Martin Buber Werkausgabe: Band 16 Chassidismus I 9783641248659

Martin Bubers Anthologien chassidischer Erzählungen und Legenden gehören zu seinen populärsten Werken. Nicht zuletzt dan

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Martin Buber Werkausgabe: Band 16 Chassidismus I
 9783641248659

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Dank
Martin Buber – Die Entdeckung des Chassidismus als schöne Literatur
Die Geschichte von der fahrenden Prinzessin
Die Geschichten des Rabbi Nachman
[Berichtigung]
Die Legende der Chassidim
Die Neidgeborenen Eine chassidische Legende
Der Sseder des Unwissenden Eine chassidische Legende
Die Legende des Baalschem
Das Hohe Lied Eine chassidische Legende von Martin Buber
Die Wanderschaft des Kinderlosen
Der Totlebendige
Die Legende des Baalschem (1955) Umgearbeitete Neuausgabe
Kommentar
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Glossar
Stellenregister
Personenregister

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Martin Buber Werkausgabe Im Auftrag der Philosophischen Fakultät der Heinrich Heine Universität Düsseldorf und der Israel Academy of Sciences and Humanities herausgegeben von Paul Mendes-Flohr und Bernd Witte

Gütersloher Verlagshaus

Martin Buber Werkausgabe 16 Chassidismus I Frühe Schriften Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Ran HaCohen und Bernd Witte

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Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Buber – Die Entdeckung des Chassidismus als schöne Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Geschichte von der fahrenden Prinzessin . . . . . . . . . . . .

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. 59 . 61 . 61 . 71 . 80 . 86 . 88 . 93 . 98 Die Geschichte von dem Königssohn und dem Sohn der Magd . 110 Die Geschichte vom Meister des Gebets . . . . . . . . . . . . . 120 Die Geschichte von den sieben Bettlern . . . . . . . . . . . . . 138

Die Geschichten des Rabbi Nachman . . . Rabbi Nachman und die jüdische Mystik . Die jüdische Mystik . . . . . . . . . . . . Rabbi Nachman von Bratzlaw . . . . . . . Worte des Rabbi Nachman . . . . . . . . Die Erzählungen . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . Die Geschichte von dem Stier und dem Widder . Die Geschichte von dem Rabbi und dem Sohne .

. . . . . . . . Die Geschichte von dem Klugen und dem Einfältigen .

[Berichtigung]

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Die Legende der Chassidim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Die Neidgeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Der Sseder des Unwissenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Die Legende des Baalschem Einführung . . . . . . . . . . Das Leben der Chassidim . . . . . Hitlahabut: Von der Inbrunst . Aboda: Von dem Dienste . . . Kawwana: Von der Intention . Schiflut: Von der Demut . . . . Der erste Kreis: . . . . . . . . . . Der Werwolf . . . . . . . . . . Der Fürst des Feuers . . . . . .

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Inhalt

Die Offenbarung . . . . . . Die Heiligen und die Rache Die Himmelwanderung . . Jerusalem . . . . . . . . . Saul und David . . . . . .

. . . . . . . . Der dritte Kreis: . . . . . . . .

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Die Predigt des neuen Jahres Die Wiederkehr . . . . . . Von Heer zu Heer . . . . . Das dreimalige Lachen . . . Die Vogelsprache . . . . . Das Rufen . . . . . . . . . Der Hirt . . . . . . . . . .

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Der zweite Kreis: . . . . . . Das Gebetbuch . . . . . Das Gericht . . . . . . . Die vergessene Geschichte Die niedergestiegene Seele Der Psalmensager . . . . Der zerstörte Sabbat . . . Der Widersacher . . . . .

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Das Hohe Lied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Die Wanderschaft des Kinderlosen

. . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Der Totlebendige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Die Legende des Baalschem [1955] . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Kommentar Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Diakritische Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Einzelkommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640

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Inhalt

Glossar

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646

Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650

Gesamtaufriss der Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659

Vorbemerkung Der vorliegende Band ist der dreizehnte, der nach der Übernahme der Arbeit an der Martin Buber Werkausgabe durch die Heinrich Heine Universität Düsseldorf publiziert werden kann. Er ist nach den neuen Editionskriterien gestaltet, wie sie erstmals in Band 9 der MBW angewandt und im vorliegenden Band in der Editorischen Notiz als Einleitung zum Kommentar erörtert werden. Dieser Band versammelt Bubers Nacherzählungen chassidischer Legenden, die während der frühen Jahre seiner literarischen Tätigkeit – vornehmlich des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts – entstanden sind. Auf Grundlage eines offenkundig umfangreichen und intensiven Quellenstudiums traf Buber eine Auswahl von Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw sowie einzelner Legenden zur zentralen Gründergestalt des Chassidismus, Israel ben Elieser, genannt der Baalschemtow. Das ausgewählte Material übertrug Buber ins Deutsche und machte es durch eine intensive literarische Bearbeitung einem zeitgenössischen Publikum zugänglich. In teils neoromantisch geprägten Stilisierungen war es ihm dabei um die Neubegründung eines jüdischen Mythos zu tun, nicht zuletzt, um eine assimilierte jüdische Leserschaft mit der damals noch weitgehend unbekannten geistigen und religiösen Originalität des Ostjudentums vertraut zu machen und ihr so zu einem erhöhten religiösen Selbstbewusstsein zu verhelfen. Besonders deutlich wird das programmatische Interesse Bubers in den einführenden theoretischen Texten der beiden frühen chassidischen Anthologien, die er in späteren Jahren auch separat veröffentlichte. Neben kürzeren Erzählungen, die zumeist vereinzelt in Zeitschriften publiziert worden sind, enthält der vorliegende Band die beiden zentralen Sammlungen aus Bubers früher chassidischer Schaffensphase: Die Erzählungen des Rabbi Nachman (1906) und Die Legende des Baalschem (1908). Beiden Sammlungen war eine erhebliche Resonanz beschieden, so dass sie über die Jahre zahlreiche Auflagen erfuhren, in denen Buber die ursprünglichen Fassungen teils tiefgreifend überarbeitete. Darum haben die Herausgeber entschieden, im Fall der Legende des Baalschem neben dem Text der Erstausgabe auch die Fassung von 1955 als Ausgabe letzter Hand vollständig in diesem Band zu reproduzieren. Die Legende des Baalschem nimmt nicht zuletzt in Hinsicht auf die Arbeitsweise Bubers eine besondere Stellung in seinem Werk ein. Die Auswertung der umfangreich überlieferten Archivmaterialien belegt die enge Zusammenarbeit Bubers mit seiner Frau Paula, die an der Niederschrift zahl-

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Vorbemerkung

reicher Erzählungen dieser Sammlung beteiligt war. Im Variantenapparat dieses Bandes ist dieser Anteil Paula Bubers nun erstmals detailliert dokumentiert. Darüber hinaus war es dank der Arbeit von Ran HaCohen möglich, umfassend die Quellen nachzuweisen, auf die Buber für die Niederschrift der Legenden und Erzählungen zurückgegriffen hat. * Die Israel Academy of Sciences and Humanities, deren erster Präsident Martin Buber war, hat im Jahre 2012 die Arbeit an der Werkausgabe als ein »highly important project« anerkannt und fördert sie seitdem mit einem jährlichen Beitrag. Ein Projekt wie diese Werkausgabe wäre ohne eine großzügige finanzielle Förderung nicht möglich. Wir danken insbesondere der Gerda Henkel Stiftung und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für ihre nachhaltige Unterstützung des Gesamtprojekts der Martin Buber Werkausgabe. Nicht zuletzt sei der Heinrich Heine Universität Düsseldorf gedankt, die das Projekt logistisch und administrativ betreut. Düsseldorf, im April 2018

Paul Mendes-Flohr, Bernd Witte

Dank Den Herausgebern der Martin Buber Werkausgabe, Paul Mendes-Flohr und Bernd Witte, danke ich dafür, dass sie mir die Bearbeitung dieses Bandes anvertraut haben. Herr Witte hat freundlicherweise auch die lehrreiche Einleitung verfasst, die die Texte des Bandes tiefgehend in den breitesten entstehungs-, rezeptions- und forschungsgeschichtlichen Kontext stellt. Darüber hinaus gilt mein Dank den Herausgebern für ihre kenntnisreichen sowie stets anregenden Kommentare. Nicht minder zu Dank verpflichtet bin ich meiner Freundin Gabriele von Glasenapp (Frankfurt/Main), die stets bereit war, ihr großes Wissen und ihre vielfältige Erfahrung mit mir zu teilen, meinen Schwierigkeiten Gehör zu schenken und mir mit gutem Rat zur Seite zu stehen. Zuletzt geht ein besonders herzlicher Dank an die immer hilfsbereiten Mitarbeiter der Martin Buber-Arbeitsstelle, Simone Pöpl und Arne Taube, die mit der Anfertigung des vorliegenden Bandes betraut waren und ohne die die Fertigstellung dieses Bandes undenkbar gewesen wäre. Tel Aviv, im Frühling 2018

Ran HaCohen

Als Bandherausgeber des Bandes 16 der Martin Buber Werkausgabe möchte ich den beiden Mitarbeitern der Arbeitsstelle Martin Buber Werkausgabe, Simone Pöpl und Arne Taube, meinen herzlichen Dank aussprechen. Simone Pöpl hat die Vervollständigung des Kommentars übernommen. Arne Taube hat den in diesem Fall besonders schwierigen kritischen Apparat betreut. Zudem bin ich Kerstin Schreck zu stetem Dank verpflichtet, die – wie auch bei anderen Bänden – die sorgfältige Überprüfung des Textbestandes übernommen hat. Düsseldorf, im Frühling 2018

Bernd Witte

Martin Buber – Die Entdeckung des Chassidismus als schöne Literatur I. »Es ist aus der Entwicklung Bubers nicht wegzudenken, daß er sich in seiner Jugend zum Dichter berufen glaubte«, schreibt Grete Schaeder (1903-1990) in der Einleitung der von ihr verantworteten dreibändigen Ausgabe von Bubers Briefwechsel. 1 Um 1900 versteht sich Buber in der Tat, wie er in Briefen an seine Frau Paula (1877-1958) mehrfach betont, als lyrischer Dichter in der Nachfolge Hugo von Hofmannsthals (18741929). So schreibt er etwa im August 1900, zu einer Zeit, als er erste Gedichte in Zeitschriften veröffentlicht, 2 an Paula: »Liebste, die letzten Tage, die ich diesmal mit Dir zusammen war, […] haben mir ganz neue Kraft geschenkt, Du kennst meine Art zu schaffen und Du wirst verstehen, was das für mich bedeutet: ich habe einen eigenen künstlerischen Weg gefunden.« 3 Dennoch greift Schaeders Feststellung zu kurz. Denn Buber hat sich Zeit seines Lebens auf verschiedenen literarischen Feldern und in verschiedenen Gattungen explizit als Dichter geäußert. In seiner Jugend hat er sich, das sieht Schaeder richtig, als Lyriker verstanden und betätigt. Doch hat er die lyrische Ausdrucksform – vor allem im Dialog mit seiner Frau Paula 4 – sein ganzes Leben lang weiter gepflegt, und noch in seinem letzten Buch, der Nachlese von 1965, stehen Gedichte am Anfang, in der Mitte und am Ende des Werks an prominenter Stelle. Zudem hat sich Buber auch in vielen anderen literarischen Gattungen versucht. Im Jahr 1941 hat er mit Gog und Magog einen Text publiziert, den er im Untertitel zwar als »eine Chronik« bezeichnet, der aber in Wirklichkeit ein historischer Roman ist. 5 Nach einzelnen Fragmenten in seinen frühen Jahren hat er 1955 mit dem Mysteriendrama Elija auch ein vollständiges Bühnenwerk vorgelegt. Schließlich hat er sich mit den autobiographischen Fragmenten von Begegnung (1960) 6 in der Gattung der Kurzprosa hervorgetan, die seit den 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Grete Schaeder, Martin Buber. Ein biographischer Abriß, in: B I, S. 19-141, hier S. 40. Vgl. MBW 7, S. 69 ff. B I, S. 156. Vgl. die unveröffentlichten Gedichte an Paula; jetzt in: MBW 7, S. 123-143. Die dt. Ausgabe erschien erst 1949 in Heidelberg bei Lambert Schneider; jetzt in: MBW 19. Jetzt in: MBW 7, S. 274-309.

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Martin Buber – Die Entdeckung des Chassidismus als schöne Literatur

zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der deutschen Literatur, etwa mit Walter Benjamins (1892-1940) Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, zu einer innovativen Ausdrucksform geworden war. Überhaupt fällt bei der Betrachtung von Bubers Gesamtwerk auf, dass alle seine Schriften – vielleicht mit Ausnahme der sich als wissenschaftliche Untersuchungen präsentierenden Werke zur Bibelauslegung, Königtum Gottes (1932) 7 und Moses (1948) 8 – vom Dichterischen durchtränkt sind. 9 Seinen nach eigener Einschätzung bedeutendsten Beitrag zur Literatur hat Buber jedoch mit seinen ersten selbständigen Veröffentlichungen, den Geschichten des Rabbi Nachman (1906) und der Legende des Baalschem (1908), geleistet, die er in den jeweiligen Einleitungen formal als »Erzählungen« charakterisiert. Deren dichterische Eigenart hatte schon Hans Kohn (1891-1971) in seiner Biographie von 1930 hervorgehoben: »Was Buber in diesen zwei ersten Büchern geschaffen hat ist eigen dichterisch-philosophische Leistung. Aus überliefertem Gut wurde durch Hinzufügung und Weglassung, durch Umformung und vor allem durch die Buber eigene Kunst architektonischen, sinnverbindenden Aufbaus eine neue Welt […].« 10 Buber selbst hat beide Bücher noch fünfzig Jahre später im lyrischen Rückblick als seine wichtigsten literarischen Schöpfungen bewertet. In dem Gedicht »Bekenntnis des Schriftstellers«, mit dem er programmatisch den Band Nachlese eröffnet, 11 evoziert er seine frühen dichterischen Ambitionen und nennt die Umdichtungen der chassidischen Legenden, die den Hauptinhalt der Bücher ausmachen, »das berückende Gift«. »Ich bin mit leichtem Kiele Ums Land der Legende geschifft, Durch Taten, Werke und Spiele, Unlässig den Sinn nach dem Ziele Und im Blut das berückende Gift – Da ist einer auf mich niedergefahren.

7. Jetzt in: MBW 15. 8. Jetzt in: MBW 13. 9. Auf die ganz und gar künstlerische Ausrichtung von Bubers Schreiben hat schon Ernst Michel, Martin Buber. Sein Gang in die Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1925, S. 14 hingewiesen: »Er ist Künstler, und jeder Künstler fühlt die Lust an Handwerk und Material.« 10. Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Versuch über Religion und Politik, Hellerau 1930, S. 71. 11. Zur Text- und Druckgeschichte des Gedichts vgl. den Kommentar in MBW 7, S. 560 f.

Martin Buber – Die Entdeckung des Chassidismus als schöne Literatur

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Der faßte mich an den Haaren Und sprach: Nun stelle die Schrift.« 12

Der dichterische Ehrgeiz, der ihn in seiner Jugend »unlässig«, das heißt, »unermüdlich« angetrieben habe, wird in diesen Versen als jugendliches Spiel charakterisiert und gegenüber der großen Aufgabe seiner Mannesjahre, der in göttlichem Auftrag unternommenen Übersetzung der Heiligen Schrift, abgewertet. Jedoch nicht ohne Bedauern und Wehmut, wie sie vor allem in einer Zeile der zweiten Strophe des Gedichts zum Ausdruck kommen: »Und die Seele vergißt, daß sie sang.« Dies eine Anspielung auf den Satz Friedrich Nietzsches (1844-1900) aus der Geburt der Tragödie: »Sie hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ – und nicht reden!« 13 In ähnlicher Weise hatte Buber schon zuvor mit einer Widmung an seine Frau Paula in dem Band Erzählungen der Chassidim von 1949 an den dichterischen Enthusiasmus erinnert, der sie beide damals erfasst hatte: »Weißt Du es noch, wie wir in jungen Jahren Mitsammen sind auf diesem Meer gefahren? Gesichte kamen, groß und wunderlich, Wir schauten miteinander, Du und ich.« 14

Auch wenn das vor allem als eine Stilisierung auf sein philosophisches Hauptwerk Ich und Du (1923) hin ist und damit auch als romantische Verklärung der gemeinsamen dichterischen Arbeit ihrer Jugendjahre zu gelten hat, so stellt es dennoch ein authentisches Zeugnis für den dichterischen Aufbruch und die Freiheitserfahrung dar, die mit der Schaffung dieser frühen Erzählungen für den jungen Autor und seine ebenfalls als Schriftstellerin tätige Frau sich eröffnete. II. Das Jahr 1904 stellt im Leben Martin Bubers eine entscheidende Wende dar, die geprägt ist von seiner Abkehr vom politischen Zionismus. Bubers Auseinandersetzung mit dessen politischer Leitfigur, Theodor Herzl 12. Neue Schweizer Rundschau, Neue Folge, 20. Jg., Heft 3, Juli 1952, S. 144; jetzt in: MBW 7, S. 98. 13. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, III. Abt., Bd. 1, Berlin u. New York 1972, S. 9. 14. Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 26; jetzt in: MBW 7, S. 100.

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Martin Buber – Die Entdeckung des Chassidismus als schöne Literatur

(1860-1904), entzündete sich an der vernichtenden Kritik von dessen Roman Alt-Neuland (1902), die der Begründer des Kulturzionismus, Achad-Haam (Ascher Ginsberg; 1856-1927), 1903 in seiner hebräischsprachigen Zeitschrift Haschiloach veröffentlicht hatte und der Buber und seine politischen Gesinnungsgenossen, Chaim Weizmann (18741952), Berthold Feiwel (1875-1937) und Efraim Moses Lilien (18741925), beipflichteten. 15 Mit ihnen, die sich auf dem 6. Zionistischen Kongress 1903 in Basel als »Demokratische Fraktion« konstituierten, versuchte Buber damals eine »Organisation der nationaljüdischen Kulturarbeit« aufzubauen. 16 So war er maßgeblich an der Gründung des Jüdischen Verlags 1902 in Berlin beteiligt, publizierte dort ebenfalls 1902 zusammen mit Weizmann eine Broschüre mit dem Grundsatzprogramm für Eine jüdische Hochschule 17 und entwarf schließlich ein ambitioniertes Zeitschriftenprojekt mit dem Titel Der Jude, dessen erstes Heft im Januar 1904 erscheinen sollte, das aber wegen mangelnder finanzieller Unterstützung scheiterte und erst 1916 verwirklicht werden konnte. 18 Der Misserfolg der »demokratischen Fraktion« auf dem 6. Zionistenkongress, den Buber in einem Brief an seine Frau Paula aus Basel als die größte »Erschütterung« seines Lebens charakterisierte, 19 sowie die »Spaltung« der Bewegung »zwischen den Judenstaatlern und den Vertretern des historischen Zionsideals« 20 gaben schließlich den letzten Anstoß für Bubers Rückzug aus allen Ämtern. An seinen Mitstreiter Chaim Weizmann schreibt er im Oktober 1903 aus Lemberg, er wolle nun die jüdische Kulturarbeit mit anderen Mitteln voran bringen; denn er sei davon »überzeugt, daß ich auf dem Gebiete einer stillen, ernsten und gesammelten literarischen Arbeit Einiges leisten könnte«. 21 Enttäuscht vom politischen Zionismus, widmet Buber sich der Erneuerung eines authentischen Judentums aus dem Geist seiner mystischen Traditionen. Er beginnt sich in die Überlieferung des Chassidismus zu vertiefen, die ihm seit seinen Kinderjahren in der großväterlichen Familie 15. Vgl. hierzu Bernd Witte, Jüdische Tradition und literarische Moderne, München 2007, S. 102. 16. Brief an Theodor Herzl, 29. Mai 1903. In: B I, S. 201. 17. Jetzt in: MBW 3, S. 363-391. 18. Der Jude. Eine Monatsschrift, 1. Jg. 1916/17 (Verlag R. Löwit Berlin, Wien). Die zweite Ankündigung vom Herbst 1903 zuerst gedruckt bei Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit, S. 296-300. Der erste Prospekt vom Mai 1903 jetzt in: MBW 3, S. 172-176. 19. B I, 207. Vgl. auch seine Schilderung dieses Vorfalls in Begegnung. Autobiographische Fragmente, Stuttgart: Kohlhammer 1960 unter der Überschrift »Sache und Person«, S. 23-28; jetzt in: MBW 7, S. 287-290. 20. B I, S. 208 21. B I, S. 213.

Martin Buber – Die Entdeckung des Chassidismus als schöne Literatur

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vertraut war und die er jetzt bei der Lektüre des Zewaat Ribesch, des »Testaments« des Rabbi Israel ben Elieser, genannt der Baal Schem (ca. 1700-1760), des Begründers des Chassidismus, neu für sich entdeckt. 22 Um sich ungestört auf die Sammlung und das Studium der reichhaltig in jiddischer und hebräischer Sprache überlieferten, aber bis dahin im Westen so gut wie unbekannten Texte und Dokumente konzentrieren zu können, siedelt er im Winter 1905/06 mit seiner Familie nach Florenz über. Dort lebt er, von seiner Großmutter Adele Buber (1830-1911) finanziell unterstützt, »mit dieser Stadt, mit ihren Häusern, mit ihren Denkmälern, mit ihren einstigen Geschlechtern«. 23 Die neue Epoche seines Lebens begreift er als »Abscheidung von allem, was nur scheinbar unser war« und als »das erste Werkjahr meines Lebens«. 24 In der anregenden, für ihn ungewohnten Umgebung vollendet er sein erstes Buch aus der Reihe der chassidischen Schriften, Die Geschichten des Rabbi Nachman. Schon im November 1905 kann er seinem Freund Gustav Landauer (1870-1919) mitteilen: »Zum Arbeiten taugt Florenz sehr. Ich habe nun den Märchenband fertiggestellt; er wird Anfang 1906 bei Rütten & Loening erscheinen«. 25 Im März 1906 berichtet er Hugo von Hofmannsthal, er werde ihm »demnächst einen Band« übersenden, »der jetzt in der Literarischen Anstalt gedruckt wird; er enthält einige Märchen und Legenden eines jüdischen Mystikers des 18. Jahrhunderts […], die ich aufgefunden und bearbeitet habe«. 26 Im Juni schickt Hofmannsthal die Korrekturbögen des nun schon gesetzten Buches an Buber zurück. 27 Ende des Jahres schließlich ist das Buch erschienen – die Erstausgabe trägt das Publikationsdatum 25. Oktober 1906 – und Buber, der inzwischen nach Berlin übergesiedelt ist, kann Anfang Dezember seiner Frau Paula mitteilen, er werde ihr mit gleicher Post »einen gebundenen Nachman« für ihren gemeinsamen Sohn Rafael schicken. 28 Zur Zeit der Drucklegung des Rabbi Nachman war Buber als Lektor 22. Anders als der Name suggeriert, repräsentieren die darin enthaltenen Anweisungen für ein spirituelles Leben die Auffassungen des Dow Bär, des Großen Maggid von Mesritsch (gest. 1772), der in der chassidischen Geschichtsschreibung als Schüler des Baal Schem gilt. 23. Brief von Weihnachten 1905. Dieser Brief ist in der dreibändigen Briefausgabe von 1972 nicht enthalten. Er wird zitiert nach Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit, S. 306. 24. Brief vom Herbst 1906; zitiert nach Hans Kohn, ebd., S. 309. 25. B I, S. 233. 26. B I, S. 238. 27. Hugo von Hofmannsthal an Buber, 20. Juni 1906. In B I, S. 243. 28. B I, S. 250.

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Martin Buber – Die Entdeckung des Chassidismus als schöne Literatur

des Verlags »Literarische Anstalt Rütten und Loening« in Frankfurt tätig, wo er die von ihm konzipierte Buchreihe »Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien«, herausgab, deren erste vier Bände ebenfalls 1906 erschienen. 29 Das mag die erstaunliche Tatsache erklären, dass ein literarischer Debütant sein erstes Werk in einer kostbaren Ausstattung publizieren konnte, wie sie gleichzeitig nur anerkannten Autoren wie Stefan George (1868-1933) oder Hugo von Hofmannsthal zuteil wurde. Den hohen Anspruch von Bubers Buch unterstreicht die Aufmachung der Erstausgabe, deren Druckanordnung, Zierleisten, Initialen und Einband von dem bedeutenden Buchkünstler Emil Rudolf Weiß (1875-1942) geschaffen wurden. Das Werk ist in flexibles dunkelgrünes Leinen gebunden, das wie bei alten Gebetbüchern an den Längsseiten übersteht und umgebogen ist. Zudem ist es mit Kopfgoldschnitt versehen. Auf dem Deckel zeigt es in Goldbuchstaben den Titel, unter dem eine stilisierte brennende Menora zu sehen ist. Der siebenarmige Leuchter wird in gleicher Form auf dem in Rot und Schwarz gedruckten Titelblatt wiederholt, wobei es nicht ohne Bedeutung sein dürfte, dass die Namen »Rabbi Nachman« und »Martin Buber« mit diesem Symbol messianischer Hoffnung durch ihre gemeinsame Farbe Rot zusammengebunden sind. III. Mit diesem seinem ersten selbständigen Buch ist Buber zu dem zurückgekehrt, was er von Anfang an als seine eigentliche Berufung angesehen hatte: als Dichter sein Volk zu sich selbst zu führen, ihm die neue alte Identität zu schenken, die es in Diaspora und Assimilation verloren hatte. Indem er die chassidischen Legenden des Urenkels des Baal Schem, des Rabbi Nachman von Bratzlav (1772-1810), neu erzählt, schafft er ein eigenes dichterisches Werk, das diesem Ziel dienen soll. Er transformiert die ursprünglich mündlich in jiddischer Sprache überlieferten und dann in hebräischer Form publizierten Erzählungen, die nach der Intention ihres Urhebers haggadische, das heißt in erzählerische Form gekleidete Kommentare der lurianischen Kabbala und des Messianismus waren, in »jüdische Volksmärchen«, deren exotischer Reiz besonders auf die der 29. Es handelt sich um die vier Bände: Bd. I: Werner Sombart, Das Proletariat; Bd. II: Georg Simmel, Die Religion; Bd. III: Alexander Ular, Die Politik; Bd. IV: Eduard Bernstein, Der Streik. Auch sie zeichnen sich durch besondere Ausstattung aus: Einband und Vorsatz von Peter Behrens, zweifarbige Initialen von Hermann Kirchmayr.

