »Fühlungnahme« mit dem Christentum anempfehlen, antworten: Was am Christentum schöpferisch ist, ist nicht Christentum, sondern Judentum, und damit br au chen wir nicht Fühlung zu nehmen, brauchen es nur in uns zu erkennen und in

28. Mt 5, 17. 29. Mt 5, 18. 30. Mt 5, 48; spielt auf Lev 11, 44 bzw. Lev 19,2 an. a. b. c. d. e. f.

O: Individualität JuJ streicht: und erheben O abweichend: die sich programmatisch an ein Wort des III. Buches Mosis anschliessen und es »ist vor allem dieses Wort Gleichwie« nicht in O O ergänzt: durch und durch O: den guten Ratgebern

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Besitz zu nehmen, denn wir tragen es unverlierbar in uns; was aber am Christentum nicht Judentum ist, das ist unschöpferisch, b aus tausend Riten c und Dogmen d gemischt, – und damit – das sagen wir als Juden und als Menschen – wo llen wir nicht Fühlung nehmen. Freilich dürfen wir dies nur antworten, wenn wir den abergläubischen Schrecken, den wir vor der nazarenischen Bewegung hegen, überwinden und sie dahin einstellen, wohin sie gehört: in die Geistesgeschichte des Judentums. Allerdings ist diese Bewegung, die im absoluten Leben des jüdischen Volkes so Großes bedeutet, in dessen relativem Leben eine Episode geblieben, die die fortschreitende Erstarrung des Gesetzes nicht aufzuhalten vermochte. Aber der Kampf um die Tatidee ließ nicht nach; in ewig neuen Formen füllte er die Jahrtausende; er war dialektisch und innig, öffentlich und verborgen; er redete in den Lehrhäusern die Sprache des Pilpuls e und in den Wohnungen die Sprache der Frauen; er war groß in den verstoßenen Ketzern, klein in den kleinen Kühnheiten des Ghettos; und so spielte und brannte er um den gekrönten Leichnam des Gesetzes herum, bis wieder eine g ro ße f Bewegung kam, die ins Innerste der Wahrheit griff und des Volkes Innerstes bewegte: der Chassidismus. Man kann den ursprünglichen Chassidismus – der mit dem heutigen fast so wenig gemein hat wie das Urchristentum mit der Kirche – nur dann verstehen, wenn man g dessen inne wird, daß er eine Erneuerung der Tatidee ist. In der Tat offenbart sich ihm der wahre Sinn des Lebens. Es kommt hier in noch deutlicherer und tieferer Weise als im Urchristentum nicht darauf an, w as getan wird, sondern jed e Handlung, die in Weihe, das heißt: in der Intention auf das Göttliche geschieht, ist der Weg zum Herzen der Welt. Es gibt nichts an sich Böses; jede Leidenschaft kann zur Tugend, jeder Trieb »ein Wagen für Gott« werden. Nicht die Materie der Handlung, nur ihre Weihung entscheidet. Jed e Handlung ist heilig, wenn sie auf das Heil gerichtet ist. Die Seele des Täters allein bestimmt das Wesen seiner Tat. Damit erst ist die Tat in Wahrheit zum Lebenszentrum der Religiosität geworden. Und zugleich wird das Schicksal der Welt in die Hand des Täters gelegt. Durch die in ihrer Intention geheiligte Handlung werden die gefallenen göttlichen Funken, die in den Dingen und Wesen verstreuten, irrenden Seelen befreit, und indem er dies tut, wirkt der a. b. c. d. e. f. g.

O: dieser eingeschobene Satz fehlt O ergänzt: eklektisch, O: Mythen O: Kulten JuJ: Scharfsinns JuJ: nicht hervorgehoben O ergänzt: sich

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Handelnde an der Erlösung der Welt. Ja, er wirkt an der Erlösung Gottes selber, da er durch die höchste Sammlung und Spannung der Tat die verbannte Gottesherrlichkeit a für die Gnadenzeit eines unmessbaren Augenblicks ihrem Quell nähern, in ihn eintreten lassen kann. So ist der Tat hier eine Machtfülle und Erhabenheit gegeben, derengleichen, freilich in ganz andrer Art, sie nur noch in der altindischen Religiosität besitzt, wo der in der Intention Gesammelte die Götterwelt, die Brahmawelt, erzittern macht. Nun kann die freie Tat dem Gesetz gegenübertreten als das, um ein b Wort des »Urchristentums« zu gebrauchen, vollkommene Gesetz der Freiheit. Darum ist für den Chassidismus der letzte Zweck des Menschen dieser: selbst ein Gesetz, eine Thora zu werden. So wollte, wie das Urchristentum, auch der Chassidismus das Gesetz nicht aufheben, sondern erfüllen, das heißt es zugleich aus dem Bedingten ins Unbedingte heben und aus der Starrheit der Formel ins flutend Unmittelbare wandeln. c Er hat es nicht vermocht, da er aus Ursachen, die hier nicht zu erörtern sind, schon in seiner Frühzeit d zersetzt wurde und der Entartung verfiel. In dem absoluten Leben des jüdischen Volkes bedeutet er den bisher höchsten Triumph der Tatidee; in dessen relativem Leben ist auch er eine Episode geblieben. Auf ihn folgte ein Niedergang, in dem der Kampf zwischen Gesetz und Tat seinen tiefsten Stand erreichte; ich meine das ideen- und geistlose Geplänkel zwischen Orthodoxen und Reformern. Es ist wohl die bitterste Ironie unseres Schicksals, daß die Reformer in diesem Zeitalter als die Vorkämpfer der Tatidee und des prophetischen Judentums auftreten dürfen. Wir müssen, wenn wir wieder ein g ro ßes e Judentum haben wollen, dem Kampf um die Tatidee seine Größe wiedergeben. Wenn es heute wieder Menschen gibt, die den ganzen Stolz und die ganze Herrlichkeit des Judentums in ihrer Seele erleben, müssen sie danach Verlangen tragen, daß das Streben des Volksgeistes nach der Tat sich erneuere und daß ihm eine neue Gestalt nach unserem eigenen neuen Weltgefühl gegeben werde. f Die dritte Tendenz des Judentums ist die Idee der Zu ku nft . g Sie ist im Volkscharakter darin begründet, daß der Zeitsinn des Juden weit stärker entwickelt ist als sein Raumsinn: die malenden Epitheta der Bibel sprechen – im Gegensatz z. B. zu den homerischen – nicht von Form a. b. c. d. e. f. g.

JuJ: Gottesglorie O ergänzt: evangelisches, das heißt also ein jüdisches Von »das heißt« bis hier nicht in O. JuJ: schon bald nach seiner Blütezeit JuJ hat keine Hervorhebung. O ergänzt: Kein Element ist einer neuen Religiosität so wesentlich notwendig wie das der Tat. Keine Hervorhebung in JuJ.

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und Farbe, sondern von Schall und Bewegung, die adäquateste künstlerische Ausdrucksform der Juden ist die spezifische Zeitkunst, die Musik, und der Zusammenhang der Generationen ist ihm ein stärkeres Lebensprinzip als der Genuß der Gegenwart. Sein Volks- und sein Gottesbewußtsein ziehen ihre wesentliche Nahrung aus dem historischen Gedächtnis und der historischen Hoffnung, wobei die Hoffnung das eigentlich positive und aufbauende Element ist. Wie nun jede der drei Tendenzen ihre vulgäre und ihre erhabene Seite hat, wie die Einheitstendenz die kleinliche Begriffsspielerei a des Rabbinismus und die große Gottessehnsucht der Propheten erzeugt hat, wie die Tattendenz zum seelenleeren Panritualismus und zum heiligen Unbedingtheitswillen b geführt hat, so ist es auch mit der Zukunftstendenz: sie jagt den Juden einerseits in ein Getriebe von Zwecken hinein und stachelt seinen Erwerbsdrang, der freilich nicht auf das eigene Behagen, sondern auf das Glück der kommenden Generation gerichtet ist, der kommenden Generation, der hinwieder, ehe sie noch zum Bewußtsein ihrer selbst gekommen ist, schon die Aufgabe gestellt wird, für eine weitere zu sorgen, so daß alle Realität des Daseins sich in der Zukunftsfürsorge auflöst; andrerseits aber erweckt diese Tendenz im Juden den Messianismus, die Idee der absoluten Zukunft, die aller Realität der Vergangenheit und Gegenwart gegenübersteht als das wahre und vollkommene Leben. Der Messianismus ist die am tiefsten originale Idee des Judentums. Man bedenke: in der Zukunft, in der ewig urfernen, ewig urnahen Sphäre, fliehend und bleibend wie der Horizont, in dem Reich der Zukunft, in das sich sonst nur spielende, schwankende, bestandlose Träume wagen, hat der Jude sich ersonnen,c ein Haus für die Menschheit zu bauen, das Haus des wahren Lebens. Was sonst alles in den Völkern an Sehnsucht, an Hoffnung, an Wunsch sich um das Gefühl der Zukunft rankte, war alles relativ: es konnte so kommen, in naher Zeit, in ferner Zeit, es konnte auch anders kommen – man wünschte, man träumte sein Kommen, aber wer wußte es, ob es kommen würde, wer konnte wagen daran zu glauben, wenn der kalte, klare Tag zum Fenster hereinschien? Hier aber war es d etwas von Grund aus anderes; hier konnte es nicht kommen, sondern es mußte kommen, denn jeder Augenblick verbürgte es und das Blut verbürgte es und Gottes Herz verbürgte es; und das Kommen war nicht in naher Zeit, nicht in ferner Zeit, es war in der endgültigen Zeit, in der Fülle der Zeit, am Ende der Tage: in der absoluten Zukunft. Und a. b. c. d.

JuJ: Begriffskonstruktionen O: zur lauten Geschäftigkeit und zur heiligen Unbedingtheit JuJ: unterfangen JuJ: waltete

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das, was kommen sollte, das war wohl oft etwas Relatives, die Befreiung eines gepeinigten Volkes und seine Sammlung um Gottes Heiligtum, aber auf den Gipfeln war es das Absolute, die Erlösung des Menschengeistes und das Heil der Welt, und da war jenes Relative als das Mittel zu diesem Absoluten gefühlt. Hier war zum erstenmal in aller Macht das Absolute als das Z i el verkündet, als das in der Menschheit und durch sie zu verwirklichende Ziel. Und zugleich schuf der Messianismus für die beiden andern Tendenzen des Judentums, die Einheitsidee und die Tatidee, gleichsam a den Boden ihrer endgültigen und vollkommenen Verwirklichung. Aber wie um jene,b so ist auch um ihn ein unabblässiger Kampf geführt worden; und wir finden oft in derselben Zeit die erhabenste Konzeption des messianischen Ideals neben den vulgärsten Vorstellungen des dereinstigen Wohlbehagens. So mischen sich in den messianischen Bewegungen das Heiligste und das Profanste, Zukunftswille und Zügellosigkeit, Gottesliebe und lüsterne Neugier. c Auch hier widerstreben die Volkstriebe der Vergeistigung und trüben die Reinheit der Erfüllung. – Es darf nicht unerwähnt bleiben,d daß auch das Urchristentum von dem Gedanken der absoluten Zukunft, des »Endes der Tage«, der nicht geschehenen, sondern erst künftig geschehen sollenden Welterlösung, bestimmt war; auch hier entbrannte e ein Kampf, der Kampf zwischen dem messianischen Ideal und der Übertragung messianischer Vorstellungen auf die Person des Führers und Meisters. – Und noch ein bedeutsames Phänomen gibt es, das – ebenso wie in dem Bezirk der Einheitsidee die Philosophie Spinozas – zwar dem absoluten Leben des Judentums angehört, aber über dessen relatives Leben hinausragt und daher nicht in das Volksbewußtsein eingegangen ist, und das einen verweilenden Blick fordert. Ich meine den Sozialismus. Der moderne Sozialismus hat zwei psychologische Quellen: die eine ist die kritische Einsicht in die Wesenheit des Zusammenlebens von Menschen, in die Wesenheit der Gemeinschaft und Gesellschaft, die andere das Verlangen nach einem reineren, schöneren, wahrhafteren, nach einem reinen, schönen,f wahrhaften Zusammenleben, nach einer auf Liebe, gegenseitigem a. b. c.

d. e. f.

O: gewissermassen O: diese Von »So mischen« bis hier abweichend in O: Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, von diesen Einzelheiten zu berichten, wiewohl es recht merkwürdig ist, insbesondere die messianischen Bewegungen daraufhin zu betrachten, wie sich in ihnen das Heiligste und das Profanste, Zukunftswille und Zügellosigkeit, Gottesliebe und lüsterne Neugier, mischen. O: ich möchte noch erwähnen O: entbrennt Nicht in JuJ.

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Verständnis und gegenseitiger Hilfe aufgebauten Menschengemeinschaft. Die erste dieser Quellen hat, wenn auch vielleicht nicht ihren Ursprung, so doch ihre Stärke aus abendländischer Weisheit empfangen; Plato a ist der Meister, dessen Bild über dem ersten Schwellen ihrer Wasser steht. Die zweite Quelle entspringt dem Judentum und hat vom Judentum immer neuen Zufluß erhalten. Die Propheten waren die ersten, die die Botschaft ausgerufen haben; die Essäer die erste Gemeinschaft, die sie in Unbedingtheit zu leben versuchte; zu einer Zeit offenbar, zu mancher andern verdunkelt, ist das Verlangen doch niemals erloschen. Und als die Juden aus dem Ghetto in das Leben der Völker eintraten, sammelten sich b beide Quellen in ihnen zur Lehre und zum Apostolat des modernen Sozialismus. Dieser moderne Sozialismus ist eine Verkleinerung, Verengung, Verendlichung des messianischen Ideals, wenn auch von der gleichen Kraft, der Zukunftsidee, getragen und genährt. Die Zukunftsidee wird sich über ihn hinaus wieder in das Unendliche, in das Absolute heben. Wir können ihre künftige Gestalt nur ahnen, aber unsere Ahnung ist selber ein Zeichen, daß auch diese Idee des Judentums fortlebt, ein stummes, unterirdisches Leben, und auf ihren Tag wartet, auf den Tag der Erneuerung. Nun erst können wir überschauen, was die Erneuerung des Judentums bedeutet. Der große geistige Prozeß, dessen Grundlinien ich dargelegt habe, ist abgebrochen. Wenn das Judentum nicht weiter ein Scheinleben führen, wenn es zu einem wahren Leben auferstehen soll, muß sein Geist erneuert werden, muß sein Geistesprozeß von neuem anheben. Das wahre Leben des Judentums, wie jedes schaffenden Volkes wahres Leben, ist das, welches ich das absolute genannt habe; dieses einzig ist fähig, ein nicht lediglich aggressives oder defensives, sondern ein positives Volksbewußtsein, das Bewußtsein von der unsterblichen Substanz des Volkes zu schaffen. In der Gegenwart kennt das jüdische Volk nur das relative Leben;c es muß das absolute Leben, es muß das lebendige Judentum wiedergewinnen. In einer chassidischen Legende wird erzählt, wie ein abgeschiedener Geist in der Ewigkeit von Tor zu Tor und von Heer zu Heerd wandert. Plötzlich aber bleibt er stehen, er kann nicht weiter. Da sieht er einen alten a. b. c.

d.

JuJ: Platon JuJ: flossen … zusammen O fährt fort: das heißt, in eine prägnantere Sprache übertragen: es gibt heute ein jüdisches Volk, aber es gibt kein lebendiges Judentum, es gibt nur eine Erinnerung des Judentums. Das jüdische Volk muß sein absolutes Leben wiedergewinnen, das Judentum muß erneuert werden! JuJ: von Macht zu Macht

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Mann vor sich, der fragt ihn: »Warum stehst du hier?« Er antwortet: »Ich kann nicht weiter.« Darauf der Alte: »Nicht gut ist das Ding. Denn verweilst du dich hier und gehst nicht weiter und weiter, dann kannst du das Leben des Geistes verlieren und bleibst an diesem Ort wie ein stummer Stein.« Dies ist die Gefahr, die dem jüdischen Volke droht: daß es das Leben des Geistes verliere. Man tröste sich nicht darüber hinweg mit einem Hinweis auf das Aufblühen eines neujüdischen Schrifttums und auf jene andern Werte, die wir, mit einem Worte der Hoffnung mehr denn der Erfahrung, als »jüdische Renaissance« zu bezeichnen pflegen. Ich habe so oft a auf diese Anfänge hingewiesen, daß ich nicht fürchte mißverstanden zu werden, wenn ich sage, daß all dies noch keineswegs eine Erneuerung des Judentums bedeutet. Die muß in tieferen Schichten anheben, auf dem Grunde des Volksgeistes, da wo einst die großen Tendenzen des Judentums geboren wurden, wo rings um sie die Flammen des großen Geisteskampfes brannten, und wo aus der Glut die drei Gewaltigen, Jahwe, der Einheitsgott, Maschiach, 31 der Träger der Zukunft, und Jisrael, der um seine Tat ringende Mensch, in reiner Kraft, weltumfangend b hervortraten. c Der Kampf um die Erfüllung muß von neuem beginnen. Aber daran ist es nicht genug. Denn wir wissen nunmehr, was die innerste Krankheit, das abgründlichste Verhängnis des entwurzelten Judenvolkes ist: daß sein absolutes und sein relatives Leben auseinanderfallen, daß eben das, was für das absolute der Gipfel und das Ewige war, von dem relativen gar nicht oder fast gar nicht wahrgenommen wird oder ihm besten Falls eine bald vergessene Episode ist. Darum muß die Erneuerung auch dies bedeuten: daß der Kampf um die Erfüllung das ganze Volk erfasse, daß die Ideen die Wirklichkeit der Tage durchdringen, d aß d er Gei s t i ns Leben ko mme! Dann erst, wenn das Judentum sich wieder ausreckt wie eine Hand und jeden Juden bei den Haaren seines Hauptes faßt und ihn im Sturme zwischen Himmel und Erde gen Jerusalem trägt, wie einst die Hand des Herrn den Jecheskiel ben Busi, d den Priester, im Lande der Chaldäer faßte und trug, 32 dann erst wird das jüdische Volk reif sein, sich ein neues Schicksal zu erbauen, wo einst das

31. Hebr., Messias. 32. Vgl. Ez 1, 3; 3, 14. a. b. c. d.

O fährt fort: diese Anfänge moderner kultureller Betätigung gerühmt, daß O: immer reiner und absoluter Von »wo rings« bis hier nicht in JuJ. JuJ nur: Ezechiel

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alte zerbrach. Die Bausteine mögen, ja müssen schon jetzt zusammengetragen werden, aber das Haus wird erst dann errichtet werden können, wenn das Volk wieder zum Baumeister geworden ist. Und auch daran ist es nicht genug, daß die einzelnen Ideen erneuert werden, die eine oder die andere, oder auch die eine neben der anderen. Denn kein Stückwerk kann das Judentum erneuern, sondern nur ein ganzes und geeintes Werk. Und da wir dieses wissen, die wir uns aufgemacht haben, den Sinn der Zeiten und den Sinn dieser Zeit zu erkennen, da wir dieses wissen, dürfen wir es aussprechen, was a wir als den Inhalt der Erneuerung des Judentums ahnen und fühlen:b eine schöpferische Synthese der drei Ideen des Judentums nach dem Weltgefühl des kommenden Menschen. c Ich habe schon gesagt, daß diese Ideen nicht etwas Abstraktes, Starres und Fertiges sind, daß sie vielmehr natürliche Tendenzen des Volksgeistes sind, die nach immer reinerer Erscheinung, nach immer absoluterer d Form, nach immer vollkommenerer Erfüllung streben. Sie können und sie müssen eine neue Erscheinung, eine neue Form, eine neue Erfüllung finden, verschmelzend in einem neuen Weltgefühl. In einem neuen Weltgefühl. Ich meine das Weltgefühl, das in uns Heutigen, in uns Vorangehenden, Vorübergehenden zu keimen beginnt und das in den Menschen eines kommenden Geschlechtes aufblühen wird. Unser, heute noch unaussprechliches, menschliches Weltgefühl. Die Gestaltung dieses Weltgefühls e und die Erneuerung des Judentums sind zwei Seiten ei nes Vorgangs. »Denn das Heil kommt von den Juden«: 33 f die Grundtendenzen des Judentums sind die Elemente, aus denen immer wieder g ein neues Weltenwort sich aufbaut. Und so meinen und wollen unserer Seele tiefstes Menschentum und unserer Seele tiefstes Judentum dasselbe. Wie aber jene künftige Synthese beschaffen sein, wie sie h geboren werden möchte, darüber i kann kein Wort, kein Wort der Ahnung und kein 33. Joh 4, 22. a. b. c. d. e. f. g. h. i.

O: das Grosse, das JuJ nur: ahnen O ergänzt: und in Gestalt einer neuen Religiosität. JuJ: zulänglicherer O ergänzt: zur Religiosität O ergänz: das heißt: O fährt abweichend fort: eine neue Religiosität, die Religiosität eines neuen Weltgefühls für die Menschheit, sich aufbaut. Und so meinen. O: jene künftige Religiosität O ergänzt: darf,

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Wort der Vermutung gewagt werden. Wir wissen, daß es kommen wird, wir wissen nicht, wie es kommen wird. Wir können nur bereit sein. Aber bereit sein heißt nicht unbewegt warten. Bereit sein heißt sich und die andern zu dem großen Selbstbewußtsein des Judentums erziehen, zu dem Selbstbewußtsein, dem der Geistesprozeß des Judentums in seiner ganzen Größe, in der Fülle seiner Elemente, in den vielfältigen Wandlungen seiner geschichtlichen Offenbarung und in dem namenlosen Geheimnis seiner latenten Gewalten sich kundtut. Bereit sein heißt noch mehr: es heißt die großen Tendenzen des Judentums in u ns erem p ers ö nli chen Leben verwirklichen: die Tendenz der Einheit, indem wir unsere Seele zu einer Einheit bilden, auf daß sie fähig werde, Einheit zu konzipieren; die Tendenz der Tat, indem wir unsere Seele mit Unbedingtheit erfüllen, auf daß sie fähig werde, die Tat zu bewähren; die Tendenz der Zukunft, indem wir unsere Seele aus dem Getriebe der Zwecke losbinden und sie hinwenden auf das Z i el, auf daß sie fähig werde, der Zukunft zu dienen. Wir lesen in Jesaias: »Die Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet Jahwe seine Bahn!« 34 b Bereit sein heißt: bereiten.

34. Jes 40, 3. a. b.

JuJ: gesagt Übersetzung in JuJ: Stimme eines Rufers: In der Wüste bahnt den Weg des Herrn! Bereitet in der Steppe eine Straße für unseren Gott!

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Die Zukunft 1 Kultur und Religiosität sind zwei Mächte, die einander in der Geschichte der Völker ablösen. Kultur ist die Stabilisierung der Lebensimpulse und Lebensformen zwischen zwei religiösen Erschütterungen.2 Religiosität ist die Erneuerung der Lebensimpulse und Lebensformen zwischen zwei kulturellen Entwicklungen. Wenn eine Kultur zerfällt, lösen sich die Kräfte aus ihrem Zusammenhang; es entsteht jenes fruchtbare Chaos, in dem allein der Same einer werdenden Religiosität aufgehen kann. Und in dem Maße, wie sich diese Religiosität objektiviert, wie sie aus dem Stadium der Erschütterung aller Seelenkräfte in das der konstanten Form übergeht, in dem Maße bereitet sich eine neue Kultur vor. In der religiösen Erneuerung waren die Kräfte frei geworden, in der Kultur binden sie sich wieder in neuen Lebensformen, binden sich immer fester, immer zäher, bis sie schwunglos gefangen liegen in den Formen; und dann kommt wieder ein Augenblick, wo das Leben aufsteht wider das sinnlos gewordene Gesetz,a das einst der Geist ihm schuf, – wo es die Form zerbricht und den Geist zu neuer Schöpfung aus dem Chaos aufruft. Aber dieses Zerbrechen ist in der Existenz eines Volkes oder einer Völkergruppe kein bloßer Wendepunkt, an dem man zuversichtlichen Blickes in die Zukunft schauen kann; es ist vielmehr eine furchtbare Krisis, die sich oft nicht zur Erneuerung, sondern zum Tode entscheidet. Und doch gibt es nicht bloß zu einer neuen Religiosität, sondern auch zu einer neuen Kultur keinen anderen Weg als durch dieses Zerbrechen; denn von einer sterbenden zu einer jungen Kultur führt kein allmählicher Uebergang, sondern ein elementarer Umschwung, eine Aufrüttelung aller Kräfte. Und dieser Umschwung kann zunächst keinen anderen Ausdruck finden als den religiösen; ehe der in seinen Kräften erneuerte Mensch sich neue Lebensformen schafft, schafft er sich ein neues Verhältnis zum Leben selbst, einen neuen Sinn des Lebens – vielmehr, der neue Sinn des Lebens ist in der Erneuerung aller Kräfte der innerste Trieb und Kern. Und wie es sich ereignen kann, daß ein Volk mitten in der Krisis zugrunde geht, weil es nicht mehr stark genug ist, um dem Chaos standzuhalten, um es mit dem Geiste zu 1. 2. a.

[dem Text vorangestellt:] Dieser Aufsatz ist dem kürzlich hier besprochenen IV. Bande des von S. Hurwitz in Berlin herausgegebenen hebräischen Sammelbuches »He’atid« entnommen. Zu Bubers Abrücken vom Begriff »Kultur« siehe den Beitrag »Kulturarbeit« von 1917, in diesem Band S. 276-278. Im ED sind hier zwei Zeilen vertauscht.

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überwinden, so kann es sich ereignen, daß ein Volk auch noch dann zugrunde geht, wenn es nicht mehr im Chaos, sondern schon in der religiösen Erneuerung steht; es kann sich ereignen, daß es mit dem letzten Laute des neuen Weltenwortes auf den Lippen stirbt. Das geschieht dann, wenn das Volk noch innere Gewalt, aber keine innere Sicherheit mehr hat; es kann noch schaffen, aber es kann nicht mehr halten – es sammelt sich und gibt sich aus in seiner letzten Schöpfung. Gewalt des stürmenden Geistes, den Brand zu erregen; Sicherheit der aufbauenden Seele, sich in dem Läuterfeuer des Brandes zu erhalten; das sind die Mächte, die ein Volk zu verjüngtem Leben geleiten. Damit ist im Grunde alles gesagt, was ich zur Frage nach der Zukunft des Judentums zu sagen habe. Unsere Galuthkultur ist zerfallen, weil ihre Lebensformen zerfallen sind. Alle Versuche, an sie anzuknüpfen, müssen scheitern; das sind mit größerem oder geringerem Geschick unternommene Galvanisierungsexperimente, nichts weiter. Wir leben im Chaos. Aber wir fühlen, daß wir noch nicht zu sterben brauchen, daß wir noch nicht sterben können, weil unser Geist noch die Gewalt zu neuer Schöpfung hat. Diese Schöpfung kann nur das einzige sein, was allezeit aus der Auflösung einer Kultur hervorging, wenn die Gewalt noch lebendig war: religiöse Erneuerung. Ich habe bereits einmal 3 gesagt, daß deren Mutterboden nur »die ungeheure Zerrissenheit, die schrankenlose Verzweiflung, die unendliche Sehnsucht, das pathetische Chaos vieler heutigen Juden« sein kann. Jetzt und hier: in diesem fiebernden Land, in dieser schreienden Stunde wird das Heilige geboren. Und wer über eine neue Religiosität hinaus in eine neue Kultur schauen will: brauche ich ihm noch zu sagen, daß wir wohl noch innere Gewalt, aber keine innere Sicherheit mehr besitzen? Dem jüdischen Volke, das wir kennen, ist sie auf ewig verloren. Gebt ihm alle äußere Sicherheit – die innere, die aufbauende, formgebende Sicherheit der Seele wird es nicht wiedergewinnen können. Die kann nur ein neues Volk im Wachstum vieler Geschlechter aus starker Erde mit starken Wurzeln saugen. Ein neues Volk; neue Völker entstehen nicht bloß aus der Vermischung mit einem andern Stamm, sie können auch aus der Vermählung mit einer anderen Erde hervorgehen. Und kann diese Vermählung nicht eine – Wiederkehr a sein? In unseren Tagen gehen junge Menschen unseres Blutes zu der anderen: zu ihrer eigenen Erde; es wird eine Zeit kommen, da dort ein neues Volk geboren sein wird, blutsverwandt mit diesem hier, das wir das jüdi3.

[Anmerkung in Selbstwehr:] »Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M. 1911, Seite 70. [In diesem Band, S. 242.]

a.

JBI: Wiedervermählung

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Die Zukunft

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sche nennen, dennoch von ihm durch einen Abgrund getrennt: durch den Abgrund zwischen innerer Sicherheit und innerer Unsicherheit. Aber wenn dort nicht bloß Leben, sondern auch Kultur wachsen soll, wird über den Abgrund ein Funke springen müssen: der Funke der religiösen Erneuerung. Es ist ein tiefes Symbol des Judentums, daß das Kommen des Messias vo r die Erlösung des Volkes gestellt wurde. Und es wird vielleicht geschehen, daß hier ein Volk sterben wird, mit dem letzten Laute des neuen Weltenwortes auf den Lippen, hinsterben in die Menschheit; und daß dort ein Volk leben wird, die neue Religiosität einschränkend und einformend zur Kultur.

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Das Gestaltende Nach einer Ansprache (1912) 1 Wer von Ihnen in Florenz gewesen ist, der hat gewiß, wenn es in früheren Jahren war, in einer künstlichen Grotte des Boboligartens, wenn es in der jüngsten Zeit war, in der Akademie jene vier Torsi des Michelangelo gesehen, in denen in denkwürdiger Art die Form in die Materie versenkt ist. Man fühlt, wie die Idee des Meisters den Block nicht zu bewältigen vermochte, aber man fühlt auch, daß dies nicht eine Unzulänglichkeit des Künstlertums ist, sondern daß hier ein fundamentaler Gegensatz, ein unausgeglichener und unausgleichbarer Widerstreit waltet, daß diese Bildwerke Urkunden eines Kampfes sind: des Kampfes zwischen dem gestaltenden und dem gestaltlosen Prinzip, zwischen dem Prinzip, das Form geben, und dem, das sich nicht formen lassen will. Und das ist ein Kampf nicht allein in der Seele dieses großen Künstlers, sondern wir nehmen hier in Stein gehauen etwas wahr, was als ein ewiger Prozeß durch die Geschichte des Geistes geht. Aus dem Gegensatz dieser zwei Prinzipien, des Gestaltenden und des Widerstrebenden, hat sich allezeit wieder und wieder das Leben des Geistes geboren. Mitten durch ihre Kriege führt der Weg des Geistes in der Menschheit. 2 Ich bitte Sie aber, dies nicht so aufzufassen, als ob, um die Terminologie eines bedeutenden Zeit- und Stammesgenossen, Constantin Brunners,3 zu gebrauchen, unter dem einen Prinzip die »Geistigen«, unter dem anderen das »Volk« zu verstehen wäre. Ich halte diese Terminologie und den dialektischen Radikalismus, der sie geschaffen hat, für einen Irrtum. Ich glaube nicht, daß es solche durch eine größere oder geringere Kluft voneinander gesonderte Menschenklassen gebe, die absolut verschiedene Denkformen oder Denkinhalte hätten. Der Gegensatz, von dem ich spreche, ist denn auch in seinem letzten Grunde für mich kein zwischenmenschlicher, sondern ein Gegensatz in jeder einzelnen Menschenseele, und der große Kampf, der sich in der Geschichte vollzieht, ist nur die Projektion eines sich in der Person vollziehenden in das Leben der Ge1. 2. 3.

[Anmerkung Buber unter der Überschrift:] Das Stenogramm, das der Niederschrift dieser (nach einem Vortrag Gustav Landauers in Berlin gesprochenen) Worte zugrunde liegt, verdanke ich der Freundlichkeit Hugo Bergmanns. Zur Interpretation des unvollendeten Kunstwerkes in der Renaissance vgl. A. Biemanns Aesthetic Education in Martin Buber: Jewish Renaissance and the Artist, bes. S. 16 mit Anm. 88. Zum Verhältnis zwischen Buber und Constantin Brunner siehe M. Treml, MBW 1, Einleitung S. 55-59.

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meinschaft. In jedem einzelnen Menschen leben und wirken beide Prinzipien: das Gestaltlose und das Gestaltende, die ungeschiedene Materie, die dem schöpferischen Akt unterworfen ist, und der Archeus, der sie zum geistigen Leben zu bilden strebt und dem das Werk doch nie völlig gelingt. Es ist die Not und Notwendigkeit des Einzelnen, das Erlebnis der Grenze, des Unformbaren, des unbewältigten Seelenblocks zu erfahren; aber es ist seine Möglichkeit und sein Aufschwung, die Macht der Formung zu erleben, die dennoch täglich neues Land zu erobern und die Grenzpfähle weiter zu stecken vermag. Die, in und an denen die bildnerische Kraft sich solchermaßen offenbart, die wahrhaft Gestalteten sind die Gestaltenden in der Menschheit. In denen aber die träge Materie obsiegt, die sind das ewige Heer des Widerstrebens. Es ist jedoch so in der Gemeinschaft der Menschen, daß das Geformte nicht reine Gestalt bleibt: daß das Gestaltlose immer wieder in dessen Bereich einbricht und die Form zersetzt. Was einst als ein Sieg des Gestaltenden über das Gestaltlose geschaffen worden ist, das Gemeinschaftsgebilde, die Norm und Ordnung, die Institution, alle die Schöpfung des Geistes ist allzeit ausgeliefert dem entstellenden Einfluß des Gestaltlosen und wird darunter starr und taub und sinnlos, und will doch nicht sterben, sondern bleibt in ihrer Erstarrung und Betäubung und Sinnlosigkeit bestehen, denn sie wird von der Macht des widerstrebenden Prinzips am Leben erhalten. Deshalb ist Gestalten Umgestalten, und deshalb ist der formende Kampf ein Prozeß, der ewig von neuem beginnt. Der Gestaltende führt seinen Krieg nicht allein gegen das Gestaltlose, sondern auch gegen dessen ungeheuren Bundesgenossen, gegen das Reich der verwesenden Gestalt. So ist es denn selbstverständlich und doch ein immer neues Ereignis, daß die Gestaltenden im empirischen Verlauf des Lebens besiegt werden. Es kann nicht anders sein, als daß das Gestaltlose, »der große Krumme«, über den Geist im Empirischen siegt. Es kann nicht anders sein, als daß das, was geschaffen wird, wie jene Torsi des Michelangelo ist: Zeugnis des Unbewältigten. Aber wie in den Torsi ist die Niederlage des Geistes nur Schein, die Wahrheit ist sein Sieg. Und in Wahrheit sind, die zusammenbrechen, die verketzert und gesteinigt werden, die ewigen Sieger des Geistes über das Chaos – über das doppelte: das nackte und das in verwesende Form gekleidete Chaos. In Wahrheit sind sie es, die das Gesetz des inneren Geschehens in die steinernen Tafeln graben. Das Judentum ist ein seltsamer, seltsam vorbestimmter Sonderfall dieses ewigen Prozesses. Es ist, als ob diese kleine Gemeinschaft wie ein Beispiel, wie ein Paradigma vor die Menschheit hingestellt wäre: weil in ihr der Vorgang, von dem ich spreche, sich reiner, stärker, deutlicher vollzieht

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als in irgendeiner anderen Menschengruppe. Es ist, namentlich im letzten Jahrzehnt, oft versucht worden, darzulegen, was das unterscheidende Grundmerkmal, das »Wesen« des Judentums sei. Dieses Wesen wird niemals in einer rein qualitativen Bestimmung gefunden werden können. Was dem Judentum zutiefst zu eigen ist, beruht darauf, daß jene Zweiheit, jene Polarität, die in jeder Menschenseele lebt und die sich, wie ich gezeigt habe, in der Menschheit entfaltet, nirgendwo anders so mächtig und so wirksam besteht wie im Judentum. Im Einzelnen und im Volke; im Volke, weil im Einzelnen. In keinem anderen Menschen ereignen sich so leidenschaftliche, so schicksalvolle und schicksalbestimmende Kämpfe und Entscheidungen wie im Juden. Und in keiner anderen Gemeinschaft gibt es sich wie in der jüdischen kund, daß die Menschen, die sich in sich entschieden, die sich in sich gestaltet haben, die Aufgabe erkennen und auf sich nehmen, das Volk zu gestalten. Denn wie im einzelnen Juden, so ist im Judentum, sichtbarer als sonstwo in der Welt, ein Kampf zwischen dem Gestaltenden und dem Gestaltlosen. Die Geschichte des Judentums und die Geschichte der großen Juden ist in ihrem Kern nichts anderes als eine Darstellung dieses urmenschlichen, allmenschlichen, hier aber besonders verdichteten und verdeutlichten Prozesses. Ewig wiederholt sich das Los der Gestaltenden, der Sieg in der Niederlage; ewig wiederholt sich ihr Schicksal und ihre Bestimmung. Die zentralen Menschen, die in der Wirklichkeit und in dem Mythos der jüdischen Geschichte stehen, sind Träger und Verkünder dieses einen großen Vorgangs. So baut sich das führende Leben Moses auf dem gewaltigen Rhythmus einer zwiefältigen Bewegung auf: der Versuche des abgesandten Mannes, aus einer trägen Masse gewohnter Knechte ein freies und einiges Volk zu schaffen, und des unablässigen Anstemmens und Anrennens dieser Masse gegen die formende Idee. Das Wort, das Datan und Abiram dem Mose als Botschaft zuschicken, als er sie vor sich fordert – Lo naale! Wir wollen nicht hinaufgehen!4 – ist das Urwort dieses Schicksals und dieser Tat. Denn mitten in all diesen Niederlagen, mitten in seinem Leiden und Erliegen siegt Mose seine großen Siege, und sein Tod, der ein Sinnbild all seines Nichtvollbringens ist, der Tod im Angesicht des Landes, ist zugleich ein Sinnbild dieses Sieges in der Niederlage, des äußeren Zusammenbrechens, des inneren Überwältigens. Und ein gleiches ist Los und Werk der Propheten. Unter diesen Männern, die aufstanden, um das von seinen unbewältigten Trieben auseinandergezerrte, der Gestaltung widerstrebende Judentum zur Einheit im Dienst des Geistes zu erziehen und zusammenzuzwingen, hat nur einer eine Lebens4.

Num 16, 12-14.

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geschichte, alle anderen haben ihre Worte allein hinterlassen. Ein einziger, Jeremija, erzählt sein Leben, und dieses Leben spricht noch stärker vielleicht als das Moses die Wahrheit aus, daß der Kampf um die Gestalt nirgends so groß und so tragisch war wie im Judentum. Lesen Sie diese Lebensgeschichte, lesen Sie, wie der Mann Jeremija gegen die Machthaber und gegen das Volk streitet, weil beide, Machthaber und Volk, seiner Forderung widerstreben, lesen Sie, wie er geschlagen, in den Stock gelegt, in die Grube geworfen wird – »in die Grube, da nicht Wasser, sondern Schlamm war, und Jeremija sank in den Schlamm« 5 – lesen Sie, wie die Leute von Anatot, seines Geburtsortes, zu ihm kommen und ihm sagen: »Weissage nicht im Namen Jahwes, wenn du nicht willst, daß du unter unseren Händen sterbest.«6 Und noch ein drittes Beispiel will ich anführen, das Beispiel nicht einer Lebensgeschichte, sondern eines Mythos; aber wenn die Lebensgeschichte die Wirklichkeit eines Einzelnen ist, so ist der Mythos die Wirklichkeit eines Volkes, denn in ihm wird die innerliche Struktur des Volkswesens, das Geheimnis der Seele und der Bestimmung eines Volkes wirklich und offenbar, und so ist er, von der großen Historie aus gesehen, realer als irgend etwas, was man historisch nennt. Solch einen Mythos, in dem das Vergangene zusammenschoß und das Künftige keimte, hat das jüdische Volk für das Ohr Gottes und das der Menschen gedichtet im 52. und 53. jesajanischen Kapitel, in dem Kapitel vom Knechte Jahwes, der nicht mehr durch äußeres Tun, sondern durch die unsichtbare und wirkende Gewalt seines Lebens, dadurch, daß »seine Seele arbeitet«, das Gestaltlose, das Reich der »Sünde«, zum Reiche Gottes gestaltet; er wird geschlagen und gemartert, er wird »von dem Lande des Lebendigen abgeschnitten«, aber er siegt in der Wahrheit, denn »die Sache Jahwes gerät durch seine Hand«. 7 Alle die Menschen der jüdischen Geschichte und des jüdischen Mythos, von denen ich spreche, wollen gestalten, und sie wollen vor allem i hr Volk gestalten. Denn sie alle, die die Urkraft des Volkes entsendete, ihre Hand und ihr Mund zu werden, suchten ihre Aufgabe in keiner Ferne des Allgemeinen, sondern da, wo sie ihnen unmittelbar gegeben war, ihnen gegeben war durch das unabweisbar eindringliche Phänomen der Entzweiung im Juden und im Judentum und durch die Größe des dem Juden eingeborenen Strebens nach Einheit, welches das Streben nach Gestalt ist. Sie wollen ihr Volk gestalten, und eben dadurch gestalten sie die Menschheit. Denn der Jude ist ja nicht ein Wesen besonderer Art, und 5. 6. 7.

Jer 38,6. Jer 11, 21. Jes 53, 10.

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das, was ich von ihm gesagt habe, ist nicht eine besondere qualitative Bestimmung, sondern es ist so, daß dieser urmenschliche und allmenschliche Vorgang, daß das Geheimnis und Urgeschick der Dualität hier, im Judentum, stärker, reiner, fordernder als in irgendeiner andern Gemeinschaft hervortritt, daß die Aufgabe der Überwindung hier die größte ist, – daß aber eben deshalb durch ihre Erfüllung Vorbildliches, Lenkendes für die Menschheit geschieht. So ist denn auch im jüdischen Messianismus, im Glauben an das kommende Reifen der Welt zu göttlicher Gestalt, beides eins geworden: das vom Geiste gestaltete Volk und die vom Geiste gestaltete Menschheit sind eins, die Sache des Judentums und die Sache des Menschentums sind eins. Es ist die Sache der Gestaltung; es ist die Sache des Geistes, der sich der Wirklichkeit der Menschengemeinschaft aufprägen will; es ist die Sache Jahwes, der sein Bild im Erdenkloß ausformte. Ich habe von den Menschen der jüdischen Vorzeit gesprochen; der Zeit, in der aus der Gewalt des Gegensatzes, aus dem Kampf der beiden Prinzipien die Fruchtbarkeit, die Schöpfung des Volkes gedieh und das Volk in den Gewittern der Niederlagen und Siege seine Fesselung und seine Lösung erlebte. Aber es ist nicht so geblieben. Und wenn wir zwischen einer Epoche der jüdischen Antike und einer Epoche nicht des jüdischen Mittelalters – der Begriff wäre unrechtmäßig –, wohl aber der spezifisch jüdischen Epoche eines »Golus« zu scheiden berechtigt sind, so sind wir es vor allem deshalb, weil das Golus dem Judentum eine tiefe soziale Erkrankung gebracht hat. Denn jener Gegensatz und Widerstreit des Gestaltenden und des Gestaltlosen, das war, so furchtbar sie sich auch zuzeiten darstellen mochte, die Gesu nd hei t des Judentums. Seine Krankheit im Golus, das ist die Ohnmacht und die Entfremdung der Gestaltenden. Es geschah, daß jener ewige Prozeß im Judentum nicht mehr zum Austrag kommen konnte, weil mit einer unerhörten Kraft sich ereignete, wovon ich vorher gesprochen habe: das Gestaltlose in den Bereich des Geformten einbrach und die Form zersetzte, das Gemeinschaftsgebilde seinem entstellenden Einfluß ausgeliefert und darunter starr und taub und sinnlos wurde, und das Reich des gestaltenden Geistes verdrängt wurde von dem Reich der verwesenden Gestalt. So blieb die ewige Aufgabe im Judentum jahrhunderte-, jahrtausendelang ertötet. Wohl gab es noch die Art von Menschen im Judentum, die ich die Gestaltenden genannt habe, aber sie waren verurteilt, entweder zu einem unterirdischen oder zu einem außerjüdischen Leben. Die einen verzehrten sich in krampfhaften und verflackernden Versuchen, ihre natürliche Funktion im Volke wiederzuerlangen, ohnmächtigen Fortsetzungen jener großen Kämpfe der Vorzeit; die anderen wurden dem Judentum entfremdet und

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entsagten ihm, um Raum für ihr Werk zu gewinnen. All diese Ohnmacht und Entfremdung der Gestaltenden aber deutet darauf hin, was das Gepräge des Golus ist: d a s Ges t alt lo s e w i rd Her r i n Is r ael. Denn jenes Judentum, das wir als das herrschende, das offizielle kennen, das ist in Wahrheit das Reich der verwesenden Gestalt. Und das Schicksal des Judentums kann sich nicht wenden, ehe der Widerstreit in seiner alten Reinheit aufersteht, ehe von neuem der fruchtbare Kampf zwischen dem Gestaltenden und dem Gestaltlosen beginnt. Was uns in der Zeit der Erniedrigung und des Widersinns, in der wir leben, mit Kraft und Zuversicht ausstattet, ist die Ahnung, daß sie doch zugleich auch der Beginn einer dritten Epoche ist, in der die Gestaltenden wiederkehren.

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Der Wägende 1 Vom Apter Rabbi 2 sagte man, er habe eine goldene Wage im Mund. Ich sage es von Achad Haam. Er wägt Idee und Wirklichkeit gegeneinander, getreulich, unbestechlich, und meldet das zuverlässige Ergebnis. Wahrlich, dieser Mann lebt in seiner Wahrheit. In der doppelten Wahrheit: in der dauernden Wahrheit seiner Idee und in der wechselnden Wahrheit seiner jeweiligen Beobachtungen (z. B. der »Wahrheit aus Palästina«) 3 – in der synthetischen und in der kritischen. Die eine hält er fest (sie hat sich kaum gewandelt, sie ist was sie am ersten Tag war), die andere erforscht er Mal um Mal; und wägt die beiden gegeneinander, Wahrheit gegen Wahrheit. Er verwirft das Unzulängliche Mal um Mal, und er verwirft es nicht wie ein Unzufriedener, sondern wie eine goldene Wage. Sein Spruch ist so genau, daß man zuweilen eins vergißt, was man nicht vergessen sollte: dieses Wägen ist ein großes Leiden. Man lese seine Briefe an die Logen des Bundes Bne Mosche, jenes »mißglückten Versuchs« 4 : wie er aufruft und enttäuscht wird, wieder aufruft und wieder enttäuscht wird, und seine Enttäuschung jeweils ausspricht nicht wie ein beteiligter Mensch, sondern wie ein Abgesandter des Schicksals. Legen wir unser Ohr an das Herz dieser Rede: mitten aus ihrem Gleichmaß wird uns das tragische Geheimnis entgegenpochen. Das tragische Geheimnis unserer Gegenwart. Verliert euch nicht daran! Wenn ihr euch daran verliert, wird es euch lähmen. Aber überhört es auch nicht! Wenn ihr es überhört, werdet ihr taumeln und stürzen im Rausche eurer »Tat«. Nichts Menschliches ist so groß wie die Tat; sie allein legt die Unendlichkeit in unsere lebenden Hände. Aber nichts ist so erbärmlich wie der 1. 2. 3.

4.

[Widmung Bubers über dem Text:] Uscher Ginzberg / In der Welt des Geistes Achad Ha am d. i. »Einer Aus dem Volke« genannt / dem führenden Denker des neuen Hebraismus / zum sechzigsten Geburtstag D. i. Rabbi Avraham Jehoshua Heschel. »Die Wahrheit aus Palästina«, Titel von Achad Haams berühmten Aufsatz, in dem er nach der Rückkehr von einer Informationsreise durch Palästina 1891 seine sehr grundsätzliche Kritik an der planlosen jüdischen Kolonisationsarbeit in Palästina formulierte, übersetzt in Am Scheidewege, Bd. 1, 1923, S. 84-112. Anspielung auf den Aufsatz »Nissajon sche lo hitsliach«, (hebr., ein mißglückter Versuch) der nicht ins Deutsche übersetzt ist. Er bietet eine Analyse des Scheiterns des Geheimbundes Bne Moshe, dem Achad Haam lange Zeit vorstand, vgl. Anm. 7, in diesem Band, S. 157.

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Der Wägende

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Wahn zu tun, wie die Geste des Täters ohne die Tat, wie die Phraseologie des Getues. Ja, die Trägheit ist unser erster Widersacher. Aber der zweite ist die Geschäftigkeit. Tatbegeisterte Reden, tatbegeisterte Niederschriften füllen schwungvoll die Tage, man schläft befriedigt ein und wacht freudig auf, und so fort, – bis es vorbei ist. Der wahrhaft Tuende und der wahrhaft Wägende – beide leben in der Tragödie. Aber der Geschäftige lebt in der Posse. Freilich: daß es all die Possenreißer gibt, das geht in des Tuenden mehr unbewußte, in des Wägenden mehr bewußte Tragik ein. Die Trägen und die Geschäftigen, an ihnen zerbricht das Schwert des Täters, ihretwegen verblutet heimlich das Herz der goldenen Wage. Ihr wenigen Hellsichtigen in dieser zwielichtigen Stunde! Zu euch rede ich: Nach Männern der Tat verlangt ihr, und tut recht daran. Aber nicht weniger als ihrer bedürfen wir deren, die uns warnen vor dem Schein der Tat, vor dem Geschwätz der Tat, vor der Karrikatur der Tat; die gegeneinander wägen die Tat und das Getue, getreulich, unbestechlich, und melden das zuverlässige Ergebnis. Ihre Treue, ihr Leid, ihr Dienst sei gesegnet! Und unter ihnen er, dem mein Geist gegensätzlich und entgegen ist in der Art der Erkenntnis, in der Betrachtung des Weltsinns, in der Auffassung der Menschengeschichte, in der Lehre vom Wesen und vom Werke Israels – er, dem ich über allen Gegensatz hinweg mit der Ehrfurcht meiner Seele zugetan bin – der Unbeugsame an der Wacht, der rechtmäßig Wägende – um seiner Treue, um seines Leids, um seines Dienstes willen sei er gesegnet!

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Renaissance und Bewegung 1 I. (1903) Um das Phänomen der jüdischen Renaissance zu begreifen, muß man es als Ganzes erfassen, es bis in seinen Ursprung zurückverfolgen, in jene Zeit in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, da in das erstarrte Dasein des Judentums von innen und von außen zugleich in zwei mächtigen Strömen – Chassidismus und Haskala – ein neues, unerhörtes und ungeahntes Leben eindrang. Bis um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war die Kraft des Judentums nicht bloß von außen niedergehalten, von Angst und Qual, von Lebensenge und Lebensnot, nicht bloß von der Knechtung durch die »Wirtsvölker«, sondern auch von innen, von der Zwingherrschaft des »Gesetzes«, d. h. einer mißverstandenen, verschnörkelten, verzerrten religiösen Tradition, von dem Bann eines harten, unbewegten, wirklichkeitsfremden Sollens, der alles triebhaft Helle und Freudige, alles Schönheitsdurstige und Beflügelte verketzerte und vernichtete, das Gefühl verrenkte und den Gedanken in Fesseln schlug. Und das Gesetz erlangte eine Macht, wie sie in keinem Volke und zu keiner Zeit ein Gesetz besaß. Die Erziehung der Generationen geschah ausschließlich im Dienste des Gesetzes. Es gab kein persönliches, gefühlgeborenes Handeln: nur das Handeln nach dem Gesetze konnte bestehen. Es gab kein selbständiges, schöpferisches Denken: nur dem Grübeln über die Bücher des Gesetzes und die Hunderte von Büchern der Deutung des Gesetzes und die Tausende von Büchern der Deutung jener Deutungsbücher war die Mitteilung gewährt. Gewiß, es gab immer und immer wieder Ketzer; aber was konnte der Ketzer wider das Gesetz? Dogmen, die zu glauben sind, können von Ketzern erschüttert werden, die die Vernunft wider den Glauben anrufen. Aber ein Lebensgesetz, das das Tun bestimmt, kann nur durch die Entwicklung der Menschen zur Selbstbestimmung aufgehoben oder durch die Entwicklung der Menschen zu einem höheren Lebensgesetz überwunden werden. Hier geschah endlich beides. Jahrhundertelang wird es wohl gleichsam unterirdisch gerungen haben und jene täglich von neuem auftauchenden und täglich von neuem erstickten Ketzereien waren doch 1.

[Anmerkung Buber:] Ich habe hier zwei Stücke aus verschiedenen Zeiten zusammengefügt, weil das zweite das erste in einem wesentlichen Punkte ergänzt. [Siehe dazu den Kommentar in diesem Band, S. 428.]

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wohl Kundgebungen dieses das Gesetz unterminierenden Ringens. Dann aber gab es sich in einem doppelten Ansturm gegen die Weltanschauung und Doktrin des Gesetzes, gegen den Rabbinismus, die jüdische Scholastik, kund. Zuerst gelangte zum Ausdruck die Entwicklung zu einem höheren Lebensgesetze: in dem Chassidismus, der neujüdischen Mystik, der Befreiung des Gefühls; dann die Entwicklung zur Selbstbestimmung: in der Haskala, der neujüdischen Aufklärung, der Befreiung des Gedankens. Beide führten zu geistigen und leiblichen Kämpfen, die oft von einer ergreifenden Tragik erfüllt waren, zuweilen ins Groteske ausarteten. Beide führten, ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, die jüdische Renaissance herbei. Chassid bedeutet: der Fromme, und Chassidismus wäre somit fast mit Pietismus zu übertragen. Das wäre falsch, wenn man dieses Wort in seinem gewöhnlichen Sinne nimmt. Die chassidische Lebensanschauung entbehrt aller Sentimentalität; es ist eine ebenso kräftige wie gemütstiefe Mystik, die das Jenseits durchaus ins Diesseits herübernimmt und dieses von jenem gestaltet werden läßt wie den Körper von der Seele: eine durchaus ursprüngliche, volkstümliche und lebenswarme Erneuerung des Neoplatonismus, eine zugleich höchst gotterfüllte und höchst realistische Anleitung zur Ekstase. Es ist die Lehre von dem tätigen Gefühl als dem Band zwischen Mensch und Gott. Das Schaffen währt ewig; die Schöpfung dauert heute und immerdar fort, und der Mensch nimmt an der Schöpfung teil in Macht und Liebe. Alles, was reinen Herzens geschieht, ist Gottesdienst. Das Ziel des Gesetzes ist, daß der Mensch selbst ein Gesetz werde. Damit ist die Zwingherrschaft gebrochen. Aber die Stifter des Chassidismus waren keine Verneiner. Sie negierten die alten Formen nicht, sie taten in sie einen neuen Sinn, und damit befreiten sie sie. Der Chassidismus, oder vielmehr die tiefe Seelenströmung, die ihn erzeugte und trug, schuf den im Gefühl regenerierten Juden. Einen anderen Weg ging die Haskala, die natürlich gegen den Chassidismus ebensowohl ankämpfte wie gegen den Rabbinismus, weil sie beide auf »Glauben« und nicht auf »Wissen« beruhten. Die Haskala tritt im Namen des Wissens, der Zivilisation und Europas auf. Sie will aufklären und ist ebenso oberflächlich wie alle Aufklärung, insofern sie von der Erkenntnis als von einem sicheren und unproblematischen Ding ausgehen zu dürfen glaubt; sie will popularisieren und ist ebenso geistlos wie alle Populärphilosophie, die wie ein rechter Parasit von dem Blute anderer lebt. Was sie vor den meisten voraus hat, ist zunächst ihr Feind, die starrste und gefestigteste aller Orthodoxien, dann ihr frisches junges Losgehen, und daß sie in jedem Augenblick durchdrungen war von dem Gefühl eines heiligen Krieges um die Selbstbestimmung, um das Be-

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stimmtwerden des Handelns nicht durch die Tradition, sondern durch eigenes Denken. Aber auch positiv jüdische, zukunftsvolle Elemente trug sie in sich, so sehr sie auch glaubte, alle Überlieferung aufzuheben. Sie wollte die Juden europäisieren, aber sie dachte nicht daran, sie zu entnationalisieren. Sie widmete der Sprache der Bibel einen intensiven Kultus. Sie machte das erstarrte und der Wirklichkeit entfremdete Hebräisch zum Werkzeug eines lebendigen Kampfes und so bereicherte und kräftigte sie es. Und was für die Sprache getan ist, ist für das Denken getan. So diente die Haskala auch mittelbar der gedanklichen Regeneration des jüdischen Volkes. Aus den inneren Umwälzungen, deren Äußerung und Werkzeug zugleich Chassidismus und Haskala waren, wurde die jüdische Renaissance geboren. Es ist beachtenswert, daß hier dieselben Elemente einander bekämpfend zusammenwirkten wie in der großen Zeit des Trecento und Quattrocento: das mystisch-gefühlsmäßige, das dort als Gottesweisheit auftrat, und das sprachlich-ideelle, das dort Humanismus hieß, und daß wie dort beide Geistesbewegungen nicht etwas Neues, sondern nur Erneuerung versunkener Größe sein wollen: die Anknüpfung an die klassische Zeit des Judentums ist Chassidismus und Haskala gleich eigen; den Inhalt des altjüdischen Geisteslebens, das große Gottgefühl, nimmt der Chassidismus, dessen Sprachform die Haskala auf; jener hat die jüdische Uridee, dieser den Hebraismus erneuert. Erneuert: nicht wiederholt. Die jüdische Renaissance ist, wie ihre größere Namensschwester, mehr als eine Neuknüpfung zerrissener Fäden. Auch sie bedeutet – dies sei noch einmal hervorgehoben – nicht eine Rückkehr, sondern eine Wiedergeburt des ganzen Menschen: eine Wiedergeburt, die sich sehr langsam, sehr allmählich von den Tagen der Haskala und des Chassidismus an bis in unsere Zeit vollzieht und weiter vollziehen wird. Langsam und allmählich entsteht ein neuer Judentypus. Der Jude der Gesetzesära war ein passiver Held. Er ertrug alle Stadien des Martyriums ohne Schrei und ohne Stolz, mit stummen Lippen und stummem Herzen, regungslos. Sein einziger Widerstand war seine Verschlossenheit und nichts konnte diesen Widerstand brechen. Aber die Passivität hatte nicht nur Größe, sondern auch Elend und Erbärmlichkeit. Der Jude kämpfte nicht bloß, er handelte und dachte auch passiv. Ein einziger, Spinoza, hatte der natura naturans 2 genug in sich, um schaffend und ruhevoll aus dem Ghetto in den Kosmos zu treten und Fuß zu fassen im Unendlichen wie keiner vor ihm; aber wieviel der köstlichsten 2.

Lat., die Natur, die (als lebendige Einheit) schöpferisch natürliche Einzeldinge hervorbringt.

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Endlichkeit mußte er aufgeben, wieviel des unersetzlichsten Gefühlszusammenhangs mit seines Blutes gewesenen und kommenden Geschlechtern, welch neues und unsägliches Martyrium mußte er auf sich nehmen und hinübernehmen in seine große Ruhe; welches kaum geahnte Rätsel einer ungeheuren Verschlossenheit hat uns dieser befreite Jude der Gesetzesära hinterlassen! Der neue Jude, der Jude der Befreiungsära, wandelte in den Wegen Spinozas, ohne Genie, aber mit einem dämonischen Wagemut. Er war nicht mehr passiv, sondern freitätig; er handelte nicht mehr nach dem Gesetze, sondern nach eigenem Denken und Gefühl; und er strebte nach dem Schöpferischen. Das Schöpferische blieb ihm lange versagt und hat sich ihm in seinen letzten Geheimnissen – Selbstentladung, Selbstläuterung, Selbsterlösung – auch heute noch nicht geschenkt. Aber auch die ruhige Betätigung war ihm zunächst nicht gewährt. Der befreite Geist stürmte ins Uferlose, statt im Gegebenen zu wirken oder Neues zu geben. Der unersetzliche Zusammenhang wurde geopfert und nichts Größeres gewonnen. Die Wiedergeburt des Juden setzt mit einer tragischen Episode ein, die noch heute nicht zu Ende ist und die nicht einmal die Bedeutung einer Befreiung der Rasse von unedlen Elementen hatte: denn auch manche der Besten konnten ihr nicht standhalten; ja gerade diese waren es, die der Wagemut am wildesten durchglühte und am weitesten fortriß. Immerhin erlangten einzelne originale Naturen am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts einen eigentümlichen Kosmopolitismus, ein Zuhausesein im Kosmos; aber dieser konnte in seiner Schönheit nur so lange bestehen, als der Geist dieser Menschen sich die Freiheit erobern mußte und dadurch eine faszinierende Leuchtkraft gewann. Als die »Geistesfreiheit« aber für den Juden ein fertiges Gut geworden war, das man nur zu übernehmen brauchte, artete auch dieser Kosmopolitismus in Assimilation aus. Die europäische Zivilisation war von außen über die Juden zu rasch und zu unvermittelt hereingebrochen, als daß die Haskala sie hätte in Ruhe verarbeiten können. So wurde ein Teil des Volkes verlockt, dessen unausgesprochenen Selbständigkeitsidealen untreu zu werden und statt das Neue sich langsam zu erwerben und zu eigen zu machen, es fertig und auf Kosten der eigenen Seele aus den Händen der zivilisierteren Nationen zu nehmen. Diese pathologische Erscheinung wurde durch zwei Umstände begünstigt: durch die räumliche Zersprengung und durch die von der großen Revolution bewirkte ganz anormale Beschleunigung des Emanzipationsprozesses. Daß trotz alledem die Assimilation die Renaissance nicht aufzuheben vermochte, daß sie für diese nur ein retardierender Akt geworden ist, ist in einer Haupttatsache des jüdischen Problems begründet: in der fun-

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damentalen Verschiedenheit des östlichen und des westlichen Judentums in Wesen und Schicksal. Das östliche Judentum war seit jeher weniger zersprengt als das westliche; es hatte mehr den Charakter einer großen und geschlossenen Gemeinschaft und in der Folge auch mehr eigene Kulturelemente. Dazu kam, daß die Zivilisation nach dem Osten nur langsam hinströmte und daß der Emanzipationsprozeß hier fast gar keine Gültigkeit hatte. So konnte die Haskala, die wie alle Faktoren der Renaissance hier ihre eigentliche Stätte hatte, das Zivilisationsmaterial allmählich und organisch verarbeiten. Mußten ferner die westlichen Juden der Umwelt schon deshalb erliegen, weil sie keine Sprache hatten und mit den fremden Worten auch fremdes Vorstellungs- und Gedankenwesen aufnahmen, so gewannen die östlichen einen Halt in einer überaus merkwürdigen, durchaus anormalen und doch durchaus heilvollen Sprachentwicklung. Es entstand nämlich auf der einen Seite eine reiche, alle Gebiete umfassende hebräische Literatur und Publizistik, und die Sprache der Bibel wurde immer mehr zu einem vollkommenen Werkzeug der modernen Wissenschaft und der modernen Ideen und zugleich zu dem herb aber voll tönenden Instrument einer originalen Dichtung; daneben aber und gleichzeitig entwickelte sich das Idiom des Volkes, das Jüdische, der fälschlich so genannte »Jargon«, der keineswegs (wie gewöhnlich angenommen wird) ein Dialekt schlechthin, sondern eine res sui generis ist, zu einer völlig gleichberechtigten Sprache, weniger abstrakt aber wärmer als die durch sie ergänzte hebräische, ohne deren reingeistiges Pathos, aber voll unvergleichlich sanfter und derber, zärtlicher und boshafter Akzente; im Jüdischen ist das Volkstümliche selbst Sprache geworden; und diese vielverachtete Sprache hat die Anfänge einer reizvollen Poesie, eine schwermütig verträumte Lyrik und eine kräftige, mit guten Augen beobachtende Novellistik geschaffen. Dieser Dualismus ist das stärkste Symptom der jüdischen Renaissance in dem Reichtum ihrer Strebungen und der Pathologie ihrer Äußerungsformen. Man sieht nun, wie es kam, daß, während im Westen Stück für Stück abbröckelte, im Osten die Renaissance Fuß fassen und positive Werte schaffen konnte. Ihr stärkster Ausdruck wurde die jüdische Bewegung, die man auch mit einem mitunter irreführenden Namen als national-jüdische Bewegung zu bezeichnen pflegt. Sie ist weiter und tiefer angelegt, als nationale Bewegungen zu sein pflegen, ursprünglicher und tragischer. Ihr Inhalt ist national: das Streben nach nationaler Freiheit und Selbständigkeit; aber ihre Form ist übernational. Der Ideenkomplex, den sie erzeugt hat, gehört dem Denken der Menschheit an. Und die Befreiung, die sie meint, rührt an das große Symbol der Erlösung. Die jüdische Bewegung ist in ihrem letzten Sinn das Streben nach freier

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und vollkommener Betätigung der neuerwachten Volkskräfte. Wenn man sich das Volk in der Renaissance (ohne Berücksichtigung aller widerstrebenden oder noch unentwickelten Elemente) im Bilde eines Organismus vorstellen will, so ist die nationale Idee sein Bewußtsein, die nationale Bewegung sein Wille. Und wie der Wille zuerst reflexmäßig und triebhaft auftritt, dann unter dem Einfluß des sich entwickelnden Bewußtseins immer differenzierter und geistbestimmter wird, so entwickelte sich die jüdische Bewegung unter dem Einfluß des Renaissancegedankens vom Selbsterhaltungstrieb zum Ideal.

2. (1910) Die innere Befreiung des Judentums ging der äußeren »Befreiung«, der Emanzipation, voraus. Hätte erst die eine, dann die andere die ganze Judenheit ergriffen, so hätte die Renaissance sich in konstanter Entwicklung durchsetzen können; denn dann wären die Juden fähig gewesen, aus der bereits gewonnenen seelischen Erneuerung heraus die neu zufließenden Güter der europäischen Zivilisation schöpferisch zu verarbeiten. Aber es gab damals, wie früher und später, ein östliches und ein westliches Judentum, zwei Welten, ein Judentum der Gemeinschaft und ein Judentum der Versprengtheit. Und das Tragische geschah: die innere Befreiung in Chassidismus und Haskala ergriff nur das östliche, das Judentum der Gemeinschaft, die äußere Befreiung, die Emanzipation, wurde nur dem westlichen, dem Judentum der Versprengtheit zuteil. Und so fehlte dem östlichen Juden die Materie, dem westlichen die Gewalt des Schaffens. Der östliche hatte sich auf die Urelemente seines Wesens besonnen, die Kräfte seiner nationalen Persönlichkeit waren losgebunden, aber er war nach wie vor tausendfältiger Pein und Schande preisgegeben, er hatte nicht die Unbefangenheit und nicht den Frieden zum Schaffen, die neue Sehnsucht zerrieb sich im Kampfe um die Luft, die er zum Atmen brauchte, die neue Macht zerrann in Lebensnot und Auflehnung. Man fragt, warum der Chassidismus entartete, warum die Haskala keine »Flora unsterblicher Werke« hervorbrachte. Daß sie überhaupt entstanden, daß sie – Gestirne, die keiner voraussah, keiner vorausahnte – am Nachthimmel des Judenvolkes aufgingen und eine gnadenreiche Stunde lang leuchteten, das ist das Wunderbare. So war es im Osten. Und der westliche Jude hatte alles, nur nicht das Element der Elemente, die wiedergeborene schöpferische Urkraft; statt der innerlichen Befreiung durch Anknüpfung an die klassische Zeit seines Blutes und Volkstums erwarb er

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von außen die »Geistesfreiheit«; er nahm die Güter des Geistes fertig und auf einmal aus den Händen der kultivierten Nationen, statt sie im Feuer einer befreiten Seele allmählich umzuschmelzen und umzuschmieden. So erfuhr die jüdische Renaissance eine schwere Hemmung, die es verhinderte, daß der neue Judentypus, der sich in Chassidismus und Haskala vorbereitet hatte, zu voller Entfaltung kam. Diese Hemmung aber war nur solange unüberwindlich, bis sie ins Bewußtsein trat. Das erwachende Bewußtsein der Hemmung erzeugte die nationale Bewegung; der neue Wille, die Hemmung zu beseitigen, wird Zionismus genannt. Darum habe ich den Zionismus als den bewußten Willen der Renaissance bezeichnet. Die Renaissance des Judentums will sich erfüllen; sie weckt das Verlangen nach dem neuen, freien, selbständigen Leben, in dem allein sie sich erfüllen kann. Sie verbindet den Westen mit dem Osten. Indem Westen und Osten einander durchdringen, entsteht neue Fruchtbarkeit – spezifisch jüdische Fruchtbarkeit, die jüdische Art, jüdische Anschauung, jüdische Werte zur Gestalt werden läßt.

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Eine Erklärung In einigen Besprechungen des Berliner Delegiertentags 1 wird von meinen Ausführungen über die Aufgaben der Kulturarbeit als von einem »Referat« gesprochen. Es scheint mir aus sachlichen Gründen angemessen, festzustellen, daß ich kein Referat, sondern nur eine Ansprache zu Anfang der Diskussion über die Referate von [Kurt] Blumenfeld, [Salman] Schocken und [Eugen] Täubler gehalten habe. Ja nicht einmal eine Ansprache, sondern nur deren erste Hälfte. 2 Ich hatte mich nämlich, wie ich zu Beginn mitteilte, aus Gesundheitsrücksichten genötigt gesehen, sie in zwei Teile zu zerlegen, mußte dann aber, da die Redezeit gekürzt wurde, auf den zweiten Teil verzichten. Daher konnte ich auch den sehr relativen Vollständigkeitsabsichten, die einer Diskussionsrede gegenüber einem Referat zustehen, nicht gerecht werden und manches mir Wesentliche, insbesondere über den Zusammenhang von nationaler und sozialer Erziehung, blieb ungesagt. Es vorzubringen behalte ich einer anderen Gelegenheit und geordneterer Komposition vor. 3

1. 2. 3.

Der Delegiertentag der deutschen Zionisten fand vom 25. bis 26. Dezember 1916 in Berlin statt, vgl. den Bericht in der Jüdischen Rundschau, 22. Jg., Heft 1, 5. Januar 1917. Abgedruckt als »Referat über jüdische Erziehung« in MBW 8, S. 77-83. Höchstwahrscheinlich entstand daraus der nachfolgende Beitrag »Kulturarbeit«, in diesem Band, S. 276-278.

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»Kulturarbeit« Zu den Delegiertentagen der deutschen und der holländischen Zionisten »Kulturarbeit« ist ein irreführendes, im Grunde wohl auch ein irriges Wort. 1 Jedenfalls sagt es nicht oder nicht mehr, was wir wollen; und wir bewahren es nur, weil es nun einmal geläufig, nun einmal wirksam ist, dieses schwerfällige Wort, das mit Erlebnis und Mißverständnis beladen ist. Was wir wollen, dafür ist das Wort »Kultur« zu groß – und zu klein. Wir wollen nicht »Kultur«, sondern Leben. Wi r wo llen d as jü d i s che Leben u mges t alten. Ich erkenne und preise den ewigen jüdischen Geist. Ich ersehne und erhoffe eine neue jüdische Schöpfung. Aber jener und diese können nicht angestrebt, nicht eigentlich gewollt werden. Was wir wollen, geht nicht auf Geist und nicht auf Schöpfung, es geht ganz gewiß nicht auf »Kultur«: es geht auf das Leben. Wir wollen das jüdische Leben umgestalten; das heißt: wir wollen aus dem Leben von Juden ein jüdisches Leben machen. Das Leben von Juden ist das Leben von Einzelnen. Ein jüdisches Leben kann nur das Leben einer Gemeinschaft sein, denn es gibt keine Verwirklichung des Judentums zum Leben, es sei denn in der Gemeinschaft. Wir wollen ein jüdisches Gemeinschaftsleben schaffen. Es gibt in der Gegenwart kein jüdisches Gemeinschaftsleben. Nicht im Westen, nicht im Osten und nicht in Palästina. Was man etwa im Osten jüdische Gemeinschaft nennt, sind nur Trümmer oder Bruchstücke der wirklichen. Die letzte wirkliche jüdische Gemeinschaft war der Zusammenschluß der Chassidim während der drei ersten Geschlechter der Führer, a eine große Flut des Einanderhelfens und Einandererhebens zum vollkommenen Leben. Eine jüdische Gemeinschaft kann nicht von außen hergestellt werden, nicht durch »Eroberung der Gemeinden«,2 nicht durch Erlangung einer ostjüdischen »kulturellen Autonomie« 3 und nicht durch Begründung einer »öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina« 4 . Die eroberten Gemeinden werden nicht anders sein als die uneroberten waren, 1.

3. 4.

Vgl. dagegen »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus«, in diesem Band, S. 185-204, bes. S. 191. Dieses Schlagwort wurde von Theodor Herzl auf dem 2. Zionistenkongreß ausgegeben. Damit sind die Autonomievorstellungen Simon Dubnows gemeint. Formel des Baseler Programms von 1897.

a.

JuJ: Geschlechter der Zaddikim

2.

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»Kulturarbeit«

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wenn die Menschen, die ihnen vorstehen, sich nur durch das Bekenntnis zum Zionismus von ihren Vorgängern unterscheiden werden. Die kulturelle Autonomie wird den krassen, gierigen, selbstsüchtigen Nationalismus der anderen Völker mitmachen, wenn in ihren Führern nicht der Geist einer neuen Menschheit entbrannt sein wird. Die gesicherte Heimstätte wird ein eigenartiges und bemerkenswertes Unternehmen bleiben und nie zu einer großen organischen Schöpfung a heranwachsen, wennb , die sie aufbauen, nicht in allem ihren Tun die Gewaltc und die Verantwortung bewähren, eine vorbildliche Gemeinschaft, ein reines und gerechtes menschliches Zusammenleben zu begründen, das heißt: das Judentum zu verwirklichen.5 – Wohl ist es wahr, daß geänderte Verhältnisse die Menschen ändern, aber die ungeheure Umwandlung, um die es hier geht, die Umgestaltung des jüdischen Lebens von einem entarteten zu einem vollkommenen, kann nur dann gelingen, wenn die Verhältnisse zu i nners t geänderte sind: und das kann nur durch die Führung, die Arbeit und das Opfer von Menschen geschehen, die bereits selber zuinnerst von dem neuen Wesen ergriffen sind. Eine jüdische Gemeinschaft ist nur zwischen Menschen möglich, in denen zwei Dinge lebendig sind: wahrhaftes Judentum und wahrhaftes Gemeinschaftsgefühl. Beides ist im Wesen eins, aber im Erleben geschieden. Juden, in denen Judentum ohne Gemeinschaftsgefühl lebendig wurde, sind unfruchtbar. Juden, in denen Gemeinschaftsgefühl ohne Judentum lebendig wurde, gehen in die Irre. Judentum ohne Gemeinschaftsgefühl in einem Juden, das ist Geist ohne Werk, Glaube ohne Opfer. Aber Gemeinschaftsgefühl ohne Judentum in einem Juden, das ist Fehlwerk, Fehlopfer. Der erste weiß aber tut nicht. Der zweite tut, aber er tut falsch; denn er weiß nicht, daß s ei ne Saat auf den Acker gehört, den er verschmäht hat – auf den Acker, der ihn, gerade ihn br au chte. Man frage nicht nach Beweisen: dieses Wissen läßt sich nicht durch Beweise beibringen, man muß zu ihm erwachen. So ist denn dies das Erste: das Erwachen zum Judentum. Aber nur das Erste. Wer dabei stehen bleibt, dem wäre besser, er hätte weiter geschlafen. 5.

Hier formuliert Buber die ethischen Grundlagen, die ihn bis an sein Lebensende zum Kritiker und Mahner im Staat Israel werden ließen, ganz besonders hinsichtlich dessen Verhältnis zur arabischen Bevölkerung.

a. b. c.

JuJ: zu einem großen organischen Gebilde JuJ: wenn die, die JuJ: die Tendenz

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Selbstentdeckung ist kein Ziel, sondern eine Voraussetzung. Der hat sein Judentum schlecht entdeckt, der nicht erfahren hat, daß es ohne Verwirklichung nichts ist, und daß es nur in der Gemeinschaft verwirklicht werden kann. Zum jüdischen Bewußtsein muß, damit es zu Leben werde, Gefühl der Gemeinschaft, Verlangen nach Gemeinschaft, Wille zur Gemeinschaft treten. Zwei Dinge also gilt es zu wecken, zu zwei Dingen zu erziehen: zum Judentum und zur Gemeinschaft. Soziale Erziehung ohne nationale wäre ein Wirken im Traum; aber nationale Erziehung ohne soziale wäre ein Wachen im Wahn. Bei andern Völkern genügt die soziale Erziehung oder soll vielmehr genügen. Denn aus zwei Elementen richtet sich die Gemeinschaft auf: aus dem Volkszusammenhang und der rechten Menschenliebe. Das erste dieser zwei ist bei den Völkern von vornherein da, unangetastet; nur zu dem zweiten muß aufgerufen werden. Anders ist es bei uns. Wir müssen den Volkszusammenhang erst wiederherstellen, indem wir ihn in den Herzen stiften 6 und bestätigen, durch Erweckung der Erinnerung, der Sehnsucht, der Hoffnung. Dieses nationale Bewußtsein der Herzen aber muß sich vollenden in dem großen Gefühl, daß es nicht allein Zusammenhang mit einer Idee, mit einer Volksseele, mit überlieferter Größe und verkündeter Wiedergeburt gilt, sondern Zusammenhang mit einer menschlichen Wirklichkeit und Gegenwart, mitlebenden, helfenden, dienenden Liebeszusammenhang mit Menschen von Fleisch und Blut, aus denen, mit denen die große jüdische Gemeinschaft aufgerichtet werden soll, – die große Gemeinschaft, deren Wurzelkeim auch noch in den Elendesten, Bresthaftesten7 , Gebundensten a dieser Menschen unzerstört, ja sogar in den Abgearteten, den Machtlüsternen, den Angepaßten nur – freilich oft unrettbar – verschüttet ist. Jenen gilt es zu helfen und zu dienen, diese zu züchtigen und zu erschüttern, mit beiden in dieser unerbittlichen und verheißungsvollen Welt zu leben. Erziehung zu solchem schweren, ernsten, niederreißenden und aufbauenden Zusammenhang ist jüdische Erziehung, ist »jüdische Kulturarbeit«.

6. 7. a.

Der Bezug zu Achad Haams »Wiederbelebung der Herzen« liegt auf der Hand, siehe dazu die Einleitung in diesem Band, S. 29 f. Bresthaft: veralteter Ausdruck für gebrechlich, mangelhaft; vgl. Der digitale Grimm, Lfg. 2.2. Fehlt in JuJ.

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Erster Weltkrieg

Die Tempelweihe »Es traf sich aber«, so heißt es im zweiten Buch der Makkabäer, »daß der Tempel an eben demselben Tage wieder geweiht wurde, an dem seine Entweihung durch die Heiden geschehen war, das ist am 25. Tage des Monats Kislew. Und voller Freude hielten sie eine achttägige Feier gleich einem Laubhüttenfeste, dieweil sie dessen gedachten, wie sie noch vor kurzem während des Laubhüttenfestes auf den Bergen und in den Höhlen gleich wilden Tieren ihr Leben fristeten. Darum trugen sie mit Laub umwundene Stäbe und schöne Reiser und Palmenzweige, und stimmten Lobgesänge an, ihm zu Ehren, der die Reinigung des ihm geheiligten Ortes hatte gelingen lassen. Auch bestimmten sie durch Verordnung und Beschluß der Gemeinde als Gesetz, das ganze Volk der Juden solle diese Tage alljährlich feiern.« 1 Seither haben wird, das ganze Volk der Juden, die Wiederkehr dieser Tage zweitausendmal und mehr gefeiert. Nicht durch einen Umgang mit blühenden Stäben und Palmenzweigen, auch nicht, wie wir das Sukkothfest begehen, gleichsam auf kleinen, grünen Inseln palästinensischer Vegetation mitten im Meer der fremden, sondern indem wir im abendlichen Dämmer unserer Häuser Lichter entzünden, eines am ersten Abend, dasselbe und noch eins am zweiten, die beiden und eins dazu am dritten, und so fort bis die acht Aeste der Menorah a erstrahlten zum Gedächtnis jener Aufrichtung und Erneuerung des Heiligtums, dessen Leuchter nach dem Bericht der Sage die acht Tage der Feier von ei nem Oelkrüglein, das, mit dem Siegel des Hohenpriesters versehen, aufgefunden worden war, gespeist wurde. Und in der Woche, die nun zu Ende geht, haben wir diese Tage wieder in der gleichen Weise begangen. Aber mit einem anderen Gefühl als je zuvor. Denn wir gedenken jenes Krieges der Makkabäer gegen die Syrer in einer Zeit, da wir Juden in den größten Krieg der Geschichte mit tausend und abertausend blutigen Fäden verflochten worden sind, aber nicht als Volk, sondern als Teile der Völker. Das Erlebnis 1.

2 Makk 10, 5-8.

a.

JBI: der holden Menorah.