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ostjüdischen Tradition unkundigen westlichen Intellektuellen wirken musste. Schon im ersten Satz des Buches fällt die höchst subjektive Selbstidentifikation Bubers mit dem »letzten jüdischen Mystiker«, als den er Nachman apostrophiert, ins Auge: »Ich habe die Geschichten des Rabbi Nachman nicht übersetzt, sondern ihm nacherzählt, in aller Freiheit, aber aus seinem Geiste, wie er mir gegenwärtig ist.« 30 Damit ist mehr gemeint als bloße Einfühlung in den Vorgänger. Der Erzähler, der sein Buch mit dem Wörtchen »ich« beginnt, sieht in dem Zaddik den »ersten und bisher einzigen wirklichen Märchendichter unter den Juden. […] hier zum erstenmal ist Person, persönliche Intention und persönliche Gestaltung.« 31 Das Werk dieses Dichters will er fortsetzen, aber nicht im Sinne einer Schülerschaft, sondern im Geiste mystischer Identifikation. Damit erneuert er auf individueller Ebene die jüdische Auffassung von der Tradition als einer durch die Jahrhunderte mit unveränderter Intensität weiterwirkenden Kraft. 32 Allerdings kann und will Buber sich dabei nicht mehr auf die kanonische Gesetzestradition berufen. Vielmehr evoziert er eine unterirdische Volkstradition, in die er sich selbst einschreibt, indem er sie dem eigenen Leben und der eigenen Zeit anverwandelt. Wie sehr ihm diese Identifikation mit dem chassidischen Erzähler zur zweiten Natur geworden ist, lässt sich an einer Formulierung der 1918 erschienenen autobiographischen Skizze Mein Weg zum Chassidismus ablesen: »In den beiden letzten [Geschichten] erlebte ich, auch in den Stücken, die ich völlig neu einfügte, meine Einheit mit dem Geiste Nachmans. Ich hatte eine wahre Treue gefunden: zulänglicher als die unmittelbaren Jünger empfing und vollzog ich den Auftrag, ein später Sendling in fremdem Sprachbereich.« 33 In diesen Worten kommt zum Ausdruck, wie Buber sich selber sieht: als einen Gerechten und Weisheitslehrer des zwanzigsten Jahr-

30. So in den späteren, leicht überarbeiteten Ausgaben. Zitiert nach: Die Geschichten des Rabbi Nachman ihm nacherzählt von Martin Buber, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1920 (9.-13. Tausend), S. [1]. In der Erstausgabe von 1906 hatten die Eingangssätze weniger selbstsicher gelautet: »Ich habe die Geschichten des Rabbi Nachman nicht übersetzt, sondern ihm nacherzählt. Ich habe es getan, weil mein Zweck kein philologischer ist.« 31. So in der Ausgabe von 1920, S. 41. In der Erstausgabe (jetzt in diesem Band, S. 498) fehlt der zweite Teil des Satzes. 32. Die folgende Analyse von Bubers Rabbi Nachman ausführlicher schon in Witte, Jüdische Tradition und literarische Moderne, S. 116-124. 33. Martin Buber, Mein Weg zum Chassidismus, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1918, S. 21 f.; jetzt in: MBW 17, S. 41-52, hier S. 49.

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hunderts, als Zaddik, der in der zeitgemäßen Gestalt eines Dichters auftritt und sich dabei der deutschen Sprache bedient. Unter dem Titel »Rabbi Nachman und die jüdische Mystik« hat Buber für die mit dem ostjüdischen Leben nicht vertrauten Leser seinem Buch eine Einführung vorangestellt, die ihnen die nachfolgenden Erzählungen verständlich machen soll. Die Geschichte der jüdischen Mystik, wie Buber sie hier als erster skizziert, erscheint als eine der Häresie und der Revolte gegen das orthodoxe Judentum. Sie ist für ihn zudem kein vornehmlich religiöses Phänomen, bewirkt keine Bindung des Menschen an Gott, sondern stellt sich ihm – wie er von der Lehre des Pseudomessias und großen Abtrünnigen des 17. Jahrhunderts, Sabbatai Zvi (16261676), schreibt – als »eine Entladung der unbekannten Volkskräfte und eine Offenbarung der verborgenen Wirklichkeit der Volksseele« dar. 34 Diese Vision Bubers von einer Erneuerung und Wiederbelebung des Volksgeistes aus dem Nacherzählen der chassidischen Geschichten weist unübersehbare Parallelen zum deutschsprachigen Kulturkonservatismus des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende auf, der im Rückgriff auf die durch Blutsgemeinschaft verbürgten traditionalen Werte die aufklärerische Moderne überbieten will. Sie erhält ihre einzigartige Durchschlagskraft und Wirksamkeit dadurch, dass das »Volk« für Buber nicht – wie in den Träumen der Romantiker oder noch Richard Wagners (1813-1883) – eine in nebelhafter Vergangenheit verschwimmende Größe ist, sondern die tagtäglich anzuschauende soziale Realität des Ostjudentums, in dem sich der Chassidismus, wenn auch verfälscht, bis in die Gegenwart lebendig erhalten hat. Dessen von dem Erzähler Buber ins Ästhetische gewandelter und zum absoluten Vorbild gesteigerter Lebensentwurf wird dem gesamten Judentum, insbesondere aber dem emanzipierten, seiner religiösen Wurzeln beraubten Westjudentum als Identitätsgrund vorgeführt. Was ist aus den allegorisierenden Erzählungen des Rabbi Nachman in Bubers »Neuerzählungen« geworden? Für Rabbi Nachman sind seine Geschichten die »Kleider« seiner Lehre, 35 während Buber seine Texte im Rückblick als »eigengesetzliche Dichtung aus überlieferten Motiven« bezeichnet. 36 Schon diese gegensätzliche Charakterisierung gibt einen ersten Hinweis auf den andersartigen Status, der die Erzählungen des mündlich vortragenden Religionslehrers von denen des Literaten der Moderne unterscheidet. Rabbi Nachman, der traditionalen Welt des 34. Martin Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1906, S. 12; jetzt in diesem Band, S. 65. 35. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, S. 41; jetzt in diesem Band, S. 86. 36. Buber, Mein Weg zum Chassidismus, S. 22; jetzt in: MBW 17, S. 49.

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Ostjudentums verhaftetet, beginnt seinen Jüngern in dem Moment Geschichten zu erzählen, als sich seine Hoffnung auf ein unmittelbar bevorstehendes Kommen des Messias, an dem er mitwirken könnte, als trügerisch erwiesen hat. Seine dreizehn Geschichten, deren erste er am 25. Juli 1806 und deren letzte er am 30. März 1810, kurz vor seinem Tod, erzählt, sind für Nachman das Mittel, eine Tradition zu stiften und so bei seinen Jüngern den Glauben an den Messias über das eigene Lebensende hinaus aufrecht zu erhalten. Seine mündlichen Erzählungen sind von einem seiner Schüler, Nathan ben Naftali von Nemirow (17881844), jeweils unmittelbar, nachdem der Meister sie vorgetragen hatte, aufgezeichnet und 1815 zum Druck befördert worden. An sie hat sich im Laufe der Zeit eine umfangreiche Kommentarliteratur aus dem Schülerkreis angehängt, die bis heute weiter gepflegt wird. 1983 haben die Bratzlawer Chassidim, die heute ihr Zentrum in Jerusalem haben, eine »offizielle« englischsprachige Übersetzung der Geschichten herausgebracht, die in einem umfangreichen, etwa zwei Drittel jeder Seite umfassenden Kommentar die traditionellen, bisher nur in hebräischsprachigen Einzelpublikationen vorliegenden Deutungen für den heutigen Leser zusammenfasst und zugänglich macht. 37 In der Erstausgabe der Geschichten des Rabbi Nachman von 1815 sind die Erzählungen in der Reihenfolge ihres Entstehens abgedruckt. 38 Anders bei Buber. Er hat nur weniger als die Hälfte der vorliegenden Texte ausgewählt und sie in einer Weise angeordnet, dass sie ein in sich geschlossenes dichterisches Werk ergeben. Er beginnt mit der Geschichte von »dem Stier und dem Widder«, die das auserwählte Volk im Exil zeigt, am Ende aber mit apokalyptischen Tiersymbolen das Verderben des gottlosen, die Juden bedrängenden Königs schildert 39. Die folgende »Erzählung von dem Rabbi und seinem Sohne« lässt – in ähnlicher Wei37. Rabbi Nachman’s Stories. (Sippurey Ma’asioth), translated with notes based on Breslover works by Rabbi Aryeh Kaplan. Published by the Breslov Research Institute. Jerusalem 1983. Im Vorwort von Rabbi Chaim Kramer, dem Leiter des Bratzlawer Forschungsinstituts, heißt es: »The present work, however, includes a running commentary drawn from the traditional commentaries by Rabbi Nachman’s students and followers, giving insight and understanding as to what Rabbi Nachman may have been alluding to. […] collecting and correlating the commentaries from the many different sources was a project of monumental difficulty. This has never been done before, even in the Hebrew editions.« (S. VIIIf.) 38. Der Kommentar in Rabbi Nachman’s Stories nennt zu Beginn einer jeden Geschichte das genaue Datum und den äußeren Anlass der Erzählung. 39. Diese Geschichte ist von Buber in Die chassidischen Bücher, Hellerau: Jakob Hegner 1928, nicht aufgenommen worden, weil sie »mir allzu fremd geworden« sei, vgl. Vorbemerkung, S. IX; jetzt in: MBW 18.1, S. 88. In die Ausgabe von 1955 wurde sie wieder aufgenommen.

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se wie die im ersten Jahrgang von Ost und West im Jahr 1900 publizierte Geschichte Der Rabbi und der Zaddik von Isaak Leib Perez (1852-1915) – den Zaddik als den einzig Gerechten erscheinen, nach dem sich der Sohn des gesetzestreuen Rabbi in Sehnsucht verzehrt. Auch die nächsten beiden Geschichten stellen mit »dem Klugen und dem Einfältigen« und »dem Königssohn und dem Sohn der Magd« dem Unwürdigen den wahren Weisen und Gotterfüllten gegenüber, der sich am Ende gegen die falschen Prätentionen der Welt durchsetzt. Schließlich werden im »Meister des Gebets« und in den »sieben Bettlern« die Heilsbringer und ihre rettenden Taten in allegorischen Handlungen vorgeführt. Von ihnen hängt die Erlösung der Welt und damit auch die endgültige Offenbarung Gottes ab. So zeichnen die sechs Erzählungen, wie sie von Buber zusammengestellt werden, eine Heilsgeschichte nach, die ausgehend von der Galut, dem Leser die Gestalt des »vollkommenen Menschen« vor Augen führt, dessen »Tat« es ist, in der Welt die Ankunft des Messias vorzubereiten. Die aber steht noch aus, wie die letzte Geschichte durch ihre offenes Ende deutlich macht, indem sie das angekündigte Kommen des siebten Bettlers nicht mehr erzählt. In dieser Weise transformiert Buber eine in ihrer Anordnung kontingente Sammlung von Erzählungen, die jeweils ein zufälliges, äußeres Ereignis zum Anlass nehmen, 40 in ein in sich geschlossenes, autonomes Werk, in dem er seine anthropologische Neudeutung des Messianismus Gestalt werden lässt. Die Literarisierung der Erzählungen bei Buber, die Umformung jeder einzelnen von ihnen zum neoromantischen Kunstmärchen geht bis ins sprachliche Detail. Nicht umsonst wird in der »Geschichte vom Meister des Gebets« die Begegnung mit dem »Meister der Sprache«, die bei Nachman äußerst knapp und nüchtern ausfällt, bei Buber poetisch ausgemalt zum Porträt eines orphischen Sängers: »er sang und sang, und dann schwieg er, da rauschten die Bäume ihm ein Schwesterlied, und als es erlosch, kamen große Stimmen von den Felsen her, und wieder begann er, und da schwiegen die Dinge und lauschten, aber wie er innehielt, 40. So wird zum Beispiel in den Bratzlawer Kommentaren als Anlaß der Geschichte Vom Meister des Gebets angegeben: »Yosef, der ›Meister des Gebets‹ [Kantor] von Bratzlaw, war zusammen mit den anderen Jüngern bei Rabbi Nachman. Der ›Meister des Gebets‹ hatte einen zerissenen Kaftan an, und Rabbi Nachman sagte: ›Du bist der ‚Meister des Gebets‘, durch den alles seine Erfüllung findet. Warum hast du nicht einen anständigen Kaftan?‹ Dann fing er an [zu erzählen]: ›Es war einmal ein Meister des Gebets.‹« Kommentar in: Rabbi Nachman’s Stories. S. 278. (Übersetzung B. W.) Der Kommentator zitiert Chayay Moharan, die Biographie Nachmans von seinem Schüler Rabbi Nathan von Nemirow. Vgl. auch Bubers Wiedergabe dieser Anekdote in: Die Geschichten des Rabbi Nachman, S. 40; jetzt in diesem Band, S. 86.

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wurde ein Vogel gehört und bald ein Chor von Vögeln, und ihrem Verstummen antwortete der Bach und sang.« 41 Solchen Hinzufügungen von hohem literarischem Reiz stehen eine Unterdrückung der als hässlich empfundenen Einzelheiten und eine Systematisierung des Ganzen gegenüber. Die Wiederholungen und Widersprüche des jiddischen Originaltextes, die offensichtlich der authentischen Wiedergabe des mündlichen Vortrags geschuldet sind, sieht Buber als durch die Überlieferung verursachte »Entstellungen« an 42, weshalb er sie in seinen Nacherzählungen glättet oder eliminiert. Darüber hinaus säubert er den überlieferten Text immer dort, wo er vom Aberglauben inspiriert erscheint. Was Buber vor allem in der Physiognomie der von ihm porträtierten »vollkommenen Menschen« auszumerzen sucht, sind ihre magischen Praktiken. Nun ist es aber gerade das Zusammenspiel von mystischer Erweckung und Magiertum, das die Faszination der Zaddikim für ihre Anhänger ausmacht. Buber aber macht diese Magier und heiligen Männer zu reinen Geistesmenschen. Symptomatisch hierfür, dass bei Buber die gesamte Schlussepisode von Nachmans Erzählung »vom Klugen und vom Einfältigen« fehlt, worin der zum weisen Minister aufgestiegene einfältige Schuster seinen klugen Jugendfreund zum Essen einlädt. Als jemand meldet, der Teufel stehe vor der Tür, lässt der Weise den Baal Schem holen, der ihm zu seinem Schutz »Amulette und Abwehrmittel« gibt, während der Kluge, der die Existenz des Satans leugnet, von diesem gepackt und »in Schmutz und Schlamm geworfen« wird. Schließlich bewirkt der Baal Schem auf Intervention des Weisen die Befreiung des Klugen aus der Hölle. »Da endlich erkannte der Kluge die Wahrheit und mußte zugeben und bekennen: daß es einen König gibt und einen wirklichen Baal Schem«, so lautet der Schlusssatz bei Nachman. 43 Von all dem ist bei Buber nicht mehr die Rede, weshalb er die Geschichte mit der matten Moral des zum Minister aufgestiegenen Einfältigen beendet, mit der dieser sich an den Klugen wendet: »Sieh, du sagtest einst, es würde dir eher möglich sein, zu meiner Einfalt zu kommen, als mir zu deiner Klugheit. Nun bin ich wohl zu Weisheit gekommen, nie aber wirst du bei der Einfalt einkehren und ihre Gaben empfangen.« 44 Statt des bildlichen Hinweises auf Gott und seinen Stell41. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, S. 124; jetzt in diesem Band, S. 133 f.. 42. »Von den Geschichten hingegen sind alle offenbar entstellt.« Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, S. 41; jetzt in diesem Band, S. 87. 43. Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw. Zum erstenmal aus dem Jiddischen und Hebräischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Michael Brocke, München 1985. S. 106-109. 44. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, S. 82; jetzt in diesem Band, S. 209.

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vertreter auf Erden bei dem chassidischen Mystiker vermag der moderne Autor seinen aufgeklärten Lesern lediglich einen resignativen Gemeinplatz zu vermitteln. Nachmans Geschichten haben eine Tiefenschicht, die darin besteht, dass sie sich auf kanonische Texte der jüdischen Tradition beziehen, deren kommentierende Neuschreibung sie sind. Für die vorletzte Geschichte Vom Mann des Gebets gibt der Autor selber einen Hinweis zur Deutung, indem er behauptet, »auf die ganze Geschichte von Anfang bis Ende werde schon im Kapitel [Jesaja 31] angespielt«. 45 In der Tat lässt sich die Rahmenerzählung vom Land der Reichen, das von einem Kriegshelden bedroht wird und sich hilfesuchend an ein Land von noch Reicheren wendet, schließlich aber von seiner Anbetung des Goldes geheilt wird, als eine erzählerische Paraphrase der Strafrede des Propheten Jesaja an Israel verstehen. In ihr wiederum scheint die Ursprungserzählung vom Auszug der Israeliten aus Ägypten durch, wenn Jesaja seinem verblendeten Volk zuruft (Jes 31,1): »Weh, die hinabziehen nach Ägypten um Hilfe«. Dieser religiöse Horizont, der in Nachmans Geschichte voll gegenwärtig ist, wird von Buber ausgeblendet. Bei ihm erscheint die Beschreibung der Verhältnisse »im Lande des Reichtums« als radikale Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung, in der ausschließlich die Größe des materiellen Besitzes »Ordnung, Gesetz und Herrschaft« bestimmt, so dass die Reichsten als »Götter« erscheinen, während die Habenichtse zu Tieren erniedrigt, den Göttern »zum Opfer« gebracht werden. 46 Gegen diese »Lehre von der Göttlichkeit des Goldes« und die aus ihr resultierende falsche Gesellschaftsordnung wendet sich der Mann des Gebets, 47 als er aufbricht, um die anderen Meister zu suchen, die durch das große Unwetter in alle Winde zerstreut wurden. In Bubers Nacherzählung erscheint diese Suche als Streben nach »dem wahren Sinn des Lebens«, 48 den jeder für sich finden muss, indem er seine ureigensten Kräfte und Begabungen in die Tat umsetzt. Bubers Geschichten gehören insofern der Moderne an, als sie auf die Rettung des Einzelnen zielen, der eigenverantwortlich und aus eigener Kraft sein Heil suchen soll. Ihre Säkularisierungstendenz wird besonders an den Stellen deutlich, an denen Buber bewusst die Erwähnung Gottes unterdrückt, die in der hebräischen Vorlage stets den Hintergrund des Erzählten bildet. Damit wird in seiner Neuformung der Geschichten vor 45. 46. 47. 48.

Kaplan (transl.), Rabbi Nachman’s Stories, S. 351. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, S. 104 f.; jetzt in diesem Band, S. 121. Ebd., S. 105; jetzt in diesem Band, S. 121. Ebd., S. 130; jetzt in diesem Band, S. 137.

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allem die unverhüllte religiöse Rede und Mahnung, die im Zentrum der chassidischen Predigten Nachmans stehen, zugunsten einer vagen existenzialistischen Poetisierung aufgegeben. So heißt es etwa am Beginn der Erzählung »vom Meister des Gebets«, wie sie von Nachmans Jüngern überliefert ist: »Dort kehrte er ein, meist bei kleinen Leuten, bei irgendeinem Armen und Geringen und begann mit ihm vom Sinn und Ziel der Welt zu sprechen: ›Das Leben hat keinen anderen Sinn, als daß man Gott dient. Du sollst dein Leben mit nichts anderem verbringen als mit Gebet, Lied und Lobpreis vor Ihm, Er sei gepriesen.‹ Auf diese und ähnliche Weise redete er auf den Menschen ein, um ihn wachzurütteln, und das so lange, bis seine Worte den Weg in sein Herz gefunden hatten […].« 49 Daraus macht Buber den Bericht einer unverbindlichen Begegnung: »Da schloß er sich an diesen und jenen, der ihm von ungefähr begegnete, begann zu ihm zu reden und erhob, von Gesprächen über die Dinge der Erde mit dem zutraulich werdenden Gefährten emporsteigend, dessen Seele und führte sie allgemach dem letzten Sinne alles Seins zu. Und manches Mal ereignete es sich, daß Ohr und Herz des andern sich ihm auftaten und seine Rede eingehen ließen«. 50 In diesen Sätzen wird mit Rücksicht auf das aufgeklärte deutschsprachige Publikum nicht mehr von Gott gesprochen, sondern lediglich ein vager philosophischer Sinnhorizont aufgespannt. Bemerkenswert, dass damit auch die soziale Situierung der Geschichte ins Ungefähre abgleitet. Durch den Ausschluss der Rede über Gott in Bubers Erzählungen, der ihrer Verwandlung in ein autonomes Kunstmärchen zugrunde liegt, wird zudem ihr esoterischer Hintergrund verdeckt. Nachman bildet in »Vom Meister des Gebets« in dem ungeheuren Sturm, der die ursprüngliche Weltordnung stört, das Zerbrechen der Gefäße ab, durch das nach der Lehre der lurianischen Kabbala das Böse in die Welt gekommen ist. Diese kosmische Katastrophe, bei der sich die Funken des göttlichen Lichts in die Welt ergießen, dabei aber zugleich von den Kelipoth, den Schalen des Bösen, verdunkelt werden, ist auch der Hintergrund für die Ambiguität, die den zehn Reichen der Menschen in Nachmans Erzählung anhaftet. Am Ende aber, wenn der Meister des Gebets alle in der Welt verstreuten Kräfte wieder zusammenführt, ereignet sich das Tikkun, die messianische Heilung der Welt. 51 Dabei stehen die zehn Figuren, die durch die Welt irren, der Mann des Gebets und der mächtige Krieger, der Schatzmeister und der Weise, der Sänger und der gute Freund, die Königs49. Brocke (Übers.), Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw, S. 163. 50. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, S. 103; jetzt in diesem Band, S. 120. 51. Vgl. hierzu Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, S. 291 ff.

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tochter und deren Sohn, die Königin und der König, als allegorische Gestalten für die zehn Sefirot ein, in denen sich der Eine Gott nach kabbalistischer Auffassung manifestiert. Beispielsweise fügt Nachman dem »König« als feststehendes Attribut stets die »Krone« bei, 52 wodurch er ihn als Verkörperung der ersten Sefira, Keter, der höchsten Krone der Gottheit, kennzeichnet. 53 Zugleich ist jede der zehn Figuren auf eines der zehn Gebote ausgerichtet. Auf diese mystischen Hintergründe weisen die Bratzlawer Kommentare in aller Ausführlichkeit hin. Diese symbolische Tiefe im Religiösen, die Nachmans Schüler wahrgenommen haben und in ihren Kommentaren bis heute weitertradieren, 54 fällt in Bubers Neuschreibung aus. Bei ihm gestaltet sich die Erzählung tatsächlich zu dem, was er fälschlich schon Nachman zuschreibt: Sie »wuchs über den Zweck hinaus und trieb ihr Blütengeranke, bis sie keine Lehre mehr war, sondern ein Märchen oder eine Legende«. 55 Mit ihrem preziösen Sprachgestus reiht sie sich in die damals in ganz Europa verbreitete Mode des neuromantischen Kunstmärchens ein, deren bedeutendste Vertreter, Oscar Wildes (1854-1900) A House of Pomegranates und Hugo von Hofmannsthals Das Märchen der 672. Nacht, kurz zuvor erschienen waren. 56 Andererseits steht Bubers Verfahren immer noch in der Kontinuität dessen, was im traditionellen Judentum »mündliche Lehre« heißt. Der kanonische Text vom Auszug aus Ägypten, der vom Propheten Jesaja paraphrasiert wird, ist bei Nachman durch Elemente der kabbalistischen Mystik angereichert und so zu einer religiösen Kosmologie und einem ethischen Appell erweitert worden. Buber als der letzte in dieser Traditionskette macht daraus einen literarischen Text, der sich an den einsamen Leser wendet. In ihm sind die apokalyptischen und messianischen Elemente nur noch in einzelnen Formulierungen – er spricht vom »Tag der Erneuerung« und der »Wiederbringung alles Verlorenen« – gegenwärtig, 57 während der Haupt52. Brocke (Übers.), Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw, S. 199: »Später waren sie auf einen Greis gestoßen, der in einem Felde saß und mit einer Krone angetan war. Er gefiel ihnen sehr – hochgeehrt saß er in einem Feld, die Krone auf dem Haupt!« 53. Vgl. zur »theosophischen Lehre des Sohar«, in der zum ersten Mal das Motiv der zehn Sefirot exponiert wird, Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 232 ff. 54. Kaplan (transl.), Rabbi Nachman’s Stories, S. 278 ff. 55. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, S. 41; jetzt in diesem Band, S. 86. 56. Oscar Wildes Sammlung erschien 1891, die deutsche Übersetzung mit dem Titel Das Granatapfelhaus 1904; Hofmannsthals Märchen 1895 in der Zeitschrift Die Zeit, 1905 als Buch. 57. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, S. 121 u. 126; jetzt in diesem Band, S. 131 u. 134.

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akzent auf die Abkehr von der Vergottung des Geldes und den Aufruf zur Selbstfindung jedes einzelnen gesetzt ist. IV. Bubers erstes »chassidisches Buch« ist bei den Zeitgenossen auf ein außerordentlich positives Echo gestoßen. 58 Bekannte Autoren wie Hugo von Hofmannsthal oder Alfred Mombert (1872-1942) teilten Buber in Briefen ihre enthusiastische Zustimmung mit. 59 Der Philosoph Georg Simmel (1858-1918) soll nach der Lektüre des Buches dem Autor gegenüber geäußert haben: »Wir sind doch ein sehr merkwürdiges Volk.« 60 Nach den im Martin Buber Archiv in Jerusalem aufbewahrten Presseausschnitten zu urteilen, waren Die Geschichten des Rabbi Nachman Bubers bei den Zeitgenossen erfolgreichstes Buch. Das Presse-Echo – auch in nicht-jüdischen Publikationen und Regionalzeitungen – war breit gestreut und durchgehend positiv. 61 Schon Anfang Januar 1907 erscheint eine erste gewichtige Rezension des erst drei Monate zuvor erschienenen Buchs im Literaturblatt der Jüdischen Rundschau, verfasst von dem Berliner Zionisten Heinrich Loewe (1869-1951), dem Leiter der Orientalia-Abteilung der Berliner Univer58. Buber hat später seine Publikationen zum Chassidismus in teilweise überarbeiteter Form unter dem Titel Die chassidischen Bücher, Hellerau 1928, zusammengefasst. Das Werk wurde 1931 als eine der ersten Publikationen in den neugegründeten Schocken Verlag übernommen. 59. Hugo von Hofmannsthal an Martin Buber, am 20. Juni 1906: »Die Einleitung hat mir großen Eindruck gemacht […].« (B I, S. 243). Alfred Mombert an Martin Buber, am 7. Dezember 1907: »Noch großen Dank für Ihre herrlichen Nachman-Geschichten!« (Ebd., S. 260.) 60. Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1997, S. 72 f.: »Buber erzählte mir viel später, in den vielen Jahren, in denen er mit Simmel umging, habe er nur ein einziges Mal zu seiner nicht geringen Überraschung das Wort ›wir‹ in jüdischem Zusammenhang aus seinem Mund gehört. Das war als Simmel nach der Lektüre von Bubers erstem chassidischem Buch, den ›Erzählungen des Rabbi Nachman‹, langsam und nachdenklich sagte: ›Wir sind doch ein sehr merkwürdiges Volk.‹« 61. Die zeitgenössischen Rezensionen gesammelt im MBA Arc. Ms. Var. 350 13 49: Rezensionen in Preußische Jahrbücher (Berlin) von Marie Fuhrmann, National-Zeitung (Berlin) von Max Hochdorf, Tägliche Rundschau (Berlin) von Frieda von Bülow, Der Tag (Berlin) von Julius Hart, Vossische Zeitung (Berlin), Im Deutschen Reich (Berlin), Volks-Zeitung (Berlin), Hamburgischer Korrespondent, Kölnische Zeitung, Schlesische Zeitung (Breslau), Die Zeit (Wien), Der Kunstwart (München) von Wilhelm von Scholz, Das literarische Echo (Berlin), Jüdische Presse (Berlin) von Moses Calvary, General-Anzeiger für die gesamten Interessen des Judentums von Josef Meisel, Zeitung des Judentums von Wilhelm Goldbaum; alle im Jahr 1907.

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sitätsbibliothek und Chefredakteur der »jüdischen Rundschau«. 62 Ausgehend von einer Einführung in die Welt der jüdischen Mystik und ihres »Meisters Rabbi Israel« anhand einer Geschichte, die er von »einer polnischen Jüdin« gehört haben will, erkennt Loewe Buber »als Historiker der jüdischen Mystik« an und bringt dabei die Erwartung zum Ausdruck, Buber möge »eine grosse Geschichte der jüdischen Mystik in Angriff nehmen«. 63 Den Erzählungen selbst steht er als rationalistischer Zionist allerdings skeptisch gegenüber, wobei er seiner Vermutung Ausdruck verleiht, sie seien vor allem der dichterischen Phantasie Bubers entsprungen: »Wir bleiben am Boden, während das Flügelross der Sonne entgegenbraust und uns zurücklässt.« 64 Ähnlich skeptisch äußert sich Ludwig Geiger (1848-1919), der als Vertreter eines liberalen Judentums und als Goethe-Philologe der Welt des Chassidismus ablehnend gegenüber steht: »Die Geschichten sind ausgezeichnet erzählt, und es ist ein Verdienst des Herausgebers, der westeuropäischen Kultur diese Novellen erschlossen zu haben. Aber sie führen uns in eine Kulturschicht, die uns nicht als Licht, sondern als tiefe Finsternis erscheint.« Dennoch hält er das Buch, weil es »etwas ganz Neues bringt«, für empfehlenswert. 65 Andere prominente jüdische Intellektuelle, die selber einen osteuropäischen kulturellen Hintergrund haben, äußerten sich merklich enthusiastischer, unter anderen der Publizist Nathan Birnbaum (1864-1939), der unter seinem Pseudonym Mathias Acher im Oktober 1907 im Feuilleton der Jüdischen Zeitung einen ausführlichen Aufsatz über Bubers Buch veröffentlicht. 66 Birnbaum begegnet dem Text zunächst ebenfalls durchaus mit Skepsis, fragt sich angesichts seiner Unkenntnis der Nachmanschen Originale und von »zu viel verfeinerte[r] Schönheit« der Erzählungen Bubers, ob der vorgebliche »Nacherzähler« nicht »unversehens ein Anderserzähler, ein Mehrerzähler geworden ist?« Dann aber arbeitet er anhand einer Analyse der »Geschichte vom Gelde« den »allegorischen Zug« der Geschichten und das in ihnen zum Ausdruck kom62. Zu Heinrich Loewe, der maßgeblich an der Ausarbeitung eines Konzepts einer jüdischen Nationalbibliothek in Jerusalem beteiligt war, 1933 nach Palästina emigrierte und dort die Leitung der Stadtbibliothek in Tel Aviv übernahm, vgl. Markus Kirchhoff, Häuser des Buches. Bilder jüdischer Bibliotheken, Leipzig 2002, S. 68-71. 63. Heinrich Loewe, Geschichten des Rabbi Nachman [Rez.], Literaturblatt der Jüdischen Rundschau, Jg. III, Nr. 1 vom 11. Januar 1907, S. 2. 64. Ebd., S. 3. 65. Ludwig Geiger, Jüdische Erzählungsliteratur, Allgemeine Zeitung des Judentums, 15. Februar 1907, S. 80. 66. Mathias Acher [d. i. Nathan Birnbaum], Die Geschichten des Rabbi Nachman [Rez.], Jüdische Zeitung 1. Jg. Nr. 15., 25. Oktober 1907. Wieder abgedruckt in Nathan Birnbaum, Ausgewählte Schriften zur jüdischen Frage, Bd. II. Czernowitz 1910, S. 301-306.

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mende »Pathos« als Wesensmerkmale der »chassidischen Geistesrevolution« heraus, die für die Welt der »Ostjuden« – ein Begriff den Birnbaum geprägt hat – charakteristisch seien. Für ihn bewirken die Erzählungen eine »Durchdringung des ganzen Volkes mit chassidischer Ekstase«, wobei offen bleibt, ob bei dieser für ihn das höchste Lob repräsentierenden Zuschreibung die Erzählungen Bubers oder die ihnen zugrunde liegenden Nachmans gemeint sind. Leon Kellner (1859-1928), der als einer der engsten Mitarbeiter Theodor Herzls Bubers Bemühungen um kulturzionistische Organisationsformen ablehnend gegenübergestanden hatte, 67 veröffentlichte 1907 in der Zeitschrift Ost und West unter dem Titel »Der chassidische Ossian« die bei weitem enthusiastischste Besprechung. Er bekennt, dass er als Leser des Buches »im tiefsten Innern erschüttert« ist. Aus der Einleitung zitiert er »Aussprüche«, die er »in jungen Jahren von [s]einer chassidischen Umgebung gehört« hat und bestätigt damit die Authentizität des Zitierten. Zugleich aber erscheint ihm die chassidische Tradition in Bubers Version in neuem Licht und erinnert ihn an die europäischen Traditionen eines »Böhme, Swedenborg, Blake, Novalis, Emerson«. Von den Erzählungen bekennt er, das vor ihrer »seelischen Schönheit« alle Märchen des Orients verblassen: »Ein neuer Märchenhort tut sich vor uns auf, nicht für Kinder an Jahren, sondern für Männer, die im Alter noch nicht die Sehnsucht nach der Traumwelt der ersten Lebensjahre verloren haben.« 68 Ähnlich Moritz Heimann (1868-1925), der Lektor des Fischer Verlags, der in seiner Rezension zunächst »das knappe, einleitende Kapitel über die jüdische Mystik« als »ein Musterstück an Prägnanz und Führung« hervorhebt, um dann im Durchgang durch die sechs Erzählungen deren poetischen Charakter zu betonen. Mit ihnen sei ein Anfang gemacht, »über Juden und jüdisches Wesen anders als aus Gründen und zum Zweck des Kampfes zu sprechen«. 69 Spätere autobiographische Äußerungen lassen erkennen, dass Buber mit seinem Buch eine ganze Generation von jungen Juden tief beeindruckt und ihre aktive Hinwendung zum Judentum mitbestimmt hat. Als Beispiele seien nur zwei Zeugnisse zitiert, in denen bedeutende Ver67. Martin Buber an Chaim Weizmann, 23. Januar 1903: »über die Comité-Sache kann ich Dir nur nochmals soviel mitteilen, daß […] Prof. Kellner plötzlich abgesagt« hat (B I, S. 185). Zu Person und Werk Leon Kellners vgl. Bernd Witte, Statt eines Vorworts: der Zionist Leon Kellner, in: Sascha Kirchner u. a. (Hrsg.), Walter Benjamin und das Wiener Judentum zwischen 1900 und 1938, Würzburg 2009, S. 9-14. 68. Leon Kellner, Der chassidische Ossian, Ost und West, 7. Jg., 1907, Heft 2, Sp. 111114. 69. Moritz Heimann, Prosaische Schriften, Berlin 1918, Bd. 2, S. 280-286.

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treter des Zionismus ihre Sensibilisierung für die Sache des jüdischen Volkes auf die Lektüre von Bubers Buch zurückführen. Salman Schocken (1877-1959), der Warenhausbesitzer und spätere Verleger und Mäzen, hat als junger Mann unter Berufung auf die Geschichten des Rabbi Nachman den Kontakt zu Buber aufgenommen, woraus sich später, insbesondere nach 1933, ihre äußerst fruchtbare Zusammenarbeit im Schocken Verlag ergeben hat. Mit Datum vom 4. Februar 1914 übersendet er ihm seine zu Chanukka 1913 in der Zionistischen Ortsgruppe Chemnitz gehaltene »Makkabäer-Rede« und schreibt dazu: »Durch ihr Rabbi Nachman-Buch bin ich vor Jahren stark beeinflußt worden. Seitdem habe ich in Verehrung Ihr Schaffen verfolgt. Seitdem bin ich wieder zum lebenden Juden geworden.« 70 Von einem ähnlich tiefgreifenden Einfluss auf die junge Generation berichtet Viktor Kellner (1887-1970), einer der Mitbegründer des Prager zionistischen Studentenvereins Bar Kochba, später Lehrer am Hebräischen Gymnasium in Jaffa und Direktor am Wiener Chajes-Realgymnasium: »Er hat uns zum lebenden Judentum geführt. […] die Einsichten, die er uns vermittelt hat – ich denke da zuallererst an die wunderbare Einleitung zum Rabbi Nachman, die Bubers spätere jüdische Wesensschau in kristallklarer Form antizipiert – haben unser jüdisches Wesen und Bewusstsein entscheidend beeinflußt.« 71 Als ein letztes spätes Zeugnis der Wertschätzung mag hier Paul Celan (1920-1970) zitiert werden, der das Buch am 5. November 1957 seiner Dichter-Freundin Ingeborg Bachmann (1926-1973) als Geschenk sendet mit der Bemerkung: »Die Geschichten des Rabbi Nachman kenne ich gar nicht, aber es war ein wirkliches Buch, es mußte Dir gehören, und außerdem liebe ich Buber.« 72 V. Im Juli 1906 – der Rabbi Nachman ist noch nicht im Druck erschienen – arbeitet Buber, der sich mit seiner Frau Paula und den Kindern in Hall in Tirol aufhält, bereits »an dessen zweitem Bande, der ›Die Legende der Chassidim‹ betitelt ist,« und bittet den ostjüdischen Spezialisten für 70. In: Mitteilungsblatt, hrsg. vom Irgun Olej Merkas Europa, Jg. 31. Nr. 6 vom 8. Februar 1963, S. 9. 71. Ebd. 72. Bertrand Badiou u. a. (Hrsg.), Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel, Frankfurt a. M. 2008, S. 67. Celan hatte Buber schon 1954 seinen ersten Gedichtband, Mohn und Gedächtnis, zukommen lasen. Am 14. September 1960 kam es zu einer persönlichen Begegnung zwischen den beiden.

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die Geschichte der jüdischen Mystik, Samuel Horodezky (1871-1959), 73 um Hinweise auf weiteres Material zu den »Sitten und Gebräuchen« der Chassidim. 74 Im selben Brief grenzt er seine eigene Arbeit von aller historischen Gelehrsamkeit ab und formuliert zum ersten Mal ausdrücklich seine künstlerische Wirkintention. Es gehe ihm darum, »eine neue synthetische Darstellung der jüdischen Mystik zu geben, sowie diese Schöpfungen selbst dem europäischen Publikum in einer künstlerisch möglichst reinen Form bekannt zu machen«. 75 Gegen Ende desselben Jahres betont Buber in einem Brief an seine Frau Paula die Absicht, »die Legenden recht schnell fertig zu machen«, und nennt als Termin für die Absendung des Manuskripts an den Verlag »spätestens« den 10. Dezember 1906. Im gleichen Brief kündigt er an, er werde ihr in einigen Tagen mehrere Geschichten schicken, »deren Motive […] recht roh sind und unbedingt veredelt werden müssen«. 76 Schon daraus geht hervor, dass »ein Teil der Legenden nicht von Buber, sondern von seiner Frau aus dem Rohmaterial nachgedichtet wurde«. 77 Der handschriftliche Befund im Martin Buber Archiv stützt diese Aussage: Von den einundzwanzig im Buch gedruckten Legenden liegen für sechzehn Geschichten Manuskripte vor, 78 von denen sechs in der Handschrift Bubers mit kleineren Sofortkorrekturen von seiner Hand ausgeführt sind und vier weitere allein die Handschrift Paula Bubers tragen 79 Zudem gibt es vier Manuskripttexte Paulas mit handschriftlichen Korrekturen von Martin Buber, 80 und zwei, die teilweise in seiner 73. Samuel Horodezky hatte Buber an die Adresse von Salomon Buber (1827-1906) in Lemberg die von ihm redigierte Zeitschrift Hagoren (»Die Tenne«) zukommen lassen. (Vgl. B I, S. 242). Er hat später das Buch Religiöse Strömungen im Judentum, mit besonderer Berücksichtigung des Chassidismus (Bern 1920) veröffentlicht, das Buber dem Autor gegenüber als »ein[en] gehaltvolle[n] und wertvolle[n] Beitrag zur Erkenntnis des ›anderen‹, des verborgenen Judentums« lobt. (Brief vom 27. Januar 1920, in: B II, S. 65.) 74. An Samuel Horodezky, 20. Juli 1906. (B I, S. 245.) 75. Ebd., S. 244. 76. Brief vom 1. Dezember 1906, in: B I, S. 249. 77. Schaeder, Martin Buber. Ein biographischer Abriß, in: B I, S. 38. 78. MBA Arc. Ms. Var. 350 04 16. 79. In Martin Bubers Handschrift: »Die Offenbarung« (Die Legende des Baalschem, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1908, S. 64-77), »Die Himmelwanderung« (ebd., S. 85-87), »Das Gebetbuch« (ebd., S. 102-108), »Der Widersacher« (ebd., S. 175189), »Die Predigt des neuen Jahres« (ebd., S. 190-197), »Von Heer zu Heer« (ebd., S. 211-219). In Paula Bubers Handschrift: »Saul und David« (ebd., S. 94-101), »Die vergessene Geschichte« (ebd., S. 119-138), »Der Psalmensager« (ebd., S. 153-161), »Die Vogelsprache« (ebd., S. 227-239). 80. In Paula Bubers Handschrift mit Korrekturen Martin Bubers: »Der Fürst des Feuers« (ebd., S. 54-63), »Das Gericht« (ebd., S. 109-118), »Die niedergestiegene Seele« (ebd., S. 139-152), »Das Rufen« (ebd., S. 240-246).

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und teilweise in ihrer Handschrift vorhanden sind. 81 Aus diesem Befund lässt sich allerdings nicht eindeutig erschließen, welche künstlerische Umformung der von Martin Buber aus dem chassidischen Material übersetzten Geschichten ihm und welche Paula zu verdanken ist. Allerdings lässt sich an der letzten Geschichte »Der Hirt«, deren Schlussteil in der Handschrift Paulas vorliegt und die in der Druckfassung deutlich schlichter sich darbietet als im Manuskript, vielleicht die Tendenz ablesen, mit der Buber die von seiner Frau geformten Geschichten überarbeitet hat. In dem Abschnitt in dem der Baalschem ins Gebirge zieht, um Mosche, den Hirten, zu suchen, wird seine Wanderung folgendermaßen beschrieben: »Er achtete der Tiere nicht, die aus dem Walde traten mit traulichem Geäuge, da sie seinen Schritt vernahmen, und antwortete dem Zweige nicht, der seinen Arm liebkoste. Ganz in sich gezogen ging er durch den Stolz der Gelände hin. Seine Füsse verspürten den Weg nicht und trugen ihn wie in einem steten Anbeginn.« 82 Dieselben Zeilen lauten in Paulas Handschrift: »Und er achtete des Gevögels und Getieres nicht, das aus dem Walde trat mit traulichem Geäuge, da es seinen Schritt vernahm, und er liebkoste mit nichten den vollen Zweig, der ihm den Arm zärtlich streichelte. Ganz in sich zurückgezogen, einem bange Träumenden gleich ging er durch die schwere, sommerüppige, stolze Pracht der Gelände hin. Seine alten Füße spürten keine Müdigkeiten und trugen ihn unentwegt.« 83 Zweifaches fällt an dem Vergleich der beiden Textfassungen auf: Paulas Umformung der einfachen chassidischen Legende ist – insbesondere durch den Gebrauch zahlreicher Adjektive, aber auch durch die Verdoppelung mancher Substantive – weitaus ›poetischer‹ als die Druckfassung, die sich andererseits – so im letzten Satz – gegenüber dem alltäglichen Sprachgebrauch als innovativer erweist. Der zweite Band von Bubers chassidischen Erzählungen, dessen Einführung »Ravenna Im Herbst 1907« unterschrieben und dessen Erstausgabe das Publikationsdatum »20. Februar 1908« trägt, steht als »Mythos« ganz in der Nachfolge und im Geiste Nietzsches. 1900, im Todesjahr Nietzsches, in dem Stefan George den Verstorbenen als künftigen Heiland der Welt apostrophiert, 84 veröffentlicht Buber in einer Berliner Stu81. Teilweise in Martin und teilweise in Paula Bubers Handschrift: »Jerusalem« (ebd., S. 88-93), »Der Hirt« (ebd., S. 247-257). 82. Buber, Die Legende des Baalschem, S. 252; jetzt in diesem Band, S. 321. 83. MBA Arc. Ms. Var 350 04 16. 84. Stefan George, Nietzsche [Gedicht], in: Der Siebente Ring, in: Gesamtausgabe VI/ VII, Berlin 1931. S. 13: »Erlöser du! Selbst der unseligste –«. Vgl. auch Ernst Bertram, der in seinem Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918, den Philoso-

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dentenzeitschrift seinen ersten deutschsprachigen Essay unter dem Titel »Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte«. 85 Nietzsche wird darin zum »Seher« stilisiert, der in der geschäftigen und wirren Gegenwart den Menschen den Weg zu weisen vermag, indem er aus jedem einzelnen »die verborgensten Schätze seiner Individualität« herauslockt. Noch ganz ohne jüdische Spezifika schreibt er dabei dem Philosophen das Verdienst zu, im Niedergang der modernen Kultur »die Bildsäule des heroischen Menschen, der sich selber schafft«, errichtet zu haben. 86 Der »Übermensch« als Aufgabe und mythisches Vorbild, das ist das Erbe, das Buber mit der Nietzsche-Begeisterung der Jahrhundertwende teilt und das er an den deutschsprachigen Kulturzionismus seiner Zeit weitergibt. 87 Nietzsches »Wiedergeburt des deutschen Mythus« 88 will Buber im Baalschem einen eigenständigen jüdischen Volksmythos an die Seite stellen. In der Person des »Bescht«, des Begründers des Chassidismus, glaubt er die Figur gefunden zu haben, die als heroisches Individuum vollkommener Ausdruck des jüdischen Volksgeistes ist. »Ich baue sein Leben aus seiner Legende auf, in der der Traum und die Sehnsucht eines Volkes sind.« 89 Wie allen restituierenden, rückwärtsgewandten Mythologemen haftet auch Bubers Erzählung der Taten und Leiden des Baalschem etwas Gewaltsames und zugleich Gespenstisches an. Totes wird in ihr zu scheinbarem Leben erweckt. In »drei Kreisen der Weihung« 90 versammelt sie alle Elemente einer mittelalterlichen Heiligenlegende: Krankenheilungen, Totenerweckungen und Lichterscheinungen, Rückzug in die Einsamkeit und Begegnung mit Engeln und Propheten und schließlich die Verklärung des Wundermanns. Wie schon das altertümliche Wort »Weihung«, das über dem allen steht, erkennen lässt, muss diese Erhebung des Zaddik in den Rang einer mythischen Figur zweideutig bleiben. Als Verkünder einer individuellen »Religiosität« stellt sich Buber be-

85. 86. 87. 88. 89. 90.

phen selbst zu einer mythischen Gestalt macht und in seinem einleitenden Kapitel zur Legende konstatiert: »Die Legende in solchem entkirchlichten Sinne ist die lebendigste Form geschichtlicher Überlieferung.« (S. 1.) Martin Buber, Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte, Die Kunst im Leben. Organ der Kunstwissenschaftlichen Abteilung der Berliner Finkenschaft, 1. Jg., Heft 2, Dez. 1900, S. 13; jetzt in: MBW 1, S. 149-151. MBW 1, S. 150. Vgl. Paul Mendes-Flohr, Zarathustra’s Apostle. Martin Buber and the Jewish Renaissance, in: Jacob Golomb (Hrsg.), Nietzsche and Jewish Culture, London u. New York 1997, S. 233-243. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, III. Abt., Bd. 1, S. 143. Buber, Die Legende des Baalschem, S. I; jetzt in diesem Band, S. 170. Ebd., S. VII; jetzt in diesem Band, S. 173.

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wusst in die Nachfolge der ostjüdischen Mystiker – »ich sage noch einmal die alte Geschichte« 91 – und gegen die Religion des Gesetzes, gegen Thora und Talmud. Damit vollzieht er einen radikalen Bruch mit der deutsch-jüdischen Tradition des neunzehnten Jahrhunderts, die das Judentum als Anerkennung der Einheit Gottes und der Menschheit und als Negation der Vielheit der Natur, der mythischen Götterfülle verstanden hatte. Die Reinheit des Monotheismus, die Hermann Cohen (1842– 1918) noch 1918 in seinem Buch Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums als das Auszeichnende der jüdischen Tradition herausstellt, wird so bewusst beiseite geschoben. Für Buber ist diese seit Mendelssohn im deutschen Judentum vorherrschende Lehre, wie er in einem späteren Aufsatz schreibt, nichts anderes als »ein elender Homunkulus«, eine Ausgeburt »des Rabbinismus«. 92 An ihre Stelle setzt er die chassidischen Legenden, die für ihn »Ausdruck der Daseinsfülle« der Juden sind. Pointiert weist er damit dem Judentum den Stellenwert zu, den im kulturellen Bewusstsein des Westens Griechenland als Ursprungsort mythischen Erzählens einnimmt. Ja, die Juden sind nach Buber die besseren Griechen, sind sie doch »vielleicht das einzige Volk, das nie aufgehört hat, Mythos zu erzeugen«. 93 Bubers Selbstdarstellung gipfelt in dem Satz: »Meine Erzählung steht auf der Erde des jüdischen Mythos, und der Himmel des jüdischen Mythos ist über ihr.« 94 Kants berühmter Satz von den zwei Dingen, die ihn mit »Bewunderung und Ehrfurcht« erfüllen: »der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir«, 95 klingt hier an. Der maßlose Anspruch, der in Bubers Formulierung steckt, gründet auf einem doppeltem Irrtum: Er überspielt die historische Distanz, die den in Florenz lebenden Jugendstilliteraten von dem durch die Gemeinde des polnischen Städtchens Miedzybórz »alimentierten ›Kabbalisten‹« und Wundermann trennt. 96 Zudem wendet er sich an ein deutschsprachiges 91. Ebd., S. I; jetzt in diesem Band, S. 170. 92. Martin Buber, Der Mythos der Juden, in: Vom Judentum. Ein Sammelbuch, hrsg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1913, S. 21-31, hier S. 25; jetzt in: MBW 2.1, S. 171-179, hier S. 174. 93. Buber, Die Legende des Baalschem, S. II; jetzt in diesem Band, S. 171. 94. Ebd. 95. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 6, Darmstadt 1956, S. 300. 96. Vgl. Karl E. Grözinger, Der Ba’al Schem Tov – Legende oder Wirklichkeit, in: Karl E. Grözinger u. a. (Hrsg.), Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht, Teil I, Wiesbaden 1997, S. XII. Die historischen Lebensumstände des Israel Ben Elieser sind in den letzten Jahren auf Grund der überlieferten Dokumente genauer erforscht worden von Moshe Rosman, Founder of Hasidism. A Quest for the Historical Ba’al Shem Tov, Berkeley 1996 und Immanuel Etkes, The Besht. Magician,

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Publikum, dem die ostjüdische Volksfrömmigkeit alles andere als ein allgemein präsenter Inhalt des kulturellen Gedächtnisses ist, das daher die Erzählungen aus dem chassidischen Milieu auch nur als exotische Kunstliteratur goutieren kann. Doch nirgendwo sonst kommt die ketzerische Haltung Bubers so deutlich zum Ausdruck wie in seinem von pathetischem Sendungsbewusstsein getragenen Manifest, das Die Legende des Baalschem eröffnet. In ihm schlägt er unterschiedslos die Propheten, die Essäer, den »grossen Nazarener«, die als »Volkssage« gedeutete Aggada und die Kabbala der neuen Religion zu. Ihre letzte Gestalt habe sie im Chassidismus gefunden, der den Sieg des »unterirdischen Judentums« verkörpere und als dessen Erneuerer Buber schließlich sich selbst sieht. 97 VI. Martina Urban, die sich in Aesthetics of Renewal ausführlich mit der Legende des Baalschem auseinandergesetzt hat, 98 weist sie der Gattung der »jüdischen Anthologie« zu, wie sie gleichzeitig in den Werken Shmuel Joseph Agnons (1888-1970) oder Samuel Horodezkys zu finden sei. Von Buber sei sie in den Dienst einer »ästhetischen Erziehung«, 99 einer »Ästhetik der jüdischen Erneuerung« gestellt worden. 100 Sie sei somit »eine nicht-traditionale Art der religiösen Anthologie« 101 und stehe als solche in engstem Zusammenhang mit der deutschen Neoromantik und Lebensphilosophie der Zeit. 102 Mit der Verschmelzung von »Kritik an der Moderne, ästhetischen Theorien und der Erschaffung einer unverwechselbaren jüdischen Moderne« habe Buber ein ganz eigenständiges literarisches Genre geschaffen. 103 In der Tat, Bubers Buch ist im eigentlichen Wortsinn ein Kunstwerk der Moderne. Die ihm zugrunde liegende Auffassung des Religiösen widerspricht der traditionellen Bestimmung der Religion im Judentum diametral, wenn Buber schon in der »Einführung« seines Buches behauptet:

97. 98. 99. 100. 101. 102. 103.