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Erster Weltkrieg a

dieser ungeheuren Zeit muß, wie es alle unsere Empfindungen färbt, so auch das Gefühl beeinflussen, in dem wir jener kriegerischen Erhebung unseres Volkes gedenken. Das Herz des Judentums ist wieder erschüttert wie damals, wieder zerrissen wie damals, – aber unendlich anders, denn es ist nicht s ei n Schicksal, um dessen willen es erschüttert und zerrissen ist, sondern das der widereinander streitenden Völker, denen es verhaftet ist und an deren Seite es streitet, unter sie aufgeteilt streitet, wider sich selber. Und doch, wir ahnen es im Grunde unserer Seelen, wiewohl wir es noch nicht klar begreifen können: es ist doch auch das Schicksal des Judentums, das sich, in dieser Zeit, gleichsam unterirdisch, entscheidet; und wenn Scharen von Juden gegeneinander kämpfen, so kämpfen sie doch – in einem Sinn, der sich uns heute noch nicht völlig zu erschließen vermag – mitsammen um ihr Judentum. Im Lichte dieses ungeheuren Erlebens erscheint uns etwas, was uns am Chanukahfest von je auffiel, fast zum Widerspruch gestiegen. Wir feiern in diesen Tagen eine kriegerische Erinnerung, die Empörung gegen Antiochos und die Siege Juda Makkabis bei Emmaus und Betzur. 2 Aber unser überlieferter festlicher Brauch gilt nicht ihnen, sondern der Tempelweihe, die auf sie folgte. Er gedenkt wohl der Heldentaten, aber sie sind ihm nur die Voraussetzungen des heiligen Werkes, an das seine Lichter erinnern. Das Wesentliche ist ihm nicht der Sieg der judäischen über die syrischen Waffen, sondern die Reinigung des geschändeten Heiligtums, die durch ihn b ermöglicht war. Und so wurde durch die c Ueberlieferung der Prozeß begünstigt, in dessen Verlauf in den Jahrtausenden des Galuth d der starke nationale Kern dieses Festes immer mehr von einer bloß religiösen Feierlichkeit umhüllt und verdeckt ward. Als der Teil der Judenheit, in dem das Blut eine lebendige und schöpferische Macht geblieben war, sich in dem letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts tiefer auf sein Volkstum zu besinnen begann, da war es einer seiner ersten Gedanken, in diesem Fest den nationalen Charakter als den Charakter einer Aeußerung nationaler Erinnerung und nationaler Hoffnung neu zu erwecken. Die Bewegung, die den Namen der Tempelburg, den Namen Zion, auf ihre Fahne geschrieben und ihn so zu einer Losung des Volkskampfes und der Volksarbeit gemacht hat, schuf aus dem Fest der 2.

Zu den Kampfhandlungen in den Jahren 166 und 165 v. Chr. vgl. P. Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike, S. 64.

a. b. c. d.

JBI: dieser unserer Zeit. JBI: die durch den Sieg. JBI: von der. JBI: des Golus.

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Die Tempelweihe 3

Tempelweihe die Makkabäerfeier. In ihr ist das Gedächtnis eines entschwundenen heroischen Zeitalters mit dem Glauben an ein künftiges verknüpft, die Bilder der Geschichte verschmelzen mit den Bildern des Traumes, und die Worte, die einstigem Heldentum huldigen, rufen zu neuem auf. Vor allem aber ist in dieser unserer Feier mit der Erinnerung an die Männer, die Zion und Jerusalem dem äußeren und inneren Feinde abrangen, unlösbar verbunden die Kundgebung unseres Willens, alle äußeren und inneren Hindernisse zu bezwingen und das alte Land, in dem die starken Wurzeln unserer Kraft sind, wiederzugewinnen. Daß wir dem Fest dieses neue Gepräge gegeben haben, das war nicht Willkür, sondern Frucht und Aeußerung eines neuen Werdegangs unseres Volkes. Haben wir so der früheren Einseitigkeit gegenüber dem nationalen Kern des Chanukahfestes sein Recht geschaffen, so dürfen wir aber nicht in den entgegengesetzten Irrtum verfallen, als ob das Religiöse hier nur Schale wäre. Vielmehr muß, wenn wir ganz auf uns wirken lassen wollen, was dieses Fest uns zu geben vermag, die religiöse Anschauung die nationale ergänzen. Freilich können damit nicht religiöse Form und Formel gemeint sein, so ehrwürdig und ehrfurchtgebietend sie auch sind, sondern eben die religiöse Ans cha u u ng , die eine freie Tat der Seele ist, eine innige Schöpfung des Einzelnen aus dem Seelenstoff der vergangenen Geschichte a seines Blutes. Auch hier darf nicht Willkür walten; die freie Tat, die ich meine, ist allem Eigenwillen fremd; sie darf nicht lediglich Persönliches in ihren Bereich ziehen: ihr Bereich ist das in den großen Gezeiten des Volkes Gew achs ene. Aber das so Gewachsene kann nicht von außen erkannt werden; man muß tief in alle Urkunden der Volksseele blicken, um es wahrhaft zu erfassen und uns zu eigen zu machen. Tun wir dies dem religiösen Gehalt des Chanukahfestes gegenüber, so sehen wir, daß die volkstümliche Ueberlieferung, die sich in dem Segenspruch ausdrückt, worin Gott gepriesen wird, weil er »Wunder tat an unseren Vätern in jenen Tagen«,4 eine eigentümliche Verklärung erfahren hat. Es ist etwas von dem Ewigkeitsglanz unserer großen Erinnerungsfeste, des Peßach 5 und des Schebuoth 6 , darauf gefallen. Auch sie gelten 3.

4. 5. 6.

Die erste zionistische Makkabäerfeier wurde am 20. Dezember 1883 von der Studentenverbindung Kadimah in Wien abgehalten. Nathan Birnbaum war einer der Festredner. Vgl. zu den Makkabäerfeiern Tamara Everhartz, Die zionistische Studentenvereinigung Kadimah, S. 50-61. Aus dem Chanukka-Gebet. Zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Zur Erinnerung an die Offenbarung am Sinai.

a.

JBI: der vergangenen Geschlechter.

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Erster Weltkrieg

ja dem Gedächtnis eines einmaligen Ereignisses der Vorzeit, dem Auszug aus Mizrajim 7 und der Offenbarung am Sinai. Aber je öfter sie begangen wurden, desto mehr wird dieses Ereignis aus einem einmaligen zu einem ewigen, aus einem, von dem als einem längstvergangenen erzählt wird, zu einem, das immer wieder und wieder, Jahr um Jahr, als unmittelbare Gegenwart erlebt wird. Wir sind es, die Pharaos Hörige waren und nun aus dem Lande der Knechtschaft geführt werden. Wir sind es, die unter Blitzen, auf erschütterter Erde, die Lehre Gottes empfangen. Was einst geschehen ist, geschieht jetzt und immerdar. – Etwas von diesem Ewigkeitsglanze ist auf das schlichte Chanukahfest gefallen. Die Wunder, die Gott an unseren Vätern tat in jenen Tagen, das sind keine anderen, als die er an uns selber tut. Hat nicht Geschlecht um Geschlecht der Juden es selbeigen erfahren, wie das versiegelte Oelkrüglein allezeit hinreichte, um die große Menorah wieder und wieder das Tohuwabohu des Exils erleuchten zu lassen? Und dürfen wir nicht dem wunderbaren altjüdischen Worte »Gott erneuert ewig das Werk der Schöpfung« dieses andre zugesellen: »Gott erneuert ewig das Werk der Befreiung«? Wir rühren hier schon an das Wesen der religiösen Anschauung, von der ich spreche. Für sie ist alles äußere Geschehen nur ein Sinnbild des innerlichen, heimlichen Weltgeschehens; alle äußere Befreiung ist nur ein Sinnbild der sich durch die Zeitalter vollziehenden inneren Befreiung der leidenden und ringenden Welt von den Mächten des Uebels. Der Ort aber, wo sich diese Befreiung dem Menschen unmittelbar offenbart, ist seine Seele. Indem wir uns selber zuinnerst befreien, wirken wir mit an der Befreiung der Welt. epu¤te xfj vfklm, das böse Reich Jawans, 8 dieser Name der griechischsyrischen Macht, die einst Israel erniedrigte und das Heiligtum entweihte, ist im Galuth a zum Namen des Widersachers, des Feindes schlechthin geworden. Zugleich aber erkannte man immer tiefer, daß wir gegen diesen Feind nichts vermögen, solange wir ihn nur draußen suchen, nicht auch in uns selber. Ich will nur ein besonders deutliches Beispiel dieser Erkenntnis anführen. Ein Zeitgenosse der napoleonischen Kriege, Rabbi Nachman von Bratzlaw, wirft in seinen Reden über das Chanukahfest die Frage auf, was denn eigentlich die innere Bedeutung der xfj vfklm sei, und er antwortet: »Das böse Reich Jawans, das ist die Habsucht«. Er meint damit, das Grundübel sei dies, daß Menschen und Völker nicht auf das Sein, sondern auf das Haben sinnen, nicht danach streben, wahr7. 8.

Mizrajim, hebr. für Ägypten. Jawan, hebr. für Griechenland.

a.

JBI: Golus.

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hafter zu leben, sondern mehr zu erraffen, als ob nicht das das entscheidende Gut wäre, was man i st , sondern was man besitzt. Gegen dieses Grundübel ist es eine unvollkommene Abwehr, wenn man die habsüchtigen Menschen, Völker, Staaten bekämpft. Man muß die Habsucht selber ausrotten, und damit dort beginnen, wo sie jedem am erreichbarsten ist: in der eignen Seele. Das Hindernis auf dem Wege zum wahrhaften Leben ist nicht draußen, sondern in uns selber, nicht daß es das Böse in der Welt gibt, sondern daß wir uns dem Guten nicht rückhaltlos hingeben. Der Sinn der Menorah, sagt R. Nachman, ist die Erleuchtung des Geistes, daß er in sich selber das Gute nicht länger mit dem Bösen verwechsle, sondern das Gute allein und mit der ganzen Kraft erfasse. Der äußere Feind kann nur das Aeußere bedrohen; was uns im Innern erniedrigt und unser Heiligtum entweiht, ist dies, daß wir nicht ganz, sondern brüchig sind. Wir ahnen den Sinn des Lebens, aber wir handeln nicht um seiner, sondern um des Nutzens willen. Unsere Aufgabe ist, uns vom Nutzzweck zu befreien, der unser Tun bestimmt. Wie es von den Chanukahlichtern heißt »Diese Lichter sind heilig und es ist uns nicht gestattet, uns ihrer zu bedienen, sondern einzig sie anzuschauen«,9 so darf unsere Seele nicht die Sklavin des Nutzens sein. Wir sollen unseren inneren Zwiespalt überwinden und einheitlich werden; so werden wir fähig, der Einheit der Welt zu dienen. Rabbi Nachman weist darauf hin, daß es jedem Einzelnen geboten ist, die Chanukahlichter in seinem Hause zu entzünden; jeder soll bei sich selber beginnen und soll sich sagen: »Ich bin ja mit Leib und Seele im Galuth a , und doch kann ich aus mir einen Gehilfen Gottes machen, daß ich dazu helfe, das verborgene Licht der Welt zu entzünden.« Und wie von Abend zu Abend die Zahl der Lichter zunimmt, so soll er fühlen: »Das Licht der Welt wächst, und ich trage dazu bei aus dem Oelkrüglein meiner Seele.« Der fundamentale Gehalt der religiösen Anschauung des Chanukahfestes, von der ich spreche, ist die Forderung, daß jeder Einzelne sich selber aus den Banden des Nutzzwecks befreie, wie Jerusalem aus den Banden des Syrers befreit worden ist, daß er sich selber reinige und weihe, wie das Heiligtum gereinigt und geweiht wurde; daß jeder Einzelne in sich selber den entweihten Altar einreiße und den neuen errichte. Und was vom Einzelnen gilt, gilt vom Volke. Der Götzendienst der Opportunitäten hat es geschändet; daß es wieder eines großen Lebens gewürdigt werde, dazu genügt kein äußeres Tun, genügt es nicht, Not zu beheben; Wanderung 9.

Aus dem Chanukka-Gebet beim Anzünden des Lichts.

a.

JBI: Golus.

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und Siedlung in geordnete Bahnen zu leiten; dazu bedarf es der inneren Befreiung, der Reinigung von allen trägen, eigensüchtigen und dem Göttlichen widerstrebenden Elementen; dazu tut not, daß die den großen Bund wollen, für ihn eifern wie Matathia zu Modin; daß die das heilige Haus wollen, erst den entheiligten Altar niederreißen, ehe sie aus den unbehauenen Steinen des Volksgeistes den neuen errichten. Reinigung und Weihung tun not. Diese Forderung an den Einzelnen und an das Volk hat in unseren Tagen eine besondere Prägnanz erhalten. a Wenn die Losung dieser erschütterten Zeit Bewährung heißt, so heißt sie es dreifach und siebenfach für den Juden. Tiefer als je hat der Jude heute seine Problematik zu spüren bekommen; tiefer als je erkennt das Judentum, was es heißt b , unter die Völker aufgeteilt c zu sein. Aber die Zeit hat nicht bloß die Frage, sondern auch die Antwort verstärkt. Im Sturm der Begebenheit hat der Jude mit elementarer Gewalt erfahren, was Gemeinschaft ist. Er hat es nicht allein gesehen, er hat es an sich selber erfahren. War doch nicht das die wesentlichste Schwäche insbesondere des westlichen Juden, daß er »assimiliert«, sondern daß er atomisiert war; daß er ohne Zusammenhang war; daß sein Herz nicht mehr dem Herzschlag einer lebendigen Gemeinschaft einstimmte, sondern dem Willkürtakt seiner abgesonderten Wünsche folgte; daß er von dem wahren Menschenleben, von dem Miteinander- und Ineinanderleben der Menschen in heiliger Volksgemeinde ausgeschlossen war. Sein Judentum war nicht mehr wurzelhaft, und die Luftwurzeln seiner Assimilation waren ohne nährende Kraft. Jetzt aber hat der Jude in dem katastrophalen Vorgang, den er in den Völkern miterlebte, bestürzend und erleuchtend das große Leben der Gemeinschaft entdeckt. Und es hat ihn erfaßt. Er blieb nicht Atom; er wurde mitgerissen; er schloß sich glühend der Gemeinschaft an, die ihm so ihr Leben offenbarte, – der Gemeinschaft, d i e i hn i n d i esem Au g enbli c k am s t är ks ten br au chte. Wird ihn das der Gemeinschaft, d i e i hn i n d er Ew i g kei t br au cht , der tiefen Gemeinschaft seines Blutes und seiner Art weiter entfremden? Ich glaube, daß es ihn ihr wiederbringen wird. Gemeinschaftsgefühl ist in ihm erglommen, er fühlte in sich etwas entbrennen, wovor aller Nutzzweck zusammenfiel, er erlebte den Zusammenhang. Er hat den ersten Schritt der inneren Befreiung getan. Wenn dem Augenblick sein Recht geschehen sein wird, wird er nicht wieder ins Leben des a. b. c.

Die folgenden Passagen bis »wird über sie kommen, sie zu heilen.« sind in den programmatischen Leitartikel »Die Losung« (der nachfolgende Text in diesem Band) im ersten Heft der ersten Nummer von Bubers Zeitschrift Der Jude eingearbeitet. JBI: bedeutet. JBI ergänzt: den Völkern verhaftet.

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Atoms zurückfinden, und der Ruf der tiefen Gemeinschaft seines Blutes und seiner Art, den wir ihm zutragen werden, wird ein wacheres Ohr treffen als zuvor. Ja, wir werden dann rufen, wie wir noch nicht gerufen haben, was Mathatia zu Modin rief: »Wer den Bund halten will, ziehe aus, uns nach!« Und ich meine, es werden uns welche, werden uns viele folgen, die uns noch nicht gefolgt waren – vielmehr, sie werden sich selber folgen. Denn sie haben den Weg der inneren Befreiung betreten, und sie werden erkennen, daß es für den sich befreienden Juden keine Wege gibt, sondern nur ei nen Weg. Sie werden in die erschütterten Schollen ihrer Seele den Samen der lebendigen Wahrheit empfangen. Sie werden ihre Einheit als Juden fühlen und erkennen lernen. Sie werden ihr Gemeinschaftserlebnis vertiefen und aus ihm ihr Judentum neu aufbauen. Sie haben in Blut und Tränen die Zerrissenheit des Judentums geschaut und die Sehnsucht wird über sie kommen, sie zu heilen.a Sie werden danach Verlangen tragen, daß aus ihrem kranken Volke ein heiles und aufrechtes Volkswesen werde wie das, dessen Glut sie in jenem Augenblick miterfaßte. Sie werden an sich arbeiten, daß sie an dem neuen Leben teilnehmen dürfen. So werden sie die wahre Befreiung und Tempelweihe vollziehen. Ja, wir fühlen heute wie nie zuvor, daß wir unter die Völker aufgeteilt sind. Aber wir fühlen auch mit großer Macht, daß wir einen Tag der Wende, einen Tag Jahwes durchleben, und die Ahnung wird in uns rege, daß wir bald eingesammelt werden. Nie zuvor gedachten wir mit so schmerzensreichem, nie zuvor mit so hoffnungsstarkem Sinn der Worte des Propheten: »Und es wird sein an jenem Tage, da wird der Herr zum andern Male seine Hand ausstrecken, daß er erwerbe den Rest seines Volkes, was da übrig ist aus Aschur und aus Mizrajim und Patros und Kusch und Elam und Schinear und Chamath und den Inseln des Meeres. Und er wird tragen ein Banner zu den Völkern und wird zusammenbringen die Verstoßenen Israels und die Verstreuten Judas wird er einsammeln von den vier Enden der Erde.« 10

10. Jes 11, 11-12. a.

Ende des Zitats in »Die Losung«.

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Die Losung Der Krieg hat die Lage des Judentums inmitten der Völker in ihrer tragischen Problematik gesteigert und furchtbar verdeutlicht. Hunderttausende von Juden kämpfen gegeneinander; und das Entscheidende ist: sie kämpfen nicht aus Zwang, sondern aus Gefühl der übermächtigen Pflicht. Auch von denen, die in Rußlands Heere stehen, sind sehr viele nicht als Getriebene anzusehen. Sie geben ihr Äußerstes her, und ihr Innerstes dazu. Wie kann das sein? In den Bewußtesten gibt sich kund, was auch in den Dumpfen irgendwie lebt: sie wollen sich in der virilen, übervirilen Welt, die ihre Mitwelt ist, bewähren, sie wollen als sich Bewährende in der großen und lebensvollen Gemeinschaft, die sie einfordert, leben und sterben. Mannhaftigkeit und Bewährung, Gemeinschaft und Hingabe – der Ruf, zu dem sich die Völker im Frieden nicht aufrafften, ist nun zum Krieg ergangen, und mit den anderen sind ihm die Juden gefolgt, aus dem leidenschaftlichen Verlangen, die Schicksalsstunde Europas als ein Stück, nein, als Stücke Europas mit ihrem Blute mitzuerleben und mitzuerleiden. Der Geist Europas, vielmehr der Geist dieses heutigen Europa, welcher der Geist der standhaften Zerrissenheit und des selbstmörderischen Opfermutes ist, hat auch die Juden ergriffen; auch sie sind in diese Katastrophe und Wende der Völkerseele, in diesen Durchgang durch das Chaos eingetreten. Aber für sie bedeutet er unendlich schwereres Unheil und größere Gefahr: die Völker sind untereinander, die Judenheit ist in sich selbst geschieden; jedes Volk setzt dem eindringenden Chaos seine feste, durch kein Unterliegen zu zersetzende Gestalt entgegen, das jüdische in seiner schwankenden, selber chaotischen Erscheinung scheint ihm verfallen zu sein. Es sieht so aus, als ob es nur noch Juden, aufgeteilte Juden, und kein Judentum gäbe. Und doch ist dem nicht so. Vielmehr darf daran geglaubt werden, daß diese Zeit der schwersten Prüfung für das Judentum eine tiefe Selbstbesinnung und damit den Beginn einer wahrhaften Sammlung und Einigung bedeutet. Es sei mir gestattet, hier zu wiederholen, was ich 1914 in einer Rede 1 äußerte: »Wenn die Losung dieser erschütterten Zeit Bewährung heißt, so heißt sie es dreifach und siebenfach für den Juden. Tiefer als je hat der Jude heute seine Problematik zu spüren bekommen; tiefer als je erkennt das Judentum, was es bedeutet, unter die Völker aufgeteilt zu sein. Aber die Zeit hat nicht bloß die Frage, sondern auch die Antwort verstärkt. Im 1.

»Die Tempelweihe«, siehe den vorangehenden Beitrag.

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Sturm der Begebenheit hat der Jude mit elementarer Gewalt erfahren, was Gemeinschaft ist. Er hat es nicht allein gesehen, er hat es an sich selber erfahren. War doch nicht das die wesentlichste Schwäche insbesondere des westlichen Juden, daß er ›assimiliert‹, sondern daß er atomisiert war; daß er ohne Zusammenhang war; daß sein Herz nicht mehr dem Herzschlag einer lebendigen Gemeinschaft einstimmte, sondern dem Willkürtakt seiner abgesonderten Wünsche folgte; daß er von dem wahren Menschenleben, von dem Miteinander- und Ineinanderleben der Menschen in heiliger Volksgemeinde ausgeschlossen war. Das Judentum war nicht mehr wurzelhaft, und die Luftwurzeln seiner Assimilation waren ohne nährende Kraft. Jetzt aber hat der Jude in dem katastrophalen Vorgang, den er in den Völkern miterlebte, bestürzend und erleuchtend das große Leben der Gemeinschaft entdeckt. Und es hat ihn erfaßt. Er blieb nicht Atom; er wurde mitgerissen; er schloß sich glühend der Gemeinschaft an, die ihm so ihr Leben offenbarte – der Gemeinschaft, die ihn in diesem Augenblick am stärksten brauchte. Wird ihn das der Gemeinschaft, die ihn in der Ewigkeit braucht, der tiefen Gemeinschaft seines Blutes und seiner Art weiter entfremden? Ich glaube, daß es ihn ihr wiederbringen wird. Gemeinschaftsgefühl ist in ihm erglommen, er fühlte in sich etwas entbrennen, wovor aller Nutzzweck zusammenfiel, er erlebte den Zusammenhang. Er hat den ersten Schritt der inneren Befreiung getan. Wenn dem Augenblick sein Recht geschehen sein wird, wird er nicht wieder ins Leben des Atoms zurückfinden, und der Ruf der tiefen Gemeinschaft seines Blutes und seiner Art wird ein wacheres Ohr treffen als zuvor … Viele werden uns folgen, die uns noch nicht gefolgt waren – vielmehr, sie werden sich selber folgen. Denn sie haben den Weg der inneren Befreiung betreten und sie werden erkennen, daß es für den sich befreienden Juden keine Wege gibt, sondern nur ei nen Weg. Sie werden in die erschütterten Schollen ihrer Seele den Samen der lebendigen Wahrheit empfangen. Sie werden ihre Einheit als Juden fühlen und erkennen lernen. Sie werden ihr Gemeinschaftserlebnis vertiefen und aus ihm ihr Judentum neu aufbauen. Sie haben in Blut und Tränen die Zerrissenheit des Judentums geschaut und die Sehnsucht wird über sie kommen, sie zu heilen.« Was ich damals sagte, hat sich mir seither bestätigt. Um nur von denen zu sprechen, die den Krieg unmittelbar erfahren haben: aus allen Briefen vom Felde, aus allen Gesprächen mit Heimgekehrten empfing ich den gleichen Eindruck – den einer Stärkung des Verhältnisses zum Judentum durch Klärung des Blicks und Festigung des Willens.2 Der oder jener wird 2.

Eine Anzahl solcher »Briefe vom Felde« von Ludwig Strauss (M. Buber, B I, Nr. 265), Robert Weltsch (ebd., Nr. 266; 274; 281), Ernst E. Rappeport (ebd., Nr. 267; 277;

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vom Judentum abfallen; wer das heute vermag, hat ihm nie angehört. Wer ihm aber treu bleibt, wird ihm stärker anhangen als zuvor: ernster, tätiger, verantwortlicher. Die Illusion, man könne in einer Zeit wie diese wahrhaft leben, indem man dem Leben der Gemeinschaft von außen zuschaut, oder man könne am Leben der Gemeinschaft teilnehmen, indem man sich bloß zu ihr bekennt, ist zerstört. Wer überhaupt mit seinem Dasein auf der Erde Ernst machen will, muß mit seinem Verhältnis zur Gemeinschaft Ernst machen: indem er sich ver a nt wo r t li ch fü hlt . In den durch das jüdische Erlebnis dieses Krieges erschütterten Juden, die sich für das Schicksal ihrer Gemeinschaft verantwortlich fühlen, stellt sich die neue Einheit des Judentums dar. Der erste Ausdruck dieser neuen Einheit ist die gewandelte Selbsterkenntnis. Nicht daß uns nunmehr müßig erschiene, was wir vor dem Krieg erstrebten: das »Wesen des Judentums« zu erfassen; aber für unsere Verantwortlichkeit scheint es uns wichtiger, das Judentum gegen die Völker abzugrenzen, die an diesem Kampfe teilnehmen oder ihm zusehen. Die Juden sind in ihn hineingemischt, duldend und handelnd, aber das Judentum ist ihm entrückt und unzugänglich. Die Juden sind Mittel, hüben und drüben, aber das Judentum ist unverbrüchlicher Selbstzweck, dienstbar nur dem Durchbruch des Menschentums. Es ist nicht Assurs gegen Mizraim und nicht Mizraims gegen Assur, es ist sein eigen und für die Menschheit. Das Judentum nimmt an dem Kampfe nicht teil, aber es sieht ihm auch nicht zu. Es ist nicht »neutral«. Der Neutrale steht, auch wenn er nicht heimlich Partei ergreift, in der Welt dieses Kriegs; das Judentum steht außerhalb ihrer, es hat seinem Wesen nach keinen Platz in ihr. Es wird in seinen Gliedern durch den Krieg heimgesucht und erleidet das Kriegsschicksal in ihnen; aber in seiner Substanz kann es von ihm nicht berührt werden. Wenn wir von dieser Substanz, die den Judenschaften der Erdenländer, der Vielfältigkeit ihrer Artungen und Geschicke und der Zerrissenheit dieses Augenblicks in ihrer mächtigen Einheit gegenübersteht, als von einem lebendigen Volkstum sprechen, wenn wir sie in der Diaspora zu sichern und zu festigen streben, wenn wir ihr eine zentrale Stätte, einen organischen Mittelpunkt in Palästina bereiten wollen, so gehen wir nicht darauf aus, eine Nationalität mehr zu den Nationalitäten zu fügen, die einander in diesem Augenblick bekämpfen oder belauern. Es ist nicht

282; 298) sind im ersten Band des von Grete Schaeder herausgegebenen Briefwechsel abgedruckt.

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die Sache des Judentums, zur Völkertrennung beizutragen, sondern seine Sache ist, der Völkerverbindung zu dienen. Die völkerverbindende Funktion des Judentums hat heute eine niedere und eine hohe Form. Die niedere betätigt sich unter den Wurzeln der Völker; sie wird geübt von den Abgesplitterten und Abgearteten, den Herren und Knechten des Kapitals. Der gegenwärtige Nationalismus ist eine legitime Auflehnung gegen diese Form der Völkerverbindung. Die hohe rauscht über die Wipfel der Völker hinweg; das ist der Aufschwung der weltbegeisterten Juden, die eine neue Humanität bereiten helfen. Die dritte, die wir meinen, die irdische, die das Sein der Völker nicht unterhöhlen und nicht überflügeln, sondern verbinden und verbünden will, ist keine Wirklichkeit, sondern eine Aufgabe. Zu ihr sollen die richtungslosen Juden des Westens als zu ihrem neuen Selbstbewußtsein sich ermannen; zu ihr sollen die gefesselten Juden des Ostens als zu ihrem lösenden Beruf sich erziehen; ihr soll das palästinensische Gemeinwesen, ein Bindeglied zwischen Europa und dem Orient, seine beste Kraft weihen und von ihr sein innerstes Lebensrecht empfangen. Als Gabriel Rießer im Jahre 1832 eine Zeitschrift »für Religion und Gewissensfreiheit« herauszugeben begann, nannte er sie: »Der Jude«. 3 Er meinte den einzelnen Juden, für den er die bürgerliche Gleichberechtigung forderte. Wir geben unserem Blatt den gleichen Namen, aber wir meinen nicht den Einzelnen, sondern den Juden als Träger des Volkstums und seiner Aufgabe. Wir fordern nicht Gewissensfreiheit für die Angehörigen eines Glaubens, sondern Lebens- und Arbeitsfreiheit für eine niedergehaltene Volksgemeinschaft, und daß sie, die heute in ihrem größten Teil als ohnmächtiges Objekt der Ereignisse behandelt wird, freies Subjekt ihres Schicksals und ihres Werkes werde, damit sie zur Erfüllung ihres Amtes an der Menschheit heranwachse. Diese Freiheit zu erkämpfen, ist die eine Losung u ns eres Kriegs; die andere aber, die hemmenden Kräfte der Eigensucht und Zersetzung zu bezwingen, die im Judentum selbst der Aufgabe entgegenstehen. Wenn wir erkannt haben, daß es gilt, mit unserem Verhältnis zu unserer Gemeinschaft Ernst zu machen, wenn wir dazu erwacht sind, uns für sie verantwortlich zu fühlen, dann müssen wir alles einsetzen, um sie zu reinigen. Der Jude, der ist, ist für uns nicht Ziel, sondern Ausgangspunkt; wir wollen den Juden, dessen hohes Bild wir im Gedächtnis und in der Hoffnung tragen, verwirklichen.

3.

Die Zeitschrift Der Jude erschien mit Unterbrechungen bis 1835, vgl. dazu E. Lappin, Der Jude, S. 4-5.

MBW 3 (02678) / p. 290 / 27.11.2006

Argumente Über die polnischen Juden ist in den letzten Monaten ein Trommelfeuer von Argumenten niedergegangen, die beweisen: erstens, daß die polnischen Juden nichts taugen, also zu verschwinden haben; zweitens, daß sie zwar was taugen, also nicht zu verschwinden haben, aber naturnotwendig und geschichtsnotwendig verschwinden müssen; drittens, daß sie zwar nicht verschwinden müssen, daß sie aber klug daran tun würden, zu verschwinden, dieweil es ihnen so schlecht geht und es aufhören wird, ihnen schlecht zu gehen, wenn sie nicht mehr da sind; viertens endlich, daß sie überhaupt gar nicht da sind, dieweil es in Polen nur Polen gibt und also keine Juden geben kann. Beispiel des ersten Typus: Ein bekannter Schriftsteller1 – dessen sonstigem Gebiet das Thema zwar fern liegt, aber in einer Zeit wie diese darf man sich nicht scheuen, die übelriechendsten Dinge anzufassen! – erklärt die »Polnischen« für eine niedere Menschenart, denn sie lebten in eitel Furcht, zum Beispiel vor Gott. Verweist man auf die kindliche Zärtlichkeit, auf den unwiedergeblich vertrauten Tonfall des »Süßer Tatenju2 «, womit die besagten Polnischen ihren Gott anreden, so antwortet unser Autor, das täten sie gerade aus Furcht, um sich bei dem Herrn einzuschmeicheln. In Anwendung dieser Logik könnte man etwa behaupten, die Deutschen lebten in eitel Berechnung, und wer darauf mit einem Hinweis auf die strenge Sachlichkeit ihrer Arbeit käme, dem wäre zu antworten, das täten sie gerade aus Berechnung, um den Völkern Sand in die Augen zu streuen. Beispiel des zweiten Typus: Ein namhafter liberaler Publizist (für die liberalen Publizisten waren bis zum Kriege alle Nationen ein reaktionärer Atavismus, jetzt ist es nur noch die jüdische) stellt fest, die Juden müßten sich an die Polen assimilieren, da sich nationale Minderheiten nun einmal aufzulösen pflegen, »sobald der absondernde und zusammenschließende Druck nachläßt«. Solch eine Konstatierung hat einen so exklusiven Klang von Gesetzmäßigkeit, daß der Leser gar nicht auf den Einfall kommt, sich zu überlegen, ob diese Gesetzmäßigkeit auch in Wahrheit besteht (ob z. B. die Deutschen in Siebenbürgen sich assimiliert haben), oder gar sich die Frage vorzulegen, ob Geschichtsanalogien so allgemeiner Art einem so

1. 2.

Es handelt sich um Franz Blei; vgl. den Beitrag »Die Polnischen und Franz Blei«, in diesem Band, S. 327-332. Tatenju, jidd. »Papachen«, »Väterchen«, von poln. Tata, »Papa«.

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Argumente

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einzigartigen und unvergleichbaren Fall gegenüber überhaupt der Charakter eines Arguments zukommt. Beispiel des dritten Typus: Ein wohlwollender (dieses Wohlwollen ist die eleganteste Form der Distanzierung) jüdischer Professor und öffentlicher Täter – der übrigens die Reinheit seines Typus nicht wahrt, sondern mir zwischendurch in den ersten hineinpfuscht, indem er die Unmoral der unbequemen und grenzsperrbedürftigen polnischen Juden 3 nach bewährter Methode demonstriert, nämlich durch die Entdeckung, daß man unter ihnen Kupplern und Betrügern begegne – ermahnt diese seine kompromittierenden Glaubens-Genossen, ihre Eigenart, die moralische wie die unmoralische, schleunigst aufzugeben, da sie nur auf diesem Wege aus ihrer bemitleidenswerten Lage herauskämen. Probatum est: 4 die zweckmäßige Entjudung oder Heilung des Kopfwehs durch die Guillotine. Beispiel des vierten Typus: Ein aus Warschau verschriebener Assimilationsspezialist legt dar, daß die polnische Judenheit in allem Wesentlichen bereits im Polentum aufgegangen sei und daß man sie nur noch – nur noch von ihrer Sprache zu befreien brauche; sonderbar immerhin, daß er sich über dieses Nichtmehrseiende noch so zu ereifern vermag. Ihm sekundiert ein »polnischer Genosse«, der allerdings eine andere Kleinigkeit als den peinlichen Erdenrest bezeichnet, der den polnischen Juden vom Paradies des Polentums fernhalte und ihm daher, nötigenfalls mit Gewalt, eiligst abzustreifen sei, nämlich die religiöse Überlieferung. Dieser selbige Genosse faßt seine Anschauung über das Problem in eine These zusammen, die zu meisterhaft formuliert ist, um nicht wörtlich angeführt zu werden: »Ob die Juden eine Nation sind – das ist eine Frage, die die Ethnographie zu entscheiden hat, und sie hat entschieden.« Dieser Fanatiker der ihm, wie aus dem Wortlaut der These hervorgeht, von Grund aus unbekannten Wissenschaft weiß Bescheid. Der wohlwollende Professor weiß Bescheid. Der liberale Publizist weiß Bescheid. Der bekannte Schriftsteller weiß Bescheid. Sie wissen alle Bescheid. Wir wissen nicht Bescheid. Wir sehen nur. Wir sehen eine res sui generis, 5 der gegenüber alles Analogiespiel versagt. Wir sehen den Schmutz 3.

4. 5.

Das Vordringen der deutschen Truppen nach Osten verstärkte die alte Forderungen nach Einwanderungsbeschränkungen, besonders gegen jüdische Einwanderer aus den eroberten Gebieten. Zu dieser mit dem Terminus »Grenzssperre« belegten Diskussion siehe E. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, S. 260-277. Lat., es ist erwiesen. Lat., eine Sache ganz eigener Art.

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und die Reinheit, die Verderbnis und die Treue, die Geschäftigkeit und die Inbrunst. Wir sehen die ringende Seele und die übergewaltige Not. Wir sehen im Herzen des neuen das alte, ungebrochene Judentum, das nicht zu beugen und nicht zu schwächen ist. Auf allen Gesichtern sehen wir die ungeheure Möglichkeit. Wir strecken die Hände aus: Brüder – laßt uns einander helfen, auszuharren und zu überwinden!

MBW 3 (02678) / p. 293 / 27.11.2006

Völker, Staaten und Zion I. Begriffe und Wirklichkeit Brief an Hermann Cohen 1.

Sie veröffentlichen, hochgeehrter Herr Geheimrat, in den K. C.-Blättern einen Aufsatz unter dem Titel »Zionismus und Religion«, 1 der mir in mancherlei Hinsicht, und zwar in seinen Behauptungen ebenso sehr wie in seinen Bestreitungen, bemerkenswert scheint, zu bemerkenswert, als daß man ihn summarisch behandeln dürfte, oder ohne vorher seinen Gedankengang sorgfältig nachgezeichnet zu haben. Sie begründen die Ihnen ungewohnte publizistisch-polemische Äußerung mit der Befürchtung, die Gefahr, die der Zionismus Ihrer Meinung nach darstellt, werde infolge der gesteigerten internationalen Spannung immer größer und aktueller. Das Anwachsen des Antisemitismus lasse die Assimilation als vergeblich, den Zionismus als die einzige Zuflucht erscheinen. Andererseits aber sei es gerade der Zionismus, der die Empfindlichkeit für die nationale Differenz verfeinere und solchermaßen viele, da sie diese nicht zu überwinden vermögen, zu dem Entschluß verleite, sie wenigstens für ihre Kinder durch die Taufe aufzuheben.2 Der in gleicher Weise glaubens- wie vaterlandstreue liberale Jude aber werde »vom Zionismus verspottet und verachtet«, als »ein Feigling und ein Heuchler« bezeichnet. Als ein Heuchler aber auch in seiner Religiosität, denn die 1. 2.

»Zionismus und Religion. Ein Wort an meine Kommilitonen jüdischen Glaubens«, in: K-C-Blätter, Mai/Juni 1916, S. 643-646. [Anmerkung Buber:] Auf diese Behauptung Cohens erübrigt es sich wohl einzugehen; es genügt, auf sie als ein Kuriosum hinzuweisen. Wer also den Indifferenten ein positives, sinvolles, begeisterndes und beseligendes Judentum weist – nicht jenes allgemeingültige, das mit dem »geläuterten« Protestantismus zu vertauschen nicht gar so schwierig sein mag [zusätzliche Anmerkung in JuJ: »Im wissenschaftlichen Sinne und Geiste kann man jetzt überhaupt nicht schlechthin mehr sagen, daß eine wahrhaft sittlich-religiöse Differenz zwischen Judentum und Christentum bestünde.« (Hermann Cohen in der Sammelschrift »Vom inneren Frieden im deutschen Volke«, Leipzig 1916.)], sondern ein Judentum mit eigener Seele und eigenem Angesicht, eines, das bewußt und getreu zu erleben für das Leben ihrer Kinder einen höheren Wert bedeutet als alle »Beseitigung der Reibungen« – wer sage ich, ein Judentum weist, um dessen willen die Reibungen selber nicht Verdruß und Verbitterung, sondern das tiefe Glücksgefühl erzeugen, für die Würde und Hoheit des eigenen Urwesens einzustehen, von dem erklärt Cohen, er verleite die Indifferenten dazu, sich zu sagen: »Meine Kinder sollen diese Unglücksgefühl nicht mehr in sich zu tragen haben, daher sollen sie Christen werden« (so wörtlich bei Cohen).

MBW 3 (02678) / p. 294 / 27.11.2006

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Zionisten sprächen jedem, der kein jüdisches Nationalgefühl habe, auch die Religiosität ab. 3 Hingegen täten sie, die Zionisten, sich in einem unnatürlichen Bündnis mit der Orthodoxie zusammen, obgleich sie selber dem Pantheismus huldigten und der jüdischen Rasse das Merkmal der Heiligkeit zusprächen. »Wenn nun«, fahren Sie fort, »der Zionismus Religion und Nationalität gleichsetzt, so erheben wir zunächst den Einspruch, daß wir Nichtzionisten keineswegs die Religion außer Verbindung sehen mit der Nationalität. Wir setzen nur beide nicht identisch, sondern machen die Nationalität zu einem anthropologischen Mittel für die Fortpflanzung der Religion.« Die Nationalität sei, so erklären Sie, »die naturgemäße Bedingung und Grundlage für den Fortbestand der Religion«. Aber Nationalität sei eben etwas ganz anderes als Nation. Nationalität sei eine Naturtatsache, Nation hingegen eine Schöpfung des Staates. »Der Staat erst stiftet und begründet die eine Nation, mit der er sich gleichsetzt. Aber diese eine, durch den Staat definierte Nation kann viele Nationalitäten in sich vereinigen.« Auch die deutsche Nation umfasse mehrere Nationalitäten, darunter »unsere fortbestehende jüdische Nationalität«. Der Zionismus aber spreche von der jüdischen Nat i o n; dazu hätte er nur ein Recht, »wenn er grundsätzlich und ausnahmslos den jüdischen Staat erstrebt.« Er hingegen fordere nur die »öffentlich-rechtliche« (soll heißen: öffentlich-rechtlich gesicherte) Heimstätte. 4 Indem er aber diese für die Juden fordere, ohne die Einschränkung zu machen: »für diejenigen Juden, die annoch einer solchen entbehren,« mache er sich nicht allein einer Kränkung des Vaterlandsgefühls der eine Heimstätte bereits besitzenden Juden, sondern auch einer Zweideutigkeit schuldig, die für Sie »den ganzen Zionismus zu einer schier unbegreiflichen Unwahrhaftigkeit macht«. Ohne Wahrhaftigkeit aber gebe es keine »richtig orientierte« Religiosität. Und in der Tat: wie die Zionisten durch ihren Pantheismus der jüdischen Religion widersprächen, so ergehe sich die zionistische Literatur, auch in Schriften deutscher Rabbiner, in frivoler Verhöhnung der höchsten Idee der jüdischen Religiosität, der Idee der messianischen Menschheit. Diesem Zionismus, der das allgemeine Vorurteil der Christen gegen uns, daß wir keine Religiosität hätten, bestätige, müsse entgegengehalten werden, daß wir »in irgend einer Naturtatsache, wie der der nationalen Abstammung«, nicht »den eigentlichen und einzigen Halt für unser Selbstbewußtsein« suchen könnten. »Wer 3.

4.

[Anmerkung Buber:] Im Gegenteil: sie behaupten, wer jüdische Religiosität habe, der habe auch, ob er es auch sich selber nicht zugebe, ein jüdisches Nationalgefühl, allerdings zuweilen ein zum Nationalitätsgefühl verkümmertes. Darum aber wird ihn kein billig Denkender als Heuchler bezeichnen. So die Formulierung des »Baseler Programms« vom Ersten Zionistenkongreß 1897.

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mit der ganzen Glut des Herzens, mit Zittern und Beben sein Schema Jisrael betet, der, und er allein, befestigt sein jüdisches Ich unerschütterlich in Geist und Seele.« Von diesem Gesichtspunkt aus sei auch die zionistische Forderung einer Wiederbelebung der hebräischen Sprache zu betrachten; wohl sei es unsere Pflicht, die hebräische Sprache zu pflegen, aber nicht als eine profane Umgangssprache, sondern als die Sprache unseres Gebetes; so viel Hebräisch müsse demgemäß (so präzisieren Sie Ihre Forderung) jeder gebildete Jude sich anzueignen bestreben, als zum Verständnis der wichtigsten Gebete erforderlich ist. Durch solche Befestigung und Vertiefung ihres Verhältnisses zum Judentum würden die deutschen Juden, so meinen Sie, den Zionismus überwinden. Ich kann heute nur auf jene Punkte Ihres Briefes eingehen, die mir besonders wichtig scheinen, und auch auf sie nicht mit der wünschenswerten Ausführlichkeit.

2.

»Wenn nun der Zionismus Religion und Nationalität gleichsetzt, so erheben wir zunächst den Einspruch, daß wir Nichtzionisten keineswegs die Religion außer Verbindung setzen mit der Nationalität.« Wir Nichtzionisten! Glauben Sie wirklich, im Namen der Nichtzionisten diese Erklärung abgeben zu können? Oder auch nur im Namen der liberalen Juden, als deren Sprecher Sie, und gewiß mit Recht, wenige Sätze vorher auftreten? Seit einem Jahrhundert und länger betonen die mehr oder minder liberalen Juden in allen Zungen und Tonarten, es gebe überhaupt keine jüdische Nationalität, oder, wie Moritz Lazarus, ein akkreditierter Vertreter, offenbar in Verallgemeinerung der Ergebnisse seiner Selbstbetrachtung es formulierte: »Die Juden haben keine eigene Nationalität mehr; es gibt schlechterdings keinen Juden mehr, der nur noch einen jüdischen Geist hat.« 5 Sie aber, Herr Geheimrat, sprechen, als sei die Anerkennung der jüdischen Nationalität ein integrierender Bestandteil der nichtzionistischen, insbesondere der liberal-jüdischen Lebensanschauung, und verargen es dem Zionismus, daß er diesen Bestandteil nun einmal nicht wahrzunehmen vermag. Allerdings betonen Sie, daß Sie in der Nationalität, die wir als eine hi s to r i sche Kategorie aufzufassen gewohnt sind, nur eine »Naturtatsache« sehen; und in der Tat gebrauchen Sie auch sonst in Ihren Schrif5.

Zitat Aus Moritz Lazarus 1879 gehaltenem Vortrag »Was heißt national?«, S. 43.

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ten die Termini »Nationalität« und »Stamm« oder »Abstammung« als Synonyma. Aber wie vermögen Sie, von Ihrem Standpunkt des strengen altjüdischen Monotheismus, die Abstammung als eine »Naturtatsache« zu behandeln? Das jüdische Urwort »Samen«, das nirgends fehlt, wo Gott mit Abraham und Abrahams Geschlecht seinen Bund schließt und erneuert, nicht beim Bund über dem Fünftieropfer, 6 nicht beim Bund auf dem Berge Morija7 und nicht beim Bund zu Beth-El8 – dieses Prinzip des Bundes wäre nicht in der Geschichte wirkender Gotteswille und Gottessinn, sondern eine Naturtatsache? Aber Sie selber halten im Fortgang Ihrer Ausführungen diese Definition nicht aufrecht oder setzen sich in Widerspruch zu ihr. Sie sagen: »Die Nationalität hat freilich ein Moment, durch dessen Stärkung der Zionismus sich scheinbar ein Verdienst erwirbt: die hebräische Sprache.« Sehen wir vorerst von der Frage des »scheinbaren« Verdienstes ab – unmißverständlich erklären Sie an dieser Stelle die hebräische Sprache als ein Moment der jüdischen Nationalität. Ist das immer noch die Naturtatsache, die bloße Abstammung, das »anthropologische Mittel« – diese Nationalität, zu deren Momenten eine S p r a ch e gehört? Wird auch die Sprache mit der Geburt besessen? Und gar diese Sprache, die ihr Fortleben – mit Ausnahme ihrer beginnenden Erneuerung in Palästina – nicht der »natürlichen« Aneignung des Kindes, sondern dem bewußten, gegen die Naturtatsache des Umgebungseinflusses sich durchsetzenden nationalen Willen der ausharrenden Generationen zu verdanken hat! Nein, Herr Geheimrat, mit dem Begriff der Naturtatsache ist die Nationalität nicht zu definieren. Sie ist eine geschichtliche Wirklichkeit und eine sittliche Aufgabe. Gewiß hat auch sie ihre Wurzeln im Naturhaften. Aber auch unser Menschentum hat seine Wurzeln im Naturhaften, und doch kann es uns in dessen Grenzen sein Wesen nicht erschließen, sondern erst im Geisteskampf der Menschheit, in dem unendlichen Streben, d i e Id ee d es Menschen zu erfü l len. Und nicht anders ist es mit der Liebe, mit der Kunst, mit der Erkenntnis. Sie alle haben ihre Wurzeln in Naturtatsachen, aber wir können ihres Sinnes nicht innewerden, ehe wir zum Woher das Wohin tun, zum Ursprung das Ziel, zur Einsicht, woraus sie geworden sind, diese andere, was aus ihnen werden soll, zu dem, was uns gegeben ist, das, was uns aufgegeben ist, zur Natur den Geist. Eine Wirklichkeit des Geistes und des Ethos ist die Nationalität, und in doppeltem Sinn. Eine Wirklichkeit des Geistes und des Ethos in der Geschichte, da sie ihrer Idee dient nicht als das anthropologische 6. 7. 8.

Gen 15, 7-21 (Bundesschließung mit Abraham). Gen 22,1-19. Gen 35,9-15.

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Mittel zu deren Fortpflanzung, sondern als ihrer Idee Träger und Leiblichkeit, der Idee immer wieder und immer neu und anders sich bemächtigend, sie tausendfach wandelnd und in aller Wandlung rein bewahrend, sie und sich mit ihr tausendfach verlierend und sie und sich mit ihr aus aller Verlorenheit in heiliger Kraft wiederfindend, wiedererringend, wiedergebärend – dies der eine Sinn der Nationalität. Und der andere: all dies in unser persönliches Leben verpflanzt, in eines jeden von uns, in Ihr, in mein persönliches Leben als Schicksal und Aufgabe verpflanzt, all dies – auf daß wir werden was wir sind, und als Prüfung, und als Reinigung, und als Auslese; wie jene Terebinthe des Jesaja, a von der ein Wurzelstock geblieben ist: »heiliger Same ist ihr Wurzelstock«. Nie, verehrter Herr Geheimrat, hat der Zionismus, wie Sie behaupten, Religion und Nationalität gleichgesetzt; aber nie auch wird er das Volkstum zu einem anthropologischen Mittel für die Fortpflanzung der Religion verkleinern lassen. Sondern auch jeder Zionist, für den wie für mich die Religiosität im Zentrum des Judentums steht, wird wie ich wissen und bekennen: daß die jüdische Religiosität – wohlgemerkt, ich meine nicht eine Erscheinungsform und nicht eine Auffassung der Religion, sondern die ganze unendliche Religiosität des Judentums, die undefinierbar, unbegrenzbar, über Glaubenssätze und Sittenlehren dahinflutend, sie alle umschließt und von keinem umschlossen werden kann, wandlungsmächtig und doch im Kern unwandelbar – daß die jüdische Religiosität, sage ich, eine Funktion, die oberste Funktion des mächtigen jüdischen Volkstums ist, eine Funktion, die ohne ihren Träger nicht, wie Sie meinen, sich bloß nicht fortpflanzen, nein, die ohne ihn nicht bestehen könnte: die aus seinem Blute lebendig, aus seinen Kräften stark, aus seinem Willen wirksam ist und die ohne seine Vitalität, ohne seine eifernde und duldende Gewalt keine Stätte auf Erden hätte. Es gilt für die Geschichte und für das Leben des Einzelnen: die Idee kann nicht realisiert werden, wenn nicht das Volkstum realisiert wird. Darauf aber, auf das Realisieren kommt es einzig an. Die Nationalität als bloße Naturtatsache ist eine Fiktion, wie das Menschentum als bloße Naturtatsache eine Fiktion ist; erst wenn wir sie als eine Wirklichkeit des Geistes und des Ethos anschauen, können wir sie auch in unserem eigenen Leben zur Wirklichkeit machen.

a.

JuJ fährt fort: (6, 13), von der ein Stumpf geblieben ist: »Sein Stumpftrieb ist Same der Heiligung«.

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3.

Ist die Nationalität aber keine Naturtatsache, sondern eine geistige Realität in Geschichte und persönlicher Aufgabe, dann kann zwischen ihr und der Nation wohl nur ein Unterschied des Grades – der Größe der selbständigen Kulturschöpfung, der Größe des geschichtlichen Lebens, der Größe des einheitlichen Willens usw. – nicht aber einer der Gattung sein, wie Sie behaupten. Diese Behauptung ist Ihnen nur dadurch ermöglicht, daß Sie, wie Sie den Begriff der Nationalität von seiner Entfaltung im Geistigen ablösten, so umgekehrt den der Nation von seiner Verwurzelung im Naturhaften ablösen; wie Sie den einen zu einer bloßen Naturtatsache machen, so den andern zu einer rein geschichtlichen Existenz: indem Sie die Nation erst durch den Staat »gestiftet« und »begründet« werden lassen. Es muß einer exakteren Erörterung, als sie in diesem Brief gegeben werden kann, vorbehalten bleiben, darzulegen, daß diese Ihre Terminologie weder durch die Sprachgeschichte, noch durch den gegenwärtigen Sprachgebrauch, noch auch durch die tatsächlichen Verhältnisse der Gegenwart legitimiert erscheint. Ich bin bereit, den Beweis dafür anzutreten. Hier will ich nur auf einen besonders wichtigen Punkt mit wenigen Worten eingehen. Nation und Staatsgemeinschaft sind für Sie schlechthin identische Begriffe. Die russische Nation deckt sich in Ihren Augen mit der russischen Staatsgemeinschaft, die türkische Nation mit der türkischen Staatsgemeinschaft usw. »Aber diese eine, durch den Staat definierte Nation kann viele Nationalitäten in sich vereinigen.« Es ist also die Nat i o n, deren Teile die Nationalitäten sind. Wie steht es nun um die Nationalitäten, die sich von den herrschenden Nationen ihrer Staaten unterdrückt wissen oder wähnen? Nun, alle diese Nationalitätsfragen werden nunmehr auf die einfachste Art gelöst, ja aus der Welt geschafft, nämlich durch die terminologische Methode. Diese Nationalität da, die sich beschwert – sie ist doch ein Teil der Nation, über die sie sich beschwert, denn diese herrschende Nation ist ja mit der Nation ihres Staates identisch (oder nicht? dann gäbe es also eine russische Nation, die Staatsnation, und eine russische – Nationalität, die herrschende): wie könnte sie von ihr unterdrückt werden, von dem Organismus, dem sie angehört? Alle Leiden der Nationalitäten wären somit eingebildete Leiden und deren Heilung eine Aufgabe der Lehre von den richtigen Begriffen. Verzeihen Sie, verehrter Herr Geheimrat, den scherzhaften Ton in einer so ernsten Sache. Ich glaubte Ihnen so am besten vorführen zu können, welche Paradoxien die folgerichtige Anwendung Ihrer Terminologie erzeugt.

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»Nur wenn er hder Zionismusi grundsätzlich und ausnahmslos den jüdischen Staat erstrebt, hätte er ein Recht, von der jüdischen Nation und nicht, wie wir, von der jüdischen Nationalität zu sprechen.« Nehmen Sie das nicht zu genau, Herr Geheimrat? Kein anderer als Sie selbst schrieb eben erst (1913): »Nur der Lehren wegen sind und bleiben wir Nat i o n« (Hermann Cohen, Das Gottesreich, im Sammelbuch »Soziale Ethik im Judentum«, S. 124). Und doch haben Sie nicht grundsätzlich und ausnahmslos den jüdischen Staat erstrebt. Aber der Zionismus müßte es tun, wenn ihm der Gebrauch des Wortes Nation gestattet werden sollte. Warum müßte er das? Die Tatsache, daß der österreichische Staat in diesem Krieg seinen Zusammenhalt erwiesen hat, daß seine Nationalitäten ihre Streitigkeiten zurückgestellt haben, um gemeinsam für den sie umfassenden Staat gegen andere Staaten zu kämpfen, diese Tatsache, sagen Sie, habe gezeigt, daß die Terminologie verändert werden müsse: daß man die Staatsgemeinschaft, und sie allein, nunmehr als Nation anzusprechen habe. Ich vermag der angeführten Tatsache dieses Müssen nicht zu entnehmen. Vielmehr beweist sie mir nur, daß der Staat und die Staatsgemeinschaft – die ja zumeist auch eine Kulturgemeinschaft ist, so die österreichische trotz aller nationalen Differenzen eine Kulturgemeinschaft von eigentümlicher Art – eine große Macht über die Seelen der Menschen haben, unter Umständen eine größere als die Nation und die nationale Gemeinschaft. Aber ist deshalb die Staatsgemeinschaft – nicht etwa eine bestimmte, besonders einheitliche, sondern die Staatsgemeinschaft an sich, und gar sie allein, eine Nation zu nennen? Österreich hat zusammengehalten – müssen deshalb die Völker Österreichs, und unter ihnen auch die Teile der deutschen Nation, der italienischen Nation, der polnischen Nation, die österreichischen Kronländer bewohnen, samt und sonders zu Nationalitäten, ihre Gesamtheit aber zu einer Nation erklärt werden? Wenn Sie sagten, daß die Definition sich aus Ihrer Philosophie ergebe, würde ich das gewiß nicht zu bestreiten wagen – aber wie sie sich aus den Tatsachen ergeben soll, ist mir nicht ersichtlich. Und wenn zu irgend einer Zeit irgend ein anderer aus mehreren Nationen oder Nationalitäten zusammengesetzter Staat zerfiele, wie das ja in der Geschichte schon etliche Male vorgekommen ist, so würde auch daraus sich nichts anderes ergeben, als daß die Macht über die Seelen der Menschen, von der ich sprach, nicht immer und überall die gleiche ist, und daß es and ere Umstände geben kann, unter denen sie geringer ist als die der nationalen Gemeinschaft. a

a.

h i bzw. eckige Klammer in der Vorlage.

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Wahrlich, es trägt nicht zur Klärung, sondern zur Trübung der Begriffe bei, wenn man Nation und Staatsgemeinschaft als identisch behandelt.

4.

Klärung der Begriffe – aber geht es hier um Begriffe? Kann man die jüdische Volksfrage durch eine Terminologie »erledigen«? Kann »die Natürlichkeit und Aufrichtigkeit eines Nationalgefühls« durch eine Definition erwiesen werden? Es gibt ethnische Gruppen in Europa, die vermeinen, sich einen breiteren Lebensanspruch zu erwerben, wenn sie beweisen, daß sie eine Nation und keine Nationalität seien: durch eine Definition. Es gibt andere Gruppen, die vermeinen, diesen Lebensanspruch aus der Welt zu schaffen, indem sie den Gegenbeweis führen: durch eine andere Definition. Wollen wir dieser Argumentationsweise mitten im Judentum Platz schaffen? Nation oder Nationalität, gleichviel. Das Judentum ist ein undankbares Exempel für Definitionen. Es gibt Schichten des deutschen Judentums, bei denen ich das Gefühl »Nationalität« kaum noch aufbringe; sie sind nicht etwa übernational, sondern unternational – das artlose, gedächtnislose, substanzlose Randgezücht. Aber ich brauche nur einen Vers von Bialik oder einen Brief aus Erez Israel zu lesen und ich fühle: hier ist Nation, nein, hier ist mehr als Nation – hier ist Volk. Sie schreiben, verehrter Herr Geheimrat: »Solange dort die Losung besteht, eine »öffentlich-rechtliche Heimstätte« fü r d i e Ju d en zu gründen …« Diese Losung besteht nicht und hat nie bestanden. Sondern die öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte wird »fü r d as jü d i s che Volk « erstrebt. Und von dieser Losung sagen Sie, Herr Geheimrat, nachdem Sie sie so grundverkehrt zitiert haben, ihre Zweideutigkeit mache den ganzen Zionismus für Sie »zu einer schier unbegreiflichen Unwahrhaftigkeit!« Worin besteht diese Unwahrhaftigkeit? Ob diese oder jene Juden sich bereits im Besitz einer Heimstätte fühlen, das ist ihre Sache; aber besitzt d a s jü d i s che Volk eine Heimstätte? Das jüdische Volk – keine Naturtatsache, sondern eine keiner anderen vergleichbare geschichtliche Wirklichkeit; kein Begriff, sondern ein ungeheures Leben und Sterben vor Ihren und meinen Augen; kein Mittel für die Fortpflanzung der Religion, sondern dieser Religion und mit ihr aller jüdischen Ideologie, alles jüdischen Ethos, aller jüdischen Sozialität zum Staube erniedrigter Träger. Mögen Juden an allerlei Orten, in diesem oder jenem Vaterlande »ihrem politischen Bewußtsein und Gefühle nach eine Heimstätte besitzen«, das jüdische Volk ist der große Heimlose.

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Alle Gottesflüche der Schrift meinen Zerstreuung, alle göttlichen Segnungen und Tröstungen meinen Sammlung – für wen? Für die Juden aller Vaterländer? Für die ihrem politischen Bewußtsein und Gefühle nach Besitzenden? Oder nicht vielmehr für das Volk? Und in denen alsdann das Volk lebendig ist, diese sind d er Res t , dem der Prophet die Rückkehr kündet. Im Zeichen der alten Segnungen und Tröstungen steht die neue Losung. Sie fordert eine Heimstätte – für das jüdische Volk, das, um mit Ihren Worten zu sprechen, »annoch einer solchen entbehrt«.

5.

Die messianischen Segnungen und Tröstungen – aber Sie, Herr Geheimrat, werfen ja gerade dem Zionismus vor: die zionistische Literatur »ergehe sich in frivoler Verhöhnung dieser höchsten Idee der jüdischen Religion«, des Messianismus. Wo und wann, Herr Geheimrat, hat sie sich darin ergangen? Ich glaube die zionistische Literatur zu kennen; ich kann mich auf eine Stelle, auf die Ihre Behauptung zutrifft, nicht besinnen. Vielmehr ist in ihr von Moses Hess bis auf (um ein naheliegendes Beispiel aus der heutigen Generation zu wählen) meine eigenen Schriften der Messianismus als die führende Idee des Judentums dargestellt worden. Noch einmal, Herr Geheimrat, wo und wann? Was der Zionismus bekämpft, das ist nicht die messianische Idee, sondern ihre Entstellung und Verzerrung, wie sie in einem beträchtlichen Teil der liberaljüdischen antizionistischen Literatur zu finden ist. Die Entstellung und Verzerrung, die unter Berufung auf den Messianismus die Zerstreuung, die Erniedrigung, die Heimlosigkeit des jüdischen Volkes als etwas absolut Wertvolles und Segensreiches verherrlicht, als etwas, das bewahrt werden müsse, weil es die messianische Menschheit vorbereite. Auch wir sehen als das Ziel »die Erlösung des Menschengeistes und das Heil der Welt« (Buber, Drei Reden, S. 92) 9 , aber als den Weg dahin sehen wir »die Befreiung eines gepeinigten Volkes und seine Sammlung um Gottes Heiligtum« (das.). Oder, wie Moses Hess es 1864 (Schriften, S. 44) ausgesprochen hat: »Uns fehlt das Land, um das historische Ideal unseres Volkes zu verwirklichen, welches kein anderes Ideal ist als die Herrschaft Gottes auf Erden, die messianische Zeit, die von allen unseren Propheten 9.

Im vorliegenden Band, S. 252.

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verkündet worden ist.« Es fällt uns nicht bei, wie Sie meinen, »das Judentum in seiner Grundlehre grundsätzlich für das jüdische Volk reserviert zu halten«. In der m es s i ani s chen Menschheit mag das Judentum dereinst aufgehen, mit ihr verschmelzen; 11 nicht aber vermögen wir einzusehen, daß das jüdische Volk in der heu t i gen Menschheit untergehen müsse, damit die messianische erstehe: vielmehr muß es eben darum mitten in ihr, ja mitten in dieser heutigen Menschheit verharren, aber nicht als eine stetig abbröckelnde Naturtatsache im Verein mit einer immer breiter konfessionalisierten Religion, sondern als ein sein Ideal um dieser Menschheit willen und ihr gegenüber frei und ungehindert verwirklichendes Volkstum. »Die jüdische Religion lehrte nicht wie das paulinische Christentum ein Hinaustragen der Botschaft in die Völker, 10. Altertümelnder Sprachgebrauch; moderner: es fällt uns nicht ein. 11. [Anmerkung Buber:] Cohen schickt seinem Zitat dieses Satzes die Worte voraus: »Es ist zu beachten, daß Buber den Gegensatz des jüdischen Volkstums zur messianischen Menschheit anerkennt« und die Worte nach: »Das Sophisma tritt klar zutage.« Er versucht aber weder den »Gegensatz« noch das »Sophisma« aufzuzeigen. In Wahrheit äußert sich hier keinerlei Gegensatz. Die messianische Menschheit greift nicht über das jüdische Volkstum allein, sondern über alles Volkstum als abgesonderten Bestand hinaus. In einer Menschheit, in der die Völker als in einer höheren Einheit wahrhaft und vollkommen vereinigt sein werden, wird auch das Judentum, das alsdann seinen Beruf erfüllt haben wird, auf seine Absonderung verzichten dürfen. Damit aber diese Menschheit komme, muß es sich rein halten, sich sammeln und bewahren, um sein wegbereitendes Amt an ihr zu erfülllen. Es ist nicht wahr (was auch von national-jüdischer Seite behauptet worden ist), daß die Zerstreuung sich zur »Verbreitung der jüdischen Ideen« eigne. Diese Behauptung träfe etwa zu, wenn es um theoretische Anerkennung dieser Ideen ginge. Aber es ist eben deren Eigentümlichkeit, daß sie nicht anerkannt, sondern geübt werden wollen. Anerkannt entarten sie zu Schlagworten, geübt erlösen sie die Welt. Es ist ihnen damit nicht genug getan, daß sie in die Vernunft der Menschen eingehen: der Ort, den sie suchen, ist das gelebte Leben. Man kann aber Ideen zum Leben nicht durch Worte bringen, sondern nur durch das Leben selber. Die jüdischen Ideen verkünden, wie die Menschen miteinander leben sollen; die Gestaltung eines wahrhaften Gemeinschaftslebens ist es, die Mose in seinen Institutionen vorgebildet, um deren Verwirklichung die Propheten gerufen haben. Von einer »Verbreitung« dieser Ideen durch die von vielfältiger seelischer und sozialer Entartung heimgesuchten und in der Gestaltung ihres Gemeinschaftslebens überdies der Willkür der Völker preisgegebenen Juden zu reden, ist eine klägliche Phraseologie; aber auch das Buch der Juden hat ihre Ideen nur als Worte verbreitet, die zu Schlagworten entarteten; das sind die Schlagworte, die der »europäischen« Menschheit gut genug sind, die Nichtigkeit und Gottwidrigkeit ihres Lebens zu verdecken. Erst wenn die Kerntruppen der Juden daran gegangen sind, in Freiheit ein wahrhaftes Gemeinschaftsleben zu gestalten; erst wenn darin die jüdischen Ideen zu leibhaften Institutionen zwischen und über den Menschen geworden sind; erst wenn sie endlich dazu gelangt sind, wozu sie Mose bestimmte und was die Propheten forderten: zur Erfüllung in einem gottgerechten jüdischen Gemeinwesen: erst dann werden sie – nicht »verbreitet« werden, nein, erhöht vor den Augen der Menschheit werden sie sie zwingen, ihnen nachzuleben.

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nicht wie der Islam ein Erobern der Welt für den Glauben, sondern die Einwurzelung im heimatlichen Boden, die Bewährung des rechten Lebens in der Enge, die vorbildliche Gestaltung einer Menschengemeinschaft auf der schmalen kanaanitischen Erde. Und die am tiefsten ursprüngliche Schöpfung des Judentums, der Messianismus, ist nur die gleiche Idee, als letzte Erfüllung gedacht, in die absolute Zukunft projiziert, da der Herr allen Völkern auf dem Berge Zion ein Mahl richten wird von reinem Wein, darinnen keine Hefe ist« (Buber, Vom Geist des Judentums, S. 38). a Das Streben nach der »Heimstätte« ist ein nationales; ihr eigenes Streben, das Streben des jüdischen Gemeinwesens in Palästina wird ein übernationales sein müssen. Wir wollen Palästina nicht »für die Juden«: wir wollen es für die Menschheit, denn wir wollen es für die Ver w i r kli chu ng des Judentums.

6.

So, verehrter Herr Geheimrat, verhält es sich mit Ihrer Beschuldigung, die zionistische Literatur verhöhne die messianische Idee. Und nicht besser belegt ist Ihr anderer Vorwurf. Die »Koalition« des Zionismus mit der Orthodoxie, sagen Sie, sei unnatürlich, »denn Vertreter des Zionismus haben es oft genug ausgesprochen, und ihre schöne Literatur strotzt von diesem Zynismus: daß die pantheistische Weltanschauung über die Religion eines jenseitigen Gottes erhaben ist.« »Ihre« schöne Literatur? Die schöne Literatur der »Vertreter des Zionismus«? Was für eine Literatur meinen Sie damit? In der schönen Literatur pflegt man im allgemeinen doch nicht vergleichende Weltanschauungsstudien zu treiben. Ich halte es übrigens zwar für keinen »Zynismus«, eine Weltanschauung über eine Religion zu stellen, aber gleichviel: welche Vertreter des Zionismus meinen Sie, und welche Äußerungen von ihnen, in denen sie die pantheistische Weltanschauung solchermaßen mit der Religion eines jenseitigen Gottes verglichen haben?12 Nicht, als ob das in 12. [Anmerkung Buber:] Cohen hat meine Frage unbeantwortet gelassen und mir das Material zu einer Erörterung seiner Vorwürfe nicht geliefert. Ich muß mich daher begnügen, meine eigenen Anschauungen anzudeuten. Für mich sind Theismus und Pantheismus, Jenseitigkeit und Diesseitigkeit nur unzulängliche Metaphern, die das biblische Gefühl des nahen Gottes unendlich überragt. Der Mensch der jüdischen Religiosität, der jüdische Urmensch aller Zeiten ist mit Gott vertraut; er erlebt ihn als Jenseits, wenn er ihn anbetet, als Diesseits, wenn er ihm dient; Transzendenz a.

JuJ abweichend: da der Herr allen Völkern auf dem Berge Zion ein Gelage bereiten wird »von firnen Weinen, klar geseihten« (Jes 25, 6).

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meinen Augen ein Grund wäre, irgend eine Koalition »unnatürlich« erscheinen zu lassen: es liegt in der Natur der Koalitionen, daß sie einen gemeinsamen Gegner und nicht eine gemeinsame Weltanschauung zur Voraussetzung und Legitimation haben; und nun sollen gar alle Vertreter beider Teile auf eine gemeinsame Weltanschauung eingeschworen sein! Aber es wäre mir lieb zu erfahren, wen und was Sie meinen, um auf diesen Punkt so ausführlich, wie er es verdient, eingehen zu können. Nun weiß ich zwar nichts von einer »Koalition« zwischen Zionismus und Orthodoxie; es sei denn, Sie meinten damit die von Fall zu Fall, für Wahlen u. dgl., gegen einen gemeinsamen Gegner getroffenen Vereinbarungen. Aber wenn auch nicht eine formulierte und organisierte Koalition, es gibt da eine trotz aller ungeheuren Verschiedenheiten – deren größte darin besteht, daß der Zionismus als solcher zu der religiösen Frage überhaupt keine Stellung nimmt und somit Anhänger aller religiösen Richtungen und Anschauungen umfaßt – unzweifelhaft bestehende innere Gemeinsamkeit, nicht eigentlich zwischen Zionismus und Orthodoxie, aber zwischen einem wahrhaften, begeisterten Zionisten und einem wahrhaften, begeisterten Gesetzesjuden: die leidenschaftliche Auflehnung gegen das fiktive Judentum und das leidenschaftliche Verlangen nach einem realen. Was fiktives Judentum sei? Sie selber sagen es. »Mit der Negation und Abwehr allein ist es nicht getan«, rufen Sie Ihren Lesern zu; »wir müssen zu ganz anderen, positiven Leistungen uns aufraffen.« Das Judentum, das es sich bisher an Negation und Abwehr hat genügen lassen und dennoch den Anspruch erhob, Judentum genannt zu werden – dieses nenne ich das fiktive. Reales Judentum, das ist gelebtes Judentum. Die Unterscheidung gilt auch für alle anderen Gemeinschaften, die religiösen, die nationalen und die politischen. Reales Christentum ist nicht proklamierte, sondern gelebte christliche Lehre. Reales Deutschtum ist nicht proklamierter, sondern gelebter deutscher Geist. Realer Sozialismus ist nicht proklamierte, und Immanenz sind nur die Phasen seiner Frömmigkeit – wie sollte er Gott in die Enge einer von ihnen bannen wollen! Er wird auch nicht mit Cohen sagen, Gott sei nicht eine Person, sondern eine Idee. Er erlebt Gott als Idee, wenn er ihn denkt, als Person, wenn er ihn dichtet; Idealismus und Personalismus sind nur die Pole seiner Andacht– wie sollte er Gott in die Enge einer von ihnen bannen wollen! Vielleicht kann ein Hinweis auf das Leben zwischen den Menschen unmittelbarer verständlich machen, was ich meine. Wer einen Menschen aus der Ferne des Interesses, der Bewunderung, der Verehrung betrachtet, wird imstande sein, ihn charakterologisch einzureihen, ihn einer moralischen Kategorie zuzuteilen; wer aber mit ihm vertraut wird, wird es nicht mehr vermögen: er ist mit dem Geheimnis, mit der Unendlichkeit des andern vertraut geworden. So ist der Mensch der jüdischen Religiosität mit Gott vertraut.

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sondern gelebte sozialistische Gesinnung. Und so ist ein wahrhafter Jude nicht, wer das Judentum proklamiert – und wahrlich, es gilt mir gleich, ob es ein religiöses oder ein nationales Judentum ist, das er im Munde führt, und die gelten mir nicht als Zionisten, denen der Zionismus nur eine Parole und ein Bekenntnis ist –, sondern das ist ein wahrhafter Jude, der mit seinem Judentum in seinem Leben und seinem Tun Ernst macht. Ein Stück Ernst ist es freilich schon, wenn er, wie Sie sagen, »mit der ganzen Glut des Herzens, mit Zittern und Beben sein Schema a Jisrael betet« (ich muß freilich gestehen, daß ich deren an den Andachtsstätten des liberalen Judentums nicht gar viele gefunden habe) – ein Stück schönen Ernstes, aber nicht mehr, geschweige, wie Sie meinen, eins und alles. Das Ganze hat erst, in dessen Leben das Judentum wirkendes, formendes Element geworden ist. Ich kenne nur zwei Versuche, dies zu erreichen. Der eine ist der des begeisterten gesetzestreuen Juden, der nicht aus Erbgewöhnung und Pietät, sondern aus großer Gläubigkeit sein Leben in die alten Formen fügt – dieser Versuch geschieht nur dann in Wahrheit, wenn das echteb jüdische Ethos sich mit den Formen paart. Dieser Versuch heißt: das manifeste Judentum erhalten. Der andere heißt: das verschüttete Judentum freimachen; das ist der Weg des Zionismus. Dieser Versuch, der allein zu einem neuen und ganzen c Judentum führen kann, wird sich erst in Palästina, in den nationalen Formen jenes übernationalen Strebens, von dem ich gesprochen habe, vollenden; unternommen wird er im persönlichen Leben jedes wahrhaften Zionisten, denn jeder wahrhafte Zionist ist auch im innerlichsten Sinn u nter weg s . In diesem Brief ist nicht der Ort, auseinanderzusetzen, wovon ich schon wiederholt gesprochen habe und noch mehr zu sprechen gedenke. Aber eines möchte ich hier herausheben, weil Sie selbst es getan haben und weil daran recht deutlich wird, was ich meine: die Frage der hebräischen Sprache. Sie, Herr Geheimrat, sagen: Die hebräische Sprache ist für uns deutsche Juden keine profane Umgangssprache, aber auch keine tote Sprache; sie ist die Sprache unseres Gebetes – und »so viel Hebräisch muß demgemäß jeder gebildete Jude sich anzueignen bestreben, daß er die wichtigsten Gebete mit der ganzen poetischen Kraft der Ursprache zum tiefsten Schatze seines Gemütes macht.« Und deshalb offenbar nennen Sie das Verdienst des Zionismus um die hebräische Sprache ein scheinbares, weil

a. b. c.

JuJ: Schma. ED: große. Im ED nicht hervorgehoben.

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er sie als »profane Umgangssprache« behandle, ja Sie sprechen sogar von »Gefahr und Unsegen«. Ich vermag nun freilich nicht zu erkennen, welche Gefahr und welchen Unsegen es bedeuten könnte, wenn Hebräisch wo immer als Umgangssprache behandelt würde. Aber ich sehe, und die meisten Zionisten mit mir, im Hebräischen für die Diaspora nicht in erster Reihe eine Umgangssprache, sondern vor allem die Sprache, in der allein die großen Werte des Judentums unverkürzt und unverfälscht aufgenommen werden können. Wir sehen in ihm nicht eine »profane«, wohl aber eine im hohen Sinn weltliche, alles Geistliche mitumfassende Sprache, die Sprache des mächtigen geschichtlichen Zusammenhangs, des ganzen einigen Volkstums, zu dem auch die Gebete, aber nur als ein einzelner Abschnitt dieses großen Buches gehören. Und ferner sehen wir im Hebräischen die Sprache, in der sich die ursprüngliche jüdische Geistesart verdichtet hat und aus der sie – unabhängig von allen Inhalten – sich jedem erschließt, der sie vollkommen aufnimmt (womit ich allerdings eine tiefere Kenntnis meine, als die zum Verständnis der wichtigsten Gebete genügt). So ist sie uns zwiefach ein Wegbahner zum verschütteten Judentum; inhaltlich, indem sie uns wesentliche und verschollene Werte übermittelt: so die urzeitlichen, die von den notwendigerweise paraphrasierenden Übersetzungen13 verdeckt werden, als auch jene späteren, von denen überhaupt keine Übersetzung Kunde bringt und die auch dem, der Hebräisch schon erlernt hat, erst erschlossen werden müssen; formal, indem sie die alten jüdischen Denkformen, die von denen der europäischen Kultursprachen, unserer »Muttersprachen«, verdrängt worden sind, in uns wieder lebendig macht, wie es nur die Sprache, in der sie sich einst verkörperten, in innerlicher Wirkung vermag. 14 So wird Ödland in uns urbar, das reale Judentum wächst, 13. [Anmerkung Buber:] Nicht bloß die christlichen, wie Sie meinen, modeln den ursprünglichen Sinn und Geist, alle tun es, denn keine abendländische Sprache vermag die Urworte der Bibel, jedes einzelnen elementare Wucht und ihrer Verbindungen zyklopische Fügung, irgend wiederzugeben. 14. [Anmerkung Buber:] Hierzu Cohen: »Abgesehen aber von dem Problem der hebräischen Sprache, müssen die besonderen jüdischen Denkformen überhaupt als eine verhängnisvolle Absurdität gebrandmarkt werden. Lieber lasse ich mir noch den jüdischen Schädel gefallen, als die speziell jüdische Logik. Und wenn die zionistischen Stilisten die Denkformen auf ein allgemeineres und angeblich intimeres Gebiet hinüberspielen möchten, so wird dadurch an der entscheidenden Bedeutung der Denkformen nichts geändert.« Es wird nicht ganz klar, was Cohen, insbesondere mit dem letzten Satze, meint; niemand hatte an »der entscheidenden Bedeutung der Denkformen« gerüttelt. Was ich meine, sei hier in aller Kürze dargelegt. Die »Varietäten im natürlichen Hang ganzer Völker«, die Kant auf deren »Blutmischung« zurückführt, sind nicht auf das gesellschaftliche Verhalten, das er vorzugsweise behandelt, beschränkt; sie verleihen der Sinnestätigkeit und den Gemüts-

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Stück um Stück wird dem fiktiven entrissen. So und mit verwandten Mitteln, Herr Geheimrat, haben wir begonnen, junge Menschen zu erziehen, so werden wir viele erziehen, eine Auslese des neuen Judengeistes, eine Gideonschar, 15 erprobt und gesiebt, zum Streit gegen das innere Midjan, gegen das fiktive Judentum. Und wenn es mit rechten Dingen zuginge, müßten Sie, Herr Geheimrat, diesen unseren Streit mitkämpfen, statt die »Gefahr« und den »Unsegen« des Zionismus »überwinden« zu wollen.

II. Zion, der Staat und die Menschheit a Bemerkungen zu Hermann Cohens »Antwort« 1.

Hermann Cohen veröffentlicht in den K. C.-Blättern eine »Antwort auf das offene Schreiben des Herrn Dr. Martin Buber an Hermann Cohen«.16 Antwort nennt er seinen Aufsatz; aber es ist keine Antwort, sondern ein Anmirvorbeireden. Da spricht jemand, der nicht meine Worte – die er fast nirgends zu widerlegen versucht – sondern die leicht umzustürzende erdachte Schlagwort-Argumentation eines erdachten Zionistentypus vernimmt. Cohen hatte dem Zionismus »schier unbegreifliche Unwahrhaftigkeit«, »Zynismus«, »Frivolität« vorgeworfen. Darauf hatte ich dargelegt, daß seine Vorwürfe aller Grundlage entbewegungen, aber auch dem Denken eines Volkes seine besondere Färbung und bestimmen nicht etwa bloß den Inhalt, vielmehr in ganz besonderer Weise die Form des Denkprozesses mit: den Rhythmus seiner Spannungen und Lösungen, die Verteilung seiner Intensitäten, Tendenz und Tempo seiner Assoziationen, die »Vorstellungsdichtigkeit« seiner Begriffsbildung und so weiter. Diese nationale Individualität des Denkens prägt sich am einfachsten und am deutlichsten in der Sprache eines Volkes aus. So kommt, um ein Beispiel von unmittelbarer Evidenz zu wählen, das Überwiegen des Dynamischen über das Statische im jüdischen Denken, auf das ich wiederholt aufmerksam gemacht habe, zu reinem Ausdruck in der Struktur des hebräischen Satzes und, rein quantitativ betrachtet, in dem Überwiegen des verbalen Elements über das adjektivische in dem hebräischen Schrifttum. Der Jude, der sich seine Sprache wahrhaft zu eigen macht, erlebt, wie die Dynamik des Satzbaus auf sein Denken einwirkt, nicht Neues hineinbringend, sondern erstarrtes Erbgut neu belebend und fruchtbar machend. 15. Gideon aus dem Stamm Manasse, wegen seines Kampfes gegen den Baalskult auch Jerubaal genannt, vertrieb mit einer kleinen Schar Ausgewählter die einfallenden Midianiter (Jdc 6, 11-8, 28). 16. K-C-Blätter, Juli/August 1916; S. 683-688. a.

Titel in JBII und in JuJ: Der Staat und die Menschheit.