Mystic, and Leader, Waltham 2005. Keine dieser historischen Analysen geht auf Bubers »Legende« ein. Buber, Die Legende des Baalschem, S. IVf.; jetzt in diesem Band, S. 172. Martina Urban, Aesthetics of Renewal. Martin Buber’s Early Representation of Hasidism as Kulturkritik, Chicago 2008. Ebd., S. 8. (Übersetzung, wie in den folgenden Zitaten, B. W.) Ebd., S. 15. Ebd., S. 23. Ebd., S. 38. Ebd., S. 4.

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»Die persönliche, ungemeinsame und unzugängliche Religiosität der Einzelseele hat ihre Geburt im Mythos, ihren Tod in der Religion.« 104 Gegenüber dieser Individualisierung des Religiösen durch den modernen Autor bleibt festzuhalten, dass die Religion des Judentums als Bund JHWHs mit seinem Volk begründet worden ist. Nur so, in dieser Einbindung ins »goij kaddosh«, ins »geheiligte Volk«, 105 vermag der Einzelne sich seinem Gott zu nähern. Hingegen ist Bubers Begriff von Religiosität in seinem Rückgang auf die Seele des isolierten Individuums ein durchaus christlich moderner. Nicht von ungefähr war er 1904 mit einer Arbeit Zur Geschichte des Individuationsproblems bei Nicolaus von Cues und Jakob Böhme promoviert worden, 106 und so kann er dann auch in der Legende des Baalschem »den großen Nazarener […] und seine Legende« als »den grössten aller Triumphe des Mythos« feiern. 107 Mit der Gattungsbezeichnung »Legende« erhebt Buber für sein Buch den Anspruch, ein in sich geschlossenes Werk geschaffen zu haben. Damit scheint dessen Definition als »Anthologie«, wie Urban sie vornimmt, von vornherein ausgeschlossen. Stattdessen weist Buber schon mit dem Titel Die Legende des Baalschem auf die traditionelle Gattung der Heiligenlegende hin, als deren Beispiele er die »Buddhalegende« und die »Franziskuslegende« anführt. 108 Wie entsteht nach Buber eine Legende? Sie entspringt dem Mythos, hat also das Volk als ihren anonymen Schöpfer, als dessen Sprachrohr sich der Autor Buber versteht. In diesem Zusammenwirken tritt das spezifisch Moderne der von ihm entworfenen Legende zu Tage: »Ich habe sie aus den Volksbüchern, aus Heften und Flugblättern empfangen, zuweilen auch aus lebendigem Munde, aus dem Munde von Leuten, die noch das Stammeln gehört hatten. Ich habe sie empfangen und neu erzählt […] ich habe sie neu erzählt als ein Nachgeborener […] ich sage noch einmal die alte Geschichte«. 109 In vierfacher Wiederholung werden hier die beiden Pole hervorgehoben, die das Werk konstituieren: einerseits das Volk als Schöpfer des Mythos, der die Grundlage der Legende ist, vor allem aber der moderne Erzähler, der den Mythos neu schafft, ihm seine der Gegenwart angemessene Form gibt. Zu Recht kann Buber daher im Rückblick behaupten, »der weitaus größte Teil des Buches« sei »eigengesetz-

104. 105. 106. 107. 108. 109.

Buber, Die Legende des Baalschem, S. III; jetzt in diesem Band, S. 171. Ex 19,6. Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350, Alef 2); jetzt in: MBW 2.1, S. 75-101. Buber, Die Legende des Baalschem, S. IV; jetzt in diesem Band, S. 171. Ebd., S. II; jetzt in diesem Band, S. 170. Ebd. (Hervorhebung B. W.).

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liche Dichtung aus überlieferten Motiven«. 110 Buber stilisiert sich damit in einer Weise, die ihn den Brüdern Grimm, den Schöpfern der Volksmärchen, ähnlich erscheinen lässt, die ihren Stoff den Mündern der ältesten Mütterchen abgelauscht hatten. Wenn man – wie Martina Urban das tut – nachweist, dass alle Motive der Erzählungen Bubers auf schriftlichen Quellen, vornehmlich auf dem Schivche Ha-Bescht, beruhen, 111 ist Bubers Ursprungsgeschichte durchaus differenziert zu sehen. Die Subjektivität von Bubers Erzählungen manifestiert sich insbesondere darin, dass er die Legende neu definiert als den »Mythos der Berufung«. 112 Sie beschreibe eine Begegnung, die sich zwischen Gott und dem auserwählten Menschen ereigne: »Der Gott der Legende beruft den Menschensohn: den Propheten, den Heiligen.« 113 Nicht von ungefähr wird hier mit dem Wort vom »Menschensohn« an Jesus als den Archetyp des von Gott berufenen Menschen erinnert. Darin scheint Bubers Tendenz zur Christianisierung des Erzählten durch, die sich – wie noch zu demonstrieren sein wird – auch im Text der Legende selbst nachweisen lässt. Am Ende seiner »Einführung« findet Buber schließlich zu einer Formulierung, die auf den Kern seiner eigenen Philosophie vorverweist. Er nennt die Legende den »Mythos des Ich und Du, des Berufenen und des Berufenden, des Endlichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, das des Endlichen bedarf«. 114 Damit spricht er hier zum ersten Mal aus, was einen der Grundgedanken seines philosophischen Hauptwerks Ich und Du (1923) ausmachen wird: die Begegnung zwischen dem Menschen und seinem Gott als einer zwischen gleichberechtigten und aufeinander angewiesenen Partnern. 115 In allen Erzählungen Bubers über das Leben des Baalschem steht diese ursprüngliche Beziehung im Mittelpunkt und macht so den eigentlichen Inhalt dessen aus, was Buber im Gegensatz zum orthodoxen Judentum unter »Religiosität« versteht und was er dem Leser als seine Lehre vermitteln will. Dies aber – wie in den Erzählungen des Rabbi Nachman – in der Form »eigengesetzlicher Dichtung«. Dass diese Charakterisierung zutreffend ist, lässt sich auch im Detail belegen, wenn man Bubers Legenden mit 110. 111. 112. 113. 114. 115.

Buber, Mein Weg zum Chassidismus, S. 22; jetzt in: MBW 17, S. 49. Urban, Aesthetics of Renewal, S. 168. Buber, Die Legende des Baalschem, S. VI; jetzt in diesem Band, S. 173. Ebd. Ebd., S. VIf. Jetzt in diesem Band, S. 173. Jetzt in: MBW 4. Auf diesen Zusammenhang weist mit Bezug auf Maurice Friedman schon Katja Pourshirazi, Martin Bubers literarisches Werk zum Chassidismus. Eine textlinguistische Analyse, Frankfurt a. M. 2008, S. 159 f. hin.

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den Quellen vergleicht, auf die sie zurückgehen. Schon in der ersten Erzählung des ersten Kreises mit dem befremdlichen Titel »Der Werwolf« fallen im Vergleich mit den Vorlagen aus dem Schivsche ha-Bescht die zahlreichen rhetorischen Mittel auf, durch die Buber den Text zu einem literarischen zu machen sucht und in denen die Subjektivität des modernen Autors ihren ungehemmten Ausdruck findet. Die chassidischen Texte, auf die Bubers Erzählungen zurückgehen, zeichnen sich durch ihre sachliche Nüchternheit aus. So beginnt die Anekdote, die den Tod des Vaters Elieser und den Abschied von seinem kleinen Sohn Israel im Schivche ha-Bescht schildert, mit einem Zitat aus der Genesis: »›Der Knabe wuchs heran und ward entwöhnt‹, und die Zeit nahte, daß sein Vater Elieser sterben sollte.« 116 Für den Bibelkundigen ist mit dem anfänglichen Zitat darauf verwiesen, dass Israel wie Isaak ein Kind des Alters ist, der dadurch seinem Vater Elieser/Abraham umso mehr ans Herz gewachsen ist. 117 Diese biblische und damit heilsgeschichtliche Perspektive fehlt in Bubers erstem Satz. Statt dessen schmückt er den zu erzählenden Vorgang, das Sterben des Vaters, mit preziösen und altertümlich anmutenden Wendungen dichterisch aus: »Als Rabbi Elieser, den Vater des Kindes Israel, das Sterben überkam, kannte er nicht Wehr noch Staunen, sondern liess dem Tod willig die Seele hin […]«. 118 Die besondere Beziehung des alten Vaters zu seinem jungen Sohn trägt er in einem späteren Satz als allgemeine menschliche Erfahrung nach, wobei der Knabe Israel apostrophiert wird als »das selige Licht seiner letzten Wege, das ihm und seinem alternden Weibe so spät noch aufgegangen war«. 119 In dem zitierten Satz ist ein weiteres Mittel der Poetisierung auszumachen: das schmückende Genetiv-Attribut, das in allen Texten des Bandes in auffälliger Häufung auftritt. So ist schon auf den ersten Seiten vom »Feuerquell der Erneuerung«, vom »Meere seiner Nacht«, von »dem trüben Qualm des Elends« und der »umfangenden Wärme des brüderlichen Lebens« die Rede. 120 Des Weiteren bemüht der Erzähler außerordentlich häufig Vergleiche mit »wie« oder »als ob«. So wird ihm die Sterbestunde des Alten zur »lösenden Stunde wie ein Ruf aller Tiefen«. Und die Aufmerksamkeit des Kindes auf die Worte seines sterbenden Vaters wird durch den Vergleich »als ob ein Unmündiger den großen strahlenden Becher leerte« qualifiziert. 116. Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht, T. 1, hrsg., übersetzt u. komm. von Karl E. Grözinger, S. 12: H 7. 117. Gen 21,8. 118. Buber, Die Legende des Baalschem, S. 48; jetzt in diesem Band, S. 202. 119. Ebd.; jetzt in diesem Band, S. 202. 120. Ebd., S. 48, 49, 50, 52; jetzt in diesem Band, S. 202,203,204.

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Das christliche Abendmahl und Wagners Parzival liefern hier die Stichworte. Buber selbst beschreibt die drei großen Kapitel, in die er seine Legende gliedert, als die »drei Kreise der Weihung«. 121 Wie sich an dem zuletzt zitierten Beispiel zeigt, sind es die rhetorischen Mittel der Poetisierung, die dem erzählten Geschehen seine »Weihe« geben. Dadurch unterscheidet sich Bubers literarische Strategie grundlegend von der des Schivche ha-Bescht, in dem die Nähe von Vater und Sohn durch vier Zitate aus der Tradition des Judentums belegt wird. Die Beziehung zwischen Elieser und Israel bekommt hier neben dem schon angeführten Zitat aus Gen 21,8 durch ein zweites Zitat aus der Genesis (Gen 37,3), ein weiteres aus dem Talmud (b Sukka 56b) und schließlich eines aus dem Sohar (I 182b), nicht nur eine heilsgeschichtliche, sondern mit der Beziehung auf die Sefirot auch eine mystische Tiefe, die in Bubers Text völlig fehlt. Stattdessen übernimmt Buber aus dem Umfeld der Mehrheitskultur Motive, die seinen Text einem deutschsprachigen, christlichen Publikum vertraut machen sollen. Am deutlichsten und auch am provokativsten zu Beginn des Buches in der Beschreibung des kleinen Israel. In seiner Sterbestunde sucht Elieser, wie Buber schreibt, »wieder und wieder das blonde schmale Köpfchen des Knaben«. 122 Diese Verwandlung der physischen Erscheinung des kleinen Juden in die eines Christusknaben ist offensichtlich derselben Rücksichtnahme geschuldet, mit der einige Jahre zuvor Max Liebermann (1847-1935) auf den Skandal um sein großes Gemälde »Der zwölfjährige Jesus im Tempel« von 1879 reagiert hatte. In der ursprünglichen Fassung des Bildes war die Jesusfigur deutlich als armes jüdisches Kind charakterisiert: mit kurzem zotteligem Haar, dafür aber mit Peijes, in einem schmutzigen Kittel und barfuß; auch seine Physiognomie entsprach mit ihrer kräftigen Nase durchaus dem gängigen Stereotyp. 123 Auf die mit antisemitischen Vorurteilen argumentierende Kritik, die sich an der Präsentation des Gemäldes auf der Internationalen Kunstaustellungen 1879 in München entzündete – Liebermann gebe Christus als »den häßlichsten, naseweisen Juden-Jungen, den man sich denken kann,« 124 – antwortete der Maler dadurch, dass er die zen121. Ebd., S. VII; in diesem Band, S. 173. 122. Ebd., S. 48; in diesem Band, S. 202. 123. Vgl. die beiden Entwurfszeichnungen von 1879, die sich als einzige Dokumente der ursprünglichen Fassung des Gemäldes erhalten haben, in: Martin Faass (Hrsg.), Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik, Berlin 2009, S. 20, 29 und 46. 124. Martin Faass u. Henrike Mund, Sturm der Entrüstung. Kunstkritik, Presse und öffentliche Diskussion, in: ebd., S. 59-78, hier S. 67. Der spätere Zionist Max Nordau

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trale Figur seines Bildes übermalte. Jetzt trägt sein Jesusknabe einen blütenweißen Kittel und Sandalen, sein Gesicht glänzt rosig und hat die charakteristische Nase verloren; zudem hat ihm der Maler nun langes, glatt gekämmtes goldblondes Haar verliehen. 125 In dieser Weise dem deutschen Publikumsgeschmack angeglichen, wurde er in die Hamburger Kunsthalle aufgenommen. 126 Buber hat seinem heiligen Judenjungen von vornherein eine physische Gestalt verliehen, die ihn vor der antisemitischen Entrüstung der Mehrheitskultur schützen sollte. Allerdings nicht zu seiner eigenen Zufriedenheit, weshalb er selber die in der Erstausgabe gewählte Formulierung in späteren Auflagen mehrfach revidiert hat, so dass schließlich in der endgültigen Ausgabe von 1955 aus dem »blonde[n] schmale[n] Köpfchen« von 1908 »das helle Haupt des Knaben« geworden ist, eine ebenfalls nicht sehr glückliche Formulierung für den Kopf eines kleinen Jungen. 127 Noch auffallender ist die Nüchternheit, mit der Buber in Die Erzählungen der Chassidim (Zürich: Manesse Verlag 1949, S. 112) das Motiv der Eingangssequenz der Legende wiedergibt. In der Anekdote mit dem Titel »Der Spruch des Vaters« wird Israel Ben Elieser lediglich als spätgeborenes Kind seiner Eltern charakterisiert, dann werden die Worte des Vaters mit dem schmucklosen Satz eingeleitet: »Da sein Vater den Tod nahen fühlte, nahm er den Knaben auf den Arm und sprach zu ihm«. 128 Ein stärkerer Gegensatz zu der literarisch ausgeschmückten Episode, in der Elieser vor dem Sterben »nicht Wehr noch Staunen« kennt und »dem Tod willig die Seele« hingibt, ist kaum denkbar. In einem weiteren Motiv der ersten Erzählung des ersten Kreises spielt eine bewusste oder unbewusste Reminiszenz an einen zentralen Text der deutschen Literatur eine Rolle. Der Widersacher, der in dem Kind »den allzu frühen Boten« einer Rettung der Welt ausgemacht hat, erscheint vor der »Gottesherrlichkeit«, um von ihr die Erlaubnis zu erhalten, gegen

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(1849-1923) urteilt sogar noch schärfer: »ein ungewaschenes, rothaariges Judenjüngelchen, das spitzfindig disputiert« (ebd.). Vgl. die endgültige Fassung in der Hamburger Kunsthalle als Abbildung auf dem Umschlag von »Der Jesusskandal« (ebd.) und S. 21. Während der nationalsozialistischen Herrschaft veräußerte der Direktor der Hamburger Kunsthalle das Gemälde neben anderen Werken von Liebermann 1941 an den Kunsthändler Hildebrandt Gurlitt (1895-1956), der es an das Hamburger Sammler-Ehepaar Glaubitz weiter verkaufte. Von dessen Erben konnte das Bild erst 1989 für die Kunsthalle zurückgekauft werden. Vgl. hierzu ebd., S. 37-42. Martin Buber, Die Legende des Baalschem. Umgearbeitete Neuausgabe, Zürich: Manesse Verlag 1955, S. 75. Schon in der »neubearbeiteten Ausgabe« (Frankfurt 1916) lautete die Formulierung: »das blonde Haupt des Knaben«. (S. 46.) Jetzt in: MBW 18.1, Nr. [4]. Beide Versionen gehen auf dieselbe Quelle zurück: Schivche ha-Bescht, Bl. 1b.

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Israel zu kämpfen, und diese – so endet bei Buber die Szene – »hob die leidvolle Hand zur gewährenden Geberde«. 129 Eine solche Begegnung wird im Schivche ha-Bescht lediglich mit einem Zitat aus dem Buch Hiob (1,6-12) angedeutet, aber nicht als offene Konfrontation ausgespielt. Bubers Legende erinnert mit dieser Eröffnung hingegen an den »Prolog im Himmel« in Goethes Faust, der allerdings selbst wiederum vom Beginn des Buchs Hiob inspiriert ist. Aber nicht nur in ihrer sprachlichen Mikrostruktur, den preziösen Wendungen und reihenden Wiederholungen, den ausschmückenden Genetiv-Attributen und den Vergleichen ist Bubers Legende an den vorherrschenden Zeitgeschmack der Mehrheitskultur angeglichen. Auch in ihrer Faktur, also ihrer ästhetischen Makrostruktur, ist sie bewusst als klassisches Kunstwerk konstituiert. Sie ist ein kunstvolles Ganzes, das in jedem seiner Teile auf seinen Mittelpunkt und so auf das zentrale Geschehen verweist, das sich als Begegnung des Heiligen mit der Welt und darin mit Gott verwirklicht. Am Ende seiner »Einführung« hat Buber auf diese für ein Kunstwerk der Goethezeit konstitutive Machart seiner Legende ausdrücklich hingewiesen: »Ihr Ende ist schon in ihrem Anfang, und ein neuer Anfang in ihrem Ende.« 130 Diese strukturelle Eigenart manifestiert sich in der Legende des Baalschem in mehrfacher Hinsicht. Zunächst fällt auf, dass die einundzwanzig Erzählungen keine chronologische Abfolge einhalten. Zwar beginnt das Buch mit der Kindheit und Jugend seines Helden und endet mit dessen Tod, aber zwischen diesen Anfangs- und Endpunkten wird mit steigender Intensität immer dasselbe erzählt, die Heiligung der Welt durch die Handlungen des Heiligen, so dass das Werk, wie Buber im »Vorwort« zu Die Erzählungen der Chassidim formuliert hat, »sich zu einer Art innerer Biographie zusammnenschließt«. 131 Des Weiteren lässt sich ein genauer Zusammenhang und eine innere Ordnung aller jeweiligen Legenden der »drei Kreise der Weihung« ausmachen. Hier schon gilt, was Buber 1949 von der Anordnung der Anekdoten in Die Erzählungen der Chassidim angemerkt hat: »Jedes Stück steht an einem bestimmten Platze.« 132 Am Beispiel der sieben Geschichten des ersten Kreises lässt sich der folgerichtige Fortgang der inneren Biographie des Baalschem ablesen. In den ersten beiden Erzählungen bezwingt der junge Held – wie es dann seine Lebensaufgabe sein wird – 129. Buber, Die Legende des Baalschem, S. 51; in diesem Band, S. 203. 130. Ebd., S. VII; jetzt in diesem Band, S. 173. 131. Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich: Manesse 1949, S. 12; jetzt in: MBW 18.1., S. 127. 132. Ebd., S. 13; jetzt in: MBW 18.1., S. 127.

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die Gefährdung der Menschen und der Welt durch die Mächte der Finsternis, zunächst noch naiv und symbolisch in »Der Werwolf«, dann bewusst durch die Lektüre kabbalistischer Schriften in »Der Fürst des Feuers«. Im dritten Text, »Die Offenbarung«, manifestiert der Baalschem, der bis dahin verborgen vor der Welt als Kneipenwirt in den Kaparten gelebt hat, seine heilende Kraft und seine spezifische Sendung, weshalb er hier zum ersten Mal »Meister« genannt wird und »ganz in weisse[s] Licht« getaucht erscheint. Mit ihm sei »der Trost in die Welt gekommen«. 133 In den nächsten drei Erzählungen wird der Bescht gezeigt, wie er sich über seine Ziele täuscht und auf falschen Wegen wandelt. In »Die Heiligen und die Rache« hofft er vergeblich, dass die »Heiligen«, die während eines Pogroms vom Tode bedroht sind, gerettet werden. Er muss erkennen, dass das Martyrium die höchste Form der »Heiligung des Namens«, des Kiddusch Haschem, darstellt. In »Die Himmelwanderung«, für die keine chassidische Vorlage nachzuweisen ist und die wohl eine Bubersche Neudichtung darstellt, wendet sich die Seele des Bescht von der Welt ab und dem Jenseits zu, wird aber von seiner Frau ins Leben zurückgeholt. In »Jerusalem« schließlich, in dem sich der Bescht auf den Weg ins Heilige Land macht, erweist sich, dass die Zeit für die Erlösung der »alten Erde« noch nicht gekommen ist, weshalb »die Gottesstimme« ihn in seine alte Heimat zurückschickt. 134 In der letzten Erzählung dieses Kreises mit dem Titel »Saul und David« erwirbt der Bescht seinen treuesten Jünger, indem er die Gedanken des Rabbi Nachman durchschaut, ihn in Liebe erkennt und ihn damit von seiner tiefen Feindschaft heilt und zu sich bekehrt. Im Zusammenhang gelesen, lassen die Geschichten des ersten Kreises so eine sinnvolle Anordnung erkennen, durch die eine immer größere Annäherung des Bescht an die ihm von Gott zugedachte Sendung zum Ausdruck gebracht wird. In ähnlicher Weise erweist sich die Struktur des zweiten und dritten Kreises als bedeutend für die zentrale Aussage des ganzen Buches: die zunehmende Heiligung der Welt durch das Wirken des von Gott gesandten Menschen. Schließlich lassen sich auch sinntragende Korrespondenzen zwischen den jeweiligen Geschichten der drei Kreise ausmachen. So wenn in der ersten Geschichte des ersten Kreises der Knabe Israel von seinem Vater auf seine heilsgeschichtliche Aufgabe hingewiesen und in der ersten Geschichte des zweiten Kreises Nachum, der Sohn eines armen jüdischen Pächters, durch die Entdeckung des Gebetbuchs seines verstorbenen Va133. Buber, Die Legende des Baalschem, S. 74-77; jetzt in diesem Band, S. 217-219. 134. Ebd., S. 90-93; jetzt in diesem Band, S. 227-229.

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ters auf seine Zugehörigkeit zum Judentum aufmerksam gemacht wird und dadurch lernt, sich mit Gott zu »unterreden«. Er wird vom Baalschem als Jünger »zu sich […] genommen«, 135 womit zugleich an die letzte Geschichte des ersten Kreises angeknüpft ist, worin der Meister durch »seine Milde« Rabbi Nachman zu seinem »Freund« und zum »Freund Gottes« bekehrt. 136 Schließlich ist auch in der ersten Geschichte des dritten Kreises noch einmal von einem Knaben die Rede, der zu Gott erweckt wird. Auch wenn Jossele, aufgeschreckt durch die Schofar-Klänge, mit seinem Ruf: »Jetzt und Jetzt wird Meschiach kommen« einer Täuschung unterliegt, 137 wird er am Ende gerechtfertigt, indem er sich an Nachums Brust legen darf und damit in die Nähe des Baalschem kommt. Ähnliche Parallelismen und Korrespondenzen zwischen den »drei Kreisen der Weihung« ließen sich für die Mehrzahl der Geschichten nachweisen. 138 Die vielfältigen, sich überkreuzenden Korrespondenzen zwischen den einzelnen Erzählungen ergeben ein dichtes Textgewebe, in dem die Forderung nach Konsistenz, Zusammenhang und Geschlossenheit, die an ein Kunstwerk gestellt werden muss, ihre Erfüllung findet. Mit welcher Bewusstheit Buber Die Legende des Baalschem auf diesen Kunstcharakter des Ganzen hin konstruiert hat, lässt sich daran ablesen, dass er ihn in der letzten Geschichte des zweiten Kreises mit dem Titel »Der Widersacher« ausdrücklich reflektiert. In dieser Legende wird der Baalschem mit dem Rabbi Jakob Josef von Szarygrod konfrontiert, dessen gesetzestreue Strenge die Lebensfreude des Zaddiks verabscheut. 139 Nach ihm sollten, wie im orthodoxen Judentum üblich, die Predigten »aus Deutungen der Schrift aufgebaut [werden], auf denen sich kunstvoll Deutungen der Deutungen türmen«. 140 Der Baalschem aber kommt nach Szarygrod und beginnt, in aller Öffentlichkeit Geschichten zu erzählen, wozu sich allmählich alle Menschen des Städtchens einfinden, um ihm zu lauschen. »Es war aber seine Erzählung so lieblich verknotet, dass, wann immer einer ankam, es ihm wie ein Anfang dünkte […]. So hatten alle die eine grosse Geschichte, und darin jeder seine eigene kleine und allerwichtigste, und die kleinen kreuzten einander und verhakten sich, 135. 136. 137. 138. 139.

Ebd., S. 107; jetzt in diesem Band, S. 238. Ebd., S. 99 f.; jetzt in diesem Band, S. 233. Ebd., S. 195; jetzt in diesem Band, S. 288. Ebd., S. VII; jetzt in diesem Band, S. 173. In anekdotischer Form gibt Buber dieselbe Erzählung in Die Erzählungen der Chassidim unter dem Titel »Der Geschichtenerzähler«, S. 138-142, wieder; jetzt in: MBW 18.1, Nr. [41]. 140. Buber, Die Legende des Baalschem, S. 175; jetzt in diesem Band, S. 277.

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als müssten sie sich tief verwirren, aber im Nu waren sie wieder gelöst und geordnet und liefen fein säuberlich neben einander hin.« 141 In diesen Sätzen reflektiert Buber mit der Beschreibung der Erzählkunst des Meisters sein eigenes literarisches Verfahren. Auch in seiner Legende sind die einzelnen Erzählungen »lieblich« miteinander »verknotet«, was sie einerseits zu einem großen, ganzheitlichen Kunstwerk macht, zugleich aber jedem Leser sein eigenes Verständnis und seine eigene Interpretation ermöglicht. Zudem wird hier die literarische Erzählung dem traditionellen Studium der Schrift übergeordnet, dem sich Rabbi Jakob Josef zu widmen versucht und dabei in heillose Verwirrung stürzt, bis der Baalschem ihn davon zu überzeugen vermag, dass nur die Erzählung von Liebe und Freude die »Wurzeln« der Trauer »auszurotten« vermag. Und so wird Rabbi Jakob Josef zum »grossen Jünger« des Geschichten erzählenden Meisters. 142 Damit rechtfertigt Buber sein eigenes Tun als Autor von erzählenden religiösen Texten gegenüber einem orthodoxen Judentum, das Religion und damit die Beziehung zu Gott nur als Studium der Halacha denken kann. VII. Zur Abwendung Bubers von seinen frühen Versuchen, Kunstliteratur zu schaffen, mag auch die im Vergleich zur enthusiastischen Aufnahme der Geschichten des Rabbi Nachman eher gedämpfte Zustimmung zu seinem zweiten Buch über den Chassidismus beigetragen haben. Über Die Legende des Baalschem erschienen merklich weniger Besprechungen als über das erste Buch. Auch Buber selbst stand dem Werk schon vor seinem Erscheinen merkwürdig ambivalent gegenüber. Am 16. Januar 1908 übersendet er seinem Freund Gustav Landauer das soeben fertiggestellte Manuskript der Legende des Baalschem und schreibt dazu: »Ich habe zu den einzelnen Gestalten ein (sehr verschiedenes) Verhältnis, von dem Ganzen weiß ich nichts.« 143 Während Landauer einige Monate später nach der Lektüre des gedruckten Buches antwortet, dass ihm der Baalschem »immer tiefer und wundervoller wird«, 144 bleibt Buber skeptisch. Er konstatiert, dass »das Buch, in dem ein gutes Stück von meinem Leben steckt, viel weniger Verständnis gefunden zu haben scheint 141. Ebd., S. 177; jetzt in diesem Band, S. 278. Es ist auffällig, dass diese erzähltechnischen Reflektionen in der späteren Fassung der Anekdote fehlen. 142. Ebd., S. 188; jetzt in diesem Band, S. 609. 143. B I, S. 260. 144. Ebd., S. 264.

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als der unvergleichlich literaturhaftere Nachman. Es hat mancherlei Lob gefunden, aber kein wirklich verstehendes Wort.« 145 Die in diesen Worten zum Ausdruck kommende Zurückhaltung mag auch eine Reaktion auf die Kritik aus Bubers nächster Umgebung sein. Besonders der Vater Carl Buber (1848–1935), ein erfolgreicher und kühl kalkulierender Geschäftsmann und Großgrundbesitzer, ermahnt seinen Sohn in einem Brief als Reaktion auf die Übersendung des Baalschem doch von dem »Chassidischen« zu lassen, da es nur »geistesverwüstend und unheilvoll einwirke und es ist schade, Deine Fähigkeiten auf so ein fruchtloses Thema zu verwenden«. 146 Der Kenner der Traditionen des Ostjudentum Micha Josef Berdyczewski (Micha bin Gorion, 1865-1921) bemängelt, Buber sei dem historischen Hintergrund des Chassidismus »nicht ganz gerecht geworden«, und kritisiert in einem Brief vom 9. April 1908 an Buber, »daß Sie zuweilen aus sich selbst heraus in die Sachen hineingebracht haben, was in ihnen in Wirklichkeit nicht enthalten ist«. 147 In ähnlicher Weise bemängelt eine der frühesten öffentlichen Kritiken, publiziert an weithin sichtbarer Stelle und verfasst von einem berufenen Rezensenten, die Subjektivität des Buches. Äußerst kritisch im Ton, im Grunde vernichtend, bespricht Friedrich Gundolf (1880-1931) unter seinem bürgerlichen Namen Friedrich Gundelfinger Die Legende des Baalschem 1908 in den prestigeträchtigen Preußischen Jahrbücher. 148 Nach einer allgemeinen Charakterisierung des Chassidismus, dessen Verdienst Gundolf in einer »Demokratisierung des Göttlichen« sieht, dessen »innerliche Fülle« aber seine Legenden »oft undeutlich und überladen« mache, findet der Kritiker dieses Missverhältnis »durch den aufgehöhten Ton des Neu-Erzählers« noch verstärkt. Deshalb widerspricht er dem zentralen Anspruch Bubers, er habe mit seiner Legende des Baalschem den jüdischen Mythos in der Moderne weiterzubilden vermocht, und kommt abschließend zu dem Urteil, Buber habe sein von ihm selbst gesetztes hohen Ziel verfehlt: »Für den Mythus ist sein Vortrag zu bewußt, zu wenig aus dem Glauben geboren, für den Bericht zu innig und zu schwelgend. Das Verdienst des Werks gehört der Litteratur an. Eine bewegte, pathetische – nur allzusehr mit heutigem Geschmack und Wissen beladene – Einbildungskraft fand in diesen schwebenden Legenden bildsamen Stoff für die eigenen Erregungen und Andachten.« In einem persönlichen Brief vom 4. Juli 1908 an den ihm persönlich 145. 146. 147. 148.

Ebd., S. 265. Ebd., S. 261. Ebd., S. 262. Dr. Friedrich Gundelfinger, Martin Buber: Die Legende des Baalschem [Rez.], Preußische Jahrbücher, Bd. 133, Berlin, Juli 1908, S. 149-151.

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bekannten Buber hat Gundolf den negativen Eindruck seiner Rezension zu relativieren versucht: »es möge Sie, verehrter Herr, im Druck nicht verletzen, was mündlich ausgesprochen uns freilich zu fruchtbareren Auseinandersetzungen geholfen hätte.« Aber auch die Ausweitung der Kritik ins Allgemeine der geistigen Situation der Zeit vermochte die grundsätzlich in ihr ausgesprochene Ablehnung nicht zu mildern: »Mir scheint das Werk an dem unausgeglichenen Gegensatz zwischen der heutigen Bildung und den religiösen Impulsen zu kranken, der das Erbübel alles beseelteren Judentums unserer Tage ist.« 149 Eine Antwort Bubers oder gar ein Eingehen auf dieses Angebot zum Dialog ist nicht nachweisbar. In einer ungefähr gleichzeitigen Sammelrezension hatte der wie Buber aus Lemberg stammende Zionist Alfred Nossig (1864-1943) im Berliner Lokal Anzeiger unter der Überschrift »Messianismus und Kabbalistik« unter anderem auch Die Legende des Baalschem besprochen und dem Buch ganz im Sinne Bubers bescheinigt, es habe die chassidischen Legenden »gereinigt und erhoben«, so dass sie »gewissermaßen eine moderne Fortsetzung jener poetischen Kollektivarbeit des jüdischen Volkes« bildeten. 150 Ähnlich positiv reagierte im Jahr darauf Ernst Müller (1880-1954), der spätere Übersetzer des Sohar, in seiner ganz aus Bubers romantisierender Perspektive geschriebenen Rezension im zionistischen Zentralorgan Die Welt. 151 Auch von ihm wird die Legende als »das Erzeugnis des Volkes in seiner tiefsten Erregung« definiert. Müller geht zudem einfühlsam auf die Inhalte des Erzählten ein und entwickelt zugleich ein Gespür für die künstlerische Formung des Buches als ganzes: »Und wie lebendige Taten sind wieder die Geschichten, die oft gleichsam ineinander verwoben sind, indem das innerste Mark des Gesagten wieder in eine Geschichte gehüllt wird, und die so wunderbar wirken, daß die Menschen daraus ›die Botschaft ihres verlorenen, vergessenen Lebens empfangen.‹« Erst zwei Jahre nach dem Erscheinen des Buches hat Gustav Landauer dann das geliefert, worum ihn Buber schon 1908 gleichsam indirekt ge149. B I, S. 262. 150. Alfred Nossig, Messianismus und Kabbalistik, Berliner Lokal Anzeiger vom 28. Juni 1908. Buber hatte schon im April 1900 eine Ausstellung von Plastiken des zionistischen Schriftstellers und Bildhauers besucht und gegenüber seiner Frau Paula brieflich das Fehlen »tief nationale[r] Anknüpfungen, Auslösung von Momenten der Volksseele« in dessen Werk bemängelt. (B I, S. 155.) Nossig wurde 1943 als Mitglied des Judenrats im Warschauer Ghetto von der jüdischen Widerstandsbewegung wegen Spionage für die Gestapo zum Tode verurteilt und hingerichtet. 151. Ernst Müller, Die Legende des Baalschem [Rez.], Die Welt, 13. Jg., No. 44. vom 29. Oktober 1909, S. 960 f.

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beten hatte: ein »wirklich verstehendes Wort«. In der Berliner »Halbmonatsschrift für Literaturfreunde« Das literarische Echo veröffentlicht er im Oktober 1910 eine wahre Hymne auf das Werk seines Freundes, 152 die mit einer autobiographischen Bemerkung einsetzt: »Dieses Buch ist schon vor langer Zeit erschienen, und ich habe seitdem oft und oft darin gelesen. Es ist nicht schwer, aus der Erschütterung und der heiligen Weihe, die es einem gebracht hat, heraus zu rufen: ›Ihr Menschen, lest es; es wird euch innig wohl tun es zu lesen!‹« Für Landauer, den revolutionären Sozialisten, besteht die Bedeutung des Buches darin, dass es »ein Werk des Kollektiven« ist, es sei Ausdruck eines »Denken[s] und Dichten[s], das Volk in sich trägt«. Aber eben Denken und Dichten des jüdischen Volkes, das mit dieser Formel ganz nahe an das deutsche Volk gerückt wird in der Hoffnung, dass das »am Geiste deutscher Sprache wiedergeborene Erzeugnis des jüdischen Mythos vielen vertraut werden« könne. In den Augen Landauers demnach ein Buch, das die Verankerung des Judentums im deutschen kollektiven Gedächtnis befördern sollte. Eine höchst symptomatische Würdigung der Legende des Baalschem stellen die Briefe dar, die der junge Georg Lukács (1885-1971) im November 1911 aus Florenz an Martin Buber gerichtet hat. Aus Anlass der Übersendung seines Essaybuchs Die Seele und die Formen spricht er dem Berliner seinen »aufrichtige[n] Dank« aus, »den ich Ihnen für Baalschem und Rabbi Nachman schulde.« Zugleich nimmt er die Gelegenheit war, sich bei dem Autor nach den Quellen seines Buchs über den Gründer des Chassidismus zu erkundigen: »Besonders Baalschem war unvergeßlich für mich! Es ist nur Schade, daß es so wenig ist; es ist doch kaum möglich, daß nur dies übriggeblieben ist. Gibt es irgendeine (deutsche, französische oder englische) Ausgabe? […] So viele [Texte], z. B. die ethische Wendung der Seelenwanderung – würde man gerne in der ganzen Breite der Tradition kennen lernen!« 153 Bubers Antwort auf diese von wenig Sachkenntnis zeugenden Sätze des jungen, vormarxistischen Lukács ist einigermaßen überraschend. Er schreibt an den jungen Essayisten: »Daß Ihnen meine Chassidica etwas gewesen sind, freut mich sehr. Hoffentlich beeinträchtigt es Ihr Gefühl nicht, wenn ich Ihnen (ich muß es nun wohl) mitteile, daß im Baalschem zumeist nur die innersten Motive authentisch sind. Ich meine natürlich nur die Er152. Gustav Landauer, Die Legende des Baalschem [Rez.], Das literarische Echo, 13. Jg., Heft 2 vom 1. Oktober 1910. 153. Georg Lukács, Briefwechsel 1902-1917, hrsg. von Eva Karádi und Eva Fekete, Stuttgart 1982, S. 258.

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zählungen; die in der Einleitung zitierten Worte sind wortgetreu übersetzt.« 154 Angesichts der Tatsache, dass so gut wie alle im Baalschem erzählten Legenden auf chassidische Quellen zurückgehen, stellt sich die Frage, ob Bubers gewundene Antwort nicht eine Schutzbehauptung ist, mit der er seinen Status als literarischer Autor zu behaupten sucht. Eine letzte, späte Würdigung aus gleichgesinnter ideologischer Prägung hat der Baalschem im Januar 1914 in Arnold Zweigs (1887–1968) Aufsatz »Über jüdische Legenden« gefunden. 155 Zu diesem Zeitpunkt war Buber schon durch seine Drei Reden über das Judentum (1910/11) in Prag als Erneuerer jüdischen Identitätsbewusstseins unter jungen Juden der deutschsprachigen Welt bekannt geworden. Diese historische Situation schlägt sich auch in Zweigs Charakterisierung der Buberschen Nachdichtung chassidischer Legenden nieder, von denen, wie er behauptet, »eine neue Epoche anhebt, weil hier zum ersten Mal unsere Seele ihrer selbst bewußt wird«. Sie werden »unsere Jugend zu sich selbst, zum Judentum, zurückführen«. Schließlich fasst Zweig die Aufforderung an den Leser, die vom Baalschem ausgehen kann, in einem Satz zusammen, der schon auf Bubers spätere Philosophie vorverweist: »Lebe wie ich; sei so sehr Du, wie ich Ich bin; sei Jude.« Anders hat Buber selbst allerdings in späteren Jahren über seine literarischen Anfänge geurteilt. Das kommt schon in den tiefgreifenden Veränderungen des Textes zum Ausdruck, die Buber in den späteren Auflagen der Legende des Baalschem vorgenommen hat. In der »Umgearbeiteten Neuausgabe«, die er 1955 im Züricher Manesse Verlag publiziert hat, wird der Text durch Streichung von Adjektiven und Adverbien, von Satzgliedern und ganzen Sätzen verschlankt. Zudem reduziert Buber die für die Erstausgabe von 1908 charakteristischen Metaphern, Vergleiche und archaisierenden Ausdrücke in der späten Fassung erheblich, 156 so dass die einzelnen Legenden mehr und mehr der nüchternen Sprachform angeglichen werden, die er ab 1914, in der zweiten Phase seiner Sammlung der Chassidica, für die chassidischen Anekdoten findet. 157 154. Ebd. S. 260. 155. Arnold Zweig, Über jüdische Legenden, Mitteilungen des Vorstandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands vom 1. Januar 1914, S. 14-17. 156. In Martin Bubers literarisches Werk zum Chassidismus, hat Pourshirazi in einer detaillierten Untersuchung die Umarbeitungen beschrieben, die Buber in Die Erzählungen des Rabbi Nachman und in Die Legende des Baalschem vorgenommen hat. 157. Das lässt sich an dem Vergleich der letzten Legende »Der Hirt« in der Fassung von 1908 (Die Legende des Baalschem, S. 247-257; in diesem Band, S. 319-324) mit der Fassung von 1955 (in diesem Band, S. 462-465), die um 770 Wörter, also um ein

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In dem Aufsatz »Der Chassidismus und der abendländische Mensch«, den Buber 1956 in der Zeitschrift Merkur veröffentlichte 158, unterzieht er schließlich seine beiden ersten Bücher auch einer öffentlichen Kritik. Bei allem Stolz darauf, »vor mehr als fünfzig Jahren« als erster »das Abendland mit jener im 18. Jahrhundert entstandenen, aber in unsere Zeit hineinreichenden religiösen Bewegung bekannt« gemacht zu haben, die »die chassidische heißt«, verurteilt er aus der Perspektive seiner lebenslangen Beschäftigung mit der Bibel als Übersetzer und Kommentator und vor dem Hintergrund seiner eher dokumentarisch gefassten späteren Erzählungen der Chassidim (1949) insbesondere den literarischen Charakter seiner frühen Texte: »Nun war ich damals freilich noch ein unfertiger Mansch, der sogenannte Zeitgeist hatte noch Macht über mich. […] Überdies verstand ich dem inneren Zug zum Nachdichten des erzählerischen Materials noch nicht Einhalt zu tun. […] Die Darstellung der chassidischen Lehre, die ich darin gab, war zuverlässig; wo ich aber der legendären Tradition nacherzählte, tat ich es eben doch als der abendländische Autor, der ich war.« 159 Der Schriftsteller, der in Jahrzehnte langer mühevoller Arbeit alle Bücher der Bibel übersetzt hatte, der mit Das Königtum Gottes (1932) und Moses (1948) historische Auslegungen des biblischen Textes mit wissenschaftlichem Anspruch vorgelegt und der mit Die Erzählungen der Chassidim das ultimative »Corpus Chassidicum« geschaffen hatte, wollte ein literarischer Autor nicht mehr sein. Bernd Witte

Drittel, gegenüber dem Erstdruck verkürzt ist, (Statistik bei Poushirazi, Martin Bubers literarisches Werk zum Chassidismus, S. 279) und der Bearbeitung desselben Motivs in der Anekdote »Das dritte Mißlingen« aus Die Erzählungen der Chassidim, S. 170 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [85]) belegen. 158. Merkur, 10. Jg., Nr. 10, Oktober 1956, S. 933-943; jetzt in: MBW 17, S. 304-314. 159. Ebd., S. 933 f.; jetzt in: MBW 17, S. 304 f.

Die Geschichte von der fahrenden Prinzessin Dem Rabbi Nachman von Braslaw nacherzählt von M. Buber

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Es war einmal ein alter Kaiser, der hatte keine Kinder. Das grämte ihn sehr. Da hörte er von einem alten Einsiedler, der in einem fernen Lande im Walde lebte und starken Zaubers mächtig war. Er machte sich im geheimen auf und zog im Gewande eines Pilgers von dannen. Nach langem Wandern kam er zum Hause des Zauberers und trug ihm sein Anliegen vor. Der Alte sprach einen wunderkräftigen Spruch über ihn aus und sagte ihm zu, daß die Kaiserin ihm binnen Jahresfrist ein Töchterlein schenken würde. Auf dem Heimwege trat der Kaiser in eine Waldschenke, um zu rasten. Um das offene Herdfeuer lagen zechende Köhler, aber fernab in einer Ecke saß an einem ungefügten Tische ein einsamer Wandersmann, dem gesellte sich der Kaiser zu. Der Wirt setzte ihm Branntwein und Brot vor, und während er aß und trank, betrachtete er seinen Genossen und erkannte, daß er von königlicher Art war. Da offenbarte er dem Fremdling, wer er sei und was ihn auf diese Reise geführt habe. Der andere erzählte, daß er der König des Nachbarreiches sei und daß er zu gleichem Ende diese Fahrt unternommen; ihm habe der Zauberer einen Sohn versprochen. Sie beschlossen, wenn die Kinder herangewachsen seien, sie miteinander zu vermählen. Darauf nahmen sie Abschied, und ein jeder zog seines Weges. Nach einem Jahre wurde dem Kaiser eine Tochter geboren und dem König ein Sohn. Die Kinder wurden groß, und das Verlöbnis geriet in Vergessenheit. Die Kaiserstochter war sehr klug, und da sie einst das Reich regieren sollte, sandte sie der Kaiser zu einem weisen Meister, damit er sie in allen Künsten belehre. Demselben Manne aber hatte der König seinen Sohn zur Unterweisung zugeführt. So trafen sich die beiden, und es fügte sich, daß sie einander lieb gewannen. Eines gelobte dem andern, daß sie sich angehören wollten für ewige Zeiten. Und der Königssohn nahm einen Ring von seinem Finger und tat ihn an ihre Hand. Dann kam der Tag, da sie sich trennen mußten, denn der Kaiser ließ seine Tochter nach Hause holen, und auch der Königssohn mußte nach seinem Reiche zurückkehren. Viele Fürsten kamen an den Hof des Kaisers und warben um die Prinzessin, sie aber verharrte in schwermütigem Sinnen und ließ keinen vor ihr Angesicht kommen. Der Kaiser führte seine Tochter in all seinen Palästen umher und zeigte ihr all seine Herrlichkeiten, aber sie hielt ihr Auge gesenkt und sprach kein Wort. Indessen sehnte sich der Königssohn nach ihr, daß ihm das Herz schier brach. Als er so bleich umherging, gewahrten die Leute an seines Vaters Hof wohl,

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daß ein geheimes Leid an ihm zehre, aber als sie ihn fragten, was ihn derart verstöre, erhielten sie keine Antwort. Sein Diener jedoch, der ihn zu dem weisen Meister begleitet hatte, kannte das Geheimnis, er verriet es dem alten König. Da erinnerte der König sich an das Zusammenreffen im Walde und wie er und der Kaiser sich gelobt hatten, dereinst ihre Kinder zu vermählen. Er sandte Boten an den Kaiser und ließ ihm entbieten, er möge die Hochzeit rüsten, denn das Verlöbnis der Kinder habe längst schon stattgefunden. Der Kaiser entsann sich der Begebenheit wohl, doch reute ihn das gegebene Wort. Er schickte die Boten mit der Antwort zurück, der Königssohn möge an seinen Hof kommen, um darzutun, ob er fähig sei, ein so großes Reich in Weisheit zu lenken, sonst könne er ihm seine Tochter nicht geben. Im Stillen dachte er ein Mittel zu finden, sich des unbequemen Freiers zu entledigen. Als der Königssohn kam, wies man ihm die entlegensten Gemächer des Palastes zu. Der Kaiser sagte zu ihm, er solle hier Recht sprechen, damit er seine Fähigkeit zu herrschen erweise. In Wahrheit aber schickte er schlaue Leute zu ihm, die unter dem Scheine, seinen Rechtspruch zu erbitten, ihn anführen sollten. Der Königssohn gewahrte wohl, daß man ihm nichts Gutes andachte, zumal man die Prinzessin vor ihm verborgen hielt, aber seine Sehnsucht hieß ihn bleiben, und er ging traurig und ratlos umher. So irrte er eines Tages durch die weiten Säle des Palastes, da erblickte er plötzlich in einem Spiegel die Gestalt seiner Braut. Sein Herz war so erregt, daß er bei ihrem Anblick in eine tiefe Ohnmacht sank. Sie eilte herbei, erweckte ihn mit lieben Worten und erzählte ihm, daß sie alle Werbungen abgewiesen habe um seinetwillen, auch daß ihr Vater Böses gegen ihn sinne und sie ihm nimmermehr zur Frau geben werde. Sie beschlossen, zu fliehen; er mietete ein Segelboot, und sie fuhren aufs Meer. Nachdem sie einen Tag und eine Nacht mit vollen Segeln auf dem Wasser dahingetrieben waren, erblickte die Prinzessin einen grünen Strand; sie begehrte, ans Land zu gehen. Sie legten an und betraten das Ufer, an dem dichtbelaubte Fruchtbäume wuchsen. Sie gingen landeinwärts in einen Wald, lagerten sich und schliefen ein. Als die Sonne hochstand, erwachten sie und kehrten zum Boote zurück. Da bemerkte die Prinzessin, daß sie ihren Ring im Walde verloren hatte; sie war in großer Bestürzung und bat ihn, umzukehren und den Ring zu suchen. Er eilte umher von einem Orte zum andern und suchte vergebens, bis die Dämmerung einbrach. Er verirrte sich und konnte den Weg zum Strande nicht mehr finden. So schweifte er tagelang umher, geriet immer tiefer ins Land hinein und gelangte endlich müde und verschmachtet zu Menschenstätten, wo er sich als Knecht verdingte, um sein Leben zu fristen. Die Prinzessin saß indes am Strande und harrte sein. Mit jeder neuen

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Sonne sank ihre Hoffnung, daß er wiederkehren würde. Als sie am Morgen des dritten Tages erwachte, sah sie, daß der Wind ihr Boot vom Ufer abgerissen und weit in die See hinausgetrieben hatte. Da beschloß sie, am Meere zu warten und auszuspähen, bis ein Schiff des Weges käme, das sie aufnehmen könnte. Sie ernährte sich von den Früchten der Bäume und ruhte in ihrem Schatten. In jener Zeit lebte in einer Stadt am Meere, die Handelsschiffe nach allen Gegenden der Erde aussandte, ein reicher, alter Kaufmann, der hatte einen einzigen Sohn. Einmal sagte der Sohn zum Vater: »Du bist alt und wirst einst dahingehen. Ich werde zurückbleiben mit all Deinen Gütern und nicht wissen, wie ich sie gebrauchen soll. Daher gib mir ein Schiff mit Ware, und laß mich aufs Meer ziehen, daß ich den Handel erlerne.« Der Kaufmann tat also, und der Sohn befuhr die See und besuchte die reichsten Länder, verkaufte seine Waren und tauschte andere ein. Sein Schiff kam nun eines Tages an das Ufer, an dem die Prinzessin einsam wartete. Als er die fruchtbaren Bäume sah, vermutete er, daß menschliche Ansiedlungen in der Nähe sein möchten, stieg ans Land und erblickte die Kaiserstochter. Von ihrer Schönheit bezaubert, lud er sie ein, auf sein Schiff zu kommen und mit ihm in seine Heimat zu segeln, um dort seine Frau und Herrin über all seine reichen Güter zu werden. Da sprach die Prinzessin: »Gewährst Du mir, daß ich meinen Namen und meine Herkunft verschweige, bis Du mich in Deines Vaters Haus führest, so bin ich bereit, mit Dir zu ziehen.« Er sagte es ihr zu, und sie zog mit ihm an Bord. Sie fuhren viele Tage der Heimat des Kaufmanns zu, und sie gewann durch ihre Anmut, durch ihr süßes Lautenspiel und ihren Gesang immer mehr die Liebe des Kaufmanns und aller Schiffer. Als aber die Türme seiner Vaterstadt vor ihren Blicken auftauchten, rief sie ihn zu sich und sprach: »Gehe, wenn das Schiff in den Hafen eingelaufen ist, voraus zu den Deinen, damit sie mir entgegenziehen und mich im Geleite, wie es einer Braut gebührt, nach Deinem Hause bringen, wo ich ihnen offenbaren werde, wer ich bin.« Er willigte freudig ein, sie aber fuhr fort: »Ich habe noch eine Bitte an Dich. Gib Deinen Leuten, die mir während der Fahrt treuen Dienst erwiesen, um meinetwillen ein Fest, spare nichts, und laß alle fröhlich sein.« Der Kaufmann gab ihnen von seinem besten Wein, und die Matrosen eilten jubelnd ans Land, um das Fest zu feiern. Ihr Herr aber machte sich auf den Weg und ging zu den Seinen. Indessen zechten die Matrosen, bis ihnen die Sinne schwanden. Als die Prinzessin, die allein zurückgeblieben war, das sah, kappte sie das Ankertau, hißte die Segel und zog eilends fort aufs freie Meer. Darnach kam die Familie des Kaufmanns in festlichem Zuge ans Ufer, um die verheißene Braut abzuholen; sie fand die berauschten Matrosen,