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behrten, und ich hatte ihn aufgefordert, sein Material namhaft zu machen – wenn er es vermag. Man sollte annehmen dürfen, daß ein Mann, der es als seine Aufgabe auf Erden erachtet, Kants kategorischen Imperativ mit dem Gerechtigkeitsideal der jüdischen Propheten zu verknüpfen, die unzutreffenden Beschuldigungen, die er nicht durch einen Beweis vertreten kann, nunmehr mit dem Bekennerfreimut des sittlich verpflichteten Menschen, der geirrt hat, vor aller Öffentlichkeit zurücknähme und so das Unrecht gutzumachen suchte, das er durch seine unfundierte Rede zugefügt hat; daß er nicht bloß einsähe, sondern auch erklärte, daß es die Tatsachen, auf die er sich zu stützen glaubte, nicht gibt; und daß er die von ihm ausgesprochene Beleidigung mit der Rückhaltlosigkeit, die dem Beleidiger in diesem Moment geziemt, bedauerte. Es erweist sich, daß Cohen nichts von alledem getan hat. Mit keinem Wort erwähnt er meine Darlegung, mit keinem Wort geht er auf meine Aufforderung ein. In einem Eckchen der »Antwort« finde ich den beiläufigen Satz: »Beide Parteien glühen für unseren religiösen Fortbestand. Das will ich gern anerkennen.« Das ist alles. Aber auch dieses in seinem Ton dem Sachverhalt völlig unangemessene Sätzchen ist überschwemmt von neuen Vorwürfen der »Frivolität«, der »Absurdität« und der »Unwahrhaftigkeit«.

2.

Cohen redet nicht nur an mir vorbei, er liest auch an mir vorbei. Es hieß etwa in meinem Brief: »Wir wollen Palästina nicht ›für die Juden‹ : wir wollen es für die Menschheit, denn wir wollen es für die Verwirklichung des Judentums.« Cohen führt den Satz an und fährt wörtlich fort: »Also ist die Verwirklichung des Judentums doch nur durch die Menschheit bedingt!« Davon steht bei mir nichts und kein Also kann es aus meinen Worten folgern, sondern sie besagen für jeden, der sie unbefangen liest: Damit das Judentum verwirklicht werde, d. h. damit es seinen Dienst an der Menschheit wahrhaft vollziehen könne, muß es seine Kraft in Palästina einsammeln und fruchtbar machen. Die Menschheit braucht das Judentum; aber dieses zersprengte, zerrissene, haltlose hier kann ihr nicht geben, was sie von ihm braucht, sondern erst ein im eignen Lande regeneriertes. Oder ich hatte in meinem Brief von dem »verschütteten« Judentum in uns gesprochen: von den echten jüdischen Kräften und Formen, die in uns durch fremde Kräfte und Formen zurückgedrängt worden sind. Und ich hatte von dem »fiktiven« Judentum außer uns gesprochen: von dem

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Scheinjudentum, darin die vegetieren, die sich Juden nennen, ohne als Juden zu leben. Und nun bringt Cohen es fertig, diese beiden, einander so völlig entgegengesetzten Begriffe als Synonyme zu behandeln. Er glaubt, meine Meinung wiederzugeben, wenn er schreibt: »nur in Palästina, nur im jüdischen Staate könne das ›verschüttete‹, das ›fiktive‹ Judentum überwunden und beseitigt werden«. Das verschüttete Judentum, das schlummernde potentielle Judentum in uns soll »beseitigt« werden! Gibt es noch einen einzigen Leser außer Cohen, der mich so mißverstanden hat? Das Erstaunlichste in dieser Art aber ist das Angeführte noch nicht. Ich hatte geschrieben, das Judentum möge wohl dereinst, wie alle Völker, in der messianischen Menschheit aufgehen: in der heutigen müsse es verharren, »aber nicht als eine stetig abbröckelnde Naturtatsache im Verein mit einer immer breiter konfessionalisierten Religion«. Es scheint mir nicht gar schwierig zu verstehen, was ich meine. Cohen hatte die jüdische Nationalität anerkannt, aber nur als Naturtatsache. Darauf erwiderte ich: Als Naturtatsache betrachtet, bröckelt das Judentum immer mehr ab (durch Taufe und Vermischung), und dieser Prozeß wird nicht aufhören, bis ihm eine Geistestatsache – die der Regeneration durch den nationalen Willen – entgegentritt. Cohen hatte des weiteren als einzigen Zweck der »Naturtatsache« die Erhaltung der jüdischen Religion bezeichnet. Darauf erwiderte ich: als Religion betrachtet, konfessionalisiert sich das Judentum immer mehr, denn immer größer wird der Anteil derer, die sich zum jüdischen Glauben bekennen, ohne ihm zuinnerst anzugehören, und dieser Prozeß wird nicht aufhören, bis sich eine Erneuerung des Judentums vollzogen hat. Und ich verband meine beiden Erwiderungen, indem ich sagte, das Judentum solle unter den Völkern verharren, aber nicht als eine abbröckelnde Naturtatsache im Verein mit einer konfessionalisierten Religion. »Im Verein mit …«; sollte dieser gute deutsche Ausdruck, der ungefähr dasselbe bedeutet wie »in Verbindung mit«, Cohen unbekannt sein? Es scheint so; denn – so unwahrscheinlich es klingt – er wittert hier eine Anspielung auf einen Verei n; etwa auf den Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens,17 oder auf so was ähnliches. Er schreibt: »Was aber denkt sich mein Kritiker bei dem Satz, mit dem er das liberale Judentum neben der Naturtatsache durch den ›Verein mit einer immer breiter konfessionalisierten Religion‹ zu charakterisieren beabsichtigt? Vielleicht verstehe ich diesen verschleierten Ausdruck nicht recht. Wie ich ihn aber verstehen muß, enthält er eine 17. Im 1893 zur Abwehr des Antisemitismus gegründeten Central-Verein sah sich die Mehrheit des liberalen deutschen Judentums vertreten.

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schwere Verdächtigung, die mit Entrüstung zurückgewiesen werden muß. Unsere Differenz nimmt hier einen aktuellen politischen Charakter an.« So Hermann Cohen, der Verfasser der »Logik der reinen Erkenntnis«. Unsere Differenz nimmt hier einen humoristischen Charakter an.

3.

Dieses Vorbeilesen und Vorbeireden Cohens bekundet sich denn auch in seiner Behandlung eines Hauptproblems seiner Polemik: der Frage nach dem Verhältnis des Judentums zum Staat. a In seinem ersten Aufsatz hatte Cohen die These aufgestellt: »Der Staat erst stiftet und begründet die eine Nation, mit der er sich gleichsetzt.« Ich habe diese These an ein paar Beispielen aus der Gegenwart als unhaltbar erwiesen und mir eine exaktere Darlegung für den Fall einer Bestreitung meiner Beweisführung durch Cohen vorbehalten. Er versucht sie aber gar nicht zu bestreiten; er begnügt sich damit zu wiederholen, »daß erst durch den Staat die Nation kraft eines Aktes der politischen Sittlichkeit konstituiert b wird«. Also hat es bis 1870 keine deutsche Nation gegeben! Es scheint mir überflüssig, diese geschichtswidrige Terminologie durch weitere Gegenexempel ad absurdum zu führen. Um so überflüssiger, als mir die Bedeutung des Terminologischen hier maßlos überschätzt erscheint. Es kommt nicht darauf an, ob die Juden eine Nation oder eine Nationalität sind; es kommt darauf an, was wir zu tun haben, damit dieser Gemeinschaft, wie immer sie genannt wird, ein neues selbständiges Leben, eine erneute Spontaneität des Tuns und Schaffens zuteil werde – dieweil sie heute wie seit nahezu zwei Jahrtausenden nicht von ihren eignen Willenskräften, sondern von dem Getriebe der Völker, von denen sie abhängt, bestimmt wird. Es kommt nicht darauf an, ob die Staatsgemeinschaft den Namen einer Nation und die ethnischen Einheiten, aus denen sie besteht, den von Nationalitäten führen oder ob man die beiden verwandten Namen den ethnischen Einheiten beläßt und der Staatsgemeinschaft ihren eigenen zuteilt; es kommt darauf an, daß kein Staat irgend eins der Völker, die er umschließt, wie immer sie genannt werden, in dessen vitalen Rechten schmälere, daß keine herrschende Nation, die sich als Staatsnation »konstituiert«, die von ihr beherrschten in der rechtmäßigen a. b.

Vom zweiten Absatz des ersten Abschnitts (Cohen hatte dem Zionismus »schier unbegreifliche …) bis hier in JB II und in JuJ ausgelassen. JB II und JuJ: konstruiert.

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Entfaltung und Auswirkung ihrer Sonderart beeinträchtige, sondern daß sie am Leben und am Werk des Ganzen ungehemmt teilnehmen dürfen. Cohen stellt diese Forderung nicht auf. Sein Grundmotiv ist nicht Forderung sondern Abwehr. Zwar schreibt er den gewichtigen Satz nieder: »Die Staaten sagen i n i hrer Ver blend u ng: 18 es sollen keine Gruppen unter uns sein, die unter irgend einer Fiktion ein staatsartiges Sonderdasein führen«. Aber dieser »Verblendung« hält er nicht die zwingende Wahrheit über das Verhältnis zwischen Staat und Volk entgegen, sondern die abwehrende Versicherung: »allein und ausschließlich unsere Religion sei der Unterschied zwischen uns und unserem Staate und demgemäß auch unserer Nation«. Er will nicht die verblendeten Augen heilen, er will nur das »moderne Judentum« den Folgen der Verblendung entziehen. Nicht so wir. Wir haben zwar den von Cohen angeführten Satz von den Gruppen und dem Sonderdasein nicht aus dem Munde der Staaten, sondern lediglich aus dem einiger allerdings verblendeter Staatsfanatiker vernommen; aber auch jenen selber würden wir, täte es not, die Wahrheit entgegenhalten, daß die nationalen Gruppen innerhalb des Staates keineswegs ein »staatsartiges«, sondern eben ein nationales Dasein führen wollen, und daß sie auf dieses ein unvertilgbares Recht haben.19 Denn sie, die Völker, sind in der Geschichte des Menschentums die schaffenden, jene die ordnenden Prinzipien; und allzeit hat das ordnende Prinzip die Herrschaft seiner Ordnung immer exklusiver zu befestigen gesucht, obgleich es die Kräfte nur zu verschieben, nicht zu erzeugen vermag; allzeit aber hat das schaffende Prinzip standgehalten und hat seinen im Urgesetz des Lebens selbst begründeten Anspruch gewahrt. Und so wird es bleiben, bis das Rei ch, Malkhut Schamajim, 20 a auf Erden ersteht; bis in der messianischen Gestalt der Menschenwelt Schöpfung und Ordnung, Volk und Staat in einer neuen Einheit, in der Gemeinschaft des Heils verschmelzen. Eine Selbstverständlichkeit unter allen rechtlich Denkenden ist der des Nachdrucks, mit dem er vorgebracht wird (als gälte es eine entgegengesetzte Behauptung zu entkräften), durchaus unbedürftige Satz Cohens: »Keine Einschränkung der bürgerlichen Gleichberechtigung darf uns an dem absoluten Pflichtgedanken und Pflichtgefühl für den Staat beirren, dem wir uns anschließen«. Kein wahrhafter Jude, wie immer seine Auf18. [Anmerkung Buber:] Bei Cohen nicht kursiv [bzw. gesperrt]. 19. Hier formuliert Buber erstmals seine später im Kampf für einen binationalen Staat in Palästina vertretene Haltung. 20. Malkhut Schamajim, hebr. Königtum des Himmels. a.

JuJ: bis das Königtum Gottes

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fassung des Judentums sein mag, wird durch die Einschränkung seiner bürgerlichen Gleichberechtigung sein Verhältnis zu dem Staat, dem er angehört, bestimmen lassen; das hieße das Verhältnis zur Gemeinschaft überhaupt zu einem Schachergeschäft degradieren. Aber hinwieder vermeine ich, daß es den wahrhaften Juden nicht zukommt, wie Cohen überschwenglich auszurufen: »Unser ga nzes Gefü h lswes en ist in unserem Staatsbewußtsein konzentriert.« Man lege diese Worte in den Mund Samuels, Elijas, Amos’, man lege sie in den Mund Jeremijas, und man wird inne werden, wie diese Anschauung von der des alten Judentums abgeirrt ist: jener Männer ganzes Gefühlswesen war nicht in ihrem Staatsbewußtsein sondern in ihrem Gottesbewußtsein konzentriert, und wenn der Staat von Gott abfiel, führten sie Gottes Sache gegen den Staat. Oder man lege jene Worte in den Mund eines der jüdischen Gesetzeslehrer in Babylon, und man wird verstehen, warum Hermann Cohen, dem weisen und ehrwürdigen Mann, der Rang eines Resch Geluta, 21 eines Fürsten des Exils, den ihm einer meiner Freunde zubilligen möchte, nicht gebührt: weil er wohl die Weisheit, nicht aber auch die Seele eines Resch Geluta hat. Der ist nicht zum geistigen Exilarchen berufen, der nicht dieses Exil, ja dieses ganze Exil mit all seinem Elend und all seiner Schande, als das Galut ha-Schechina, als das Exil der Gottesglorie a erlebt; wer nicht diese erniedrigte Gemeinschaft über alle hohen, den Jammer der Diaspora über den Stolz der Staaten hebt und lieber von diesen bitteren Wassern als von den köstlichen Weinen der Völker trinkt; wer nicht, ob er auch seine Pflichten gegen die Staatsgemeinschaft, der er angehört, mit allem Ernst und in aller Strenge empfindet, ein Höheres kennt: den Befehl, der einst an Abraham erging, aus dem Staat der Kasdim, b an Mose, aus dem Staat der Mizrim c zu gehen – den Befehl Gottes an Israel um der Menschheit willen.

4.

In einem tiefen Sinn hängt damit ein anderes zusammen. Ich empfinde meine Pflichten gegen die Staatsgemeinschaft, in der ich lebe, mit allem Ernst und in aller Strenge; als die oberste dieser Pflichten 21. Aramäische Bezeichnung für das Haupt der babylonischen Juden seit der Partherzeit bis zu den Mongolen. a. b. c.

JuJ: Schande, als das Exil der Schechina, der »Einwohnung« Gottes, erlebt; JuJ: der Chaldäer. JuJ: Staat der Ägypter.

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aber habe ich diese erkannt, die jedes aus Gott lebenden Menschen Pflicht ist: dem Staat das Bild der wahren Menschheit vorzuhalten, so oft er sich dagegen verfehlt. Denn die Menschheit – das, Herr Professor Cohen, auszusprechen, ist in diesen Tagen mehr als je die Pflicht jedes aus Gott lebenden Menschen – die Menschheit ist ein Größeres als der Staat. Nicht die gestrige »europäische« Scheinmenschheit, die unfähig war, die Staaten aus ihrer Verstrickung in den unsichtbaren Krieg aller gegen alle zu lösen, sondern die werdende, die durch das Rote Meer gegangen ist, die erwachte, in der sich die künftige, um den lebendigen Gott gesammelte bereitet, deren Organe die Völker und deren Werkzeuge die Staaten sein werden. Das ist nicht die verlogene oder verstiegene »Humanität« von gestern, die Karikatur eines verschollenen Ideals, die nicht wußte oder nicht wissen wollte, was Staaten sind und was sie vermögen, und über sie hinwegschwatzte, sondern eine neue, hellsichtige, die es genugsam erfahren hat und die Erfahrung nicht zu wiederholen wünscht. Cohen sieht in der Idee des Staates die »Quintessenz der Ethik«, 22 der Staat »vollzieht« nach ihm »die Realisierung der Sittlichkeit auf Erden«, und es ist nur eine Ergänzung dieses Satzes, wenn er sagt: »Wir kontrollieren unsere Religion an unserer Ethik«. Ich aber verneine diese Welt, in der die Religion an der Ethik und die Ethik am Staat »kontrolliert« wird. Meine Ethik ist eine Exekutive meiner Religion: der Wille, die Macht Gottes auf Erden zu mehren und die Macht des Übels zu mindern. Und der Staat ist eines der Gebilde, an denen sich diese Ethik bewähren kann. Eines der Gebilde: formaler als die im Leben verwurzelten der Familie, der Gemeinde, des Volkes, und daher mehr noch als sie alle der »Kontrolle« bedürftig: ob er die Macht Gottes auf Erden mehrt und die des Übels mindert. Diese Kontrolle aber vermag kein anderer auszuüben als der zur legitimen Autorität gewordene Geist, dem die Völker und die Staaten untertan sind: die lebend i ge Religion. Cohen, der die Religion durch die Ethik kontrolliert, deren Quintessenz die Idee des Staates ist, will, ob 22. [Anmerkung Buber:] Zwei Worte Cohens über diesen Gegenstand seien noch angeführt. Das eine lautet: »Das Ich des Menschen bleibt eine empirische Zweideutigkeit, solange es nicht zur Reinheit objektiviert wird im politischen Selbstbewußtsein.« So steckt also offenbar (um ein Beispiel aus dem gegenwärtigen Zeitalter zu wählen) das Ich Tolstoijs tief in der Zweideutigkeit, dieweil das der Politiker, die unsern Tag beherrschen, in eindeutiger Reinheit leuchtet. Und das andere: »Moderne Menschen stehen samt und sonders unter dem bewältigenden Problem des Staates«. Ich weiß nicht, was ein bewältigendes Problem ist, doch will es mir scheinen, daß ich zu der genannten Menschenklasse nicht gehöre. Wenn dies die modernen Menschen sind, wie heißen jene, die hier nicht unter einem bewältigenden Problem stehen, sondern vor einem zu bewältigenden Problem stehen und sich dafür einsetzen wollen, daß es bewältigt werde? Ich will sie gern die Antimodernen nennen – sie, die sich dem Zwang auch der mächtigsten aller Moden zu entringen wissen.

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es ihm auch nicht bewußt wird, den Geist unter den Staat beugen; ich will den Staat unter den Geist beugen. Nur unter der offenbaren Autorität des Geistes könnte sich auch der Staatenbund aufbauen, von dem Cohen redet, dessen »Symbol« für ihn der Staat ist – eine irreführende Abstraktion, solange nicht gesagt wird, daß, was heute allerorten Staatenbund heißt, der Bund von Staaten gegen Staaten, nimmermehr ein Weg zur wahren Menschheit werden kann.

5.

In ei nem Punkte aber redet Cohen nicht an mir vorbei: er erkennt, daß der Streit zwischen uns (nicht zwar zwischen ihm und »dem Zionismus«, von dem ich keinen Auftrag habe und zu dessen Interpreten ich nicht bestellt bin, wohl aber zwischen ihm und mir, der ich hier meine persönliche Anschauung äußere) zuinnerst um das Verhältnis zwischen Staat und Religion geht; ich könnte auch sagen: zwischen Staat und Geist, oder: zwischen Staat und Menschheit. Für mich ist die Religion nicht wie für ihn »eine der konzentrischen Spezialitäten innerhalb der Einheit der sittlichen Kultur« und der Staat nicht »der Schwerpunkt aller Menschenkultur«. Eher umgekehrt: einzig im religiösen Leben stellt sich mir die Ei nhei t des wahren Menschentums dar, im Staat nur eine seiner Bewährungen. Sowie er aber diese erkannte allgemeine Differenz auf das jüdische Problem anwendet, geht Cohen irre. »Unser Streit«, meint er, »dreht sich nicht sowohl um das jüdische Volk als vielmehr um den jüdischen Staat. Eigentlich erkennt also der Gegner meine Definition, daß der Staat erst das Volk definiere, seinerseits an, aber er schließt daraus auf einen Sonderstaat für das jüdische Volk.« Welch eine Paradoxie! Wie mir als Menschen der Staat überhaupt, so ist mir als Juden der »jüdische Staat« nicht das bestimmende Ziel. Und das »Machtbedürfnis eines lebensfähigen Stammes«, von dem Cohen weiter redet, ist mir vollends fremd; ich habe von den Werken des leeren Machtbedürfnisses zu viel gesehen und gehört. Es geht um etwas anderes. Es geht nicht um den jüdischen Staat, der ja, wenn er heute entstünde, auch wieder auf denselben Prinzipien aufgebaut sein würde wie jeder moderne Staat; es geht nicht um ein kleinwinziges Machtgebilde mehr in dem Gewimmel; es geht um eine Siedlung, die, vom Getriebe der Völker unabhängig und der »äußeren Politik« enthoben, alle Kräfte um den inneren Ausbau und damit um die Verwirklichung des Judentums versammeln kann. Ich habe in meinem Brief gesagt und wiederhole es: Wir wollen Palä-

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stina nicht »für die Juden«: wir wollen es für die Menschheit, denn wir wollen es für die Ver w i r kli chu ng des Judentums. Am Werk der neuen Menschheit, das wir meinen, kann die spezifische Gewalt des Judentums nicht entbehrt werden – die Gewalt, die einst dem Menschen den stärksten Antrieb zum wahrhaften Leben gab. Sie ist nicht erstorben; sie lebt mitten in der Entartung fort und bewahrt die Keime des Heils für die Zukunft. Aber seit sie jenes vollbrachte, ist sie aus dem zwiespältigen, doch aus dem Zwiespalt den großen Geist immer neu erzeugenden Leben Israels ins Exil gefallen: in die Herzen einzelner Juden, abgesonderter, unverbundener Einzelner in jedem Geschlecht. Entzogen war ihr der Zustrom aus der Vitalität des Volkes, die sich nunmehr auf ei ne unablässige Anstrengung sammeln mußte: unter den widrigsten Umständen, denen jedes andere erlegen wäre, zu dauern. Das Element der Dauer, das jeder Nation außer in Momenten der Katastrophe naturhaft verliehen ist, mußte hier Tag um Tag neu erkämpft werden – und mit keinen anderen Mitteln als der Leidenschaft der Seele und der Abgrenzungskraft des Geistes. Von jenem Zustrom abgeschnitten, bed achten und bes annen nun die Einzelnen, was einst die von ihm gespeisten Propheten und Lehrer g et an hatten, die das Volk geißelten, aber mit seiner Vitalität tief verbunden waren. Die alte jüdische Schöpfung des Geistes war, auch wo sie aus dem Widerspruch hervorging (und sie ging fast stets aus dem Widerspruch hervor), ihrem Wesen nach Volksschöpfung a ; in Individuen konnte sie nur latent fortleben. So geschah es, daß das Judentum noch anregen und hinweisen, aber seine umwandelnde Tat an der Menschheit nicht mehr erneuern konnte. Auch der größte Versuch, die Erstarrung des Volksgeistes zu lösen, der Chassidismus, jenes wundersame Experiment geistiger Alchimie, das die Erneuerung aus der ungeschmälerten Masse des überlieferten Stoffs herausholen wollte, mißlang und mußte mißlingen. Als das Judentum sodann nach Jahrtausenden der Abgeschlossenheit sich den Völkern näherte, vermochte es nur zu nehmen und zu verarbeiten, nicht aber Entscheidendes zu geben. Freilich geht heute wieder ein Erwachen durch die vom Geist berührten Einzelnen in der Judenheit, von Stunde zu Stunde wachsend stürmt der Schöpfungstrieb in den Seelen. Die Keime des Heils leben auf, ein Unsagbares geschieht – mein einst geäußerter Glaube hat mich nicht getrogen: »in diesem fiebernden Land, in dieser schreienden Stunde wird das Heilige geboren«. 23 Aber es wird vergehen, wie aller Aufschwung im 23. Zitat aus »Die Zukunft«, in diesem Band S. 258. a.

JuJ: Volksschöpfung [hervorgehoben].

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Galut verging, ja mehr noch, es wird, da auch d i e Volkseinheit dahingeschwunden ist, auf der der Chassidismus sich gründete, Gedanke, Rede, Schrifttum bleiben und nicht leibhaftes Leben werden, wenn die Kraft des Volkes nicht von dem unfruchtbaren Kampf um die nackte Dauer erlöst und der Vollendung seiner Religiosität zurückgegeben wird. Das aber ist es, was ich mit Palästina meine. Keinen »Staat«, nur diese alte Erdkrume, die verheißene Bürgschaft der end gü lt i g en und g ehei li gten Dauer, die harte Scholle, in der allein der Same der neuen Einheit aufgehen kann. Und nicht aus »Machtbedürfnis«, einzig aus Bedürfnis nach Selbstverwirklichung; welches das Bedürfnis ist, Gottes Macht auf Erden zu mehren.

6.

»Die gesamte Geschichte des Judentums«, sagt Cohen, »lehrt, in Übereinstimmung mit der Weissagung der Propheten, daß die Verwirklichung des Judentums an unsere Zerstreuung unter die Völker der Erde gebunden ist.« 24 24. [Anmerkung Bubers:] »Die Propheten alle« sagt Cohen, »versetzen uns in die Mitte der Völker hinein. Die Weltmission des ›Restes Israels‹ ist ihre einheitliche Perspektive.« Diese hundertjährige Redensart ist von Grund aus unwahr. »Die Propheten alle …« Man lese alle Stellen der Propheten, die hier irgend gemeint sein können. Unter all diesen Stellen ist auch nicht ein einziges Wort zu finden, das »die Weltmission« mit dem Verweilen Israels in der Mitte der Völker verknüpfte; wohl aber binden sie nahezu alle unzweideutig den Weltberuf Israels an die Sammlung des Restes auf Zion: durch die Sammlung wird Gott unter den Völkern geheiligt, aus ihr erwächst das Heiligtum der neuen Erde. Nicht von den Zerstreuten – von den Eingesammelten heißt es in dem achten Sacharjakapitel, dem gewaltigen Manifest, das an unsere Zeit vor allen Zeiten gerichtet ist: »Und es wird geschehen, wie ihr ein Fluch gewesen seid den Völkern, Haus Juda und Haus Israel, so will ich euch erretten, und ihr werdet ein Segen sein.« [Sach 8, 13] Nicht von den Zerstreuten – von den Eingesammelten gilt der Anfang des unmittelbar vorangehenden Verses, den Martin Luther vermutlich unrichtig und doch wundersam wahr folgendermaßen übertragen hat: »Sondern sie sollen Same des Friedens sein«. »Weissagungen« im hergebrachten Sinne sehe ich in den angeführten Stellen nicht; die Unberührbarkeit der Zukunft ist ein Element meines Weltgefühls, und die Propheten sind mir keine sublimierten Wahrsager. Sie sind mir aber Menschen, in denen sich die Seele und das Schicksal ihres Volkes so verdichtet hatten, daß sie diese Seele und dieses Schicksal wahrhaft auszusagen wußten. Daß sie aus dem Sturm ihrer Geschichte Begebenheiten ankündigten, war das Bedingte an ihnen; daß sie das Schicksal aussagten, gehörte dem Unbedingten an. Denn Begebenheiten sind jeweilig künftig, das große Schicksal aber ist ewig gegenwärtig. Die erfahren es, in denen a.

JuJ: Exil.

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Wir haben von der Geschichte die entgegengesetzte Lehre empfangen: daß wir hier, in dem nicht von uns selber bestimmbaren Leben der Zerstreuung, das Judentum nicht verwirklichen können. Bekennen können wir hier, aber nicht tun; mit dem Dulden für Gott zeugen, aber nicht mit dem Schaffen; das Jobeljahr25 preisen, aber nicht es einführen. Und auch von der Weissagung der Propheten haben wir die entgegengesetzte Lehre empfangen. Keiner ist unter ihnen, dem die Zerstreuung anders erschienen wäre als Jeremija, auf den Cohen sich vor allen beruft: »wie Spreu, die in den Wind der Wüste dahinfährt«, 26 keiner, dem die Sammlung anders erschienen wäre als ihm: a »Noch wird an diesem Orte, von dem ihr sagt: Er ist wüst, ohne Menschen und ohne Vieh, – in den Städten Judas und in den Gassen Jerusalems, gehört werden Stimme der Wonne und Stimme der Freude, Stimme des Bräutigams und Stimme der Braut«. Und wahrlich, dem Mann, der zur Zeit des großen Schreckens, inmitten des Wirrsals vor der Hinwegführung des Königs und des Volkes nach Babel und inmitten der Verzweiflung nach ihr, auf judäischer Erde zu den »müden und verschmachtenden Seelen« seine Trostworte redete, war »dieses Land«, auf das er zeigte, b nicht ein »Symbol«, zu dem es Cohen in seinem Munde verkehren will, sondern es war eben das Land, darauf seine und ihre Augen schauten. Niemals ist mit dem hohen Begriff des Symbols ein schlimmerer Mißbrauch getrieben worden. Wenn aber Cohen die Worte der Propheten, ganz einsammeln wollte Gott den Überrest Israels, dahin umdeutet, die Völker würden mit Israel zu dem Lichte Gotsich Volk, Menschheit, Welt zur persönlichen Substanz verdichtet haben. Ihnen ist »die Hand des Herrn« allzeit nahe, aus ihnen redet die Stimme. 25. Das Jubel- oder Freijahr schließt an einen Zyklus von 7 mal 7 Sabbatjahren an, tritt somit alle 50 Jahre ein. In Lev 25 sind diverse mit ihm verbundene Vorschriften bzgl. der Bodenbestellung und der Freilassung von Sklaven angeführt, deren Bedeutung kontrovers diskutiert wurde. 26. [Jer 13, 24; Anmerkung Buber:] Das von Cohen angeführte Gleichnis Michas vom Tau (5,6) lese man vo lls t ä nd i g , nicht bloß die aus dem Zusammenhang gelöste erste Hälfte. Micha sagt ganz eindeutig: Wie Tau und Regen nicht vom Tun der Menschen, sondern von Gott allein abhängen, so Israel unter den umgebenden Völkern. Und er fährt fort: Wie ein Löwe unter den Tieren des Waldes mächtig ist, so Israel unter den umgebenden Völkern. Cohen aber deutet: »Es ist unser stolzes Bewußtsein, als göttlicher Tau i nmi t ten der Völker fortzuleben, und unter ihnen und für sie fruchtbar zu bleiben.« Daß Michas Wort sich nicht auf die Zerstreuung bezieht, geht schon daraus hervor, daß unmittelbar vorher von der Rettung vor Assur die Rede ist, »wenn es in unser Land eindringt«. a.

b.

JuJ fährt fort: (33, 10 f.): Hören soll man noch an diesem Ort, davon ihr sprecht: Verödet ist er, ohne Menschen, ohne Vieh – in den Städten Jehudas und in den Gassen Jerusalems, Stimme von Wonne und Stimme von Freude, Stimme von Bräutigam und Stimme von Braut.« JB II und JuJ: »dieser Ort«, auf den er zeigte.

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Erster Weltkrieg

tes, d. h. zu der Lehre der Propheten strömen, so finden wir dies in Wahrheit in den prophetischen Büchern einzig im Sinn der Verkündung, daß die Völker »auf Rossen und Wagen, auf Sänften, auf Maultieren und Dromedaren«a 27 d em w i ed er herg es tell ten Z i o n zuströmen werden als dem »heiligen Berge«, dem »Hause des Gottes Jakobs«; b »denn mein Haus wird genannt werden ein Bethaus für alle Völker«. Und eben dies ist unser Glaube: daß das wiederhergestellte Zion das Bethaus für alle Völker und die Mitte der neuen Erde wird, die zentrale Stätte des Geistesfeuers, in dem »das blutbefleckte Kriegskleid verbrannt« c und »die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden« d . Die neue Menschheit braucht uns. Aber sie braucht uns nicht zerstreut und auseinanderstrebend, sondern gesammelt und geeint, nicht von Getue und Gerede besudelt, sondern gereinigt und bereit, nicht Gott bekennend mit unserem Wort und Gott verratend mit unserem Leben, sondern Gott getreu dienend durch die Bi ld u ng ei ner Mens cheng emei ns cha ft nach s ei nem Si nn. Nicht dies liegt uns ob der neuen Menschheit zu geben, daß wir ihr erklären und beteuern, es sei ein Gott, sondern dies, daß wir ihr zeigen, wie Gott in uns lebt – wie er in uns d a s w ahr ha fte Mens chenleben lebt: daß wir uns selbst und Gott in uns verwirklichen.

7.

Im Lichte dieser Anschauung unserer Aufgabe erscheint mir das Verhältnis des Judentums zu den Völkern, erscheint mir das Verhältnis des einzelnen Juden zu dem, was sich aus diesem oder jenem der Völker ihm einverleibt hat. Der Behauptung Cohens, »Probleme und Schwierigkeiten, geschweige Konflikte des modernen Kulturlebens« gebe es »für die Enge dieses Nationalismus nicht«, stelle ich die Sätze gegenüber, die ich vor sieben Jahren in der deutschen und tschechischen Stadt Prag zu jungen Juden deutscher und tschechischer Muttersprache gesprochen habe 28

27. Jes 66, 20. 28. [Anmerkung Buber:] Drei Reden über das Judentum, S. 25 ff. [In diesem Band, S. 225.] a. b. c. d.

Zitat nicht in JuJ. JuJ fährt fort: »denn mein Haus, das Haus des Gebets wird es gerufen werden bei allen Völkern« (Jes 56,7). JuJ ergänzt: (Jes 9, 4). JuJ ergänzt: (2, 4).

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Völker, Staaten und Zion

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und denen ich nichts hinzuzufügen, von denen ich nichts abzuziehen, in denen ich nur einige Worte zu unterstreichen habe: »Wo die natürliche objektive Situation des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Volke hdie ungestörte Einheit und Geschlossenheit des Volksgefühlsi a gegeben ist, verläuft sein Leben in Harmonie und gesichertem Wachstum; wo sie nicht gegeben ist, gerät der Einzelne, je bewußter er ist, je ehrlicher er ist, je mehr Entschiedenheit und Deutlichkeit er von sich fordert, desto tiefer in einen Konflikt, er wird desto unausweichlicher vor eine Wahl gestellt zwischen Umwelt und Innenwelt, zwischen der Welt der Eindrücke und der der Substanz, zwischen Atmosphäre und Blut, zwischen dem Gedächtnis seiner Lebensspanne und dem Gedächtnis von Jahrtausenden, zwischen den Zwecken, die ihm die Gesellschaft darbietet, und der Aufgabe, seine Eigenkraft zu erlösen. Eine Wahl: das kann nicht so gemeint sein, als ob es darauf ankäme, das eine oder das andere auszuschalten, aufzugeben, zu überwinden; es wäre sinnlos, sich etwa von der umgebenden Kultur freimachen zu wollen, die ja von unseres Blutes innersten Kräften verarbeitet und uns eingeeignet worden ist. Wir wollen und dürfen uns bewußt sein, daß wir in einem prägnanteren Sinne als irgendein anderes Volk der Kultur eine Mischung sind. Aber wir wollen nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser Mischung sein. Die Wahl meint eine Entscheidung über die Suprematie, über das, was das Herrschende und was das Beherrschte in uns sein soll … Für den aber, der sich in der Wahl zwischen Umwelt und Substanz für diese entschieden hat, gilt es, nunmehr wahrhaft von innen heraus Jude zu sein und aus seinem Blute, mi t d em g anzen Wi d ersp r u ch, mi t d er ganzen Tr ag ik u nd mi t d er ga nzen Zu k u nf t s f ü l l e d i e se s B l u te s als Jude zu leben.« In diesem Sinn sind wir u nter weg s . Das Wort meines Briefs, daß jeder wahrhafte Zionist auch im innerlichsten Sinn unterwegs ist, ist fast das einzige, auf das Cohen eingeht, allerdings ohne es recht zu verstehen, denn er faßt nur den äußerlichsten Sinn. Seine Entgegnung lautet: »Mit diesem einen Worte allein ist unsere ganze Kulturdifferenz gekennzeichnet. Der Zionist ist unterwegs. Wir aber wollen durchaus überall nur daheim sein und immer mehr uns heimisch machen.« Ja, mit diesem Wort i s t unsere ganze Differenz gekennzeichnet. Unterwegs – ja, wir sind unterwegs, wir mit unseren alten Wanderherzen und dem jungen Richtungswillen in ihnen. Alle Judenseelen wandern immer noch Tag um Tag und wissen es nicht, und auch die »sich heimisch machen«, sind Irrfahrer und ruhelos, und ihre Parole vom Daa.

h i bzw. eckige Klammern in der Vorlage, in JuJ zu runden Klammern abgeändert.

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Erster Weltkrieg

heimsein ist nur wie der Rabe, den Noah aussandte. Wir aber sind die, die aus der Irrfahrt der Seelen die Wanderung nach dem Ziel gemacht haben. Aber eben deshalb sind wir es, die nicht mehr unstet und flüchtig 29 sind, wir i m Z i el Wurzelnden, wir »Söhne des Messias«. Jene versichern etwa den Deutschen, sie seien nicht and ers als sie, um nicht als frem d zu gelten. Wir aber sagen aus, daß wir anders sind, und dürfen als eine Wahrheit unserer Seele, die niemand verkennen kann, hinzufügen, daß wir nicht fremd sind. Die Irrfahrer rammen die Pfähle ihrer Begriffe ein, um sich daran zu lehnen, und wenn es Begriffe gilt, kann Deutschtum wie Judentum und Judentum wie Deutschtum erscheinen. Wir aber, die wir unterwegs und unserer Richtung herzhaft bewußt sind, wir sehen die uns wesensverschiedene aber nicht wesensfremde, die vertraute Wirklichkeit und gestehen, daß wir sie lieben: die Sprache, die uns zum Denken, die Landschaft, die uns zum Schauen erzog, die schaffende Tiefe eines großen Volkstums, der wir für beglückendes Geschenk zu danken haben. Wir hängen uns nicht bei den andern ein, aber wir grüßen sie, wie nur die grüßen können, die nach dem Ziele wandern: Freunde, wir sind unterwegs, um unsertwillen, um euretwillen – um des Heils willen.

29. Nimmt Gen 4, 12 auf.

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An die Prager Freunde Freunde – ihr in der Gefahr und ihr in der Gefangenschaft, ihr in den Gräben und ihr in den Gräbern: 1 in diesem Augenblick, am abendlichen Fenster, vor einer Kastanie und einer Platane und spielenden Kindern am Brunnen, denke ich mit aller Erinnerungskraft meiner Liebe an euch. O Kraft, erinnernde Kraft der Liebe! Nun bin ich nicht mehr daheim und ihr seid nicht mehr draußen, ich bin nicht mehr bewahrt und ihr seid nicht mehr ausgesetzt oder verloren, sondern beisammen sind wir, beisammen alle in Straßen und Stuben Prags, der unsterblichen Stadt, in jenen heiligen Stunden großen Beisammenseins. Wißt ihr es noch, ihr alle, besinnt ihr euch, ihr alle, in diesem Augenblick, im Unterstand, im Lazarett, in der Verschleppung, im namenlosen Reich – wie ich, mit aller Erinnerungskraft eurer Liebe? Ich redete, und ihr hörtet zu voller Stolz, ihr redetet, und ich hörte zu voller Demut – dann aber, immer wieder, schwiegen wir, schwiegen zusammen; zusammen, in einem verwinkelten Hinterhaus, auf steigenden Waldwegen, im Tor eines verborgenen Gartens, auf dem Wasser. Und wovon wir nicht redeten, davon war unser Schweigen voll wie eine reife Weinbeere ihres Saftes. Ich habe es nicht ausgesprochen und ihr nicht, und vielleicht hat es keiner von uns sich selber gesagt, und doch war es da, das Wort, doch war es da, unser Schweigen füllend in Straßen und Stuben Prags. In diesem Augenblick, Freunde, ihr alle, holt es wie ich aus eurem Gedächtnis, aus dem Gedächtnis des Weltgeistes, das Wort: Sabbat! Aber ich will euch erzählen: An jedem Freitagabend, ehe Sabbat wurde, zog der hohe Rabbi Löw den Gottesnamen unter der Zunge des Golem hervor und der wurde wieder ein Lehmkloß. Und hätte er dies versäumt, so wäre der Golem lebendig geblieben in die Ewigkeit. Einmal aber vergaß es Rabbi Löw und ging in die Schul beten und betete mit der Gemeinde. Schon hatte man begonnen den Sabbatgesang zu sprechen – Mismaur schir lejaum haschabbos 2 – da entsann sich der Rabbi. Und sogleich ließ er ausrufen: »Es ist noch 1. 2.

Angesprochen sind die Kriegsteilnehmer des Bar Kochba. Hebräisch (in aschkenasischer Aussprache): Hymne an den Sabbat, d. i. Ps 92, 1. Damit wird der Sabbatgottesdienst eröffnet.

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nicht Sabbat! Es ist noch nicht Sabbat! Es ist noch nicht Sabbat!« Und weil die Altneuschul aus den Steinen des Tempels erbaut ist, 3 geschah es, daß noch nicht Sabbat war im Himmel und auf Erden. 4 Freunde: – Es ist noch nicht Sabbat! Erst müssen wir dem Golem den Namen unter der Zunge hervorziehen!

3.

4.

Die Altneuschul-Synagoge in der Prager Altstadt ist nach jüdischer Volkstradition mit Steinen des zerstörten Jerusalemer Tempels erbaut. Erst wenn (hebräisch: »altnai«- von hier wird der Name Altneu abgeleitet) der Jerusalemer Tempel unter Verwendung dieser Steine wieder erbaut wird, kommt die Erlösung. Zu Rabbi Löw, dem Schöpfer des Golem, vgl. Sippurim, eine Sammlung jüdischer Volkssagen, S. 51.

MBW 3 (02678) / p. 323 / 27.11.2006

Judenzählung Man sagt mir, »wir« müßten protestieren. Das ist meine Meinung nicht. An den aufrechten Deutschen ist es zu protestieren: an allen, die sich ihr Deutschland nicht durch den Ungeist, der sich mit diesen Anträgen und Prozeduren ankündigt, verschandeln lassen wollen. An den aufrechten Juden nicht. Wohl ist es eine dürftige Art von Wahrheit, die man auf dem Wege solcher Statistik findet; aber was ficht es uns an, daß sie auch hier »festgestellt« werden soll? Man stelle sie fest! Man zähle! Wir sind das Gezähltwerden gewöhnt. Rußland zählt unsre Kinder in seinen Schulen und Polen unsre Arbeiter in seinen Kommunalunternehmungen; ob ihrer nicht zu viele sind. Dahingegen hat vor etlichen Monaten ein deutscher Studentenverein angeregt, unsere Gefallenen auf Deutschlands Schlachtfeldern zu zählen. Es schienen ihm ihrer nicht genug zu sein. Und in der Tat, warum sollte sich das Prinzip des zuverlässigen Prozentsatzes nicht auch auf diesem Gebiete durchsetzen? Völker Europas, in deren Heeresverbänden achthunderttausend Juden für das kämpfen, was jedes von euch seine Sache nennt, zählt, wie viele von ihnen für diese Sache ihr Blut, wie viele für sie nur ihre Kraft hergeben. Zählt!

MBW 3 (02678) / p. 324 / 27.11.2006

Ein Heldenbuch »Auf dem Weg von der Kolonie zum Friedhof ruht das neue Mys ter i u m Palästinas.« 1

Nach der hebräischen liegt nun die jiddische Ausgabe des Buches Jiskor vor 2, des »Gedenkbuches« – verändert, erweitert, vereinheitlicht, nunmehr nichts als Gedenkbuch. Deren hier gedacht wird, das sind die gefallenen Schomrim, 3 die Wächter und Arbeiter, die in der Verteidigung unserer Siedlungen in Palästina gegen räuberische Überfälle starben. Wenn ich von ihnen sage, daß sie Helden sind, wird man nicht verstehen, was ich meine. Das Wort »Helden«, das kristallenste Wort der Erde, ist vom vielen Aussprechen trüb und unverständlich geworden. Aber wollen wir nicht unternehmen, es zu reinigen? Wer vor der Gefahr nicht blinzelt, wer auf seinem Platze stehen bleibt, bis er umfällt, wer ohne Hemmung Leben gegen Leben einsetzt, der ist aller kriegerischen Ehren wert; aber er ist noch nicht der Held. Der ist es, der aus sich selber, nicht getrieben und nicht gezogen, nicht mitgenommen und nicht mitgerissen, von keiner irdischen Macht befehligt und von keiner benützt, aus der Einsamkeit seines Lebens, wissend und gefaßt, sich zu seiner Sache entschließt, in sie, das Tor der Welt (das Tor der M ö g li ch kei ten) hinter sich zuschlagend, eintritt und in ihr stehend das Äußerste wagt, tut, erleidet. Singt anderen Heldenlieder, mich dünkt es Götzendienst; ich behalte den erhabenen Namen denen allein vor, die uns durch die heilige Kraft ihrer Entschlossenheit das Göttliche wirklich und gegenwärtig machen. Einigen Wächtern und Arbeitern, von deren Leben und Sterben dieses Gedenkbuch erzählt, kommt – so geringe und bescheidene Menschen sie im übrigen auf Erden waren – der Name zu. Lest, lest das Buch! Aus sich selber, nicht getrieben und nicht gezogen, nicht mitgenommen und nicht mitgerissen, von keiner irdischen Macht befehligt und von keiner benützt, aus der Einsamkeit ihres Lebens, wissend und gefaßt, entschlossen sie sich zu ihrer Sache, traten, das Tor der Welt hinter sich zuschlagend, in

1. 2. 3.

Mit diesem Satz aus der Feder von Alexander Chaschin endet das Buch, vgl. G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S. 101. [Anmerkung Buber:] Herausgegeben von dem Palästina-Komitee der Poale Zion in New York. Eine deutsche Ausgabe wird vorbereitet. [Siehe das »Geleitwort« zu Jiskor, in diesem Band, S. 345-347.] Schomrim, hebr. »Wächter«, »Wachleute«.

MBW 3 (02678) / p. 325 / 27.11.2006

Ein Heldenbuch

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sie ein und in ihr stehend wagten, taten, erlitten sie das Äußerste. Ich nenne sie Helden. Aber das ist nicht alles, was ich von ihnen zu sagen habe. Ich nenne sie jü d i s che Helden. Verstehen wir uns recht: nicht alle Helden des jüdischen Mythos und der jüdischen Geschichte gehören dieser Art an, die ich als das jüdische Heldentum bezeichne, und hinwieder ist sie auch in anderen Völkern erschienen – in keinem aber so groß und offenbarend. Der jüdische Held ist der, dessen Sache die des Geistes und dessen Widersache die der Gewalt ist. Ich meine nicht etwa den »Dulder«, ich meine einen wahrhaften Kämpfer, und unter diesen Kämpfern haben die meisten, wo es galt, alle Kräfte des Leibes wie die der Seele eingesetzt und haben nicht mit erhobenen Händen allein sondern »mit der Schärfe des Schwertes« wider Amalek 4 gestritten. Und dennoch gibt in der Art ihres Kampfes die Sache, für die sie streiten, sich leuchtend und erleuchtend kund. Ein Beispiel. Gideon zieht gegen die Midianiter und sein Heer lagert sich ihnen gegenüber. Da redet die Stimme zu ihm: es sei des Volkes um ihn zu viel; und er ruft aus, wer irgend Bangigkeit verspüre, solle umkehren; und es kehren viele um, zehntausend nur bleiben bei ihm. Aber auch dieser sind zuviel; eine tiefere Probe tut not, die Befragung einer tieferen Wirklichkeit als die ihr Bewußtsein umfaßt; so führt er sie ans Wasser und heißt sie trinken. Da lassen sich fast alle auf die Knie nieder und schlürfen gemächlich; dreihundert aber lecken das fließende Wasser in atemloser Eile auf, denn si e haben kei ne Zei t: der Geist, der sie besitzt, läßt ihnen keine Zeit zum Trinken, keine Zeit zum Atmen, ehe die Tat getan ist. Mit diesen Dreihundert besiegt Gideon die Midianiter; er hatte aber zuvor das Prinzip der Gewalt besiegt – durch kein anderes Mittel, als daß er das Prinzip des Geistes aufrichtete. 5 Ein Sinnbild des jüdischen Helden ist David, der den Goliath schlägt; aber David dem König entgleitet dieses Heldentum. Hingegen ist da ein Alter, Barsilai, der mit all seiner Kraft und seinem Gut zum König hält, solange er auf der Flucht vor Absalom, solange er schwach und verfolgt ist; dem siegreichen David aber folgt er an den Hof nicht und weigert sich, den Lohn aus seiner Hand zu empfangen;6 seine Sinne seien nicht mehr jung genug, sagt er, um die Lustbarkeiten genießen zu können, aber wir fühlen: die Welt, darin das Recht erstritten wurde, war die seine, die 4. 5. 6.

Der Volksstamm Amalek gilt als der Erbfeind Israels, weil er Israel bei seinem Wegzug aus Ägypten hinterrücks überfallen hatte (Dtn 25, 17-19). Vgl. zur Gideonschar Anm. 15 in diesem Band, S. 307. II Sam 19, 32-39.

MBW 3 (02678) / p. 326 / 27.11.2006

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Erster Weltkrieg

Welt, darin der Erfolg gefeiert wird, geht ihn nichts mehr an. Wo ist in den Heldensagen der Völker seinesgleichen? Er wird nicht mit den Asen7 in Walhall 8 zechen; aber Gott der Herr gibt ihm den herben Trank der reifen Einsamkeit zu kosten, den Trank des Geistes, der edler ist als der süße Met der gewaltübenden und gewaltlohnenden Götter. Ich nenne einige Wächter und Arbeiter, von denen das Gedenkbuch des neuen Judengeschlechts erzählt, jüdische Helden: weil sie die stolze Sache, der Europa und Amerika um Lohn dienen, die Gewaltsache der Scheinkultur, die alle Güter zu vergeben hat, verschmähten und sich der dürftigen, preisgegebenen, schier aussichtslosen Sache des werdenden Geistes, die auf der Flucht ist, zuwandten, sich zu ihr als zu der ihren entschlossen und sich in ihrem Dienst, als die Wenigen, die sich nicht auf die Knie niederlassen, das Wasser zu schlürfen,9 als die Vordersten, als die Einsamen bis ans Letzte bewährten, mit allen Kräften des Leibes kämpfend und doch jenseits des Gewaltreiches. Auch dies, auch dieser Schutz des Werdenden, des Aufstehenden gegen die Horden der Gewalt ist Krieg, wenn ihr es so nennen wollt; aber ein and erer, einer von urwesenhaft anderer Art. Lauschet in die hohe Stille über den galiläischen und judäischen Gräbern: so werdet ihr den Hall der Schofaroth 10 anheben hören, vor denen Jericho fiel. 11

7. Germanisches Göttergeschlecht, deren König Odin ist. 8. Walhall ist in der germanischen Mythologie der Name der Halle, in der Odin die tapfersten und mutigsten der in einer Schlacht gefallenen Krieger empfängt. 9. So erzählt in der Gideonsgeschichte, siehe oben, S. 325. 10. Schofaroth, Plural von Schofar, hebr. »Widderhorn«. 11. Zum Fall Jerichos durch sieben Widderhornposaunen, vgl. Jos 6.

MBW 3 (02678) / p. 327 / 27.11.2006

Die Polnischen und Franz Blei (Ein Exempel) »Sagen was man weiß, und nichts mehr.« Charles Péguy, zitiert von Franz Blei (Menschliche Betrachtungen zur Politik, S. 349)

1. Im ersten Heft dieser Zeitschrift war für die Argumente jener, die beweisen wollen, daß die polnischen Juden nichts taugen, das Beispiel eines bekannten Schriftstellers angeführt worden, der die »Polnischen« für eine niedere Menschenart erklärte, denn sie lebten in eitel Furcht, sonderlich vor Gott. 1 Der Exkurs Franz Bleis, auf den sich diese Worte bezogen, ist seither von ihm in erweiterter Fassung in ein Buch aufgenommen worden, das den Titel »Menschliche Betrachtungen zur Politik« führt. Gestrichen hat der Autor keinen seiner Sätze, er scheint sie also immer noch für die Äußerung des legitimen Bescheidwissens zu halten. Immer noch kennt er keinen andern ostjüdischen sozialen Typus als den »vermittelnden Händler«, keine andere ostjüdische soziale Funktion als das »Schachern«. Für ihn haben wir umsonst in dieser Zeitschrift (S. 234, auch schon S. 181), die nicht umdeutbaren Zahlen reden lassen, umsonst darauf hingewiesen, daß nach der russischen Volkszählung vom Jahre 1897 mehr als 53 Prozent aller selbständigen Juden zu den arbeitenden Elementen gehörten, wogegen nur 31 Prozent Handel und Vermittlung trieben. Umsonst haben wir des weiteren gezeigt, wie wenig tief eingewurzelt, wie offenbar aufgezwungen der »Zug« zum »Schachern« im Ostjuden ist, indem wir – wieder in unumdeutbaren Zahlen – mitteilten, was aus ihm unter freien Lebensbedingungen wird: nach dem Zensus von 1900 waren 38,04 Prozent der gesa mten männlichen erwachsenen beschäftigten Bevölkerung New Yorks in Handwerk und Fabrikation tätig, aber 61,08 Prozent der eingewanderten ostjüdischen; 36,07 der gesamten weiblichen, aber 71,30 der eingewanderten ostjüdischen. An welche Säulen sollen wir diese Zahlen schlagen, von welchen Dächern sie herabfunkeln lassen, damit die deutschen Literaten, die über das Ostjudentum schreiben, sie zur Kenntnis nehmen und (in der Verschwiegenheit ihrer Herzen) einsehen, daß ihr Bescheidwissen das Ge1.

Siehe den Beitrag »Argumente«, in diesem Band, S. 290-292.

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Erster Weltkrieg

genteil des Wissens und ihre Betrachtungen ein Vermitteln von Redensarten von sehr geringem Wahrheitsgehalt, also doch wohl kein ganz löbliches Geschäft waren? Und wenn sie es je tun, wird sie dann nicht ein (ganz heimlicher) Zweifel beschleichen, ob jene, die »sich nur zwischen die von dieser Welt geschaffenen Güter vermittelnd stellen«, gar soviel schlimmer sind als jene andern, deren Worte sich zwischen eine Wirklichkeit und den, der sie kennen lernen will, solchermaßen vermittelnd stellen, daß er von dieser Wirklichkeit nur das Niederste, und auch dies nur in einer scheußlichen Verzerrung erfährt? In einer scheußlichen Verzerrung. Denn gewiß, es gibt den Schacherjuden; er ist zwar, wie wir erwiesen haben, keineswegs d er ostjüdische, er ist nur unter den Ostjuden der vordringlichste, der auffälligste, der sichtbarste Typus; immerhin, es gibt ihn, in zahlreichen Exemplaren, und sein Schachern ist ein regelrechtes Schachern. Nur daß einem menschli chen Betrachter nicht das Schachern an ihm das Bemerkenswerteste sein müßte, nicht diese »Gewohnheit seines Irrsinns«, die er, wie wir gezeigt haben, nicht ungern ablegt, wenn er darf: sondern daß das Schachern nicht in seine Seele eingedrungen ist. Einem andern hätte es das Mark zersetzt. Er a hat sieben Mauern um seine Seele gebaut, daß kein Anhauch der »Gewohnheit« zu ihr gelangt. Er hat den Verstand ausgesandt, daß er ihm und den Seinen die Lebensnotdurft besorge, wie immer sie besorgt werden kann; aber wenn der Verstand seinen Dienst getan hat, muß er Mal um Mal ins reinigende Tauchbad steigen, ehe er wieder in das Gelaßb der Seele eintreten darf. Ja, ihr Soldaten des deutschen und des österreichisch-ungarischen Heeres im Osten, ihr habt dem Juden auf die Finger, aber ihr habt ihm nicht in die Augen gesehen, oder schlecht; ihr habt ihn auf der Gasse, aber ihr habt ihn nicht in seiner Kammer gesehen, oder ohne Blick. Er schachert mit allen von dieser Welt geschaffenen Gütern, die verlangt werden und die er herbeibringen kann, aber nicht mit den Heiligtümern seiner Seele, seines Hauses und seiner Gemeinschaft. Er schachert nicht mit seinem Gott. Franz Blei erzählt in seinem Buch von Christen, die es tun. Die »die Kirche zu einer nützlichen Institution erniedrigen, den Begriff Nutzen gemessen an dem, was man so heute darunter versteht: Geschäft, vermehrtes Einkommen, besseren Kredit usw.« (Menschliche Betrachtungen zur Politik, S. 196). So weit ist der kleine Schacherjude des Ostens nicht. So weit kann von uns nur der große Schacherjude des Westens, dieser armseligste aller Machthaber kommen: wenn er die Konsequenz seines sinnlosen a. b.

JB ergänzt: aber. JB: Gefäß.

MBW 3 (02678) / p. 329 / 27.11.2006

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und erfolgreichen Daseins zieht und sich der einen oder der andern der nützlichen Kirchen einverleibt.

2. Unter den mit strenger Energie unternommenen Versuchen der Ostjuden, aus der Hölle des Schachers, in der es so schwer ist, die Reinheit der Seele zu bewahren, in das Reich des natürlichen Lebens einzutreten, ist einer durch eine Kühnheit der Absicht und eine Geschlossenheit des Werkes ausgezeichnet, die ihn einst, wie es scheint, zu weltgeschichtlicher Bedeutung erheben werden. Das ist die Errichtung einer auf den Bodenbau gegründeten, aus ihm zu einer vollkommen gegliederten Gemeinwirtschaft erwachsenden Siedlung in Palästina, die immer stärker von dem großen, urjüdisches Gesetz erneuernden Prinzip des gemeinschaftlichen Grundeigentums durchleuchtet wird: aller bisher und fürderhin aus den Mitteln des Jüdischen Nationalfonds erworbene Boden gehört der Gemeinschaft »als ewiger Besitz des jüdischen Volkes«. Man sagt »Kolonisation« und glaubt zu wissen, was vorliegt; man weiß es damit noch nicht. Der hier kolonisiert, das ist kein Staat und keine staatsähnliche Macht: in den zersprengten, zerklüfteten, unterwühlten Resten eines Volkstums, dem aus der Klasse seiner Reichen und Mächtigen die meisten nur noch dem Schein nach angehören, stehen Menschen auf, die willens sind, das Schicksal zu wenden, und »kolonisieren«. Menschenwerk, mit allen Mängeln und Kleinlichkeiten des Menschlichen behaftet, aber ihnen allen zum Trotz der Idee getreu, aus der es geboren und die all seine Macht ist. Es ist heiliger, zukunftsheiliger Boden, den die Hände der Siedler bebauen; das Unheilige, das Unheil, der Schacher muß ihm ferngehalten werden. Hier darf er nicht bloß das Innre des Lebens nicht, hier darf er auch seine Oberfläche nicht streifen. Das wissen die Männer, das tun sie; was immer ihnen fehlschlägt, dieses wird nicht fehlschlagen. »Es wird kein Krämer mehr im Hause des Herrn der Heerscharen sein an jenem Tage«: 2 das letzte Wort des großen Sacharja ist ihre Losung. Aber Franz Blei weiß es besser. Er kennt sich aus, er ist informiert, er läßt sich nichts weismachen. Er fügt seiner Glosse einen neuen Abschnitt an. Er eröffnet (S. 344): »Der Zionismus als Agent des Kapitalismus dürfte ja nur von ein paar Ideologen, die für König David schwärmen, geleugnet werden. Weil sie nicht wissen oder wissen wollen, daß in der Palästi2.

Sach 14, 21.

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Erster Weltkrieg

na-Kolonie schon lange eine schwunghafte Spekulation mit Grund und Boden getrieben wird von den jüdischen Kolonen, die schon lange nicht mehr ackern, sondern in Jerusalem vom Bettel, vom Handel oder von der Spekulation leben. Die Türkei hat des letzteren wegen die anfängliche Steuer auf die Grundeinheit um das Fünfzigfache erhöhen müssen, um zur Bebauung und so zur ehrlichen Rentabilität zu zwingen.« Worauf eine neue Warnung vor den Polnischen folgt. »Sagen, was man weiß, und nichts mehr.« Was Sie da also niederschrieben, Franz Blei, das »wissen« Sie, und wir törichten Ideologen wissen es nicht oder wollen es nicht wissen? Darum »leugnen« wir, nicht wahr? Nun denn, ich »leugne« nicht, denn nicht ich und nicht mein Volk sitzt auf der Anklagebank, sondern Sie. Ich behaupte nicht, daß Sie nicht wüßten oder nicht wissen wollten, sondern daß Sie fälschlicherweise zu wissen vorgeben. Ich klage Sie an, daß Sie sich mit der Miene des Wissenden, mit dem Tonfall des Enthüllenden zum Sprecher einer Lüge machen. Ich weiß nicht, wessen Lüge es ist; aber die Worte, in denen sie gedruckt steht und verbreitet wird, sind die Ihren. Ich weiß nicht, woraus sie entstanden ist, aus Bosheit oder aus Leichtfertigkeit, aber ich ahne, warum Sie sie niederschrieben, drucken und verbreiten ließen: aus Bescheidwisserei. Aus Bescheidwisserei scheuen Sie sich nicht, Dreck auf eine reine Sache zu werfen – und es macht Ihre Schuld nicht geringer, daß es zusammengeklaubter Dreck ist. Welcher Gattung die Lüge angehört, die in den angeführten drei Sätzen niedergelegt ist, wird offenbar, wenn ich sage – was an ihr wahr ist. Es ist wahr, daß in Palästina eine schwunghafte Spekulation mit Grund und Boden getrieben wird: aber nicht von den »jüdischen Kolonen«, sondern von den arabischen Großgrundbesitzern, die von jeher ihren Boden als Spekulationsgut betrachteten und insbesondere, seit ihnen der Liebhaberwert palästinensischer Erde aufgegangen ist, d. h. seit der Entwicklung der jüdischen Kolonisation mehr mit dem Wertzuwachs als mit den Betriebseinnahmen rechnen. 3 Es ist wahr, daß in Jerusalem Juden vom »Bettel« leben; aber die sind nicht Kolonisten und sind es nie gewesen, sondern es sind die altgewohnten frommen Müßiggänger, die Empfänger des organisierten Almosens der Chaluka 4 , die mit der neuen Siedlung in keinerlei Zusammenhang stehen. Und es ist wahr, daß der Steuerneingang aus den Kolonien bedeutend (wenn auch leider bei weitem nicht um das Fünfzigfache) gewachsen ist, aber nicht infolge Erhöhung der 3. 4.

[Anmerkung Buber:] Vgl. Leon Schulmann, Zur türkischen Agrarfrage, Weimar 1916, S. 46–57. Organisierte finanzielle Unterstützung der orthodoxen Juden in Palästina.

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Die Polnischen und Franz Blei

Grundsteuer, sondern infolge der fortschreitenden Steigerung des Bodenertrags durch intensive Arbeit der Siedler. 5 Im übrigen brauchte die Türkei wahrlich, »um zur Bebauung und so zur ehrlichen Rentabilität zu zwingen«, die Steuer auf die Grundeinheit nicht um das Fünfzigfache zu erhöhen, da nach türkischem Recht jeder drei Jahre lang nicht bebaute baufähige Boden an den Staat fällt. 6 Ich habe dreimal hingeschrieben: »Es ist wahr …« Die Lüge, die in den drei Sätzen Bleis niedergelegt ist, ist also keine Phantasielüge; sie hat, wie ich gezeigt habe, »Anhaltspunkte«. Durch wieviel Mäuler mögen sie wohl, von Maul zu Maul reichhaltiger werdend, gegangen sein, bis sie den endgültigen Empfänger, den menschlichen Betrachter erreichten, der nunmehr, in ihrem unantastbaren Besitz, ein Wissender, den Ideologen, die für den König David schwärmen, ihr Leugnen verweist!

3. Eine Sache ist im Werden, eine menschenbefreiende, gemeinschaftaufrichtende, geistverwirklichende, eine gute Sache. Wir stellen uns vor sie, einige Geistesarbeiter jüdischen Blutes und Willens, die wir stolz sind, ihr dienen zu dürfen, und decken sie. Wir sind uns nicht zu erlesen, um ihretwillen in den hinabzusteigen, den wir sonst meiden, in den Kampfplatz des Tages; nicht zu kostbar, den Dreck, mit dem sie beworfen wird, mit unserer Person aufzufangen. Wir werden nicht dulden, daß sie hinfort geschmäht werde. Ihr, die ihr von ihr redet, saget was ihr wißt, und nichts mehr. Aber nehmt das Wort Wi s s en in seinem Ernste und vermeinet nicht zu wissen, wenn ihr etwelches Geschwätz zusammengebacken habt. Wir fordern nicht Gerechtigkeit – wer dürfte die fordern? – aber Wahrheit fordern wir, von jedem, der unsere Sache mit seiner Rede anrührt. »Die Wahrheit ist das Siegel Gottes.« Das ist ein hohes jüdisches Wort, und die hohe vollkommene Wahrheit ist gemeint. Aber es gibt eine knap5.

6.

[Anmerkung Buber:] Da Blei hier eine Zahl nennt, die freilich nur Kuriositätswert besitzt, will ich mit Zahlen antworten. Zuverlässige Ziffern liegen für 12 Kolonien vor. Diese 12 Kolonien haben an dem Oscher oder Zehnten, also einer Er t r a g s ste ue r, im Jahre 1904 zusammen 45019,40 Frs. entrichtet, im Jahre 1913 war der Betrag auf 321453,20 Frs. gestiegen. Das haben die Kolonisten, die »schon lange nicht mehr ackern«, durch ihre Arbeit aus dem Lande gemacht. Dagegen ist der Betrag der übrigen Steuern, die größtenteils Besitzsteuern sind, in den 12 Kolonien in diesen zehn Jahren ni cht g ew achs en. [Anmerkung Buber:] Vgl. Curt Nawratzki, Die jüdische Kolonisation Palästinas, München 1914, S. 68.

MBW 3 (02678) / p. 332 / 27.11.2006

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Erster Weltkrieg

pe notwendige Wahrheit, die das Siegel des Menschen ist: kein Leben, das ihrer enträt, kann ein menschliches Leben, keine Betrachtung, die sie verleugnet, darf eine menschliche Betrachtung genannt werden.

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Unser Nationalismus Zum zweiten Jahrgang »Der Jude« will den ewigen Gehalt des Judentums, seinen Sinn und seine Bestimmung an dem problematischen Stoff der Gegenwart, an dem jüdischen Menschen dieses Zeitalters und an der Judenfrage dieses Zeitalters zu erproben und zu bewähren versuchen. Damit ist die Geradheit seines Wegs, aber auch die Umspannung seines Blicks gekennzeichnet. Die Richtung seines Ganges und die Wahrheit seines Schauens sind wechselseitig bedingt. Er hat »Tendenz«: die einer Erkenntnis, welche den Sinn endgültig zu sichern unternimmt, indem sie ihn zu tun befiehlt. Er hat »Objektivität«: die eines Willens, der zu seinem Dienst keine andre als eine unbefangene Anschauung gebrauchen mag. Die Geradheit des Wegs. Warum haben wir in einer Zeit, da tausend breite Wege der Idee zur Wahl stehen schienen, diesen schmalen erkoren? Weil uns des rednerischen Verkündens von Ideen genug getan scheint und wir daran gehen wollen, einer großen Aufgabe nicht bloß das Wort zu reden, sondern ihr das berufene Werkzeug aus Fleisch und Geist zu schmieden. Weil wir vermeinen, es sei an der Zeit, von der Proklamierung des Ideals für den allgemeinen Gebrauch überzugehen zum Versuch seiner Verwirklichung im natürlichen Lebenskreis eines jeden, der im Ernst leben und vor dem Ernst bestehen will – im natürlichen Lebenskreis: Haus, Gemeinde, Volk. Und weil Volk uns die Einheit aus Blut und Schicksal bedeutet, in die wir gestellt sind und der wir uns, deren Größe und Geheimnis nicht allein, deren Wirrnis und Widerspruche auch wir uns tätig gewachsen erzeigen müssen, wenn wir im Ernst leben, vor dem Ernst bestehen wollen. Das ist Wahrheit des Schauens. Wir haben den ewigen Gehalt unseres Volkstums nicht bloß zu erkennen, wir haben ihn zu erproben, um des Weges willen. Und darum dürfen wir an der Paradoxie der jüdischen Gegenwart nichts abzuschwächen, an ihrem Mangel nichts abzurunden, an ihrer Schuld nichts zu beschönigen suchen. Unser Blick hat das Heilige und das Schändliche mit der gleichen Klarheit zu erfassen, unser Wort beides mit der gleichen Redlichkeit zu melden. Nur wenn wir keine Furcht vor uns selbst mehr haben, haben wir nichts mehr zu fürchten. Und nur wenn wir die wahre Ehrfurcht vor uns selbst wieder haben, wird das Ehrfurchtgebietende wieder wahr sein. Dies also ist der Weg des »Juden« a : das ganze Judentum sehen und das a.

JB abweichend: Dies also ist unser Weg.

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Erster Weltkrieg

ga nze Judentum wollen. Die Fülle des Widerspruchs erkennen und die Fülle der Versöhnung erstreben. Ja, es ist ein schmaler Weg – karg, entsagungsvoll und rechtmäßig. Auf seine Eingangspforte hat der Finger eines überlegenen Passanten das geläufige Wort »Nationalismus« geschrieben. Wie fremd wir uns auch dem wissen, was heute gemeinhin mit diesem Namen genannt wird, wir wischen ihn nicht weg. Denn feurige Zeichen sagen uns, daß sein Sinn sich wandelt, und wir ahnen rings um uns einen noch unkenntlichen Bund von »Nationalisten« aller Völker, denen es wie uns nicht um das Durchsetzen, sondern um das Gestalten ihrer Nationen geht. Daß uns diese Aufgabe schon heute in ihrer Reinheit gewährt ist, daß wir zu ihr gelangten, ohne vorher den blutigen Irrweg gehen zu müssen, daß wir in Wahrheit Wegbahner sein dürfen, das erhöht wohl, es erschwert noch aber auch das uns angewiesene Werk. So schmal auch unser Weg ist, unser Herz darf sich niemals zur Enge gewöhnen, ganz wach und weit muß es allen Wandlungen dieser menschheitbereitenden Zeit mit seinem Schlage folgen. Nie darf uns das Nationale sein Ende in sich selber finden, nie uns die Phrase eine Scheinverbindung zwischen ihm und der Sache der Menschheit vorlügen; ganz real muß die Verbindung sein und solcher Art, daß sie sich nicht in unsern Zielsetzungen allein, daß sie sich auch in der Wahl unserer Mittel und der Ausbildung unsrer Methoden unentstellt kundgibt. Die neue, die verwirklichende Humanität wird da zuerst das unerschrockene Haupt erheben, wo man sich ihr nicht mit Manifesten und Verheißungen zu eigen gelobt, sondern mitten im Grauen dieses Alltags ihr zu dienen beginnt. Ich schreibe diese Worte wenige Wochen nach dem Ausbruch der russischen Revolution. Seither haben sich allerlei jüdische Stimmen hören lassen, die auf das Ereignis etwa solchermaßen antworteten: »Als Menschen begrüßen wir die neue freiheitliche Ära. Aber wir wissen noch nicht, was wir dazu als Juden sagen sollen. Werden alle Beschränkungen sogleich aufgehoben werden? Wird die losgebundene Leidenschaft der Masse sich nicht in Pogromen entladen?« Und andre, ernste Stimmen setzen ein: »Wenn die Emanzipation verkündet wird, werden ihr die Juden nicht wie einst ihre westlichen Brüder den Stolz und die Kraft ihres Volkstums zum Opfer bringen? Beginnt nicht ein neues, riesenhaftes Exempel für die geschichtliche Erfahrung der ›äußeren Freiheit und inneren Knechtschaft‹ ? 1 Dürfen wir uns als Juden freuen?« 1.

»Äußere Freiheit und innere Knechtschaft« ist der Titel von Achad Haams berühmtem Aufsatz aus dem Jahre 1891 gegen die schleichende Assimilation der Westjuden,

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Unser Nationalismus

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Anders redet die Stimme u nseres Nationalismus. Wir sondern nicht Menschen- und Judengefühl, menschliche und jüdische Erwiderung voneinander. Wir grüßen die Freiheit, Freiheit des Menschen, Freiheit der Völker, wo immer sie, die von Männern unsrer Vorzeit zuerst ersehnte und geforderte, erscheint, dreifach, wo ein großer Teil, der Kernteil unsres Volkes sie aufbauen helfen darf, – sie, gewiß nicht den höchsten, aber den fundamentalen Wert des mündigen Lebens. Sie ist das Eine, das – dieweil alles andre Gut des Geistes in die Ungewißheit wechselnder Auf- und Niedergänge gebannt scheint – immer deutlicher die Gewißheit eines Wegs, eines Werdens, eines Wachstums erlangt hat. »Fortschritt« – das vom öffentlichen Geschwätz zur Redensart zugerichtete Wort wird hier wieder rein und jung: die Freiheit schreitet fort, im Schreiten wandelt sich ihr Wuchs und Angesicht, eine entschlossene und gelassene Mannheit strahlt heute von ihrer Stirn, nicht so bezwingend, aber zuverlässiger als einst der genialische Blitz. Wir glauben an sie; wir glauben, daß der sichere Wirklichkeits- und Verwirklichungssinn ihrer Reife sich auch am Judentum besser bewähren wird als die glänzenden Abstraktionen ihrer Jugend. Wir glauben aber auch an den Juden, den die Lehre eines Jahrhunderts erzogen hat, im Reich der Wirklichkeit und Verwirklichung, das ist im Reich der lebend en Idee, statt in dem der Worte zu wohnen. Der emanzipierte Jude des Westens verfehlte sein Judentum, weil er sein Menschentum verfehlte; weil er nur die Wortaureole der Freiheit, nicht ihr warmes Leben ergriff. Lag das nur an ihm? Es lag auch an der Freiheit. Der emanzipierte Jude des Ostens wird sein Judentum nicht verfehlen, weil er sein Menschentum nicht verfehlen wird. Wird das nur an ihm liegen? Es wird auch an der Freiheit liegen. Wir glauben an ihre Reife und an seine in einem, denn wir glauben an die beginnende Reife der Menschheitsseele. Unser Nationalismus wurzelt in diesem Glauben.

die als Preis für ihre bürgerliche Emanzipation moralische und intellektuelle Knechtschaft in Kauf nähmen: deutsche Übersetzung in: Achad Haam, Am Scheidewege, Bd. 1, 1923, S. 246-266.

MBW 3 (02678) / p. 336 / 27.11.2006

Ein politischer Faktor Das Streben nach der Begründung einer öffentlich-rechtlich a gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina ist, so sagt man, »ein politischer Faktor« geworden. Betrachten wir die Wirklichkeit, die sich hinter diesem Schlagwort verbirgt. Es ist eine zwiegesichtige, eine zwiespältige Wirklichkeit. Dies ist ihr lichtes Antlitz: Die Völker fühlen mit steigender und ingrimmiger Gewißheit, daß es bei ihnen steht, ob dieser Krieg die hoffnungslose Hölle oder der höllenähnliche Reinigungsort dieser späten Jahrhunderte ist. Sie haben zu erkennen begonnen, daß er aus ihrer aller Schuld geworden ist, und ahnen, daß ihnen zur Sühne gereichen mag, was sie aus ihm werden lassen. Und von Augenblick zu Augenblick wird ihnen stärker kundbar, daß alles aus ihm werden kann, was zu wollen sie fähig sind. Es ist die Stunde einer säkularen Bildsamkeit der Menschenwelt. Die Verfassungen der Gemeinwesen, die Ordnungen der Wirtschaft, die Beziehungen der Staaten, alles ist bestimmbar geworden, alles harrt der meisterlichen Hände. Unter den Aufträgen, die die Zeit in diese noch unsichtbaren Hände legt, ist ein vor allen andern harter und spröder: die Selbstbestimmung der Nationen zu verwirklichen. Hart und spröd ist er, weil die Ansprüche, die ihm als Material für die zu treffenden Entscheidungen überantwortet werden, einander mannigfaltig widersprechen und der eine oft nicht ohne Schmälerung eines anderen erfüllbar erscheint; wohl auf keinem Gebiet wird die Schlichtung des vielfältigen Widerstreits so schwierig sein wie auf diesem, wo er nicht bloß in politischen Forderungen, sondern auch in historischen Erinnerungen, in logischen Definitionen, ja in statistischen Tabellen waltet. Es gibt freilich Ansprüche, deren Gerechtigkeit unvermischt ist und deren Anmeldung schon ihre Anerkennung hätte bedeuten müssen, wenn damals bereits das Gewissen der Völker erwacht wäre, das heute erwacht. Ein solcher Anspruch ist der des jüdischen Volkes auf die Gewinnung eines neuen organischen Mittelpunkts seines Lebens im Lande seiner Jugend. Dieser Anspruch verletzt keinen andern nationalen Bestand, kein anderes nationales Recht; das ist, nachdem es oft erklärt wurde, vor kurzem in der Eröffnungsrede der ersten zionistischen Delegiertenkonferenz im freien Rußland mit erfreulicher Deutlichkeit dargelegt worden, und daß a.

JB: rechtlichen.

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Ein politischer Faktor

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es so ist, daß dieser Anspruch zutiefst beglaubigt ist, haben die Völker in dieser Stunde der säkularen Bildsamkeit zu erkennen begonnen. Die philozionistische Stimmung wächst zur tätigen Gesinnung heran. Überall beginnt es Menschen, die gutes a Willens sind, Ernst um Zion zu werden. Es ist nicht mehr bloß Achtung, was sie dem seiner wurzelhaften Ewigkeit bewußten Judentum entgegenbringen, es ist Hilfsbereitschaft. Das ist das helle Antlitz der zwiegesichtigen Wirklichkeit, die sich hinter dem Schlagwort, der Zionismus sei ein politischer Faktor geworden, verbirgt. Aber das andere: Es ist noch Krieg; und das heißt, es ist noch dieser entartete Krieg, in dessen Entartung es einer der grauenhaftesten Züge ist, daß a lles in ihn einbezogen wird. Daß ein so großer Teil der Intellektualität der kriegführenden Völker sich unter die Maschinen begeben hat oder unter sie eingereiht worden ist, mit denen der Krieg geführt wird, hat man durch die Fiktivität, die Ungeistigkeit dieser Intellektualität zu erklären versucht; die Erklärung reicht nicht zu. Echtes und Fiktives, Geistiges und Ungeistiges sind hier miteinander verschweißt, weil sie vor den sie Benützenden gleich sind, für sie gleich brauchbar sind. Kein Idealismus kann so rein, keine Begeisterung so gnadenreich sein, daß sie von dem System der Verwendung aller Dinge nicht erfaßt und mit ihrem besonderen Verwendbarkeitszeichen abgestempelt werden könnten. Ob du dichtest oder zu dichten glaubst, Poet, ob du forschest oder zu forschen vorgibst, Gelehrter, ob du Hingabe oder Taktik übst, Sozialist: der euch ausspielt, kann die echten Karten unter euch zu gelegener Zeit so geschickt (oder so ungeschickt) ausnützen wie die falschen. Ihr echten seid ins Spiel gemischt und müßt die Gesellschaft der andern erdulden und ihre Behandlung miterleiden. So kann es auch einer Sache ergehen, die jenseits der Welt dieses Krieges steht und mit ihr nichts gemein hat, wie die zionistische. Sie ist in diesem Krieg nicht Partei und will nicht Partei werden; sie spielt weder offen noch heimlich mit; sie sieht aber auch nicht ins Spiel und lauert nicht, wer gewinne; sie ist nicht unter denen, die den Spielern zuflüstern, schmeicheln, Tricks anbieten und die alles Ausnützenden selber ausnützen möchten. Was Theodor Herzl auf dem ersten Zionistenkongreß – seit jener Minute vollendet sich jetzt das zwanzigste Jahr – sagte, gilt heute noch immer: »Es kann sich bei uns nicht um Bündeleien, geheime Interventionen und Schleichwege handeln«.1 Aber nicht deshalb allein hat die 1.

Aus Herzls Eröffnungsrede, Protokoll des Ersten Zionistenkongresses, S. 16.

a.

JB: guten.

MBW 3 (02678) / p. 338 / 27.11.2006

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zionistische Sache keinen Anteil an dem ausnützenden und ausspielenden Aktivitätswirrsal dieses entarteten Kriegs. Sondern weil der Weg nach Zion nicht durch die Straße des Wahnsinns führen und sich mit ihr nicht berühren a kann. Und dennoch ist das Zionszeichen auf eine Karte gemalt und diese Karte ins Spiel geworfen worden. Aber nicht von der Hand des Zionismus. Würde er um d i es es Vorgangs willen ein politischer Faktor genannt, so käme ihm diese Bezeichnung nur als einem Objekt, nicht als einem Subjekt der Politik zu. Im System der allgemeinen Verwendung der Ideale und Begeisterungen ist nun auch das Streben nach einer Heimstätte für das jüdische Volk als benützbar untergebracht worden. Wir können diesen Akt nicht verhindern, aber wir dürfen an ihm nicht teilnehmen. Wir müssen diese Versuchung, zu einem politischen Faktortum solcher Art erhoben zu werden, bestehen. Wir sind nicht ein Subjekt dieser Politik und wollen es nicht werden. Die Politik, als deren Subjekt der Zionismus gelten will und darf, ist eine andere. Er redet nicht zu den einzelnen, aus aller Weltmaterie einschließlich des Geistes Waffen wider einander schmiedenden Gruppen, sondern zu der Völkergemeinde, die sich in dieser Stunde, während sie noch geschmiedet werden, in redlichen und überlegenen Herzen bereitet; nicht zum Haß und zur lauernden List, sondern zu dem erwachenden Gewissen, dem neuen Bewußtsein der Verantwortung und dem sich verwandelnden Willen der Völker. Indem er zu ihnen redet und von ihnen gehört wird, ist der Zionismus eine wirkende Kraft in der Völkerpolitik geworden. Der Tag der endgültigen Selbstbesinnung der Völker wird auch sein Tag sein; keiner der Tage ihrer Verstrickung kann es werden. Diese, zu der wir vor zwanzig Jahren uns im Angesicht der Menschenwelt bekannten und der wir treu geblieben sind, ist eine andere Politik, als die in diesem Kriege herrscht, eine andere, als die war, deren Fortsetzung mit allen Mitteln wahrlich dieser Krieg darstellt. Es ist eine Politik des Freimuts und nicht des Mißtrauens, der Offenheit und nicht des Hinterhalts, der Direktheit und nicht der Intrige. Wenn der Zionismus durch seine politische Methode diese neue Politik einsetzen hilft, wird er auch in einem besondern hohen Sinn ein politischer Faktor genannt werden dürfen.

a.

In JB fehlt die Passage: »und sich mit ihr nicht berühren«.