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die am Wege lagen, aber von dem Schiffe war nichts zu sehen. Der Kaufmanssohn rüttelte die Schläfer auf; die aber wußten nicht, was geschehen war. Da erzürnte der alte Kaufmann gewaltig, denn er glaubte, daß sein Sohn all sein Gut vertan habe und nun gekommen sei, um ihn mit seinen Spießgesellen zum Besten zu halten. Er fluchte ihm und verbot ihm, je wieder vor sein Angesicht zu kommen. Der Jüngling zog traurig in die ungewisse Ferne. Zu jener Zeit war ein König, der hatte sich zu seiner Lust einen Palast am Meere gebaut. Er saß lange Stunden in den luftigen Hallen und betrachtete die Wolken und die Schiffe. Als er eines Tages so dasaß und seine Blicke über die unbewegte Fläche hinschweifen ließ, glitt langsam, ganz nahe dem Ufer, ein großes Segelschiff am Schlosse vorbei. Auf dem Schiffe war alles still, die Ruder waren eingezogen und kein Mann an Bord zu sehen. Der König wunderte sich darüber; er befahl, Boote mit Männern auszusenden, die dem Schiffe folgen und es anhalten sollten. Also geschah es; die Schiffer kehrten zurück und meldeten dem König, daß niemand als eine wunderbare Jungfrau von gebieterischem Ansehen auf dem Schiffe weile. Da ließ der König sie vor sich bringen; er ward von ihrer Schönheit sogleich bewegt und bat sie, bei ihm zu bleiben und seine Königin zu werden. Sie willigte ein und verlangte aber, so lange auf ihrem Schiffe bleiben zu dürfen, bis der König am Meere einen zweiten Palast für sie erbaut habe, in dem sie wohnen könne bis zu ihrer Hochzeit. Weiter begehrte sie, daß ihr Fahrzeug unberührt am Strande liegen bleibe bis zum Tage der Vermählung, dann wolle sie mit all ihrem Gute im Palaste des Königs Einzug halten, damit niemand sagen könne, er habe eine Frau ohne Besitz vom Markte her genommen. Der König stimmte ihr zu und berief die besten Baumeister des Landes, damit sie ihr in Eile ein Schloß erbauten. Als es vollendet war, sprach die Prinzessin zu ihm: »Es ziemt sich nicht, daß die Braut des Königs allein wohne. Daher mußt Du mir elf Jungfrauen aus den edelsten Geschlechtern Deines Reiches zu Genossinnen geben.« Der König befahl, daß man elf Fürstentöchter ihr als Gespielinnen zuführe, und ließ für jede ein reiches Gemach herrichten. Sie pflegten sich in einem großen Saale zu versammeln und trieben Scherz und Lustbarkeit aller Art, sangen Lieder und spielten auf ihren Lauten und Flöten. Und es kam der Tag, da der König Boten in alle Teile seines Landes entsandte und entbieten ließ, daß sich alle Edlen an seinem Hofe begeben möchten, um die Hochzeit mitzufeiern. Da die Prinzessin gewahr wurde, daß die Vermählung nahe bevorstünde, lud sie an einem Morgen, da das Meer spiegelglatt war, all ihre Gespielinnen ein, den Tag auf ihrem Schiffe zu verbringen. Sie zogen mit ihr aufs Meer; aber wäh-

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rend des Mahles reichte sie ihnen einen Wein, der von so betäubender Süße war, daß sie einschlummerten und nicht sahen, wie der Himmel sich mit Wolken bedeckte. Da löste, von keinem Menschen bemerkt, die Kaisertochter das Schiff vom Ufer, zog die Segel auf und ließ es vom Winde ins Meer treiben. Als es schon weit auf offener See war und ein Sturm heftig tobte, erwachten die Mädchen und begehrten angstvoll, ans Ufer zurückzufahren. Doch die Prinzessin zeigte ihnen, daß sie längst schon fern vom Lande auf den Wogen trieben. Sie fragten bestürzt, was sich zugetragen habe; sie aber sagte ihnen, daß ein wütender Windstoß die Pflöcke ausgerissen habe, an denen das Schiff befestigt war, und daß jetzt keine Möglichkeit mehr sei, umzukehren. Indessen legte sich der Sturm, und die Fürstentöchter ergaben sich in ihr Schicksal. Sie erheiterten sich beim Anblick der ruhigen Wellen, griffen zu ihren Instrumenten und sangen wie vordem und fanden bald Gefallen an dem freien, fahrenden Leben. Indes blickte der König aufs Meer und sah, daß das Schiff der Prinzessin nicht mehr am Ufer lag. Er sandte Männer auf Boote, daß sie nach dem Schiff forschten; allein sie kehrten unverrichteter Dinge zurück. Der König ahnte nicht, daß seine Braut mit dem Schiffe entflohen sei, er vermutete sie mit ihren Gespielinnen im Palaste. Er schämte sich, ihr das Geschehnis mitzuteilen, denn das kostbare Schiff enthielt all ihren Besitz, und er hatte ihr versprochen, daß es bis zu ihrer Hochzeit unversehrt vor dem Schlosse liegen solle. Er wagte nicht, es ihr selbst zu sagen, und beschloß, eine der elf Fürstentöchter vor sich bringen zu lassen, damit diese es auf kluge Weise ihrer Herrin kund tue. Die Diener durchsuchten die Gemächer der Jungfrauen, aber alle waren leer. Indessen war die Nacht herangezogen. Nun bat der König seine Mutter, eine alte, erfahrene Frau, zu seiner Braut zu gehen und ihr den Verlust des Schiffes zu melden. Als sie aber in die Gemächer der Prinzessin trat, waren auch diese verlassen. Da war der Schreck und die Trauer groß. Und als wenige Tage darauf die Hochzeitsgäste kamen, um das Fest zu begehen, fanden sie den König in Trübsal versunken und erfuhren, daß die Königsbraut mit ihren Genossinnen verschwunden sei. Auch die elf Fürsten, die Väter der Jungfrauen, waren unter den Geladenen; sie erhoben sich voll Zorn wider den König und begehrten, daß er ihnen ihre Kinder wiedergebe. Als der König dies nicht konnte, beschlossen sie, ihn der Herrschaft zu entheben und ihn solange aus dem Reiche zu verbannen, bis er ihre Töchter wiederbringe. Und der König verließ arm und einsam das Land. Die Kaisertochter aber zog mit ihren Gefährtinnen auf dem Meere dahin. Eines Tages wurde das Schiff in die Nähe einer grünen Insel getrieben, die den Mädchen so wohl gefiel, daß sie beschlossen, dort zu landen.

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Sie zogen singend ins Innere der Insel, wo sie eine blühende Wiese fanden, auf der sie sich niederließen, um Kränze zu winden. Da wurden sie von zwölf Räubern, die das Eiland beherrschten, überrascht und gefangen genommen. Es waren riesenstarke, wilde Gesellen, so daß an kein Entrinnen zu denken war. Sie schleppten die Mädchen zu ihrem Hause, das mit kostbaren Juwelen und Schätzen ausgestattet war, die die Zwölf auf ihren räuberischen Seefahrten erbeutet hatten. Sie führten die Jungfrauen in einen Saal und hießen sie dort warten, bis sie ihnen kund täten, was über sie beschlossen sei. Während sie sich aber berieten, trat die Kaisertochter auf den Anführer zu und sprach: »Wer seid Ihr?« Da antwortete er: »Wir sind Räuber.« Sie aber sprach: »Auch wir sind Räuber; seid Ihr es mit Eurer Kraft, so sind wir es durch unsere Klugheit! Wir haben viele Schätze erbeutet, die wir Euch zeigen werden. Was taugt es Euch, Böses wider uns zu sinnen? Ist es nicht besser, Ihr nehmt uns zu Frauen und teilt mit uns unsere Reichtümer? Wir wollen Euer Haus führen, Euch auf Euren Fahrten begleiten und mit unserer List Euch beistehen.« Die Räuber stimmten ihr zu, und sie führte sie aufs Schiff und zeigte ihnen all ihre Schätze. Nun führten die Räuber sie gleichfalls an allen Orten herum, wo sie ihre Beute verborgen hielten. Die Prinzessin bat um einen Tag Frist, damit sie das Haus zur Vermählung rüsten könnten; dann sollte sich jeder der Räuber unter ihnen seine Frau wählen. In der Nacht aber waren die Unholde fröhlich, zechten und würfelten bis ins Morgengrauen, bis sie endlich in einen tiefen Schlaf verfielen. Da ließ die Kaisertochter von ihren Gefährtinnen starke Seile vom Schiffe bringen. Sie fesselten die Räuber, nahmen die Kostbarkeiten und luden sie auf ihr Schiff. Dann hißten sie die Segel und entkamen glücklich aufs weite Meer. Sie beschlossen, von nun ab nicht mehr wie Frauen gekleidet zu gehen, sondern legten Männertracht an. Zur selben Zeit regierte ein junger König, der unternahm mit seiner Frau und den Großen seines Reiches eine Lustfahrt ans Meer. Scherz und Jubel herrschten auf ihrem Schiffe; einer aus dem Gefolge des Königs begann im Übermut den Mastbaum emporzuklettern, aber es gelang ihm nicht, die Spitze zu erreichen. Sodann versuchte es ein zweiter und ein dritter, und auch sie brachten es, von der Sonnenhitze ermattet, nicht zu Stande. Endlich wollte der König selbst seine Gewandtheit zeigen, und er gelangte auf die Höhe. Während ihm alle auf dem Schiffe zujauchzten, ließ er plötzlich den Mastbaum los und stürzte ins Meer. Einen Augenblick waren alle vom Entsetzen gebannt, dann sprangen die Matrosen ins Wasser und brachten den König an Bord. Man versuchte ihn zum Leben zu erwecken, aber alle Bemühungen blieben fruchtlos. Indessen hatte sich ein anderes Schiff genähert, auf dessen Verdeck man zwölf junge

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Männer erblickte. Auf dem Königsschiffe waren Angst und Trauer eingekehrt, und in ihrer Ratlosigkeit riefen die Insassen die Männer auf jenem Fahrzeuge an, ob kein Heilkundiger unter ihnen sei. Da trat der Anführer jener Zwölf hervor und sprach: »Laßt mich den König sehen! Vielleicht kann ich ihm helfen!« Der Fremdling stieg herüber, beugte sich über den König und sah, daß er tot war. »Er ist nimmer zu retten,« sagte er, »die Sonne hat ihm das Hirn versengt.« Da wandten sie in tiefer Betrübnis das Schiff heimwärts und baten den Fremdling, mit ihnen zu ziehen und vor dem Volke Zeugnis abzulegen, daß sie an dem Tode des Königs unschuldig seien. So bestieg denn die Kaisertochter wieder ihr Schiff und fuhr hinter dem andern einher. Sie betrat mit der Königin und dem Gefolge das Land und gab Kunde vom Tode des Königs. Die Fürsten des Reiches hatten von nun ab großes Vertrauen zu dem unbekannten Jüngling und baten ihn, bei ihnen zu bleiben und ihnen seinen Rat zu erteilen. Der Fremde blieb mit seinen Genossen am Hofe, und sein Ansehen wuchs mit jedem Tage. Da nun der tote König keinen Erben hinterlassen hatte, wußte man nicht, wer das Land in Zukunft regieren sollte, und bedrängte die Königin, sie möge sich einen Gatten nehmen, damit das Volk einen Herrscher bekomme. Die Königin aber hatte an dem Jüngling großen Gefallen gefunden und war einverstanden, als die Fürsten beschlossen, ihn zu ihrem König auszurufen und ihr zu vermählen. Auch der Jüngling schien es zufrieden; er sandte Boten in alle Reiche der Welt und ließ ausrufen, daß alle Wanderer und Heimatlosen, alle Entflohenen und Vertriebenen zur Hochzeit kommen möchten. Weiter befahl er, daß man rings um die Königsstadt im Schatten alter Bäume Brunnen anlege, damit jeder Pilger, der des Weges käme, eine kühle Stätte zur Rast und einen Trunk zur Labe fände. Über den Brunnen aber sollte auf einer Säule das Bild des neuen Königs stehen, und bei jedem Brunnen sollte ein Wächter Acht haben, ob da vielleicht einer gezogen käme, der beim Anblick des Bildes erschräke oder sich unmäßig betrübe. Fänden sie einen solchen, so sollten sie ihn ergreifen und in Gewahrsam bringen, aber wohl halten und mit allem versorgen, was er bedürfe. Es kamen viele Wanderer in Trübsal und Elend daher, und die Kaiserstochter gab jedem aus ihren Schätzen so viel, daß ihm für sein Leben lang geholfen war. Drei waren dabei, die erschraken und betrübten sich vor ihrem Bilde; man ergriff sie und brachte sie in Gewahrsam und führte sie vor den Thron. Die Kaisertochter erkannte sie, es waren nämlich ihr Bräutigam, der Kaufmannssohn und der König, den man vertrieben hatte. Jene aber erkannten sie nicht, weil sie Männerkleider trug. Sie befahl den Dienern, die drei in Gewahrsam zu halten bis zum Tage der Vermählung. Am Morgen des Hochzeitstages aber erschien die Kaisertochter mit ihren elf

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Genossinnen in Frauengewändern und gab sich allen zu erkennen. Sie sprach zu dem einen der Drei: »Du, Kaufmann, Dich hat Dein Vater vertrieben, weil Dein Schiff mit den Waren verloren war. Hier ist Dein Schiff und Gold und Edelgestein dazu!« Und zum andern sprach sie: »Du, König, Dich haben sie verjagt wegen der elf Fürstentöchter! Hier sind sie; kehre zurück zu Deinem Lande und zu Deinem Königtum.« Sie dankte den Jungfrauen und verlieh ihnen reiche Geschenke. Zum letzten aber sprach sie: »Und Du, Königssohn, laß uns heimkehren in Dein Reich.« Und dann sagte sie der Königin und allen Großen des Reiches und allen, die zum Feste versammelt waren, wer sie sei und welches Leid sie um ihrer Liebe willen getragen habe. Da waren alle, die es hörten, bewegt ob ihrer Weisheit und ihrer Treue. Die Königin aber ließ ein Schiff ausrüsten, das die beiden in die Heimat führe, und sie und alle Fürsten des Landes gaben ihnen das Geleit in großen Ehren.

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Die Geschichten des Rabbi Nachman

MEINEM

G R O S S VAT E R

SALOMON BUBER

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DEM LETZTEN MEISTER DER ALTEN HASKALA BRINGE ICH DIESES WERK DER CHASSUIDUT DAR IN EHRFURCHT UND LIEBE

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Die Geschichten des Rabbi Nachman

Ich habe die Geschichten des Rabbi Nachman nicht übersetzt, sondern ihm nacherzählt. Ich habe es getan, weil mein Zweck kein philologischer ist. Die Geschichten sind uns in einer Schülerniederschrift erhalten, die die ursprüngliche Erzählung offenbar maßlos entstellt und verzerrt hat. Wie sie uns vorliegen, sind sie verworren, weitschweifig und von unedler Form. Ich war bemüht, alle Elemente der originalen Fabel, die sich mir durch ihre Kraft und Farbigkeit als solche erwiesen, unberührt zu erhalten und den Grundton einer jeden der so sehr verschiedenen Geschichten, den naiven und unmittelbar epischen der einen, den mystischen der anderen, den ethisch gedankenhaften einzelner, zu wahren. In dem einleitenden Teile habe ich versucht, die Atmosphäre des Buches darzustellen. Der Abschnitt, den ich »Die jüdische Mystik« überschrieben habe, ist demgemäß nur als eine erste und allgemeinste Einführung anzusehen. – S. Dubnow, dem Historiker des Chassidismus, möchte ich auch hier für seine biographischen und bibliographischen Mitteilungen, und M. J. Berdyczewski, dem Erforscher der chassidischen Seele, für seine mannigfachen Anregungen danken. FLORENZ, IM SOMMER 1906

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Rabbi Nachman von Bratzlaw, der 1772 geboren wurde und 1810 starb, ist vielleicht der letzte jüdische Mystiker. Er steht am Ende einer ununterbrochenen Überlieferung, deren Anfang wir nicht kennen. Man hat diese Überlieferung lange Zeit zu leugnen gesucht; sie kann heute nicht mehr angezweifelt werden. Man hat nachgewiesen, daß sie von persischen, dann von spätgriechischen, dann von albigensischen Quellen gespeist wurde; sie hat die Kraft des eigenen Stromes behauptet, der allen Zufluß aufnehmen konnte, ohne von ihm bezwungen zu werden. Freilich werden wir sie nicht mehr so ansehen dürfen, wie ihre alten Meister und Jünger es taten: als Kabbala, das heißt: als Übergabe der Lehre von Mund zu Ohr und wieder von Mund zu Ohr, in solcher Weise, daß jedes Geschlecht sie empfinge, aber jedes in einer weiteren und reicheren Offenbarung und Ausdeutung, bis am Ende der Zeiten die restlose Wahrheit verkündet würde; doch werden wir ihre Einheit, ihre Besonderheit und ihre starke Bedingtheit durch die Art und das Schicksal des Volkes, aus dem sie heraufwuchs, anerkennen müssen. Die jüdische Mystik mag recht ungleichmäßig erscheinen, oft trübe, zuweilen kleinlich, wenn wir sie an Eckhart, an Plotinos, an Laotse messen; sie wird ihre Brüchigkeit nicht verbergen können, wenn man sie gar neben den Upanishads betrachten wollte. Sie bleibt die wunderbare Blüte eines uralten Baumes, deren Farbe fast allzu grell, deren Duft fast allzu üppig wirkt, und die doch eines der wenigen Gewächse innerer Seelenweisheit und gesammelter Ekstase ist. Die mystische Anlage ist den Juden von Urzeiten her eigen; und ihre Äußerungen sind nicht, wie es gewöhnlich geschieht, als eine zeitweilig auftretende bewußte Reaktion gegen die Herrschaft der Verstandesordnung aufzufassen. Es ist eine bedeutsame Eigentümlichkeit des Juden, die sich in den Jahrtausenden kaum gewandelt zu haben scheint, daß sich die Extreme bei ihm aneinander entzünden, schneller und mächtiger, als bei irgend einem anderen Menschen. So geschieht es, daß mitten in einem unsäglich begrenzten Dasein, ja gerade aus seiner Begrenztheit heraus plötzlich mit einer Gewalt, die nichts zu bändigen versucht, das Schrankenlose hervorbricht und nun die widerstandlos hingegebene Seele regiert. Für diese Macht des Unbegreiflichen in enger Stille mag uns die Gottesvision Elijahus ein Sinnbild sein. Ein Anderes, Wesentlicheres kam hinzu. Wenn jede Seele sich ihre na-

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türliche Substanz aus den kräftigen, wertbetonten Bildern formt, die sie mit ihren Sinnen aufgenommen und mit ihrem Gefühl gefaßt hat, so muß der Seele des Juden von jeher diese natürliche Substanz gefehlt haben. Unvergleichlich mehr motorisch als sensorisch veranlagt, reagiert er auch in seinem ganz innerlichen geistigen Leben sehr viel intensiver, als er empfängt. Er gestaltet das Empfangene mehr zu Wortgedanken, Begriffen, als zu Bildgedanken, Vorstellungen, aus. Den vom Subjekte unabhängigen Gegenständen unendlich fremd, nur für die den Funktionen des Subjektes unterworfenen Gegenstände verständnisvoll (sogar für Spinoza ist die Natur more geometrico darlegbar), existiert der Jude nicht in Substanz, sondern in Relation. Er hat den höchsten Sinn für die allgemeinen und offenbaren, wie für die heimlichen und besonderen Beziehungen des Kosmos und der Psyche und weiß sie in mathematischen Formeln und in logischen Definitionen festzulegen oder in Rhythmen und Melodien auf das Meer der Ewigkeit auszuschicken. Aber er hat einen geringen Sinn für die ganze Wirklichkeit eines Baumes, eines Vogels, eines Menschen, der für sich ein absolutes, unerschöpflich reiches, so und so geartetes Dasein einschließt. Und sehr selten vermag er schaffend Dinge, Gegenstände, Gestalten sichtbar, greifbar, fühlbar hinzustellen. Und so verläuft auch sein Leben selbst nur in der Beziehung, nicht in dem Wesen: er opfert sich dem Nutzen hin, wenn er eine enge, er bringt sich einer Idee dar, wenn er eine weite Seele hat; niemals aber oder fast niemals lebt er mit den Dingen, sie geruhig pflegend und fördernd, liebreich zu der Welt und sicher in seinem Bestande. Es gibt jedoch ein Element, das all dies in gewisser Weise ersetzt, indem es der Seele des Juden einen Kern, eine Sicherheit, eine Substanz gibt, allerdings keine sensorische, objektive, sondern eine motorische, subjektive. Das ist das Pathos. Ich vermag es nicht zu analysieren, noch auch in eine Definition zu fassen. Es ist ein eingeborenes Eigentum, das sich einst mit allen anderen Qualitäten des Stammes aus dessen Orte und dessen Geschicken herausgebildet hat. Will man es immerhin umschreiben, so darf man es vielleicht als das Wollen des Unmöglichen bezeichnen. Es streckt die Arme aus, das Schrankenlose zu umfangen. Es trägt eine schlechthin unerfüllbare Forderung, wie das Pathos Mose und der Propheten die Forderung der absoluten Gerechtigkeit, wie das Pathos Jesu und Pauli die Forderung der absoluten Liebe; oder eine schlechthin unerfüllbare Absicht, wie das Pathos Spinozas die Absicht, das Sein zu formulieren; oder ein schlechthin unerfüllbares Verlangen, wie das Pathos Philons und der Kabbala das Verlangen nach der Vermählung mit Gott, die im Sohar »Siwwug« genannt wird. So wird die Seele, die in den wirklichen Dingen keinen Bo-

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den finden kann, von ihrer Leere und Unfruchtbarkeit erlöst, indem sie in dem Unmöglichen Wurzel schlägt. Kommt demnach die Kraft der jüdischen Mystik aus einer ursprünglichen Eigenschaft des Volkes, das sie erzeugt hat, so hat sich ihr des weiteren auch das Schicksal dieses Volkes eingeprägt. Das Wandern und das Martyrium der Juden haben ihre Seelen immer wieder in die Schwingungen der letzten Verzweiflung versetzt, aus denen so leicht der Blitz der Ekstase erwacht. Zugleich aber haben sie sie gehindert, den reinen Ausdruck der Ekstase auszubauen, und sie verleitet, Notwendiges, Erlebtes mit Überflüssigem, Aufgeklaubtem durcheinanderzuwerfen, und in dem Gefühle, das Eigene vor Pein nicht sagen zu können, am Fremden geschwätzig zu werden. So sind Schriften wie der »Sohar«, das Buch des Glanzes, entstanden, die ein Entzücken und ein Abscheu sind. Mitten unter rohen Anthropomorphismen, die durch die allegorische Ausdeutung nicht erträglicher werden, mitten unter öden und farblosen Spekulationen, die in einer verdunkelten, gespreizten Sprache einherstelzen, leuchten wieder und wieder Blicke der verschwiegenen Seelentiefen und Offenbarungen der letzten Geheimnisse auf. Das Pathos erniedrigt sich oft genug zur Rhetorik; diesem Sündenfalle waren die Juden von jeher ausgesetzt, und nicht immer bloß die mittelmäßigen. Aber immer wieder macht sich das Pathos frei und ist reiner und größer als zuvor. Am größten, wenn es die Gefahr erkennt, die ihm vom Worte droht. Sich mitteilend, weil es nicht anders kann, fühlt es doch die Unzulänglichkeit aller Mitteilung, fühlt die Unaussprechlichkeit des Erlebnisses, und glüht auf in Angst, von der eigenen Rede geschändet zu werden. »Komm und schau!« heißt es im »Sohar«; »Denken ist der Anfang von allem, was ist; aber also seiend ist es in sich beschlossen und unbekannt … Das wirkliche Denken ist mit dem Nichts verbunden und löst sich nicht von ihm.« Und als ein fremder Greis den Jüngern Simeon ben Jochais, des legendären Urmeisters der Kabbala, die Unvergänglichkeit der Energie verkündet – »Nichts fällt ins Leere, auch nicht die Worte und die Stimme des Menschen; alles hat seinen Ort und seine Bestimmung« –, da fahren sie vor ihm zurück, aber sie fürchten nicht für sich, sondern für ihn, der gesprochen hat; sie reden zu ihm: »O Greis, was hast du getan? Hätte es nicht besser getaugt, das Schweigen zu bewahren? Denn nun bist du davongetragen, ohne Segel und Mast, auf einem ungeheuern Meer. Wenn du aufsteigen wolltest, könntest du es nicht mehr, und im Niedersinken findest du den Abgrund ohne Boden.« In der Zeit des Talmuds war die mystische Lehre noch ein Geheimnis, das man nur einem »Meister in Künsten und kundig des Flüsterns« anvertrauen durfte, und von den Essäern wissen wir aus Josephus, wie sorg-