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Asketismus und Libertinismus Der Artikel des Herrn Dr. S. Bernstein, der »Politischer Asketismus« 1 überschrieben ist, ist aus lauter Mißverständnissen komponiert, vielmehr er ist ei n Mißverständnis. Wer meinen Aufsatz »Ein politischer Faktor« 2 aufmerksam und unvoreingenommen gelesen hat, der weiß, wogegen allein ich mich darin gewendet habe: daß der Zionismus einer der kriegführenden Parteien helfe, sich seiner als eines Kampfmittels gegen die andere zu bedienen. Er kann nicht verhüten, daß es geschieht, aber es ginge gegen sein Wesen und seine Ueberlieferung – gegen die Ueberlieferung Theodor Herzls –, wenn er selbst dabei seine Hand im Spiel hätte. Wenn er das täte, würde er trotz aller Wahrung des Scheins der Neutralität zu einer heimlichen Partei im Weltkrieg herabsinken. Gewiß ist heute dem nicht so, aber ich habe es für meine Pflicht gehalten, vor einem möglichen ersten, unbewußten oder halbbewußten Schritt auf einem Weg zu warnen, der dahin führen müßte. Herr Dr. Bernstein stellt es aber so dar; als ob ich vor der politischen Aktion überhaupt gewarnt hätte. Dieses Mißverständnis hat sich in ihm so festgesetzt, daß es ihn sogar zu falschen Zitaten veranlaßt. So behauptet er, ich protestierte dagegen, daß das »Zionszeichen auf eine Karte gemalt und diese Karte ins Spiel der Weltpolitik geworfen werden soll«. Bei mir fehlen die Worte »der Weltpolitik« – ich lasse keinen Zweifel darüber, welches Spiel ich meine; und Gott sei Dank, es gibt noch Weltpolitik außerhalb seiner. Ich bin dafür, mit ganzem Herzen dafür, daß der Zionismus fortsetzt, was er vor dem Krieg begonnen hat: die Menschen guten Willens in allen Völkern für sein Werk und Ziel zu gewinnen, und ich habe in meinem Aufsatz freudig festgestellt, daß diese Tätigkeit immer größere Erfolge zeitigt: »Die philozionistische Stimmung«, sagte ich, »wächst zur tätigen Gesinnung heran«. Dies, so führte ich aus, ist das lichte Antlitz der Tatsache, daß der Zionismus »ein politischer Faktor« geworden ist. Aber ein anderes ist es, die Völker informieren, ein anderes, mit den Regierungen intrigieren. Nicht, daß dies von seiten des Zionismus geschehen wäre; aber es gibt allerlei gute Leute und schlechte Musikanten, die dazu raten. Darum habe ich mit allem Nachdruck widerraten und werde es immer wieder tun, so weit meine Stimme reicht. Der Zionismus würde dadurch von seinem Weg, auf dem es nach dem von mir angeführten Worte Herzls 1. 2.

Simon Bernstein, Politischer Asketismus, in: Jüdische Rundschau, 22. Jg., Nr. 42, 19. Oktober 1917, S. 338-339. In diesem Band, S. 336-338.

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keine Bündeleien geben darf, unwiderruflich abweichen, er würde sich nicht etwa zum Verbündeten, sondern zum »Faktor« 4 oder Laufburschen einer kriegführenden Partei machen und nichts anderes erreichen, als daß beim Friedensschluß seine Sache auf absehbare Zeit hinaus kompromittiert wäre; denn eben die, die ihn jetzt benützen, würden ihm keinen Blick mehr gönnen, sobald sie für ihn keine Verwendung mehr haben. Dagegen werden wir zur Zeit der Friedensverhandlungen eine um so günstigere Position haben, je unbefangener und ungebundener wir unsere Forderungen vorbringen können, je freier und überlegener – ja, überlegener – wir beiden Parteien gegenüberstehen, je unabgenützter, unverbrauchter, unverbündelter wir aufzutreten vermögen. Zu Unrecht schilt Herr Dr. Bernstein den Asketismus. Der rechte Asketismus bedeutet: seine Kraft sammeln, seine Kraft zusammenhalten, seine Kraft aufspeichern, seine Kraft potenzieren – für das künftige Werk. Was aber die erwähnten Ratgeber vertreten, das ist politischer Libertinismus; der bedeutet: seine Kraft vertun, seine Kraft verzetteln, seine Kraft verwüsten, seine Kraft annihilieren – im unfruchtbaren Werkwahn. Im entscheidenden Augenblick wird der Asket frei, stark und bereit sein, der Libertin verbraucht und ohnmächtig. So weit will ich Herrn Dr. Bernsteins Behauptungen gern auf Mißverständnisse zurückführen. Aber es gibt einen Satz in einem Artikel, der mich für diese Erklärung fast zu ungeheuerlich dünkt. »Ist nicht«, so fragt er, »in dem System dieser Bündeleien und Intrigen der Zarismus vernichtet worden? Haben nicht diese Intrigen dem größten Teil des jüdischen Volkes Menschenrechte für alle Zeiten gebracht?« Soll ich dies für Ihre wirkliche Auffassung der russischen Revolution halten, Herr Dr. Bernstein? Dann ist es erschreckend, tief erschreckend für mich, daß es Zionisten gibt, die das Geschehen dieser Zeit so sehen. Wahrlich, nicht ein Produkt der Intrigen, sondern die erste große Auflehnung gegen die Intrigen bedeutet die russische Revolution. Nicht die Kräfte, die diesen Krieg führen, haben sie geschaffen, sondern die Gegenkr a ft hat es getan, die von jenen aufgerüttelt wurde. Wenn die Pogrome der Achtzigerjahre 5 die schlafende Judenheit weckten und befeuerten, wollen wir die »Benutzbarkeit« der Pogrome verkünden? Herr Dr. Bernstein unterfängt sich, mir entgegenzuhalten, ich hätte »erst vor kurzem selbst in diesem Krieg ein ›Erlebnis‹ erblickt«. Das klingt 3. 4. 5.

Siehe oben, S. 337, Anm. 1. Ein sinnvolles Wortspiel ergibt sich hier nur, wenn statt »Faktor« »Kalfaktor« gelesen wird. Gemeint sind die Pogrome nach der Ermordung Zar Alexanders II., die auch als Auslöser für die Entstehung des Zionismus angesehen werden.

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Asketismus und Libertinismus

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so, als ob er mich den Erlebnisschwärmern und Erlebnisrhetorikern aus der ersten Zeit des Kriegs zugesellen wollte. Er verschweigt, welches Erlebnis ich in diesem Krieg erblickte. Zweimal habe ich in seinen Anfangsmonaten es ausgesprochen. Das einemal als allgemeines Erlebnis; jene Aeußerung habe ich jetzt am Schluß meines Buchs »Ereignisse und Begegnungen« wiederabgedruckt. 6 Das anderemal als jüdisches Erlebnis: in der Rede »Die Tempelweihe«, 7 die in dem Buche »Die jüdische Bewegung« veröffentlicht ist. Beidemale ließ ich keinen Zweifel darüber, welches Erlebnis ich meine: das Erlebnis der Geg enkr a ft . Die Gegenkraft hat sich in der russischen Revolution erhoben, die Gegenkraft ist auch im Zionismus lebendig. In beiden Gestalten droht ihr die Zersetzung, die Vermischung mit jenen Mächten, gegen die zu kämpfen, die zu besiegen sie berufen ist. Diese Bedrohung ihr fernzuhalten oder zu entfernen, ist dort die Aufgabe der Getreuen der Revolution, ist hier die Aufgabe der Getreuen des Zionismus. Herr Dr. Bernstein behauptet – wieder ein falsches Zitat –, ich verlangte vom Zionismus, »daß er die Politik des Freimuts, … der Offenheit …, der Direktheit … anzuwend en versu chen so l l«. Die Worte, die in Anführungszeichen stehen, sollen angeblich meine Worte sein. Aber die Worte, die an der angeführten Stelle meines Aufsatzes in Wahrheit stehen, besagen das gerade Gegenteil. Ich setze sie ungekürzt hierher, weniger um die wunderliche Methode, mit der Herr Dr. Bernstein seine Mißverständnisse ausnützt, zu beleuchten, als vielmehr um am Schluß dieser unerfreulichen, mir aufgenötigten Auseinandersetzung nicht mehr in widerlegender, sondern nochmals in positiver Form auszusprechen, worauf es mir ankommt. »Diese, zu d er w i r vo r zwa nzi g Jah ren u ns i m Angesi cht der Menschenwelt bekannten und d er w i r t reu g ebli eben s i nd , ist eine andere Politik, als die in diesem Kriege herrscht, eine andere, als die war, deren Fortsetzung mit a llen Mitteln wahrlich dieser Krieg darstellt. Es ist eine Politik des Freimuts und nicht des Mißtrauens, der Offenheit und nicht des Hinterhalts, der Direktheit und nicht der Intrige. Wenn der Zionismus durch seine politische Methode diese neue Politik ei nset zen hi lft , wird er au ch in einem besondern hohen Sinn ein politischer Faktor genannt werden dürfen.«8 Möge diese unsere alte, für Europa neue Politik in unserer Mitte rein und mächtig bleiben und aus unserer und der Gleichgesinnten aller Völker Mitte ausstrahlen in die Welt! 6. 7. 8.

Das ist der Abschnitt An das Gleichzeitige, enthalten in: MBW 1, S. 275-276. In diesem Bande, S. 279-285. Dies ist der Schlußabsatz von »Ein politischer Faktor, siehe in diesem Band, S. 338.

MBW 3 (02678) / p. 342 / 27.11.2006

Eine unnötige Sorge In einem Leitartikel der Frankfurter Zeitung ist kürzlich die Sorge um die jüdische Kultur zum Ausdruck gekommen, für deren Erhaltung der Zionismus keine Gewähr gebe, da er »den religiös neutralen Judenstaat in Palästina« fordere und damit »die eigentümliche Kultur des Judentums, die eben religiöse Kultur ist«, negiere. Er wolle – so meint die Frankfurter Zeitung unter Berufung auf I. Breuers polemische Schrift »Judenproblem«1 – »ein Volk bloß auf die Rasse gründen und bewußt alles ausschalten, was das Volk zum Volk gemacht hat, seine Geschichte, seine Kulturtradition«, und tue daher dem menschheitlichen Interesse nicht Genüge, »das den Träger eines einmaligen und großen Kulturideals dauern wissen möchte«. Aber er sei auch politisch bedenklich, da nur »ein Volk, dessen Nationalität in seiner Religiosität liegt, dessen Reich gleichsam nicht von dieser Welt ist«, der Gefahr fern sei, »daß es zum Spielball der Politik würde«; »ein internationales Palästina aber muß, wie Breuer hervorhebt, allen politischen Einflüssen offenstehen«. Die Sorge ist unnötig. Es gibt keinen Zionismus, der das jüdische Volk bloß auf die Rasse »gründen« will – es gibt nur einen, dem es sich auf seiner geschichtlichen Einheit aufbaut; nur daß es ihm möglich ist, diese geschichtliche Einheit unbefangener anzuschauen, als der Artikelschreiber der Frankfurter Zeitung es tut. Es gibt keinen Zionismus, der ein »internationales« – es gibt nur einen, der ein jüdisches Palästina anstrebt; nur daß es ihm nicht notwendig scheint, den Umkreis des Jüdischen so eng zu fassen, wie es dem Artikelschreiber beliebt. Es gibt aber auch keinen Zionismus, der damit lediglich ein von Juden bewohntes – es gibt nur einen, der damit ein seiner Kultur nach jüdisches Palästina meint; nur daß unter Kultur nicht ausschließlich das verstanden werden muß, was die Orthodoxie Breuerscher Observanz darunter versteht. Die Frankfurter Zeitung wird doch wohl, wenn sie etwa die Kultur des deutschen Volkes zu erörtern beabsichtigt, sich über den Inhalt dieses Begriffs nicht gerade von einem literarischen Vertreter des rechten Zentrumsflügels belehren lassen. Warum will sie es mit der Kultur des jüdischen Volkes anders halten? Die Sorge ist unnötig. Unnötig die um die religiöse »Kulturtradition« (worunter offenbar die überlieferte Ritualität zu verstehen ist), da für deren Erhaltung ein noch so weltlicher Judenstaat denn doch wohl größere Gewähr bieten dürfte als die Staaten, unter deren Herrschaft sie sich bis1.

Isaac Breuer, Judenproblem, Halle/Saale [1917/1918].

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Eine unnötige Sorge

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her erhalten hat. Erst recht unnötig die Sorge um das religiöse »Kulturideal«, das wir im Gegensatz zum Artikelschreiber nicht mit der »Kulturtradition« zu identifizieren vermögen, denn ein Kulturideal, sei es ein religiöses oder ein anderes, kann seinem Begriff nach nur lebendige Entwicklung a und nicht Verharren des Bestehenden bedeuten; wo aber könnte lebendige religiöse Entwicklung b im Judentum sich eher vollziehen als in der Freiheit eines jüdischen Gemeinwesens in Erez Israel? Ja, es will uns scheinen, daß es dies eigentlich ist, was der Artikelschreiber befürchtet: nicht daß das jüdische »Kulturideal« in Palästina ausgeschaltet werden, sondern daß erst dort der Kampf zwischen ihm und der »Kulturtradition« wahrhaft ausgetragen und in diesem Kampf das Ideal obsiegen könnte – welcher Sieg keineswegs den Untergang, vielmehr gerade die endgültige Auslösung der echten Tradition, freilich zugleich deren Entkrustung involvieren würde. 2 Die Frankfurter Zeitung aber wird doch wohl, wenn sie etwa den Kampf zwischen dem Ideal und der Tradition im Christentum unserer Zeit behandelt, nicht die Sache der Tradition gegen die des Ideals führen. Warum will sie es hier tun? Die Sorge ist unnötig. Denn was ist das für eine »religiöse Kultur« des Judentums, an der die Menschheit so großes Interesse hat, daß sie um ihretwillen das jüdische Volk dauern wissen möchte? Ist es wirklich ein seit Jahrzehnten abgeschlossenes Gut, eine umzäunte Ordnung unabänderlicher Formen und Normen, woran ein menschheitliches Interesse solcher Art besteht? Oder ist das, was am Judentum die Menschheit einzig zu innerst c angeht, nicht vielmehr die s chö p fer i s che Religiosität des Judentums, die nicht erloschen ist und nicht erlöschen kann, ist es nicht seine unerschöpfliche religiöse Po tenz? Nicht als Erbe einer heiligen Vergangenheit, sondern als Bürge einer heiligen Zukunft ist der Jude der Menschheit unersetzlich. Und sollte sich seine Schöpferkraft unter anderen Bedingungen so entfesseln und so zusammenraffen, so läutern und so rüsten können wie in der Freiheit eines jüdischen Gemeinwesens in Erez Israel? Warum ist die Frankfurter Zeitung nur gerade hier nicht für die Grundlage der Frei hei t ? Die Sorge ist unnötig. Die krass opportunistische Außenpolitik eines großen Teils der Orthodoxie in den polnischen Gebieten hat deutlich ge2.

Diese Analyse war angesichts der heute als »Kulturkampf« bezeichneten Konfrontation zwischen säkularen und tradtitionstreuen Orthodoxen in Israel durchaus hellsichtig.

a. b. c.

JB: Entfaltung. JB: Entfaltung. JB: wahrhaft.

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Erster Weltkrieg

nug gezeigt, wie sehr ein Volk oder ein Volksteil, »dessen Reich gleichsam nicht von dieser Welt ist«, allen politischen Einflüssen, sogar so niedrigen, wie sie bei – galizischen Wahlen geübt werden, offenstehen kann. Unser Reich aber ist freilich von dieser Welt: weil wir in dieser Welt, in all ihrer Weltlichkeit, den göttlichen Sinn ausprägen wollen; weil wir in einem Lande dieser Welt, in unserem Lande, das gottbezogene Leben, das ist das Leben wahrer Menschengemeinschaft begründen wollen; weil wir nicht bloß in der Sphäre, die man die religiöse zu nennen pflegt, sondern in allen Einrichtungen unserer Gesellschaft, und auch in ihrem Verhalten zu den Völkern und Staaten der übrigen Menschenwelt, somit in ihrer »inneren« und ihrer »äußeren a Po li ti k «, die göttliche Wahrheit walten lassen wollen – nach unserem besten Können. Und wenn wir dies mit allem Ernst beginnen, dann – freilich auch nur dann – dürfen wir hoffen, daß nicht die Politik dieser Welt auf uns, sondern wir auf sie Einfluß ausüben werden, kraft des jüdischen Kulturideals, das in uns lebt. Darf die Frankfurter Zeitung dieser unserer Hoffnung, die keinem, der um das jüdische Ideal wahrhaft weiß, vermessen erscheinen wird, ihre Sympathie versagen?b

a. b.

In JB ist »›inneren‹ und ihrer ›äußeren‹« ausgelassen. Der letzte Satz fehlt in JB.

MBW 3 (02678) / p. 345 / 27.11.2006

Geleitwort [zum Buch Jiskor] Dieses Buch ist ein Gedenkbuch. Der Spruch, mit dem wir in heiliger Stunde die Namen unserer Toten heraufrufen, Jiskor, »Er gedenke«, steht über ihm. 1 Deren hier gedacht wird, das sind die gefallenen Schomrim, die Wächter und Arbeiter, die in der Verteidigung unserer Siedlungen in Palästina gegen räuberische Überfälle starben. Siedlung – Arbeit – Macht. In diesen drei Worten ist die äußere und die innere Geschichte der im Lande Israel werdenden neuen Menschengemeinschaft beschlossen. Man vergegenwärtige sich, daß es eine neue Menschengemeinschaft ist, die im Lande Israel, mitten unter den dorthin verschlagenen trümmerhaften Resten des alten Judenvolkes, aus dessen Blute werden will. Ein Häuflein Juden haben vor fünfunddreißig Jahren Palästina zu kolonisieren begonnen: um ihr Heimweh nach der Erde, nach der Erde dieses Landes zu stillen; um ihre Gläubigkeit, den Glauben an die Zukunft zu retten und zu bewahren; und um ihr tödliches Grauen vor der Gegenwart, vor dem Elend ihres steuerlosen Lebens zu überwinden. Im Grauen waren sie den russischen Sektierern nahe, die nach Palästina gingen, um sich von dem Reich des Übels abzulösen; in der Gläubigkeit so ihnen wie den deutschen Templern, die hingingen, um das Reich Gottes zu bereiten; im Heimweh waren sie allein, verwandt nur jenen alten Juden, die hingegangen waren, um zu beten und zu sterben – und doch wie unverwandt! Denn nicht nach einem, das vorgefunden werden könnte, sondern nach einem Heim, das sie sich neu erschaffen wollten, ging ihr Weh und ihr Verlangen. In einem aber waren sie allen guten Kräften der Menschheit nahe: in der Sehnsucht nach einem wahren Menschentum. Von der Berührung mit der Heimatserde ersehnten sie die Läuterung, die Verwandlung – das Erwachen eines neuen Menschen im Juden, einer neuen Gemeinschaft im Judentum. An dieser Sehnsucht erwuchs ihrem Grauen die Wagelust, ihrem Heimweh die Entschlossenheit, ihrer Gläubigkeit der bauende Wille. So gingen etliche von ihnen und wieder etliche nach dem Lande Israel. 1.

G. Scholem kommentiert den Titel: »Mit dem Wort ›Jiskor‹ ›Er – nämlich Gott – gedenke‹ beginnen die Gebete bei den Gedenkfeiern für die Verstorbenen in der Synagoge«, G. Scholem, Von Rom nach Jerusalem, S. 100.

MBW 3 (02678) / p. 346 / 27.11.2006

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Erster Weltkrieg

Hunderte folgten ihnen, Tausende. Sie erwarben Boden, pflanzten Weinberge und Orangengärten, und ihr Werk gedieh. Das Werk der Siedlung gedieh. Brache der Jahrtausende wurde urbar, in Dörfern und Farmen entfaltete sich mustergültige Wirtschaft, blühend und fruchtend dehnte sich jüdischer Boden. Das Werk der Siedlung gedieh. Aber die Sehnsucht blieb noch unerfüllt. Das Werk der Wandlung schien nicht anheben zu wollen. Auf der Erde der Verheißung wucherte das alte Leben des Fluchs. Da standen Männer auf, Landarbeiter, Studenten und Dichter, und sprachen die erste der einfachen Wahrheiten aus, die bestimmt sind, dieses halsstarrige Volk zu erlösen: Es genügt nicht, daß der Boden jüdisch wird; er muß auch überall von uns selber bebaut werden – erst dann wird er uns zu eigen. Es genügt nicht, daß man zu dem Lande Israel heimkehrt; man muß auch zu der Bauernseele und zu dem Bauernleben Israels heimkehren. Nicht aus der Berührung mit der Erde, erst aus der Vermählung mit ihr durch die Arbeit vollzieht sich die Wiedergeburt. Die Botschaft der Arbeit wurde verkündet, der Gottesdienst der Arbeit kam über das Land. 2 Etwas von der essäischen Weihe der Erdarbeit ersteht in unseren Tagen aufs neue. Das Werk der Wandlung hat begonnen. Und zur Arbeit trat die Wacht, die Verteidigung des Werkes gegen die Angriffe der Raubgierigen. Die jüdischen Schomrim in Erez Israel kämpfen einen reinen Kampf. Sie stehen wahrhaft auf der Wacht, sinnen wahrhaft auf nichts als auf den Schutz des Geschaffenen. Keine bestehende Macht zwingt oder trügt sie in ihren Dienst. Sie dienen dem Kommenden. Einigen Wächtern und Arbeitern, von deren Leben und Sterben dieses Gedenkbuch erzählt, kommt – so geringe und bescheidene Menschen sie im übrigen auf Erden waren – der mißbrauchte Name Helden in Wahrheit zu. 3 Aus sich selber, nicht getrieben und nicht gezogen, nicht mitgenommen und nicht mitgerissen, von keiner irdischen Macht befehligt und von keiner benützt, aus der Einsamkeit ihres Lebens, wissend und gefaßt, entschlossen sie sich zu ihrer Sache, traten, das Tor der Welt hinter sich zuschlagend, in sie ein, und in ihr stehend wagten, taten, erlitten sie das Äußerste. Ich nenne sie Helden. 2. 3.

Hier erweist sich Buber als Schüler Aharon David Gordons (1856-1922), vgl. dazu M. Friedmann, Martin Buber’s Life, S. 262–267. Vgl. dazu den Text »Ein Heldenbuch«, in diesem Band, S. 324-326.

MBW 3 (02678) / p. 347 / 27.11.2006

Geleitwort [zum Buch Jiskor]

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Ich nenne sie jü d i s che Helden: weil sie die stolze Sache, der Europa und Amerika um Lohn dienen, die Gewaltsache der Scheinkultur, die alle Güter zu vergeben hat, verschmähten und sich der dürftigen, preisgegebenen, schier aussichtslosen Sache des werdenden Geistes, die auf der Flucht ist, zuwandten, sich zu ihr als zu der ihren entschlossen und sich in ihrem Dienst bis ans Letzte bewährten, mit allen Kräften des Leibes kämpfend und doch jenseits des Gewaltreiches. Auch dies, auch dieser Schutz des Werdenden, des Auferstehenden gegen die Horden der Gewalt ist Krieg, wenn ihr es so nennen wollt; aber ein and erer, einer von urwesenhaft anderer Art. Lauschet in die hohe Stille über den galiläischen und judäischen Gräbern: so werdet ihr den Hall der Schofaroth anheben hören, vor denen Jericho fiel. 4

4.

Die beiden letzten Absätze sind fast wortgleich mit denen aus »Ein Heldenbuch«; vgl. in diesem Bands. S. 326.

MBW 3 (02678) / p. 348 / 27.11.2006

Wandlung (Aus einer Rede) In den messianischen Träumen und Ausbrüchen des Galut waren stets Volkliches und Menschliches, Befreiungsverlangen und Erlösungssehnsucht, das Begehren nach dem eignen Lande und das Begehren nach der wahren Gemeinschaft verschmolzen; sie verhießen dem Juden in Israel und dem Menschen in Israel gleicherweise Erfüllung; sie waren die Zuflucht des urjüdischen Seelenerbes: der Verwirklichungstendenz, das ist des Strebens, den Geist zu Leibe, das Ethos zu Leben und die Wahrheit zu Wirklichkeit zu machen. Als der moderne Zionismus den Willen zu Palästina zum Mittelpunkt einer politischen Unternehmung macht, faßte er diesen Willen vorwiegend volklich; er wollte im wesentlichen eine nationale Bewegung sein, wie es deren im Abendland hinlänglich viele gibt, nur eben mit einer besonderen kolonisatorischen Absicht ausgestattet. Wohl zeichneten seine Führer das Bild einer »besseren Gemeinschaft« und begünstigten moderne Siedlungsideen, aber das unverkennbar tiefere Pathos, die unverkennbar stärkere Farbe traten zutage, wenn es galt, die Grundlinien einer nationalen Renaissance, einer neuen Nationalkultur aufzuzeigen: hier war unanzweifelbar der geistige Schwerpunkt der Bewegung. Aber niemals ist eine echte Renaissance aus rein nationalen Tendenzen hervorgegangen; ihr Ziel bildeten niemals spezifische Formen; vielmehr lag ihr stets die leidenschaftliche Erfassung erneuter menschlicher Inhalte, lag ihr ein »Humanismus« zugrunde, und zu besonderen Formen gedieh sie, weil die Wucht der Inhalte die hergebrachten Formen sprengte. Die nationalen Sprachkulturen Europas entstanden, weil ei ne neu e g ei s t i ge Welt zu freiem Ausdruck drängte. Nicht der Hebraismus, sondern der hebräi s ch e Hu mani s mu s – das Wort in seinem großen historischen Sinn gefaßt – muß der Kern einer jüdischen Regenerationsbewegung sein. Das bedeutet: es gilt die leidenschaftliche Erfassung und Erneuerung der großen menschlichen Inhalte des Judentums; noch präziser: es gilt seinen größten, selbständigsten Inhalt, seine Verwirklichungstendenz zu erfassen und neu zu leben – dann erst wird sich die große nationale Form wahrhaft ausbilden können. Kultur ist nicht die Produktivität, die sich in einem Volk vollzieht, nicht die Summe der Werke, die in ihm hervorgebracht werden: da allein ist Kultur, wo gemei nsa mes Wer k aus gemei nsa mem Gei st u nd Leben quillt. So zeigt denn die Tatsache, daß die jüdische Verwirklichungstendenz sich anschickt, sich des Zionismus zu bemächtigen, nicht eine Schwächung, sondern eine Stärkung seines nationalen Charakters an; sie zeigt

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Wandlung

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an, daß die nationale Idee in ihm Su bs t anz gewinnt – daß er aus einer nationalen Bewegung eine nationale Wirklichkeit zu werden anfängt. Erst wenn in neuer Gestalt Volkliches und Menschliches, Befreiungsverlangen und Erlösungssehnsucht, das Begehren nach dem eignen Land und das Begehren nach der wahren Gemeinschaft verschmelzen, wird sich die Regeneration des jüdischen Volkes vollziehen.

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MBW 3 (02678) / p. 351 / 27.11.2006

Palästina

Die Entdeckung von Palaestina Wie viele Juden haben Palästina in der Seele? Wohlgemerkt: nicht »die Heimstätte«, 1 sondern Palästina; und nicht im Geiste, sondern in der Seele. Oder noch deutlicher: wie viele Juden s ehen Palästina? Wer hat die Augen voll des Landes, dass sie durch alle Wirklichkeit hindurchschauen, als wäre sie nicht da, und an dem Lande hangen? Wer ist von dem Traumbilde gebannt, dass es ihn umgibt, wohin er auch gehen mag? Dass es selbst ihm die Wirklichkeit wird, die wahre, eigene, unvergängliche? Manche sehen, aber ist es auch unser Land, das sie sehen? All dies Märchenherrliche, Farbenfunkelnde, all der selige Besitz, den sie träumen, ist das unser Land? Unser Land in doppeltem Sinne: unser Land, wie es ist, und unser Land, wie es unserer Stimmung entspricht? Denn es ist mit Recht gesagt worden, dass die Landschaft ein Seelenzustand ist. Und im letzten Grunde kommt es nur auf dieses an. Denn: »wie es ist?« Ja, wie ist denn irgend ein Ding? Wie wir es sehen, darin allein ist es uns eine Wirklichkeit. Unsere Frage, ob uns unser Land eine Wirklichkeit ist, bedeutet, ob wir es wirklich sehen, und dies wieder, ob wir es aus unserer Stimmung heraus sehen. Theodor Herzl hat einmal, vor elf Jahren, in einer vergessenen kleinen, aphoristischen Studie die Stimmung als das mächtigste Element des Lebens verkündet. Er hätte hinzufügen können: für die Juden. Wir leben ganz in Stimmung. Manche von uns leben freilich mehr in Stimmungen als in Stimmung, aber das Dasein aller Juden, die es in Bewusstsein und Tat wirklich sind, wird von der starken Welle Einer grossen Stimmung getragen. Und daher noch einmal: sehen wir Palästina aus unserer Einen grossen Stimmung heraus? Wenn diese Frage verneint wird – und sie muss verneint werden –, ist es uns, als seien wir ärmer geworden. Aber es gibt einen Weg über dieses Gefühl hinaus. 1.

D. i. die Wortwahl des Baseler Programms.

MBW 3 (02678) / p. 352 / 27.11.2006

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Palästina

Ein Freund sagte mir einmal: »Wir müssen Palästina entdecken.« Das ist es: Palästina muss für unser Auge, für das Auge unserer Seele und für unsere Stimmung entdeckt werden. Man sollte hinfahren, nicht bloss »um Land und Leute kennen zu lernen«, sondern um ein ei genes Palästina in die Seele zu bekommen. Das können freilich nur wenige. Jener Freund wollte daher nach Palästina gehen, um es in sich aufzunehmen und zu seiner Vision werden zu lassen und um es dann anderen durch das Wort mitzuteilen und zu ihrer Vision werden zu lassen. Es ist bisher nicht geschehen; der Stimmung hatte er genug; ich vermag nicht zu sagen, ob er auch der Gewalt genug hatte, seine Stimmung zum Bilde zu formen, – zu einem Bilde, das alle ergreifen und bannen würde. Zu einem Bilde. Es gibt noch einen geraderen, unmittelbareren Weg der Suggestion als das Wort. Dieser Weg ist das Bild im engeren Sinne: das Gemälde, die Zeichnung, die Radierung. Die Maler haben bisher Palästina in der sogenannten orientalischen Manier gemalt, mit glühendem Farbenreichtum und unsäglicher Stimmungsarmut. Wir warten noch auf den Künstler, der uns ein jüdisch gesehenes Palästina geben wird. Und doch – ein Stück davon, einen Versuch, einen ersten Schritt hat uns die jüngste Zeit bescheert. Ich meine die Radierungen und Zeichnungen Hermann Strucks, die Adolf Friedemanns Buch »Reisebilder aus Palästina« (Verlag von Bruno Cassirer, Berlin 1904) begleiten. Ueber den Text zu sprechen, der instruktiv und gut geschrieben, von konkreter Sachlichkeit erfüllt und von einer starken Gesinnung getragen ist, ist hier nicht der Ort. Ueber Strucks Blätter möchte ich aber ein paar Worte sagen. Wir kannten Hermann Strucks Werke. Vor allem seine Judenköpfe, malerisch und charakteristisch zugleich gesehen, grosszügig und unaufdringlich gegeben, ohne heftige Rassenzüge, sozusagen nicht unterstrichen, aber dennoch oder gerade darum unaussprechlich jüdisch wirkend, stilles jüdisches Leben im innersten Wesen offenbarend und zur Seele des Volkes führend. Und nun seine Palästina-Landschaften. Sie bringen uns zum erstenmal das wahre Land unseres Gefühls: ganz und gar weite sehnsuchtsvolle Stimmung. Die Technik spricht hier wohl auch mit, aber das Entscheidende ist eine echt jüdische Art zu sehen. Struck gibt uns in Wahrheit jüdische Erde, durch das Medium eines jüdischen Temperamentes gesehen. Man sehe sich diese seine Werke an, Blatt für Blatt. Da ist die einsame Palme bei Jaffa, still emporstrebend in heisser, verschwimmender Landschaft, klar und fest vor wolkenlosem Himmel. Da ist der Brunnen bei Jaffa, düster unter düsteren Zypressen.

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Die Entdeckung von Palaestina 2

Da ist das legendäre Grabmal des Absalom seltsam und phantastisch. Da ist Rahels Grab, 3 starr in Vorbau und Kuppel, eine versteinerte Klage. Da ist auch das junge Blühen der Kolonien. Welch eine warme aufsteigende Kraft ist darin! Da ist die Palmenallee in Rischon le Zion, 4 da ist Ekron 5 und da Wad el Chanin,6 da sind ein paar Häuser aus Petach Tikwa, 7 ausdrucksvoll wie lebendige Wesen, und da ist, nur angedeutet, Sedjerah. 8 So blättern wir in dem Buche und werden reicher an dieser neuen Art, unser Land zu sehen. Aber ei ne Radierung Strucks ist nicht in dem Buche: Jerusalem. Ich habe sie in seinem Atelier gesehen. Sie wirkt mit der Kraft eines Symbols. Ein weites Plateau mit zartem verschleiertem Ausblick auf die Stadt, nichts weiter. Aber wie scheu und heilig ist das gegeben! Es ist nicht Deutung, sondern unmittelbares Gefühl: das ist ein Jerusalem, das wartet. Dieses ist der Ort, unser Land zu schauen.

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Es befindet sich im Kidrontal in Jerusalem, östlich des Tempelbergs. Das Grab befindet sich bei Bethlehem – an einer Hauptstraße, die nach Jerusalem führt. Südöstlich von Tel Aviv gelegener, 1882 von russischen Pionieren gegründeter Ort, dessen hebräischer Name »Erster in Zion« bedeutet. Südöstlich von Rechovot gelegene Siedlung, 1883 gegründet und im Andenken an Edmond Rothschilds Mutter hebr. Mazkeret Batyah (Gedenken Batyahs) genannt. Wadi Hanin, arabischer Name der 1883 gegründeten Siedlung Nes Ziyyona, nordwestlich von Rechovot. Wenige Kilometer östlich von Tel Aviv gelegene, Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Stadt, deren hebräischer Name »Tor der Hoffnung« bedeutet. Sedjerah, arabischer Name der 1899 gegründeten Trainingsfarm Ilaniyya im Unteren Galiläa.

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Das Land der Juden Aus einer Rede (1910) Die Erneuerung des Judentums, die im Galuth anheben muß, wird sich im Galuth nicht vollenden können. Aber auch die Wiedergewinnung des Zusammenhangs mit dem Boden, mit dem natürlichen, vom Rhythmus der Jahreszeiten geregelten Leben wird diese Vollendung nicht bewirken können. Sie kann nur von einem ganz bestimmten Boden ausgehen: von dem Boden der Heimat. Er hat unsere besondere Art, unsere eigentümlichen Energien, unsere Personalität erzeugt; er allein wird sie erneuern, wird sie neuzeugen können. Die schöpferische Größe unserer Urzeit ist einst aus diesem Boden erwacht; seine Säfte haben sie genährt, sie wuchs im Schatten seiner Berge, und wenn sie ermattete, legte sie sich an sein Herz und wurde wieder stark. Es war nicht »der« Boden; es war d i es er bestimmte Boden mit seinen Höhen und Niederungen, mit seinen stehenden und fließenden Gewässern, mit den Lagerungen der Salze in seinem Innern, mit seinem Tau und Regen, mit seinem Pflanztum und seinem Getier, mit seinem ihm eigentümlichen Wolken- und Sternenhimmel. Diese Kräfte unseres Landes waren es, die diese Kräfte unserer Seele schufen; zu wem sonst auf Erden könnten wir gehen, um unsere Seele zu verjüngen? Ein Kind, das ein Schrecken geängstigt hat, kann nur von der Mutter wahrhaft beruhigt werden; uns haben tausendmal tausend Schrecken das innerste Leben verstört. Eine Statue, die zerbrach, können unzählige Pfuscher zu rech t m ach en; sie wieder g anz machen kann nur einer: der Künstler, der sie schuf. Wir sind eine Statue, die zerbrach. Wir sind siech geworden, aber unser Land ist gesund geblieben; wir sind lahm geworden, aber unser Land ist mächtig geblieben; wir irren umher, – unser Land aber breitet sich dort drüben und wartet, wartet noch immer: auf uns. Als die Italiener der frühen Renaissance ihr Volkstum erneuern wollten, knüpften sie an die große Urzeit ihrer Rasse an: an die Kultur dieser Urzeit, an ihre Werke und Werte, an ihre Denk- und Lebensformen; daraus kam ihnen die Wiedergeburt ihres Volkstums und ihres Menschentums. Auch wir müssen an die große Urzeit unserer Rasse anknüpfen; auch wir müssen über die Jahrhunderte, über die Jahrtausende hinweg die Hände der Urväter ergreifen. Aber uns liegt Schwereres, Tieferes ob als jenen. Sie wollten ihr Leben größer, reicher, schöner machen; wir wollen wieder zu einem Leben kommen. Sie wollten stärker werden; wir wollen von unseren Wunden genesen. Sie wollten freier werden; wir wollen uns aus dem Bann der Fremde befreien. Darum genügt es für uns nicht,

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Das Land der Juden

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an die Kultur unserer Urzeit, an ihre Werke und Werte, an ihre Denk- und Lebensformen anzuknüpfen; wir müssen zu den Müttern hinabsteigen, 1 wir müssen hinabsteigen zu den Gewalten, die all das, Werke und Werte und Formen, geboren haben. Wir müssen zu unserem Lande gehen, daß es uns segne; daß es sich segne. Machen wir das Schwere nicht leicht und das Große nicht klein, daß es uns nicht verwerfe! Vermeinen wir nicht, es sei genug, aus dem äußeren Galuth hinauszukommen! Was uns mehr als alles nottut, ist dies, daß wir uns von dem inneren Galuth reinigen: daß wir von uns abtun all den Staub und Schmutz der Wanderschaft, all das Trübe und Grelle, all das Krumme und Formlose, all das Lüsterne und Unheilige, das die Geschlechter der Verzweiflung in unsere Seele geworfen haben. Diese innere Befreiung vom Galuth aber, muß sie auch, damit die Erneuerung anhebe, von dem Einzelnen mit aller Kraft für sich angestrebt werden, für das Volk muß sie hier Stückwerk bleiben: für das Volk kann sie nur an ei nem Orte der Erde gelingen, an dem Orte, wo einst das, was dann getrübt und verbogen und entheiligt wurde, in Reinheit und Geradheit und Weihe entstanden ist. Dort erst können wir wahrhaft zu uns selbst kommen. Hier sind wir ein Keil, den Asien in Europas Gefüge trieb, ein Ding der Gärung und der Ruhestörung. Kehren wir in Asiens Schoß, in die große Völkerwiege, die auch die große Götterwiege war, zurück und wir kehren zum Sinn unseres Daseins zurück: dem Göttlichen zu dienen, das Göttliche zu erleben, im Göttlichen zu sein.

1.

G. Schmidt verweist auf den Ursprung dieser Metapher in Goethes Faust II, Akt 1. (Siehe in diesem Band »Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung«, S. 167, Anm. 2.)

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Der Augenblick Wir durchleben gegenwärtig den wichtigsten, den fruchtbarsten Augenblick der modernen jüdischen Bewegung. Nicht als wir einst, glühend vor unbändigem Verlangen, uns zu bekennen, in die träge Welt hinausriefen, daß wir sind; nicht als wir später traumselig dem Wunder einer Befreiung zwischen Abend und Morgen entgegenharrten und den Schritt der Weltgeschichte vor unseren Fenstern zu hören wähnten; und nicht als wir, gereift und gesichert in unserer Anschauung, uns klaren Blickes und gefaßten Herzens über die Aufgaben von Generationen besprachen und den Grundriß der Arbeit entwarfen; sondern jetzt ist der mächtigste Augenblick – jetzt, da nicht von uns an das Leben, da von dem Leben an uns die Forderung ergeht. Die Forderung, der standzuhalten wir alle Kraft der Auflehnung und des Opfers aus unseren Seelen holen und hingeben müssen. Wie groß ist die Gewalt und Herrlichkeit des Augenblicks! Gestern noch gingen wir in lässigem Schritt, gestern noch beschieden wir unser Gewissen: »Die Zeit ist nicht reif«, »nur keine Willkür – nur nicht das Tempo überstürzen«, »ein wenig hier, ein wenig dort, und es wird geraten« – da wird von ungetreuer, von läppisch ungetreuer Hand das lebendige Werk gefährdet, Zweckdienst und Selbstsucht bedrohen das heilige Herz, und aufgestört aus unserer Ruhe, emporgerüttelt aus unserer Überlegenheit stehen wir vor dem heischenden Augenblick, alle weisen Regeln entstürzen unseren Händen, und siehe, die Zeit ist reif geworden, weil wir nunmehr nicht länger auf ihr Reifen warten dürfen. Eben noch versicherten wir »Wir haben noch nicht die Kraft« – nun fordert sie der Augenblick von uns, und wir haben sie, weil wir sie haben sollen. Man mag es bedauern, daß uns die Pflicht, das palästinensische Erziehungswerk unverzüglich in unsere Hände zu nehmen, nicht von unserem Plan und dem Gang unserer Unternehmungen, sondern von einem unvorhergesehenen, vielleicht unvorhersehbaren Verhalten der – anderen diktiert worden ist. Aber unendlich stärker ist das Gefühl in uns, daß eben dies der Weg des Lebens ist. Unser Denken steckt die Wegzeichen ab, mißt die Entfernungen, berechnet die Mittel; aber dann kommt wie ein Sturmwind der Augenblick, überrennt unsere Maße und unsere Aufstellungen, zwingt uns größer zu bauen, weitsichtiger zu rechnen; und wir sind nicht entmutigt, nein, angefeuert und beglückt: weil er unser Aeußerstes von uns fordert. Diese Forderung hat ein doppeltes Angesicht: sie meint Verbundenheit und Kampf. Daß wir mit der Verbundenheit und mit dem Kampfe Ernst

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machen. Daß wir in der Verbundenheit und im Kampf unser Aeußerstes hergeben; an tätiger Liebe und an Angriffsmut. Uns ist vielfältiger Kampf auferlegt, uns ist vielfältige Verbundenheit gewährt; aber wir wissen, daß es für uns über allem Streiten einen großen Krieg und über allen Gemeinsamkeiten einen großen Bund gibt: den Krieg gegen das Geschlecht des Scheins und der Geschicklichkeit, das sich die Herrschaft anmaßt; den Bund mit dem Geschlecht der Echtheit und der Entscheidung, das sich ein freies, unmittelbares und vollständiges Menschenleben aus der Erde des alten Landes ergräbt. Beiden, diesem Bund und diesem Kampf, bringt der Augenblick, in dem wir stehen, die Weihe der Kraft. Man hat uns von »alljüdischer« Seite vorgeworfen, daß wir uns um den palästinensischen Jischub mehr kümmern als um die »Positionen des Golus«. Ja, das ist so: man mag seine Geschwister noch so sehr lieben, es gibt eine Sorge, die unvergleichlich ist – die Sorge um sein Kind; und der Jischub ist unser Kind. Aber ich meine, daß wir uns um ihn nicht zu viel, sondern zu wenig kümmern. Nichts fördert einen Menschen so stark wie ein Kind haben und das Rechte für es tun. Unser Werk trägt uns empor. Aber wir stehen noch zum jungen Jischub nicht lebendig so, wie man zu seinem Kind, zu seinem Werk stehen soll. Wir sind mit ihm noch nicht wahrhaft verbunden. Wir wissen noch zu wenig von seinem Leben und wir tun noch zu wenig für sein Leben. Dieser Augenblick bedeutet Größeres als irgend ein früherer für die Herstellung einer wahrhaften Verbundenheit zwischen uns und dem Jischub. Wir haben ihn oftmals angeregt, beraten, unterstützt. Aber wir haben uns nie so völlig mit seiner Sache identifiziert, wie wir es jetzt tun müssen und tun wollen. Wir müssen und wollen zu ihnen, die unser Kind sind (wie wunderlich, daß ich an sie, unter denen viele viel älter sind als ich, wie an lauter junge Leute denke), sprechen: »Nicht mi t euch leiden wir, wir leiden euer Leid. Eure Wunde ist unsere Wunde und eure Empörung unsere Empörung. Ihr braucht uns euren Willen nicht mitzuteilen; er ist zur selben Stunde in uns erwacht. Ihr braucht unsere Hilfe nicht anzurufen; die Fülle unserer Kraft ist euer. Denkt nicht, daß wir fern seien: fühlt doch, unsere Hand ruht in eurer, und wenn ihr lauschet, werdet ihr mitten in diesem Getümmel eurem Herzen den gleichen Schlag des unsern antworten hören. Nein, nicht helfen wollen wir euch, wir wollen, ob auch noch durch Raum und Schicksal gesondert, gemeinsam mit euch leben, gemeinsam mit euch streiten und bauen.« Das heißt mit der Verbundenheit Ernst machen. Und der Kampf? Aller rechtschaffene Kampf ist ein köstliches Ding und eine Erhebung

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der Seele; wie erst der des Ganzen, der gegen die Halben streitet! Solcher Art ist der unsere. Es ist ein Kampf nicht zwischen Parteien und nicht zwischen Meinungen; es ist der uralte Kampf zwischen zweierlei Menschen. Die einen streben danach, sich zu erfüllen, die anderen danach, sich durchzusetzen. Die einen wollen aus ihrer Wahrheit eine Wirklichkeit schaffen, die anderen aus ihrer Wirklichkeit eine Wahrheit zurechtmachen. Die einen sind eines Zieles gewiß, die anderen in viele Zwecke verstrickt. Wir – ich wage es, von den Juden, die zu den ersten gehören, »wir« zu sagen – wir meinten den oder jenen unserm Lager oder doch dessen äußerem Ring zuzählen zu sollen, der sich nun mit Haut und Haaren den andern verschrieben hat. Was ficht uns das an? Es ist nicht an uns, über die reine Scheidung zu trauern, die das Halbe und Brüchige aus unserer Nähe bannt. Mit dem in sich Unsicheren frommt kein Pakt; alles Bündnis mit Schwankenden schwächt. Und daß die Schar unserer Gegner gewachsen ist – nun denn, um so größere Kraft müssen wir aufbieten, um so mehr ruhende Energie in wirkende umsetzen; unser tätiges Wesen wächst mit der gegnerischen Schar, und wir danken dem Augenblick, der uns also vollendet. Aber wahrhafte Größe gewinnt der Kampf erst, wenn er schöpferisch wird: wenn Werke und Werte seine Waffen sind. Das ist das Stadium, in das wir in diesem Augenblick treten. Lange genug konnten wir gegen die Rede der andern nur unsere Widerrede schleudern; freilich war auch unsere Arbeit eine Antwort, aber die brauchte niemand zu hören, der sie nicht hören wollte, weil sie wohl Antwort, aber nicht Waffe war. Nun aber ist es anders geworden. Jene vermaßen sich, auf unserm Boden, in dem Bezirke unseres Werkes die schillernden Fahnen ihrer Anpassungen aufzupflanzen. Da genügt nicht Wort, nicht abseitige Weiterarbeit; es gilt, die Fahnen auszureißen und unsre alleinherrschend zu entfalten. Das ist nicht mehr Protest und Gegenprotest, Proklamation und Gegenproklamation, das sind nicht mehr Herausforderungen, die aus den Heeren hinüber und herüber schallen: das ist Nahkampf, das ist Handgemenge, das ist der entscheidende Augenblick, Position gegen Position! Gegen falsche Werke und Werte echte Werke und Werte! Das heißt mit dem Kampf Ernst machen. Und denen von unseren Freunden, die uns mahnen, unserer programmatischen Hauptaufgabe, der Politik, eingedenk zu sein und unsere Kräfte nicht von ihr abzulenken, denen sei fürs erste gesagt, daß Erziehung der Anfang aller Volkspolitik ist. Und weiter, daß es in aller Welt nur ei ne gute Politik gibt: die auf uns elementar eindringende Frage des Augenblicks jeweilig alsogleich mit der ganzen, fertigen, geschlossenen Tat zu beantworten, »wie der Ballspieler den Ball, sich mit gerafften Gliedern

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entgegenwerfend, auffängt«. Wie das, fragt ihr: ohne zu überlegen? Ja, ohne zu überlegen; aber nicht ohne überlegt zu haben. Das ist die rechte Besonnenheit, die sich nicht mehr zu besinnen braucht, weil Wissen, Erfahrung, Uebung noch in ihrem Reflex lebendig sind. Das ist die rechte Politik, die kein Bedenken kennt, weil sie sich längst darauf bedacht hat, dem Augenblick gewachsen zu sein. Und das ist das rechte Judentum, in dem nicht, wenn es zu tun gilt, das Denken zu spielen beginnt, sondern in dem der Geist Wille und die Erkenntnis Instinkt geworden ist.

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Die Eroberung Palästinas Als man mir sagte, die Engländer hätten Judäa erobert, 1 habe ich es nicht geglaubt. Ich bin gesonnen, es nicht zu glauben. Wenn ich in der Zeit gelebt hätte, da die Türken Palästina einnahmen, würde ich der Kunde, sie hätten es erobert, ebenso geringen Glauben geschenkt haben. Dieses Land vermag mit der Waffe wohl eingenommen, aber nicht erobert – besetzt, aber nicht besessen zu werden. »Erobern« – wenn das Wort einen rechtmäßigen Sinn hat, so ist es dieser: ein Wesen oder ein Ding so zuinnerst bewältigen, daß es einem wahrhaft und vollkommen zu eigen wird und fürderhin keines andern sein kann. Somit kann eine kriegerische Handlung bestenfalls der Anfang einer Eroberung sein. Liebeswirkung muß vollenden, was Gewaltwirkung begann, fruchtbare Tat muß zur Gestalt meißeln, was räuberische Tat aus dem Gestein hieb. Sonst ist die kriegerische Handlung vertan, starr und lastend liegt das Eingenommene in den Armen des Zwingherrn, nie wird er es besitzen. Und dieses Land der Länder – wer, der von seinem Geheimnis weiß, wüßte es nicht unwiderlegbar, daß der Engländer in all seiner Freiheit und Kraft es ebensowenig zu erwecken vermag wie es der Türke vermochte? Daß keiner das vermag als der eine, der einst ihm den Gürtel löste und es in Liebe gewann – der einst aus dem Monolith dieses Landes die Wohnung des Unsichtbaren erbaute? Er verlor es – als er es nicht mehr zuinnerst zu halten verstand; aber er hat es nicht für ewig verloren, da es immer noch seiner und keines andern harrt: weil es nur von ihm zum Leben aufgerufen und zur Gestalt gebildet werden kann. Seiner und keines andern. Aber eben nicht, daß er es an seine Brust ziehe und sage: Mein bist du! – sondern daß er sich ihm ergebe mit aller Kraft Leibes und der Seele, allem Werk Leibes und der Seele, um es zur wahren Wohnung des Unsichtbaren zu vollenden. Er aber, der Jude, ist er nicht indes durch Niedrigkeit und Verworfenheit gegangen? Hat er nicht in der Hölle des Unrats als gelehriger Lehrling gestanden und gelernt, daß man die Güter der Erde verkaufen und kaufen könne? Verkaufen und kaufen auch dieses Land der Länder, sein Land?!

1.

Jerusalem wurde Anfang Dezember 1917 von General Allenby eingenommen.

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Die Eroberung Palästinas

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Eroberung durch die Waffe: ein kühner Wahn. Aber Eroberung durch das Geld: ein elender Trug. Und sind sie diesem Trug nicht verfallen, die Juden, die hingingen und Erde Kanaans kauften und sie durch Fremde bebauen ließen, selber aber großtaten und sich Besitzende dünkten, da sie nur Ausnützende waren? Wohl, ihnen stehen die anderen gegenüber, die Echten, die Redlichen, die Entschlossenen, die wußten und betätigten, daß man für diese Erde in Wahrheit mit keiner anderen Münze zahlen kann als mit lebenslanger Arbeit unter Einsatz der ganzen Person. Die Jungen, die Pioniere, die in Wahrheit die Eroberung Palästinas begonnen haben. Aber wie wird es sein, wenn uns Breiteres zu wagen gewährt wird? Wie gar, wenn die »Möglichkeiten« des Landes entdeckt werden? Wenn allerlei Leute von jenen, die nur nach »Unternehmen« wittern, sich herbeilassen werden, aus dem ganzen Lande ein großes Unternehmen nach dem Muster der erfolgreichsten europäischen und amerikanischen zu machen? Sie, die unfähig sind, die wahre Eroberung zu kennen und zu wollen, denen es genug ist an der Einnahme, der Einnahme durch das Geld, sie, die dem Haben gern alles Sein und Werden (diese Ideologien!) zum Opfer bringen? Wenn sie über das Land geraten – wie wollen wir diesem heillosen Segen begegnen: dieser sonderlichen Heuschreckenschar, die überall, wo sie sich niederläßt, »Werte« und nichts als Werte erzeugt? Wie wollen wir der drohenden Tyrannei der sinnlosen, seelenlosen, leblosen Werte, die das Abendland (und vom Morgenland alles, was mitzumachen gelernt hat) dahin gebracht hat, wo es heute ist, dort, in Zion begegnen? Nicht anders, als indem wir die Diktatur des schöpferischen Geistes aufrichten. Die Diktatur des schöpferischen Geistes, dem sich alle Macht und Herrlichkeit der »privaten Initiative« zu beugen, dem sie zu gehorchen hat. Des schöpferischen Geistes, der all der selbstsicheren Triebkraft des »wirtschaftlichen Aufschwungs« seine Gesetze diktieren wird. Deren erstes heißt: Gemeinschaft; dessen Niederschrift hat begonnen in der Grundsatzung des Jüdischen Nationalfonds, dem monumentum aere perennius 2 der zionistischen Bewegung. Und deren zweites heißt: Arbeit; dessen Niederschrift hat noch nicht begonnen, es sei denn, man rechne dafür einige Proteste und einige Grabsteine da drüben. (Die anderen Gesetze sind heute noch namenlos.)

2.

Lat., ein Monument beständiger als Bronze (Horaz, c III 30, 1. Zeile). Mit dieser Formel beglückwünschte auch Herzl Max Nordau nach dessen denkwürdiger Rede auf dem Ersten Zionistenkongreß, vgl. Th. Herzl, BuT, Bd. 2, S. 540.

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Palästina

Ar bei t ; das ist nicht Betriebsamkeit. Das ist Werk Leibes und der Seele, Einsatz der ganzen Person. Das ist Liebeswirkung, fruchtbare Tat, Eroberung. In alten starken Zeiten raubte man sich die Braut. In späteren, schwächeren, kaufte man sie. Aber, noch einmal sei es gesagt, ob man sie raubt oder kauft oder sonst irgendwie bekommt, dieses Haben lügt; die wahre Werbung, Erwerbung muß erst danach beginnen. Als Räuber, als Käufer wird der Jude jenen andern, die das Land einnahmen und nicht eroberten, besetzten und nicht besaßen, nicht überlegen sein; nur als Arbeiter am Land wird er kraft seines Zusammenhangs mit ihm, kraft seiner Liebe zu ihm, kraft seiner Sehnsucht nach ihm vermögen, was ihnen versagt blieb und versagt bleiben muß: es zu erobern, indem er es erlöst. Diese dem Juden allein innewohnende Fähigkeit, das Land Israel zu erlösen, begründet die Forderung, die wir allen fremden Besitzrechten und Besitzansprüchen gegenüber erheben. Nicht den »historischen Rechtsanspruch«, diesen durch alle Gossen des Imperialismus und Chauvinismus geschleiften Mißbegriff, machen wir geltend, sondern den aus dem höchsten Menschenrecht fließenden, den Anspruch der Produktivität. Wir sind die, die aus diesem Land sein Höchstes zu schaffen vermögen, wir allein: uns gehört es. Aber um so ungeheures Vertrauen heischen zu dürfen, müssen wir mit kämpferischem, rücksichtslosem Ernst die Forderung an uns selber stellen: den hindernden Ungeist des Merkantilismus zu besiegen und jenes Sein, das wir zu schaffen vermögen, nunmehr zu schaffen. Schöpferischem Geist, schöpferischer Arbeit, schöpferischem Opfer gilt die Forderung.

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Eine Jüdische Hochschule Die nachstehende Schrift hat den Zweck, die Aufmerksamkeit auf ein ebenso grossangelegtes als eigenartiges Projekt zu lenken. Es handelt sich um die Errichtung einer JÜDISCHEN HOCHSCHULE Der Gegenstand ist so bedeutsam und merkwürdig, dass er eine ausführlichere Erklärung und Begründung erheischt, die wir im Nachfolgenden in scharfen Umrissen geben wollen.

Einleitung Der Plan der Begründung einer jüdischen Hochschule ist nicht einer willkürlichen Kombination entsprungen. Er entstand unter dem Zwange betrübender, ja unleidlicher Verhältnisse, deren verderbliche Wirkung zu beseitigen nach unserem Ermessen mit zu den Lebensnotwendigkeiten des jüdischen Volkes gehört. So zwingend aber auch die Umstände sind, man hätte an das Projekt einer Jüdischen Hochschule nicht wagen dürfen zu denken, wenn nicht der in den letzten Jahren wunderbar erstarkte jüdische Geist eine Fülle materieller und moralischer Kräfte geweckt und neue Perspektiven einer verheissungsreichen Entwicklung des jüdischen Volkes erschlossen hätte. Die negativen Elemente, aus denen sich unser Plan herleitet, sind leider nicht bekannt genug, so traurig und verhängnisvoll sie auch sind. Man weiss allerdings beiläufig, wie hart die Entrechtungen sind, unter denen die Juden Russlands, Rumäniens und anderer Länder, jedenfalls bei weitem die Mehrheit unseres Volkes, leiden müssen. Zu den Sonderrechten aber, die die Juden am empfindlichsten treffen, gehört zweifellos d i e vo n S t a at s weg en ang eo rd nete Bes chrä nku ng d er gei st i gen Au s bi ld u ng , deren Juden teilhaftig werden dürfen. Diese Beschränkungen werden um so strenger, je hö h er die Lehranstalten sind, um die es sich handelt.

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Die Beschränkungen In Russland. a) Mittelschulen.

In Russland, wo etwa 6 1/2 Millionen Juden wohnen, existiert schon für die Gymnasien die gesetzliche Bestimmung, dass nur 10 pCt. Juden Aufnahme finden. Da aber diese Bestimmung mit der andern verknüpft ist, dass jüdische Zöglinge sich mit einem Zeugnis über das Aufenthaltsrecht im Orte der Lehranstalt ausweisen müssen, so verringert sich infolge der weiteren Thatsache, dass die Juden Wohnrecht fast nur im sog. Ansiedlungsrayon besitzen, die Zahl der in Betracht kommenden Lehranstalten und somit der Aufnahmsfähigen um ein Beträchtliches. Im jüdischen Ansiedlungsrayon aber entsteht eine weitere Komplikation dadurch, dass jüdische Schüler nur nach dem angedeuteten Maximalprozentsatz im Verhältnisse zur Zahl der christlichen Schüler aufgenommen werden. Da aber in manchen Städten die Juden zumindest die Hälfte, manchmal drei Viertel der Gesammtbevölkerung ausmachen und natürlich nicht genügend christliche Zöglinge vorhanden sind, so ist damit der gesetzlich gewährte Prozentsatz zur Illusion geworden. Indem man endlich noch das Gesetz als rückwirkend behandelt und willkürlich die Zahl der bereits studierenden Juden statt der Neuaufzunehmenden zur Grundlage der prozentuellen Berechnung macht, kann es sich ereignen, dass überhaupt keine Juden mehr aufgenommen werden. So geschah es, dass z. B. in Minsk, wo ca. 40 000 Juden wohnen, oder in Wilna, einer Stadt mit ca. 70 000 Juden, in letzter Zeit keine jüdischen Zöglinge mehr Einlass fanden. Als letztes ausserordentlich erschwerendes Moment kommt dazu, dass im Ansiedlungsrayon – im Gegensatze zum übrigen Russland – keine neuen Lehranstalten errichtet werden.

b) Handelsschulen.

Gewissermassen hätten die Handelsschulen, die auch im Ansiedlungsrayon bestehen, einen Ersatz für die Gymnasien bilden sollen, insbesondere darum, weil sie, die ins Ressort des Finanzministeriums gehören, einem grösseren Prozentsatz von Juden die Aufnahme gewähren. Aber abgesehen davon, dass diese Schulen höheren Anforderungen nicht entsprechen, sind administrative Massnahmen im Zuge, diese Anstalten dem Kultusministerium zu unterstellen, das auch hier die für die Gymnasien geltende Praxis einführen wird. Selbst dort, wo (wie dies z. B. in letzter Zeit in Wilna geschah) die Juden selbst das Geld für die Errichtung sol-

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cher Schulen hergeben wollen, wofern die Beschränkungen für Juden vermindert werden, lehnt die Regierung von vornherein derartige Propositionen ab. Die oben geschilderten Verhältnisse üben ihre schädigende Wirkung nach zwei Seiten hin aus. Vor allem ist es feststehend, dass ein grosser Bruchteil der Aspiranten und gewiss auch der Befähigten sich die für die höheren Berufe, insbesondere aber für die höhere Ausbildung nötige Wissens-Grundlage nicht erwerben kann. Als zweite Folge, auf die wir uns noch werden beziehen müssen, kommt in Betracht, dass selbst denjenigen, die sich ausserhalb der Staatsanstalten auf irgend eine Weise die Mittelschulbildung erwerben, falls ihnen kein Maturitätszeugnis zur Verfügung steht, der Aufstieg in die Hochschulen verwehrt ist.

c) Hochschulen.

Die Beschränkungen für die Mittelschulen bilden aber erst die Einleitung für das Verfahren der »geistigen Sperre«. Die eigentliche Dezimierung der jüdischen Intelligenz beginnt erst in der russischen Hochschule. Es ist nicht möglich, in einer kurzen Zusammenfassung auch nur eine halbwegs deutliche Vorstellung von der Situation der jüdischen Studierenden zu geben. Soviel sei nur gesagt, dass staatliches System sich noch mit einer unbegrenzten administrativen Willkür verbindet, um das jüdische Studium, soviel als es nur möglich ist, einzuschränken oder ganz zu verhindern. 1. Universitäten. Als Grundsatz für die Universitäten in Moskau und Petersburg galt die Aufnahme von 3pCt. Juden. Für die übrigen Universitäten stellte man 5 pCt., für die Städte Warschau, Odessa (mit Hunderttausenden Juden) und Charkow 10 pCt. auf. Die Administration konnte jedoch nach Gutdünken diesen Prozentsatz herabdrücken und that es auch. Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass durch eine kleine Zeit (unter dem Ministerium Delanow) Juden auf Grund einer Bittschrift an den Minister die Aufnahme auch ein Geringes über den legalen Prozentsatz hinaus erlangen konnten. Aber diese Begünstigung war nicht von langer Dauer. Bald trat die administrative Gewalt wieder in ihre Rechte. Das Jahr 1899 brachte eine neue einschränkende Verfügung: die Einteilung in Distrikte – d. h. es wurden den Juden eines Distriktes bestimmte Universitäten zugewiesen. Welche Folgen das für die jüdischen Studierenden nach sich zog, mag folgendes Beispiel zeigen: Dem Bezirk Wilna mit etwa zwei Mil-

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lionen Juden standen die Universitäten Petersburg und Dorpat zur Verfügung, wovon erstere höchstens 3 pCt. Juden im Verhältnis zur Gesamthörerschaft hätte aufnehmen können, letztere Juden überhaupt nur dann zuzulassen hatte, wenn nicht alle Plätze von Hörern aus den Ostseeprovinzen belegt waren. Dazu kam aber noch, dass die prozentuelle Einschränkung sich nicht nur auf die Zahl der jüdischen Hochschüler überhaupt, sondern auch auf die Fakultät bezog. Nichts charakterisiert den Notstand besser als die Thatsache, dass sich Juden sogar, um nur überhaupt Eingang in die Hochschulen zu finden, in die christlich-theologische Fakultät einschreiben liessen. 1 In neuester Zeit erfuhren die Verhältnisse eine weitere Verschärfung: Die Universitäten Petersburg (die den 2 Millionen Juden des Wilnaer Distriktes zugeteilt war) und Moskau sind für Juden überhaupt verschlossen. Dort wo 5 pCt. galten, trat eine Herabminderung auf 3 pCt. ein – u. dgl. m. Hält man alles zusammen: die gänzliche Absperrung einzelner Universitäten, den minimalen Prozentsatz Aufnahmsfähiger an den anderen, dazu noch die ausserordentliche Einschränkung durch den Distriktszwang und die administrative Willkür und endlich die Thatsache, dass nur solche Juden überhaupt für die Aufnahme in Betracht kommen, denen es gelungen ist, beim Abgange von der Mittelschule die goldene Medaille 2 (die höchste Qualifikation in allen Gegenständen) zu erlangen, so ist darin schon zur Genüge enthalten, dass nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der wirklich Bedürftigen und Befähigten – und dieser manchmal erst nach Jahren, unter den grössten Schwierigkeiten und unter Konkurrenz-Verhältnissen, die sich der Schilderung entziehen – wirklich in die Universitäten Einlass finden. 2. Technische Hochschulen. Dieselben traurigen Zustände trifft man an den Technischen Hochschulen an. Auch hier ist ein Maximalprozentsatz festgestellt. Z. B. für Petersburg und Moskau 3 3 pCt., für Charkow 5 pCt., für die Bergakademie in Petersburg 2 pCt. u. ä. Manche Hochschulen, wie das Elektro-technische 1. 2.

3.

[Anmerkung der Verfasser:] Einen solchen Fall aus Odessa teilt u. a. die »Alliance Israélite Universelle« in einem ihrer letzten Berichte mit. [Anmerkung der Verfasser] Die »goldene Medaille« ist somit noch lange keine Gewähr für die Aufnahme. Auch dort, wo ausnahmsweise eine günstigere Stimmung für Juden vorherrscht, wie z. B. in Odessa, gelang es trotz einer Befürwortung durch die Universitätsbehörde nicht, für zehn Juden, die die »goldene Medaille« besassen, die Aufnahmebewilligung vom Ministerium zu erlangen. [Anmerkung der Verfasser:] Während der Drucklegung dieser Zeilen erreicht uns die Mitteilung folgender neuer Beschränkungen: Die Zahl der in die Kaiserliche Technische Hochschule in Moskau aufzunehmenden Juden wurde auf 2 pCt., die der Universität Charkow von 10 pCt. auf 3 pCt. herabgesetzt.

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Institut in Petersburg, nehmen überhaupt keine Juden auf. Die härteste Erschwerung für die Aufnahme aber liegt in den wissenschaftlichen Anforderungen, die an jüdische Aspiranten gestellt werden. Wieder mögen Zahlen die Thatsachen illustrieren: Die Minimal-Qualifikations-Ziffer für die Aufnahme eines Christen in der Kiewer Technischen Hochschule beträgt 13 1/2 für einen Juden 16 3/4. In Warschau wurden sogar Juden, die die Qualifikationsziffer 20 (in allen Gegenständen beste Censur) erreichten, nicht aufgenommen. Im Durchschnitt muss sich ein jüdischer Aspirant 2- bis 3-mal prüfen lassen, um die enorme Qualifikationsziffer zu erreichen und damit Chancen für die Aufnahme zu gewinnen. Deutlich genug spricht die Thatsache, dass im letzten Jahre an allen Petersburger technischen Hochschulen nur 4 Juden, in der Petersburger Bergakademie im Laufe von 2 Jahren nur 3 Juden aufgenommen wurden. Günstiger steht es für die Juden an den zwei dem Finanzminister unterstellten technischen Hochschulen in Warschau und Kiew. Hier können 10 – 15 pCt. Aufnahme finden. Doch ist leider auch hier wie bei den Mittelschulen – was wir bereits ausführten – eine administrative Massnahme in Aussicht, welche diese Anstalten dem Kultusministerium zuweisen wird. Dann werden sich sofort die Bedingungen für die Juden entsprechend den an den anderen technischen Hochschulen herrschenden Verhältnissen gestalten. Diese Beeinflussung durch die Ressorts ist schon deutlich an dem vom Finanzministerium neuerrichteten Polytechnikum in Petersburg erkennbar, das von vornherein den Prozentsatz für Juden mit nur 5 festgesetzt hat.

Beschränkung des jüdischen Studiums in anderen Ländern. Der traurige Stand der Verhältnisse ist damit für Russland annähernd gekennzeichnet. Es muss hinzugefügt werden – nur in einem kurzen Satze, da wir nicht zu ausführlich werden wollen – dass die Situation in manchen anderen Ländern für das jüdische Studium nicht günstiger ist, wenngleich sie manchmal durch andere Ursachen als die staatlichen Ausnahmsrechte geschaffen ist. Fällt auch angesichts der Thatsache, dass die Mehrheit des jüdischen Volkes in Russland wohnt, die Ziffer der in anderen Ländern von der höheren Ausbildung Ausgeschlossenen weniger schwer ins Gewicht, so handelt es sich doch um einen Bruchteil von Juden insbesondere aus den Balkanländern und dem Orient, den man durchaus nicht vernachlässigen darf, da er für die betreffenden Länder den wertvollsten, ja einen unentbehrlichen Bestandteil der jüdischen Bevölkerung darstellt oder darstellen könnte.

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Die jüdischen Studenten und die mitteleuropäischen Hochschulen. Es ist nur selbstverständlich, dass – allerdings verhältnismässig ein kleiner Teil – immerhin aber 2- bis 3000 derjenigen Hochschulaspiranten, die in ihren Geburtsländern, insbesondere Russland, keine Möglichkeit einer höheren Ausbildung finden, die mitteleuropäischen Hochschulen aufsuchen. Eine Zeitlang standen ihnen diese Hochschulen – wenigstens in Deutschland und in der Schweiz – fast unbeschränkt offen.

Der Beginn der Absperrung der jüdischen Studierenden. In den allerletzten Jahren aber hat eine Strömung Eingang und immer grössere Verbreitung gefunden, die dahin zielt, d en Zu flu s s jü d i s ch e r S t u d i e re nd e r vo n d en mi t tel e u ro p ä i s ch en Ho ch schu len ga nz o der tei lwei se a bzuwehren. Mi t di eser Tha tsa che beg i nnt d i e Si t u at i o n d er jü d i s chen Ho chs chu las p i r anten au s Ru s s land u nd d en and er n o bener w ähnten Länd er n s i ch vo llends kr i t i sch zu gesta lten.

Gründe und Entwicklung der gegen die jüdischen Studierenden gerichteten Bewegung. Diese Bewegung richtet sich – wenigstens offiziell – nicht gegen die Juden allein, sondern gegen die russischen oder ausländischen Hochschulaspiranten im Allgemeinen. Aber nur formell hat die Bewegung diesen allgemeinen Charakter. In Wahrheit werden sowohl dem Zahlenverhältnisse als auch den Ausschliessungs-Bedingungen nach fast nur Juden von diesen Massregeln betroffen. Die Gründe für die dem jüdischen Studium feindliche Bewegung kann man in Deutschland, das vor allem in Betracht kommt, zum Teil in antisemitischer Propaganda suchen, man thäte aber Unrecht, sie ü ber a ll im Antisemitismus und nur darin suchen zu wollen. Gewiss ist, dass die antisemitische Agitation des »Vereines deutscher Studenten« und ähnliche private oder öffentliche Aeusserungen den Absperrungsprozess, der sich gegenwärtig immer weiter entwickelt, eingeleitet und beschleunigt haben. Aber so gewiss es ist, dass die jüdischen Studierenden die Gastfreundschaft der mitteleuropäischen Hochschulen verdienen und sich ihrer immer würdig gezeigt haben, so lässt sich doch nicht leugnen, dass man den Massnahmen – welche dahin zielen, die mitteleuropäischen Hochschulen mit ihren Lehrmitteln bis zu einem an-

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gemessenen Grade für die inländischen Studierenden und für die einheimisch-nationalen Zwecke zu erhalten und einen dieser Tendenz hinderlichen allzugrossen Zufluss auswärtiger Elemente hintanzuhalten, – keine rechtlichen Forderungen entgegenstellen kann. Und auch – wenn es moralische Berechtigungen der Ausländer gibt, so haben darüber doch nur diejenigen zu entscheiden, denen die Hochschule gehört. Ebensowenig kann man eigentlich mit den Universitätsbehörden rechten, die einen gewissen Bildungsgrad und bestimmte Zeugnisse als Beleg dafür von den Ausländern verlangen, so sehr man von ihnen auch fordern könnte, dass sie die Zwangslage, beispielsweise der jüdischen Studierenden aus Russland, berücksichtigen, denen es – wie oben gezeigt wurde – unmöglich ist, Zutritt ins Gymnasium und damit ein Maturitätszeugnis zu erlangen. Und wenn in weiterer Folge die Verfügungen der Hochschulen über das notwendige Mass weit hinausgehen und endlich in ihrer letzten Konsequenz zu einer Aussperrung der Juden führen, so bleibt den Ausgesperrten – mag ihnen Recht oder Unrecht geschehen sein – doch kein Abwehrmittel übrig. Sie müssen entweder eine andere Hochschule aufsuchen oder auf das Studium verzichten. Selbstverständlich hat dann der gesteigerte Zufluss zu den noch freistehenden Hochschulen über kurz und lang die Wirkung, dass auch dort Beschränkungen, Verschärfungen oder Ausschliessungen eintreten.

Die technischen Hochschulen Deutschlands. Im Wege der administrativen Anordnungen werden so den Juden die Hochschulen Deutschlands und jetzt sogar der Schweiz – Oesterreich und Frankreich kommen überhaupt nicht in Betracht – immer schwerer zugänglich, manchmal sogar schon unzugänglich. Ein Beispiel der Entwickelung dieses Prozesses: Die Berliner Technische Hochschule forderte zuerst von Ausländern ein Zeugnis über den Besuch von 6 Klassen einer Realschule, dann ein Maturitätszeugnis (7 Klassen und Abiturium) und später ein Zeugnis, dass die Aspiranten in Russland die für russische Hochschulen notwendige Konkurs-Prüfung bestanden haben. Damit war diese Hochschule für Juden nur noch formell offen, da – wie früher ausgeführt wurde – eben die Unmöglichkeit, zu dieser Konkurs-Prüfung in Russland zugelassen zu werden, die Juden ins Ausland führte. Schliesslich aber wurde auch das Formelle fallen gelassen, und die Hochschule ist für ausländische Juden nunmehr unzugänglich. Selbstverständlich, dass das Beispiel Berlins nicht ohne Einfluss blieb. Aehnliche Entwicklungen sind in den anderen technischen Hochschulen im Gange. In Darmstadt

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führte man beispielsweise u. a. als Verschärfungen für Ausländer eine Erhöhung des Schulgeldes ein. In München wurde die Bestimmung getroffen, dass Ausländer erst dann Aufnahme finden, wenn noch Plätze übrig bleiben, die nicht von inländischen Hörern belegt sind, was einer Ausschliessung gleichkommt. Als charakteristisch mag dabei angeführt werden, dass die Münchener Studenten eine Petition bei der Hochschulbehörde einbrachten, worin sie gegen die Aufnahme von Ausländern Verwahrung einlegen.

Die Universitäten Deutschlands. Auch die Universitäten sind mit administrativen Massregeln nicht zurückgeblieben. An und für sich erzeugt schon die jetzt allgemein gestellte Forderung nach einem Maturitätszeugnis – das eben nicht allen Juden zur Verfügung steht und das nach den geschilderten Verhältnissen in Russland in Hinkunft immer mehr mangeln wird – eine Beschränkung des jüdischen Studiums. Uebrigens muss konstatiert werden, dass die Universitäten für das jüdische Studium viel weniger in Betracht kommen und darum weniger aufgesucht werden als die technischen Hochschulen. Das ausländische juristische Studium ist in Russland praktisch nicht verwertbar, und für die Nachprüfung fremdländischer Doktoren der Medizin sind die Bedingungen in Russland so erschwert, dass nur wenige sich entschliessen können, im Auslande Medizin zu studieren. Und was die Naturwissenschaften anbelangt, so zieht man natürlich die technischen Spezial-Hochschulen vor.

Frauen-Studium in Deutschland. Immerhin aber sind die Verschärfungen an den Universitäten doch von wesentlicher Bedeutung. Ihren prägnantesten Ausdruck findet – nebenbei bemerkt – die in Deutschland gegen das Studium der Ausländer herrschende Stimmung in den Massnahmen, die gegen fremde Studentinnen zur Anwendung kommen. Früher in ansehnlicher Zahl zugelassen, sind sie jetzt bereits von fast allen Universitäten Deutschlands ausgeschlossen. Neuestens hat sich auch die Berliner Universität mit einer Ausschliessungs-Verordnung eingestellt. Es gibt viele, die behaupten, dass dies die Einleitung zu einem ähnlichen Verfahren gegen die männlichen Studierenden bedeute.

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Beschränkungen in der Schweiz. Auch in der Schweiz sind in den letzten Zeiten Verschärfungen eingetreten. So besteht man jetzt – während früher alle ohne Ausnahme Aufnahme fanden – auf der Beibringung eines Zeugnisses über abgelegte Matura und erfolgtes Examen in der lateinischen Sprache. An der Universität Zürich wurde überdies noch eine Aufnahmsprüfung festgesetzt. Die Züricher Technische Hochschule – die einzige der Schweiz – ist schon jetzt für Ausländer sehr schwer zugänglich. Zieht man in Betracht, dass infolge der Absperrungen und Verschärfungen in Deutschland der Zufluss nach der Schweiz – der ohnehin in den letzten Jahren erheblich zunahm – sich noch um ein Bedeutendes steigern dürfte, so muss man schon mit Rücksicht auf die Ueberfüllung auch für die Schweiz eine weitere Verschlimmerung des jüdischen Studiums prognosticieren.

Die Folgen der Absperrung des jüdischen Studiums. So furchtbar schwer die Wirkungen der Absperrung des jüdischen Studiums schon heute empfunden werden, so treten sie doch zur Zeit noch nicht in ihrem vollen Umfange zu Tage. Denn die katastrophale Verschlimmerung der Situation, die in den allerletzten Jahren eintrat, wird in ihren Folgen erst in den nächsten Jahren vollkommen deutlich werden. Wer aber die Entwicklung der letzten Zeit genau verfolgt hat, der kommt zu folgendem Schlusse: Während in Westeuropa bedauerlicherweise ein Ueberschuss jüdischer Intelligenzen erzeugt wird, der aber angesichts des Ansiedlungsverbotes für Russland und aus anderen Gründen für andere Länder nicht in Betracht kommt, wird die grosse Mehrheit des jüdischen Volkes, die für sich schon heute auch nicht annähernd genügend intellektuelle Kräfte aufbringt, in Zukunft ein solches Minimum geistig geschulter Elemente produzieren, d as s es g anz a u s ser S ta nd e s ei n w i rd , di e zur Er halt ung d er Volksenerg i e nö ti g e Intelli genz zu rep räs ent i eren. Die unseligen Folgen dieses Zustandes für eine Volksmenge, die in Entrechtung und unbeschreiblicher materieller Not, oft im Dunkel der Unbildung und im Zustande der Trostlosigkeit schmachtet, lassen sich nicht schildern und gar für die Zukunft ausmalen.

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Details der geistigen und materiellen Krise. Versuchen wir einige Streiflichter auf die Thatsachen fallen zu lassen:

a) Industrie und Grosshandel.

Es ist selbstverständlich, dass es nicht allein eine rein geistige Frage ist, die die Krise in sich schliesst. Es ist auch eine eminent ökonomische und soziale Frage, um die es sich handelt. Eine Bevölkerungsschichte ist umso untauglicher für den Kampf ums Dasein, je geringer die intellektuellen Kräfte sind, über die sie verfügt. Um wieviel schwerer wird dieser Kampf noch für die Juden, wo von vornherein die staatliche Tendenz darauf ausgeht, dieses Axiom in Leben umzusetzen, mit anderen Worten: Die Juden durch die »geistige Sperre« für jegliche Art des wirtschaftlichen Wettbewerbes unfähig zu machen. Die Ausschliessung von den technischen Berufen bewirkt schon heute, dass der Beruf von technischen Ingenieuren in Russland fast nur von Nichtjuden ausgeübt wird. In der eigentlichen Industrie, im wirklich konkurrenzfähigen Gewerbe giebt es fast keinen Juden. Selbst im regelmässigen Handel, das heisst im modernen Grosshandel, der auf höherer fachlicher Bildung basiert ist, sind Juden nur ganz spärlich vertreten.

b) Ackerbau und städtische Berufe.

Sind auf diesen Gebieten die Juden unausgerüstete Mitbewerber, so steht es auch auf anderen Gebieten für sie nicht günstiger und muss in Zukunft noch schlimmer werden. Vom Betrieb des Ackerbaues, wo man noch am ehesten mit praktischen Kenntnissen allein auskommen kann, sind die Juden ausgeschlossen, dagegen in die städtischen Berufe gedrängt, wo die moderne Entwicklung und die Konkurrenz-Verhältnisse über alle hinwegschreiten, denen die für diese Berufe nötige Schulung mangelt. Natürlich ist für die städtischen Beschäftigungen nur zum Teil höhere Bildung notwendig, – es würden für die meisten Berufe Volks-, Fortbildungs-, Gewerbeschulen oder praktische Lehrkurse genügen. Aber indirekt hängt die Thatsache doch mit der Absperrung des Hochschulstudiums zusammen. Denn infolge des Mangels an wirklich geeigneten jüdischen Lehrkräften muss die Errichtung solcher Schulen selbst mit Hilfe privater Mittel unterbleiben. So wirken die Verhältnisse mit der Kraft eines Gesetzes von oben nach unten sich verschärfend. Wie es bei-

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spielsweise nur wenige jüdische Ingenieure gibt, so gibt es fast keinen wirklich tüchtig geschulten jüdischen Gewerbsmann, keinen Mechaniker, Monteur, gelernten Uhrmacher. Materieller und geistiger Notstand nehmen immer mehr überhand, indem bald die Armut die Ausbildung hindert, bald die mangelnde Bildung für den Erwerb untauglich macht. Und dass das jüdische Volk nach seinen rassentümlichen Anlagen verhältnissmässig eine grössere Zahl scharfsinniger und begabterer Elemente produziert, führt unter den entsetzlichen Verhältnissen nur zu einer beklagenswerten Folge, zur Massenerzeugung eines den Juden Russlands ganz eigentümlichen Typus, für den man bezeichnender Weise schon einen terminus technicus gefunden hat: des deklassierten, überzähligen »PoluIntelligent« (»Halbgebildeten«).

Der Polu-Intelligent. Er tritt bald als schlechter Lehrer, bald als schlechter Schreiber, bald als schlechter Handelstreibender auf – immer mit einem kleinen, aber vollkommen ungenügenden Vorrat an Wissen, immer voll Wissensdrang und Ansprüchen an das Leben, die sich nie erfüllen können, immer Luftmensch und im Ganzen die bedauernswerteste Existenz. Die nationale Kraft bricht sich und verliert sich so in einer Unzahl negativer, unglücklicher, verzweifelnder Elemente, von denen ein Teil, materiell und geistig ganz unausgerüstet, den Trostlosigkeiten der Auswanderung anheimfällt.

Die jüdische Jugend. Es ist unmöglich, ein Bild der russisch-jüdischen Jugend im Alter von 15 bis 20 Jahren, namentlich der Jugend in der Provinz, zu geben. Ausser dem Kleinhandel und dem Handwerk, in denen eine furchtbare Ueberproduktion vorherrscht, sieht die Jugend keinen Beruf vor sich, den sie ergreifen könnte. Die Söhne der sogenannten »Besitzenden« – wofern sie nicht vom Handel verschlungen werden – streben alle darnach, das Examen zu machen. Aber es gibt selten einen, der sich durch die unbeschreibliche Not und Entbehrung und über die staatlichen Hindernisse hinweg durchschlägt. Ohne Aussicht bleiben fast alle verzweifelt am Wege liegen, und es lässt sich nicht absehen, was die Zukunft aus dieser unglücklichen Jugend machen wird. Es ist eine beispiellos tragische Situation, dieser geistige Notstand der

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Juden, der aus sich heraus immer neue geistige und materielle Notstände erzeugt.

Der Gedanke einer jüdischen Hochschule. Wer sich dieser Not nicht verschliessen will, wer sie mit dem Ernst und der Anteilnahme ansieht, die aus einem wirklich nationalen Empfinden hervorgehen, dem wird sich wie von selbst der Gedanke aufdrängen: Da s s man mi t a ller jü d i s chen Kr aft , d i e si ch a u fbr i ng en lä sst , den i ntellekt uellen Besi t zs ta nd d es jü d i s ch en Volkes ni cht nu r er ha lten, s onder n i n ei nem bedeu tenden Ma sse wei ter ent w i c kel n mu ss , d a ss man d er jü d i s chen Ju g en d , der i n i hren Gebur t sländ er n das Recht der Ausbi ldung ni cht g eg eben w i rd , d er s i ch i m Au sla nd e d i e P fo r ten d er Wi ssenschaft zu vers chliessen d ro hen, ei ne S tätte s chaffen mu s s , wo s i e, bewa h r t vo n jed e r Be schr ä nku ng , i h re g e i st i gen Kräfte u nd d ami t d i e d er Nat i o n frei entfa lten kann. So g ela ngen w i r zu m Pla n ei ner J üdi s ch en Ho chschu le.

Negative und positive Elemente des Planes. Es waren rein negative Elemente, die uns dazu führten zwingende Notwendigkeiten, deren katastrophaler Charakter aus sich selbst heraus die Lösung verlangt, die wir proponieren. Selbstverständlich, dass es eine Menge positiver Elemente gibt, mit denen sich der Plan einer Jüdischen Hochschule stützen lässt, Elemente, deren ethischen Wert wir noch viel höher einschätzen. Wir haben das Negative vorausgeschickt aus dem natürlichen Grunde, weil der Zwang und die Gefahr drängendere und greifbarere, wenn auch nicht stärkere Faktoren sind als ein ideales Wünschen. Von diesen positiven logischen Grundlagen unseres Planes werden wir später sprechen.

Die ersten Wirkungen der Hochschule. Vorher aber haben wir – dem bisherigen Zuge unserer Auseinandersetzung entsprechend – ei ne Frage vor allem zu beantworten: Wird die Jü-

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dische Hochschule imstande sein, all der geistigen Not ein Ende zu machen, die wir schildern mussten? Keineswegs. Wie vermöchte ei ne Schule das geistige Elend eines Volkes zu lindern, welches das ärmste der Welt ist? Aber einen Teil des Elends wird diese Schule lindern. Und doch – indem sie nur ein Stück Not wegräumt – würde diese Schule einen Nutzen schaffen können, der sich nicht absehen lässt. Die Hunderte geschulter Menschen, die die Hochschule alljährlich ins jüdische Volk hinausschicken würde, nach Russland vor allem, aber auch in die anderen Länder, stellen nicht nur an sich ein produktives Element dar, das früher zur Unthätigkeit mit all ihren schrecklichen Folgen verurteilt, jetzt eine materielle und geistige Stärkung des Volkes bedeuten würde, – sie könnten zugleich die Stützen, die Lehrer und Förderer weiterer Volksschichten werden, an die sie ein Mass ihres Wissens abgeben. Wir können nicht zu ausführlich sein und wollen auch nicht zuviel sagen. Wir werden uns darum begnügen, ein Beispiel herauszugreifen, aus dem sich ersehen lässt, wie segensreich die Hochschule wirken könnte. Es gehört zu diesem Beispiele, dass wir ein wenig von der O rga ni s at i o n der Hochschule sprechen, die wir zu entwerfen versucht haben:

Das Vorbereitungstechnikum. Die Hindernisse für das jüdische Hochschulstudium beginnen – wie oben ausgeführt wurde – in Russland mit den Beschränkungen im Gymnasialunterricht und im Auslande mit der Forderung der Beibringung eines Maturitätszeugnisses. Dieses Hindernis wird für die Hörer der Jüdischen Hochschule beseitigt durch das Vo r berei t u ng stechnik u m, 4 das einen Teil für die Jüdischen5 Hochschule, den andern Teil selbständig für technische und landwirtschaftliche u. a. Fächer ausbildet. 4.

5.

[Anmerkung der Verfasser:] Dieses Vorbereitungstechnikum wurde im nachfolgenden »Entwurf einer Jüdischen Hochschule« nicht aufgenommen, teils darum, weil nach unserer Annahme dessen Einrichtung mit einer nicht allzu bedeutenden Ueberschreitung des Kostenvoranschlages und unter Heranziehung der Lehrkräfte der Hochschule möglich wäre, teils aus dem Grunde, weil die spezielle Organisationsform dieses Technikums einem besonderen Studium unterzogen werden soll. Immerhin aber genügt wohl für viele – als eine in Betracht kommende Analogie – der Hinweis auf die Technika in Genf, Biel, Winterthur, Cöthen etc. Diese Technika sind so eingerichtet, dass sie einerseits als selbständige Schulen für fachlich gut ausgebildete technische Kräfte, z. B. gelernte Werkmeister, Monteure, Elektro-Techniker, Chemiker etc. fungieren, andererseits zur Vorbereitung der Frequentanten für technische Hochschulen dienen. Muß korrekt lauten: »Jüdische«.

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Die Absolventen der Hochschule. Die Jüdische Hochschule wird also – um ein Beispiel aus der technischen Abteilung zu wählen – alljährlich drei Kategorien entsenden können: Höhere Techniker (Ingenieure), Lehrer in den technischen Fächern und fachlich geschulte Praktiker.

Etablierung einer jüdischen Industrie. Man wird bald verstehen, was das bedeutet. Es ist damit die Möglichkeit der Etablierung einer jüdischen Industrie gegeben – wie sie heute in Russland nicht existiert – einer Industrie, bei der alle Arbeiter von unten nach oben mit den erforderlichen theoretischen und praktischen Kenntnissen ausgerüstet sind. Durch die Verwertung der Lehrkräfte und durch die Instruktion in den Fabriken ist die Heranziehung, beziehungsweise Schulung einer ganzen Reihe von Kräften möglich. Damit erhält implicite der Handel eine entsprechende Stärkung. Zugleich aber bekommen auch die beteiligten Bevölkerungselemente eine grössere Bewegungsfreiheit, da es beispielsweise geschulten Gewerbsleuten in Russland gestattet ist, sich auch ausserhalb des jüdischen Ansiedelungsrayons niederzulassen, – wodurch wieder indirekt die Konkurrenzbedingungen unter der jüdischen Bevölkerung erleichtert werden. Dazu kommt die Möglichkeit der Verwertung vieler Kräfte im Auslande, beziehungsweise der Schulung und Vorbereitung derjenigen, die sich zur Auswanderung entschliessen. Wir wählen kein zweites Beispiel. Wir glauben, dass man aus dem einen ersehen kann, wie es möglich ist, in den kranken Volksorganismus einen neuen Einschlag geistiger und materieller Kräfte einzuführen. Es wird ein Einschlag sein, der schon segensreich wirken wird, wenn er nur ein weiteres Sinken mehr oder minder bedeutender Bevölkerungsschichten aufhält, gar, wenn er imstande sein wird, ihre kulturelle und ökonomische Situation zu bessern.

Die Grenzen der Nützlichkeit. Freilich – es fällt uns nicht ein, zu glauben, dass selbst die durch die Hochschule gegebenen Möglichkeiten nicht durch die traurige Ausnahmssituation des jüdischen Volkes, durch die Einwirkung von staatlichem und gesellschaftlichem Antisemitismus eine gewisse Einbusse erlei-

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den werden. Wir werden uns überhaupt hüten, die Grenzen der Nützlichkeit unseres Unternehmens innerhalb des Golus weiter zu stecken, als man es thun darf. Aus der zionistischen Anschauung heraus wissen wir, wie beschränkt die Wirkungen aller Thätigkeiten sind, die zur Besserung der Lage der Juden innerhalb der Länder ihres derzeitigen Aufenthaltes unternommen werden. Wir wissen, dass die eigentliche Befreiung erst möglich sein wird, wenn die jüdische Nation in der palästinensischen Heimstätte Herrin ihrer Geschicke sein wird. Gerade diese zionistische Anschauung aber ist es auch, die uns lehrt, dass wir die materielle und geistige Lage unseres Volkes – eben mit Rücksicht auf sein dereinstiges Gedeihen im eigenen Lande – vor jedem Verfalle hüten und, soweit wir es vermögen, sichern müssen. Dies alles vorausgeschickt, verheisst der Plan der jüdischen Hochschule, soweit er bisher auseinandergesetzt wurde, noch immer ein grossangelegtes sozialpolitisches Werk zu zeitigen.

Die Hochschule und das national-jüdische Problem. Was wir aber bisher ausgeführt haben, war nur eine Entwicklung des Planes vom Standpunkte des Palliativs aus. Nur von dieser Seite her kamen wir bisher mit dem Projekte der Jüdischen Hochschule dem grandiosen national-jüdischen Problem näher.

Die Hochschule als nationales Institut. Und doch steht ihrem ganzen Wesen nach die Hochschule im innigsten Zusammenhange mit der grossen nationalen Freiheitsbewegung. An sich schon wäre eine Jüdische Hochschule ein ragendes Wahrzeichen des lebendigen jüdischen Volkstums, des schaffenden jüdischen Geistes: Für diejenigen, die die Existens des jüdischen Volkes und seine Zukunft bejahen und dafür leben, ihr geistiges Zentrum, denen, die an dem jüdischen Volke zweifeln, ein neuer, mächtiger Halt, gegen diejenigen aber, die das jüdische Volk totschlagen oder untergehen lassen wollen, ein Bollwerk, das sie nicht stürzen könnten.

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Die »Jüdische Enzyklopädie«. Als vor etwa einem Jahre in Amerika das wahrhaft epochale Werk einer »Jüdischen Enzyklopädie« herauskam, da hat man es mit Recht als eine nationale That, als einen glänzenden Beweis des Bestandes und einer Einheit des jüdischen Geistes gerühmt. Um wieviel aber würde eine Jüdische Hochschule dieses Werk überragen! Um soviel, dass man kaum mehr einen Vergleich zwischen beiden ziehen könnte.

Die jüdischen Gelehrten. Welche Fülle jüdischer Geisteskraft könnte in der Jüdischen Hochschule sich entfalten, sich ausleben! Bedeutende jüdische Gelehrte, die heute wegen ihrer Abstammung zurückgesetzt werden, denen es nicht möglich gemacht wird, sich zu bethätigen, die zuweilen die grössten materiellen und moralischen Demütigungen erleiden müssen, weil sie sich von ihrem Volke nicht abkehren wollen, fänden eine Stätte, wo sie sich ganz der Wissenschaft, aber auch ganz ihrem Volke widmen könnten.

Die Wissenschaft des Judentums. Aus dieser Konzentrierung der jüdischen wissenschaftlichen Arbeit würde nicht nur für die Gelehrten selbst und für die allgemeine Wissenschaft ein unschätzbarer Vorteil fliessen – es wäre auch ein ganz besonderer Segen für die Wissenschaft des Judentums, die heute nirgends vereint betrieben werden kann und manchmal durch die Ungunst der Verhältnisse ganz der nichtjüdischen Gelehrtenwelt überlassen bleibt. Eine jüdische Hochschule, die der freien wissenschaftlichen Forschung Raum giebt, wäre sogar auf manchen Gebieten geradezu der Anfang einer jüdischen Wissenschaft.

Die jüdische Jugend. Für die Jugend unseres Volkes aber wäre die Hochschule das kostbarste Geschenk: Es wäre eine Stätte fruchtbringendster geistiger Regsamkeit: Nicht durch Beschränkungen gehemmt, vom Judenhasse befreit, in jüdischer Gemeinschaft, würden sie nicht nur Wissen sammeln, sondern auch lernen, es jeder nach seiner Weise für die jüdische Nation und im Dienste ihrer Zukunft zu verwenden.

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Die nationale Idee. Und die Idee der nationalen Selbstbefreiung, der heute soviel junge Elemente durch den Mangel der Konzentration und durch den schädigenden Einfluss des fremden Milieus verloren gehen, hätte ihre beste und stärkste Garde in dieser Jugend, die den national-jüdischen Geist in der edelsten freien Weise bethätigen und ins Volk hinaustragen würde.

Das jüdische Volk. Das jüdische Volk aber würde eine grosse Kraft und Erhebung aus diesem nationalen Werke schöpfen. Es wäre ihm ein stolzer Beweis seiner lebendigen, schöpferischen Kraft, der ihm den Mut und das Zutrauen zur grössten nationalen Leistung geben würde.

Die Hochschule in Palästina. Vollkommen gelungen wird die Lösung des jüdischen Hochschulproblems sein, wenn es glücken wird, das Institut in Palästina selbst zu begründen. Es wäre damit nicht nur die moralische, sondern auch die wissenschaftliche, sogar auch eine ökonomische Unterlage für den grossen Heimstättenplan gegeben. Es müsste ein unvergleichlicher Impuls davon ausgehen, wenn unsere Jugend sich zugleich mit dem heimatlichen Boden und dem Judentum in den schönsten Formen vereinigte. Kein Zweifel, dass mit der Existenz und dem Gedeihen einer palästinensischen Hochschule sich zugleich bei allen Juden der Welt das Vertrauen in die Möglichkeit der Etablierung einer Heimstätte um ein Vielfaches steigern und festigen würde. Von der Hochschule als dem Zentrum aus könnte eine grossangelegte kulturelle Arbeit erfolgen, mit der die technische Erschliessung des Landes und die Erziehung des Volkes in ökonomischer Hinsicht Hand in Hand gehen könnte. Endlich ist es nicht unwesentlich, dass das moralische Besitzrecht, das wir auf unsere Heimat haben, durch die Existenz einer Jüdischen Hochschule, durch die Vereinigung der nationalen Jugend und durch die voraussichtlich bedeutsame neue jüdische Geistesentfaltung an öffentlicher Geltung und Anerkennung gewinnen würde. Die Vorteile, die eine Jüdische Hochschule in Palästina gegenüber einer Hochschule in Europa aufweist, sind so grosse, der nationale Antrieb, der nach Palästina drängt, ist so mächtig, dass von vornherein bei Aufstellung des Hochschulprojektes nicht einen Augenblick ausseracht gelassen wur-

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de, kein Mittel unversucht zu lassen, die Hochschule in Palästina zu errichten.

Die Eventualität der Errichtung der Hochschule in Europa. Freilich – stehen und fallen kann die Hochschule mit der Möglichkeit der Errichtung in Palästina nicht. Wir haben zur Genüge auseinandergesetzt, – insbesondere als wir die negativen Elemente des Planes zergliederten – dass die Hochschule eine Notwendigkeit an sich ist – ohne jede Einschränkung. Aber wenn auch die Hochschule in einem anderen Lande – in England oder in der Schweiz – etabliert werden sollte, wird es immer in der Voraussetzung geschehen, dass es in früher oder später Zukunft beschieden sein wird, sie nach Palästina zu verlegen. Für die Möglichkeit einer solchen Transportierung sind ja in der Geschichte der Hochschulen Beispiele genug vorhanden. Und immer wird die Hochschule mit ihren gegenwärtigen Zwecken zugleich auch der Zukunft des jüdischen Volkes dienen, indirekt, wie wir es oben gezeigt haben, aber auch direkt: Stets wird die Wissenschaft des Judentums, soweit sie die praktischen Grundlagen für die zukünftige Arbeit in Palästina abgeben soll, in der Hochschule gründliche und systematische Pflege finden können. Und Theoretiker und Praktiker, die sich mit der technischen und agrikulturellen Erschliessung des Landes befassen, wird das Institut alljährlich in grosser Zahl entsenden. Vor allem aber wird die Hochschule – wo immer sie sein wird – eine Hüterin jener Güter der Nation werden, die für ihre Zukunft am teuersten sind: Die Hochschule wird eine Pflegestätte für die lebendige jüdische Nationalsprache, der Vereinigungspunkt alles jüdischen Schaffens auf litterarischem, künstlerischem und wissenschaftlichem Gebiete, mit einem Worte ein ku ltu relles Zent r u m sein, das seinen Geist überallhin ausstrahlen wird.

Einwände und Realisierungsmöglichkeiten. Damit hätten wir – so kurz als es möglich war – die Notwendigkeit und den Nutzen einer Jüdischen Hochschule entwickelt. Es erübrigt uns noch, von den Realisierungsmöglichkeiten in ebensolcher Kürze zu sprechen. Vielleicht wird es aber gut sein, vorher noch einen Einwand zu erledigen, der möglicherweise von manchen erhoben werden könnte: Warum an das Projekt einer Hochschule gedacht wird, wo es noch so sehr an Elementarschulen für das Volk mangelt. Der Einwand berührt an sich wahre That-

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sachen und beantwortet sich doch für jeden Kenner der russisch-jüdischen Verhältnisse gerade mit der von uns entwickelten Gedankenfolge. Die Schulung der Massen kann heute sy s tema ti s ch nur vom Zentrum einer Hochschule aus nach der Peripherie geleitet werden, die durch die Volkschulen gebildet werden wird – und nicht umgekehrt. Nicht aus den Elementarschulen könnte die Hochschule herauswachsen, wohl aber schafft eine Hochschule die unteren Anstalten, vor allem, weil sie die Lehrkräfte, an denen es gegenwärtig mangelt, liefern wird. Vielleicht gäbe es einen anderen Einwand, der sich darauf bezieht, dass es noch andere wichtige Arbeiten giebt, die für das jüdische Volk zu leisten sind. Kein Zweifel – der Zionismus selbst ist die grösste Bejahung dafür. Es handelt sich uns aber garnicht darum, die Wichtigkeit anderer Arbeiten zu bestreiten. Ja, es giebt sogar eine Reihe speziell kultureller Arbeiten, die wir auf dem Wege der Hochschulaktion mit einbeziehen werden. Es ist keine Prioritätsfrage, die da zu entscheiden ist. Es ist einerseits der Zwang der Verhältnisse, andererseits die Initiative und die Arbeitswilligkeit, durch die bei dem heutigen Stande der jüdischen Angelegenheiten das Schicksal von Thätigkeiten bestimmt wird. Die meisten anderen Einwände werden sich auf den Umfang und die Durchführungsmöglichkeiten des Projektes beziehen. Gewiss, es ist ein grandioser Plan, um den es sich handelt, wir stellten es in der Einleitung selbst fest – aber ein Plan, der nach unserer Meinung reiche Möglichkeiten der Ausführbarkeit in sich schliesst, wenn er wohl vorbereitet und gut überlegt ins Werk gesetzt wird. Wir glauben nicht, dass jemand daran zweifeln wird, dass der Ort, die Hörerschaft und die Lehrerschaft für die Hochschule gefunden werden wird. Freilich, wenn die Organisation des Instituts so werden soll, dass sie den Zwecken des Volkes wahrhaft dient, wird man für alles – und nicht ohne bedeutende Arbeit und gründliches Studium – erst ein System ausarbeiten müssen. Aber man wird darüber nicht im Zweifel sein, dass ein solches System der Anlage und des Unterrichts sich wohl herstellen lässt. Was aber die meisten von vornherein für zweifelhaft erklären werden, das ist die Möglichkeit, die Millionen für das Unternehmen aufzubringen. Es wäre thöricht, in dieser Hinsicht zu einem vorschnellen Optimismus neigen zu wollen. Erfahrungen auf anderen jüdischen Gebieten haben gelehrt, wie schwer solches Geld zustande kommt und dass ein grosser Apparat zur Aufbringung nötig ist. Aber man mag sich andererseits nur das Beispiel der in Amerika ausgegebenen Jüdischen Encyklopädie, deren Herstellungkosten gleichfalls eine grandiose Höhe erreichen, vor Augen zu halten, um Mut für die Arbeit zu bekommen. Man denke einen Augenblick daran, wieviel Geld all-

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jährlich von Juden – abgesehen von anderen Bestimmungen – für Bildungszwecke, für die Errichtung von Lehranstalten, Künstlerhäusern und besonders für Stipendien hergegeben wird, die leider Juden nicht zugute kommen. Wenn durch eine geeignete Propaganda nur ein Teil dem Zwecke der Hochschule zugeführt würde, so wäre die Ausführungsbasis für das Projekt gegeben. Ein Kenner der Verhältnisse erwäge einmal, welche Kosten die blosse Aufnahme in die russischen Lehranstalten den jüdischen Interessenten verursacht – wieder eine respektable Summe! Man könnte auch auf die Möglichkeit der Munifizenz Einzelner, auf die Beteiligung jüdischer Korporationen hinweisen. Aber mit all dem wäre noch nicht viel gesagt. Und es handelt sich uns auch heute noch garnicht darum, zu erklären, dass a lle Möglichkeiten der Aufbringung der 6 Millionen, – nicht einmal wieviele Möglichkeiten gegeben sind.

Die unbedingte Notwendigkeit des Versuches. Wo hl a ber – und das ist zugleich der ideelle Anlass dieser kleinen Schrift – er klä ren w i r mi t allem Na chd r u c k, d a ss , wenn je, s o jet zt d er Au g enbli ck geko mm en i st , alle M ö g li chkei ten zu er proben und d ass es ei ne nat i o nale P fli cht i st , d abei kei n Mi t te l u nvers u ch t z u l a s se n u nd kei ne Ar bei t z u scheuen.

Die Schaffung der Grundlagen für die Propaganda. Allerdings diese Arbeit muss mit Vorbedacht und nach einem systematischen Plane geleistet werden, der zuerst die Gr u nd lagen für die Propagierung des Unternehmens schafft, ehe das Unternehmen selbst betrieben werden soll. Eine so grosse Sache kann der weiten Oeffentlichkeit nicht unterbreitet werden, wenn nicht zuvor ein wohlfundierter und gutgeleiteter Apparat für die Inszenierung des Projektes ausgerüstet wird.

Vorbereitende Schritte. Die Unterzeichner dieser Schrift glauben, von diesem Gesichtspunkte ausgehend, bisher keinen unrichtigen Weg gegangen zu sein. Sie haben,

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um einen grösseren oder geringeren Teil der jüdischen Oeffentlichkeit wenigstens auf die Existenz des Problems aufmerksam zu machen,

Der 5. Zionisten-Kongress. als Mitglieder des Kultur-Ausschusses des fünften Zionisten-Kongresses (Basel, Dezember 1901) den Antrag unterbreitet, »der Kongress möge das Aktionskomitee beauftragen, die Frage der Gründung einer Jüdischen Hochschule einem gründlichen Studium zu unterziehen.« Dieser Antrag wurde vom Kongresse zum Beschlusse erhoben und damit die Leitung der zionistischen Organisation für den Plan interessiert. Seither wurden von den Unterzeichneten verschiedene Studien auf den einschlägigen Gebieten gemacht, die zum Teil in dieser Schrift verwertet werden konnten, die aber, wie sofort ausgeführt werden wird, in vervielfachtem Maasse fortgesetzt werden sollen.

Die vorliegende Schrift. Den zweiten Schritt in eine allerdings mit Vorbedacht nicht zu gross gewählte Oeffentlichkeit, bedeutet diese Schrift, die gleichzeitig in hebräischer, deutscher, englischer, russischer Sprache und im jüdischen Jargon erscheint.

Das »Bureau: Jüdische Hochschule.« Sie wird ausgegeben, um soweit über die Grundelemente des Problemes und des Projektes zu unterrichten, dass damit in jüdischen Kreisen das Interesse für eine p lanmä s si g e Behand lu ng des Gegenstandes geweckt werden kann. Die planmässige Behandlung wird nach unserer Meinung – und das ist der dritte Schritt – ermöglicht und gewährleistet durch die Errichtung eines »Bu rea u s : J ü d i s ch e Ho ch schu le.«

Die Thätigkeit des Bureaus. Das Bureau wird durch längere Zeit – deren Dauer sich heute noch nicht genau bestimmen lässt – das Studium der Materie und die Vorbereitung

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der Propaganda betreiben, hat also zu nächst den Charakter einer vo rlä u fi gen Institution. Nach günstigem Abschluss der Vorarbeiten wird das Bureau für den Fall des Prosperierens der Propaganda zu einer p erma nenten Einrichtung, deren öffentliche und rechtliche Beziehungen dann geregelt werden sollen.

Der Plan der Thätigkeit. Der Thätigkeit des »Bureaus: Jüdische Hochschule«, die teilweise schon eingeleitet ist, wird folgendes zugrunde liegen: 1. Einrichtung des Korrespondenz- und Informations-Dienstes. 2. Heranziehung von Arbeitskräften und deren Organisation. 3. Fortsetzung und Erweiterung der Studien hinsichtlich der jüdischen Studentenschaft. a) Untersuchung über die Situation der jüdischen Hochschüler inbezug auf die Hochschulen Russlands, Deutschlands und der Schweiz. b) Untersuchung über die Lebensverhältnisse der jüdischen Studenten in Russland und den andern in Betracht kommenden Ländern. Diese Untersuchungen werden erfolgen: a) Durch Enqueten unter der Studentenschaft. b) Durch Sichtung und Prüfung des Schriften- und Zeitungsmateriales. g) Durch private Informationen. Hierbei wird die Unterstützung des »Verei ns fü r jü d i s che S t a ti s t i k i n Berli n« in Anspruch genommen werden. 4. Studium des Hochschul-Projektes: a) Untersuchung über die besondere Organisation einer Jüdischen Hochschule mit Rücksicht auf die Vorstudien und die materiellen Verhältnisse der jüdischen Studenten, auf die Bedürfnisse des jüdischen Volkes und auf die bestmögliche Verwertung des erworbenen Wissens. b) Studium der bestehenden Hochschulen mit Rücksicht auf das besondere Projekt. c) Studium der Frage des Ortes der Hochschule. 5. Zusammenfassung des gewonnenen Materials und Vereinigung in einer Monographie, die in den in Betracht kommenden Sprachen abgefasst wird und zugleich als Propaganda-Schrift dient. 6. Studium der Propaganda-Möglichkeiten. 7. Reisen zu Studien- und Propaganda-Zwecken nach Russland, Palästina, England und Amerika.

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8. Budgetierungs-Entwurf der Hochschule. 9. Konstituierung des permanenten Bureaus Jüdische Hochschule.

Das Budget des vorläufigen Bureaus. Zur Deckung der ersten Kosten d es vo r berei tenden Bu reau s i s t – ei ne Fu nkt i o ns d a u er vo n 1 1/ 2 bi s 2 Jahren vo rau sg es et zt , – vo r a u ss i cht li ch ei ne Su mme vo n 25,000 Fr ank s no t wend i g .

Die Geldgebarung. Die für die Zwecke des Bureaus bestimmten Gelder werden beim Jewish Colonial Trust (Jüdische Kolonialbank) in London deponiert, über die Ein- und Ausgänge soll in den jüdischen Blättern Bericht abgelegt werden. Gleichfalls beim Jewish Colonial Trust werden auch diejenigen Gelder in Depot gelegt, die vor Etablierung des permanenten »Bureau: Jüdische Hochschule« für die Ausführung des Hochschulprojektes selbst zur Verfügung gestellt werden.

Ort des Bureaus. Als Ort für die Errichtung des vorläufigen Bureaus wurde Genf in Aussicht genommen.

Aufruf. Mit der Auseinandersetzung des »Bureau: Jüdische Hochschule« sind wir zum Schlusse gekommen. In wenige Sätze möchten wir zusammenfassen, was wir wollen: Wir erbitten uns die Unterstützung aller, die an der von uns nach unserer Kraft vertretenen Sache Anteil nehmen. Wir bitten sie vor allem, die materielle Konstituierung des Bureaus zu ermöglichen. Wir bitten ferner alle, die an der Lösung der ersten theoretischen und praktischen Fragen mitarbeiten können, sich, soweit sie vermögen, in den Dienst der Sache zu stellen. Wir wenden uns vor allem an unsere Gesinnungsgenossen, die Zio-

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nisten, wir wenden uns aber auch an diejenigen Juden, die ihrem Volke die Treue bewahrt haben, die sie an seine Zukunft nicht vergessen lässt. Wir rufen sie auf zur guten That: Sie sollen uns helfen, den Grundstein zu legen zu einem grossen Bau, den viele vollenden sollen, zu dem stolzen Bau, der dem jüdischen Volke, dem jüdischen Geiste, der jüdischen Zukunft errichtet werden soll. GENF-LEYSIN, im Juli 1902. Mar t i n Bu ber ( Wi en) . Ber t ho l d Feiwel ( Berli n) . D r. Ch. Wei zma nn ( Genf ) .

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Vorläufiger Entwurf einer Jüdischen Hochschule. Zweck der Hochschule. Zweck der Jüdischen Hochschule ist: Der jüdischen Jugend die Möglichkeit zu gewähren, eine Ausbildung zu erlangen: a) In den allgemeinen höheren Disciplinen mit besonderer Berücksichtigung der Wissenschaft des Judentums. b) In den technischen Fächern.

Sitz der Hochschule. Als Sitz der Jüdischen Hochschule kommt in Betracht: 1) Ein Ort in Palästina, 2) in England, 3) in der Schweiz.

Bedeutung einer palästinensischen Hochschule. Die Errichtung der Jüdischen Hochschule ist zunächst in einem Orte Palästinas zu erstreben – aus Gründen, die für jeden Nationaljuden selbstverständlich sind. Abgesehen von der eminenten national-kulturellen Bedeutung einer palästinischen Hochschule käme als wesentliches Moment in Betracht, dass das Hochschul-Institut zugleich eine Centrale für die technische Erschliessung des Landes werden könnte. Sollte es sich jedoch als unmöglich erweisen, in Palästina jetzt eine moderne Hochschule zu errichten, so sind die einzigen in Betracht kommenden Länder England und die Schweiz. In beiden Fällen kann man darauf rechnen, dass seitens der betreffenden Regierungen keinerlei Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden dürften.

Organisation der Hochschule. Die Organisation der Hochschule ist folgendermassen gedacht:

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1. Allgemeine, philosophische, staatswissenschaftliche, pädagogische und jüdisch-wissenschaftliche Abteilung. 2. Mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung, an die sich die Schule für Fachlehrer anschliesst. Anmer ku ng . Beide Abteilungen bilden zugleich ein Lehrerseminar. 3. Bauschule für Ausbildung von Architekten. 4. Ingenieurschule für Ausbildung von Ingenieuren für Strassen-, Eisenbahn-, Wasser- und Brückenbau. 5. Mechanisch-technische Schule für Ausbildung von Maschinen- und Elektro-Ingenieuren. 6. Chemisch-technische Schule. 7. Forst- und landwirtschaftliche Schule für die Ausbildung von Förstern, Landwirten und Kultur-Ingenieuren. Die Hochschule stellt somit eine Kombination dar einer Universität (nach deutschem oder schweizerischem Muster) und eines Polytechnikums. (Eine derartige Kombination fand auch an der Universität Brüssel Anwendung.) Von einer medicinischen Fakultät ist in diesem Entwurfe abgesehen. Die Errichtung von Kliniken ist mit ungeheuren Kosten verbunden, und städtische oder staatliche Krankenhäuser dürften unserer Fakultät kaum zur Verfügung stehen. Jedoch können auch Studierende der Medicin an unserer naturwissenschaftlichen Abteilung während der ersten vier oder fünf Semester ihre naturwissenschaftliche Vorbildung geniessen. (In Chemie, Physik, Zoologie, Botanik, Anatomie, Physiologie etc.) (Aehnliches findet an der Universität Freiburg in der Schweiz und an der Akademie Neuchâtel statt, wo keine medicinischen Fakultäten bestehen.) Die angeführte Kombination gestaltet sich auch vom finanziellen Standpunkte aus am günstigsten.

Bau- und Einrichtungskosten. Nachstehender Voranschlag ist auf Grund der Daten für die Kosten der Technischen Hochschulen Zürich und Darmstadt aufgestellt, wobei die specielle Organisation der Jüdischen Hochschule berücksichtigt wurde: 1 1.

[Anmerkung der Verfasser:] »Die neuen Gebäude der Grossherzoglich Technischen Hochschule Darmstadt 1895.« (Sowie Privatmitteilungen). – »Die Eidgenössische Polytechnische Schule in Zürich 1889.«

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I. Hauptgebäude. Baukosten, incl. Heizung, Lüftung, Wasserleitung etc. Elektrische Beleuchtung Lehrmittel und Apparate Mobilar etc. Unvorhergesehenes

2 929 700 Mk. 44 000 ” 500 000 ” 150 000 ” 50 000 ”

Summa

3 673 700 Mk.

Anmer ku ng . Die Kosten des Hauptgebäudes Darmstadt betrugen 2 568 000 Mk. Die Kosten des Hauptgebäudes Zürich betrugen 3 898 000 Fcs. Darmstadt gab wenig für Lehrmittel etc. aus bei der Einrichtung der neuen Hochschule, da es die Lehrmittel der alten Institute sowie deren Bibliothek verwenden konnte. II. Gebäude für Elektrotechnik und Physik. Baukosten Innere Einrichtung Sonstiges Unvorhergesehenes

335 000 Mk. 200 000 ” 50 000 ” Summa

585 000 Mk.

III. Chemisches Institut. Baukosten Elektrische Beleuchtung Innere Einrichtung: a) Reine Chemie b) Technische Chemie c) Pharmakologie Allgemeines

345 000 Mk. 25 000 ” 50 000 90 000 5 000 50 000 Summa

Elektrische Centrale, Kessel- und Maschinenhaus Bauplätze Summa

” ” ” ”

565 000 Mk. 300 000 Mk. 350 000 ” 650 000 Mk.

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Gesamtkosten der Hochschule 5 473 700 Mk. Gesamtkosten der Hochschulen Zürich und Darmstadt. Anmer ku ng . Gesamtkosten der Hochschule Zürich: 5 850 000 Fcs. ohne Kosten für innere Einrichtung des Hauptgebäudes, welche sich auf ungefähr eine Million Francs stellen. (Letztere Angabe über Kosten der inneren Einrichtung einer Technischen Hochschule (Hauptgebäude) sind entnommen dem Berichte des Bayerischen Kultusministeriums über die Hochschule zu Nürnberg. 2 ) Gesamtkosten der Hochschule Darmstadt: 6 079 790 Mk. Die Anlagen der Jüdischen Hochschule sind auf 1 500 Studierende berechnet. Frequenz der Hochschule Zürich 1007. Frequenz der Hochschule Darmstadt 1512. Die Angaben über Frequenz beziehen sich auf das Studienjahr 1901/02 und sind den offiziellen Berichten der Hochschulen entnommen. Aus g a be n.

Ordentlicher Jahresetat der Hochschule. a) Beamtung und Verwaltung b) Besoldung der Lehrer c) Sammlung und wissenschaftliche Anstalten Unterhaltung des Mobiliars Unvorhergesehenes

120 000 Mk. 450 000 ” 150 000 ” 10 000 ” 5 000 ” Summa

735 000 Mk.

Ei nna hm en.

Schulgelder und Gebühren

100 000 Mk.

Der notwendige jährliche Zuschuss muss also rund 635 000 Mk. betragen.

2.

[Anmerkung der Verfasser:] »XXXIII. Landtagsversammlung. II. Session 1901/02, Kammer der Abgeordneten. Beilage 659.«

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Vergleichende Ziffern. Anmer ku ng . Zum Vergleich seien hier die Zahlen für die ordentlichen Jahresetats der folgenden Hochschulen wiedergegeben:

Heidelberg

Etat 926 000

Freiburg i. Br. 766 000 Karlsruhe 569 000 Darmstadt Zürich München 560 000

Einnahmen ? ? ? 345 650 675 760

Ausgaben 309 000 (wichtigste Ausgabe) 262 000 192 000 581 900 643 670

Pers o nal: 60 besoldete Professoren. 25 Hilfslehrer und Assistenten. 50 Privatdocenten. 20 Kanzleipersonal, Abwarte etc. Der vorliegende Entwurf ist für eine Hochschule berechnet, welche den weitesten Anforderungen, die an eine moderne hohe Lehranstalt gestellt werden können, entsprechen soll. Als Muster bei der Aufstellung des Entwurfes dienten die im grossen Stile eingerichteten Hochschulen Zürich und Darmstadt sowie die Universität Freiburg i. Br. Zum Schluss sollen noch die Ziffern für eine Hochschule kleineren Stils angeführt werden, nach Muster der neuen Hochschule Nürnberg. Bau incl. Platz Innere Einrichtung

3 000 000 Mk. 1 000 000 ” Summa

4 000 000 Mk.

Jahresetat: 250 000 bis 300 000 Mk. 3 Frequenz: 1000 Studierende. GENF-LEYSIN, im Juli 1902. 3.

[Anmerkung der Verfasser:] Diese Zahlen sind dem früher citierten Berichte des Königlich-Bayerischen Ministeriums entnommen.

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Kommentar Vor Sonnenaufgang

Druckvorlage: Jüdischer Volkskalender für das Jahr 5661 (1900-1901), M. W. Kaufmann: Leipzig 1900, S. 1-3. MBB 5. Wiederabgedruckt in: Jüdische Rundschau, 14. Jg., Heft 14/15, 2. April 1909, S. 165. Die hier von Buber dramatisch ausgestaltete Talmudpassage gehört dort in die halachische Diskussion über den Begriff »Zwischenzeit«, der für rituelle Fragen von Bedeutung ist. Strittig ist, ob die Zwischenzeit zur Nacht oder zum Tage gehört, bzw. ob die Morgendämmerung Teil des Tages ist. Der Originaltext lautet: »Eine Begebenheit: R. Chijja Rabba und R. Schimon b. Chalaphta be Rabbi gingen einst am frühen Morgen im Arbeltal; da sahen sie, wie die Morgenröte (allmählich) ihre Strahlen aussandte. Daraufhin sagte R. Chijja Rabba zu R. Schimon b. Chalaphta be Rabbi: So (= in dieser Weise) wird die Erlösung Israels vor sich gehen: zuerst langsam; je mehr sie aber fortschreiten wird, desto größere Dimensionen wird sie annehmen. Womit ist dies begründet? (Es heißt): Wenn ich in der Finsternis sitze, ist der Herr mein Licht [Mi 7,8]. 1

Buber ist nicht an der halachischen Diskussion als solcher interessiert, sondern nur an der messianischen Aussage dieses Textes. Die Metapher der »allmählichen Morgenröte«, die er hier mit großem literarischen Aufwand unter Einarbeitung eines Psalmen- und eines Prophetenzitates ausgestaltet, war in der späten Haskalah und im Frühzionismus Osteuropas besonders beliebt. Vor allem Achad Haam, dem Buber sich in jener Zeit annäherte, machte die behutsame, stufenweise Vorbereitung des zionistischen Werks, im Gegensatz zum »aktionistischen« Vorgehen Theodor Herzls, zu einer seiner Hauptforderungen. Obwohl Buber diesen Kontext auch anklingen läßt, steht weniger dieser Aspekt der Allmählichkeit als vielmehr die Hoffnung auf die Erlösung im Mittelpunkt. Seine Auslegung endet in dem Appell, sich aus dem »Bann der Nacht« aufzuraffen. Er spricht sogar von »Sturm«, »Kampf« und »Siegeslust« und steigert sich schließlich zu dem nietzscheanischen Appell: »Selbst müssen wir den Sonnenaufgang wollen und unseren Willen in Tat umsetzen!« Damit erhält der Text einen in der rabbinischen Vorlage nicht intendierten neuen, man könnte sagen anthropozentrischen, Focus: die große Bedeutung des Menschen, vor allem des menschlichen Willens bei der Herbeiführung der Erlösung. 2 1. 2.

Der Jerusalemer Talmud in deutscher Übersetzung, Bd. I, Berakhoth, S. 10. Vgl. die Interpretation dieses Textes (nach der Version im Midrasch schir ha-schirim

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»Vor Sonnenaufgang« ist ein frühes Beispiel für Bubers Umgang mit traditionellen Texten, dem wir später vor allem in der Bearbeitung der chassidischen Texte wiederbegegnen.3 J[izchak] L[eib] Perez – Ein Wort zu seinem fünfundzwanzigjährigen Schriftsteller-Jubiläum

Druckvorlage: Die Welt, 5. Jg., Nr. 18, 3. Mai 1901, S. 9. MBB 16. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 28-29. Diese Hommage an Perez bietet keine literarische Analyse, sie ist ein emotionales Bekenntnis. So, wie die Künstler die in Worpswede verborgene Schönheit aufdeckten und den Menschen zeigten, so hat für Buber Perez in seinem schriftstellerischen Wirken das jüdische Volksleben neu belebt und gezeigt, »wie wunderschön es ist in seinem Elend und seinem sehnsüchtigen Ringen«. Dafür dankt Buber ihm hier als »junger« Zionist. 4 Aus dem Munde der Bibel

Druckvorlage: Die Welt, 5. Jg., Nr. 37, 13. September 1901, S. 9-10. MBB 10. Im Anschluß an die Buchvorstellung sind die Gedichte »BethEl« und »Jeremias« aus der Gedichtsammlung abgedruckt. Wie die ausführliche Besprechung »Zwei Bücher nordischer Frauen« im ersten Band der MBW 5 zeigt, brachte Buber literarischen Werken von Frauen besondere Aufmerksamkeit entgegen. Dies mag damit zusammenhängen, daß Bubers Ehefrau Paula Winkler unter dem Pseudonym Georg Munk selbst schriftstellerisch hervortrat. 6 Dem kreativen Werk seiner Frau stand Buber mit Respekt, wenn nicht Ehrfurcht gegenüber. Auch bei Maria Janitschek (1859-1927), die heute vornehmlich wegen ihrer frauenemanzipatorischen Anstöße wiederentdeckt wird, 7 beeindruckte ihn die besondere weibliche Intuition, die sie in seinen Augen über so bekannte Dichter wie Lord Byron (1788-1824) und den um die Jahrhundertwende hoch gefeierten Börries von Münchhausen (1874-1945) hin-

3. 4. 5. 6. 7.

rabba) bei G. Scholem, Das Verständnis der messianischen Idee, S. 25. Scholem hebt hervor, daß die Erlösung in diesem Text allein von Gott ausgeht. Vgl. die Einleitung in diesem Band, S. 16 f. Vgl. auch die Einleitung in diesem Band, S. 17 f. MBW 1, S. 161-167. Vgl. dazu die Einleitung von G. Schaeder, M. Buber, B I, S. 34-40. Zumeist werden Janitscheks Roman Amazonenschlacht (1897), die Novellensammlung Die neue Eva (1902) und ihr frühes Gedicht »Ein modernes Weib»(1889) als Beleg für die frauenemanzipatorische Vorreiterrolle angeführt.

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aushob. Maria Janitschek fühlte sich Buber besonders wegen ihrer Hinwendung zu biblischen Themen verbunden, denn diese bewies ihm, daß die Dichterin »die heimliche Krone auf dem Haupte unseres Volkes« 8 – d. h. die Erwählung – sah. Darüberhinaus aber reflektieren einzelne ihrer Gedichte den Zusammenhang zwischen Land und Volk, ein Thema, das Buber in seiner Auseinandersetzung mit der zionistischen Idee umtrieb, das er aber in seiner frühen Zeit noch nicht bewältigte. 9 J[izchak] L[eib] Perez

Druckvorlage: Jüdischer Nationalkalender auf das Jahr 5676 (1915-1916), R. Löwit Verlag: Wien 1915, S. 80-83. MBB 152. Gleichzeitig veröffentlicht unter dem Titel »Zum Gedächtnis« als Geleitwort zu Hugo Zuckermanns (1881-1914) Übersetzung von Perez 1907 veröffentlichtem dramatischen Gedicht »Bay nakht oyfn altn mark«: Die Nacht auf dem alten Markt, R. Löwit: Wien 1915, S. I-VIII, MBB 155. Aufgenommen in: JB I, S. 244-249, mit dem Untertitel: Aus dem Geleitwort zu Hugo Zuckermanns, des im Krieg Gefallenen, Übertragung von J. L. Perez’, des während des Krieges Gestorbenen, dramatischem Gedicht »Die Nacht auf dem alten Markt«. Die gleichzeitige Veröffentlichung dieses Textes an zwei Orten erklärt sich aus der Aktualität des Anlasses, dem Tod J. L. Perez am 3. April 1915. Entgegen der auch von K. Frieden konstatierten Vielseitigkeit bzw. fehlenden Linie von Perez’ Oeuvre 10 versucht Buber hier, das Werk Perez unter drei Hauptkategorien einzuordnen und dessen Protagonisten auf drei Grundtypen zu reduzieren: den duldenden, den grübelnden und den singenden Juden. Bis auf die Erwähnung des »meshuggenen Batlen«, des verrückten Müßiggängers, als Prototyp des »grübelnden Juden« verzichtet Buber darauf, auf konkrete Beispiele aus dem Werk Perez zu verweisen. Dadurch erhält diese Vorstellung Perez einen stark generalisierenden Zug. M. J. Berdyczewski (1865-1921) reagierte in seinem Brief vom 29. März 1917 entsprechend kritisch, wenn er schreibt: »Meines Erachtens war Peretz ein moderner Novellendichter, wie ihn jede Literatur aufzuweisen hat. Wie er aber mit dem Knecht Jahves, mit Hiob und David in Zusammenhang gebracht werden kann, geht, offengestanden, über meinen Verstand […] Sie verzeihen, Sie als Herausgeber einer jüdischen Zeitschrift in einer Zeit, wo 8. Siehe den Text in diesem Band, S. 57 f. 9. Vgl. dazu die Einleitung in diesem Band, S. 50. 10. Vgl. K. Frieden, Classic Yiddish Fiction, S. 251-253; siehe auch R. Wisse, J. L. Peretz, S. 93 ff.

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die Not am größten ist, sollten klarer die Wirklichkeit sehen und nicht mit Verheißungen kommen, die niemand von uns verantworten kann.« 11

Diese Kritik richtet sich auch gegen den pathetischen letzten Absatz, in dem Buber auf die Kriegssituation Bezug nimmt und die Kämpfer für Zion, die jüdischen Soldaten dieses Weltkrieges, verherrlicht. 12 Über Agnon

Druckvorlage: Treue – Eine jüdische Sammelschrift, hrsg. von Leo Herrmann, Jüdischer Verlag: Berlin 1916, S. 59. MBB 169. Die Unterschrift lautet: Heppenheim an der Bergstraße, 25. März 1916. Wiederabdruck in: JB I, S. 425. Die literarische Sammelschrift Treue wurde 1916 für junge Zionisten im Felde herausgegeben und enthielt u. a. mehrere Erzählungen von Agnon in deutscher Übersetzung. Der verantwortliche Redakteur, Leo Herrmann, hatte Buber gebeten, für diese Erzählungen einen Vorspann zu verfassen, da Agnon zu jener Zeit noch ein nur Wenigen bekannter Schriftsteller war. 13 Von jüdischen Dichtern und Erzählern

Druckvorlage: Jüdischer Nationalkalender auf das Jahr 5677 (1916-1917), 2. Jg., Verlag der Jüdischen Zeitung: Wien 1916, S. 119-123. MBB 171. Wie im vorausgehenden Text zu Perez 14 verweist Buber hier erneut auf das Grundmotiv von Perez Werk: das tragische Paradox, mit dem der Jude in der Neuzeit konfrontiert ist, den Widerspruch zwischen göttlicher Wahrheit und geschichtlicher Wirklichkeit. Nur die Religiosität – soweit sie noch vorhanden war – vermochte es nach Buber, dieses Paradox zu überwinden, die Sprache war dazu noch nicht imstande. Jedoch sieht Buber in der im Ostjudentum im Laufe des Jahrhunderts hervorgebrachten jiddischen Erzählliteratur sowie in der gleichzeitigen hebräischen Dichtung eine Neuentstehung von Sprache. Beiden Sprachen weist er bei diesem Erneuerungsprozeß unterschiedliche, aber gleichwertige Funktionen zu: Das Hebräische verleiht dem »Pathos des Widerspruchs, der Klage, der Sehnsucht, des Kampfes, des Aufbaus« eine Stimme und wird zum

11. 12. 13. 14.

M. Buber, B I, S. 489. Vgl. dazu die Einleitung in diesem Band, S. 38, Anm. 113. Siehe auch die Einleitung in diesem Band, S. 18. In diesem Band, S. 59-61.

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Sprachrohr des »schöpferischen Wunsches«. Das Jiddische dagegen bringt das »vielfältige Kleingetriebe der Wirklichkeit« zu Gehör. Perez, der »Dolmetsch einer stummen Seele«15 des Ostjudentums, schöpfte aus beiden Quellen. Er veröffentlichte sowohl in Hebräisch wie in Jiddisch, übersetzte ständig von einer in die andere, ließ beide Sprachen in Dialog miteinander treten. 16 Dabei war er auch gegenüber der europäischen Literatur aufgeschlossen. Es ist daher kaum verwunderlich, daß Buber sich bei seinem am Ende des Textes angestellten Vergleich mit den beiden anderen Klassikern der ostjüdischen Literatur, S. Y. Abramowitsch, besser bekannt als Mendele (1835-1917), und Scholem Alechem (1859-1916), klar zu Perez bekennt.17 Für ihn war Perez der größte, der »Dichter der Seelen«. Bubers Offenheit gegenüber dem gleichzeitigen Wirken und der Bedeutung des Jiddischen wie des Hebräischen ist bemerkenswert und unterscheidet ihn von vielen Zionisten seiner Zeit, die in ihrer Mehrzahl zu radikalen Vorkämpfern für die hebräische Sprache geworden waren. 18 Der Dichter und die Nation

Druckvorlage: Jüdische Rundschau, 27. Jg, Heft 103/104, 29. Dezember 1922, S. 671. MBB 272. Wiederabdruck in: JuJ, S. 809. Die Ankunft des verehrten Nationaldichters Chaim Nachman Bialik im Jahr 1921 in Berlin gab den Kulturzionisten und noch mehr den Berliner Hebraistenkreisen großen Auftrieb. 19 Diese Hommage Bubers gehört in den Kontext der Feierlichkeiten zu Bialiks fünfzigstem Geburtstag am 17. Januar 1923, der mit großem Aufwand in der Berliner Philharmonie begangen wurde. 20 »Kraft«, »Weg« und »Richtung« sind Schlüsselbegriffe Bubers in jenen Jahren und verweisen auf die Art der Hilfe, die Buber für das als »krank« und »gefährdet« analysierte jüdische Volk anstrebte.

15. In diesem Band, S. 63. 16. Vgl. dazu K. Frieden, Classic Jiddish Fiction, S. 308-309. 17. Alle drei waren in den Jahren 1915-1917 gestorben (Perez 1915, Scholem Alechem 1916, Abramowitsch 1917). 18. Gershom Scholems Eintreten für das Hebräische ist allgemein bekannt. Zu Jakob Klatzkins radikalem Hebraismus z. B. siehe die Ausführungen A. Biemanns in MBW 6, S. 157-159. 19. Vgl. M. Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, S. 218. 20. Ebd.

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Vorwort [für E. E. Rappeport]

Druckvorlage: Elijahu Rappeport, Loblieder, Köln: Marcan-Block-Verlag 1923, S. 5. MBB 289. Bubers Beziehung zu E. E. Rappeport ist in der Einleitung beschrieben.21 Rappeport kommentierte dieses Vorwort mit Brief vom 5. Februar 1923 wie folgt: »Das Buch ›Loblieder‹ erhielt ich gerade zu meinem Geburtstag. Es ist in seiner Ausstattung sehr schön. Nur hatte ich ein wenig das Gefühl, ich wäre schon lange gestorben, als ich das ›einst Mathematiker‹ las und noch mehr in der Verlagsanzeige das ›tiefe Verbundensein mit Gott in Pappe, Leinen und Glanzleder‹. […]« 22

Antworten Martin Bubers auf eine Tendenzrundfrage des Berliner »Vereins Jüdischer Studenten« im Wintersemester 1900/1901

Druckvorlage: Der Jüdische Student, 8. Jg., Heft 1, 20. April 1911, S. 10 (nicht in MBB verzeichnet). Während seiner Berliner Studienzeit vom Wintersemester 1899/1900 bis zum Wintersemester 1900/1901 gehörte Buber zum Verein Jüdischer Studenten, dessen zionistische Ausrichtung noch wenig ausgeprägt war und den die Zionistische Organisation stark unterstützte. 23 Nach seiner Umwandlung in den Bund Jüdischer Corporationen (BJC) brachte dieser im April 1902 die einflußreiche Zeitung Der Jüdische Student heraus, in der 1911 diese Rundfrage veröffentlicht wurde. Gegenwartsarbeit

Druckvorlage: Die Welt, 5. Jg., Nr. 6, 8. Februar 1901, S. 4-5. MBB 15. Wiederabgedruckt in: JB I, S. 17-22. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 23-26. In diesem Artikel drückt sich Bubers wachsendes Unbehagen an der Entwicklung der Zionistischen Organisation und das Bestreben, der zionistischen Bewegung eine andere Richtung zu geben, aus. Im Winter 1900/ 1901 hatte Buber, quasi als Auftakt, in Berlin innerhalb der Berliner Zionistischen Vereinigung eine Sektion für Kunst und Wissenschaft gegrün-

21. In diesem Band, S. 19. 22. Rappeport an MB, 5. Februar 1923, M. Buber, B II, S. 157. 23. Vgl. dazu Y. Eloni, Zionismus in Deutschland, S. 412-414; siehe auch B. Schäfer, Berliner Zionistenkreise, S. 32-33.

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det. Der vorliegende Artikel kritisiert noch vorsichtig die mangelnde Beachtung der »Kulturfrage«, die dann auf dem Fünften Zionistenkongreß von der sogenannten »Demokratischen Fraktion« so forciert wurde. 25 Buber schloß sich der im Laufe des Jahres 1901 entstandenen ersten organisierten Oppositionsbewegung innerhalb des Zionismus an, in der Chaim Weizmann und Leo Motzkin die Wortführer waren. Im Gegensatz zur zionistischen Führung waren diese der Meinung, das eigentliche Potential der zionistischen Bewegung liege bei den Intellektuellen, der Jugend und den Volksmassen. Darum fordert Buber hier ein »exceptionelles Programm […] einer grossen und radicalen Volkserziehung« 26 . »Es soll den Zionismus erweitern, indem es alle geistigen Factoren der Wiedergeburt vereinigt, und es soll ihn zugleich vertiefen, indem es von dem starren und oberflächlichen Formelkram der Agitation zu einer innig lebendigen Erfassung des Volksthums und der Volksarbeit führt.« 27 Die »Jungen« wollten selbst das Profil des Zionismus mitgestalten, vor allem opponierten sie gegen Herzls Umwerbung der Orthodoxie, weil diese jeden Vorstoß auf dem Gebiet der Erziehung vehement bekämpfte. Mit der politischen Diskussion um den Begriff »Gegenwartsarbeit«, bei der es um die Frage geht, ob die zionistische Arbeit nur in Palästina sinnvoll wäre oder vielmehr wesentlich auch in der Diaspora stattfinden sollte, hat dieser Artikel wenig zu tun. 28 Buber bewegt sich hier noch ausschließlich im kulturzionistischen Bereich. Eine Section für jüdische Kunst und Wissenschaft

Druckvorlage: Die Welt, 5. Jg., Nr. 13, 29. März 1901, S. 9. MBB 26. Diese ›Richtigstellung‹ birgt deutliche Anzeichen einer aufkommenden Opposition gegen die zionistische Leitung, was insbesondere an der Bezeichnung »reichsunmittelbar« klar wird. Die Neugründung einer »Section für jüdische Kunst und Wissenschaft« ist nicht nur der Ausdruck einer aufkommenden kulturellen Neuorientierung, sondern wollte auch die organisatorischen Vorgaben unterlaufen, indem sie »nicht an die Partei, sondern an die große Bewegung« 29 anknüpft.

24. 25. 26. 27. 28.

H. Kohn, Martin Buber, S. 38-39 und siehe in diesem Band, S. 74. Zum Hintergrund siehe die Einleitung in diesem Band, S. 20, besonders Anm. 29. In diesem Band, S. 72. In diesem Band, S. 73. Vgl. zur Bedeutung der »Gegenwartsarbeit« das drittte Kapitel in Sh. Almogs, Zionism and History: A Future Oriented Present, S. 177-237. 29. In diesem Band, S. 74.

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Das Zion der jüdischen Frau

Druckvorlage: Die Welt, 5. Jg., Nr. 17, 26. April 1901, S. 3-5. MBB 32. Aufgenommen in: JB I, S. 28-38, Teilabdruck in: Jüdische Rundschau, 39. Jg., Nr. 13, 13. Februar 1934, S. 5 unter dem Titel »Was kann die Frau für die Erneuerung des Judentums tun?«. MBB 511. Buber hielt diesen Vortrag am 21. April 1901 in Wien vor dem Verein jüdischer Mädchen Hadassah. 30 Zu dieser Zeit 23 Jahre alt, zeigt er sich hier noch in allen hergebrachten Klischees über die jüdische Frau befangen und läßt keinerlei Kontakt, geschweige denn Auseinandersetzung mit der beginnenden Frauenbewegung erkennen. Buber spricht der Frau jede geistige Kreativität ab und reduziert sie auf die heroische Dulderin, die im Hintergrund wirkt: »Denn Culturideen finden und theoretisch entwickeln mag der Mann, sie verwirklichen, lebendige fortwirkende Cultur schaffen kann nur die Frau.« 31 Dies ist insofern nicht verwunderlich, als die gesellschaftspolitischen Implikationen der Frauenfrage Buber nicht interessierten. Er hat zwar der Frauenliteratur viel Beachtung zukommen lassen, wie u. a. aus seinen Buchbesprechungen hervorgeht, 32 zur Frauenfrage als solche hat er sich aber nicht weiter geäußert. Wenn er diesen Beitrag 1934 teilweise wiederveröffentlicht hat, kann man davon ausgehen, daß er in dieser Frage seine Ansichten nicht geändert hat. Der Beitrag Die jüdische Frau 33 von Paula Winkler, Bubers Lebensgefährtin und Ehefrau, spiegelt wenige Monate später am selben Ort genau dieselbe Perspektive wider und kann als Produkt intensiven wechselseitigen Austausches gelten. Die Frage, wer wessen Gedanken aufnimmt, muß dabei offen bleiben. Zwei Sprüche vom Juden-Mai

Druckvorlage: Die Welt, 5. Jg., Nr. 20, 17. Mai 1901, S. 9-10. MBB 34. Diese Frühlingsbotschaft an die »Nüchternen« und »Zwiespältigen«, an die »Halben« und »Seelengeizhälse«, die »Kalten« und die »Lauen« ist tatsächlich eine Predigt, die zwei Sprüche aus den angezeigten Historienliedern zum Ausgangspunkt nimmt. Angesprochen sind potentielle und organisierte Zionisten, die Buber von der Vitalität der neuen Bewegung überzeugen möchte. 30. 31. 32. 33.

Die Welt, 5. Jg., Nr. 16, 19. April 1901, S. 12. In diesem Band, S. 81. Siehe z. B. in diesem Band »Aus dem Munde der Bibel«, S. 57-58. Die Welt, 5. Jg., Nr. 45, 8. November 1901, S. 2-4.

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Bergfeuer. Zum fünften Congresse

Druckvorlage: Die Welt, 5. Jg., Nr. 35, 30. August 1901, S. 2-3. MBB 11. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 13-17. Diese Nummer der Welt war die letzte von Berthold Feiwel verantwortete Ausgabe, bevor Buber am 1. September hauptverantwortlicher Redakteur wurde. Die Verhandlungen mit Theodor Herzl über Bubers Gestaltungsspielraum waren in freundschaftlichem Übereinkommen abgeschlossen. 34 Getreu seinem Versprechen, Parteiliches über literarischen Bestrebungen nicht zu vernachlässigen, 35 macht Buber hier mit großer rhetorischer Emphase Propaganda für den Fünften Kongreß, spricht gar von der »Hoheit des Congresses«. Die Congresstribüne

Druckvorlage: Die Welt, 5. Jg., Nr. 36, 6. September 1901, S. 1-2. MBB 12. Dieser Vorstoß, Die Welt journalistisch umzugestalten und ein Forum zur Erörterung von Grundfragen des Zionismus zu schaffen, ist Ausdruck von Hoffnung und Ambitionen, die Buber mit seiner neuen Tätigkeit als Chefredakteur verband. Da er jedoch die Redaktion nach vier Monaten wieder niederlegte, konnte er keine nachhaltigen Veränderungen bewirken. Erst im 1916 gegründeten Der Jude gelang es Buber, ein solches niveauvolles Forum anzubieten, wo jeder, »der etwas Ganzes und Echtes zu sagen hat«, 36 zu Worte kommen konnte. Wir hoffen, dass es wahr ist

Druckvorlage: Die Welt, 5. Jg., Nr. 45, 8. November 1901, S. 1-2. MBB 31. Dies ist eine der seltenen Polemiken Bubers aus seiner kurzen Zeit als Redakteur der Welt (1. September bis Ende Dezember 1901), die als solche wie auch im Stil untypisch für ihn ist und eher an die Rhetorik Herzls erinnert. Ganz besonders der ironische Unterton ist ein Buber sonst fremdes Stilelement.

34. Vgl. die Briefe Nr. 16 bis 20 in M. Buber, B I, S. 159-163. 35. Buber an Herzl, 15. August 1901, M. Buber, B I, S. 162. 36. Oben im Text, S. 89.

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Wege zum Zionismus

Druckvorlage: Die Welt, 5. Jg., Nr. 51, 20. Dezember 1901, S. 5-6. MBB 29. Aufgenommen in: JB I, S. 39-44. Übersetzung ins Polnische 1902: MBB 38; englische Übersetzung in: The First Buber, S. 105-109. »Herrlich waren Ihre Wege zum Zionismus« schreibt Herzl in einem Post Scriptum zu seinem Brief an Buber vom 20. Dezember 1901.37 In der Tat zeigt sich Buber hier in großer Übereinstimmung mit Herzl, die dann allerdings auf dem wenig später stattfindenden Fünften Zionistenkongreß vom 26. bis 30. Dezember desselben Jahres in Basel in die Brüche gehen sollte. 38 Bubers Analyse ist weitherzig und tolerant. Als Träger des wahren Zionismus identifiziert er das jüdische Volk. Das waren auch Herzls Worte im Judenstaat. 39 Aber auch hier mischt sich die aesthetisierende Grundhaltung unter, die Bubers frühe Beiträge kennzeichnet, wenn er am Ende schreibt: »Das Volk ist jenes Material unserer Bildhauerei«. 40 Die zwei abschließenden Sätze mystifizieren diese Aussage weiter, indem sie die Menschen nicht etwa als das zu bearbeitende Material hinstellen sondern als Träger des marmorgleichen Leuchtens. »Von diesem Leuchten geht die Hoffnung aus«. 41 Diese Hoffnung ist die Voraussetzung des Schaffens. Wenn man davon ausgeht, daß »Schöpfung und Gestaltung« den Angelpunkt bildeten, um den Bubers Denken kreist, 42 hat er damit seinen interpretatorischen Kreis, mit dem er sich von allen anderen Zionismusinterpreten unterscheidet, wieder geschlossen, und die Übereinstimmung mit Herzl ist nur partiell. Ein Wort zum fünften Congreß

Druckvorlage: Jüdische Volksstimme, 2. Jg., Heft 24, 15. Januar 1902 und 3. Jg., Heft 2, 15. Februar 1902, jeweils S. 2-3. MBB 46. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 88-100. Diese Schilderung des Verlaufs und der Bedeutung des Fünften Zionistenkongresses aus Bubers Sicht will vor allem die Rolle der neugebildeten Demokratischen Fraktion hervorheben.43 Der Vergleich mit dem vor dem Kongreß verfaßten »Bergfeuer. Zum fünften Congresse« 44 gibt 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44.

T. Herzl, BuT, Bd. 6, S. 387. Siehe dazu die Einleitung in diesem Band, S. 20. »Wir sind ein Volk. Ein Volk.«, T. Herzl, Der Judenstaat, S. 11. In diesem Band, S. 94. Ebd. G. Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums, S. 161. Siehe dazu die Einleitung in diesem Band, S. 23-25. In diesem Band, S. 84-87.

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Aufschluß über die in den dazwischenliegenden Monaten durchgemachte Profilierung als Kulturzionist. Nach der Niederlegung der Redaktion steht nun Die Welt nicht mehr zur Verfügung, und Buber muß sich ein neues Forum suchen. Dem Artikel läßt sich der oppositionelle Geist, aber auch der Stolz auf die Errungenschaften der neuen Gruppierung ablesen. Theodor Herzl

Druckvorlage: Freistatt, 6. Jg., Heft 29, 23. Juli 1904, S. 593-596. MBB 61. Wiederabgedruckt in: JB I, S. 138-152; JuJ, S. 775-782. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 146-153. Dieser ausgewogene und feinsinnige Nachruf in der Münchener Zeitschrift Freistatt war für ein weites, gebildetes deutsches Lesepublikum gedacht. Er übergeht Bubers eigene Vorbehalte gegenüber der Führungsweise Herzls mit Schweigen, erwähnt daher auch Herzls Roman Altneuland gar nicht. Im Gegensatz zu dem bald darauf veröffentlichten Nachruf in Ost und West, der im Anschluß an diesen Text wiedergegeben ist, zeichnet Buber hier ein repräsentatives Bild des Verstorbenen für die Außenwelt. Herzl und die Historie

Druckvorlage: Ost und West, 4. Jg., Nr. 8-9, August/September 1904, Sp. 583-594. MBB 60. Aufgenommen in: JB I, S. 153-174; JuJ S. 783794. Übersetzungen ins Hebräische 1926: MBB 333; ins Englische 1929: MBB 388 und in: The First Buber, S. 154-164. Anders als der vorangehende Beitrag »Theodor Herzl« in Freistatt ist diese Herzl-Analyse für das zionistische Publikum gedacht, denn sie will Herzls »Bedeutung in der jüdischen Bewegung« 45 erheben. Dabei macht Buber es sich nicht leicht und kommt zu sehr viel tiefgründigeren Einsichten als viele seiner zionistischen Zeitgenossen. Schon zu diesem Zeitpunkt erkennt er z. B., was sich erst nach Generationen bewahrheiten sollte: »Seine grösste Tat ist die, die er nicht mit seinem Willen gewirkt hat: dass er diesem Volk ein Bild gab«. 46 Aber die Nachwirkungen seiner letzten Auseinandersetzung mit Herzl halten ihn noch gefangen, so daß er seine Kritik an Herzl in Formulierungen ausdrückt, die seinerzeit Befremden und sogar Empörung hervorrie45. In diesem Band, S. 115. 46. In diesem Band, S. 125.

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fen und als pietätlos empfunden wurden. Der nachfolgende Beitrag »Zur Aufklärung« ist der Versuch Bubers, öffentlich auf diese Angriffe zu antworten. Zur Aufklärung

Druckvorlage: Jüdische Rundschau, 9. Jg., Nr. 48, 2. Dezember 1904, S. 417-418. MBB 62. Diese öffentliche Replique ist ein Beispiel dafür, wie Buber versuchte, den durch seinen Herzl-Nachruf »Herzl und die Historie« 47 hervorgerufenen Groll unter Zionisten zu besänftigen. Er bemüht sich klarzustellen, daß seine Analyse frei von persönlichen Ressentiments sei und weist die erhobenen Vorwürfe als Unterstellungen und Mißverständnisse zurück, nimmt jedoch ein »subjektives Apriori, gegen das man nicht ankämpfen kann«48 für sich in Anspruch. Er und Wir

Druckvorlage: Die Welt, 14. Jg., Nr. 20, 20. Mai 1910, S. 445-446. MBB 104. Aufgenommen in: JB I, S. 196-204; JuJ, S. 795-799. Übersetzungen ins Hebräische 1914: MBB 145a; ins Englische: The First Buber, S. 166171. Dem Gedenkheft der Welt zu Herzls 50. Geburtstag, das Bubers Beitrag eröffnet, ist folgender Prolog vorangestellt: »Was Herzl uns, was er dem jüdischen Volke gewesen, das zu zeigen soll der Zweck dieser Gedenkschrift sein. Ich will an dieser Stelle nur die schönste der rein menschlichen Lehren, die er uns gegeben, hervorheben: ›Kein Amt ist beglückender als das eines Dieners am Licht.‹ 49 David Wolffsohn«50

Gegenüber den früheren Äußerungen Bubers über Herzl spiegelt dieser Artikel den Durchbruch zu einer neuen Lebensauffassung wider, in deren Zentrum »die Deutung und Lenkung der zwischenmenschlichen Beziehungen und ihrer seelischen Struktur« 51 stand. Sie fand ihren stärksten Ausdruck in Bubers großem Editionsprojekt Die Gesellschaft. 52 47. 48. 49. 50. 51. 52.

In diesem Band, S. 115-125. In diesem Band, S. 127. Vgl. zu diesem Ausspruch Herzls oben, S. 116, Anm. 5. David Wolffsohn (1856-1914). Hans Kohn, Martin Buber, S. 89. Vgl. dazu P. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 111-119; siehe auch M. Treml, MBW 1, S. 51-52.

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Die Streichung der geradezu hymnischen letzten Zeilen des Erstdrucks in JuJ (in JB I sind sie noch vorhanden) läßt vermuten, daß Buber sie im Rückblick wohl für überschwenglich gehalten hat. Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform

Erstdruck. Druckvorlage: maschinenschriftliches Typoskript, wohl auf der Basis einer stenografischen Mitschrift von Unbekannt übertragen, undatiert, MBA Jüdische National- und Universitätsbibliothek Jerusalem, Arc. Ms. Var. 350/vav 28 (nicht in MBB). Unter dem Titel folgt die Erklärung: Vortrag gehalten am 2. Mai 1914 im Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Der Vortrag hat einen spürbar intimen Charakter. Gemäß dem einleitenden Absatz ist er nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Der Stil ist schlicht, direkt, hat keine rhetorischen Höhepunkte, ist auch nicht für ein Lesepublikum redigiert. Er offenbart somit einen wenig bekannten Buber. Der Titel richtet sich, wie am Ende des Vortrags gesagt wird, gegen »Zionismus als [blosses] Bekenntnis«. Selten hat Buber die Grundlagen seines Zionismusverständnisses in jener Zeit so klar formuliert wie hier: An erster Stelle steht der Erwerb und Umgang mit der hebräischen Sprache. Die Anknüpfung an jüdische Geschichte und Tradition ist darüberhinaus unerläßlich. Und schließlich ist das Bekenntnis zur jüdischen Gemeinschaft unter Überwindung der Bedürfnisse nach individueller Verwirklichung gefordert. Der Weg zu diesen Zielen ist die »lebendige Arbeit«. Darunter versteht Buber das Streben nach Palästina und die damit verbundene Vorbereitung. Juedische Renaissance

Druckvorlage: Ost und West, 1. Jg., Heft 1, Januar 1901, Sp. 7-10. MBB 18. Aufgenommen in: JB I, S. 7-16. Übersetzung ins Ungarische 1911: MBB 114; englische Übersetzung in: The First Buber, S. 30-34. Bubers Renaissance-Verständnis ist in diesem frühesten Text zur Jüdischen Renaissance noch ganz in den »Völkerfrühling« eingebettet, in dem sich eine neue, internationale Schönheitskultur offenbart. Um an der neuen Entwicklung teil zu haben, ist die jüdische Selbstbesinnung die Aufgabe der Stunde. Auch das jüdische Volk sieht dann einer »Wiedergeburt« entgegen – »einer Wiedergeburt des Menschentums, einer Herrschaft der ›neuen Länder‹«. Doch müsse das jüdische Volk sich erst auf den Weg machen: »Manchen Krankheitsstoff müssen wir entfernen,

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manches Hemmnis niederzwingen, bevor wir reif sind zur Wiedergeburt des Judenvolkes, welches nur ein Teilstrom ist der neuen Renaissance.« Stärker als in den späteren Aussagen zu diesem Themenkreis 53 hebt Buber hier die jüdische Erblast hervor, die diese Wiedergeburt bedroht: Ghetto und Golus (Exilsmentalität) im Osten und Assimilation im Westen. In seiner dezidierten Negation des Exils bezeichnet er den Chassidismus sogar als »krankhafte Erscheinung«, 54 eine Sicht, die er in seiner Begegnung mit dem Chassidismus wenige Jahre später umkehren, wie er auch die anderen genannten Phänomene modifizieren sollte. Jüdische Wissenschaft

Druckvorlage: Die Welt, 5. Jg., Nr. 41 und 43, 11. und 25. Oktober 1901, jeweils S. 1-2. MBB 19. Aufgenommen in JB I, S. 45-57. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 35-41. Diese zwei Leitartikel verfaßte Buber als hauptverantwortlicher Redakteur der Welt. Buber bereitete sich zu jener Zeit auf sein erstes großes Referat (über jüdische Kunst) vor dem Fünften Zionistenkongreß vor, der vom 26.-30. Dezember 1901 in Basel stattfinden sollte und von dem er sich eine große Wende erhoffte. 55 Das Nachdenken über Jüdische Wissenschaft war Teil der Agenda der Demokratischen Fraktion. Alle Probleme, die die Definition des Faches »Judaistik/Jüdische Studien« bis heute ungelöst begleiten, werden in Bubers Ausführungen angesprochen. Er akzeptiert die Bezeichnung »jüdische Wissenschaft«, die er nicht für »ganz correct« hält, »nur aus praktischen Gründen« und diskutiert dann die Fragen: Was ist jüdische Wissenschaft?, Zu welchem Zweck und wie übt man sie aus?, Ist sie schon vorhanden?, Hat sie etwas mit dem Zionismus zu tun? und dergleichen mehr. Die heute kontroverse Frage: Wer kann sie betreiben? war für Buber irrelevant. Die Wissenschaft des Judentums war noch so jung und ungefestigt, daß es nur um ihre Konsolidierung und Förderung ging, nicht aber um ihre Zukunft. Aber ihre Grundlage stand fest für Buber: »eigentliche Wissenschaft entsteht […] aus der weitsichtigen, aber engbegrenzten Forschung des Wissens-

53. Vgl. »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus«, in diesem Band, S. 185-204, »Renaissance und Bewegung«, S. 268-274, »Kulturarbeit«, S. 276-278 und auch »Wandlung«, S. 348-349. 54. In der Fassung von 1916 ist dieser Passus gestrichen, vgl. den Textapparat, in diesem Band, S. Anm. 146. 55. Buber an Paula Buber-Winkler, 26. Dezember 1901, M. Buber, B I, S. 171.

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menschen. Pläne und Programme sind ihr nicht Fundament, sondern Giebel.«56 Auch die Frage der Interdisziplinarität, die heute in der Bezeichnung »Jüdische Studien« reklamiert wird, spricht Buber an, wenn er vom »Herauslösen und Angliedern« von relevanten Komplexen »in den verschiedenartigsten Disziplinen« an den Kern der »Wissenschaft des Judentums« spricht. Allerdings entstehe daraus noch keine selbständige wissenschaftliche Disziplin, sondern nur »ein sich fortentwickelndes Inventar des Judentums […] um zu sehen, was wir sind, was wir haben und können.«57 Im zweiten Abschnitt nennt er das so entstandene Gebilde einen »jüdischen Wissenschaftscomplex«. Obwohl fast alle heute kontroversen Fragen um dieses Fach angeschnitten werden, kann dieser Artikel dennoch nicht als ein Beitrag zur Stellung der Wissenschaft des Judentums innerhalb der Wissenschaften angesehen werden, da es Buber darum ging, den »Zusammenhang mit unseren [zionistischen] Bestrebungen klarzulegen«.58 Nachdem Teil 1 Definitionsfragen behandelt, widmet sich der zweite Abschnitt praktischen Fragen nach den übergeordneten Aspekten von »Werk« und »Hochschule«. Unter »Werk« sind kollektive wissenschaftliche Unternehmungen der geistigen jüdischen Elite zu verstehen, wie etwa die Jewish Encyclopedia, 59 während die »Hochschule« als Institution der Vermittlung der Wissenschaft dient. Hier stehen für Buber pädagogische Fragen im Vordergrund, der Forschungsgedanke als solcher bleibt dem »Werk«-Aspekt zugeordnet. Der Begriff »jüdische Akademie« ist nur kurz angerissen. Buber konzipiert sie als eine übergeordnete Institution, in der »Werk« und »Hochschule« zusammenlaufen. Gegenüber der im Anhang des vorliegenden Bandes wiedergegebenen Broschüre Eine Jüdische Hochschule 60 ist der vorliegende Text eine kleinere Vorarbeit zur Klärung der theoretischen Prämissen. Die wichtige Propagandaschrift, die hauptverantwortlich von Chaim Weizmann recherchiert und verfaßt wurde, kann zweifellos als erste Frucht des in dieser Vorklärung von Buber entworfenen »Werkes« angesehen werden.

56. 57. 58. 59. 60.

In diesem Band, S. 149. In diesem Band, S. 150. In diesem Band, S. 148. Vgl. dazu in diesem Band, S. 151, Anm. 1. In diesem Band, S. 363-391.

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Ein geistiges Centrum

Druckvorlage: Ost und West, 2. Jg., Nr. 10, Oktober 1902, Sp. 663-672. MBB 41. Aufgenommen in: JBI, S. 78-94. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 118-128. Unter Weglassung der ersten und der letzten drei Absätze bildet dieser Text mit geringfügigen redaktionellen Überarbeitungen den dritten Teil der Abhandlung »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus« aus dem Jahre 1905 mit dem Titel »Von der Kulturarbeit.« 61 Buber knüpft hier an Achad Haams großes Referat auf der Minsker Konferenz, der ersten allrussischen Zionistenkonferenz in Minsk vom 4. bis 10. September 1902, an. 62 Die in Russisch gehaltene Rede Achad Haams über die umstrittene »Kulturfrage« erschien in überarbeiteter Form unter dem Titel »techijat ha-ruach« (Wiederbelebung des Geistes) in der hebräischen Zeitschrift Haschiloach 63 und wird Buber vorgelegen haben. Während Achad Haam in seinem Minsker Referat einen Ausgleich mit der Orthodoxie suchte, um die Zionistische Organisation in Rußland zu einigen, zu stärken und möglicherweise deren ehemalige Vormachtstellung in der zionistischen Bewegung zurückzugewinnen,64 präsentiert sich Buber hier als unbelasteter »Vordenker«, frei von politischen Ambitionen. Die geistige Situation des Judentums bezeichnet er schonungslos als »arm, krankhaft, einseitig, unentwickelt«, als Teil »der großen jüdischen Volkspathologie«, deren Geistesarbeit »verzerrt, starr, krank, verschroben, wirklichkeitsfremd, unproduktiv, uneuropäisch, unmenschlich« ist. Sie zu heilen, ist die Aufgabe der Kulturarbeit. Er sieht andererseits klare Zeichen eines Neuerwachens auf allen Ebenen: »eines alten Volkes junges Jahr«. Dieses wird jedoch bedroht von »Not und Lebensenge«, d. i. die materielle Not, und »den Händen des Gesetzes«, d. i. die Cheder-Erziehung der Orthodoxie. Beiden erklärt er den »heiligen Krieg«. 65 Der »antiorthodoxe Stachel« ist ausgeprägt und, im Gegensatz zu Achad Haam, klar formuliert. Er weist Buber als Mitglied der Demokratischen Fraktion aus, deren Teilnehmer auf der Minsker Konferenz nicht mit allen Vorschlägen Achad Haams, besonders nicht mit dessen Um61. In diesem Band, S. 197-204. 62. Zur Minsker Konferenz vgl. David Vital, Zionism: The Formative Years, Oxford 1982, S. 185-204; vgl. auch S. Zipperstein, Elusive Prophet. S. 187-193. 63. Haschiloach Band X, Heft 5-6, 1902, S. 385-399. Die deutsche Übersetzung mit dem Titel »Die Renaissance des Geistes« wurde erst 1916 im zweiten Band von Achad Haams Am Scheidewege, S. 105-155, veröffentlicht. 64. Die These Zippersteins von einer beabsichtigten Spaltung (Elusive Prophet, S. 187) scheint mir zu weitgehend und unhaltbar. 65. In diesem Band, S. 163.