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sam sie das Mysterium behüteten und die geheimen Schriften, die ihnen als uralt galten. Erst später greift die Lehre über das Gebiet der Sekte und der persönlichen Übergabe hinaus. Die erste uns erhaltene Schrift, das pythagoreisierende »Buch der Schöpfung«, ist wahrscheinlich zwischen dem siebenten und dem neunten Jahrhundert entstanden, und der »Sohar« stammt – jedenfalls in seiner jetzigen Redaktion – aus dem Ende des dreizehnten; zwischen beiden liegt die Zeit der eigentlichen Entwicklung der Kabbala. Aber noch lange bleibt die Beschäftigung mit ihr auf enge Kreise beschränkt, mochte sie sich auch über Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland bis nach Ägypten und Palästina erstrecken. All die Zeit bleibt auch die Lehre selbst dem Leben fremd: sie ist Theorie im neoplatonischen Sinne, Gottschauen, und verlangt nichts von der Wirklichkeit menschlichen Daseins; sie fordert nicht, daß man ihr nachlebe, sie hat keine Fühlung mit dem Handeln, das Reich der Wahl, das der späteren jüdischen Mystik, dem Chassidismus, alles bedeutete, ist ihr nahezu gleichgültig; sie ist außermenschlich und berührt sich nur in der Betrachtung der Ekstase mit der seelischen Realität. Sie steht zwei anderen Mächten im Judentum gegenüber, der harten, allem persönlichen Leben feindlichen, um das »Gesetz« besorgten Strenggläubigkeit und dem von Aristoteles bestimmten, naturfernen Rationalismus, aber sie setzt dem Ethos der einen und dem des anderen kein eigenes entgegen, und so dringt ihr Sinn nicht ins Volk. Erst in den letzten Zeiten dieser Epoche werden neue Kräfte offenbar. Die Vertreibung der Juden aus Spanien gab der Kabbala den großen messianischen Zug. Der einzige energische Versuch der Diaspora, im Exil eine kulturschaffende Gemeinschaft und eine Heimat im Geiste zu begründen, hatte in Trümmern und Verzweiflung geendet. Der alte Abgrund tat sich wieder auf, und aus ihm stieg wieder, wie immer, der alte Erlösungstraum empor, ragend und gebieterisch wie nie zuvor seit den Tagen der Römer. Die Sehnsucht brennt: das Absolute muß Wirklichkeit werden. Auch der Messianismus der Juden war von jeher ein Wollen des Unmöglichen. Die Kabbala konnte sich ihm nicht verschließen. Sie nannte das Reich Gottes auf Erden »die Welt der Vollendung«. Sie nahm die Inbrunst des Volkes in sich auf. Und als sie es tat, zog sie im Volke ein, wie der Messias selbst in seiner Stadt. Die um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts beginnende neue Ära der jüdischen Mystik, die den ethisch-ekstatischen Akt des Einzelnen als Mitschaffen an der Erlösung verkündet, wird durch Isaak Lurja eröffnet. Er, der hundert Jahre vor Locke lehrte, alles Seiende bestehe aus Substanz und Erscheinung und es sei keine objektive Erkenntnis gegeben, war in seinen Gedanken über die Emanation der Welt aus Gott und die demiur-

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gischen Zwischenpotenzen fast durchaus von der älteren Kabbala abhängig; aber in seiner Darstellung der unmittelbaren Wirkung der Menschenseele, die sich läutert und vollendet, auf Gott und Welterlösung gibt er den alten Weisheiten eine neue Gestalt und eine neue Folge. Schon im Talmud heißt es, der Messias werde kommen, wenn alle Seelen in das leibliche Leben eingetreten sein würden. Die Kabbalisten des Mittelalters glaubten zu erkennen, ob die Seele eines Menschen, der vor ihnen stand, aus der Welt des Ungeborenen in ihn niedergestiegen oder mitten in ihrer Wanderung bei ihm eingekehrt sei. Der Sohar und die spätere Kabbala bauten die Lehre aus, die wir bei Lurja endgültig gefaßt finden. Es gibt danach zwei Formen der Metempsychose: den Kreisgang oder die Wanderung, Gilgul, und den Überschwang oder die Schwängerung, Ibbur. Gilgul ist das Eintreten von Seelen, die auf der Fahrt sind, in einen Menschen im Augenblicke seiner Zeugung oder Geburt. Aber auch ein bereits mit einer Seele begabter Mensch kann in irgend einem Moment seines Lebens eine oder mehrere Seelen empfangen, die sich mit seiner vereinigen, wenn sie mit ihr verwandt, das heißt, aus derselben Ausstrahlung des Urmenschen entstanden sind. Die Seele eines Toten verbindet sich der eines Lebenden, um ein unvollendetes Werk, das sie im Sterben lassen mußte, vollbringen zu können. Ein hoher abgeschiedener Geist steigt in ganzer Lichtfülle oder in einzelnen Strahlen zu einem unfertigen hinab, um bei ihm zu wohnen und ihm zur Vollendung beizustehen. So wird Prophetie geboren. Oder zwei unvollkommene Seelen vereinigen sich, um einander zu ergänzen und zu läutern. Kommt über eine dieser Seelen Schwäche und Hilflosigkeit, dann wird die andere ihre Mutter, trägt sie in ihrem Schoße und nährt sie mit dem eigenen Wesen. Auf allen diesen Wegen vollzieht sich die Reinigung der Seelen von der Urtrübung und die Erlösung der Welt aus der ersten Verwirrung. Ist dieses getan, haben alle die Wegreise vollzogen, dann erst zerbricht die Zeit, und das Gottesreich hebt an. Als letzte steigt die Seele des Messias ins Leben herab. Durch ihn geschieht die Vergöttlichung der Welt. Lurjas eigentümliche Tat ist, daß er diesen Weltprozeß auf die Haltung einiger Menschen stellen wollte. Er verkündete eine unbedingte Lebensführung derer, die sich der Erlösung weihen, in Tauchbädern und Nachtwachen, in ekstatischer Betrachtung und absoluter Liebe gegen alles und alle, würde die Seelen gleichsam in einem Sturme läutern und das messianische Reich herbeirufen. Das Grundgefühl, dessen ideelle Äußerung diese Lehre war, fand nahezu hundert Jahre später seinen elementaren Ausdruck in der großen messianischen Bewegung, die den Namen Sabbatai Zewis trägt. Sie war eine Entladung der unbekannten Volkskräfte und eine Offenbarung der

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verborgenen Wirklichkeit der Volksseele. Die scheinbar unmittelbaren Werte, das heile Leben und der Besitz, waren plötzlich schal und nichtswürdig geworden, und die Menge vermochte es, diesen zu verlassen wie ein überflüssiges Gerät und jenes nur noch mit leichter Hand zu halten wie ein Gewand, das dem Laufenden entgleitet und das er, wenn es ihn allzusehr hemmt, die Finger öffnend fahren läßt, um nackt und frei das Ziel zu ereilen. Der vermeintlich von der Vernunft regierte Stamm entbrannte im Eifer um die Botschaft. Auch diese Erhebung brach zusammen, jämmerlicher und entsetzlicher zugleich als irgend eine der früheren. Und nun verinnerlicht sich der Messianismus wieder. Das eigentliche Zeitalter der Mortifikation beginnt. Der Glaube, durch mystische Übung die oberen Welten zwingen zu können, dringt immer tiefer ins Volk ein. Um das Jahr 1700 vollzieht sich jener asketische Zug der Fünfzehnhundert in das heilige Land, der in Tod und Elend aufgeht. Aber auch Einzelne bereiten sich in rücksichtsloser Entäußerung. In Polen namentlich reift in vielen der Wille, sich und die Welt zu entsühnen. Manche von ihnen ziehen, da keine einzelne Kasteiung ihnen genugtun kann, auf die Wanderung, »in die Verbannung«, wie sie es nennen, nehmen nirgends Speise oder Trank an, und wandern so, von ihrem Willen getragen, bis mit ihrer Kraft auch ihr Leben erlischt und sie auf fremdem Orte unter Fremden tot hinfallen. Diese Märtyrer des Willens sind die Vorläufer der letzten und höchsten Entwicklung der jüdischen Mystik, des um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandenen Chassidismus, der sie zugleich fortsetzte und widerlegte. Der Chassidismus ist die Ethos gewordene Kabbala. Aber das Leben, das er lehrt, ist nicht Askese, sondern Freude in Gott. Chassid bedeutet: der Fromme; aber der Chassidismus ist kein Pietismus. Er entbehrt aller Sentimentalität und Gefühlsostentation. Er nimmt das Jenseits ins Diesseits herüber und läßt es in ihm walten und es formen, wie die Seele den Körper formt. Sein Kern ist eine höchst gotterfüllte und höchst realistische Anleitung zur Ekstase, als zu dem Sinn und dem Gipfel des Daseins. Aber die Ekstase ist hier nicht, wie etwa bei der deutschen Mystik, ein »Entwerden« der Seele, sondern deren Entfaltung; nicht die sich beschränkende und entäußernde, sondern die s i c h v o l l e n d e n d e Seele mündet in das Absolute. In der Askese schrumpft das geistige Wesen, die Neschama, zusammen, sie erschlafft, wird leer und trübe; nur in der Freude kann sie wachsen und sich erfüllen, bis sie, alles Mangels ledig, zum Göttlichen heranreift. Niemals hat eine Lehre das Gottfinden mit einer solchen Kraft und in einer solchen Reinheit auf das Selbstsein gestellt. Wieder war es Polen, das sich schöpferisch erwies, und vor allem die

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steppenreiche Ebene der Ukraine. Polen hatte eine feste, durch die fremde, verachtende Umwelt in sich gestärkte jüdische Gemeinschaft, und zum erstenmal seit der spanischen Blüte entwickelte sich hier ein eigenes Leben in Werken und Werten, eine dürftige und gebrechliche aber selbständige Kultur. Waren so die Voraussetzungen für geistiges Wirken überhaupt gegeben, so konnte eine mystische Lehre doch nur auf dem Boden der Ukraine emporwachsen. Hier herrschte seit den kosakischen Judenmetzeleien unter Chmielnicki ein ähnlicher Zustand der tiefsten Unsicherheit und Verzweiflung, wie jener, der einst nach der Vertreibung aus Spanien die Kabbala verjüngte. Und dann war der Jude hier nicht, wie in den übrigen polnischen Ländern, ein Städter, der in dem engen rabbinischen Studium vertrocknete oder in der Atmosphäre der geschäftigen Masse verflachte, sondern zumeist ein Dörfler, einsamer und sich selbst näher, begrenzt im Wissen, aber ursprünglich im Glauben und stark in seinem Traume von Gott. Der Begründer des Chassidismus war Israel aus Miedzyborz, der »Baal schem«, das ist Meister des wundersamen Gottesnamens, genannt wurde. Um ihn und seine Jünger spann sich eine farbenreiche und innige Legende. Er war ein schlichter, wahrhaftiger Mann, unerschöpflich an Inbrunst und lenkender Gewalt. Die Lehre des Baalschem ist uns sehr unvollkommen erhalten. Er selbst schrieb sie nicht nieder; und auch mündlich teilte er, wie er einmal sagte, nur das mit, was ihn wie ein allzu volles Gefäß überquellen machte. Unter seinen Schülern scheint er keinen als würdig erfunden zu haben, seinen Gedanken restlos aufzunehmen; ein Gebet von ihm wird überliefert: »Herr, dir ist bewußt und offenbar, wie vieles in mir an Erkennen und Vermögen ruht, und da ist kein Mensch, dem ich es kundtun könnte.« Von dem aber, was er lehrte, scheint das meiste ganz unzulänglich niedergeschrieben worden zu sein, oft gänzlich entstellt. Beim Durchblicken einer solchen Niederschrift soll er einmal ausgerufen haben: »Hier ist nicht e i n Wort, das ich gesagt hätte.« Dennoch ist der wirkliche Sinn seiner Grundlehren unverkennbar. Gott, so lehrt der Baalschem, ist das Wesen jedes Dinges. Wer, ungeblendet vom Scheine, in das Wesen der Dinge schaut, der schaut Gott. Gott spricht nicht aus den Dingen, sondern er denkt in den Dingen; und so kann er nur mit der innersten Kraft der Seele empfangen werden. Ist diese Kraft freigemacht, dann ist es dem Menschen an jedem Orte und zu jeder Zeit gegeben, sich mit Gott zu vereinigen. Jede Handlung, die in sich geweiht ist, mag sie noch so niedrig und sinnlos erscheinen dem von außen Herankommenden, ist der Weg zum Herzen der Welt. In allen Dingen, auch in den scheinbar völlig toten, wohnen Funken des Lebens,

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die in die bereite Seele fallen. Was wir das Böse nennen, ist kein Wesen, sondern ein Mangel; es ist »Gottes Exil«, die unterste Stufe des Guten, der Thron des Guten; es ist – in der Sprache der alten Kabbala – die »Schale«, die das Wesen der Dinge umgibt und verhüllt. Es gibt kein Ding, das böse und der Liebe unwürdig wäre. Auch die Triebe des Menschen sind nicht böse; »je größer ein Mensch, desto größer ist sein Trieb«; aber der Reine und Geheiligte macht aus seinem Triebe »einen Wagen für Gott«, er löst ihn von aller Schale ab und läßt seine Seele sich daran vollenden. Der Mensch soll seine Triebe in ihren Tiefen fühlen und sie besitzen. »Er soll den Stolz lernen und nicht stolz sein, den Zorn kennen und nicht zürnen. Der Mensch vermag sich mit allen Wonnen zu kasteien. Er vermag zu blicken nach welchem Orte er will und sich nicht über seine vier Ellen hinaus zu verlieren; Worten des Scherzes zu lauschen und sich zu betrüben. Und so geschieht es, daß er hier sitzt und sein Herz ist oben, er ißt und vergnügt sich in dieser Welt und genießt aus der Welt der geistigen Seligkeit.« Das Schicksal des Menschen ist nur der Ausdruck seiner Seele: wessen Gedanken an unreinen Dingen umherstreifen, erlebt Unreines, wer sich ins Heilige versenkt, erfährt das Heil. Des Menschen Denken ist sein Sein: wer an die obere Welt denkt, ist in ihr. Alles äußere Gesetz ist nur ein Aufstieg zum inneren; der letzte Zweck des Einzelnen ist, selbst ein Gesetz zu werden. In Wahrheit ist die obere Welt kein Außen, sondern ein Innen; es ist »die Welt des Gedankens«. Ist demnach das Leben des Menschen in jedem Punkte und in jeder Tätigkeit dem Absoluten geöffnet, so soll er es auch in Weihe leben. Jeder Morgen ist eine neue Berufung. »Er erhebe sich eilend und in Eifer von seinem Schlafe, denn er ist geheiligt und ein anderer Mensch worden und ist würdig zu erzeugen und ist wie Gott, der die Welten erzeugt.« Auf allen Wegen findet der Mensch Gott, und alle Wege sind voll der Einung. Aber der reinste und vollkommene ist der Weg des Gebetes. Wer in seinem Feuer betet, in dessen Kehle redet Gott selbst das innere Wort. Dieses ist das Erlebnis; das äußere Wort ist nur sein Gewand. »Wie von brennenden Hölzern der Rauch emporsteigt, aber die schweren Teile am Boden haften und zu Asche werden, so steigt vom Gebete nur der Wille und die Inbrunst empor, aber die äußeren Worte zerfallen zu Asche.« Je höher die Inbrunst, je gewaltiger die Intentionskraft, Kawwāna, desto unbedingter ist die Vereinigung. »Es ist eine große Gnade von Gott, daß der Mensch nach dem Gebete am Leben bleibt, denn nach der Natur müßte er sterben, weil er seine Kraft begraben und in sein Gebet eingetan hat wegen der Kawwāna, die er hegt … Er denke vor dem Gebete, daß er bereit ist zu sterben um der Kawwāna willen.« Aber das Gebet soll nicht

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in Pein und Buße, sondern in großer Freude geschehen. Freude allein ist wahrhafter Gottesdienst. War die Ekstase der Kabbala nur ein Mittel, wandernde Seelen zu lösen, dem Messias zu rufen, der oberen Welt zu befehlen, so ist sie hier im Grunde sich selbst Sinn und Ziel geworden. Die Lehre des Baalschem fand bald Eingang im Volke, das ihrer Idee nicht gewachsen war, aber ihr Gottesgefühl mitschwingend empfing. Die Frömmigkeit dieses Volkes hatte von jeher einen Hang zum mystisch Unmittelbaren; sie nahm die neue Botschaft auf wie einen erhobenen Ausdruck ihrer selbst. Die Verkündigung der Freude in Gott wirkte nach einem Jahrtausend freudenbarer, freudenfeindlicher Gesetzesherrschaft wie eine Befreiung. Dazu kam, daß das Volk sich bisher einer durchaus unfruchtbaren, wirklichkeitsfremden, tatenlosen, aber nie angezweifelten »geistigen Aristokratie« von Talmudgelehrten gegenüber gesehen hatte. Nun wurde es mit e i n e m Schlage von diesem Gegensatze erlöst und auf den eigenen Wert gestellt. Nun wurde ihm gesagt, nicht das Wissen entscheide über den Rang eines Menschen, sondern die Reinheit und Weihe seiner Seele, das ist: seine Gottnähe. Die neue Lehre kam wie eine Offenbarung dessen, was man bisher nicht zu ahnen wagte. Sie wurde wie eine Offenbarung aufgenommen. Natürlich sagte die Orthodoxie der neuen Ketzerei, der Chassidut, den Krieg an und führte ihn mit allen Mitteln, Bannspruch, Synagogenschließung und Bücherverbrennung, Gefangennahme und öffentlicher Mißhandlung der Führer, schrak auch vor Denunziationen an die Regierung nicht zurück. Dennoch konnte hier der Ausgang des Kampfes nicht zweifelhaft sein: die religiöse Starrheit konnte der religiösen Erneuerung nicht standhalten. Ein gefährlicherer Gegner erstand dieser später in der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung, die im Namen des Wissens, der Zivilisation und Europas gegen den »Aberglauben« auftrat. Aber auch sie, die die Gottessehnsucht des Volkes widerlegen wollte, hätte der Bewegung, die diese Sehnsucht stillte, nicht ein Fußbreit Bodens abzuringen vermocht, wenn nicht im Chassidismus selbst eine Zersetzung begonnen hätte, die ihn zu der maßlosen Entartung brachte, in die er heute versenkt ist. Ihre erste Ursache bestand darin, daß der Chassidismus auch nach außenhin eine Forderung des Unmöglichen war: daß er vom Volke eine seelische Intensität und Sammlung verlangte, die es nicht besaß. Er gab ihm die Erlösung, aber um einen Preis, den es nicht zahlen konnte. Als die Brücke zu Gott wies er eine Reinheit und Geklärtheit des Blickes, eine Spannung und Konzentration des geistigen Lebens, deren immer nur wenige fähig sind; er aber sprach zu vielen. Und so entstand aus der Seelennot des Volkes eine Institution von Mittlern, wel-

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che Zaddikim, das ist Gerechte, genannt wurden. Die Theorie des Mittlers, der in beiden Welten lebt und das Bindeglied zwischen ihnen ist, durch den das Gebet emporgetragen und der Segen herabgebracht wird, entwickelte sich immer üppiger und überwucherte zuletzt alle andere Lehre. Der Zaddik machte die chassidische Gemeinde reicher an Gottessicherheit, aber unendlich ärmer an dem einzig Wertvollen: dem eigenen Suchen und Eifern. Dazu kam der widerlichste äußere Mißbrauch. Zuerst wurden nur wirklich Würdige, meist Schüler und Schülers-Schüler des Baalschem, zu Zaddikim erhoben. Aber weil der Zaddik von seiner Gemeinde reichlich Lebensunterhalt bekam, um sich ganz seinem Dienste ergeben zu können, drängten sich bald niedrige Menschen zur Pfründe, und weil sie nichts anderes bieten konnten, verschafften sie sich durch allerlei erbärmliche Wundertuerei ein Anrecht. Allmählich entstanden richtige Dynastien von Zaddikim. Mochte deren Prachtliebe auch zuweilen der Größe nicht ermangeln, so riß doch gleichzeitig eine unsägliche Gaukelei und Heuchelei ein, die die Reineren abstieß, die Bestimmbaren erniedrigte und die dunkelste Menge herbeizog. So artete der Chassidismus zuletzt in wüstes, lichtloses Sektenwesen aus.

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Von der tiefsten Tragik ist die Zeit der beginnenden Entartung des Chassidismus getragen. Da stehen Männer auf, die den Verfall kommen sehen und ihn aufhalten wollen, aber sie vermögen es nicht. Von denen, die abseits vom Zaddikismus den reinen Gedanken der Lehre wiederherzustellen versuchen, sei der große Denker Schneor Salman genannt, der die pantheistischen Elemente der chassidischen Idee zu einem System von monumentaler Kraft und Einheit ausgestaltete. Aber es konnte nicht so volkstümlich werden, daß es der Zersetzung in Wahrheit entgegengewirkt hätte. Neben ihm und den ihm Nacheifernden jedoch gab es auch solche, die die Verkehrtheiten des Zaddiktums wohl erkannten, aber es nicht vernichten, sondern heilen wollten, indem sie an Stelle des leeren und verlogenen Wundertuers den geweihten und in der Hingabe lebenden Mittler forderten. Diese zerbrachen an der Kleinheit der Menschen. Wie die Propheten Israels, so waren auch diese seine späten Söhne keine Reformatoren, sondern Revolutionäre; sie forderten nicht das Bessere, sondern das Unbedingte; sie wollten nicht erziehen, sondern erlösen. Unter ihnen der Größte, der Reinste, der Tragischste ist R a b b i N a c h m a n b e n S s i m c h a , der nach dem Hauptorte seines Wirkens R a b b i N a c h m a n v o n B r a t z l a w genannt wird. Er sann darauf, »der Krone den alten Glanz wiederzugeben«. Der Zorn wider die Tempelschänder brannte in ihm: »Dem bösen Geiste,« pflegte er zu sagen, »kommt es schwer an, sich mit der ganzen Welt zu mühen, um sie vom wahren Wege abzuleiten; darum setzt er einen Zaddik dahin und einen Zaddik dorthin.« Er wollte nicht »ein Führer sein wie die Führer, zu denen die Frommen fahren und sie wissen nicht, warum sie fahren«. Er hatte einen großen Traum vom Zaddik, der »die Seele des Volkes« ist. Diesem Traume opferte er alles Glück und alle Hoffnung seines persönlichen Lebens hin. In ihn legte er all sein Ringen und alle seine Gewalten. Um seiner willen verlor er seine liebsten Menschen. Durch ihn war er arm und von Feinden umgeben bis an sein Ende. Aus ihm fand er, jung und vor dem Vollbringen, seinen Tod. Und weil er so ganz in seinem Traume lebte, verschmähte er es, seine Lehre niederzuschreiben, also daß wir, wie von dem ersten Meister des Chassidismus, so von dem letzten keine wahrhafte und unmittelbare Botschaft besitzen und uns nur aus den fragmentarischen und offenbar entstellenden Berichten seiner Schüler die mit geringem Verständnis seine Reden, Gespräche und Erzählungen aufzeichneten und sein Leben schilderten, nach mancher-

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lei Ausscheidung, Vergleichung und Ergänzung ein recht unvollständiges Bild seiner Wirklichkeit zu machen vermögen. Rabbi Nachman war ein Urenkel des Baalschem und wurde in der Stadt des Baalschem, Miedzyborz, geboren. Seine Kindheit wird als ein angespanntes Suchen und Streiten geschildert. Er achtete des Gebotes nicht, in Freude zu dienen, quälte sich ab, fastete und mied die Ruhe, um der Gesichte teilhaftig zu werden. Die Tradition des ekstatischen Lebens, die in seinem Hause mächtig war, beherrschte den Knaben, und er konnte den langsamen, schweren, von Tag und Nacht gegliederten, von den Geschäften der Stunde bestimmten Gang des Daseins nicht ertragen. Auch der Gottesdienst der Gemeinde brachte ihm keine Offenbarung. Durch das wohl von der alten Starrheit gelöste, aber in freierer Form weiterbestehende hebräische Ritual der Chassidim fühlte er sich wie gefesselt im Angesichte Gottes. So lief er in den Nächten an irgend einen menschenleeren Ort und redete zu Gott in der Volkssprache, in jenem zärtlich derben, schwermütigen und bitteren Idiom, das der Europäer Jargon nennt. Aber Gott antwortete ihm nicht. Da schien es ihm, »man achte seiner nicht, ja man entferne ihn vom Dienste, man wolle ihn ganz und gar nicht«, und der Sturm der Verzweiflung kam über ihn und schüttelte ihn, bis an der tiefsten Verzweiflung die Ekstase sich entzündete und der Knabe die ersten Schauer der Verzückung empfand. Er selbst erzählte einmal in späten Jahren von einem solchen Erlebnis. Er hatte den Sabbat in großer Weihe empfangen wollen, war nach Mitternacht in das Tauchbad gegangen und hatte sich in Bereitschaft der Seele zur Heiligung in das Wasser getaucht. Dann war er nach Hause gekehrt und hatte die Sabbatkleider angetan. So ging er nun in das Bethaus und wandelte in dem einsamen, dunkeln Raume hin und her, alle Kräfte gespannt im Willen, die obere Seele, die am Sabbat in den Menschen hinabsteigt, zu empfangen. Und er band alle Sinne in e i n e n und ballte alle Wucht seines Mutes zusammen, um etwas zu schauen, denn nun m u ß t e ihm die Offenbarung werden. Aber er sah nichts. Er wollte vergehen um zu schauen, aber er sah nichts. Indessen kamen die ersten Beter in das Haus und begaben sich an ihre Plätze und begannen das Hohelied zu sprechen, ohne den Knaben zu bemerken. Da kroch er an einen Betständer und legte sich unter den Ständer hin und lehnte den Kopf an dessen Fuß, und die Tränen kamen ihm. So weinte er ganz leise, ohne innezuhalten und ohne aufzuschauen, Stunden und Stunden, bis seine Augen geschwollen waren von dem vielen Weinen und der Abend anbrach. Da öffnete er die Augen, die das Weinen geschlossen hatte, und die Kerzenflammen des Bethauses schlugen ihm entgegen wie ein großes Licht, und seine Seele wurde ruhig an dem Lichte. So litt er oft