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werben der Orthodoxie, einverstanden waren. Trotz seines Titels, mit dem Buber das Schlagwort Achad Haams aufnimmt und seine Verbundenheit mit diesem demonstrieren will, relativiert dieser Aufsatz die Bedeutung des Geistigen Zentrums, da dieses zum gegenwärtigen Zeitpunkt »noch keine zureichende Formulierung finden«67 kann. Nicht das Geistige Zentrum, sondern Analyse und Programm der Kulturarbeit sind der eigentliche Inhalt dieses Beitrags. Buber erweist sich als scharfsichtiger und nüchterner Beobachter, der die Hindernisse sieht und sich zunächst auf machbare Projekte beschränkt. Der Begriff »Mitteilungszentren« kennzeichnet die anvisierte Vorgehensweise. Er ermöglicht die Erfassung vorhandener Ansätze, wie etwa der Jüdische Verlag in Berlin und ähnliche Gründungen in Warschau und Osteuropa, und zielt auf deren Konsolidierung und Erweiterung ab. Auch die »Jüdische Hochschule« sieht Buber als ein solches »Mitteilungszentrum«. Es handelt sich somit derzeit nicht um die Schaffung eines Geistigen Zentrums, sondern um den Ausbau existierender Zentren. Deren spätere Zusammenfassung in einem großen Zentrum, nämlich in Palästina, wird nicht ausgeschlossen, ist aber keine drängende Aufgabe. Die Mitteilungszentren sind »der erste organische Anfang eines geistigen Centrums«. 68 Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung

Druckvorlage: Juedischer Almanach 5663 (1902), Berlin, Jüdischer Verlag, S. 19-24. MBB 45. Ein Bild von L. Pasternak, Moskau, mit dem Titel »Schöpferstunde«, das einen grübelnden Mann an seinem Schreibtisch inmitten von Büchern und Papieren zeigt, ist dem Aufsatz vorangestellt. Aufgenommen in: JB I, S. 68-77. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 141-146. Stil, Sprache und Inhalt dieses Beitrags sind besonders typisch für den im Schatten Nietzsches schreibenden jungen Buber. 69 Die Äußerungen mu66. J. Reinharz, Weizmann, S. 124-125. 67. In diesem Band, S. 161. 68. Eine perfekte Parallele für diesen Aufschub des Endzieles zugunsten vorläufiger Lösungen findet sich auf politischer Ebene in Theodor Herzls Brief an Max Nordau vom 13. Juli 1903: »Wir sind die Macher der Formeln, aber nicht ihre Gefangenen. Es ist eine Opportunitätsfrage, wo wir die ersten Piloten in die Lagune rammen, wenn wir uns nur darüber klar sind, welches Haus wir auf die Lagunen setzen. […] Ich möchte nicht nur in Ost-Afrika, sondern auch in anderen Welttheilen jüdischnationale Chartered Companies errichten, lauter Nester und Kraftstationen für den Zionismus.« (Brief Nr. 4807/13. 07. 1903, T. Herzl, BuT VII, S. 208 f.) 69. Vgl. G. Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums, S. 140 f.

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ten wie eine Beschwörung der schöpferischen Potenzen des Judentums an. Die Schaffenden sind die »heimlichen Könige des Volkes«, die aber erst noch zum Zuge kommen müssen. »Die grauenhafte Pathologie zweier Jahrtausende« hat sie bisher davon abgehalten. Die Sprache strotzt von biologistischen Formulierungen, wenn Buber z. B. das Ziel als »das Fruchtbarwerden eines Volkes« 70 umschreibt, die »Schaffenden« mit den »Ganglien« 71 vergleicht, oder von der »Aufwärtsbewegung von Keimen«72 als Kennzeichen der Bewegung spricht. Einige hier klar formulierte Aussagen über sein nationales Verständnis modifizierte Buber in späterer Zeit: »Ein Volk wird nicht zusammengehalten durch sekundäre Elemente […] wie wirtschaftliche oder religiöse Gruppen!« 73 Die erhoffte Erlösung liegt »jenseits alles Glaubens und vor allem Glauben […] Er [der Glaube] lügt dem Leben und thut Deinen wogenden Sinnen Gewalt an. Aber wer seinen Gott verloren hat, mag tief verwaist sein. Auf seinem neuen Weg kann da das Volk eine erste Station werden.« 74 Buber spricht hier zweifellos von sich selbst: Die Wiederentdeckung der Nation ist die erste Station des neuen Weges, das Ziel selbst bleibt offen. Die Worte »vor allem Glauben« mögen einen Hinweis auf die Richtung enthalten. Die Negativfolie zur neuen Bewegung bildet erneut, wie schon in »Juedische Renaissance«, »die kranke, verzerrte und tyrannische Ghettokultur«. 75 Der Jude. Revue der jüdischen Moderne

Druckvorlage: erste Vorankündigung der Zeitschrift, gedruckt im Jüdischen Verlag, 1903. MBB 50. Eine zweite Vorankündigung (siehe die Anmerkung in der Buber-Cohn-Bibliographie, MBB 50) erschien noch im selben Jahr mit kleinen Textabweichungen. Letztere sind im Textapparat vermerkt. Zu den Projekten der kurzlebigen Demokratischen Fraktion gehörte neben der Jüdischen Hochschule die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift, die der Kulturfrage ein Forum schaffen sollte. Während Chaim Weizmann mit der Gründung des Büros der Jüdischen Hochschule in Genf die Hauptverantwortung für letztere übernahm, fiel Buber und dem mit 70. 71. 72. 73. 74. 75.

In diesem Band, S. 167. In diesem Band, S. 166. In diesem Band, S. 167. Ebd. Ebd. In diesem Band, S. 170.

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Weizmann eng befreundete Berthold Feiwel die Zuständigkeit für das Zeitschriftenunternehmen zu, das sie im Jüdischen Verlag in Berlin durchführen wollten. Buber hat sich in seiner kurzen Amtszeit als hauptverantwortlicher Redeakteur der Welt wichtiges Handwerkszeug dafür aneignen können. Aus organisatorischen Gründen – unter anderem wegen Geldmangels – konnte das Vorhaben seinerzeit nicht verwirklicht werden. Erst 1916 gelang es Buber, dann aber unter ganz anderen Umständen, das Projekt zu verwirklichen. 76 Was ist zu tun?

Druckvorlage: Die Jüdische Bewegung I, S. 122-137. MBB 157. Polnischer Erstdruck: »Co Czynic Nalezy? Kilka uwag do odpowiedzi mlodziezy«, Moriah, 2. Jg., Nr. 2, 1904, S. 49-57. MBB 56. Auf Polnisch wiederabgedruckt in: Moriah, 12. Jg., November 1916, S. 7-12. MBB 162. Diese Betrachtungen könnten ebenso gut den Kategorien »Jugend« (Band 8 der MBW) wie »Zionismus« in diesem Band zugeordnet werden. Die vor allem im zweiten Teil geäußerten Gedanken zu den »kulturellen« Zielen führen aber über beide hinaus und münden am Ende in dem allen frühen Essays zur Jüdischen Renaissance und Kultur zugrunde liegenden Aufruf Bubers zum Schaffen.77 Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus

Druckvorlage: Die Stimme der Wahrheit – Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus, hrsg. von Lazar Schön, 1. Jg., Würzburg: Verlag N. Philippi 1905, S. 205-217. MBB 70. Auch als Separatdruck erschienen. Erster Teil aufgenommen in: JuJ, S. 272-277. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 176-195. Der erste Teil des vorliegenden Textes, »Von der Renaissance«, ist die Überarbeitung einer 1903 geschriebenen Fassung, die Buber als ersten Teil des Beitrags »Renaissance und Bewegung« 1916 in JB I veröffentlichte. 78 Im vorliegenden Text, der eine Erweiterung des Textes von 1903 ist, werden die Abweichungen bzw. Erweiterungen gegenüber der Fassung von 1903/1916 im Textapparat angegeben. Der zweite Teil, »Von der Politik«, ist 1904 verfaßt und unter dem Titel »Zionistische Politik« als se76. Vgl. E. Lappins Kapitel »Ein gescheiterter Versuch: Metamorphosen eines Zeitschriftenprojektes der Demokratischen Fraktion (1902/1903)«, Der Jude, S. 7-17. Zur Demokratischen Fraktion siehe J. Reinharz, Chaim Weizmann, S. 70-91. 77. Vgl. dazu in diesem Band, S. 93. 78. In diesem Band, S. 268-273.

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parater Text in JB I, S. 109-121 wiederabgedruckt. Der dritte Teil, »Von der Kulturarbeit«, bietet eine überarbeitete Fassung von »Ein geistiges Centrum« von 1902.79 Die jeweiligen Textabweichungen verzeichnet der Textapparat. Bedenkt man den Erscheinungstermin bald nach dem Tod Herzls, ist es nicht abwegig, diesen Text als Manifest zu sehen, mit dem Buber einen Führungsanspruch innerhalb der Bewegung anmelden wollte, denn er bietet erstmals eine umfassende und grundsätzliche Zustandsanalyse des Zionismus und versucht, alle bisher gewonnenen Einsichten zu vereinigen. In »Von der Renaissance« bezieht sich Buber nicht mehr, wie in seinem Beitrag »Juedische Renaissance« 80 , auf den »Völkerfrühling«, sondern sucht nach den Wurzeln der Renaissance im Judentum. Gegenüber der vormals negativen Analyse der jüdischen Geschichte und Gegenwart hebt er hier die Macht der schöpferischen Kräfte im Judentum hervor, die die »Entwicklung zu einem höheren Lebensgesetze« garantierten, allen voran der Chassidismus und die Haskalah, aber auch Individuen wie Spinoza. Sie alle wirkten gegen die »Zwingherrschaft des Gesetzes«, den Rabbinismus. Buber idealisiert das Ostjudentum, das in seiner sozialen Geschlossenheit allein den Nährboden für die Jüdische Renaissance bieten konnte. Die Blüte der jiddischen Sprache und die gleichzeitige Wiederbelebung des Hebräischen seien der konkrete Ausdruck dieser Disposition. Dem habe der im Westen entstandene, primär politische Zionismus nichts entgegenzusetzen. Der Abschnitt »Von der Politik« ist der Entwurf einer neuen zionistischen Politik, in der die Kulturfrage der Leitgedanke ist. Indem er den offiziellen Zionismus als »ein humanitäres Unternehmen, das mit der jüdischen Bewegung wohl Berührungspunkte, aber keine Gemeinschaft hat« hinstellt, leitet Buber seinen Angriff auf die Zionistische Organisation ein. Die behandelten drei Momente »Propaganda«, »Verhandlungen« und »Kolonisationsarbeit« nehmen drei der im Baseler Programm formulierten Programmpunkte auf und unterdrücken den vierten: »Organisation«. 81 Die Kritik kulminiert in der Feststellung: »Unsere junge Bewegung ist allzu früh Partei geworden. Sie begann mit den Mächten zu paktieren, bevor sie selbst eine Macht war […] Zion ist heute nicht, was 79. In diesem Band, S. 155-165. 80. Oben, S. 143-147. 81. Im Baseler Programm heißt dieser Punkt: »2. Die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen.« Vgl. Protokoll des I. Zionistenkongresses, S. 114.

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es sein soll: die Losung der reinen, heiligen sich nicht umsehenden Freiheit«. 82 Der dritte Abschnitt »Von der Kulturarbeit« nimmt fast wörtlich den Hauptteil des Textes von »Ein geistiges Centrum« 83 auf, redigiert ihn nur im Hinblick auf den Kontext. Die Bezüge auf Achad Haam und das Geistige Zentrum sind weggelassen und die einleitenden und abschließenden Paragraphen entsprechend umformuliert. In diese Zeit fällt Bubers Rückzug vom zionistischen Engagement und die Hinwendung zur Erforschung des Chassidismus. Rückblickend muß dieser politische Vorstoß Bubers darum wohl als ein Nebengleis Buberscher Aktivitäten angesehen werden. Die jüdische Bewegung

Druckvorlage: General-Anzeiger für die gesamten Interessen des Judentums, 4. Jg., Nr. 36, 3. September 1905, S. 1. MBB 68. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 171-175. Nach »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus« zieht Buber hier im selben Jahr eine weitere Bilanz der zionistischen Bewegung, diesmal aber mit einer deutlich historischen, weitausgreifenden Grundtendenz. Die zionistische Bewegung erscheint als das in der jüdischen Geschichte angelegte natürliche Ergebnis, als der Gegensatz zu den fehlgeleiteten Versuchen jüdischer Selbstbestimmung vornehmlich im Westen, besonders der Reformbewegung und des »Konfessionsjudentums«. Wieder liegen die prägenden Kräfte im östlichen Judentum, das den jüdischen Nationalismus, verbunden mit der Rückkehr nach Zion, hervorgebracht hat. Zu Georg Arndts Gedächtnis

Druckvorlage: Jüdische Turnzeitung, 10. Jg., Heft 12, Dezember 1909, S. 213-214. MBB 102. Die hier angeklagte »Galuth der Seele« ist nur durch die »innere Befreiung« zu überwinden. Georg Arndt wird von Buber zum Vorbild für die Jugend bzw. die Turnerschaft hochstilisiert, weil er beispielhaft durch die Sammlung des Willens den Weg aus der Misere gewiesen, die »Galuth der Seele« überwunden hat. Diese Zentralität des Willens verweist auf Bubers frühe Schriften zur Renaissance, andererseits kündet das Pathos des Textes die kurze Zeit später vorgetragenen Drei Reden über das Judentum an. 82. In diesem Band, S. 194. 83. In diesem Band, S. 155-165.

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Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur

Druckvorlage: Jüdische Rundschau, 15. Jg., Heft 2, 14. Januar 1910, S. 13-14 und Heft 3, 21. Januar 1910, S. 25-26. MBB 105. Die ins Hebräische übersetzte Fassung erschien im Protokoll der Hebräischen Konferenz, din wecheschbon schel hawe’ida lasafah welatarbut haivrit beBerlin, Warschau 1910, S. 12-22 (MBB 110). Aufgenommen in: JB I, S. 175-191, JuJ, S. 723-731. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 198-206. Die Konferenz für hebräische Sprache und Kultur fand in Berlin vom 19. bis 21. Dezember 1909, kurz vor dem Neunten Zionistenkongreß in Hamburg, statt. 84 Das hohe theoretische Niveau dieser Rede und das Fehlen konkreter Projektvorschläge belegen, daß diese Konferenz noch auf der Suche nach Orientierung und von gezielter Programmarbeit weit entfernt war. Die hebräische Sprache wird hier hinsichtlich ihrer Bedeutung für die jüdische Nation analysiert. Buber legt ein existenzialistisches Bekenntnis zum Hebräischen ab: »Wer die hebräische Sprache wahrhaft in sein Leben aufnimmt, der nimmt die schöpferische Funktion des Volksgeistes in sich auf; der ist nicht länger bloss nach Inhalt des Denkens und Wollens, sondern der innersten Form seines Daseins nach Jude.« 85 Dieses Bekenntnis erfährt in den folgenden Jahren immer wiederkehrende Bestätigung, 86 wenngleich die Umsetzung auf praktischer Ebene Buber Schwierigkeiten bereitete. 87 Drei Reden über das Judentum

Druckvorlage: Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1911. MBB 112. Die Broschüre trägt unter dem Titel die Widmung: »Meiner Frau«. 2. Aufl. 1916, 3. Aufl. 1919, 4. Aufl. 1920. Aufgenommen in: RGA, S. 1-65 und JuJ, S. 9-46. Übersetzungen ins Tschechische 1912: MBB 116, ins Russische 1919: MBB 229, ins Jiddische 1921: MBB 264, ins Italienische 1923 und 1976: MBB 285, 1391, ins Ungarische 1929: MBB 389, ins Englische 1967: MBB 1298 und Holländische 1978: MBB 1402. Die Reden sind auch einzeln in andere Sprachen übersetzt worden (vgl. dazu den Index von MBB). 84. Vgl. dazu B. Schäfer, Berliner Zionistenkreise, S. 149. 85. In diesem Band, S. 215. 86. So. etwa in »Zionismus als Lebensanschauung und Lebensform«, in diesem Band, S. 138. Siehe auch die Einleitung in diesem Band, S. 30-32. 87. Zum Verhältnis Bubers zur Hebräischen Sprache vgl. B. Schäfer, »Buber’s Hebrew Self: Trapped in the German language«, JSQ, 2006, (im Druck).

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Alle drei Reden wurden vor dem Prager Studentenverein Bar Kochba gehalten. Die zwei ersten Reden waren bereits 1910 jeweils separat unter anderen Titeln nach stenografischen Mitschriften veröffentlicht worden. Die erste erschien als »Der Sinn des Judentums« (gehalten am 16. Januar 1909)88 gleichzeitig in: Jüdische Zeitung (Wien), 4. Jg., Nr. 17, 29. April 1910, S. 1-5, und in: Jüdische Rundschau (Berlin), 15. Jg., Nr. 17, 29. April 1910, S. 198-200 (MBB 109),89 die zweite als »Der Jude und sein Werk«, (gehalten am 2. April 191090 im Prager Jüdischen Gemeindehaus) in: Jüdischer Almanach 5670, Wien, Vereinigung Bar Kochba 1910, S. 9-15 (MBB 107). Buber hatte für diese zwei ersten Reden kein fertiges Manuskript, möglicherweise aber Stichworte oder Teilentwürfe. Beide Reden weisen in ihrer endgültigen Form in den Drei Reden über das Judentum von 1911 große Abweichungen von den genannten Erstveröffentlichungen (ED im Textapparat) auf, insbesondere die erste. Es ist ihnen anzumerken, wie stark sie von Buber aus der Perspektive seiner voll ausgearbeiteten dritten Rede rückwirkend redigiert worden sind. Diese dritte Rede, »Die Erneuerung des Judentums«, wurde am 18. Dezember 1910 in Prag gehalten. Buber hatte sie wenige Tage zuvor schon in Wien vorgetragen und auf Anregung Leo Herrmanns, der in Wien unter den Zuhörern war, einige Änderungen vorgenommen.91 Das im MBA erhaltene mit Tinte geschriebene 41seitige Manuskript Var 350, 23 h mit dem Titel »Die Erneuerung des Judentums« dürfte das in Wien benutzte Vorlesungsmanuskript sein, in das diverse Korrekturen mit Tinte und mit Bleistift eingearbeitet sind. Es existiert unter derselben Signatur auch eine offenbar für den Druck vorbereitete maschinenschriftliche Version dieses korrigierten Ms., die dem MBA 1972 von Hugo Bergmann überlassen wurde. Gegenüber dem Erstdruck 1911 ist dieses Manuskript umfangreicher. Denkbar ist, daß Buber endgültige Kürzungen erst in den Druckfahnen vorgenommen hat. Die in der Druckfassung gekürzten oder geänder88. Der Erstdruck gibt den 20. Januar an. Der bei Ph. Sievert Blom, Martin Buber and the Spiritual Revolution, S. 40 wiedergegebene, im Leo Baeck-Institut New York erhaltene Aushang zum Festabend weist den »16. Jänner 1909 um ½ 9 Uhr Abends im Hotel Central« aus. Dieses Datum bestätigt auch der Bar Kochbaner Hugo Hermann in seinem Bericht »Buber in Prag«, S. 2; es ist auch im Einladungsbrief Leo Herrmanns vom 14. November 1908, M. Buber, B I, S. 268 genannt. 89. Die Angaben in MBB sind zu korrigieren. 90. Das Datum ist aus dem Augenzeugenbericht Leo Herrmanns »Aus Tagebuchblättern« im Sonderheft von Der Jude zu Bubers 50. Geburtstag 1928, dort S. 160, erschlossen. Ein im MBA in der Mappe Arc. Ms. Var. 350 h 23 erhaltenes Manuskript mit dem Titel »Vom Wesen des Judentums«, (»interner Vortrag im BK«) trägt den Vermerk »2. 4. 1910«. Der Vortrag ist nicht textidentisch mit der zweiten der »Drei Reden«. Es könnte sich aber um einen Entwurf handeln. 91. Leo Herrmann, Aus Tagebuchblättern, S. 161.

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ten Passagen des Manuskriptes (O) sind im Textapparat der dritten Rede erfaßt. In der Fassung von JuJ hat Buber den Text nochmals leicht geglättet. Auch diese Textabweichungen gibt der Textapparat an. Da die Textabweichungen der ersten Rede so groß sind, daß ihre Erfassung den Textapparat überlastet hätte, wird der Erstdruck im folgenden vollständig wiedergegeben, um den Unterschied zwischen den Versionen deutlicher zu dokumentieren. Der Sinn des Judentums

Wenn ich vom Sinn des Judentums spreche, so meine ich damit die Frage, inwiefern wir wirklich Juden sind und aus welchem Grunde wir uns so nennen. Ich will nicht von irgend einem abstrakten Judentum, von irgend einem Begriff des Judentums hier sprechen, sondern ich will sprechen von Ihrem eigenen Leben, von unserem Leben, und nicht von dem äußeren Getriebe unseres Lebens, sondern von unserem inneren Leben als Juden. Und diese Frage: Welchen Sinn hat unser Judentum hat für mich die Bedeutung: Nennen wir uns Juden deshalb nur, weil es unsere Väter getan haben, aus Erbgewohnheit, der wir uns nicht entwinden können, oder nennen wir uns Juden aus wirklicher Gemeinschaft? Und wenn wir es aus wirklicher Gemeinschaft tun, welcher Art ist diese Gemeinschaft? Wenn ich diese Frage hier vorlege, so meine ich nicht so sehr das Judentum des Ostens, dessen äußere und innere Lage, vor allem dessen Verhältnis zu seiner Umwelt und der umgebenden Kultur ein ganz anderes ist als im westlichen Judentum, ich meine Sie, ich meine uns. Was für eine Gemeinschaft ist das, auf deren Grund wir uns Juden nennen? Da ist nun zunächst eine Antwort sozusagen schon bereit, die Antwort derer, die sich die Sache leicht machen, und diese Antwort lautet: Nun, wir gehören eben der jüdischen Religion an! Ich will das Niveau dieser Antwort nicht zu tief nehmen, ich will es nicht so auffassen, als ob damit gemeint wäre: der jüdischen Konfession. Ich will dem, der diese Antwort gibt, glauben, daß er wirklich an die jüdische Religion denkt, das heißt an ein Verhältnis zum Absoluten, das »jüdisch« genannt zu werden verdient, und das äußeren Ausdruck hat in einer Gemeinschaft, die zum Namen Jude berechtigt. Aber da taucht eine Frage vor uns auf, die gleich die ganzen Untiefen des jüdischen Problems uns aufdeckt, die Frage: Gibt es eine jüdische Religion? Das ist gewiß, daß es eine gab. Die Zeit, die die Gestalt Jakobs schuf, der mit dem Gotte rang, bis der ihn segnete, und die Gestalt Mosis,

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der nach der jüdischen Sage in einem Kusse Gottes starb, und die andere Zeit, die die große religiöse Bewegung schuf, welche wir Urchristentum nennen, diese große jüdische religöse Bewegung, und die späte Zeit, die den Chassidismus schuf, die neue jüdische Mystik, die wirklich mit großer Herzinnigkeit auf Erden gelebt worden ist – im Zusammensein und Zusammenwirken von Menschen gelebt worden ist – diese Zeiten hatten eine jüdische Religion. Aber können wir das auch von unsere Zeit sagen? Ich nehme die Menschen, die wenigen Menschen, aus, die alle jüdischen religiösen Gebräuche befolgen nicht aus Denkunfähigkeit und nicht aus Willensträgheit, sondern die das Gefühlte und Geglaubte wirklich in Tat umsetzen, aus wahrem Glauben die jüdischen Gebräuche erfüllen, als das von Gott Gebotene, und diese Erfüllung ansehen als einen lebendigen Zusammenhang zwischen ihnen und ihrem Gott, als die Verwirklichung des Gotteswortes in ihrem Leben. Diese – wie mir scheint, sehr wenigen – Menschen eines wahren jüdischen bewegten Glaubens nehme ich aus. Ich verstehe diese Menschen nicht, aber ich ehre sie im innersten Herzen. Dann, wenn diese wenigen Menschen ausgenommen sind, dann bleiben ja noch die, die sich Monotheisten nennen, die sagen, das Judentum sei der Glaube an einen Gott, und sie mögen es ja auch dadurch ergänzen, daß sie diesen Glauben auch noch mit einer damit zusammenhängenden Sittlichkeit umgeben. Aber ich begreife nicht, wie diese Monotheisten und Ethiker dazu kommen, sich und gerade sich »Juden« zu nennen. Dieser Glaube an einen Gott und diese allgemeine Sittlichkeit sind doch nichts spezifisch Jüdisches, das teilen doch diese Menschen, die im Grunde außerhalb jeder positiven Religion stehen. Das ist doch kein Boden für eine Isolation, keine Basis, auf die man sich stellen und sagen kann: Deshalb, weil wir dies glauben, nennen wir uns Juden. Und dann – ich möchte diese Menschen fragen: Wo ist denn dieser Glaube eine wirkliche Lebensmacht, die das Leben des einzelnen Menschen, des einzelnen Juden, von Grund aus umgestaltet und umwandelt, ihn zu einem anderen Menschen, zu einem wirklich an Gott hingegebenen, im Namen Gottes hier lebenden Menschen macht? Denn das allein heißt Religiosität. Es mag auch solche wirklich an Gott hingegebene Menschen geben, aber diese stehen heute mehr als je außerhalb jeder Gemeinschaft. Sie haben keinen gemeinsamen Kult, sie haben keine äußere Form, die sie zusammenhielte und ihnen die Berechtigung gäbe, gerade diese Gruppe Juden zu nennen. Es ist daher, so glaube ich, mit dieser religiösen Begründung der jüdischen Gemeinschaft nicht viel anzufangen. Nun aber könnte gesagt werden: Ja, die religiöse Grundlage vermag uns heute nicht zu einigen, aber uns einigt die nationale Grundlage. Und das mag eine gute Antwort sein, wenn es sich um den politischen Begriff der

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Nationalität handelt, wenn es sich darum handelt, wie wir als geschlossene Gruppe nach außen auftreten wollen. Aber was für eine Berechtigung hat dieser Begriff der Nationalität für unser inneres Leben? Denn ich spreche – ich wiederhole es – nur von unserem eigenen inneren Leben. Und dieses innere Leben muß nach der inneren Berechtigung dieses Begriffes befragt werden. Wir müssen fragen: Welche sind denn die lebendigen Elemente der Nation und fühlen wir in uns diese Elemente? Gibt es eine nationale Gemeinschaft des Judentums und welcher Art ist sie? Drei lebendige Elemente sind es, die eine äußere nationale Gemeinschaft begründen: das Land, die Sprache und die besonderen Lebensformen einer Nation. Sie wissen: Wir haben kein Land; viele von uns wollen eines, manche von uns fühlen noch den Zusammenhang mit dem alten Lande Israels, den sie erneuern möchten. Aber diesem Land unserer Träume, unserer Erinnerung, unseres Willens, unserer Hoffnung, ist doch nicht unser Land, ist doch nicht das Land, in dem wir wohnen und leben. Das zweite Element ist die Sprache. In diesem Problem offenbart sich vielleicht noch tiefer als in dem des Landes die ganze Zerrissenheit, die ganze Tragik des heutigen jüdischen Lebens. Im Osten gibt es zwei jüdische Sprachen: die Volkssprache, das sogenannte Jiddisch, oder wie es manchaml genannt wird, der Jargon, und die Sprache der alten Juden, die freilich in unserer Zeit eine wunderbare Erneuerung und Verjüngung erfahren hat, die hebräische Sprache. Aber neben dieser Zweiheit der Sprache gibt es im Abendlande eine Unzahl anderer Sprachen, die von Juden gesprochen werden, ich kann wohl sagen, die ungeheure Mehrzahl der Juden des Westens spricht nicht die jüdische Sprache, hat nicht eine Sprache, die ihre Gemeinschaft begründet. Das dritte lebendige Element einer Nation sind die besonderen Lebensformen einer Nation, die gemeinsamen Sitten, die gemeinsame Art zu leben, die Bräuche, die Feste, kurz alles das, was das Leben gerade dieser Nation gerade so und nicht anders gestaltet, so von der Seele dieser Nation geformt und gesiegelt. Aber Sie wissen, solche allgemeinen jüdischen Lebensformen gibt es nicht mehr. Es gab sie, so wie es ein jüdisches Land und eine jüdische Sprache gab. Aber sie sind nicht mehr. Und so wären wir in der Tat, wenn man nach außen schaut, ein Volk ohne Volkstum, ein Volk ohne äußeren Grund des Zusammenlebens, und darüber kann uns auch das nicht hinweghelfen, was ein großer und teurer Toter, der edelste unserer Toten in diesem Zeitalter, was Theodor Herzl sagte: eine Nation werde zusammengehalten durch einen gemeinsamen Feind. Wir mögen Feinde haben an allen Orten, aber nicht einmal einen gemeinsamen Feind haben wir. Wenn wir einen hätten, dann würden wir

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in demselben Augenblicke, wo der Feind in sich ginge und uns für eine kurze Zeit nicht befeindete, aufhören, eine Nation zu sein. Wir wären dann eine Nation auf Kündigung, und zwar auf Kündigung unseres Feindes. So glaube ich, daß Sie mit mir fühlen: ein äußere Grundlage unserer Gemeinschaft ist nicht da. Daß wir aber dennoch zusammengehören und uns als zusammengehörig fühlen und daß wir wirklich trotz allem einen großen Organismus bilden, der in großen Stunden auch so tun und handeln kann wie ein geeinter Organismus, das, scheint mir, liegt daran, daß in uns etwas stark ist, was man zunächst mit einem nach außen deutenden Worte als »Abstammung« bezeichnen kann. Aber diese Abstammung wäre ja nicht ein reales Element im höchsten Sinne, wenn sie nicht in uns selbst wirksam wäre. Wir würden so wenig zusammenhängen, wie etwa eine weitverzweigte, aber einander entfremdete Familie, wenn nicht diese Abstammung etwas in uns gelegt hätte, was uns zu keiner Stunde unserer Lebens verläßt, was jeden Ton und jede Farbe in unserem Leben, in dem, was wir erfahren und in dem, was wir tun, färbt und bestimmt. Ich meine das Innerliche, das Jüdische in uns, die Macht, die unser Denken, Fühlen und Wollen trägt, die Macht, die es bewirkt hat, daß unser Denken mehr abstrakt mathematisch als konkret naturhaft, daß unser Fühlen mehr musikalisch als bildhaft ist, daß unser Wollen mehr auf die Umgestaltung als auf die Ausgestaltung des Lebens geht, mit einem Wort: ich meine unser Blut. Denn die bestimmenden Mächte des Menschenlebens, die Mächte, aus deren Wirkung sich das Menschenleben zusammenfügt, sind: die Innerlichkeit und die Umwelt. Unser inneres Schicksal nicht nur, sondern auch unser äußeres entsteht aus dem Zusammentreffen dessen, was wir selbst an Fähigkeit, and Disposition, Eindrücke zu verarbeiten, heranbringen, und aus dem, was von außen auf uns eindringt und einwirkt – aus dem Blute und der Umwelt. Von allem aber das Innerlichste in uns ist nicht das, was wir die Persönlichkeit nennen, sondern die tiefste Schicht unseres Seins und unserer Persönlichkeit ist eben das Blut, ist das in uns, was die Jahrtausende, was die Kette der Väter und Mütter, ihre Art und ihr Schicksal, ihr Tun und ihr Leiden in uns hineingepflanzt haben, das große Erbe der Zeiten, das wir auf die Welt mitbringen, wie wir auf diese Welt geboren werden; und es ist, wie ich sagte, nicht bloß die Art der Väter, die wir geerbt haben, sondern es ist auch das Schicksal der Väter, und alles, das Leiden, das Elend und – sagen wir es nur heraus – die Schande, in der unsere Väter Jahrhundert um Jahrhundert gelebt haben, all dies hat unser Blut und hat unsere innerste jüdische Art mitgestaltet. Das sollen wir ebenso fühlen und ebenso wissen, wie wir fühlen und wissen sollen, daß in uns lebt die Art der Propheten, der Sänger und der Könige Judas.

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Jeder von uns, der auf sein Leben zurückblickt, wird die Spuren dieser Macht erkennen. Wenn etwa der eine oder der andere von Ihnen sich das Pathos des inneren Kampfes vergegenwärtigt, das er in manchen Stunden seines Daseins erlebt, so wird er finden, daß hier etwas in ihm weiterlebt, das sein großes nationales Urbild in dem Kampf der Propheten gegen die auseinanderstrebende, zersetzende Vielheit der Volkstriebe hatte. In unserer Sehnsucht nach einem reinen und einheitlichen Leben können wir dieselbe Macht wiederfinden wie einst in der Periode, welche die große essäische urchristliche Bewegung erweckte. In dem Bestreben nach der Erlösung aus der Zweiheit, an der wir so schwer zu tragen haben, werden wir diese Macht wiederfinden, die das Größte des Judentums – den Messianismus – geschaffen hat. Und ebenso werden wir das uns entartende Schicksal der Väter fühlen in der Ironie des modernen Juden, die ja nur ein Werk dessen ist, daß wir jahrhunderelang, wenn wir ins Gesicht geschlagen wurden, nicht mit der Faust zurückschlugen, daß wir, weil wir numerisch und körperlich schwächer waren, uns nicht wehrten, sondern uns zur Seite wandten, lächelten und sagten: »Wir sind eben die geistigen Menschen.« Und so liegt auch die Quelle unseres abstrakten, weltfremden Fühlens unserer oft so unproduktiven Intellektualität darin, daß wir Jahrhunderte und Jahrtausende lang keine gesunde normale Betätigung des Lebens kannten, kein gesundes, vollständiges, vom Rhythmus der Natur bestimmtes Leben führten. Und in dieser ganzen Zerrissenheit, Verlorenheit, Wurzellosigkeit unseres Lebens durch Jahrtausende hindurch werden wir die Wurzel unserer Skepsis und unserer Verzweiflung finden. Wenn wir nun wissen, daß diese zwei Mächte in unserem Dasein wirksam sind, unser Blut und unsere Umwelt, so müssen wir auch erkennen, daß die Umwelt, das äußere Schicksal, uns immer nur den Stoff unseres Erlebens gibt, daß die Form des Erlebens aber unseres Blutes Werk ist, daß unsere jüdische Innerlichkeit die gestaltende Kraft ist, die aus dem Stoffe, den die Umwelt an uns heranbringt, erst unser wirkliches inneres Leben schafft. Wenn wir stille Stunden haben – und ich glaube, es sind die wesentlichen, die eigentlichen, die besten Stunden unseres Daseins, wenn wir Stunden haben, in denen wir uns auf uns selbst besinnen und die ganze Zwiespältigkeit unserer Existenz fühlen, so wollen wir auch erkennen, daß diese Zwiespältigkeit nur daher kommt, weil wir diese Erkenntnis, daß unser Blut allein das Gestaltende in unserem Leben ist, nicht zu unserem lebendigen Eigentum gemacht haben. Und dies ist es, worauf es – wie mir scheint – für uns alle ankommt: aus der Zweiheit unseres Innenlebens, aus unserer inneren Entzweiung, zur Einheit zu kommen, um uns – um ein altes jüdisches Wort zu gebrauchen – um uns selbst zu erlösen. Dazu bedarf es eben dieser Besinnung auf das, was unser Blut in

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uns ist, denn in dem Getriebe unseres Lebens werden wir uns immer nur der Umwelt und der Wirkung dieser Umwelt bewußt. Nur eben in diesen stillen Stunden, da schauen wir in uns hinein, da erkennen wir uns selber und – ich möchte sagen – da erfassen wir uns selber. Wir erfassen uns oder wir sollten es tun; wir sollen unser Leben in die Hand nehmen, wie man etwas Zerstreutes zusammenrafft. Und wir sollen uns entscheiden; wir sollen in uns selbst eine große Ausgleichung finden zwischen den beiden Mächten, von denen ich gesprochen habe, zwischen innerer Welt und Umwelt. Diese Frage, diese große Forderung, die an jeden von uns herantritt, zu wählen, uns zu entscheiden, unser Wesen selbst zu ergreifen und von jetzt ab wirklich von innen heraus Juden zu sein und als Juden aus unserem Blute heraus mit der ganzen Macht, mit der ganzen Schönheit und mit der ganzen Zukunftskraft dieses Blutes als Juden zu leben, dieses ist es, was ich die persönliche Judenfrage nennen möchte, im Gegensatz zu den vielen Judenfragen, von denen heute geredet wird, und die uns auch sehr wohl angehen, die aber alle erst aus dieser letzten und innersten Frage heraus entspringen, alle, auch der ganze soziale Komplex von Judenfragen, alles das ist erst etwas, das sich aus dem ergibt, was wir uns zu innerst klar machen, in uns selbst finden und in uns selbst entscheiden müssen. Es ist einmal gesagt worden: Was ein Jude, der auf eine wüste Insel verschlagen wird, ohne Zusammenhang mit aller äußeren Welt, ganz einsam und auf sich allein gestellt, was dieser Jude noch als Judenfrage empfindet, das allein ist sie; denn das allein ist es, was wir die persönliche Judenfrage nennen dürfen. Diese persönliche Judenfrage meint zweierlei: sie meint unsere Stellungnahme zum Judentum selbst und unsere Stellungnahme zur umgebenden Welt. Unsere Stellungnahme zum Judentum. Ich glaube, jeder der mit dem Herzen verstanden hat, was ich die persönliche Judenfrage nenne, der hat sich auch schon gesagt, was allein seine Stellung zum Judentum sein kann. Wenn wir uns einmal aus tiefster Selbsterkenntnis heraus bejaht haben, wenn wir zu uns selbst, zu unserer ganzen jüdischen Existenz ja gesagt haben, dann fühlen wir nicht mehr als Einzelne, sondern dann fühlt jeder Einzelne von uns als Volk, denn er fühlt das Volk in sich. Ich sage nicht, er fühlt mit dem Volke, sondern ich sage, er fühlt als das Volk, weil er das Volk in sich trägt. Und so werden wir uns zur Vergangenheit des Judentums nicht stellen als zu der Vergangenheit einer Gemeinschaft, der wir angehören, sondern wir werden darin die Vorgeschichte unseres Lebens sehen, jeder von uns die Vorgeschichte seines eigenen Lebens, und darum werden wir die jüdische Geschichte erfassen, nicht wie man sich

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eine Übersicht von einzelnen Kenntnissen schafft, sondern wir werden uns bewußt werden der Mächte, die in dieser Geschichte gewaltet haben, des großen Werdens und der Bestimmung dieses Volkes. Und ebenso werden wir die Gegenwart fühlen. Diese Menschen da draußen, diese armen, gebückten, schleichenden Menschen, die drüben im Osten von Dorf zu Dorf herumhausieren und nicht wissen, wie, wo und woher sie morgen leben werden, und diese schwerfälligen, fast betäubten Massen von Menschen, die auf Schiffe verfrachtet werden und nicht wissen, wohin und wozu, diese werden wir dann nicht etwa bloß als unsere Brüder und Schwestern empfinden, sondern jeder von uns, der sich so in sich gesichert hat, wird fühlen: Diese Menschen sind Stücke von mir. Ich leide nicht mit ihnen, sondern ich leide das. Meine Seele ist nicht bei meinem Volke, sondern mein Volk ist meine Seele. Und in diesem selben Sinne wird dann jeder von uns die Zukunft des Judentums fühlen, er wird fühlen: Ich will weiterleben, ich will meine Zukunft, will ein neues, reiches, ganzes Leben, ein Leben für mich, für das Volk in mir, für mich im Volke. Denn das Judentum hat nicht bloß eine Vergangenheit, sondern, trotz allem, was es bereits geschaffen hat, meine ich: Das Judentum hat vor allem nicht eine Vergangenheit, sondern eine Zukunft. Denn von dem jüdischen Volke, und von ihm allein kann gesagt werden, daß es der Hamlet unter den Völkern ist, ein Hamlet, der nicht zu seiner Tat, der aus seiner Zerrissenheit und Zwiespältigkeit, aus der ihn umdrängenden Verzweiflung nicht zu seinem Werke kam. Ich glaube, das Judentum ist in Wahrheit noch nicht zu seinem Werke gekommen und die großen Kräfte, die in diesem tragischsten und unbegreiflichsten aller Völker leben, diese Kräfte haben noch nicht ihr eigenes Wort, ihren eigenen Ausdruck in der Geschichte der Welt gefunden. Und wenn wir dieses Werkes, dieses Wortes Erlösung wollen, so meinen wir damit, daß wir für unser Volk ein Land wollen und ein großes, freies, gesundes Leben, daß wir für unser Volk eine Schöpfung wollen aus ungetrübtem, aus ungestörtem inneren Wesen heraus. Ich glaube, daß das Judentum vor allen Völkern berufen ist, eine große geistige Synthese des Ideals zu schaffen, und ich glaube, daß die Keime religiösen Erneuerns, daß die Mächte religiösen Werdens, die dieses Volk erschüttert haben von seinen Anfängen bis auf unsere Tage, daß diese Mächte einen Ausdruck finden werden, der – so fühle ich in meinem Herzen – größer und mächtiger und heiliger sein wird als alles, was das Judentum bisher der Welt gegeben hat. Dies, meine ich, ist die Stellungnahme des Juden, der sich als Juden erfaßt hat, zum Judentum. Daraus ergibt sich von selbst seine Stellung zur Umwelt. Ich schalte

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jetzt die Frage Ost und West aus. Ich will hier nur von den westlichen Juden sprechen; und da meine ich, unsere Absicht kann nicht die sein, die Kultur, in der wir leben, einfach als eine fremde Kultur zu empfinden und uns von dieser Fremdherrschaft zu befreien. Denn diese Kultur ist ja von unseres Blutes innersten Kräften verarbeitet worden, sie ist ja ganz und gar unser eigen geworden. Diese Kultur ist in uns in Wahrheit keine deutsche Kultur mehr, wenn es sich um Deutschland handelt, sondern sie ist etwas Neues geworden, eine deutsche Kultur, die von Juden umgeschaffen und umgebildet wurde und zu etwas Jüdischem umgeprägt wurde. Nicht um das Aufgehen in einer anderen Kultur kann es sich handeln, wohl aber darum, daß wir uns frei machen von der Herrschaft einer fremden Kultur über uns. Wir wollen und dürfen uns bewußt sein, daß wir, die wir diese Kultur in uns aufgenommen haben, in einem gewissen Sinne – mehr noch als irgend ein anderes Volk der Kultur – eine Mischung sind. Aber wir wollen nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser Mischung sein. Die Selbstbejahung des Juden hat ihre Tragik und ihre Größe. Denn, wenn wir uns bejahen, dann fühlen wir, wie ich schon sagte, die ganze Entartung mit, aus der wir unsere kommenden Geschlechter befreien müssen. Aber wir fühlen auch, daß die Größe dieser Selbstbejahung, wir fühlen, daß noch Dinge in uns sind, die nicht hinausgestellt worden sind, daß noch Gedanken in uns sind, die niemals gesagt worden sind, daß noch Kräfte in uns sind, die auf ihren Tag warten. Und diese Tragik und diese Größe des sich bejahenden Juden, dies nun ganz – nicht zu denken, nicht zu meinen – sondern in sein Leben aufzunehmen, das heißt als Jude leben. Nicht um ein Bekenntnis handelt es sich, nicht um die Erklärung der Zugehörigkeit zu einer Idee oder zu einer Bewegung, sondern darum, daß der, der dieses Ideal in sich aufgenommen hat, nicht bloß anders denke als bisher, sondern auch in Wahrheit anders lebe, daß er sich in den kleinen und großen Krisen des Lebens von den Schlacken der Fremdherrschaft in uns reinige, daß er aus dieser Zwiespältigkeit unseres Daseins sich finde zur Einheit, zur inneren Versöhnung, und daß er in seinem Leben ein ganzer Mensch und ein ganzer Jude werde, denn das bedeutet für den, der diese Dinge gefühlt hat, ein und dasselbe. Es ist mit dieser Reinigung, mit dieser Freimachung vom Fremden, mit diesem Sich-Ergreifen und Sich-Stellen auf den ganz eigenen Boden der jüdischen Seele, damit ist – um noch einmal das große Wort zu nennen – eine Selbsterlösung gemeint, damit ist gemeint, daß jeder von uns sich selbst befreie und erlöse. Denn wie die alten Juden der Urväterzeit, um sich aus ihrer menschlichen Zweiheit oder »Sünde« zu befreien, sich ganz an den nichtgezwei-

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ten, an den einen einheitlichen Gott hingaben, so wollen wir, die wir in einer anderen, einer nationalen, besonderen Zweiheit stehen, uns davon befreien, nicht durch Hingabe an einen Gott – denn heute haben wir keinen Gott – sondern durch Hingabe an unser eigenstes, innerstes Wesen, an die Einheit in uns, die so stark, so fest, so einheitlich und einig ist, wie der einige und einheitliche Gott, den die Juden damals aus ihrer Einheit hinausgestellt und an den Himmel ihres Daseins hinaufgehoben haben. Als ich ein Kind war, las ich eine jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte. Sie erzählte nichts weiter als: »Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias.« 92 Damals kam ich zu einem alten Mann und fragte ihn: »Worauf wartet er?« Und der alte Mann sagte mir etwas, was ich damals nicht verstand und lange nicht verstehen konnte; er sagte: »Auf dich!« Heute verstehe ich es so, daß ich nun zu jedem Einzelnen von Ihnen sagen kann: Er wartet auf dich. Gerne würde ich Ihnen zum Schlusse ein helleres, freundlicheres Wort sagen. Aber es ist eben eine Stunde nicht der leichten, fröhlichen Rede, sondern eine Stunde der Tragik und der Größe, in der wir leben. Und so kann ich Ihnen kein besseres Wort zum Schluß sagen, als das Wort jener Sage, das alles sagt, was ich hier darzulegen suchte: »Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler und wartet …« Vergleicht man diese Version des Erstdrucks mit der Version in den DR, zwischen deren Formulierungen gut zwei Jahre liegen, so werden stilistische Verbesserungen, wie Straffungen, Vermeidung von persönlicher Rhetorik u. dgl. auf Anhieb ersichtlich. Die erste Fassung ist insgesamt schlichter und ursprünglicher. Die zweite Fassung, mit der aus der »Rede« ein »Traktat« innerhalb der DR wird, hebt manche Aussagen auf ein mitunter schwer verständliches theoretisches Niveau. 93 Ein sorgfältiger Vergleich der beiden Textversionen dieser Rede bleibt künftiger Forschung vorbehalten. Er könnte auch Aufschluß über Einzelthemen in Bubers geistiger Entwicklung geben, denn einige abweichende Formulierungen sind mehr als Glättungen oder Nuancen. Wenn man z. B. die Formulierung des EDs »Nicht durch Hingabe an einen Gott – denn heute haben wir keinen Gott – …«, mit der der DR: »Nicht durch Hingabe an einen Gott, 92. Vgl. b San 98a. 93. Dies bestätigt für beide Erstdrucke der Brief Elijahu E. Rappeports an MB vom 27. Juli 1911, M. Buber, B I. S. 297-298; vgl. auch Hans Kohn an MB vom 22. September 1911, B I, S. 299. Buber selbst kommentiert in einer Replique auf einen von Anonymus in Ost und West erhobenen Plagiatsvorwurf: »Es mag übrigens sein, daß nicht alle Terminologie meiner drei Reden dem gedanklich Ungebildeten unmittelbar verständlich ist«, vgl. MBW 1, S. 179.

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den wir nicht mehr wirklich zu machen vermögen,« (Hervorhebung nicht in der Vorlage) vergleicht, läßt sich daraus eine noch vorsichtige Abkehr von der nietzscheanischen Gottesverneinung hin zu einer neuen Religiosität erkennen.94 Die Zukunft

Druckvorlage: Selbstwehr, 6. Jg., Heft 37, 12. September 1912, S. 9. MBB 124. Im selben Jahr Hebräisch erschienen unter dem Titel »Atid Mischneh« (von hier der spätere deutsche Titel »Zwiefache Zukunft«), in: HeAtid, 4. Jg., 1912, S. 93-94. MBB 125. Aufgenommen als »Zwiefache Zukunft« in: JB I, S. 217-221. Hebräisch wieder abgedruckt 1938. MBB 595. Folgende Fragen hatte Shai Hurwitz, der Herausgeber der hebräischen Zeitschrift He-Atid, bekannten jüdischen Intellektuellen in Anlehnung an die von Werner Sombart (1863-1941) ausgelöste Diskussion über die Stellung der Juden in Deutschland vorgelegt: 95 1. Gibt es eine Grundlage für die Befürchtung, die jüdische Rasse werde durch Assimilation, Konversion und Mischehe untergehen? 2. Welche Folgen lassen sich für die Verwirklichung des Zionismus voraussagen, zum einen für jene Länder, die die Juden verlassen, zum anderen für den »Jüdischen Staat« selbst? 3. Wenn es keine Hoffnung gibt, die Assimilation durch Mischehe oder Konversion zu erreichen, bzw. den Zionismus zu realisieren, ist zu befürchten, daß gewisse Konflikte zwischen Juden und ihren Nachbarn aufkommen werden? 4. Was ist das Wesen des Judentums? Jener Glaube der Juden, um dessentwillen sie ihre Existenz fortsetzen und es für richtig halten, sich als Mitglieder einer besonderen Religion von den Nationen der Welt (auch in der Zukunft) abzusetzen? 96 Die gegenwärtige Krise des Judentums ist für Buber das »fruchtbare Chaos«, in dem die verwesten und erstarrten Teile des Judentums 97 zerschlagen werden, um einer religiösen Erneuerung und dadurch einer Erneuerung der jüdischen Kultur Platz zu machen. Dabei versteht Buber 94. Sh. Ratzabis Feststellung, daß Buber in der ersten Rede die existenzielle Situation des Juden »out of a religious reference« (Between Zionism and Judaism, S. 347) erkläre, wäre demnach zu modifizieren. 95. Vgl. zum historischen Kontext S. Nash, In Search of Hebraism, S. 306-316. 96. Nach dem von Nash rekonstruierten englischen Text übersetzt, vgl. ebd., S. 307-308. 97. Vgl. »Das Gestaltende«, in diesem Band S. 260-265.

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Religiosität als die »Erneuerung der Lebensimpulse und Lebensformen zwischen zwei kulturellen Entwicklungen«.98 Am Ende formuliert Buber sein damaliges zionistisches Credo: Die formgebende »Seele« der erneuerten Kultur wird erst »aus der Vermählung mit einer anderen Erde hervorgehen«.99 Und in Zusammenschau mit dem in »Das Gestaltende« Gesagten wird auch der prophetisch anmutende Schlußsatz verständlich: »Es wird vielleicht geschehen, daß hier ein Volk sterben wird […] und dort ein Volk leben wird, die neue Religiosität einschränkend und einformend zur Kultur.« Das Gestaltende

Druckvorlage: Die Jüdische Bewegung I, S. 205-216. MBB 157; fast gleichzeitig veröffentlicht in: Der Jude, hrsg. von Martin Buber, 1. Jg., Heft 2, Mai 1916, S. 68-72. MBB 165. Aufgenommen in: JuJ, S. 239244. G. Scholem bezeichnet diesen extemporierten Vortrag, der nach dem stenographischen Protokoll von Hugo Bergmann 100 ausgearbeitet wurde, als »die eindringlichste Formulierung der Anschauungen Bubers in seiner früheren Periode«. 101 Buber erklärt hier das im Individuum wirkende kreative Prinzip, das Gestaltende, als das den Menschen und die Menschheit bestimmende Prinzip und wendet diese Erkenntnis auch auf die den Menschen bestimmende Gemeinschaft, die Nation, an. Das kreative Prinzip aber ist durch die allgegenwärtige Macht und das Wirken des Gestaltlosen bedroht. Dieser ewige Kampf zwischen dem gestaltenden und dem gestaltlosen Prinzip, den die vier Torsi des Michelangelo verkünden, produziert das geistige Leben. Er ist im Judentum stärker ausgeprägt als in irgendeiner anderen Nation, ja, man kann sagen, er ist das Kennzeichen des Judentums schlechthin. Die aus der Auseinandersetzung mit der Renaissance gewonnenen Einsichten über die kreative Potenz und deren Bedrohung im Individuum verbindet Buber hier mit dem zeitgenössischen Diskurs über Nation und Nationalismus einerseits und über »das Wesen des Judentums« andererseits. Vor dem Ersten Weltkrieg noch ganz in seiner existenzialistischen Weltanschauung befangen, ist das religiös verankerte spätere Motiv der 98. In diesem Band, S. 257. Vgl. zum Terminus Bubers Beitrag »Jüdische Religiosität« in JuJ, S. 65-78. 99. In diesem Band, S. 258. Dieser Gedanke ist in dem ebenfalls 1912 verfaßten Beitrag »Das Land der Juden« (in diesem Band, S. 354-355) näher ausgeführt. 100. Siehe die Anmerkung zum Titel im Text, in diesem Band, S. 260. 101. G. Scholem, Martin Bubers Auffassung des Judentums, S. 146.

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Erwählung hier noch nicht erkennbar, wenn auch im Keim vorhanden, wenn Buber konstatiert: »Denn der Jude ist ja nicht ein Wesen besonderer Art, […], sondern es ist so, daß, […] das Geheimnis und Urgeschick der Dualität [zwischen Gestaltendem und Gestaltlosem] hier, im Judentum, stärker, reiner, fordernder als in irgendeiner andern Gemeinschaft hervortritt, daß die Aufgabe der Überwindung hier die größte ist, – daß aber eben deshalb durch ihre Erfüllung Vorbildliches, Lenkendes für die Menschheit geschieht. So ist denn auch im jüdischen Messianismus, im Glauben an das kommende Reifen der Welt zu göttlicher Gestalt, beides eins geworden: das vom Geiste gestaltete Volk und die vom Geiste gestaltete Menschheit sind eins, die Sache des Judentums und die Sache des Menschentums sind eins. Es ist die Sache der Gestaltung; es ist die Sache des Geistes, der sich der Wirklichkeit der Menschengemeinschaft aufprägen will; es ist die Sache Jahwes, der sein Bild im Erdenkloß ausformte.« 102 Das Gestaltlose hat, wie schon im Beitrag »Juedische Renaissance«, einen Namen: Golus, womit nicht etwa die Diaspora als solche, sondern die »tiefe soziale Erkrankung« gemeint ist. »All diese Ohnmacht und Entfremdung der Gestaltenden aber deutet darauf hin, was das Gepräge des Golus ist: d a s Ges t alt lo s e w i rd Her r i n Is r a el. Denn jenes Judentum, das wir als das herrschende, das offizielle kennen, das ist in Wahrheit das Reich der verwesenden Gestalt.« Die Stoßrichtung dieser Aussage ist der starre Geist der Orthodoxie, aber auch die Assimilation. In der Gegenwart herrscht dieser Geist vor. »Und das Schicksal des Judentums kann sich nicht wenden, ehe der Widerstreit in seiner alten Reinheit aufersteht, ehe von neuem der fruchtbare Kampf zwischen dem Gestaltenden und dem Gestaltlosen beginnt.« 103 Das Gestaltende ist somit ebenso ein Resümee wie eine Bekräftigung der Botschaft der Drei Reden über das Judentum. Der Wägende

Druckvorlage: Der Jude, 1. Jg., Heft 6, September1916, S. 353-354. MBB 172. Aufgenommen in: JB II, S. 71-73; JuJ, S. 757-758. Diese Hommage zu Achad Haams 60. Geburtstag ist ein Bekenntnis zur Person trotz des Gegensatzes »in der Art der Erkenntnis, in der Betrachtung des Weltsinns, in der Auffassung der Menschengeschichte, in der Lehre vom Wesen und vom Werke Israel.«104 Buber hat sich zu Achad 102. In diesem Band, S. 263-264. 103. In diesem Band, S. 265. 104. In diesem Band, S. 267.

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Haam wiederholt geäußert. Er war für ihn ein »Diener der Wahrheit«, dem man vertrauen kann. 106 Die Schriften Achad Haams und die Aharon D. Gordons (1856-1922) waren für ihn die zwei wichtigsten hebräischen Bücher. 107 Allerdings verstand Buber Achad Haam als Teilhaber des »tragischen Geheimnisses unserer Gegenwart«, geradeso wie er in seinem späteren Verständnis auch Theodor Herzl als eine tragische Figur bezeichnete. 108 Herzl füllte in Bubers späterer Sicht die Vorstellung vom »wahrhaft Tuenden« aus, Achad Haam war von Anfang an der »wahrhaft Wägende«. Renaissance und Bewegung

Druckvorlage: Die Jüdische Bewegung I, S. 95-108. MBB 157. Aufgenommen in: JuJ, S. 272-279. Der erste, 1903 verfaßte Teil ist bereits in dem Beitrag »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus« von 1905109 mit kleinen Textveränderungen abgedruckt. Der zweite Teil, 1910 als Entgegnung auf einen Artikel Max Nordaus über Renaissance geschrieben, wurde 1911 in der Zeitschrift Magyar Zsidó Almanach als Teil eines Aufsatzes »Renaissance. Eine Feststellung« ungarisch veröffentlicht. Die Abweichungen zwischen den Versionen des 1905 veröffentlichten ersten Teils und der vorliegenden Version erklären sich aus der Stoßrichtung des früheren Textes, der eine erkennbar politische Richtung hatte. 110 Hier begegnet uns der Text in einer entpolitisierten Fassung. Durch die Zusammenstellung mit dem neuen zweiten Text entsteht ein Essay über das Verhältnis von Zionismus und Renaissance. Buber bezeichnet den Zionismus als den »bewußte[n] Wille[n] der Renaissance«, der den im Chassidismus und in der Haskalah bereits angelegten, aber durch die äußeren Umstände immer wieder gehemmten Durchbruch des »neuen Juden« herbeiführen wird.

105. »Achad Haam Gedenkrede in Berlin« vom 9. Januar 1927, JuJ, S. 759-761; »AchadHaam-Gedenkrede in Basel« vom 30. August 1927, in: ebd., S. 762-770; »Die Lehre vom Zentrum«, 1950, in: ebd., S. 442-447 sind grundsätzliche Würdigungen; darüber hinaus findet die Auseinandersetzung mit ihm in zahlreichen Aufsätzen statt. Siehe auch die Einleitung in diesem Band, S. 29-30. 106. »Vertrauen«, zu Achad Haams 70. Geburtstag 1926, in: JuJ, S. 755-756. 107. »Zwei hebräische Bücher«, 1928, in: JuJ, S. 771. 108. Vgl. B. Schäfer, Er und Wir. Martin Bubers Auseinandersetzung mit dem Gedächtnis Theodor Herzls. 109. In diesem Band, S. 185-191. Dort sind die Textabweichungen im Textapparat verzeichnet. 110. Vgl. dazu den Textkommentar zu »Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus«, in diesem Band, S. 411-413.

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Eine Erklärung

Druckvorlage: Jüdische Rundschau, 22. Jg., Heft 11, 16. März 1917, S. 91. MBB 183. Das in MBW 8 veröffentlichte »Referat über jüdische Erziehung« 111 ist die in dieser Erklärung als »erste Hälfte« bezeichnete »Ansprache« Bubers auf dem Delegiertentag der deutschen Zionisten in Berlin am 25. und 26. Dezember 1916. Der im Text angekündigte, aber nicht gehaltene zweite Teil »über den Zusammenhang von nationaler und sozialer Erziehung« dürfte in dem nachfolgenden Artikel »Kulturarbeit« vorliegen. Kulturarbeit

Druckvorlage: Der Jude, 1. Jg., Heft 12, März 1917, S. 792-793. MBB 185. Aufgenommen in: JB II, S. 92-97; JuJ, S. 671-673. Übersetzung ins Hebräische 1928. MBB 382. Es liegt aufgrund der Titelunterschrift nahe, diesen Text als den nicht gehaltenen zweiten Teil jener »Ansprache« auf dem Delegiertentag in Berlin zu identifizieren, den Buber in »Eine Erklärung« noch »vorzubringen« ankündigt. 112 Manches über den Zusammenhang von nationaler und sozialer Erziehung sei noch ungesagt. Diese Lücke füllt der vorliegende Text, wenn es heißt: »Zwei Dinge also gilt es zu wecken, zu zwei Dingen zu erziehen: zum Judentum und zur Gemeinschaft. Soziale Erziehung ohne nationale Erziehung wäre ein Wirken im Traum; aber nationale Erziehung ohne soziale wäre ein Wachen im Wahn.« 113 Gegenüber den Äußerungen aus den frühen Jahren begegnen wir einem stark gewandelten Kulturbegriff. Buber stellt die Brauchbarkeit des Begriffes in Frage, den er nur weiter benutze, weil er »nun einmal geläufig, nun einmal wirksam ist.« 114 »Wir wollen nicht Kultur, sondern Leben«.115 Aber jüdisches Leben kann sich nur in Gemeinschaft, nicht individuell, erfüllen. Diese Gemeinschaft gilt es zu schaffen. Der Blick auf das Ostjudentum scheint entzaubert: »Was man etwa im Osten jüdische Gemeinschaft nennt, sind nur Trümmer oder Bruchstücke der wirklichen«.116 Der 1917, also mitten im Krieg verfaßte Beitrag bezeugt die endgültige Überwindung des ästhetisierenden geistesgeschichtlichen Zugangs so111. 112. 113. 114. 115. 116.

MBW 8, S. 77-83. Vgl. den vorangehenden Beitrag, in diesem Band, S. 275. In diesem Band, S. 278. In diesem Band, S. 276. Ebd. Ebd.

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wohl wie der Erlebnis-Mystik zugunsten sozialer und soziologischer Fragestellungen.117 Er beschwört das neue Gemeinschaftsgefühl, das es zu schaffen gilt, das aber nur in Verbindung mit nationaler Erziehung das neue Judentum hervorbringen kann. Die Tempelweihe

Druckvorlage: Jüdische Rundschau, 20. Jg., Heft 1, Januar 1915, S. 2-4. MBB 154. Wiederabgedruckt in: JB I, S. 230-243. Ein längerer Textabschnitt ist in »Die Losung« 118 eingearbeitet, siehe den Textapparat zum vorliegenden Beitrag. Die Rede wurde laut Druckvorlage am 19. Dezember 1914 bei der Makkabäerfeier der Berliner Zionistischen Vereinigung gehalten. Der Text gehört zu der nicht unerheblichen Anzahl von Bubers öffentlichen Äußerungen seit Beginn des Ersten Weltkrieges bis Mitte 1916 (dem Datum seines ersten Entwurfs von Ich und Du 119 ), von denen sich Buber in späterer Zeit zu distanzieren suchte oder sie zumindest in einen erklärenden Zusammenhang stellte. Auf die Problematik des sogenannten »Kriegsbuber« wird in der Einleitung des vorliegenden Bandes näher eingegangen. 120 Speziell zu diesem Text sei auf M. Friedmans Mitteilung über die Reaktion von Jehuda Magnes (1877-1948), dem ersten Präsidenten der Hebräischen Universität in Jerusalem, hingewiesen. Enttäuscht und empört über die Kriegsverherrlichung in diesem Text habe Magnes beschlossen, nie wieder Texte von Buber zu lesen. Dieser Boykott hielt auch dann noch an, als Buber längst der Vorkämpfer für jüdisch-arabische Verständigung geworden war und konnte erst durch die direkte Begegnung beider in Palästina in späteren Jahren aufgehoben werden. 121 Die Losung

Druckvorlage: Der Jude, 1. Jg., Heft 1, April 1916, S. 1-3. MBB 167. Wiederabgedruckt in: JB II, S. 7-15. Dieses vieldeutige Geleitwort zum Erscheinen der neuen Zeitschrift Der Jude vom März 1916122 zeigt Buber inmitten des »Durchgangs durch das 117. Vgl. dazu P. Mendes-Flohrs Kapitel »Bubers Kehrtwendung«, in: Von der Mystik zum Dialog, S. 139-147. 118. In diesem Band, S. 286-289. 119. Vgl. die Einleitung in diesem Band, S. 41. 120. Siehe oben, S. 38-42. 121. Friedman, Martin Buber’s Life I, S. 400. 122. So Bubers Datierung in JB II, S. 7.

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Chaos«. Noch in den spirituellen Gewohnheiten der vorangehenden Epoche befangen, zeichnen sich schon Ansätze der neuen Konkretheit im politisch-sozialen Engagement Bubers ab. Sie liegen weniger in den Formulierungen an sich, als vielmehr im Grundtenor des Textes. Allerdings haften diesem Geleitwort noch die »Eierschalen« der »völkisch-nationalen« Ergüsse vor dem Bar Kochba an. Scharfen Protest trug es Buber von Gustav Landauer ein, der sich in dem berühmt gewordenen Brief vom 12. Mai 1916 Luft machen mußte: »Es kommt völlig Unzulängliches und Empörendes heraus.« 124 Zusammen mit der ersten einer weiteren Reihe von »Drei Reden« aus dem Jahr 1916 mit dem Titel »Der Geist des Orients und das Judentum« 125 hatten vor allem auch die schon von Jehuda Magnes kritisierten Passagen aus der Rede »Die Tempelweihe«, die Buber in dieses Geleitwort eingearbeitet hatte, das Faß zum Überlaufen gebracht. 126 »Nur überhaupt Gemeinschaft – das ist für Sie, was dieser Krieg gebracht hat, den Menschen im allgemeinen und den Juden im besonderen. Und eben das nenne ich ästhetisch und formalistisch. Kein lebendiger Mensch empfindet so und braucht solche Umwege; und der ›Geist Europas‹, den Sie diesmal in diesem Kriege wirksam finden, ein Gemeinschaftsgeist der Zerreißung, ist eine völlig unlebendige Konstruktion.« 127 Auf die Wirkung dieses Briefes und die Frage, ob er ausschlaggebend für Bubers Wende im Laufe des Jahres 1916 war, wird in der Einleitung dieses Bandes näher eingegangen.128 Tatsache ist, daß Landauer mit Brief vom 22. August desselben Jahres Buber seine uneingeschränkte Hochachtung für die Zeitschrift aussprach, 129 also offensichtlich eine Abkehr Bubers von den Formulierungen in »Die Losung« als vollzogen ansah. Argumente

Druckvorlage: Der Jude, 1. Jg., Heft 1, April 1916, S. 63-64. MBB 160. Aufgenommen in: JB II, S. 16-20. Die Schicksalsfrage der polnischen Juden wurde infolge des Kriegsverlaufs bald nach Ausbruch des Krieges ein zentrales Thema. Der Einsatz

123. 124. 125. 126. 127. 128. 129.

Siehe oben S. 38. Landauer an Buber, 12. Mai 1916, M. Buber, B I, S. 433-438, hier: S. 436. Wird in Band 2.1. der MBW erscheinen. Vgl. dazu die Einleitung in diesem Band, S. 38 f. M. Buber, B I, S. 436. In diesem Band, S. 40 f. Landauer an Buber, 22. August 1916, M. Buber, B I, S. 451.

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für sie gehörte zu den Gründungsmotiven der Zeitschrift Der Jude. 130 Diese kurze journalistische Polemik in Verteidigung der polnischen Juden erinnert im Stil an die während seiner Zeit als hauptverantwortlicher Redakteur der Welt verfaßte Polemik »Wir hoffen, dass es wahr ist« von 1901.131 Sie führt einen sonst wenig bekannten Buber bei der journalistischen Alltagsarbeit vor. Völker, Staaten und Zion

Druckvorlage: Völker, Staaten und Zion – Ein Brief an Hermann Cohen und Bemerkungen zu seiner Antwort, Berlin und Wien, R. Löwit 1917. MBB 176. Dieser Sonderdruck umfaßt zwei Erstdrucke aus Der Jude: 1. »Begriffe und Wirklichkeit. Brief an Herrn Geh[eimen] Regierungsrat Prof. Dr. Hermann Cohen«, in: Der Jude, 1. Jg., Heft 5, August 1916, S. 281-289 und 2. »Zion, der Staat und die Menschheit. Bemerkungen zu Hermann Cohens Antwort«, Der Jude, 1. Jg., Heft 7, Oktober 1916, S. 425-433. Gegenüber den Erstdrucken ist der Text im Sonderdruck um ausführliche Anmerkungen erweitert, wurde darum in dieser Ausgabe zugrunde gelegt. Wiederabgedruckt in: JB II, S. 26-70; JuJ, S. 280-308. Übersetzungen ins Hebräische 1928 und 1961: MBB 385, MBB 1182; ins Englische: gekürzter 1. Text in: Biemann, The Martin Buber Reader, S. 263-267; 2. Text in: Arthur A. Cohen, Hrsg., Essays from Martin Buber’s Journal Der Jude, 1916-1928, S. 85-96; Auszüge in: P. Mendes-Flohr and J. Reinharz, Hrsg., The Jew in the Modern World, S. 448-453. Im Wiederabdruck in JB II ist die persönliche Anrede »Herr Geheimrat« o. ä. weitgehend weggelassen und die zweite Entgegnung stark gekürzt. Aus den sieben Abschnitten sind fünf geworden. 132 Der Abdruck in JuJ basiert auf der Version in JB II. Biblische Textbelege sind hier nachgefügt und die Bibelzitate durch Bubers eigene Übersetzung ersetzt. 133 Ausführungen zur Interpretation dieses Textes gibt die Einleitung dieses Bandes. 134

130. Vgl. den oben zitierten Brief Bubers an Adolf Böhm vom 11. November 1915, in diesem Band. S. 43. 131. In diesem Band S. 90-91. 132. Siehe dazu den Textapparat. 133. Siehe dazu den Textapparat. 134. Siehe oben S. 44-48.

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An die Prager Freunde

Druckvorlage: Das Jüdische Prag – Eine Sammelschrift, Verlag Selbstwehr, Prag 1917, S. 2. MBB 177. Aufgenommen in JB II, S. 74-76; JuJ, S. 661662. Beide Wiederabdrucke geben unter dem Titel als Datum der Abfassung September 1916 an. Dieser Aufruf Bubers an die Prager Freunde ist das Dokument seiner inneren Verbundenheit mit den Mitgliedern des Bar Kochba. P. MendesFlohr sieht darin eines der frühen Zeugnisse für die tiefgreifende geistige Wende, die Buber während des Weltkrieges durchmachte und für die die Auseinandersetzung mit Gustav Landauer im September 1916 entscheidend war. 135 Sie brachte die Abkehr von der Erlebnismystik und die Hinwendung zur Philosophie des Dialogs. Der hier geschilderte Golem steht nach Mendes Flohr für »die wildgewordene Maschine, de[n] Krieg, dem die Menschen Heiligkeit zugesprochen haben«.136 Judenzählung

Druckvorlage: Der Jude, 1. Jg., Heft 8, November1916, S. 564. MBB 166. Zu den Faktoren, die die Solidarität der deutschen Juden mit den deutschen Kriegszielen und der Kriegsführung im Verlaufe des Krieges zunehmend unterminierten, gehörte die hier mit Verbitterung angeklagte »Judenzählung«. Diese sollte Art und Beteiligung des Militärdienstes von Juden an der Front erfassen. Sie war am 1. November 1916 vom preußischen Kriegsministerium angeordnet worden und schockierte die jüdische Öffentlichkeit. Neben anderen führte der Bankier Max M. Warburg (1867-1946) den Kampf für eine Ehrenerklärung von Seiten des Kriegsministeriums, konnte aber keine zufriedenstellende Rehabilitierung erwirken. 137 Trotz, Hilflosigkeit und Empörung mischen sich hier bei Buber zu einem spontanen Protest.

135. P. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, S. 140. Zur Auseinandersetzung mit Gustav Landauer siehe M. Tremls Abschnitte »Der Kriegsbuber« und »Ernüchterung« in MBW 1, S. 73-85. 136. P. Mendes-Flohr, ebd., S. 141. 137. Vgl. Werner T. Angress, The German Army’s ›Judenzählung‹ 1916. Siehe auch M. Treml in MBW 1, S. 83.

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Ein Heldenbuch

Druckvorlage: Der Jude, 1. Jg., Heft 10, Januar 1917, S. 641-642. MBB 184. Wiederabgerduckt in: JB II, S. 77-81. Die Heldenverehrung im nietzscheanischen Stil, wie sie noch in dem Herzl-Nachruf »Er und Wir« 138 von 1910 zum Ausdruck gekommen war, hat einem reflektierten Heldenbild Platz gemacht: »Der jüdische Held ist der, dessen Sache die des Geistes und dessen Widersache die der Gewalt ist.« 139 Buber knüpft die Verbindung der gefallenen Wächter und Arbeiter, denen dieses Gedenkbuch gewidmet ist, zu den biblischen Helden Gideon, dem frühen David und dessen Helfer Barsilai, die genau wie die Gefallenen das wahre Vorbild des jüdischen Helden sind. Sie stehen treu zu einer freigewählten Sache, sie sind es, »die das Göttliche wirklich und gegenwärtig machen.«140 Die Polnischen und Franz Blei

Druckvorlage: Der Jude, 1. Jg., Heft 11, Februar 1917, S. 774-777. MBB 188. Wiederabgedruckt in: JB II, S. 82-91. Wie schon in dem Beitrag »Argumente« 141 will Buber auch mit diesem Artikel der Verbreitung antisemitischer Vorurteile über die Ostjuden, speziell durch den deutschen Schriftsteller Franz Blei (1871-1942), entgegentreten. Ihre Unwahrheit widerlegt Buber mit offiziellen Statistiken und verwehrt sich gegen die »scheußliche Verzerrung« Bleis. Klar und kämpferisch zeiht Buber Blei hier der Lüge. Er steigt nun in der Tat mit seiner Zeitschrift »in den Kampfplatz des Tages« hinab. Unser Nationalismus

Druckvorlage: Der Jude, 2. Jg., Heft 1/2, April/Mai 1917, S. 1-3. MBB 193. Wiederabgedruckt in JB II, S. 98-103. Dieses Geleitwort zum zweiten Jahrgang der Zeitschrift Der Jude erinnert rhethorisch an die Prager »Drei Reden über das Judentum«. Es offenbart das schon dort anklingende Ringen Bubers mit den Begriffen Volk, Nation, Nationalität, Staat und Macht, das ihn spätestens seit der Kontroverse mit Hermann Cohen 142 vordringlich in Anspruch nahm. Der unmit138. 139. 140. 141. 142.

In diesem Band, S. 129-133. In diesem Band, S. 325. Siehe auch den Beitrag »Jiskor«, in diesem Band, S. 345-347. In diesem Band, oben S. 290-292. Siehe »Völker, Staaten und Zion«, in diesem Band, S. 293-320.

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telbare Auslöser ist diesmal die russische Revolution und die damit verbundenen Spekulationen über die Zukunft der russischen Juden. Auch dieses Geleitwort ist wieder eine Verteidigung des Ostjudentums. Buber glaubt daran, daß der Ostjude die durch die Revolution gewonnene Freiheit besser in nationale Ziele einbringen könne als der von Achad Haam in seinem Artikel »Äußere Freiheit und innere Knechtschaft« kritisierte Westjude. Wertvollen Aufschluß zur Entstehung dieses Geleitworts gibt Bubers Korrespondenz darüber mit Viktor Jacobson (1869-1934), dem seinerzeit wichtigsten Partner des Zeitschriftenprojektes. 143 Buber verteidigt sich darin gegen zwei vorsichtig angedeutete Vorwürfe Jacobsons: zu viel »Wortkunst« und zu wenig Sachlichkeit. Die mangelnde Sachlichkeit erklärt Buber aus der Zwangssituation, die ihn den zweiten Teil des Geleitworts zu schnell zu Papier bringen ließ. Aber den Vorwurf der »mangelnden Einfachheit in der Diktion« weist er emphatisch zurück, denn der habe ihn »mitten ins Herz getroffen«. Buber formuliert hier eine Rechtfertigung seines Stils, die wegen ihrer Grundsätzlichkeit zitiert sei: »Sie haben anscheinend die irrige Vorstellung, als könne ich das, was ich sage, auch auf eine andere, einfachere Weise sagen und unterließe das nur aus einem literarischen Schigaon [hebräisch: Verrücktheit], aus einem Modernitätsspleen, oder wie wir es nennen wollen. Dem ist nicht so. Vielmehr kann ich, was immer ich schreibe, in diesem Augenblick nur so und nicht anders sagen. Ich kann meine Diktion nicht nach Belieben vereinfachen und komplizieren, sondern sie ergibt sich mit Notwendigkeit aus meiner seelischen Verfassung und meiner Beziehung zum Gegenstand, und ich vermag sie nicht abzuändern. Das einzige, was ich mir vornehmen könnte, wäre: Uneinfaches unveröffentlicht zu lassen.«144

Ein politischer Faktor

Druckvorlage: Der Jude, 2. Jg., Heft 5/6, August/September 1917, S. 289291. MBB 187. Gleichzeitig abgedruckt in: Jüdische Rundschau, 22. Jg., Nr. 32, 10. August 1917, S. 261 und in: Jüdische Zeitung, 9. Jg., Nr. 33, 17. August 1917, S. 1-2. Aufgenommen in: JB II, S. 111-116, JuJ, S. 501504. Diesen Artikel schrieb Buber aus Anlaß der 20. Wiederkehr des Ersten Zionistenkongresses in Basel 1897. Inmitten des politischen Getriebes im Vorfeld der Balfour Deklaration, die am 2. November 1917 erfolgte, 143. Jacobson an Buber, 14. Mai 1917 und Bubers Antwort an diesen vom 19. Mai 1917, M. Buber. B I, S. 494-498. Zu Viktor Jacobsons Bedeutung für Der Jude, vgl. E. Lappin, Der Jude, S. 38-42. 144. M. Buber, B I, S. 496 f.

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erhebt Buber in diesem Appell seine warnende Stimme für eine zionistische Politik des Freimuts, der Offenheit und der Direktheit. Nur durch solche könne der Zionismus wirklich ein politischer Faktor werden. Simon Bernstein (1884-1962), ein aus Rußland gebürtiger Zionist, der zusammen mit Martin Rosenblüth (1886-1963) vorübergehend das Kopenhagener Büro der Zionistischen Organisation im Ersten Weltkrieg leitete, reagierte mit einem scharfen Artikel unter dem Titel »Politischer Asketismus« in der Jüdischen Rundschau, 145 wo es heißt: »Der kurze Artikel des Herrn Dr. Buber hat einen Punkt berührt, der innerhalb der Zionistischen Organisation längst Aufklärung und Regelung verlangt. Das sind noch die Überreste früherer ›Geister‹ innerhalb unserer Organisation, die den politischen Zionismus stets mit scheelen Augen verfolgt haben.« Wir haben es hier mit einer klassischen, wenn auch verpäteten Auseinandersetzung zwischen einem Vertreter des politischen Zionismus und einem Verteidiger des Kulturzionismus zu tun. Bubers Antwort »Asketismus und Libertinismus« 146 ist in derselben Nummer der JR im Anschluß an Bernsteins Artikel abgedruckt. Asketismus und Libertinismus

Druckvorlage: Jüdische Rundschau, 22. Jg., Heft 42, 19. Oktober 1917, S. 339-340. MBB 178. Mit dieser Entgegnung wollte Buber seine im Artikel »Ein politischer Faktor« geäußerten Ansichten nochmals bekräftigen. Tatsächlich kann man Buber hier wohl als einen »Rufer in der Wüste« bezeichnen, denn die Entstehungsgeschichte der Balfour Erklärung ist alles andere als »freimütig«, »offen« und »direkt« verlaufen.147 Die Warnung vor einem Zusammengehen mit den Entente-Mächten, besonders mit England, führte zur Entfremdung von Viktor Jacobson. 148 Die Opposition gegen das Bündnis mit England fand ihren klarsten Ausdruck in dem Beitrag »Die Eroberung Palästinas. 149

145. Simon Bernstein, »Politischer Asketismus«, in: JR, 22. Jg., Nr. 42, 19. Oktober 1917, S. 338-339. 146. Siehe den nachfolgenden Beitrag in diesem Band, oben S. 329-341. 147. Vgl. dazu etwa die Forschungen von Mayir Vereté, speziell sein »The Balfour Declaration and its Makers«, in: Middle Eastern Studies 6, 1970, S. 48-76. 148. E. Lappin, Der Jude, S. 41. 149. In diesem Band, S. 360-362.

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Eine unnötige Sorge

Druckvorlage: Der Jude, 3. Jg., Heft 4, Juli 1918, S. 195-196. MBB 210. Aufgenommen in: JB II, S. 177-181. In die zahlreichen Kontroversen, auf die sich Buber als hauptverantwortlicher Redakteur und Herausgeber des Juden durchaus streitbar einließ, reiht sich auch diese Entgegnung. Diesmal ist sie gegen die Neuorthodoxie gerichtet, die sich gerade in der Zeit der Neuordnung der Verhältnisse in Palästina politisch zu profilieren begann. Als Sprecher dieser Neuorthodoxie trat ganz besonders Isaac Breuer (1883-1946), der Enkel Samson R. Hirschs (1808-1888), hervor, der den Zionisten jeden Anspruch auf Palästina bestritt, weil sie in seinen Augen keine Repräsentationsrechte für die Juden hatten. 150 Geleitwort [zum Buch Jiskor]

Druckvorlage: Jiskor – Ein Buch des Gedenkens an gefallene Wächter und Arbeiter im Lande Israel, Deutsche Ausgabe mit einem Geleitwort von Martin Buber, Jüdischer Verlag: Berlin 1918, S. 1-4. MBB 199. Das Buch Jiskor erschien erstmals in hebräischer Sprache 1911 in Tel Aviv als Anthologie mit überwiegend literarischem Charakter zum Gedenken an acht in Auseinandersetzungen mit arabischen Angreifern gefallene Wächter. Es kam 1916 und 1917 auf Jiddisch in jeweils redaktionell und inhaltlich stark veränderter Form in New York heraus. 151 Auf der Grundlage der zweiten jiddischen Ausgabe (1917) unternahm Gershom Scholem die deutsche Übersetzung. Er stimmte wegen einiger militaristisch anmutender Beiträge und ihm nicht genehmer Tendenzen im Buch der Nennung seines Namens als Übersetzter nich zu, nahm aber das Übersetzungsangebot an, weil er mit dem Honorar seinen Lebensunterhalt für einige Monate bestreiten konnte. 152 Auch Viktor Jacobson, als einer der wichtigen zionistischen Agenten in Konstantinopel während des Krieges, hatte aus politischen Gründen Einwände gegen die deutsche Veröffentlichung des Buches. Buber, »dessen zionistische Autorität da150. Zur Auseinandersetzung der Neuorthodoxie mit dem Zionismus vgl. M. Morgenstern, Von Frankfurt nach Jerusalem, bes. Kapitel 3, 3: »Der antizionistische Geschichtsphilosoph (Hirsch und Herzl)«, S. 259-276. 151. Zur Analyse und Geschichte des Buches siehe Jonathan Frankel, The ›Yiskor Book‹ of 1911 – A Note on National Myths in the Second Aliya. 152. G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, S. 100-101.

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Kommentar

mals beträchtlich war«, entschied die Herausgabe und verfaßte das vorliegende Geleitwort. 153 Wandlung

Druckvorlage: Jüdische Rundschau, 23. Jg., Heft 39, 27. September 1918, S. 302 (nicht in MBB verzeichnet). Der vorliegende Ausschnitt aus einer Rede, die selbst nicht nachgewiesen werden konnte, ist ein gutes Beispiel dafür, auf welche Weise Begriffe wie Renaissance, Wahrheit und Wirklichkeit, Volk, Nation und Kultur Buber geradezu heimsuchten und ihn in wechselnden Konstellationen »belagerten«, um von ihm aufgenommen, bearbeitet und schließlich beherrscht zu werden. Auch der hier erstmals auftauchende »hebräische Humanismus»gehörte dazu. In späterer Zeit wurde er ein Leitmotiv Bubers und trat an die Stelle der »Jüdischen Renaissance«. 154 Der Titel »Wandlung«, den Buber selbst auf die innere Entwicklung des Zionismus bezieht, weist insofern über diesen Bezug hinaus auf Bubers eigenen Erkenntnisweg. Die im November 1917 erfolgte Balfour Deklaration, die russische Revolution und das sich abzeichnende Ende des Weltkrieges hatten Buber mit großen Hoffnungen erfüllt. Zu keinem Zeitpunkt war er so positiv und optimistisch gegenüber der zionistischen Bewegung eingestellt und mit so großer Tatfreude bereit, die Zukunft mitzugestalten. Die Entdeckung von Palaestina

Druckvorlage: Ost und West, 5. Jg., Heft 2, Februar 1905, Sp. 127-130. MBB 67. Drei Radierungen von Hermann Struck sind im Artikel reproduziert: Jerusalem, Häuser in Petach Tikwah und Kreuzfahrerruinen in Kalansawe. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 195-198. Buber befaßt sich hier erstmals mit dem Land Palästina (hebräisch: Eretz Israel). Palästina ist noch voll und ganz das Objekt subjektiver Wahrnehmung, einer aus Stimmungen produzierten Vorstellung. Anders scheint Buber zu jenem Zeitpunkt eine Annäherung an das ferne Land Palästina nicht möglich. Aber er formuliert die Aufgabe, Palästina, von dem Zionisten in seiner Umgebung seinerzeit kaum ein konkretes Bild hatten, bzw. haben konnten, zu entdecken. Als einen, der einen jüdischen Weg dazu zeigt, verweist er auf den bekannten Radierer Hermann Struck.

153. Ebd., S. 101. 154. Vgl. dazu die Einleitung in diesem Band, S. 28.

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Das Land der Juden

Druckvorlage: Die Welt, 16. Jg., Nr. 3, 29. März 1912, S. 395-396. MBB 120. Aufgenommen in: JB I, S. 192-195. Englische Übersetzung in: The First Buber, S. 206-208. Die Angabe »Aus einer Rede 1910« unter dem Titel konnte nicht mit Sicherheit aufgeklärt werden. Am 4. Juni 1910 schreibt E. Rappeport an Buber »Am Abend, nachdem Sie bei der Feier des Vereins Bar Kochba in Wien über unser Mutterland gesprochen hatten [Hervorhebung nicht in der Vorlage], fragte ich Sie […]«. 155 Schaeder verweist dazu auf den hier vorliegenden Artikel, 156 womit jedoch nicht geklärt ist, welcher Rede er entstammt. Die dritte der drei Prager Reden, »Die Erneuerung des Judentums«, der er thematisch entsprechend dem Textbeginn zuzuordnen wäre, wurde erst am Ende des Jahres gehalten, ist also auszuschließen. Die zweite Rede, »Der Jude und sein Werk«, die am 2. April in Prag und wahrscheinlich, wie von der dritten Rede bezeugt, 157 zuerst in Wien vorgetragen wurde, brachte der Wiener Bar Kochba in seinem Jüdischen Almanach heraus. 158 Es ist denkbar, aber nicht nachweisbar, daß der vorliegende Text in ihr enthalten war, im Abdruck aber von Buber ausgelassen wurde. Der Abschnitt würde zum Grundgedanken der zweiten Rede, der wiederherzustellenden Einheit, insofern passen, als er die Befreiung von »innerer und äußerer Galuth«, d. i. das Endziel der Erlösung, erst durch die Wiedergewinnung des Zusammenhanges mit dem »Boden der Heimat« proklamiert. Letzteres wäre jedoch ein noch stark zu vertiefender Themenkomplex gewesen, auf den Buber sich vielleicht angesichts des geschlossenen Konzepts der DR nicht einlassen wollte. Im Wiederabdruck in JB I, S. 251 wird erklärt, daß der Text im Vorwort zur tschechischen Übersetzung der DR von 1911 (MBB 116, dort: 1912) erstmals veröffentlicht wurde. Der Augenblick

Druckvorlage: Die Welt, 18. Jg., Nr. 2, 9. Januar 1914, S. 31-32. MBB 134. Fast gleichzeitig veröffentlicht in: Jüdische Rundschau, 19. Jg., Beiblatt 2/3, 16. Januar 1914. Aufgenommen in JB I, S. 222-229 (dort mit dem Untertitel: Zum palästinensischen Sprachenstreit (1913)).

155. 156. 157. 158.

M. Buber, B I, S. 284-285. Ebd., S. 284 (die Jahreszahl dort ist von »1902« in »1912« zu korrigieren). Siehe den Kommentar zu den Drei Reden über das Judentum, in diesem Band S. 415. Ebd.

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Dieser Text kommentiert den sogenannten »Sprachenkampf« im Jischuv, der knapp ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkrieges um die Unterrichtssprache an der neu errichteten Mittelschule des Haifaer Technikums ausbrach. 159 Hier standen sich der vom deutschen Auswärtigen Amt gestützte nichtzionistische Hilfsverein unter dem prominenten Paul Nathan (1857-1927) und die Zionistische Organisation, speziell deren Vorkämpfer für die hebräische Sprache, gegenüber. Kurz vor Vollendung des Haifaer Technikums hatte der Hilfsverein beschlossen, die deutsche Sprache als Unterrichtssprache festzulegen und damit den erbitterten Widerstand der Zionisten, ganz besonders im Jischuv selbst, hervorgerufen. Dabei ging es »um mehr als nur die Unterrichtssprache am Haifaer Technikum. Es ging um das Hebräische als Muttersprache des werdenden Erez Israel.« 160 Buber gehörte zu den radikalen Verteidigern der hebräischen Sprache, während es unter den deutschen Zionisten auch Gruppierungen gab, die aus politischen Gründen eine Konfrontation mit dem Auswärtigen Amt vermeiden wollten. Der von Eloni als »übersteigert-pathetisch« bezeichnete Beitrag Bubers entspricht auch in seiner militanten Sprache Bubers mentaler Verfassung bei Ausbruch des Krieges. 161 Die Eroberung Palästinas

Druckvorlage: Der Jude, 2. Jg., Heft 10/11, Januar/Februar 1918, S. 633634. MBB 203. Wiederabgedruckt in: JB II, S. 132-137.; JuJ, S. 505-507. Übersetzung ins Hebräische 1966: MBB 1292. Die schon in »Ein politischer Faktor« und in »Asketismus und Libertinismus« geäußerte Ablehnung eines politischen Bündnisses mit England erhält hier ihre klarste Formulierung. Sie hatte ihren Ursprung in Bubers sich gerade in dieser Zeit konsolidierenden sozialistischen Grundauffassungen und dem daraus resultierenden Mißtrauen gegen den »Ungeist des Merkantilismus«. 162 Anhang

Eine Jüdische Hochschule erschien 1902 im Jüdischen Verlag Berlin (MBB 35). Die im Text angekündigten Übersetzungen in andere Spra159. Eingehend analysiert bei Y. Eloni, Zionismus in Deutschland, Kapitel 9, S. 313-356, der auch den vorliegenden Artikel ausgiebig zitiert. 160. Ebd., S. 322. 161. Vgl. in diesem Band die übrigen Beiträge Bubers zu Kriegsbeginn. 162. Siehe dazu auch die Einleitung in diesem Band, S. 49.

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chen blieben aus. Der Magnes Verlag der Hebräischen Universität Jerusalem brachte 1968 zum fünfzigjährigen Jubiläum der Grundsteinlegung der Hebräischen Universität auf dem Skopusberg am 24. Juli 1918 die Broschüre in Originalsprache mit hebräischer Übersetzung von Shaul Esch samt einem Vorwort von Hugo Bergmann neu heraus. Zur Autorenschaft der Broschüre vgl. die Einleitung in diesem Band, S. 21.

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Abkürzungsverzeichnis B I-III

BuT CZAJ DR IuP JB I JB II

JR JuJ

KI MBA MBB

MBW Protokoll 1901 RGA

Vorrede

Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, 3 Bde., hrsg. und eingel. von Grete Schaeder, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1972-75. Bd. I: 1897-1918 (1972), Bd. II: 1918-1938 (1973), Bd. III: 1938-1965 (1975). Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, hrsg. von Alex Bein et al., 7 Bde., Frankfurt a. M./Berlin: Propyläen Verlag 1983-1996. Central Zionist Archives, Jerusalem Martin Buber, Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M.: Literarische Anstalt Rütten & Loening 1911. Martin Buber, Israel und Palästina, Zürich: Artemis 1950. Martin Buber, Die Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen. 1900-1915, Berlin: Jüdischer Verlag 1916. MBB 157. Martin Buber, Die Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen. Zweite Folge, 1916-1920, Berlin: Jüdischer Verlag 1920. MBB 233. Jüdische Rundschau, Berlin. Martin Buber, Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, mit einer Einleitung von Robert Weltsch, Köln: J. Melzer Verlag 1963. MBB 1216. Martin Buber, Kampf um Israel – Reden und Schriften, 1921-1932, Berlin: Schocken Verlag 1933. Martin Buber-Archiv, Jüdische National- und Universitätsbibliothek Jerusalem. Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn und Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität und München/New York et al.: K. G. Saur 1980. Martin Buber-Werkausgabe Stenographisches Protokoll des V. Zionisten-Congresses in Basel, Wien 1901. Martin Buber, Reden über das Judentum, Gesamtausgabe, Frankfurt a. M.: Literarische Anstalt Rütten & Loening 1923 (Berlin: Schocken Verlag 1932). Martin Buber, Vorrede zur Gesamtausgabe der Reden über das Judentum, Erstabdruck unter dem Titel »Eine Vorrede« in: Der Jude, 7. Jg., Heft 3, März 1923, S. 129-133 = JuJ, S. 3-9.

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Abkürzungsverzeichnis

Hebräische Bibel Gen Ex Lev Num Dtn Jos Jdc II Sam Jes Jer Ez Am Mi Sach Ps Hi Prov

Genesis Exodus Leviticus Numeri Deuteronomium Josua Judicum (Richter) 2. Samuel Jesaja Jeremia Ezechiel Amos Micha Sacharja Psalm(en) Hiob Proverbia (Sprüche)

Neues Testament Mt Lk Joh Apk

Matthäus Lukas Johannes Johannes Apokalypse (Offenbarung des Johannes)

Außerkanonische Schriften 1 Hen 2 Makk

1. Henoch 2. Makkabäer

Rabbinische Literatur mAv jBer bSan BerR

Mischna, Traktat (Pirke) Avot Talmud Jeruschalmi, Traktat Berakhot Talmud Bavli, Traktat Sanhedrin Bereschit Rabba (Genesis Rabba)

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Abkürzungsverzeichnis

MShir PesK

Midrasch Schir HaSchirim Rabba (Hohes Lied Rabba) Pesiqta deRav Kahana

Andere Literatur Horaz, c.

Horaz, Oden (carmina)

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Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellenverzeichnis 2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographien 2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers 2.3 Verwendete Werke Martin Bubers 2.4 Verwendete Literatur

1. Quellenverzeichnis Aus dem Martin Buber-Archiv der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem sind folgende unveröffentlichte Manuskripte verwendet worden: Arc. Ms. Var. 350 h 23 Arc. Ms. Var. 350 h 23 Arc Ms. Var. 350/36 bet Arc Ms. Var. 350/vav 28

Vom Wesen des Judentums Die Erneuerung des Judentums, Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen Vor 45 Jahren Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform, Typoskript

2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographien Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn und Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität und München/New York et al.: K. G. Saur 1980.

2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers An die Prager Freunde, in: Das Jüdische Prag – Eine Sammelschrift, Prag: Verlag Selbstwehr 1917, S. 2. Antworten Martin Bubers auf eine Tendenzrundfrage des Berliner Vereins Jüdischer Studenten im Wintersemester 1900/1901, in: Der Jüdische Student, 8. Jg., Heft 1, 20. April 1911, S. 10. Argumente, in: Der Jude, 1. Jg., Heft 1, April 1916, S. 63-64.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Asketismus und Libertinismus, in: Jüdische Rundschau, 22. Jg., Heft 42, 19. Oktober 1917, S. 339-340. Der Augenblick, in: Die Welt, 18. Jg., Nr. 2, 9. Januar 1914, S. 31-32. Aus dem Munde der Bibel, in: Die Welt, 5. Jg., Nr. 37, 13. September 1901, S. 9-10. Bergfeuer. Zum fünften Congresse, in: Die Welt, 5. Jg., Nr. 35, 30. August 1901, S. 23. Die Congresstribüne, in: Die Welt, 5. Jg., Nr. 36, 6. September 1901, S. 1-2. Der Dichter und die Nation, in: Jüdische Rundschau, 27. Jg., Heft 103/104, 29. Dezember 1922, S. 671. Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1911. Die Entdeckung von Palaestina, in: Ost und West, 5. Jg., Heft 2, Februar 1905, Sp. 127-130. Er und wir, in: Die Welt, 14. Jg., Nr. 20, 20. Mai 1910, S. 445-446. Eine Erklärung, in: Jüdische Rundschau, 22. Jg., Heft 11, 16. März 1917, S. 91. Die Eroberung Palästinas, in: Der Jude, 2. Jg., Heft 10/11, Januar/Februar 1918, S. 633-634. Gegenwartsarbeit, in: Die Welt, 5. Jg., Nr. 6, 8. Februar 1901, S. 4-5. Ein geistiges Centrum, in: Ost und West, 2. Jg., Nr. 10, Oktober 1902, Sp. 663-672. Geleitwort, in: Jiskor – Ein Buch des Gedenkens an gefallene Wächter und Arbeiter im Lande Israel, Deutsche Ausgabe mit einem Geleitwort von Martin Buber, Berlin: Jüdischer Verlag 1918, S. 1-4. Georg Arndt zum Gedächtnis, in: Jüdische Turnzeitung, 10. Jg., Heft 12, Dez. 1909, S. 213-214. Das Gestaltende, in: Die Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen, 1900-1915, Berlin: Jüdischer Verlag 1916, S. 205-216. Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur, in: Jüdische Rundschau, 15. Jg., Heft 2, 14. Januar 1910, S. 13-14. Ein Heldenbuch, in: Der Jude, 1. Jg., Heft 10, Januar 1917, S. 641-642. Herzl und die Historie, in: Ost und West, 4. Jg., Nr. 8-9, August/September 1904, Sp. 583-594. J[izchak] L[eib] Perez, in: Jüdischer Nationalkalender auf das Jahr 5676 (1915-1916), R. Löwit Verlag: Wien 1915, S. 80-83. J[izchak] L[eib] Perez – Ein Wort zu seinem fünfundzwanzigjährigen SchriftstellerJubiläum, in: Die Welt, 5. Jg., Nr. 18, 3. Mai 1901, S. 9. Der Jude. Revue der jüdischen Moderne, erste Vorankündigung der Zeitschrift, Berlin: Jüdischer Verlag 1903. Judenzählung, in: Der Jude, 1. Jg., Heft 8, November1916, S. 564. Die jüdische Bewegung, in: General-Anzeiger für die gesamten Interessen des Judentums, 4. Jg., Nr. 36, 3. September 1905, S. 1. Eine jüdische Hochschule – Das Projekt einer jüdischen Hochschule, M. Buber, B. Feiwel, Ch. Weizmann, Berlin: Jüdischer Verlag 1902. Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus, in: Die Stimme der Wahrheit –

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus, hrsg. von Lazar Schön, 1. Jg., Würzburg: Verlag N. Philippi 1905, S. 205-217. Juedische Renaissance, in: Ost und West, 1. Jg., Heft 1, Januar 1901, Sp. 7-10. Jüdische Wissenschaft, in: Die Welt, 5. Jg., Nr. 41 und 43, 11. und 25. Oktober 1901, jeweils S. 1-2. Kulturarbeit, in: Der Jude, 1. Jg., Heft 12, März 1917, S. 792-793. Das Land der Juden, in: Die Welt, 16. Jg., Nr. 3, 29. März 1912, S. 395-396. Die Losung, in: Der Jude, 1. Jg., Heft 1, April 1916, S. 1-3. Ein politischer Faktor, in: Der Jude, 2. Jg., Heft 5/6, August/September 1917, S. 289291. Die Polnischen und Franz Blei, in: Der Jude, 1. Jg., Heft 11, Februar 1917, S. 774777. Renaissance und Bewegung, in: JB I, S. 95-108. Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung, in: Juedischer Almanach 5663 (1902), Berlin: Jüdischer Verlag, S. 19-24. Eine Section für jüdische Kunst und Wissenschaft, in: Die Welt, 5. Jg., Nr. 13, 29. März 1901, S. 9. Die Tempelweihe, in: Jüdische Rundschau, 20. Jg., Heft 1, Januar 1915, S. 2-4. Theodor Herzl, in: Freistatt, 6. Jg., Heft 29, 23. Juli 1904, S. 593-596. Über Agnon, in: Treue – Eine jüdische Sammelschrift, hrsg. von Leo Herrmann, Berlin: Jüdischer Verlag 1916, S. 59. Eine unnötige Sorge, in: Der Jude, 3. Jg., Heft 4, Juli 1918, S. 195-196. Unser Nationalismus, in: Der Jude, 2. Jg., Heft 1/2, April/Mai 1917, S. 1-3. Völker, Staaten und Zion – Ein Brief an Hermann Cohen und Bemerkungen zu seiner Antwort, Berlin und Wien: Verlag R. Löwit 1917. Von jüdischen Dichtern und Erzählern, in: Jüdischer Nationalkalender auf das Jahr 5677 (1916-1917), 2. Jg., Wien: Verlag der Jüdischen Zeitung 1916, S. 119-123. Vor Sonnenaufgang, in: Jüdischer Volkskalender für das Jahr 5661 (1900-1901), Leipzig: M. W. Kaufmann 1900, S. 1-3. Vorwort [für E. E. Rappeport], in: Elijahu Rappeport, Loblieder, Köln: MarcanBlock-Verlag 1923, S. 5. Der Wägende, in: Der Jude, 1. Jg., Heft 6, September1916, S. 353-354. Wandlung, in: Jüdische Rundschau, 23. Jg., Heft 39, 27. September 1918, S. 302. Was ist zu tun?, in: JB I, S. 122-137. Wege zum Zionismus, in: Die Welt, 5. Jg., Nr. 51, 20. Dezember 1901, S. 5-6. Wir hoffen, dass es wahr ist, in: Die Welt, 5. Jg., Nr. 45, 8. November 1901, S. 1-2. Ein Wort zum fünften Kongreß, in: Jüdische Volksstimme, 2. Jg., Heft 24, 15. Januar 1902 und 3. Jg., Heft 2, 15. Februar 1902, jeweils S. 2-3. Das Zion der jüdischen Frau, in: Die Welt, 5. Jg., Nr. 17, 26. April 1901, S. 3-5. Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform, maschinenschriftliches Typoskript, Arc. Ms. Var. 350/vav 28. Die Zukunft, in: Selbstwehr, 6. Jg., Heft 37, 12. September 1912, S. 9.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Zur Aufklärung, in: Jüdische Rundschau, 9. Jg., Nr. 48, 2. Dezember 1904, S. 417418. Zwei Sprüche vom Juden-Mai, in: Die Welt, 5. Jg., Nr. 20, 17. Mai 1901, S. 9-10.

2.3 Verwendete Werke Martin Bubers Achad Haam Gedenkrede in Berlin vom 9. Januar 1927, in: KI, S. 145-149 = JuJ, S. 759-761. Achad Haam Gedenkrede in Basel vom 30. August 1927, in: KI, S. 150-169 = JuJ, S. 762-770. Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, hrsg. und eingel. von Grete Schaeder, 3 Bde, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1972-75. The First Buber. Youthful Zionist Writings of Martin Buber, hrsg. von Gilya G. Schmidt, Syracuse: Syracuse University Press 1999. Die drängende Stunde (Über Leo Pinsker und Theodor Herzl), in: KI, S. 127-146. Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage, hrsg. von Paul MendesFlohr, Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1993. Vom Geist des Judentums. Reden und Geleitworte, Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1916. Der Geist des Orients und das Judentum, in: Vom Geist des Judentums, S. 9-48 = JuJ, S. 46-65. Gustav Landauer – Sein Lebensgang in Briefen, hrsg. von Martin Buber und Ina Britschgi-Schimmer, 2 Bde., Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1929. Israel und Palästina. Zur Geschichte einer Idee, Zürich: Artemis 1950 (DTV, München 1968). Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, mit einer Einleitung von Robert Weltsch, Köln: J. Melzer Verlag 1963. Die Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen, 1900-1915, Berlin: Jüdischer Verlag 1916. Die Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen. Zweite Folge, 19161920, Berlin: Jüdischer Verlag 1920. Jüdische Religiosität, in: Vom Geist des Judentums, S. 49-74 = JuJ, S. 65-78. Jüdisches Nationalheim und nationale Politik in Palästina, in: JuJ, S. 330-342. Kampf um Israel – Reden und Schriften, 1921-1932, Berlin: Schocken Verlag 1933. Die Lehre vom Zentrum (Über Achad Haam), in: IuP, S. 181-187 = JuJ, S. 442-447. Nationalismus (Referat auf dem Karlsbader Kongreß 1921), in: KI, S. 225-242 = JuJ, S. 309-319. On Judaism, hrsg. von Nahum N. Glatzer, New York: Schocken 1967. Reden über das Judentum. Gesamtausgabe, Frankfurt a. M.: Rütten und Loening 1923 (Schocken Verlag 1932). Te’uda we-ji’ud – Ma’amarim al injene ha-jahadut (hebr., Zeugnis und Bestimmung – Artikel über das Judentum), Bd. 1; Jerushalayim: Ha-sifriya ha-tsiyonit 1959.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Die Tränen. Zum zehnten Todestag Hermann Cohens (1928), in: JuJ, S. 810-911. Vertrauen. Zu Achad Haams 70. Geburtstag (1926), in: KI, S. 143 f. = JuJ, S. 755 f. Vorrede zu Reden über das Judentum. Gesamtausgabe, in: JuJ, S. 3-9.

2.4 Verwendete Literatur Achad Haam, Am Scheidewege, aus dem Hebräischen von Israel Friedländer und Harry Torczyner, Bd. 1, Berlin 1904, 2. verb. und verm. Aufl. Berlin 1913, Berlin 1923; Bd. 2, Berlin 1916, Berlin 1923 (aus dem Hebräischen von Hugo Knöpfmacher und Ernst Müller). Ders., Äußere Freiheit und innere Knechtschaft, in: Am Scheidewege, Bd. 1, 1923, S. 246-266. Ders., Dr. Pinsker und seine Broschüre, in: Am Scheidewege, Bd. 1, 1923, S. 163-182. Ders., Die Lehre des Herzens, in: Am Scheidewege, Bd. 1, 1923, S. 195-210. Ders., Nationale Ethik, in: Am Scheidewege, Bd. 2, 1923, S. 139-159. Ders., Die Renaissance des Geistes, in: Am Scheidewege, Bd. 2, 1916, S. 105-155. Ders., Die Wahrheit aus Palästina, in: Am Scheidewege, Bd. 1, 1923, S. 84-112. Almog, Shmuel, Zionism and History. The Rise of a New Jewish Consciousness, New York 1987. Angress, Werner T., The German Army’s ›Judenzählung‹ of 1916. Genesis – Consequences – Significance, in: Leo Baeck Institute Yearbook 23, 1978, S. 117-137. Aus unbekannten Schriften. Festgabe für Martin Buber zum 50. Geburtstag, Berlin 1928. Beller, Steven, Herzl, Wien 1996. Bernstein, Simon, Politischer Asketismus, in: Jüdische Rundschau, 22. Jg., Nr. 42, 1917, S. 338-339. Biemann, Asher, Aesthetic Education in Martin Buber: Jewish Renaissance and the Artist, in: Michael Zank (Hrsg.), New Perspectives on Martin Buber, Tübingen 2006, S. 85-110. Ders., The Problem of Tradition and Reform in Jewish Renaissance and Renaissancism, in: Jewish Social Studies 8.1, 2001, S. 58-87. Ders., Einleitung zu MBW 6, Gütersloh 2003, S. 9-68. Birnbaum, Nathan, Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande als Mittel zur Lösung der Judenfrage. Ein Appell an die Guten und Edlen aller Nationen, Wien 1893. Ders., Gottes Volk, Wien/Berlin 1918. Brenner, Michael, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000. Breuer, Isaac, Judenproblem, Halle/Saale [1917/1918]. Byron, Lord, Hebrew Melodies, London 1815. Cohen, Arthur A. (Hrsg.), The Jew. Essays from Martin Buber’s Journal ›Der Jude‹, 1916-1928, Tuscaloosa 1980.

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Glossar a Actions-Comitee: vom Zionistenkongreß gewählte höchste parlamentarische Instanz der Zionistischen Organisation zwischen den Kongressen. Es ist zu unterscheiden zwischen dem »engeren (oder kleinen) A.C.«, dem geschäftsführenden Gremium (später die Exekutive) und dem »großen A.C.«, einer Art Senat ebenfalls vom Kongreß gewählter Vertrauensmänner. Archeus: nach Paracelsus die in den Samen schaffende Kraft, die den Organismen ihre Gestalt gibt. Bar Kochba: hebr. Sternensohn; Name des Anführers eines Aufstandes in Palästina gegen die Römer (ca. 132-135 n. Chr.) und Namenspatron des 1893 in Prag gegr. Verein jüdischer Hochschüler. Zahlreiche Anhänger Bubers waren Mitglieder des Vereins, dem große Bedeutung für den sog. Kulturzionismus und die jüd. Jugendbewegung zukommt. Baseler Programm: grundlegendes vom Ersten Zionistenkongreß in Basel 1897 verabschiedetes Programm der Zionistischen Organisation; darin wurde das Streben nach einer öffentlich rechtlich gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina festgelegt. Batlen: jidd. Müßiggänger. Bilu (Akronym von Bejt Ja’aqov lekhu we-nelkha): hebr. Haus Jakob, kommt und laßt uns gehen (Jes 2, 5); Selbstbezeichnung einer studentischen Pioniergruppe aus Rußland, die als erste gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Idee der jüdischen Siedlung in Palästina verwirklichte. Bne Mosche: hebr. Söhne Moses; geheime, elitäre Loge der russ. ! Chibbat ZionBewegung, die 1889 gegründet wurde und an deren Spitze zeitweilig Achad Haam stand. Bund: jüdische sozialistische Partei; 1897 in Wilna gegründet. Bundeslade: Schrein in der Stiftshütte und im Jerusalemer Tempel, der die Bundestafeln enthielt und als sichtbares Zeichen für die Gegenwart Gottes galt. Bund Jüdischer Corporationen (BJC): 1901 gegr. Dachverband jüdischer zionistischer Korporationen; Nachfolgeorganisation des ! VJSt; im BJC finden sich viele später prominente deutsche Zionisten, z. B. H. Loewe, A. Hantke und M. Buber. Chaluka: hebr. Verteilung (von Almosen); Spendenorganisation für die Bedürftigen in Palästina, deren Verwaltung im 19. Jh. ein wichtiger Machtfaktor war und die in der aufkommenden Zionistischen Organisation eine unerwünschte Konkurrenz sah. Chanukkah: achttägiges Lichterfest zur Erinnerung an die Wiedereinweihung des

a.

Sofern der Begriff in den Schriften Bubers vorkommt, wird dessen Schreibweise übernommen. Alle anderen im Glossar angeführten hebräischen Begriffe folgen der für die MBW festgelegten Umschrift.

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von den Seleukiden entweihten Jerusalemer Tempels 164 v. Chr. durch Judas Makkabäus. Chanukkaleuchter, Chanukkia: achtarmiger Leuchter, an dem an jedem Tag des achttägigen ! Chanukka-Festes ein weiteres Licht entzündet wird. Chassid, Chassidim: hebr. Frommer, Fromme; Anhänger des ! Chassidismus. Chassidismus: durch Rabbi Israel ben Eliezer, gen. Ba’al Schem Tov (ca. 1700-1760) gegr. volkstümliche mystische Bewegung des Judentums; von Osteuropa ausgehend, verbreitete sie sich in der Diaspora ebenso wie später im Staat Israel. Charter: engl. Urkunde; sichert dem Empfänger pol. und andere Rechte zu; Herzl forderte bei dipl. Verhandlungen einen Charter, da er die Nichtdurchsetzbarkeit eines ›Judenstaates‹ zum damaligen Zeitpunkt erkannt hatte. Cheder: hebr. Zimmer; Bezeichnung für rel. Elementarschule. Chederreform: ab Ende des 19. Jh. organisierte Versuche, den trad. ! Cheder zu reformieren, indem man ihn für säkulare Unterrichtsfächer öffnete. Cherubim: geflügelte Mischwesen, die in der Bibel den göttlichen Thron tragen und im salomonischen Tempel über der ! Bundeslade stehen. In der nachbibl. Literatur werden sie als Engel verstanden. Chewras lomde schas: hebr. Gesellschaft der Talmudlernenden. Chibbat Zion, Choveve Zion: in Rußland in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstandene protozionistische Bewegung; die meisten Anhänger schlossen sich dem ! Zionismus an. Demokratische Fraktion: 1901 im Vorfeld des Fünften Zionistenkogresses von jungen, vornehmlich aus Osteuropa stammenden Zionisten gegr. erste innerzionistische Opposition, die nicht nur eine politische Lösung der sog. ›Judenfrage‹ durch den ! Zionismus, sondern auch eine geistige Erneuerung des Judentums forderte; mit diesem Ansatz auch Träger des Kulturzionismus Achad Haams; Mitglieder waren u. a. Martin Buber, Berthold Feiwel, Ephraim Moses Lilien, Leo Motzkin und Chaim Weizmann. Deus sive natura: lat. Gott bzw. die Natur; die von Spinoza vertretene Grundanschauung der Gleichsetzung von Gott und Natur. Diaspora: griech. Zerstreuung; seit der Antike Bezeichnung für das Judentum außerhalb Palästinas und Israels. Elohim: hebr. Gott; wird in der Tradition auf die Strenge Gottes bezogen, während das Tetragramm JHWH für die Güte Gottes steht. Eretz Israel: hebr. Land Israel; mit der bis heute gültigen Konnotation der biblischen Verheißung des Landes als Wohnort des jüdischen Volkes. Essäer, Essener: endzeitlich orientierte Gruppe im antiken Judentum, die meist mit der Gemeinde von Qumran identifiziert wird. Frankisten: sabbatianisch-christianisierende Gruppe von Anhängern des Pseudomessias Jakob Frank (1726-1791). Galut(h), Golus: hebr. bzw. jidd. Exil; Verbannung unter die Völker. Gegenwartsarbeit: die von den Zionisten geführte Debatte über das Maß der Par-

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tizipierung an der Landespolitik der jeweiligen »Gastländer«, solange das Ziel des Zionismus noch nicht erreicht war. Golem: wörtl. formlose, ungestaltete Masse; seit dem MA weit verbreitete Bezeichnung für einen künstl. Menschen, der durch Magie bzw. durch die Verwendung geheimnisvoller Gottesnamen ›beseelt‹, d. h. belebt wird; die Legende verknüpft seine Erschaffung mit dem Rabbi Loew von Prag. Halacha, halachisch: hebr. Gehen, Wandeln; Bezeichnung des jüd. Religionsgesetzes, wie es die ! Rabbinen aus der Überlieferung entwickelt haben; die H. regelt das jüd. Leben in allen Einzelheiten. Haskala(h): hebr. Bildung, Aufklärung; Bezeichnung der jüd. Aufklärung in Mittelund Osteuropa seit Ende des 18. Jh. Hawdalah (Havdala): hebr. Scheidung; Havdala-Gebet, gesprochen am Ende des Sabbats und feiertags zur Betonung der Trennung zwischen Heiligem und Profanem. Hilfsverein: Hilfsverein der deutschen Juden, gegründet 1901; leistete wohltät. Arbeit besonders unter den um die Jahrhundertwende nach Deutschland kommenden osteuropäischen Juden, aber auch unter bedürftigen Juden Palästinas; arbeitete eng mit dem deutschen Auswärtigen Amt zusammen; unterstützte, entgegen den Interessen der Zionisten, die Verbreitung der deutschen Sprache in Palästina. ICA (Jewish Colonization Association): von Baron M. de Hirsch 1891 gegründete Siedlungsgesellschaft, die weltweit Siedlungsarbeit zur Linderung der Not ostjüdischer Flüchtlinge unterstützte; 1900 übernahm sie die Verwaltung der Rothschildschen Siedlungen in Palästina; die Zionistische Organisation bemühte sich, meist vergeblich, um eine Zusammenarbeit. Jargon: im Westen oft abschätzig gebrauchte Bezeichnung des Jiddischen. Jischuv (Jischub): hebr. Bevölkerung; Gesamtheit der jüd. Bewohner Palästinas vor der Staatsgründung Israels. Jüdische Kolonialbank (Jewish Colonial Trust): erste, 1899 in London gegründete zionistische Bank. Jüdischer Nationalfonds, (hebr. Keren Kajemet): auf dem Fünften Zionistenkongress 1901 gegründeter Fonds zum Erwerb sowie zur Urbarmachung und Nutzung von Boden in Palästina. Kadimah: erste jüdisch-nationale Studentenverbindung in Wien; gegründet 1888, u. a. von Nathan Birnbaum. Laubhüttenfest (hebr. Sukkot = Hütten): urspr. Erntedankfest; später eines der drei Wallfahrtsfeste, gefeiert in Hütten zur Erinnerung an das Wohnen in den Hütten während des Auszugs aus Ägypten. Makkabäer: aus der Familie des Judas Makkabäus hervorgegangene Dynastie, die die jüdische Aufstandsbewegung gegen die seleukidische Oberherrschaft in Palästina im zweiten vorchristl. Jahrhundert anführte. Massada: Festung an der Westküste des Toten Meeres; nachdem M. im ersten jüd.

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Krieg als letzte jüdische Festung nach längerer Belagerung 74 n. Chr. fiel, wurde es zum Symbol des heroischen Widerstandes gegen Fremdherrschaft. Memorbuch: Gemeindechronik zum Andenken an die Toten einer Gemeinde; erstmals Ende des 13. Jh. als kollektive Erinnerung an die Märtyrer der Kreuzzüge nachzuweisen; diente sowohl als Gedenkbuch wie auch als Gebetssammlung. Menorah: der siebenarmige Leuchter im Tempel; gilt seit der Zerstörung des Tempels als das älteste und am häufigsten abgebildete jüdische Symbol. Messias: hebr. Gesalbter [König]; die Gestalt des charismatischen endzeitlichen Führers und Heilsbringers. Mischna: hebr. Wiederholung, Lehre; erste autoritative Sammlung religionsgesetzlicher Auslegungen der Bibel; redigiert um 200 n. Chr.; wird in der sog. Gemara kommentiert, mit der zusammen sie den ! Talmud bildet. Misrachi: aus Buchstaben der Worte »merkas ruchani« (hebr. geistiges Zentrum) geformt; 1902 gegr. rel. Fraktion innerhalb der Zionistischen Organisation; das ›geistige Zentrum‹, auf das in der Bezeichnung der Gruppe angespielt wird, stellte die ! Tora dar. Natura naturans: lat., bei Spinoza die Natur als lebendige Einheit, die in schöpferischer Tätigkeit die Einzeldinge, bzw. modi, (natura naturata) hervorgehen läßt. Pessach: im Frühlingsmonat Nissan (März/April) gefeiertes Fest zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten; erstes der drei Wallfahrtsfeste. Pilpul: hebr., von »Pfeffer« abgeleitet; scharfsinnige talmudische Diskussionsweise, mit der Widersprüche im Text aufgelöst werden; in späterer Zeit herabsetzend für »Scheindiskussion« und »Haarspalterei« gebraucht. Quattrocento: ital. vierhundert [nach 1000]; Bezeichnung für die künstlerische Stilepoche im 15. Jh. in Italien. Rabbi: wörtl. mein Lehrer, mein Meister (im Deutschen ist für den Plural »Rabbinen« gebräuchlich); seit talmud. Zeit der Titel des ordinierten jüd. Rechtsgelehrten, der die Tora verbindlich auslegen kann und Auskunft in rel. Fragen erteilt. Rabbiner: im westl. Judentum seit dem Mittelalter angestellter Gemeindeführer mit den Funktionen des ! Tora-Experten, Richters und Predigers. Rechabiten, Rechabiter: kleine rel. Sekte, die sich auf Jonadeb, Sohn des Rechab, zurückführt (Jer 35). Resch Galuta: aram. Bezeichnung des Exilarchen, des Hauptes der babylonischen Juden bis weit ins Mittelalter. Schabbat: hebr. Ruhetag; siebter Tag der Woche; ein Freuden- und Feiertag zur Erinnerung an das Ruhen Gottes nach der Erschaffung der Welt (Ex 20, 11). Schas: Abkürzung von hebr. shisha sedarim, dt. sechs Ordnungen, in die ! Mischna und ! Talmud eingeteilt sind. Schavuot: hebr. Wochen (-fest); im jüd. Kalender 50 Tage nach ! Pessach; Erstlingsfest und Fest der Vergegenwärtigung der Sinai-Offenbarung. Schechina: hebr. Einwohnung [Gottes]; in der rabb. Literatur die Gegenwart Gottes

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im Volke Israel, insbesondere im Heiligtum; in der Kabbala wird sie zum zentralen Symbol der Exilssituation. Schekel: der jährliche Mitgliedsbeitrag jedes Zionisten, der ihn zur Wahl eines Delegierten legitimierte in der Bibel Gewichtseinheit für Gold und Silber. Schelilat ha-galut: hebr. Negation des Exils; vor allem in palästinozentrischen Zionistenkreisen verbreitete Haltung. Sch(e)ma Jisrael: hebr. Höre Israel!; jüd. Hauptgebet; benannt nach den Anfangsworten des Verses Dtn 6,4. Schul: jidd. Bezeichnung der Synagoge. Sephirot: nach der kabbalistischen Lehre die zehn Attribute bzw. Potenzen Gottes. Share: engl. Aktie; hier: Aktie der ! Jüdischen Kolonialbank. Sophisma: griech. listig Ausgesonnenes; Scheinbeweis, Trugschluß. Sukkot: siehe Laubhüttenfest Talmud: hebr. Studium, Lehre; Bezeichnung von ! Mischna und Gemara als den rabb. Auslegungen der Bibel im weitesten Sinne; wurde in zweifacher Form in Palästina (Jerusalemer Talmud) und in Babylonien (Babylonischer Talmud) schriftlich niedergelegt. Templer: deutsche Sekte, die 1858 aus der Lutherischen Kirche ausgeschlossen wurde und im 19. und 20. Jh. Siedlungen in Palästina errichtete, um die apokalyptischen Prophezeiungen der Bibel zu realisieren. Tora: hebr. Lehre, Unterweisung; bezeichnet sowohl eine einzelne rel. Vorschrift oder einen Komplex von Vorschriften als auch (vornehmlich) den Pentateuch (fünf Bücher Moses); im weiteren Sinne auch Sammelbegriff für die jüd. Lehre insgesamt. Toynbeehallen: aus der engl. Settlement-Bewegung hervorgegangene öffentliche Begegnungsstätten zur Überwindung der Klassenunterschiede; 1884 wurde zum Gedenken an den Historiker Arnold Toynbee die erste Toynbeehalle in London gegründet, von wo sich die Idee in die USA und nach Kontinentaleuropa ausbreitete. Trecento: ital. dreihundert [nach 1000]; Bezeichnung für die künstlerische Stilepoche im 14. Jh. in Italien. Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag: siehe Bar Kochba Vereinigung Jüdischer Studierender (VJSt) zu Berlin: 1895 aus Protest gegen den antisem. Verein Deutscher Studenten gegr.; nach Gründung der Zionistischen Organisation 1897 zunehmend zion. Programmatik; Name später in Verein Jüdischer Studenten geändert. Zaddik, Zaddikim: hebr. Gerechte(r); durch charismatische Eigenschaften oder durch dynastische Abfolge legitimierte höchste rel. Autorität einer Gemeinde von ! Chassidim; Mittler zwischen Gott und den Menschen. Zionismus: im weiteren Sinn die rel., hist., polit. und kult. Verbundenheit mit dem Land Israel; als polit. Bewegung 1897 von Theodor Herzl gegründet, um eine »öf-

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fentlich rechtlich gesicherte Heimstätte« für das jüdische Volk in Palästina zu erlangen. Zionistische Vereinigung für Deutschland (Z.V.f.D.): nationale Vereinigung der 1897 gegründeten internationalen Zionistischen Organisation. Zoroastrier: Anhänger des Zoroaster bzw. Zarathustra: früher persischer Prophet, Gründer des Zoroastrianismus.

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Stellenregister 1. Bibelstellen 1.1 Hebräische Bibel (Altes Testament) Gen 1,3 233 3 230 4,12 320 15,7-21 296 22,1-19 296 32,23-33 220 35,9-15 296 Ex 17,4-6 17,4-7 20,11 32,1-7

187 63 461 63

Lev 11,44 19,2 25

249 249 317

Num 16,12-14

262

Dtn 6,4 25,17-19

462 325

Jos 6

326

Jdc 6,11-8,28

307

II Sam 19,32-39

325

Jes 1,27 2,4 2,5 6,13 9,4 11,11-12 21,11 25,6 40,3 52

13 318 458 297 318 285 54 303 256 263

53 53,7 53,10 56,7 65,17 66,20

263 59 59, 263 318 14, 239 318

Jer 11,21 13,24 33,10 f. 35 38,6

263 317 317 247 263

Ez 1,3 3,14

255 255

Am 5,24

241

Mi 5,6 7,8

317 393

Sach 8 8,13 14,21

316 316 329

Ps 51,12 57,1 73,25 92,1 126,1 130,7

232 67 231 321 53 238

Hi 19,25 29,4

232 232

Prov 31,25

80

1.2 Neues Testament Mt 4,8 168 5,17 248

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Stellenregister

5,18 5,48

248 249

Lk 10,42

237

3. Rabbinische Literatur Mischna Avot (Pirke Avot) 2,17 247

Joh 4,22

256

Jerusalemer Talmud jBer 1,1 53, 393 jBer 2,3 53, 393

Apk 21,1

239

Babylonischer Talmud bSan 98a 227, 424

2. Außerkanonische Schriften 1 Hen 94-104 238

Midrasch BerR XCVII,2

233

2 Makk 10,5-8

PesK 40a-b

247

279

4. Andere Literatur Horaz, c. III 30 361

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Sachregister Abiram 262 Abraham 296, 312 Absalom 325, 353 Absolute, das 131, 220, 242, 252 f., 416 Abstammung 34, 69, 214, 224, 294, 296, 378, 419 Achad Haam –, Am Scheidewege 29 f., 118, 124, 155, 266, 335, 408 –, Äußere Freiheit und innere Knechtschaft 334, 435 –, Die Lehre des Herzens 30, 124 –, Die Renaissance des Geistes 155, 408 –, Die Wahrheit aus Palästina 266 –, Dr. Pinsker und seine Broschüre 118 –, Nationale Ethik 29 Actionscomité 89, 95 f. Agitation 71-73, 98, 123, 183, 194, 368, 399 –, -sarbeit 71 –, -sausschuß 96 –, -smittel 192 Ahron 63 Akademie, jüdische 154, 407 Aktion 43, 66, 111, 113, 118 f., 122, 164, 191 f., 204, 339 aktionistisch 393 Aktionsprogramm 146 Allgerechtigkeit 35, 233 Alliance Israélite Universelle 366 Altneuschul 322 Amalek 325 Amerika 42, 91, 153, 326, 347, 378, 381, 384 Anglo Palestine Bank 23 Anschauung 16, 48, 89, 102, 106 f., 127, 130, 174, 191, 232, 237, 239, 245, 247, 291, 303 f., 312, 314, 318, 333, 356, 426 –, jüdische 274 –, nationale 16, 281 –, religiöse 16, 281-283 –, zionistische 377 Ansiedlung 112 f., 160, 196, 200 –, -sversuche 208 Ansiedlungsrayon 364 Anthropologie 151, 153 Antike, jüdische 231, 236, 264 Antisemitismus, antisemitisch 37, 42, 92,

110, 117, 120, 178, 194, 293, 309, 368, 376, 434 Apokalypse 239 Arbeit 16, 42-44, 71, 81, 83, 85-87, 96, 98 f., 101-103, 105, 108, 111-113, 116, 118, 124, 127, 129 f., 133, 146, 150 f., 156-158, 160 f., 176, 179 f., 183, 192 f., 195, 197-201, 208, 216, 242, 277, 290, 331, 345 f., 356, 358, 361 f., 378, 380-382 –, geistige 153, 158, 199 –, kulturelle 197, 379, 381 –, lebendige 141, 405 –, zionistische 71, 399 Arbeiterorganisation(en) 122 Arbeiterpartei(en) 24 –, jüdische 115 Arbeitsgemeinschaft 102 Archeus 261 Art 138-141, 155, 167 f., 214 f., 219, 221, 223 f., 354, 418 f., 427 –, deutsche 139 –, europäische 139 –, jüdische 274, 352, 419 –, urjüdische 138 –, zyklopische 139 Asien 94, 139, 233, 355 Askese 144, 185 Assimilation 30, 44, 91, 119, 146, 189, 271, 284, 287, 293, 334, 406, 425, 427 –, -sfanatismus 77 –, -srausch 206 –, -sspezialist 291 Assur 288, 317 Ästhetik 26 Atom 284, 287 Auferstehung 144, 147, 161, 202 Aufklärung 26, 126, 187, 269, 404, 436 –, jüdische 186, 206 –, neujüdische 269 Aufopferung 194 –, Selbst- 164 Ausbildungscentrum, Ausbildungscentren 165 Auserwähltheit 59 Auswanderung 173, 178, 373, 376 Autonomie 113, 124, 191, 196 –, jüdische 206 –, kulturelle 18, 44, 276 f. –, personale 44

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468 Babylon, Babel 230, 312, 317 babylonisch 231, 312 Babylonisten 230 Balfour Deklaration/Balfour Erklärung 435 f., 438 Bamberg 77 Bank Le’ummi 23 Bar Kochba 14, 32, 34, 37-39, 41, 43, 48, 134, 246, 321, 405, 415, 431, 433, 439 Barsilai 325, 434 Basel 22-24, 86, 95, 100, 110, 383, 402, 406, 428, 435 Baseler Programm 69, 112, 276, 294, 351, 412 Befreiung 76, 112, 132, 186, 188, 190, 194, 234 f., 244, 252, 269, 271-273, 282, 285, 301, 356, 377, 439 –, äußere 273, 282 –, innere 209, 273, 282, 284 f., 287, 355, 413 Befreiungsära 188, 271 Bekenntnis 31, 117, 134 f., 137 f., 142, 177, 227, 240, 248, 277, 305, 394, 405, 414, 423, 427 Bergpredigt 248 –, Ur- 248 Berlin 11, 13, 21, 25, 30 f., 40, 42, 76, 103, 117, 164, 172, 205, 209, 211, 240, 257, 260, 275, 324, 352, 384, 386, 396-398, 409, 411, 414 f., 428 f., 432, 437, 440 Berliner Zionistische Vereinigung 398, 430 Bernstein, Simon, Politischer Asketismus 339, 436 Berufene, der 161, 166, 201 Berufung 42, 110, 118, 123, 166, 179, 301, 342 Besiedlung 44, 124 Besitztum, nationales 164 Bestimmung 38, 124, 138, 172, 226, 262, 264, 333, 364, 370, 422 Beth-El 296, 394 Betzur 280 Bevölkerung 327 –, arabische 49, 277 –, jüdische 196, 367, 376 Bewegung, Bewegungen 22, 26 f., 40, 7174, 85, 88 f., 101, 103, 105, 107, 110-112, 116-118, 122 f., 127, 146, 166-168, 170, 178 f., 182, 185, 192, 194 f., 205 f., 208, 213 f., 224, 227, 245, 247, 249, 251 f., 262, 268, 280, 348, 355, 368, 399 f., 406, 409-412, 417, 420, 423, 428 –, hebräische 30

Sachregister –, jüdische 115-117, 121 f., 129, 150, 190 f., 205, 213-215, 218, 272 f., 356, 403, 412 –, moderne 105 –, national-jüdische 73, 190 –, nationale 147, 175, 190, 194, 206 f., 212, 272-274, 348 f. –, philhellenische 192 –, religiöse 60, 417 –, zionistische 13 f., 16, 48, 89, 361, 398 f., 408, 413, 438 Bewußtsein –, nationales 117 –, politisches 300 f. Bewußtseinswandel 42 Bewußtwerden 179, 194 Bibel 35, 57, 59, 76, 150, 187, 190, 230, 246, 250, 270, 272, 306, 394, 400 –, hebräische 230 Bibelübersetzung 31 Bild, Bilder 55, 57, 60, 63, 84, 107, 113, 125, 151, 209, 244, 253, 264, 281, 289, 313, 348, 352, 373, 403, 409, 427, 438 Bilu 118, 208 Birnbaum, Nathan –, Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande 118 –, Gottes Volk 19 –, Jüdische Moderne 118 Blei, Franz, Menschliche Betrachtungen zur Politik 327 f. Blut 34-38, 58, 61, 93, 121, 167 f., 177 f., 187 f., 194, 214, 222-226, 238, 251, 258, 269, 271, 273, 278, 280 f., 284-287, 297, 319, 323, 333, 345, 419-421, 423 –, jüdisches 331 –, reines 203 –, urreines 163 Blut-und-Boden 37 Blutstamm 143 Bne Mosche 157, 266 Boboligarten 260 Boden 58, 72, 75, 86, 101, 119, 124, 159 f., 163 f., 167, 191, 200, 203 f., 238, 242, 252, 303, 329 f., 346, 354, 358, 379, 417, 423, 439 Bourgeoisie, jüdische 164, 204 Brahmawelt 250 Breuer, Isaac, Judenproblem 342 Britisch-Ostafrika 112 Brüssel 388 Buber, Martin –, An das Gleichzeitige 341

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Sachregister –, Begriffe und Wirklichkeit 31, 45, 293, 432 –, Bergfeuer. Zum fünften Congresse 20, 401 f. –, Brief an Herrn Geh[eimen] Regierungsrat Prof. Dr. Hermann Cohen 45, 432 –, Daniel. Gespräche von der Verwirklichung 33 –, Das Gestaltende 27, 260, 425-427 –, Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus 27 f. –, Das Land der Juden 48, 167, 354, 426, 439 –, Der Augenblick 49, 356, 439 –, Der Geist des Orients und das Judentum 39, 246, 431 –, Der Jude und sein Judentum 13, 15 –, Der Jude und sein Werk 415, 439 –, Der Sinn des Judentums 415 f. –, Die Entdeckung von Palaestina 48, 351, 438 –, Die Eroberung Palästinas 49, 360, 436, 440 –, Die jüdische Bewegung 205, 341, 411, 413, 426, 428 –, Die Losung 14, 39 f., 43, 284-286, 430 f. –, Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung 166, 409 –, Die Tempelweihe 40, 279, 286, 341, 430 f. –, Die Tränen. Zum zehnten Todestag Hermann Cohens (1928) 47 –, Die Zukunft 257, 425 –, Drei Reden über das Judentum 14, 32 f., 37, 51, 131, 178, 219, 258, 318, 413-415, 427, 434, 439 –, Ein geistiges Centrum 21, 28 f., 48, 155, 198, 204, 408, 412 f. –, Ein politischer Faktor 336, 339, 341, 435 f., 440 –, Ein Wort zum fünften Congreß 23 –, Eine Jüdische Hochschule 154, 165, 363, 407, 440 –, Er und Wir 22, 124, 129, 428, 434 –, Ereignisse und Begegnungen 341 –, Gegenwartsarbeit 71, 398 –, Herzl und die Historie 22, 115, 126, 403 f. –, Ich und Du 41, 430 –, Jüdisches Nationalheim und Nationale Politik in Palästina 49

469 –, Juedische Renaissance 26, 143, 162, 405, 410, 412, 427 –, Kampf um Israel 13 –, Pinsker, Herzl we-Zion 124 –, Prager Reden 31, 49, 439 –, Referat über jüdische Kunst 24 –, Renaissance und Bewegung 27 f., 268, 411, 428 –, Völker, Staaten und Zion 51, 293, 432, 434 –, Vom Geist des Judentums 39, 303 –, Von der Renaissance 27 f., 185, 411 f. –, Vor Sonnenaufgang 16, 53, 87, 393 f. –, Vorwort [für E. E. Rappeport] 398 –, Wandlung 28, 348, 438 –, Zionismus als Lebensanschauung und als Lebensform 31, 134, 405 –, Zwei Bücher nordischer Frauen 394 –, Zwiefache Zukunft, siehe Die Zukunft Buddha 233 Bund 46, 115, 266, 284 f., 296, 314, 334, 357 Bund Jüdischer Corporationen (BJC) 398 Bundeslade 181 Byron, Lord George, Hebräische Melodien 57 Calvinismus 238 Chaldäer 254, 312 Chaluka 330 Chanukahfest 280 f., 283 Chanukahlichter 283 Chanukahleuchter 116 Chaos 14, 38, 43, 74, 242, 257 f., 261, 286, 425, 431 Charkow 208, 365 f. Charter 101, 197 Chassid, Chassidim 62, 186, 236, 269, 276 Chassidismus 13 f., 17 f., 26 f., 32, 36, 60, 117, 146, 185-187, 206, 220, 236, 245, 249, 268-270, 273 f., 315 f., 406, 412 f., 417, 428 Chauvinismus 14, 45, 49, 362 Cheder 160 –, -erziehung 408 –, -reform 160, 201 Cherubim 181 Chijja Rabba 53, 393 Christentum 59, 247, 293, 343 –, evangelisches 241 –, paulinisches 302 –, reales 304 –, synkretistisches 247

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470 –, Ur- 36, 220, 237, 245, 247-250, 252, 417 Cohen, Hermann –, Antwort auf das offene Schreiben des Herrn Dr. Martin Buber an Hermann Cohen 307 –, Das Gottesreich 299 –, Logik der reinen Erkenntnis 310 –, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums 48 –, Soziale Ethik im Judentum 299 –, Zionismus und Religion 31, 44 f., 293 Damaskusaffäre 206 Daniel, Buch 205 Datan 262 David 59, 67, 325, 329, 331, 395, 434 Delegiertenkonferenz, zionistische 336 Delegiertentag 276, 429 –, Berliner 275 Demokratische Fraktion 20 f., 24, 43, 111, 122, 399, 402, 406, 408, 410 f. Denken, das 14, 31, 39, 41, 117, 138 f., 146, 158, 181 f., 186-188, 190, 197, 199, 215, 227, 240, 268, 270-272, 307, 320, 356, 359, 402, 414, 419 Denkformen 260, 306 –, jüdische 306 Der Jude 14, 19-21, 39, 42-44, 401, 430, 434 Der Jüdische Student 398 Determinismus, historischer 156 Deutscher Hilfsverein 45, 49, 440 Deutsches Reich 70 Deutschland 18, 42, 44 f., 55, 230, 323, 368-371, 384, 398, 423, 425, 440 Deutschtum 320 –, reales 304 Dialekt 190, 272 Dialog 39-41, 44, 211, 397, 430, 433 Diaspora 17 f., 27, 29, 146, 161 f., 170, 202, 235, 288, 306, 312, 399, 427 –, jüdische 242 –, westliche 30 Dichter 40, 56-59, 61, 63, 65 f., 113, 125 f., 163, 169, 218, 346, 394 f., 397 –, -prophet 94 –, jüdischer 236 –, jungjüdischer 147 –, National- 19, 397 –, ostjüdischer 63 Dichtung 57 f., 63-65, 187, 236 –, biblische 57

Sachregister –, hebräische 64, 396 –, jiddische 64 –, jüdische 59, 236 –, neuhebräische 64 –, originale 190, 272 –, ostjüdische 59, 63 Die Gesellschaft 404 Die Welt 15, 20, 394, 398-404, 406, 439 Diesseitigkeit 303 Diesseits 186, 269, 303 Differenz 293, 310, 314, 319 –, Kultur- 319 –, nationale 293, 299 Diplomatie 124, 194 f. –, zionistische 113 Dogma 101, 193, 216, 220, 241 Dorpat 366 Dualismus 190, 230, 272 Dualität 228, 230, 232 f., 264, 427 –, innere 230 f. Dualitätsbewußtsein 230 Edlach 22 Ein Harod 19, 67 Einheit 35 f., 43, 57, 73, 77, 109, 112, 121, 129, 132 f., 143, 147, 167, 179, 181 f., 212 f., 217, 223, 225, 227, 230-239, 243 f., 256, 262 f., 270, 283, 285, 287 f., 302, 311, 314, 316, 319, 333, 378, 420, 423 f., 439 –, -sgott 233, 254 –, absolute 245 –, geschichtliche 342 –, immanente 245 –, innere 35 –, nationale 79, 212 –, transzendente 245 Einheitsidee 35, 234, 245, 252 Einheitslehre 36 –, jüdische 242 Einheitsstendenz 245, 251 Einigung 286 –, territoriale 156, 159, 198, 200 Ekron 353 Ekstase 186, 269 Elija 312 Elohim 166 –, -gewalt 221 Emanationen 245 Emanzipation 30, 77, 91, 117, 273, 334 –, -sproblem 170 –, Auto- 117 –, bürgerliche 335

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Sachregister –, Selbst- 118 Emanzipationsprozeß 189, 206, 271 f. Emigrationszentren, jüdische 217 Emmaus 280 England 380, 384, 387, 436, 440 Engländer 360 Entartung 77 f., 131, 160, 193, 226, 229, 250, 302, 315, 337, 423 –, jüdische 117 Entwicklung 15, 19, 28, 36, 42, 69-72, 75, 80, 88, 90, 96, 98, 100, 105, 116, 119, 122, 127, 143, 148, 150-152, 155-157, 161, 164-167, 174, 186, 196, 198, 202, 207, 216-218, 230, 257, 268, 273, 330, 343, 363, 368 f., 371 f., 377, 398, 405, 412, 424, 426, 438 –, nationale 173 Entzweiung 227, 231 f., 237, 263 –, innere 131 f., 234, 237, 245, 420 Epos 177 –, jüdisches 65 Erbcharakter 163, 203 Erbe, Erben 30, 34, 36, 88, 182, 224, 241, 343, 419 Erbgewohnheit 219, 416 Erde 14, 53, 55, 58, 72, 76, 132, 144 f., 162 f., 168, 180, 202, 204, 209, 221, 231, 234, 236, 238 f., 248, 254, 258, 282, 285, 288, 303, 316-318, 324, 330, 345 f., 352, 355, 357, 360 f. –, eigene 75, 168, 178, 193, 258, 426 –, Palästinas 132, 180 Eretz Israel 300, 343, 346, 438, 440 Erfüllung 75, 83, 91, 120, 180, 220, 244, 252, 254 f., 264, 289, 302 f., 348, 417, 427 Erinnerung(en) 18, 37, 56, 158, 199, 221, 253, 278, 280 f., 418 –, historische 336 –, nationale 280 Erkenntnis 25, 35, 72, 86, 100, 102, 108 f., 117, 119, 130-132, 162, 173 f., 187, 213, 225, 230, 267, 269, 282, 296, 333, 359, 420, 426 f. –, intuitive 156 Erleben, das 109, 139, 143, 169, 222 f., 228, 233, 277, 280, 420 –, seelisches 202 Erlebnis 43, 59, 239, 246, 261, 276, 279, 340 –, -rhetoriker 341 –, -schwärmer 341 –, jüdisches 129, 288, 341 Erlöser 183, 229, 232, 234

471 Erlösung 53, 58, 78, 145, 160, 166 f., 178, 190, 200, 205, 213, 231 f., 236 f., 243, 245, 250, 252, 259, 272, 301, 322, 393 f., 410, 420, 422, 439 –, -ssehnsucht 348 f. –, der Nation 178 –, des Landes 58 –, des Volkes 58, 213, 259 –, Gottes 232, 250 –, indische 232 –, jüdische 232 Erlösungsidee 232 –, indische 232 –, jüdische 232 Erneuerung 14, 30, 34, 36, 51, 64, 139, 144, 166, 178, 185-187, 206, 238-242, 246 f., 249, 253-255, 257, 269 f., 279, 296, 309, 315, 348, 354 f., 400, 415, 418, 425, 439 –, des Judentums 30, 34, 36, 51, 238, 240-242, 253-255, 309, 354, 400, 415, 439 –, kreative 17 –, nationale 78 –, religiöse 257-259, 425 –, seelische 273 Eroberung 49, 276, 360-362, 436, 440 –, der Gemeinden 276 Erster Weltkrieg 14, 16, 31, 38 f., 41, 426, 430, 440 Erzähler 63 f., 396 –, jüdischer 65 Erzählung 55, 57, 59 f., 64 f., 76, 231, 396 –, jüdische 64 f. –, ostjüdische 64 Erziehung 14, 24, 26, 29, 72, 101, 103, 120, 132, 147, 156 f., 180, 185, 192, 194, 197 f., 216 f., 268, 278, 358, 379, 399 –, -sfrage 197 –, der Generationen 185, 268 –, geistige 159, 200 –, hebräisch-sprachliche 216 –, jüdische 121, 275, 278, 429 –, Jugend- 143, 160, 201 –, nationale 160 f., 201, 278, 429 f. –, polnische 17 –, soziale 275, 278, 429 Erziehungswerk, palästinensisches 356 Essäer 247, 253 essäisch 224, 346, 420 Ethik 29, 45, 47, 299, 313 Ethnologie 151 Ethos 44, 174, 235, 296 f., 348 –, jüdisches 300, 305

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472 –, natürliches 137 –, negatives 137 –, positives 137 Europa 43, 82, 124, 153, 164, 187, 192194, 196, 204, 269, 286, 289, 300, 323, 326, 341, 347 f., 355, 379 f., 431 –, Ost- 393 –, West- 371 Europäertum 139 Europäisierung 206 Evangelien 247 Evolution 118, 122, 143, 151, 155 f., 180, 218, 238 –, -stheorie 30 Ewige, das 228, 254 Exil 26 f., 35, 65, 77 f., 102, 106, 124, 146, 193 f., 205, 233, 282, 312, 315 f. –, -sgeschichte 27 –, Negation des 27, 406 –, Zeitalter des 233 Existenz 17, 19, 27, 45 f., 131, 222, 225, 243, 257, 298, 373, 379, 383, 420, 425 –, -recht 70 –, jüdische 59, 226, 421 –, nationale 197, 206, 221 Ezechiel 254 Feiwel, Berthold, Eine Jüdische Hochschule 21, 154, 165, 363, 407, 440 Florenz 260 Folkloristik 150 Fortbestand 308 –, der Nation 212 –, der Religion 294 –, des Judentums 239 Fortschritt 111, 145, 238, 335 Fraktion 24, 102, 105 –, -sbildung 23 Frankfurter Zeitung 342-344 Frankisten 206 Frankreich 107, 369 Frau, Frauen 23, 75-81, 158, 249, 370, 394, 400, 414 –, -bewegung 400 –, -frage 400 –, -literatur 400 –, -seele 58 –, jüdische 75-81, 400 –, neue 75 Freiburg 388, 391 Freiheit 53, 57, 69, 73, 84, 107, 115, 131, 144, 157, 178, 185, 189, 192, 194, 198,

Sachregister 219, 248, 250, 271, 289, 302, 334 f., 343, 360, 413, 435 –, der Persönlichkeit 144, 185 –, Geistes- 189, 271, 274 –, nationale 190, 212, 272 Freiheitsbewegung, nationale 377 Freistatt 115, 127, 130, 403 Friedemann, Adolf, Reisebilder aus Palästina 352 Friedensverhandlungen 340 Frühzionismus 393 Führer 22, 24, 110, 132, 163, 204, 206, 252, 276 f., 348 Fülle 34, 57, 77, 84, 109, 117, 131, 158, 164, 181 f., 199, 204, 229, 235, 242, 244, 251, 256, 334, 357, 363, 378 Galiläa 353 Galizien 31, 177 Galizier 62 galizisch 18, 67, 344 Galut(h), siehe auch Golus 74, 78, 136, 141, 209, 282 f., 316, 348, 354, 413 –, -ha-Schechina 312 –, -jude 235 –, -kultur 258 –, -psychologie 247 –, äußere 355, 439 –, innere 355 –, Schelilat ha- 27 Gebet, Gebete 32, 90, 116, 205, 281, 283, 295, 305 f., 318, 345 Geburt, Geburten 26, 38, 120, 145, 167, 215 f., 222, 296 Gedächtnis 22, 35, 61, 209, 225, 279, 281 f., 289, 319, 321, 395, 413, 428 –, historisches 251 –, persönliches 223 Gedicht, Gedichte 16 f., 55, 57, 64, 122, 394 f. Gefühl(e) 33, 37, 59, 62-64, 78, 85, 100, 105, 109 f., 117, 123, 139, 145, 168, 177, 179, 181 f., 186-188, 206 f., 222, 231, 238, 240, 251, 269, 271, 278 f., 286, 300 f., 303, 351-353, 356, 398 –, -szusammenhang 188, 271 –, Lebens- 26, 144, 146, 185 –, Mit- 92, 177 –, Sozial- 121 –, tätiges 186, 269 –, zionistisches 206 Gegenwartsarbeit 71, 74, 399 –, jüdische 73

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Sachregister Geheimnis 26, 63, 65, 113, 144, 188, 209, 227, 232, 234, 256, 263 f., 266, 271, 304, 333, 360, 427 f. Geist 14, 38 f., 43, 46, 53, 57, 80, 84, 87, 96, 105, 107, 116, 118, 124, 127, 139, 146, 157, 163 f., 166, 178-182, 189, 193 f., 198, 203 f., 211, 214, 217, 222, 228, 230, 232, 237-241, 246, 253 f., 257 f., 260-262, 264, 266 f., 271, 274, 276 f., 283, 286, 293, 295 f., 303, 306, 314 f., 325 f., 333, 335, 338, 347 f., 351, 359, 362, 380, 386, 403, 427, 431, 434 –, befreiter 188, 271 –, deutscher 304 –, Geschichte des 260 –, jüdischer 88, 140, 151, 156, 165, 178, 363, 377 f. –, lebendiger 162, 203 –, national-jüdischer 379 –, schaffender 193 –, schöpferischer 84, 361 Geistesarbeit 159, 200, 408 Geistesart, jüdische 32, 306 Geistesgeschichte 247 –, des Judentums 249 Geisteskampf 244, 254, 296 Geisteskraft, jüdische 378 Geistesleben, altjüdisches 187, 270 Geistesrevolution 247 Geisteswelt, deutsche 31 Geistigkeit 26, 35, 145 f., 233 –, jüdische 159 f., 199 f. Gelehrtentradition, jüdische 17 Gemeinschaft, Gemeinschaften 33, 37, 44, 69, 72, 75, 140 f., 144, 154, 157, 164, 170, 185, 191, 198, 204, 219 f., 222 f., 226 f., 229, 234-236, 252 f., 261 f., 264, 273, 276-278, 284-289, 304, 310-312, 328 f., 345, 348 f., 361, 412, 416-419, 421, 426 f., 429, 431 –, geschlossene 189, 228, 272 –, jüdische 140 f., 175, 208, 276-278, 378, 405, 417, 429 –, konfessionelle 207 –, nationale 239, 299, 304, 418 –, neujüdische 191 –, politische 304 –, religiöse 304 Gemeinschaftserlebnis 285, 287 Gemeinschaftsgefühl 277, 284, 287, 430 Gemeinschaftsleben 302 –, jüdisches 276 Gemeinschaftspotenz 140

473 Gemeinwesen 191, 336 –, jüdisches 161, 201, 302 f., 343 –, palästinensisches 65, 289 General-Anzeiger für die gesamten Interessen des Judentums 413 Generation, Generationen 17, 65, 72, 78, 116 f., 160, 167, 172, 191, 195, 197, 201, 222, 242, 251, 296, 301, 356, 403 Genesis, Buch 230 Genf 104, 375, 385 f., 391, 410 Germanistik 150 Gervasius 177 Gesalbten, die 169 Geschichte 13, 20, 23, 31, 35 f., 44, 46, 60, 69, 75, 97, 109, 121, 124, 144, 146, 150, 153, 162, 169, 177, 185, 192, 202, 205, 226, 228, 230, 235, 240, 242-244, 257, 260, 262, 279-281, 296-299, 311, 316 f., 342, 345, 380, 421 f., 437 –, jüdische 22, 35, 37, 74, 79, 179, 214, 237, 262 f., 325, 405, 412 f. –, Kultur- 151 –, Menschheits- 35, 156, 163, 203, 245 –, Sitten- 151 –, Sozial- 151 Geschichtsauffassung, materialistische 156 Geschichtsschreibung 173 Geschlechter 61, 179, 182, 188, 195, 221 f., 226, 243, 258, 271, 276, 281, 355, 423 Gesellschaft 134, 139, 207, 220, 225, 252, 319, 337, 344 –, jüdische 174 –, Kriegs- 42 –, moderne 174, 240 Gesetz 17, 26 f., 55, 73, 146, 151, 163, 168, 181, 185-188, 203, 215, 247-249, 257, 261, 268 f., 271, 279, 361, 364, 372, 408, 412 –, -esära 188, 270 f. –, -esjude 304 –, urjüdisches 329 Gesetzeslehrer, jüdischer 312 Gesinnung, Gesinnungen 47 f., 88, 126, 305, 337, 339, 352 –, -sgenossen 24, 90, 95, 103, 385 Gestalt 33, 59 f., 84, 96, 125, 135, 168 f., 181, 211, 224, 250, 253, 255, 261, 263 f., 274, 286, 311, 349, 360, 416, 427 Gestaltende, das 225, 260 f., 264, 420, 426 Gestaltende, der 261 f., 264 f., 427 Gestaltlose, das 261-265, 426 f. Gestaltung, die 36, 44, 145, 168, 182, 255, 262, 264, 302 f., 402, 427

MBW 3 (02678) / p. 474 / 27.11.2006

474 Ghetto(s) 76 f., 106, 145 f., 164, 182 f., 188, 249, 253, 270, 406 –, -kultur 170, 410 –, -staub 84 –, inneres 146, 163, 203 Gideon 307, 325, 434 –, -sgeschichte 326 –, -schar 307, 325 Glaube, der 45, 71 f., 83, 100 f., 122, 162, 167, 202, 216, 241, 246 f., 277, 289, 291, 293, 309, 315, 318, 410, 417, 425 –, -nsgenosse 97 Gläubigkeit 78, 305, 345 Gleichberechtigung 77 –, bürgerliche 44, 289, 311 f. Gnade 125, 181, 236 f. –, -nzeit 57, 250 Goethe, Johann Wolfgang v., Faust II 167, 355 Golem 321 f., 433 Goliath 325 Golus, siehe auch Galut(h) 65, 78, 105, 121, 145 f., 178, 180, 182, 233, 264 f., 280, 282 f., 357, 427 –, -jahr 85 –, -jude 131 Gott 19, 35, 41, 59 f., 67, 82 f., 167 f., 183, 186, 220, 227, 231-233, 237 f., 241, 245 f., 249, 251 f., 256, 263, 269, 282 f., 290, 296, 301, 303 f., 311-313, 316-318, 326-328, 339, 345, 394, 398, 410, 416 f., 424 –, -esdienst 187, 269, 346 –, -esflüche 301 –, -esglorie 232, 250, 312 –, -esherrlichkeit 250 –, -essinn 296 –, -esweisheit 187, 270 –, -eswille 296 –, -gefühl 187, 221, 240, 270 –, -verbindung 248 –, jenseitiger 303 –, lebendiger 245, 313 Götzendienst 283, 324 Graetz, Heinrich, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte 37 Grieche, Griechen 193 Griechenland 282 Großgrundbesitzer, arabische 330 Hadassah 400 Haifa 45, 49, 440 Halacha 246

Sachregister halachisch 393 Halevi, Jehuda, Zionslieder 205 Häresie 74 Haschiloach 34, 408 Haskala(h) 27, 65, 185-187, 189, 206 f., 268-274, 393, 412, 428 Haus 76-79, 160, 181, 201, 251, 255, 283, 316, 318, 328 f., 333, 409 –, Bet- 60, 318 –, jüdisches 78 –, Lehr- 53 Hawdalah 236 He-Atid 425 Hebräisch 27, 29-32, 38, 138 f., 187, 270, 295, 305 f., 321, 397, 412, 414, 425, 440 Hebräische Universität Jerusalem 430, 441 Hebraismus 266, 270, 348, 397 Hebraisten, die 211, 397 Hebung 72, 79, 87 f., 96, 104 –, geistige 88, 97-99, 148, 153 –, körperliche 88, 97 –, kulturelle 24, 103 –, physische 72 –, soziale 72 –, spirituelle 40, 72 –, wirtschaftliche 72, 88, 92, 97, 156, 198 Heil 139, 210, 229, 231, 249, 252, 255, 301, 311, 315, 320 –, der Welt 252, 301 Heiligkeit 93, 164, 204, 241, 248, 294, 433 Heiligtum 178, 240, 252, 279 f., 282, 301, 316 Heimat 30, 58, 76, 147, 208, 221, 223, 354, 379, 439 –, -lichkeit 168 –, -losigkeit 145 –, -sboden 81 –, -serde 345 –, geistige 31 f. heimatlich 79, 88, 303, 379 Heimstätte 18, 155, 159, 191, 193, 294, 300 f., 303, 338, 351, 379 –, -nplan 379 –, gesicherte 112, 277, 336 –, öffentlich-rechtlich gesicherte 70, 276, 300 –, öffentlich-rechtliche 69, 300 –, palästinensische 159, 200, 377 Held, Helden 83, 94, 114, 144, 182, 188, 270, 324-326, 346 f., 434 –, -bild 434 –, -buch 324, 346 f., 434 –, -lieder 324

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Sachregister –, -sagen 326 –, -söhne 57 –, -taten 280 –, -tum 77, 205, 209, 281, 325 Heldin, Heldinnen 77, 80 Henoch, Buch 237 Heroen 118 heroisch 36, 109, 130, 230, 238, 281, 400 Heroismus 76 f. Herzl, Theodor –, Altneuland 21, 111, 120, 213, 403 –, Das Palais Bourbon 107, 114, 127 –, Der Judenstaat 22, 29 f., 107-110, 112 f., 119 f., 123, 130, 213, 402 –, Die Menorah 116 Hess, Moses –, Rom und Jerusalem 110, 116 f. –, Schriften 301 Hiob 59, 232, 395 Hiob, Buch 231 Hochschule, Hochschulen 153 f., 365-370, 374-382, 384 f., 387-391, 407 –, jüdische 21, 25, 103, 153, 165, 363, 374-380, 383-385, 387 f., 390, 409 f. –, palästinensische 379, 387 –, technische 366 f., 369-371, 375, 388 Hochschüler, jüdische 134, 366, 384, 405 Hoffnung, Hoffnungen 53 f., 94, 118, 162, 202, 205, 215, 221, 251, 254, 278, 289, 344, 353, 393, 401 f., 418, 425, 438 –, nationale 280 –, Zukunfts-, nationale 174 Höherbildung 157, 198 Humanismus 187, 270, 348 –, hebräischer 25, 28, 348, 438 Humanität 221, 241, 289, 313, 334 ICA (J.C.A.), Jewish Colonization Association 96 Ich, das 60, 221 f., 313 Ideal(e) 71, 80, 93, 113, 120, 155, 189 f., 194 f., 232 f., 271, 273, 301 f., 313, 333, 338, 343, 422 f. –, jüdisches 344 –, messianisches 252 f. Idee(n) 28, 30, 35 f., 46 f., 56, 71 f., 74, 86, 89 f., 94 f., 101 f., 105, 109-111, 116 f., 122 f., 127, 129, 135, 157, 166, 174, 178 f., 190, 206-208, 217, 222, 227, 232234, 239, 241-247, 250 f., 253-255, 260, 262, 266, 272, 278, 294, 296 f., 301-304, 313, 329, 333, 379, 423 –, lebende 335

475 –, messianische 301, 303, 394 –, nationale 27, 79, 94, 119, 126, 190, 206 f., 273, 349, 379 –, originale 251 –, Renaissance- 28 –, soziale 119 –, sozialistische 111 –, tätige 218 –, zionistische 29, 89, 395 Ideologie(n) 141, 361 –, jüdische 300 Immanenz 304 Imperialismus 49, 362 Industrieproletariat, jüdisches 159, 200 Innerlichkeit 63, 131, 183, 224, 234, 419 –, jüdische 420 Intellektualität 224, 337, 420 Intellektuelle, der 19, 74, 122 Intellektuellen, die 166, 399, 425 Islam 303 Israel 13, 16, 18, 48 f., 53, 57, 112, 121, 241, 265, 267, 282, 285, 312, 315-317, 325, 343, 345 f., 348, 362, 393, 418, 427, 437 Italien 80, 194 Jaffa 122, 352 Jahwe 59, 221, 231, 233, 254, 256, 263 f., 285, 427 Jakob 220, 318, 416 Janitschek, Maria –, Amazonenschlacht 394 –, Aus alten Zeiten 57 f. –, Beth-El 58 –, Daniel 58 –, Davids Werbung 58 –, Die neue Eva 394 –, Ein modernes Weib 394 –, Elias Auffahrt 58 –, Esther 58 –, Gomorra 58 –, Hanna 58 –, Herkunft 58 –, Jeremias 58 –, Jesaias, der vom Herrn Berührte 58 –, Jonathans Freundschaft 58 –, Moses 58 –, Sarai 58 Jargon 115, 190, 272, 383, 418 –, -dichtung 115 –, -organe 100 –, Assimilanten- 97 Jawan 282 Jecheskiel ben Busi 254

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476 Jenseitigkeit 303 Jenseits 186, 269, 303 Jeremias 247, 263, 317, 394 Jericho 326, 347 Jerubaal 307 Jerusalem 11, 32, 49, 103, 110, 116 f., 254, 281, 283, 317, 324, 330, 345, 353, 360, 405, 430, 437 f., 441 Jesaias 14, 58 f., 233, 239, 256, 263, 297 Jesreel 67 Jesus 57, 232 f., 237 Jewish Colonial Trust, siehe Jüdische Kolonialbank Jewish Encyclop(a)edia 151, 153, 378, 407 jiddisch 64, 324, 396, 437 Jiddisch, das 17, 60, 96, 397, 414, 418, 437 Jischuv 49, 357, 440 Jiskor 324, 345, 434, 437 Jisrael 254, 295, 305 Jochanan ben Sakkai 246 Johannes der Täufer 145, 233, 246 Judäa 360 Judaismus 120 Judaistik 11, 406 –, philologische 151 f. Jude, Juden 13-15, 18-20, 26, 29, 34-36, 38, 42-47, 49, 59-61, 64, 69, 76-78, 80, 82, 85, 91 f., 97, 99, 108-110, 112 f., 116, 119-121, 124, 130-132, 136-138, 140 f., 146, 153, 157-159, 161, 167, 169, 172175, 177 f., 180-184, 187-189, 191 f., 194, 198-200, 206 f., 210, 213-215, 217, 219221, 223-230, 232 f., 236 f., 240, 242, 244-246, 249-251, 253-255, 262 f., 269271, 273, 276 f., 279 f., 282, 284-291, 294 f., 300-303, 305, 307-310, 312, 314 f., 318 f., 323, 327 f., 330, 333-335, 342 f., 345, 348, 351, 358, 360-370, 372-374, 377, 379, 382, 386, 396, 400, 410 f., 414418, 421-427, 429-437, 439 f. –, antiker 231 –, deutscher 42, 206, 295, 305, 433 –, duldender 59 f. –, emanzipierter 335 –, gesetzestreuer 305 –, gläubiger 231 –, grübelnder 59 f., 395 –, heroischer 61 –, heutiger 132, 180 f., 242, 258 –, kaukasischer 82 –, liberaler 44, 293, 295 –, moderner 80, 224, 420 –, neuer 116, 188, 271, 428

Sachregister –, osteuropäischer 44 –, östlicher 43, 273 –, polnischer 18, 290 f., 327, 431 f. –, russischer 117, 161, 201, 435 –, Schacher- 328 –, schöpferischer 132, 233, 236 –, singender 59 f., 395 –, Trotz- 221 –, Ur- 235 –, vollständiger 232 –, wahrhafter 305, 311 f. –, westlicher 189, 272 f., 284, 287, 423 Judenfrage(n) 22, 42, 69, 107, 109, 118 f., 130, 148 f., 152, 156, 225, 230, 333, 421 –, persönliche 34 f., 225, 421 Judengeschlecht 326 Judenheit 116, 127, 156, 218, 273, 280, 286, 315, 340 –, -sfrage 109 –, osteuropäische 217 –, palästinische 217 –, polnische 291 Judennot 79, 110 Judenschicksal 59, 109 Judenseele(n) 319 Judenstaat 92, 110 f., 120, 191 –, neutraler 342 –, weltlicher 342 Judenstatistik 113, 123 Judentum 13, 17, 26 f., 29 f., 32-39, 41, 43 f., 46-50, 59, 63, 65, 69, 72, 74, 78, 80, 99, 109, 118 f., 121, 129-132, 137-141, 147, 150-152, 156, 169, 172-175, 177 f., 183, 185, 187, 191, 206-209, 215, 219221, 226-230, 232-237, 239, 241-244, 246, 250-256, 258 f., 262, 264 f., 268, 270, 273 f., 276-278, 280, 285-289, 292 f., 295, 297, 300-304, 306, 308-310, 312, 314-318, 320, 333, 335, 337, 342 f., 345, 348, 359, 379, 402, 407-410, 412, 416418, 420-422, 425-427, 429 f. –, abstraktes 416 –, altes 235, 312 –, antikes 235 –, begeisterndes 293 –, beseligendes 293 –, deutsches 300, 309 –, entwurzeltes 234 –, fiktives 304, 307, 309 –, gelebtes 304 –, herrschendes 265 –, inneres 31, 109, 130, 137 f., 221 –, lebendes 99

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Sachregister –, lebendiges 174, 253 –, liberales 246, 305, 309 –, modernes 156, 173 f., 311 –, nationales 305 –, negatives 178 –, offizielles 265 –, osteuropäisches 162, 202 –, östliches 111, 189, 272, 413 –, polnisches 17 –, positives 293 –, prophetisches 240 f., 250 –, reales 304, 306 –, religiöses 305 –, sinnvolles 293 –, unterirdisches 234 –, verschüttetes 305 f., 308 f. –, wahrhaftes 277 –, westliches 189, 272 f., 416 Judentumsfrage 109 Judentypus, neuer 188, 270, 274 Judenverfolgung(en) 109, 111, 118 –, russische 208 –, syrische 206 Judenvolk 132, 147, 151, 185, 207, 242, 254, 273, 345, 406 Judenwanderung 110 Judenzählung 42, 323, 433 Judeophobie 117 Jüdin, Jüdinnen 75, 78 –, deutsche 76 Jüdische Encyklopädie siehe Jewish Encyclop(a)edia Jüdische Kolonialbank, Jewish Colonial Trust 23, 87, 91, 97, 113, 124, 385 Jüdische Rundschau 19, 126, 215, 275, 339, 393, 397, 400, 404, 414 f., 429 f., 435 f., 438 f. Jüdische Studien 406 f. Jüdische Zeitung 396, 415, 435 Jüdischer Almanach 33, 409, 415, 439 Jüdischer Nationalfonds (Keren Kajemet LeIsrael) 87, 113, 124, 361 Jüdischer Verlag 21, 24 f., 29, 43, 98, 103, 164, 396, 409-411, 437, 440 Jüdischer Volkskalender 82, 393 Jugend 14, 17, 25, 37, 55, 58, 78, 84, 102, 109, 121, 147, 177, 179 f., 183, 197, 335 f., 373, 378 f., 399, 411, 413 –, jüdische 373 f., 378, 387 –, nationale 379 –, russisch-jüdische 373 –, zionistische 177 Jungdemokraten 21, 23 f.

Jungzionistentag 24, 100, 102 K. C. Blätter 44 f. Kabbala 205, 245 Kampf 13, 15, 23, 35, 44, 54, 61, 64 f., 76 f., 85, 89, 130, 145, 147, 169, 178, 182, 194, 197, 205 f., 213, 224, 234, 236, 244 f., 249, 252, 254, 260-264, 273, 288, 307, 311, 325, 343, 346, 356-358, 372, 393, 396, 420, 426 f., 433 –, ethischer 13 –, innerer 206, 244, 420 –, lebendiger 187, 270 –, Lebens- 83 –, Macht- 21 –, schöpferischer 234 –, undankbarster 86 –, unfruchtbarer 234, 316 –, verlorener 36 Kanaan 58, 361 Kapitalismus 329 Kategorischer Imperativ 308 Keren Kajemet LeIsrael siehe Jüdischer Nationalfonds Ketzer, jüdischer 35, 234 Ketzereien 186, 268 Kiew 367 Kinesis 40 Kischinew 21 Kleinkrämer 158, 199 –, jüdischer 157, 198 Kolonie, Kolonien 113, 159, 195 f., 208, 241, 324, 330 f., 353 –, -gründung 118 –, hebräische 30 –, Palästina- 330 –, sozialistische 208 Kolonisation 160, 173, 192, 195-197, 200, 208, 329 –, -sarbeit 191 f., 196, 266, 412 –, jüdische 330 f. –, Klein- 197 Kolonisten 115, 330 f. Konferenz 217, 414 –, für hebräische Sprache und Kultur 31, 211, 414 –, hebräische 414 –, Vor- 24 Konfession 242, 416 –, -sjudentum 413 Kongreß 21, 23 f., 31, 84-87, 89, 95-100, 102-105, 110, 122-124, 148, 153, 155, 211, 218, 383, 401 f., 414

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478 –, -leben 15 –, -politik 20 –, -protokoll(e) 23, 103 –, -zionismus 121 –, Arbeits- 86 –, Fünfter 84, 86-89, 95, 402 –, Londoner 72 –, Sechster 23 Konservatismus 135 Konservative 134 f. Kontinuität 35, 39, 162-164, 178, 202-204, 212, 234 –, jüdische 120 Konversion 425 Kosmopolitismus 189, 271 Kosmos 26, 58, 145, 188, 221, 270 Kraft, Kräfte 20, 22, 27, 30, 35, 40, 42, 46, 59, 66, 72, 75, 77, 79 f., 82 f., 88, 91, 93 f., 101, 106, 110 f., 115, 117, 122, 131 f., 139, 143, 146 f., 152, 155, 157-159, 161163, 165, 167, 170, 176-178, 180, 185, 193-195, 198-200, 202 f., 205, 208 f., 215 f., 218, 222, 224-226, 233-236, 239, 243, 245, 253 f., 257, 261, 264 f., 268, 273, 281, 283 f., 287, 289, 297, 305, 308, 310 f., 314, 316, 319, 321, 323, 324 f., 326, 334, 338, 340 f., 343, 345, 347, 353358, 360, 363, 371 f., 373 f., 376, 379, 384 f., 397, 412 f., 420, 422 f. Kreativität 36, 400 Krieg 14, 19, 38, 40, 42-44, 61, 67, 260 f., 279, 282, 286, 288, 290, 299, 313, 326, 336-341, 347, 357, 395, 429, 431, 433, 437, 440 –, -sbuber 39 f., 430, 433 –, -serlebnis 44 –, -smetaphysik 40 –, -sverherrlichung 38, 430 –, entarteter 337 f. –, heiliger 163, 187, 203, 269, 408 Krise(n), Krisis 32, 39, 132, 229, 239, 257, 372, 423, 425 Kultur 15, 19, 25, 29 f., 35, 48, 80 f., 119, 139, 143, 147, 161 f., 166, 191 f., 197, 201 f., 211, 214, 225, 257 f., 276, 319, 342, 348, 354, 383, 388, 397, 400, 411, 414, 416, 423, 426, 429, 438 –, -begriff 429 –, -bewegung 144 f. –, -debatte 100 –, -elemente 189, 272 –, -frage(n) 24 f., 28-30, 103 f., 399, 408, 410, 412

Sachregister –, –, –, –, –, –, –, –, –, –, –,

-gemeinschaft 299 -idee(n) 81, 400 -interesse 192 -kampf 343 -keime 119, 143, 159, 200 -losigkeit 161, 202 -menschheit 175 -möglichkeit(en) 160, 200 -politik 192 -potenz 185 -problem 27 f., 109, 119, 130, 156, 164, 185, 204, 276, 406, 408, 411, 413, 428 –, -schöpfung 298 –, -tat 185, 193 –, -tradition 342 f. –, -werte 28, 116, 127, 139, 161 –, allgemeine 143 –, Familien- 76 –, fremde 423 –, jüdische 22, 29, 72, 81, 100, 119, 129 f., 151, 161 f., 197, 201 f., 342, 425 –, junge 257 –, kranke 164 –, nationale 143, 162, 202 –, palästinensische 100 –, religiöse 342 f. –, Schein- 326, 347 –, selbständige 78 –, sittliche 314 –, Sprach- 348 –, sterbende 257 Kulturarbeit 28, 99 f., 102 f., 156 f., 160 f., 164, 191, 197 f., 201, 204, 257, 275 f., 278, 406, 408 f., 412 f., 429 Kulturausschuß 95 f., 98, 100, 102, 104, 383 Kulturgut, Kulturgüter 101, 120, 156, 198 –, nationales 157, 198 Kulturideal 342 f. –, jüdisches 343 f. –, religiöses 343 Kulturwerke 159, 200 –, nationale 192 Kulturzionismus 14, 31, 35 f., 436 Kulturzionisten 24, 30, 397 kulturzionistisch 14, 20 f., 49, 399 Kultus 108, 187, 270 –, -ausschuß 104 Kunst 26, 58, 74, 143, 146, 162 f., 174 f., 185, 195, 202-204, 246, 296, 398 –, -gefühl 143 –, -geschichte 151

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Sachregister –, –, –, –,

-gewerbe 143 -werk 79, 135, 217, 236, 260 altjüdische 150 jüdische 24, 74, 98, 163-165, 203, 399, 406 –, lebendige 164 –, nationale 88 Künstler 55, 94, 122, 166, 183, 260, 352, 354, 394 –, -tum 236, 260 –, jüdischer 163, 203 Laharanne, Erneste, La nouvelle question d’Orient 118 Land der Juden 29, 48, 167, 354, 426, 439 Land der Verheißung 205 Land Israel 16, 18, 48 f., 345 f., 362, 418, 437 Landnahme 49, 117 Langbehn, Julius, Rembrandt als Erzieher 26 Laotse 233 Lazarus, Moritz 36 –, Die Erneuerung des Judentums 240 –, Was heißt national? 295 Leben 16 f., 19, 22, 29-31, 36, 43, 53-55, 59 f., 63, 65 f., 73, 75-79, 81-84, 86 f., 93 f., 101, 108-110, 114 f., 120 f., 125127, 129 f., 132-137, 139-141, 144, 146 f., 149, 158-160, 162-164, 167-170, 179185, 192 f., 195, 199-204, 206, 209, 211213, 215-221, 224-227, 229, 233-235, 237-241, 244, 246, 249, 251, 253 f., 256 f., 259-261, 263, 268, 274, 276, 278 f., 283 f., 287-289, 293, 297 f., 300, 302-305, 310, 313-319, 324, 329, 332, 335 f., 344-346, 348, 351, 354, 356 f., 360, 372 f., 410, 414, 416-423, 426, 429 –, - sbedingungen 101, 213, 215-218, 327 –, -sernst 163, 203 –, -sfrage 92, 163, 203 –, -sgesetz 186, 268 f., 412 –, -skraft 78, 181 –, -sopfer 177 –, absolutes 36, 243 f., 249 f., 252 f. –, altjüdisches 58 –, außerjüdisches 264 –, evangelisches 241 –, Familien- 76, 79 –, gelebtes 137, 302 –, handelndes 132 –, inneres 76, 416, 418, 420

479 –, jüdisches 62-64, 173, 276 f., 352, 418, 429 –, Menschen- 224, 228, 230, 284, 287, 318, 357, 419 –, relatives 243, 252-254 –, schöpferisches 168 –, vollkommenes 136, 140, 251, 276 –, wahrhaftes 140, 180, 220, 283, 315 Lebensanschauung 31, 78, 92, 94, 102, 134137, 142, 186, 238, 269, 295, 405, 414 –, reale 135 Lebensform(en) 134-137, 142, 159, 185, 200, 211 f., 218, 223, 228, 257 f., 354 f., 414, 418, 426 –, jüdische 136, 418 Lebensgemeinschaft(en) 73, 147, 218, 228, 247 –, hebräisch-sprechende 217 –, jüdische 247 Legende 113 –, chassidische 60, 253 Lernen, das 158, 199 Liberale 134 f. Liberalismus 91, 135 Liberatismus, siehe Liberalismus Liebe 57 f., 69, 78-80, 84, 121, 134, 146, 178, 181, 187, 252, 269, 296, 321, 357, 360, 362 –, All- 35, 233 Literatur 16, 25, 98, 109, 111, 153, 174 f., 216 f., 303, 395 –, -geschichte 153 –, allgemeine 15 –, antizionistische 301 –, europäische 397 –, hebräische 31, 189, 216, 272 –, jüdische 15 –, liberaljüdische 301 –, neuhebräische 207 –, ostjüdische 397 –, rabbinische 17 –, schöne 303 –, zionistische 294, 301, 303 Loewe, Heinrich, Zur Kunde von den Juden im Kaukasus 82 London 23, 57, 72, 86-88, 124, 385 Luftmensch(en) 158 f., 199, 373 Lumpenproletarier 157, 194, 198 –, jüdische 157, 198 Lyrik 64, 67, 107, 190, 272 Macht, Mächte 38, 53, 55, 57 f., 73, 81, 88, 101, 110 f., 113, 115 f., 145, 159, 162 f.,

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480 167 f., 180, 185, 187, 192, 194-196, 200, 203, 207, 219 f., 222, 224, 230, 237, 252 f., 257 f., 261, 268 f., 273, 280, 282, 285, 299, 313, 316, 324, 329, 345 f., 361, 412, 419-422, 426, 434 Maimon, Salomon, Versuch ueber die Transzendental-Philosophie 155 Makkabäer 279 –, -feier 281, 430 Mannhaftigkeit 121, 286 Mapu, Abraham –, Ashmat Shomron (Samarias Schuld) 65 –, Ahavat Zion (Zionsliebe) 65 Marlowe, Christopher, Edward II 144 Märtyrer 229 –, jüdischer 76 Martyrium 59, 88, 109, 169, 188, 234, 271 Marx, Karl, Das Kapital 102 Massada 182, 194 Massen 84, 110, 113, 121 f., 170, 194, 226, 381, 422 –, ostjüdische 117 Matathia 284 Medaille, goldene 366 Menorah 178, 279, 282 f. Mensch(en) 13, 17, 22, 26, 32 f., 36, 38, 46 f., 55 f., 59 f., 65, 70 f., 73, 75, 77, 80, 83, 85, 92, 101, 107-111, 115 f., 125, 129 f., 134-138, 140-142, 144 f., 158 f., 162, 164, 166, 180, 182-189, 193 f., 196, 199, 202, 204, 208, 213, 215, 217, 219224, 226, 228-231, 237-240, 244-246, 249 f., 252, 254 f., 257 f., 261-264, 266, 268-271, 277 f., 282-284, 287, 296, 299, 302-304, 307 f., 313-317, 324, 329, 332, 334 f., 337, 339, 345 f., 348, 357 f., 375, 393 f., 402, 417, 420, 422 f., 426, 431, 433 –, -art 290 –, -geist 129 f., 220, 243, 252, 301 –, -klassen 142, 260 –, -liebe 278 –, -rechte 49, 340, 362 –, -seele 132, 166, 228, 260, 262 –, jüdischer 32, 234, 333 –, neuer 75, 99 –, Instinkt- 158, 199 –, Zweck- 235 Menschengemeinschaft 101, 167, 213, 233, 253, 264, 303, 318, 344, 427 –, neue 345 Menschenmaterial 72, 100 f., 103, 123, 153, 160, 192, 197, 201

Sachregister –, kolonisationsfähiges 160, 200 Menschentum 26, 129, 136, 142, 145, 240, 255, 264, 288, 296 f., 311, 314, 335, 345, 354, 405, 427 Menschenwelt 237, 311, 336, 338, 341, 344 Menschheit 36, 117, 129, 190, 196, 207, 227 f., 230-232, 235 f., 240, 243, 251, 255, 259-261, 263, 272, 288 f., 296, 302, 307 f., 312-315, 317, 334, 343, 345, 426 f., 432 –, -sseele 335 –, heutige 302 –, messianische 294, 301 f., 309 –, neue 277, 315, 318 –, wahre 313 f. Mephisto 167 Merkantilismus 362, 440 Messianismus 35, 46, 251, 301, 303, 420 –, jüdischer 264, 427 Messias 125, 205, 227, 254, 259, 320, 424 Messiaszeit 60 Mickiewicz, Adam, Herr Thaddäus 177 Midrasch, Midraschim 233, 245, 393 Milieu 80, 94, 121 –, zionistisches 118 Minderheiten, nationale 290 Minsk 28, 155, 364, 408 Mischehe 425 Mischna 159 Misrachi-Fraktion 24 Mitteilungszentren 48, 164 f., 409 Mittelalter 119, 264 Mittelschule(n) 364-367, 440 Mizrajim 282, 285, 288 Moderne, jüdische 17, 20, 25, 74, 118, 172, 410 Modin 284 f. Monotheismus 221, 296 Morija 296 Mose 157, 248, 302, 416 Moskau 365 f., 409 Münchhausen, Börries Freiherr von, Juda 57 f. Mutterland 196, 439 Muttervolk 196 Mutualisten 122 Mystik 37, 39-41, 44, 186, 211, 269, 404, 430, 433 –, Erlebnis- 433 –, jüdische 161, 202, 206, 232, 417 –, neujüdische 269 Mystiker 35, 234

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Sachregister Mythos 230, 262 f. –, jüdischer 263, 325 Nation 14, 25, 34, 44-48, 55, 63, 66, 70, 101, 114, 117 f., 120, 127, 138, 143, 155, 160, 172, 179, 189, 194, 196, 200, 206, 212, 220 f., 223, 271, 274, 290 f., 294, 298-300, 310 f., 315, 334, 336, 374, 380, 397, 410, 418, 425 f., 434, 438 –, deutsche 294, 310 –, herrschende 298, 310 –, italienische 299 –, jüdische 25, 78, 115, 155, 205, 294, 299, 377 f., 414 –, polnische 299 –, russische 298 –, türkische 298 National –, -bibliothek 103, 122 –, -charakter 44 –, -jude(n) 69 f., 387 –, -judentum 69 –, -jüdisch 45, 70, 73, 150, 272, 377, 379 –, -kongreß 118 –, -kultur 348 –, -leben 116 –, -subskription 118 Nationalismus 15, 18, 45, 119, 277, 289, 318, 333-335, 426, 434 –, jüdischer 117, 119, 413 –, kultureller 18 –, romantischer 39 Nationalist, Nationalisten 235, 334 Nationalität, Nationalitäten 45 f., 116, 288, 294-300, 310, 342, 418, 434 –, jüdische 109, 117, 119, 206, 221, 294296, 299, 309 Nationalökonomie, theoretische 149 Nationalsprache, jüdische 380 Naturanschauung 144, 185 Nawratzki, Curt, Die jüdische Kolonisation Palästinas 331 Neoplatonismus 186, 269 Neuchâtel 388 Neue Freie Presse 107 Neuhebräer 120 Neuhebräisch 64, 147, 207, 240 Neuorthodoxie 437 Neuwerden, das 36, 140, 239 New York 11, 151, 324, 327, 415, 437 Noah 320 Nordau, Max –, Aufgaben des Zionimus 74

481 –, Ein Brief von Max Nordau 90 –, Fragen der körperlichen, geistigen und wirtschaftlichen Hebung 88 Novellistik 190, 272 Nürnberg 37, 390 f. Odessa 365 f. Offenbarung 41, 121, 166, 196, 214, 282 –, am Sinai 281 f. –, geschichtliche 243, 256 Ökonomie, spezifisch-jüdische 173 Okzident 233, 246 Opferwille 182, 229 Organisation 23 f., 71 f., 86 f., 95 f., 98, 102, 104, 154, 160, 173, 196, 247, 375, 381, 383 f., 387 f., 412, 436 –, -sstatut 24 –, Familien- 76, 78 Organismus 92, 98, 108, 122, 146, 157, 172, 190, 198, 212, 273, 298, 419 –, geeinter 419 –, nationaler 169 Orient 38, 118, 160, 237, 246, 289, 367, 431 Orthodoxie 46, 187, 269, 294, 303 f., 342 f., 399, 408 f., 427 Ost und West 17, 21, 26, 165, 403, 405, 408, 423 f., 438 Ostafrikaprojekt 112 f. Osten 30, 92, 111, 189 f., 206 f., 218, 236, 272-274, 276, 289, 291, 328, 335, 406, 416, 418, 422, 429 Österreich 299 Osteuropa 30, 409 Ostjude, Ostjuden 121, 327-329, 434 f. Ostjudentum 141, 327, 396 f., 412, 429, 435 Pädagogik 14 Palais Bourbon, das 107, 110, 112, 114, 127 Palästina 16, 19, 23, 29, 31, 44, 48 f., 67, 82, 100-102, 112 f., 115 f., 118 f., 123 f., 129 f., 136, 138 f., 141, 164, 175, 178 f., 191, 194, 196 f., 206-208, 213 f., 241, 266, 276, 288, 296, 303, 305, 308 f., 311, 315 f., 324, 329-331, 336, 342 f., 345, 348, 351 f., 360 f., 379 f., 384, 387, 399, 405, 409, 430, 437 f. –, internationales 342 –, jüdisches 141, 342 Palästinenser 62 Pantheismus 294, 303

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482 Paradox 59, 61, 63 f., 111-113, 131, 155, 230, 298, 314, 333, 396 Paris 107 f., 112 Parlament 86, 107, 112 Partei 21, 49, 73 f., 96 f., 101-103, 110, 122 f., 127, 134, 146, 173, 177, 193 f., 288, 308, 337, 339 f., 358, 399, 412 –, -formeln 180 –, -tage 196 –, -zugehörigkeit 134 –, zionistische 115, 122, 195 Pathologie 148, 170, 177, 190, 272, 410 Paulus 233 Perez, Jizchak Leib –, Bay nakht oyfn altn mark (Die Nacht auf dem alten Markt) 395 –, Die goldene Kette 236 –, li omrim (Man sagt mir) 55 –, sippurim beschir weschirim schonim (Poetische Erzählungen und verschiedene Gedichte) 55 Perser 231 Pessach 281 Petach Tikwa 353, 438 Petersburg 365-367 Philanthropie 92 Philologie 150 Philosophie –, dialogische 44, 433 –, spekulative 207 Pietismus 186, 269 Pilpul 249 Pinsker, Leo, Autoemanzipation 110, 117 f., 121 Pionier 62, 361 Pioniergruppen, sprachliche 217 Poale Zion 324 Poesie 71, 190, 272 Pogrom 21, 118, 208, 334, 340 Polarität 262 Polen 18, 64, 229, 290, 323 Polentum 291 Polis 192 Politik 28, 42, 46, 49, 72, 108, 112, 124, 175, 191 f., 195, 291, 314, 338, 341 f., 344, 358, 411 f. –, jüdische 124, 152 –, nationale 116, 119 –, zionistische 13, 191 f., 412, 436 Polytechnikum 367, 388 Populärphilosophie 187, 269 Potenz 140, 343, 426 Prädestination 238

Sachregister Prag 32, 37, 134, 318, 321, 405, 415, 433, 439 Presse 107, 175 –, deutsch-jüdische 175 Problem, jüdisches 189, 271, 314, 377, 416 Problematiker 130-132 Programm 56, 72 f., 84, 88, 99, 110, 112, 129, 133, 146, 149, 178, 191, 207 f., 241, 399, 407, 409 –, -arbeit 414 –, zionistisches 24, 103 Proletariat 194, 207 Proletarier 92, 121 Propaganda 15, 73, 99, 102, 111, 122, 191, 195, 368, 382, 384, 401, 412 –, zionistische 192-194 Prophet, Propheten 28, 36, 59, 76, 83, 102, 145, 194, 205, 207, 224, 229, 231, 234, 237, 240 f., 245, 248, 251, 253, 262, 285, 301 f., 315-318, 408, 419 f. –, jüdische 308 Prophetentum 241 Prophetie 145 Prophetismus 36, 242 Prozeß 28, 31, 42, 138, 221, 235, 244, 261 f., 280, 309, 369 –, ewiger 260 f., 264 –, Geistes- 253, 256 –, geistiger 36, 242-245, 253 Psalmen 231, 393 Psyche, nationale 143 Publizistik 189, 272 Quattrocento 144 f., 187, 270 Rabbiner, Rabbinen 90 f., 294 –, ostjüdische 120 –, russische 104 Rabbinismus 27, 140, 186 f., 206, 245, 251, 269, 412 Rappeport, Ernst E. –, Das neue Wort zwischen den Völkern 19 –, Ketzerworte des Dr. A. A. Rieser 19 –, Loblieder 19, 67, 398 Rasse, Rassen 38, 159, 188, 200, 214, 271, 342, 354 –, jüdische 151, 294, 425 Rechabiten 247 Recht 22, 44, 105 f., 113, 179, 185, 195, 219, 236, 281, 284, 287, 294 f., 299, 310 f., 325, 351, 357, 365, 369, 374, 378 –, nationales 206, 336

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Sachregister –, türkisches 331 Rechtsanspruch 49, 362 Rechtsgeschichte 150 Reform 25, 36, 90, 95, 241 –, -gemeinden 207 Reformation 241 Regeneration 101, 117, 119, 124, 187, 191, 194, 206 f., 270, 309, 349 –, -sbewegung 348 Religion 29, 34 f., 44 f., 48, 103, 220, 241, 289, 293-295, 297, 300, 302 f., 309, 311, 313 f., 425 –, -sgenossenschaft 207 –, -sgeschichte 153 –, jüdische 74, 220 f., 294, 301 f., 309, 416 f. –, positive 417 Religiosität –, altindische 250 –, jüdische 220 f., 246, 294, 297, 303 f., 426 –, neue 250, 255, 257-259, 425 f. –, schöpferische 343 Renaissance –, -phase 170 –, jüdische 13, 15, 17, 25, 27 f., 48, 74, 122, 143-145, 162, 172, 185, 190, 203 f., 268, 272, 405, 411 f., 438 –, nationale 348 Renaissancebewegung 173 Resch Galuta 312 Resolution 24, 103-105 Revolution 32, 38 f., 108, 139, 156, 189, 218, 271, 341, 415, 435 –, französische 116 –, jüdische geistige 39 –, konservative 39 –, russische 42, 334, 340 f., 435, 438 Revolutionierung 102, 194 Rischon L’zion 159 Rom 95, 110, 116 f., 178, 227, 345, 424 Roman 21, 65, 111, 394, 403 –, jüdischer 65 Romantik 94, 141 Römer 205 Rußland 21, 286, 323, 336, 363 f., 367-373, 375 f., 384, 408, 436 Sabbat 236, 321 f. –, -gottesdienst 321 Samuel 312 Satan 168, 231 Saul 58

483 Schaffen, das 74 f., 86, 88, 93 f., 115, 120, 131, 146, 161 f., 169 f., 183, 185 f., 202 f., 233, 236, 269, 273, 310, 317, 402, 411 –, jüdisches 94, 183, 380 Schaffende, der 88, 166, 168-170, 216 f., 235, 410 Schammasch 116 Schavuot (Schebuoth) 281 Schechina 245, 312 Scheinjudentum 309 Schekel 83, 98, 194 Sch(e)ma Jisrael 295, 305 Schicksal 34, 47, 53, 59, 77 f., 86, 103, 105, 113, 133, 166 f., 169, 172, 174, 185, 189, 205, 209, 218, 220, 223 f., 228, 230, 236, 249 f., 254, 262, 265 f., 272, 280, 288 f., 297, 316, 329, 333, 357, 381, 419 f., 427 Schimon ben Chalaphta 53, 393 Schofarot 326, 347 Scholastik 144, 185 –, jüdische 186, 269 Schomrim 324, 345 f. Schönheit 18, 26, 55 f., 75, 79 f., 84, 86-88, 93 f., 107, 129, 143, 147, 181, 189, 228, 271, 394, 421 –, -skultur 26, 143, 147, 405 Schöpfer 60, 180, 207, 322 Schöpferische, das 132, 188, 234-236, 244, 271 Schöpfung 109, 139, 146, 150, 183, 186, 214, 257 f., 261, 264, 269, 276 f., 281 f., 294, 303, 311, 402, 422 –, jüdische 232, 276, 315 Schrifttum 63, 229, 254, 307, 316 –, altjüdisches 150 Schule 99, 122, 160, 201, 323, 364 f., 372, 375, 388 –, -wesen 217 Schulmann, Leon, Zur türkischen Agrarfrage 330 Schweiz 368 f., 371, 380, 384, 387 f. Sedjerah 353 Seele(n) 26, 33, 36, 55, 57, 60 f., 63, 65, 72, 75, 79 f., 82, 86, 100, 111, 113, 117 f., 120-122, 125, 129 f., 133, 145-147, 160, 166 f., 175, 177-184, 186, 189, 194, 201, 209 f., 217 f., 221-224, 226 f., 229, 232, 234-238, 245 f., 249 f., 255 f., 258, 260, 263, 267, 269, 271, 274, 280-283, 285, 287, 292 f., 295, 299, 312, 315-317, 320, 325, 328 f., 351 f., 354-356, 358, 360, 362, 397, 413, 418, 422, 426 –, -energie 170

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484 –, -gewalt 238 –, -stoff 281 –, -Vaterland 79 –, Einswerden der 233 –, jüdische 56, 423 –, Keim- 168 Sein 35, 75, 88, 120, 178, 229, 289, 361 –, empirisches 136 –, wirkliches 136 Sektion für Kunst und Wissenschaft 398 Selbständigkeit 73, 116, 146, 190, 212, 272 –, nationale 117 Selbstbejahung 226, 423 Selbstbesinnung 26, 143, 286, 338, 405 Selbstbestimmung 186 f., 268 f., 336, 413 Selbstentdeckung 231, 278 Selbstentladung 188, 271 Selbsterhaltungstrieb 143, 190, 273 Selbsterlösung 188, 271, 423 Selbsterziehung 70, 179, 183 Selbsthilfe 79 f., 208 Selbstläuterung 188, 271 Selbstwehr 258, 425, 433 Seligmann, Rafael, Einige Worte über Hermann Cohen 45 Sephirot 245 Siedlung 19, 46, 192, 196, 241, 284, 314, 324, 329 f., 345 f., 353 –, jüdische 195, 242 Siedlungsarbeit 197 Siedlungsvorschlag, ostafrikanischer 23 Siegel Gottes 331 Siegfrieden 42 Sinai 21, 281 f. Sinai-El-Arisch Projekt 21 Sinn des Lebens 166, 195, 249, 257, 283 Sitte, Sitten 78 f., 151, 185, 211, 222 f., 227, 418 Sittlichkeit 151, 310, 313, 417 Soldaten, jüdische 19, 396 Sonderart 120, 183 f., 311 Sonderpolitik 174 Souveränität 117 soziale Frage 173, 372 Sozialismus 17, 35, 135, 233, 237, 252 –, realer 304 Sozialist 134 f., 207 Sozialität, jüdische 300 Sozialkultur, jüdische 207 Sprache, Sprachen 30-32, 34, 56, 60, 63, 65 f., 81, 84, 108, 120, 138 f., 147, 166, 170, 185, 187, 189 f., 211-216, 219, 221223, 227 f., 242, 249, 253, 270, 272, 291,

Sachregister 295 f., 305-307, 320, 383 f., 396 f., 409 f., 414, 418, 440 f. –, - kampf 49, 440 –, -entwicklung 272 –, -Kritik 162 –, -streit 45, 439 –, abendländische 306 –, der Bibel 187, 190, 270, 272 –, der Frauen 249 –, deutsche 29, 31, 97, 172, 440 –, gesprochene 214 –, hebräische 30 f., 79, 88, 98, 111, 119, 138 f., 161, 175, 179, 202, 211, 213216, 236, 295 f., 305 f., 397, 405, 414, 418, 437, 440 –, jiddische 27, 115, 119, 412 –, Kultur- 306 –, lateinische 371 –, Mutter- 306, 318, 440 Staat 14, 44-48, 51, 91, 108, 112 f., 213, 277, 283, 293 f., 298 f., 307, 310-314, 316, 329, 331, 336, 342, 344, 425, 432, 434 –, -sbewußtsein 312 –, -sgründung 23, 110 –, -snation 298, 310 –, binationaler 311 –, europäischer 61 –, Israel 277 –, jüdischer 46, 117, 205, 294, 299, 309, 314 –, österreichischer 299 Staatsgemeinschaft 298-300, 310, 312 –, russische 298 –, türkische 298 Staatsleben 75 f. Stamm, Stämme 72, 79 f., 97, 121, 146, 258, 296, 307, 314 –, jüdischer 76, 82, 143 Statistik, jüdische 102, 179, 384 Studenten 14, 32, 208, 346, 368, 370, 384 Studentenschaft, jüdische 97, 384 Studierende 369 f., 388, 390 f. –, jüdische 365, 368 f. Substanz 35, 218, 221-223, 225-227, 229, 246, 253, 288, 317, 319, 349 Sünde 91, 105, 183, 227, 237, 263, 423 Sündenmythos 231 Synkretismus 247 Synthese 36, 92, 107, 116, 119, 237, 245, 255, 422 –, gedankliche 237

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Sachregister –, gesellschaftliche 237 –, religiöse 237 Talmud, talmudisch 16, 53, 76, 150, 159, 241, 245, 393 Tat 36, 54, 61, 65, 73, 84, 91, 102, 105, 109 f., 117 f., 123, 125, 129, 132, 162, 164, 166, 177, 183, 193, 201 f., 204, 207, 209, 213, 215 f., 218, 222, 235, 238, 241, 243 f., 246, 250, 254, 256, 262, 266 f., 315, 325, 351, 358, 360, 362, 378, 386, 393, 403, 417, 422 –, -idee 249 f., 252 –, -mensch 122 –, -streben 247 –, absolute 243, 248 –, freie 250, 281 –, schöpferische 233 –, Unbedingtheit der 248 Taufe 293, 309 Technikum (Technion), Haifa 45, 49, 440 Tempel 58, 235, 279, 322 –, -weihe 280 f., 285 Templer 345 Tendenz, Tendenzen 36, 69, 178, 208, 217, 238, 243 f., 250-252, 254-256, 277, 307, 333, 348, 369, 372, 437 –, -roman 65 Territorium 118 Texte 13-17, 25, 28, 51, 138, 430 –, chassidische 17, 394 –, talmudische 16 –, traditionelle 394 The Reform Advocate 90 Theater 16 Theismus 303 Theologie 41, 153, 230 Theorie(n) 73, 82, 90, 117, 156, 160, 174, 200, 207 Thora 250 Titusbogen 178 Tradition 20, 25, 76, 145, 147, 164, 187, 204, 219 f., 234, 247, 270, 343, 405 –, echte 343 –, jüdische 29, 121, 136 –, rabbinische 17 –, religiöse 185, 268 Tragik, tragisch 22, 43, 63, 93, 109, 113, 115, 131, 139, 167, 169, 171, 186, 188, 190, 206, 211, 226, 266 f., 269, 271 f., 286, 319, 373, 396, 418, 422-424, 428 –, gebundene 168 Tragödie 267

485 Transzendenz 303 Trecento 187, 214, 270 Türke, Türken 360 Türkei, Türkisches Reich 113, 124, 196, 330 f. Übernational 190, 272, 300, 303, 305 Uganda-Vorschlag 22 Ugandakontroverse 22 Umkehr 36, 40, 91, 239, 242 Umwandlung 40, 73, 103, 132, 181, 232, 239, 242, 277, 398 Umwelt 13, 35, 65, 189, 221 f., 224 f., 242, 272, 319, 416, 419 f., 422 Umwertung 194 Universität, Universitäten 11, 365 f., 370 f., 388, 391, 430, 441 Unsterblichkeit 120, 222 Urbild, nationales 224, 420 Urgeschick 264, 427 Urgesetz des Lebens 311 Urgewalt 239 Uridee, jüdische 188, 270 Urjudentum 229, 235 Urkraft, Urkräfte 214, 218, 263, 273 Urprozeß 233, 235 f. Ursprache 215, 305 Urväter 354 –, -zeit 227, 423 Urwesen 214, 233, 293 Urworte 139, 306 Urzeit 214, 230, 354 f. Urzweiheit 230, 235, 237 Väter 34, 177 f., 209, 219, 222, 224, 241, 281 f., 416, 419 Vaterland 76, 79, 121, 300 Verantwortlichkeit 85, 288 Verein der Talmudlerner 159 Verein deutscher Studenten 323, 368 Verein für jüdische Statistik in Berlin 384 Verein jüdischer Hochschüler, Bar Kochba 134, 405 Verein jüdischer Mädchen, Hadassah 400 Verein jüdischer Mutualisten 122 Verein Jüdischer Studenten 69, 398 Vererbung 192 Verfolgung 76 f., 206 Vergangenheit 226, 421 Vergeistigung 244, 252 Verheißung 59, 61, 109, 180, 205, 334, 346, 396

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486 Verjüngung 160, 185, 201, 239, 418 Verkehrsgemeinschaft 141 Verständigungsfrieden 42 Vertragskunst 238 Verwirklichung 13, 29, 36, 41, 46-48, 136 f., 142, 243 f., 252, 276, 278, 302 f., 308, 314-316, 333, 335, 405, 417, 425 Verwirklichungstendenz 348 Volk 14, 19, 26 f., 29, 38, 53 f., 56-59, 63, 66, 69, 74, 78-80, 83-85, 88, 92-94, 100103, 109 f., 112-114, 116 f., 119-121, 123-125, 127, 130, 138, 140 f., 143-145, 147, 151-153, 155-157, 159-163, 166170, 173, 177-181, 183, 185, 189 f., 192198, 200, 202-204, 207-209, 211-218, 221-223, 225-229, 231, 233-235, 243 f., 247, 249, 252-254, 257-260, 262-264, 266, 268, 271-273, 279-281, 283-286, 293, 300 f., 307, 311, 313-317, 319, 325, 330, 333, 335, 342, 344, 346, 348, 352, 355, 363, 375, 377-381, 386, 395, 402404, 408-410, 418, 421-423, 426 f., 434, 438 –, - jüdisches 35 –, - sarbeit 73, 85, 102, 105, 183, 280, 399 –, -sart 156, 162, 202, 214 –, -sbefreiung 72, 155 –, -sbewußtsein 168, 243, 252 f. –, -sbildung 98 f. –, -scharakter 243 f., 246, 250 –, -sdämon 121 –, -sdomänen 113 –, -seinheit 72, 316 –, -selementen 159, 200 –, -senergie 138, 371 –, -sentwicklung 172 –, -serziehung 72, 89, 98 f., 103, 195, 197 f., 399 –, -sgemeinschaft 161, 211 f., 289 –, -sgeneration 109, 111, 160, 169, 201 –, -shebung 73 –, -sheimat 119 f. –, -skampf 280 –, -skräfte 111, 190 f., 273 –, -slande 162, 202 –, -sleben 55, 70, 72, 74, 102, 144, 159, 194, 200, 211-214, 229, 394 –, -sliebe 79, 81 –, -spersönlichkeit 120 –, -ssache 174 –, -sschicksal 58, 172 –, -sschöpfung 315

Sachregister –, -sseele 74, 81, 100, 105, 146, 156, 162, 174, 202, 278, 281 –, -ssouveränität 110 –, -ssprache 64, 418 –, -stendenzen 244 –, -striebe 224, 244, 252, 420 –, -swehr 77 –, -swillen 85 –, -szusammenhang 278 –, deutsches 342 –, europäisches 76 –, jüdisches 14, 24, 26, 55, 63, 69, 88, 92-94, 97, 103, 112, 119, 143, 145, 148, 150, 152 f., 161, 174, 187, 193, 201, 242 f., 247, 249 f., 253 f., 263, 270, 300-302, 314, 329, 336, 338, 340, 342 f., 349, 363, 367, 371, 373-377, 379-381, 384, 397, 402, 405 –, Kern-, jüdisches 242 –, krankes 66, 125 –, neues 133, 258 Volk und Land 102, 113, 116, 123, 197 Völker 19, 35, 43, 66, 148, 166, 169, 178, 192 f., 221, 231, 243, 251, 278, 284 f., 287, 290, 303, 309, 315-318, 325, 339, 344, 422 –, -frühling 14, 405, 412 –, -seele 26, 43, 143, 286 –, -verbindung 289 Völkerleben, modernes 174 völkerrechtlich 119 Volkliche, das 348 f. Volksfrage, jüdische 300 Volksgeist 36, 155, 194, 215, 250, 254 f., 284, 315, 414 –, jüdischer 194 Volksgemeinde 284, 287 Volkskunde 150, 175 –, jüdische 150 Volksmasse, Volksmassen 113, 157, 198, 399 –, jüdische 164, 204 Volksorganismus 115, 178, 205, 376 –, jüdischer 175 Volkspathologie, jüdische 159, 200, 408 Volksstamm 325 –, jüdischer 185 Volkstum 32, 73, 77, 85 f. 117, 129, 139, 144 f., 157, 168, 171, 174, 183, 198, 208, 228, 242 f., 273, 280, 289, 297, 302, 306, 320, 329, 333 f., 354, 399, 418 –, jüdisches 193, 297, 302, 377 –, lebendiges 79, 172, 288

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Sachregister Volkstümliche, das 190, 272 Volkswesen 214, 263, 285 –, jüdisches 119, 126 Vorgeschichte 140, 226, 421 Vorzeit, jüdische 264 Wad el Chanin 353 Wahrheit 59-61, 63, 66, 71, 81 f., 84, 111, 115, 126, 129, 141, 146, 151, 155, 166, 169, 172, 177, 192 f., 197, 210, 213, 215, 218, 220, 226 f., 232 f., 235, 240, 249, 261, 263, 265 f., 290, 302, 305, 311, 318, 320, 323, 331, 333 f., 341, 346, 348, 352, 358, 361, 368, 396, 411, 422 f., 427 f., 438 –, göttliche 344 –, lebendige 285, 287 Wandlung 18, 28, 71, 75, 213, 221, 242, 256, 297, 334, 346, 406 Warschau 55, 60, 291, 365, 367, 409, 414 Weib, jüdisches 57 Weihe 18, 62, 75, 78, 248 f., 346, 355, 357 Weihung 249, 284 Weizmann, Chaim, Eine Jüdische Hochschule 21, 154, 165, 363, 407, 440 Welt 11, 14, 18, 22, 24, 32 f., 35, 55-57, 5962, 64 f., 73-75, 80, 83 f., 88, 90, 93, 101, 116 f., 122, 126, 144 f., 152, 159, 164, 167-169, 180, 182 f., 199, 204, 211, 221226, 229, 231-234, 236-239, 241, 243, 245, 248 f., 252, 262, 264, 266, 273, 278, 282 f., 286, 288, 298, 300-302, 313, 317, 319, 324 f., 328, 337, 341 f., 344, 346, 348, 356, 358, 375, 379, 400 f., 404, 411, 419, 421 f., 425, 427, 432 –, -erlösung 252 –, -gefühl 36, 250, 255, 316 –, -geschichte 108, 356 –, -mission 316 –, -politik 339 Weltanschauung 125, 139, 174, 186, 269, 303 f., 426 –, pantheistische 303 Weltkrieg 16, 28, 39, 42, 44, 291, 339, 396, 433, 436, 438 –, Erster, s. Erster Weltkrieg Wende 23, 33, 41, 43, 285 f., 406, 431, 433 Werk 25, 27, 33, 48, 59, 66, 71, 80, 83, 86, 99, 108, 111, 115, 129 f., 132, 135, 151, 153 f., 160, 164, 166, 178, 180 f., 183, 201, 204, 210, 223, 233 f., 255, 261 f., 265, 277, 282, 311, 315, 334, 339 f., 346, 356 f., 360, 362, 377 f., 381, 394-396, 407, 420

487 –, gemeinsames 348 –, heiliges 280 Werkheiligkeit 246 Wesen 38, 43, 70, 72, 75 f., 91, 93, 106, 113, 120, 125, 129 f., 134-136, 138 f., 143 f., 147, 151, 155, 160 f., 166, 168-170, 172, 189, 194, 200 f., 205, 214, 219-222, 224, 227, 229, 234, 236 f., 239, 242, 245, 247, 249, 262 f., 267, 272 f., 277, 282, 288, 296, 315, 339, 352 f., 358, 360, 377, 415, 421 f., 424-427 –, des Judentums 43, 129 f., 239, 288, 415, 425 f. –, des Zionismus 91 Wesensart 64 –, jüdische 161, 163, 203 Westen 17, 30, 111, 190, 206, 218, 236, 272, 274, 276, 289, 328, 335, 406, 412 f., 418 Westjude, Westjuden 120 f., 223, 334, 435 Westjudentum 121 Wiederbelebung 27-30, 46, 214, 240, 278, 295, 408, 412 –, der hebr. Sprache 46, 214, 295 –, des Geistes 28, 408 Wiedererbauung Zions 205 Wiedererweckung 30, 214 Wiedergeburt 14, 26, 58, 73, 78, 101, 117, 144 f., 147, 155 f., 161, 163, 177 f., 185, 188, 193, 203, 270 f., 278, 346, 354, 399, 405 f. –, nationale 118 Wien 23, 31, 107, 116, 118, 281, 386, 395 f., 400, 415, 432, 439 Wille 19, 46, 54, 60, 70, 79, 85, 99, 108 f., 111, 116, 118, 120, 125, 127, 131 f., 138, 145, 149, 156, 170, 177, 179-182, 190 f., 196, 208, 210, 212 f., 216-218, 222, 231, 238, 273 f., 278, 281, 287, 297 f., 313, 331, 333, 337-339, 345, 348, 357, 359, 393, 403, 413, 418, 428 –, nationaler 212 f., 296, 309 –, schöpferischer 233 Willensträgheit 417 Wilna 364-366 Winkler, Paula, Die jüdische Frau 400 Wirklichkeit 36, 61, 64, 70, 72, 74 f., 89, 117, 129, 131, 138, 141 f., 146, 148, 156, 166, 174, 187, 205, 214, 219-221, 223 f., 229, 231, 234, 242 f., 254, 262-264, 266, 270, 289, 296 f., 320, 325, 328, 335-337, 348, 351, 358, 396 f., 427, 438 –, autonome 221

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488 –, des Geistes 296 f. –, geschichtliche 59, 63, 296, 300, 396 –, innere 220 f., 229 –, menschliche 278 –, nationale 349 –, religiöse 38 Wirtschaft 86, 175, 336, 346 –, -sgeschichte 151 –, -spolitik 149 Wirtschaftsleben, altjüdisches 151 Wirtsvolk, Wirtsvölker 146, 185, 189, 268 Wissen 62, 127, 179, 187, 231, 269, 277, 331, 359, 373, 378 –, jüdisches 121 Wissenschaft 11, 45, 74, 86, 94, 148-153, 174 f., 230, 291, 374, 378, 380, 387, 398 f., 406 f. –, des Deutschtums 150 –, des Judentums 74, 148-150, 153, 230, 378, 380, 387, 406 f. –, des Zionismus 148 –, empfangende 153 –, historische 150 –, jüdische 74, 98, 148 f., 152-154, 378, 406 –, moderne 190, 272 –, tätige 153 Worpswede 55, 394 York-Steiner, Heinrich, Maskir 76 Zaddik, Zaddikim 236, 276 Zarismus 340 Zentralverein deutscher Staatsbürger 309 Zentrum 123, 160, 196, 241 f., 297, 379, 381, 404, 409, 428 –, geistiges 29, 48, 155, 242, 377, 409, 413 –, kulturelles 380 Zeremonialgesetze 241, 246-248 Zeremonien 241, 246 Zerrissenheit 43, 169, 234, 242, 258, 285288, 418, 420, 422 Zerstreuung 35, 78, 121, 301 f., 316 f. Zeugung 38, 167, 222 Zielmensch, Zielmenschen 235 Zion 13, 18, 22, 29, 48, 51, 56, 65, 75, 80 f., 94, 101, 105, 159, 164, 178, 182, 184, 193 f., 204, 280, 293, 303, 307, 316, 318, 324, 337 f., 353, 361, 396, 400, 412 f., 432, 434 –, palästinensisches 75 Zionismus 13-16, 18, 20-25, 27-31, 43-46,

Sachregister 48, 56, 69, 71, 73-75, 84 f., 90-92, 94, 99 f., 102, 105, 111-113, 117, 122-124, 134-137, 141 f., 148 f., 156, 164, 175, 177-179, 185, 191 f., 194, 196 f., 204, 207, 274, 276 f., 293, 295-297, 299-301, 303-305, 307, 310, 314, 329, 337-342, 348, 381, 398 f., 401 f., 405 f., 408 f., 411414, 425, 428, 436-438, 440 –, angewandter 72 –, kämpfender 90 –, politischer 18, 20, 29, 119, 412, 436 –, realer 136, 141 –, spiritueller 13, 29 –, Volks- 96 –, vorherzlischer 110 Zionist, Zionisten 14, 18, 23 f., 27, 30, 40, 44 f., 48, 56, 69, 71, 74, 82, 85, 88-90, 9294, 99, 101, 127, 136 f., 140-142, 148, 153, 161, 170, 178, 193, 204, 294, 297, 304-306, 319, 340, 383, 386, 394, 396 f., 400, 404, 436-438, 440 –, deutsche 19, 82, 275, 429, 440 –, Frack- 102 –, holländische 276 –, humanitäre 178 –, österreichische 196 –, realer 137, 141 f. –, toratreue 24 –, wahrhafte 305, 319 Zionistenkonferenz, russische 28, 155, 408 Zionistenkongreß 24, 96, 110, 112 –, Achter 414 –, Erster 15, 23, 70, 112, 294, 337, 361, 412, 435 –, Fünfter 20, 23 f., 87 f., 95, 100, 124, 165, 383, 399, 401 f., 406 –, Sechster 22 –, Vierter 72, 86, 88 –, Zweiter 276 –, Zwölfter 15 Zionistische Organisation 15, 21 f., 24 f., 49, 123, 177, 398, 408, 412, 436, 440 Zionsidee 207 Zionszeichen 338 f. Zivilisation 77, 166, 187, 189, 269, 272 –, -smaterial 189, 272 –, europäische 116, 189, 271, 273 Zoroaster 35 Zugehörigkeit 35, 207, 223, 227, 423 Zukunft 31, 36, 54, 71, 78, 80, 84, 94, 97, 99, 115, 117, 121, 141, 145, 153, 169, 181, 192, 215-218, 223, 226-228, 230, 243 f., 250, 254, 256-258, 315 f., 345,

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Sachregister 371-373, 377 f., 380, 386, 406, 422, 425, 435, 438 –, -sfülle 226, 319 –, -skraft 421 –, -swillen 173 –, absolute 251, 303

489 –, heilige 343 –, jüdische 99, 386 Zürich 371, 388-391 Zweiheit 227, 229-232, 262, 418, 420, 423 –, - sanschauung 232 Zwiespältigkeit 225, 227, 420, 422 f.

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Personenregister Abramowitsch, Schalom Jakob, siehe Mendele Moicher Sforim Achad Haam, hebr. Einer aus dem Volke, eig. Ascher (Uscher) Ginzberg (18561927): hebr. Schriftsteller und zionistischer Theoretiker aus Rußland, Verfechter des sog. Kulturzionismus, Gegner Theodor Herzls. 13, 20 f., 25-30, 36, 48, 74, 115, 117 f., 122, 124, 155-157, 160, 207, 240-242, 266, 278, 334 f., 393, 408 f., 413, 427 f., 435 Acher, Mathias, siehe Birnbaum, Nathan agnon, Shmuel Josef, eig. Sh. J. Czaczkes (1888-1970): hebr. Dichter und Schriftsteller galizischer Herkunft; 1907-13 in Palästina, 1913-24 in Deutschland; ab 1924 in Palästina; 1966 gemeinsam mit Nelly Sachs Nobelpreis für Literatur. 18, 62, 396 Alejchem, Scholem. 65, 397 Alexander II., Zar (1818-1881): seine Ermordung am 13. März 1881 löste in Rußland eine Welle von Pogromen aus, die zu einer breiten Emigrationsbewegung der Juden aus Rußland führte. 118, 340 allenby, General Edmund Henry H. Viscount of (1861-1936): ab 1917 Kommandant der brit. Truppen in Ägypten und Palästina. 49, 360 antiochos Epiphanes IV. (um 215-164 v. Chr.): seleuk. Herrscher; reg. 175-164 v. Chr. 280 Arndt, Georg (1878-1909): gründete die Jüdische Turnerschaft in Berlin und Charlottenburg. 209 f., 413 Baal schem Tow, hebr. Meister des guten Namens, eig. Israel ben Elieser (17001760): Begründer der chassidischen Bewegung. 121 Bakunin, Michail Alexandrowitsch (1814-1876): russ. Offizier, Philosoph und Revolutionär; theoretischer Wegbereiter des Anarchismus. 139 baneth, Eduard Ezekiel (1855-1930): Talmudgelehrter; 1897-1930 Dozent an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. 211 baruch ben Nerijahu: Schreiber und Vertrauter des Propheten Jeremias, Pseud. von Martin Buber. 83, 89, 91 Benjamin, Walter (1892-1940): Philosoph und Literat; Freund Gershom Scholems; stand Buber zunehmend kritisch gegenüber. 37 berdyczewski, Micha Josef; Pseud. Micha bin Gorion (1865-1921): hebr. u. jidd. Dichter u. Literat, geb. in Rußland, chassidisch erzogen; besonders bedeutsam als Anthologist; lebte ab 1890 in Deutschland. 38, 395 bergmann Shmuel Hugo (1883-1975): Philosoph u. Zionist; Mitschüler Franz Kafkas; Mitglied des Vereins jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; enger Vertrauter Bubers und Freund Gershom Scholems; 1920 Emigration nach Palästina; erster Direktor der Jüdischen Nationalbibliothek; ab 1935 Prof. für moderne Philosophie an der Hebräischen Universität Jerusalem, deren Rektor er 1935-38 war. 14, 34, 41, 260, 415, 426, 441

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Bernstein, Simon (1884-1962): Journalist und Hebraist. 339-341, 436 bialik, Chaim Nachman (1873-1934): russ.-jüd. Schriftsteller, Schöpfer moderner hebr. Lyrik und Prosa; gehörte zum Kreis um Achad Ha’am in Odessa; 1921 Übersiedlung nach Berlin; ab 1924 lebte er bis zu seinem Tod in Tel Aviv. 19, 122, 397 birnbaum, Nathan; Pseud. Mathias Acher (1864-1937): Schriftsteller und früher zion. Aktivist; 1882 Mitbegründer der ersten jüd.-nat. Studentenorg. Kadimah; ab 1885 Gründer und Hrsg. der Zeitschrift Selbstemanzipation; um die Jahrhundertwende wichtiger zion. Theoretiker, dem Kulturzionismus Achad Ha’ams zugeneigt; später Vertreter eines jüd. Diaspora-Nationalismus; machte sich für die Belange der jidd. Sprache und Kultur stark. 19, 74, 116, 118 f., 121, 126, 281 Blei, Franz (1871-1942): östr. Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker. 290, 327-331, 434 Blumenfeld, Kurt (1884-1963): dt. Zionist; 1923-33 Vorsitzender der Zionistischen Vereinigung für Deutschland; ab 1933 in Palästina. 275 Böhm, Adolf (1873-1941): Zionist und Historiker; verfaßte 1920/21 Die zionistische Bewegung, das ein Standardwerk der zion. Historiographie wurde; 1941 wahrscheinlich in Polen ums Leben gekommen. 43, 432 Brainin, Ruben (1862-1939): hebr. und jidd. Autor; schrieb u. a. auch für Achad Ha’ams Ha-schiloach; ab 1909 in Amerika. 211 Breuer, Isaac (1883-1946): Rabbiner u.Theoretiker der dt.-jüd. Neuorthodoxie; ab 1936 in Palästina. 342, 437 Brunner, Constantin, eig. Leo Wertheimer (1862-1937): Journalist und Philosoph; Befürworter der völligen Assimilation der Juden und Gegner der Zionisten. 37, 260 Buber, Adele (gest. 1911): Großmutter Martin Bubers. 33 Buber, Salomon (1827-1906): Großvater Martin Bubers; Großgrundbesitzer in Galizien und Repräsentant der Austro-Ungarischen Bank und der Galizischen Sparkasse; Präsident der Lemberger Handelskammer; jüd. Gelehrter und wiss. Herausgeber und Bearbeiter von Midraschim. 17, 31 Buber(-Winkler), Paula (1877-1858): Ehefrau Martin Bubers; unter dem Pseud. Georg Munk auch als dt. Schriftstellerin bekannt geworden. 23, 394, 400, 406 Burckhardt, Jacob (1818-1897): Kultur- und Kunsthistoriker; Verfasser der Kulturgeschichte der Renaissance in Italien. 25 f. Byron, Lord George (1788-1824): engl. romantischer Dichter; starb im griech. Freiheitskampf. 57, 394 Chaschin (auch: Khashin), Alexander, hebr. Name Zvi Averbuch: Lebensdaten sowie weitere biograph. Daten nicht zu ermitteln. 324 Cohen, Hermann (1842-1918): Philosoph; Haupt des Marburger Neokantianismus; 1876-1912 Prof. der Philosophie an der Univ. Marburg; danach Lehrtätigkeit an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin; 1919 Religion

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Personenregister

der Vernunft aus den Quellen des Judentums (posthum. publ.). 14, 31, 43-48, 207, 293, 299, 302-304, 306-314, 316-319, 432, 434 Del(j)anow, Iwan D. (1818-1897): 1882-97 russ. Erziehungsminister; erließ 1887 einschneidende Aufnahmebeschränkungen für Juden an russischen Bildungseinrichtungen. 365 Dilthey, Wilhelm (1833-1911): Philosoph, Geistes- und Literaturgeschichtler; 1867 Prof. der Philosophie an der Univ. Basel, 1882 an der Univ. Berlin; Lehrer Bubers. 144 Dostojewskij, Fjodor Michailowitsch (1821-1881): russ. Schriftsteller. 59 Dubnow, Simon (1860-1941): russ.-jüd. Historiker, Publizist, pol. Philosoph; 1922-1933 in Berlin; ab 1933 in Riga; 1941 in Riga ermordet. 18, 276 Eeden, Frederik van(1860-1932): Dichter und Nervenarzt; 1887 Gründer der ersten Klinik für Psychotherapie in Holland; Mitglied des Forte-Kreises. 40 Esch, Shaul. 441 Feiwel, Berthold (1875-1937): Schriftsteller und zionist. Politiker; Mitglied der Demokratischen Fraktion; am Jahrhundertanfang enger Freund Bubers. 20 f., 165, 172, 386, 401, 411 Friedemann, Adolf (1871-1932): dt. Zionist; früher Anhänger Herzls; verfaßte 1914 Das Leben Theodor Herzls, eine der ersten Biographien über Herzl. 352 Gaster, Moses (1856-1939): Rabbiner und Zionist; lebte ab 1885 in England; 1886-91 Dozent für Slaw. Literatur in Oxford; 1887-1919 Landesrabbiner der sephard. Gemeinden Englands; 1907 Präsident der English Zionist Federation. 172 Ginzberg, Uscher, siehe Achad Haam Goethe, Johann Wolfgang v. (1749-1832): Dichter der dt. Klassik. 143, 167, 355 Gordon, Aaron David (1856-1922): jüd. Sozialist; 1904 Emigration nach Palästina; führende Persönlichkeit der Kibbuzbewegung. 346, 428 Halevi, Jehuda (1086-1140): span.-jüd. Dichter, Philosoph und Arzt; berühmt durch seine philosophische Apologie des Judentums (Das Buch Kuzari); vom Zionismus u. a. wegen seiner Zionshymnen als Protozionist verstanden und proklamiert. 205 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1770-1831): Philosoph des dt. Idealismus. 37, 116 Heimann, Moritz (1868-1925): Schriftsteller; 1896 Lektor bei S. Fischer; Förderer der modernen dt. Literatur; Freund Bubers. 225 Heine, Heinrich (1797-1856): Journalist, Dichter und Verfasser philosophischer Aufsätze; 1830 freiwilliges Exil in Paris; zwischen 1843 und 1844 kurzfristige Zusammenarbeit mit Karl Marx. 64, 121, 206 Hermann, Hugo (1887-1940): zion. Autor; Mitbegründer des Vereins Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; ab 1934 in Jerusalem. 37, 415 Herrmann, Leo (1888-1951): Zionist aus dem Prager Kreis; Mitglied des Vereins Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; 1919 Auswanderung nach Palästina. 18, 32 f., 37, 41, 62, 396, 415

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Personenregister

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Herz, Markus (1747-1803): Arzt und Philosoph; ab 1762 Königsberg, ab 1766 Studium an der dortigen Universität; freundete sich mit Kant an; 1770 Rückkehr nach Berlin; Mitglied des Berliner Haskala-Zirkels um M. Mendelssohn. 155 Herzl, Theodor (1860-1904): Schöpfer des modernen Zionismus und Gründer der Zionistischen Organisation; Schriftsteller und Journalist; bis zu seinem Tod Feuilletonredakteur der Wiener Neuen Freien Presse. 13, 15, 17 f., 20-25, 27, 29 f., 32, 48, 91, 95 f., 107-113, 115 f., 119-127, 130, 132 f., 213, 276, 337, 339, 351, 361, 393, 399, 401-404, 409, 412, 418, 428, 434, 437 Heschel, R. Avraham Jehoschua (gest. 1825): aus Apta (Opatwo); chassidischer Zaddik. 266 Hess, Moses (1812-1875): Schriftsteller und Journalist; früher Weggenosse von Marx und Engels; in seinem Buch Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage fordert er schon 1862 die Errichtung eines jüd. Nationalstaates in Palästina. 110, 116-121, 126, 301 Hindenburg, Paul Ludwig von (1847-1934): dt. Militär und Politiker; 1914-19 Generalfeldmarschall; 1925-1934 2. Reichpräsident nach F. Ebert; 1933 Ernennung zum Reichskanzler durch Hitler. 42 Hirsch, Samson Raphael (1808-1888): ab 1851 Rabbiner in Frankfurt a. M.; Begründer der deutschen Neuorthodoxie. 437 Hurwitz, Shai Isch (1861-1922): hebr. Schriftsteller; 1905-14 in Berlin; Rückkehr nach Rußland; ab 1921 wieder in Berlin, wo er zus. mit Bialik den Klal-Verlag leitete. 30, 211, 257, 425 Jacobson, Viktor (1869-1934): zion. Bankier und Politiker aus Rußland; seit 1908 Vertreter der zion. Exekutive in Konstantinopel; während des Weltkrieges Leiter des Kopenhagener Büros der Zionistischen Organisation; später Repräsentant der ZO in Paris und beim Völkerbund. 435-437 Janitschek, Maria; Pseud. Marius Stein (1859-1927): östr. Dichterin und Schriftstellerin. 57, 394 f. Josephus Flavius (ca. 38-100 n. Chr.): jüd.-hell. Historiker; während des Ersten jüd. Krieges gegen Rom Anführer der jüd. Truppen in Galiläa; Verfasser von De bello Judaico; ab ca. 70 in Rom; erhielt röm. Bürgerwürde und lebte als Schriftsteller am kaiserl. Hof. 205 Jehuda Loew ben Bezalel (Rabbi Loew) (ca. 1525-1609): Rabbiner, Talmudist und Mathematiker in Prag; gilt in der Überlieferung als Schöpfer des Golem. 312 f. Juda Makkabi auch Judas Makkabäus (2. Jh. v. Chr.): jüd. Kämpfer und Führer; Sohn des Mattathias aus dem Geschlecht der Hasmonäer; gemeinsam mit seinem Vater und den Brüdern Anführer im Kampf gegen die Seleukiden; legte die Grundsteine für den Hasmonäerstaat. 280 Kant, Immanuel (1724-1804): Begründer der klassischen dt. Philosophie. 155, 306, 308 Klatzkin, Jakob (1882-1948): zionist. Autor u. Philosoph; geb. in Rußland, lebte

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u. a. in Marburg, wo er bei dem Neukantianer Hermann Cohen studierte; initiierte mit Nahum Goldmann die Encyclopaedia Judaica. 397 Kohn, Hans (1891-1971): Historiker u. Politikwissenschaftler; Mitglied im Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba; lebte in den 20-er Jahren in London u. in Jerusalem, danach in den USA; 1930 erschien seine grundlegende Einführung in Bubers Leben und Werk Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. 33, 37, 39, 399, 404, 424 Laharanne, Erneste (Lebensdaten nicht zu ermitteln): franz. Schriftsteller; lebte während der Regierungszeit von Napoleon III. (1848-1870), dessen Privatsekretär er einige Zeit war; entwickelte in seiner Schrift La nouvelle Question d’Orient die Anschauung, daß das Orientproblem durch eine jüd. Kolonisation Palästinas mit Frankreichs Hilfe gelöst werden müsse. Diese Schrift ist nur aus Zitaten in Moses Hess Rom und Jerusalem bekannt. 118 Landauer, Gustav (1870-1919): belletristischer und politischer Schriftsteller und Anarchist; Erforscher der dt. Mystik; seit 1900 eng mit Buber befreundet, radikaler Kriegsgegner; ab Herbst 1918 in der Münchener Revolution aktiv; 1919 Ermordung durch gegenrevolutionäre Milizionäre. 14, 38-40, 42, 260, 431, 433 Langbehn, Julius (1851-1907): Kulturphilosoph; sein Hauptwerk Rembrandt als Erzieher (1890) erfuhr große Verbreitung. 26 Lassalle, Ferdinand (1825-1864): Politiker und Publizist; radikaler Demokrat und Sozialist; Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, dessen erster Präsident er war. 70, 121, 127, 136, 206 f. Lazarus, Moritz (1824-1903): Philosoph u. Psychologe; 1868 Dozent f. Psychologie in Berlin; 1873-1896 Prof. an d. Univ. Berlin; in seinem Hauptwerk Ethik des Judentums (1898-1911) von Kant beeinflußt. 240, 242, 295 Lichtenfeld, Gabriel Judah (1811-1887): hebr. Autor u. Mathematiker; Schwiegervater von J. L. Perez. 55 Lilien, Ephraim Moses (1874-1925): Buchillustrator, Graphiker und Photograph; geb. in Galizien, lebte u. a. in Wien und Berlin; Mitglied der Demokratischen Fraktion; Mitbegründer des Jüdischen Verlages u. 1905 der Bezalel-Kunstschule in Jerusalem. 57, 104 Loewe, Heinrich (1867-1950): dt. Zionist und Schriftsteller; lebte lange in Berlin; 1892 gründete er dort Jung Israel, die erste zionist. Gruppe im dt. Zionismus; ab 1899 Bibliothekar an der Univ. Berlin; 1902-08 Hrsg. der Jüdischen Rundschau; 1933 Emigration nach Palästina; Bibliotheksdirektor in Tel Aviv. 48, 82 Ludendorff, Erich Friedrich Wilhelm (1865-1937): preuß. General; ab 1916 Leiter der Gesamtkriegsführung zu Lande; 1923 nahm er am Hitlerputsch teil. 42 Luther, Martin (1483-1546): dt. Theologe und Bibelübersetzer; Kirchenreformator. 231, 241, 316 Mackensen, Fritz (1866-1953): Maler; 1889 gründete er mit Otto Modersohn die Künstlerkolonie in Worpswede; 1910-18 Direktor der Hochschule f. bildende Kunst in Weimar. 55

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Maeterlinck, Maurice (1862-1949): belg. Schriftsteller; Vertreter des Symbolismus; 1911 Nobelpreis für Literatur. 64 Magnes, Jehuda L. (1877-1948): amerik. Rabbiner; ab 1922 in Palästina; erster Präsident der Hebräischen Universität Jerusalem. 430 f. Maimon, Solomon (1753-1800): pol. Philosoph; lebte ab 1781 überwiegend in Berlin, wo er f. einige Jahre Mitglied des Kreises um M. Mendelssohn war. 155 Mapu, Abraham (1808-1867): russ.-jüd. Schriftsteller; Schöpfer des modernen hebr. Romans; zentrale Figur der Haskalah-Bewegung in Ost-Europa. 65 Marlowe, Christopher (1564-1593): engl. Dichter. 144 Marx, Karl (1818-1883): Journalist, Philosoph u. Kritiker d. politischen Ökonomie; veröffentlichte 1867 sein Hauptwerk Das Kapital. Zur Kritik der pol. Ökonomie; gründete die Internationale Arbeiter-Assoziation. 102, 127, 207 Mendele Moicher Sforim, eig. Schalom Jakob Abramowitsch, (1835-1917): russ.jüd. Schriftsteller; schrieb auf Jiddisch und Hebräisch; machte sich um das Jiddische als Literatursprache verdient. 65, 397 Mendelssohn, Moses (1729-1786): jüd. Philosoph und Aufklärer. 246 Michelangelo Buonarroti (1475-1564): ital. Bildhauer, Maler, Architekt und Dichter. 260 f., 426 Mickiewicz, Adam (1798-1855): poln. Nationaldichter. 177 Mill, John Stuart (1806-1873): engl. Philosoph und Ökonom; seine Werke zählen zu den Grundlagen der klassischen Nationalökonomie. 93 Mittwoch, Eugen (1876-1942): Orientalist; baute mit P. Nathan 1907 den Hilfsverein der dt. Juden in Palästina auf; 1915 Dozent f. oriental. Sprachen an der Univ. in Berlin; 1939 Emigration nach England. 211 Modersohn, Otto (1865-1943): Landschaftsmaler; kam 1889 mit Mackensen nach Worpswede; Mitbegründer des Künstlervereins Worpswede. 55 Modersohn-Becker, Paula (1876-1907): Malerin; 1897 als Schülerin Mackensens nach Worpswede gekommen. 55 Montefiore, Sir Francis Abraham (1860-1935): engl. Politiker und Philanthrop; Großneffe von Moses Montefiore, den er beerbte; unterstützte Herzl mit Geld und politischen Kontakten in England; führte die zionist. Förderation in England für einige Jahre. 96 f. Montefiore, Sir Moses (1784-1885): engl. Politiker und Philanthrop; Großonkel von Francis Abraham Montefiore; unterstützte durch Landkauf die jüd., vorzionist., Siedlungsbewegung in Palästina. 97 motzkin, Leo (1867-1933): zionist. Politiker aus Rußland; von seinen Studentenjahren an in Berlin; Mitbegründer der Demokratischen Fraktion; wiederholt Mitglied der Zionistischen Exekutive. 48, 104, 399 Münchhausen, Börries Freiherr von (1874-1945): Balladendichter; zus. mit Lilien und Buber Protagonist der Jungjüdischen Bewegung; brachte zus. mit Lilien (als Illustrator) die weit verbreitete Gedichtsammlung Juda heraus. 57 f., 394 Munk, Georg: Pseud. von Paula Buber-Winkler.

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Nachman von Bratzlaw, Rabbi (1772-1811): chass. Zaddik; Urenkel des Ba’al Schem Tow; 1798 Reise nach Palästina. 282 f. Nathan, Paul (1857-1927): dt.-jüd. Politiker und bekannter Mäzen; 1901 Gründer des Hilfsvereins der deutsche Juden; Vertreter der Assimilation u. Gegner des Zionismus. 440 Nietzsche, Friedrich (1844-1900): dt. Philosoph. 17, 25 f., 28 f., 93, 238, 393, 409, 425, 434 Nordau, Max, eig. Südfeld (1849-1923): Arzt, polit. Zionist und Schriftsteller; Freund Theodor Herzls und Gegner Achad Ha’ams; im Zionismus vor allem wegen seiner rhetorisch glanzvollen Reden auf den Zionistenkongressen zu Ruhm gelangt_21, 74, 88, 90, 96-98, 100, 104 f., 361, 409, 428 Overbeck, Fritz (1869-1909): Maler u. Radierer; 1894-1909 Mitglied des Worpsweder Künstlervereins. 55 Pasternak, Leonid Ossipowitsch (1862-1945): russ. Künstler; geb. in Odessa; Vater von Boris Pasternak; ab 1921 in Paris; ab 1938 in England. 409 Péguy, Charles Pierre (1873-1914): franz. kath. Dichter und Essayist. 327 Perez, Jizchak Leib (1852-1915): jidd. und hebr. Schriftsteller; Vorkämpfer für die jüd.-nationale Wiedergeburt. 17 f., 38, 55, 59-61, 63-65, 207, 236, 394-397 Philo von Alexandrien (ca. 20 v. Chr.-50 n. Chr.): jüd. phil-hell. Philosoph. 245 Pinsker, Leon (Judah Leib) (1821-1891): russ.-jüd. Arzt und Schriftsteller, Führer der Hibbat Zion, hebr. Autor; zunächst Vertreter der Assimilation, verfasste er 1881 nach den Pogromen in Südrußland das zionist. Manifest Autoemanzipation!. 22, 110, 116-119, 121, 124, 126 Platon (um 428-348 v. Chr.): griech. Philosoph. 253 Rappeport, Ernst Elijahu (1889-1952): Zionist und Schriftsteller aus Wien; 1920 Auswanderung nach Palästina; Freund Bubers. 14, 19, 67, 287, 398, 424, 439 Rießer, Gabriel (1806-1863): zentrale Figur der jüd. Emanzipation in Deutschland; Mitglied des Frankfurter Vorparlaments und zeitweise Präsident der Nationalversammlung 1848/49; brachte 1832 die Zeitschrift Der Jude heraus. 289 Rosenblüth, Martin Michael (1886-1963): zionist. Funktionär mit bedeutenden Positionen nach dem Ersten Weltkrieg. 436 Rosenzweig, Franz (1886-1929): Philosoph; übertrug die Bibel gemeinsam mit Buber, mit dem er seit Anfang der Zwanziger Jahre befreundet war, ins Deutsche. 31, 41, 205 Rothschild, Baron Edmond James de (1845-1934): Philanthrop; förderte ideell und finanziell jüd. Siedlungen in Palästina; seine Auffassung über Siedlungsbewegung ließ ihn mit Zionisten in Konflikt geraten; nach I. WK Unterstützung der pol. Aktivitäten der Zionistischen Organisation. 353 Sabbatai Zvi (1626-1676): Pseudomessias und zentrale Figur des Sabbatianismus; dieser war die größte und (nahezu weltweit) einflußreichste jüd.-mess. Bewegung der Neuzeit; 1665 Proklamation als Messias; 1666 Konversion zum Islam. 205 Schapira, Hermann (1840-1898): russ.-jüd. Mathematiker und zionist. Politiker;

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1887 ordentl. Prof. f. Mathematik in Heidelberg; Gründer des ersten national-jüdischen Vereins Zion in Deutschland. 23 Schiller, Salomon (1863-1825): russ.-jüd. Zionist und Hebraist; gründete hebr. Schulen in Galizien; ab 1907 in Jerusalem, wo er das erste Hebräische Gymnasium gründete. 207 Schocken, Salman (1877-1959): dt. Zionist, Kaufmann, Kunst- und Büchersammler; ab 1934 in Jerusalem; Gründer des Schocken-Verlages und Herausgeber u. a. der Werke von Agnon. 275 Scholem Alejchem; eig. Schalom Rabinowitz (1859-1916): jidd. Schriftsteller; geb. in der Ukraine; seine Werke gehören zu den Klassikern der jidd. Literatur. 17 f., 37, 324, 345, 394, 402, 409, 426, 437 Scholem, Gerhard Gershom (1897-1982): dt. Religionshistoriker; in seiner Jugend von Buber beeinflußt, nimmt er später eine kritische Distanz zu ihm ein; enger Freund Walter Benjamins; Begründer der wissenschaftlichen Erforschung der jüd. Mystik; ab 1923 in Palästina; 1933 Prof. für Jüdische Mystik an der Hebräischen Univ. Jerusalem. Seligmann, Rafael (1875-1943): Verfasser von Beiträgen in Bubers Der Jude. 45 Simmel, Georg (1858-1918): Philosoph und Soziologe; 1909 Prof. für Philosophie und Soziologie an der Univ. Berlin; seit 1913 an der Univ. Straßburg; Lehrer und Förderer Bubers. 211 Simon, Ernst Akiba (1899-1988): Pädagoge und Philosoph; Freund von Franz Rosenzweig und Gershom Scholem; 1923-28 Redakteur der von Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude; 1928 Emigration nach Palästina; 1950-1967 Prof. der Pädagogik an der Hebräischen Univ. Jerusalem. 39, 41 Singer, Isidore (1859-1939): Schriftsteller u. Herausgeber versch. Zeitungen; lebte in Wien, Paris u. ab 1895 in New York; 1901-1909 gab er The Jewish Encyclopedia in 12 Bdn. heraus 153 Smolenskin, Peretz (1842-1885): hebr. Schriftsteller und Publizist; führender Protagonist der Haskalah in Osteuropa u. früher Unterstützer des jüd. Nationalismus. 121, 207 Sombart, Werner (1863-1941): dt. Soziologe und Ökonom; ab 1917 Prof. f. pol. Ökonomie in Berlin; Verfasser der kontroversen Schriften Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) u. Die Zukunft der Juden (1912). 425 Spinoza, Baruch, auch Benedikt de (1632-1677): jüd.-niederl. Philosoph und Vorkämpfer der Aufklärung. 27, 121, 132, 188, 205, 233 f., 237, 245 f., 252, 270 f., 412 Stirner, Max, eig. Caspar Schmidt (1806-1856): dt. Philosoph und Individualanarchist. 207 Struck Hermann (1876-1944): Maler und Graphiker; trat früh der zionist. Bewegung bei; brachte 1920 zus. mit Arnold Zweig Das ostjüdischen Antlitz heraus; ab 1923 in Palästina. 48, 352 f., 438 Täubler, Eugen (1879-1953): Historiker und Archivar; 1906-1919 Leiter des Ge-

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samtarchivs der deutschen Juden; 1910 Dozent an der Hochschule f. die Wiss. des Judentums; 1922 Prof. in Zürich u. Heidelberg; 1941 Emigration in die USA. 275 Tolstoi, Graf Lew Nikolajewitsch (1828-1910): russ. Dichter. 313 Ury, Lesser (1861-1931): Maler; ab 1886 in Berlin. 122 Vogeler, Heinrich (1872-1942): Künstler; schuf in Worpswede den Barkenhof, einen Treffpunkt für Künstler; Ende des I. WK wurde er Sozialist und lebte später in Moskau. 55 Warburg, Max M. (1867-1946): führender Bankier in Hamburg; Philanthrop und Kommunalpolitiker; später Übersiedlung nach New York. 433 Wassermann, Jakob (1873-1933): dt.-jüd. Autor; exponiertes Beispiel seiner Zeit für Assimilation; befreundet u. a. mit Schnitzler und Mann. 228 Weizmann, Chaim (1874-1952): Chemiker und zion. Politiker; erster Präsident des Staates Israel und langjähriger Leiter der zionist. Weltorganisation; Gründungsmitglied der Demokratischen Fraktion. 20 f., 24 f., 154, 172, 386, 399, 407, 409411 Winkler-Buber, Paula: siehe: Buber-Winkler Winz, Leo (1876-1952): jüd. Journalist; 1901-22 Herausgeber von Ost und West; 1921-26 zumeist in Palästina; 1928-35 Herausgeber des Gemeindeblatts der Jüdischen Gemeinde zu Berlin; 1935 Emigration nach Palästina. 21 Wolffsohn, David (1856-1914): in Köln lebender Kaufmann aus Rußland; einer der ersten Zionisten in Deutschland; ab 1896 Kontakte zu Herzl, dessen wichtigster Berater bei der Gründung der Jüdischen Kolonialbank in London und in allen wirtschaftlichen Fragen er wurde; 1905-1911 als Nachfolger Herzls Leiter der Zionist. Weltorganisation; 1907 Gründung der hebr. Zeitung Haolam. 404 Wyspianski, Stanislaw (1869-1907): poln. Maler und Zeichner. 64 York-Steiner, Heinrich (1859-1934): zionist. Publizist u. Autor; bereitete den 1. Zionistenkongress und die Gründung der Zeitschrift Die Welt zusammen mit Herzl vor; übersiedelte 1934 nach Palästina. 76 Zangwill, Israel (1864-1926): engl. Autor und Zionist; veröffentlichte 1892 den erfolgreichen Roman Children of the Ghetto; ab 1895 unterstützte er Herzl; 1905 nach Ablehnung des Uganda-Vorschlages gründete er die Jewish Territorial Organization, die sich gegen die Fixierung auf Palästina wandte. 95 Zuckermann, Hugo (1881-1914): Dichter und Übersetzer u. a. von jidd. Gedichten und von Perez Dramen; nach Herzls Tod wurde er aktiver Zionist; fiel im I. WK; 1915 posthume Veröffentlichung seiner Gedichte. 395