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um Gott und wollte nicht ablassen. Aber vor den Leuten hielt er sein Leben und seinen Willen geheim; er stellte allerlei Listen an, um sein Fasten zu verbergen, und wenn er auf die Straße ging, trieb er alle Art von Kindereien, Scherze und Streiche, wie jener giullare di Dio, der große Franziskanerdichter Jacopone da Todi, bis es keinem Menschen in den Sinn kam, daß es den Knaben nach Gottes Dienste verlangte. Aber das Joch des Dienstes war ihm nicht immer leicht: er hatte ein fröhliches, starkes Gemüt und einen frischen Sinn für die Schönheit der Welt. Erst später gelang es ihm, gerade darauf die Weihe zu stellen und in Freude zu dienen. Damals aber schien ihm die Welt noch ein Außen, das ihn hinderte, zu Gott zu kommen. Um im Kampfe zu bestehen, dachte er an jedem Morgen, nur dieser e i n e Tag sei ihm noch gegeben; und in der Nacht lief er auf das Grab des Urgroßvaters, daß er ihm beistehe. So flossen die Jahre dieser Kindheit dahin. Mit vierzehn Jahren wurde er dem Brauche der damaligen Judenheit gemäß verheiratet und ließ sich in dem Dorfe nieder, wo sein Schwiegervater wohnte. Hier kam er zum ersten Male der Natur nahe, und sie griff ihm ans innere Herz. Den Juden, der nach einer in der Enge der Stadt verlebten Kindheit in Jünglingsjahren in das freie Land hinauskommt, erfaßt eine namenlose, dem Nichtjuden unbekannte Gewalt. Ihm hat eine tausend Jahre lange Vererbung der Naturfremdheit die Seele in Banden gehalten. Und nun ihn, wie in einem zauberhaften Reiche, statt des graugelben Tones der Gasse Waldgrün und Waldblüte umgibt, stürzen auf einmal die Mauern seines Geistesghettos nieder, die die Macht des Vegetativen berührt hat. Selten hat sich dieses Erleben in so eindringlichem Einflusse kundgegeben, wie bei Nachman. Der Hang zur Askese weicht von ihm, der innere Streit endet, er braucht sich um die Offenbarung nicht mehr zu mühen, leicht und froh findet er seinen Gott in allen Dingen. Das Boot, auf dem er, des Ruderns unkundig aber vertrauensvoll, auf den Fluß hinausfährt, führt ihn zu Gott, dessen Stimme er im Schilfe hört; und das Pferd, das ihn, ihm zu seinem Staunen gehorchend, in den Wald trägt, bringt ihn Gott näher, der von allen Bäumen ihn anblickt und mit dem jedes Kraut auf du und du ist. In allen Berghängen und in allen versteckten kleinen Tälern der Gegend ist er heimisch, und jedes ist ihm eine andere Art, zu Gott zu kommen. Damals bildete sich in ihm die Lehre von dem Dienste in der Natur aus, die er später immer wieder und in immer neuem Preise seinen Schülern verkündete. »Wenn der Mensch gewürdigt wird,« redete er zu ihnen, »die Gesänge der Kräuter zu vernehmen, wie jedes Kraut sein Lied zu Gott spricht ohne alles fremde Wollen und Denken, wie schön und süß ist es, ihr Singen zu hören. Und daher ist es gar gut, in ihrer Mitte Gott zu dienen in einsamem

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Wandeln über das Feld hin zwischen den Gewächsen der Erde und seine Rede auszuschütten vor Gott in Wahrhaftigkeit. Alle Rede des Feldes geht dann in deine ein und steigert ihre Kraft. Du trinkst mit jedem Atemzuge die Lüfte des Paradieses, und kehrst du heim, ist die Welt erneuert in deinen Augen.« Die Liebe zu allem Lebendigen und Wachsenden ward innig stark in ihm. Als er einmal, in der letzten Zeit seines Lebens, in einem Hause schlief, das aus jungen Bäumen gebaut war, träumte es ihm, er liege inmitten von Toten. Am Morgen klagte er es dem Besitzer und klagte ihn an. »Denn wenn man einen Baum abhaut vor seiner Zeit, ist es, als ob man eine Seele gemordet hätte.« Von dem Dorfe kam er in ein Städtchen, wo er den einen und den anderen in der chassidischen Lehre zu unterweisen und unter den Frommen bekannt zu werden begann. Die Versuchung, wie die Zaddikim der Zeit zu sein und in Ruhm, Gewinn und Eitelkeit zu leben, trat an ihn heran, aber er widerstand ihr. Der Niedergang des Chassidismus bedrückte seine Seele. Er vermißte den Fortgang der Lehre; die Fackel, die von Hand zu Hand gehen sollte, war in müßigen Fingern erloschen. So stieg Nachman aus der Trauer der Wille auf, die Überlieferung zu erneuern und aus ihr »ein Ding zu machen, das ewigen Bestand hat«. Was die Kabbala nie gewesen war, sollte werden: die Lehre sollte von Mund zu Ohr gehen und wieder von Mund zu Ohr, sich stetig aus dem Reich der noch ungeborenen Worte erweiternd, getragen von einer unaufhörlich sich ergänzenden Schar der Boten, in jedem Geschlechte die Geister erweckend, die Welt verjüngend, »die Wildnis der Herzen in eine Wohnstätte Gottes wandelnd«. Aber er erkannte, daß er zu solchem Lehren die Kraft nicht aus den Büchern, sondern nur aus wirklichem Leben mit den Menschen und in ihnen schöpfen konnte. So näherte er sich dem Volke, nahm all sein Leid und seine Sehnsucht in sich auf, mochte ganz mit ihm zusammenwachsen. »Im Anfange,« erzählte er später, »begehrte ich von Gott, daß ich den Schmerz und die Nöte Israels leiden möge. Denn zuzeiten kam einer zu mir und sagte mir seinen Schmerz, und ich litt den Schmerz nicht. Und ich betete, daß ich den Schmerz Israels leide. Jetzt aber, wenn mir einer seinen Schmerz sagt, fühle ich seinen Schmerz mehr als er. Denn er kann andere Gedanken denken und den Schmerz vergessen, ich aber nicht.« So lebte er mit dem Volke, wie der Baalschem und seine Jünger es getan hatten, und fand in ihm seine Weihe. Aber bevor er viele zu lehren begann, wollte er den Segen des heiligen Landes empfangen, des Schicksalslandes, das »das Herz der Welt« und »der Gesang der Erde« ist. Er wollte die Gräber Simeon ben Jochais und Isaak Lurjas schauen und die Stimmen hören, die über der Stätte der Propheten schweben. Der Baalschem hatte nicht nach Palästina kommen

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können; Zeichen und Erscheinungen hatten ihn, wie die Legende erzählt, knapp vor dem Ziele umkehren heißen. Rabbi Nachman kam schon die Abreise schwer an; er war arm und wußte sich keine Hilfe, als seinen Hausstand aufzugeben, Frau und Kinder in Dienst oder in barmherzige Pflege zu Fremden zu tun und alles Gerät seiner Wohnung zu verkaufen, um die Kosten der Fahrt aufzubringen; doch erleichterten ihm die Frommen der Gegend, die von seinem Entschlusse hörten, die Ausführung, indem sie eine Geldsumme zusammenschossen und ihm übergaben. Die Seinen baten ihn, von der Reise abzulassen; aber er sagte immer nur: »Mein größerer Teil ist schon dort.« So trat er mit einem der Frommen, der ihn zu bedienen sich erbötig machte, 1798 die Fahrt an. Einer seiner Schüler hat sie später in naiver und rührender Weise beschrieben: wie der Rabbi keinem der Mitreisenden seinen Namen sagen will, wie er in Stambul, um sich an der Schwelle des heiligen Landes zu demütigen, barfuß, ohne Gurt und Oberkleid auf der Straße umhergeht, wie er des »Franzosenkrieges« (des ägyptischen Feldzuges) wegen lange in Stambul zurückgehalten wird, wie dann auf dem Meere ein Sturm sein Schiff überfällt, wie die Araber ihn für einen französischen Spion halten und nicht ans Land lassen wollen, wie er endlich doch den Boden Palästinas betritt und vor großer Freude »seine Seele von sich werfen« will, wie dann aber in der Höhle des Propheten Elijah eine große Schwermut ihn überkommt, all dies wird uns in einem abenteuerlich farbigen, glaubensvoll innigen Tone erzählt. Von dieser Reise an datierte Nachman sein eigentliches Leben. »Alles, was ich vor Erez Israel (dem Lande Israel) wußte, ist gar nichts,« pflegte er zu sagen und verbot, irgend eine seiner früheren Lehren niedergeschrieben zu erhalten. Palästina wurde für ihn eine Vision, die ihn nicht verließ; »mein Ort,« sagte er, »ist nur Erez Israel, und wohin ich auch fahre, ich fahre nach Erez Israel.« Und noch in späten Tagen der Krankheit und Müdigkeit versicherte er: »Ich lebe nur noch davon, daß ich in Erez Israel war.« Bald nach seiner Rückkehr ließ er sich in Bratzlaw nieder. Aber schon bevor er hinkam, hatten einige Zaddikim, die ihn seiner Anschauungen wegen haßten, einen heftigen Kampf gegen ihn entfacht, der bis an sein Lebensende dauerte und die wildesten Feindseligkeiten erzeugte; auch nach seinem Tode bekriegten die Gemeinden der anderen die seine und wollten von keinem Frieden wissen. Er selbst wunderte sich über den Streit nicht. »Wie sollen sie nicht wider uns streiten?« sagte er oft. »Wir sind gar nicht von der Welt des Jetzt, und deshalb kann uns die Welt nicht ertragen.« Es fiel ihm nicht ein, die Feindschaft zu erwidern. »Die ganze Welt ist voll des Streites, jedes Land und jede Stadt und jedes Haus. Aber wer in sein Herz aufnimmt die Wirklichkeit, daß der Mensch an

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jedem Tage stirbt, denn er muß jeden Tag ein Stück von sich seinem Tode abgeben, wie soll der noch seine Tage mit Streit verbringen können?« Er wurde nicht müde, in seinen Widersachern Gutes zu finden und sie zu rechtfertigen. »Bin ich es denn,« fragt er, »den sie hassen? Sie haben sich einen Menschen ausgeschnitzt und streiten wider ihn.« Und er wiederholte das Gleichnis des Baalschem: Einmal standen Spielleute da und spielten, und eine große Schar bewegte sich im Reigen nach der Stimme der Musik. Da kam ein Tauber heran, der nichts von Tanz und Klängen wußte, und verwunderte sich und dachte in seinem Herzen: »Wie närrisch sind doch diese Menschen: die einen schlagen mit ihren Fingern an allerlei Geräte und die andern drehen sich hin und her.« So rechtfertigte Rabbi Nachman seine Feinde. Ja, er sah ihren Zorn und ihr Wüten als einen Segen an: »Alle Worte des Lästerns und aller Grimm der Feindschaft wider den Echten und Schweigsamen sind wie Steine, die gegen ihn geworfen werden, und er baut aus ihnen sein Haus.« In Bratzlaw begann er viele zu lehren und viele versammelten sich um ihn. Das Lehren war für ihn ein Mysterium und sein eigenes Tun voll des Geheimnisses. Die Mitteilung war ihm nicht ein gewöhnlicher Vorgang, über den man nicht nachzusinnen braucht, weil er einem so sehr vertraut und geläufig ist, sondern seltsam und wunderbar wie etwas Neuerschaffenes. Man fühlt sein Staunen über den Weg des Wortes, wenn er sagt: »Das Wort bewegt eine Luft und diese die nächste, bis es zum Menschen gelangt, der empfängt das Wort des Genossen und empfängt seine Seele darin und wird darin erweckt.« Das Wort, das nur einen Sinneseindruck rasch und unzulänglich hersagt, verschmäht er, und die Frommen, »die sogleich kundgeben, was sie sehen, und können es nicht festhalten«, gelten ihm weniger als jene, »deren Wurzel in der Weite ist und die bei sich fassen können, was sie sehen«. Aber das Wort, das aus dem Seelengrunde aufsteigt als die organische Ausformung eines reichen und tiefen Erlebens, ist ihm ein hohes Ding, in seiner wirkenden Lebendigkeit nicht mehr das Werk der Seele, sondern die Seele selbst. Er sagt kein Wort der Belehrung, das nicht durch vieles Leiden gegangen ist; jedes ist »in Tränen gewaschen«. Das Wort bildet sich spät in ihm; die Lehre ist bei ihm zuerst Erlebnis und wird dann erst Gedanke, das ist Wort; »ich habe in mir,« sagte er, »Lehren ohne Kleider, und es ist mir gar schwer, bis sie sich einkleiden.« Immer ist in ihm eine Bangigkeit des Wortes, die ihm die Kehle zusammenpreßt, und bevor er das erste Wort einer Lehre spricht, scheint es ihm, als müsse seine Seele ausgehen. Erst das Wirken seiner Worte beruhigt ihn. Er betrachtet es und verwundert sich darüber: »Zuweilen gehen meine Worte wie ein Schweigen in den Hörenden ein und ruhen in ihm und wirken spät, wie langsame Arzenei; zuweilen wirken

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Rabbi Nachman von Bratzlaw

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meine Worte erst gar nicht in dem Menschen, dem ich sie sage, aber wenn er sie dann zu einem anderen spricht, kehren sie zu ihm zurück und gehen in sein Herz ein in große Tiefe und tun ihr Werk in Vollkommenheit«. Dieses zweite Grundverhältnis, das Empfangen von dem eigenen Worte, das namentlich für den Juden und seine motorische Anlage charakteristisch ist, scheint Rabbi Nachman auch an sich selbst erlebt zu haben; er stellt es einmal im Bilde des Lichtreflexes dar: »Wenn einer zu seinem Gefährten redet, entsteht ein einfaches Licht und ein wiederkehrendes Licht. Mitunter aber geschieht es, daß dieses ohne jenes wird, denn manchmal empfängt sein Gefährte nicht von ihm, er aber empfängt Erweckung von seinem Gefährten, wenn durch den Schlag der Worte, die aus seinem Munde gingen, das Licht zu ihm zurückkehrt und er erweckt wird.« Das Entscheidende jedoch ist für Nachman, seiner Auffassung des Wortes gemäß, nicht die Wirkung auf den Sprechenden, sondern die auf den Hörenden. Diese Wirkung gipfelt darin, daß das Verhältnis sich wandelt und der Hörende zum Sprechenden wird, ja sogar so, daß e r das Letzte und Absolute ausspricht: die Seele des Schülers soll so in ihren Tiefen erweckt und berufen werden, daß aus ihr und nicht aus der des Meisters das Wort geboren wird, das den obersten Sinn der Lehre kündet und so das Gespräch in sich erfüllt. »Wenn ich mit einem zu reden beginne, will ich von i h m die höchsten Worte hören.« So ist die Lehrweise des Rabbi Nachman ein eigentümliches Gegenstück zur sokratischen Maieutik. Er war fünf Jahre in Bratzlaw, als er der Schwindsucht verfiel, wohl unter dem Einfluß der Kämpfe und Verfolgungen, von denen er in der Seele unberührt blieb, denen er aber im Körper nicht standhalten konnte. Es wurde ihm bald offenbar, daß er sterben müsse, aber sein Tod war nie ein Ding der Angst und überhaupt kein erhebliches Ereignis für ihn gewesen. »Wer das wahre Wissen erlangt, das Gottwissen, dem ist keine Scheidung zwischen Leben und Tod, denn er hangt an Gott und umfaßt ihn und lebt das ewige Leben wie Gott allein.« Er empfand den Tod vielmehr als ein Aufsteigen zu einem neuen Stadium der großen Wanderung, zu einer vollkommeneren Form des Gesamtlebens, und weil er glaubte, in diesem Menschenkörper zu keiner höheren Stufe der Vollendung mehr kommen zu können, als die, die er erreicht hatte, sehnte er sich nach dem Sterben und nach der dunkeln Schwelle. »Ich möchte schon gern das Hemdlein ausziehen,« sagte er zu seinen Schülern in dem letzten Jahre, »denn ich kann es nicht ertragen, auf einer Stufe stehen zu bleiben.« Als er nun erkannte, daß der Tod ihm nahe kam, wollte er nicht mehr in Bratzlaw bleiben, wo er gelehrt und gewirkt hatte, sondern beschloß nach Uman zu übersiedeln, um dort zu sterben und dort be-

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graben zu werden. In Uman waren wenige Jahre vor seiner Geburt, 1768, die Banden der Hajdamaken eingedrungen, denen die von den Juden und den Polen gemeinsam verteidigte Festung durch Hinterlist und Verrat zugefallen war, hatten die ganze Judenschaft hingemordet und die Leichen in Haufen über die Stadtmauer geworfen. Es war Rabbi Nachmans Glaube, eine Folge seiner von Lurja übernommenen und weiter ausgebildeten Seelenwanderungslehre, daß von den vielen Tausenden, die zu Uman vor ihrer Zeit erschlagen worden waren, eine große Schar von Seelen an den Ort ihres Todes gebunden sei und nicht emporsteigen könne, bis eine Seele zu ihnen käme, der die Macht gegeben sei, sie zu heben; er fühlte in sich die Berufung, die Harrenden zu erlösen, und wollte daher an ihrer Stätte sterben und sein Grab neben dem ihren haben, daß über den Gräbern das Werk sich vollziehe. Als er nach Uman kam, wohnte er in einem Hause, dessen Fenster auf den Friedhof, »das Haus des Lebens«, wie die Juden ihn nennen, gingen; da stand er oft im Fenster und sah voll Freude auf den Gräbergarten nieder. Manchmal befiel ihn eine Schwermut, aber nicht vor dem Sterben, sondern ob der Arbeit seines Lebens, die die Frucht nicht trug, die er geträumt hatte. Er dachte, ob er nicht besser daran getan hätte, die Welt von sich zu entfernen und abzuwerfen und sich einen Ort zu erwählen, um da allein zu sitzen, daß das Joch der Welt nicht auf ihm sei. Wenn er einst nicht begonnen hätte mit dem Führen von Menschen, meinte er da, hätte er vielleicht seine Vollendung erreicht und seine wahre Tat getan. Das Lehren und Erziehen, das er so verherrlicht hatte, schien ihm in solchen Augenblicken wie ein Unrecht, fast wie eine Sünde. Denn das Wesen des Dienstes in jedem Dinge sei doch, daß der Mensch seiner Wahl gelassen werde, daß das Ding auf seiner Einsicht bleibe und kein Gebot ihm gegeben sei und ihm nicht befohlen werde, so zu tun, sondern daß er tue nach seiner Wahl. Auch schien es ihm da, daß er wenig gewirkt hätte, und er empfand, wie schwer es sei, einen Menschen frei zu machen. Es sei schwerer, e i n e m Gerechten, so lange er im Körper ist, beim Dienste zu helfen und ihn zu erheben, als tausend Tausenden von Bösen, die im Geiste sind, zu helfen und sie zu erheben, das ist ihre Seelen zu erlösen; denn bei einem H e r r n d e r Wa h l sei es gar schwer, etwas zu erwirken. In den letzten Tagen aber fiel alle Sorge und Bekümmerung von ihm ab. Er bereitete sich und lebte schon im Absoluten. »Siehe,« sagte er einmal, »uns entgegen kommt ein gar großer und erhabener Berg. Aber ich weiß nicht: gehen wir zum Berge, oder geht der Berg zu uns?« So starb er im Frieden. Ein Schüler schreibt: »Das Angesicht des Toten war wie das Angesicht des Lebenden, da er in seiner Stube umherging und dachte.«

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Rabbi Nachman von Bratzlaw

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Rabbi Nachman hatte sein Werk nicht gewirkt. Er war der Zaddik gewesen, den er meinte: »die Seele des Volkes«. Aber das Volk war nicht sein geworden. Er hatte den Niedergang der Lehre nicht aufhalten können. Er war ohne Vollbringen am Wege hingefallen. Mit ihm und Rabbi Schneor Salman, der ungefähr zur gleichen Zeit starb, wurde die jüdische Mystik zu Grabe getragen. Sie war die Blüte der Exilseele; sie verdarb aber auch am Exil. Die Juden waren nicht stark und nicht rein genug, sie zu bewahren. Es ist uns nicht gegeben zu wissen, ob ihr eine Auferstehung gewährt ist. Aber das innere Schicksal des Judentums scheint mir daran zu hangen, ob – gleichviel, in dieser Gestalt oder einer anderen – sein Pathos wieder zur Tat wird.

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Worte des Rabbi Nachman

DIE WELT Die Welt ist wie ein kreisender Würfel, und alles kehrt sich, und es wandelt sich der Mensch zum Engel und der Engel zum Menschen und das Haupt zum Fuß und der Fuß zum Haupt, so kehren sich und kreisen alle Dinge und wandeln sich, dieses in jenes und jenes in dieses, das oberste zu unterst und das unterste zu oberst. Denn in der Wurzel ist alles eines, und in dem Wandel und dem Wiederkehren der Dinge ist die Erlösung beschlossen. * WELTSCHAUEN Wie die Hand, vors Auge gehalten, den größten Berg verdeckt, so deckt das kleine irdische Leben dem Blick die ungeheuern Lichter und Geheimnisse, deren die Welt voll ist, und wer es vor seinen Augen wegziehen kann, wie man eine Hand wegzieht, der schaut das große Leuchten des Welteninnern.

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* GOTT UND MENSCH Alle Nöte des Menschen kommen aus ihm selbst, denn das Licht Gottes ergießt sich ewig über ihn, aber der Mensch macht sich durch sein allzu körperliches Leben einen Schatten, also daß das Licht Gottes nicht zu ihm gelangen kann.

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* GLAUBE Glaube ist ein gar starkes Ding, und durch den Glauben und die Einfalt ohne alles Klügeln wird einer gewürdigt, zur Stufe der Gnade zu kommen, die höher ist sogar als die heilige Weisheit: ihm wird überreiche und mächtige Gnade in Gott beschieden in sehr seligem Schweigen, bis er die Gewalt des Schweigens nicht mehr tragen kann und aufschreit aus der Fülle seiner Seele. *

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DAS GEBET Es schreie ein jeder zu Gott und erhebe sein Herz zu ihm, als hinge er an einem Haare und der Sturmwind brauste bis zum Herzen des Himmels, bis daß er nicht wüßte, was er tun solle, und beinahe keine Zeit mehr hätte zu schreien. Und in Wahrheit ist ihm kein Rat und keine Zuflucht als einsam zu werden und seine Augen und sein Herz zu Gott zu erheben und zu ihm zu schreien. Und dieses tue man zu jeder Zeit; denn der Mensch ist in der Welt in großer Gefahr. *

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ZWEI SPRACHEN Es gibt Menschen, die die Worte des Gebetes zu sprechen vermögen in Wahrheit, also daß die Worte leuchten wie ein Edelstein, der aus sich selbst leuchtet. Und es gibt Menschen, deren Worte nur wie ein Fenster sind, das kein Licht aus sich selbst hat, das dem Lichte nur Eingang gibt und aus ihm erstrahlt. *

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INNEN UND AUSSEN Der Mensch ängstet sich vor Dingen, die ihm nichts antun können, und er weiß es; und er gelüstet nach Dingen, die ihm nicht fruchten können, und er weiß es; aber in Wahrheit ist es ein Ding im Menschen selbst, vor dem er sich ängstet, und es ist ein Ding im Menschen selbst, nach dem er gelüstet. *

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ZWEIERLEI MENSCHENGEIST Es gibt zweierlei Geist, der ist wie rückwärts und vorwärts. Es gibt einen Geist, den der Mensch erlangt im Gange der Zeiten. Aber es gibt einen Geist, der über den Menschen kommt in großer Fülle, in großer Eile, schneller als ein Augenblick, denn er ist über der Zeit, und es bedarf keiner Zeit zu diesem Geiste. * DENKEN UND SPRECHEN Alle Gedanken des Menschen sind Worte und sprechende Bewegung, auch wenn er es nicht weiß.

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* WAHRHEIT UND DIALEKTIK Der Sieg erträgt die Wahrheit nicht, und wenn man vor deinen Augen ein wahres Ding ausbreitet, verstößest du es wegen des Sieges. Wer da die Wahrheit in ihr selbst will, treibe den Geist des Sieges von dannen; dann erst bereite er sich, die Wahrheit zu schauen.

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* ZWECK DER WELT Die Welt ist nur um der Wahl und des Wählenden willen geschaffen worden.

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* Der Mensch, der Herr der Wahl, soll sagen: Die ganze Welt ist nur um meiner willen erschaffen worden. Daher soll jeder Mensch achten und schauen, zu jeder Zeit und an jedem Orte die Welt zu erlösen und ihren Mangel zu füllen.

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* FREUDE Durch die Freude wird der Sinn seßhaft, aber durch die Schwermut geht er ins Exil. *

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VOLLENDUNG Sich zur Einheit vollenden, bis man vollendet ist nach der Schöpfung wie man vor der Schöpfung war, daß man ganz eines sei, ganz gut, ganz heilig, wie vor der Schöpfung. * Man muß sich an jedem Tage erneuern, um sich zu vollenden. *

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DER TRIEB Der böse Trieb ist wie einer, der unter den Menschen umherläuft, und seine Hand ist geschlossen, und niemand weiß, was in ihr ist. Und er geht zu jedem und fragt: »Was fasse ich wohl in meiner Hand?« Und jedem dünkt es, als sei das in der Hand, was er zu innerst begehrt. Und alle laufen jenem nach. Und dann öffnet er seine Hand, und es ist nichts darin. *

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Man kann Gott mit dem bösen Triebe dienen, wenn man sein Entbrennen und seine begehrende Glut zu Gott lenkt. Und ohne bösen Trieb ist kein vollkommener Dienst. * Der böse Trieb wandelt sich in dem Gerechten in einen heiligen Engel, ein Wesen der Macht und des Schicksals.

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* AUFSTIEG Für des Menschen Aufstieg ist keine Grenze, und jedem ist das Höchste offen. Hier waltet allein deine Wahl. *

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SICH SELBST RICHTEN Wenn ein Mensch sich selbst nicht richtet, richten ihn alle Dinge und alle Dinge werden die Boten Gottes. *

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WILLE UND HEMMUNG Es gibt keine Hemmung, die man nicht zerbrechen kann, denn die Hemmung ist nur des Willens wegen da, und in Wahrheit sind keine Hemmungen als nur im Geiste. *

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Die Geschichten des Rabbi Nachman

ZWISCHEN MENSCHEN Es gibt Menschen, die leiden furchtbare Not und können nicht erzählen, was in ihrem Herzen ist, und sie gehen einher, voll der Not. Kommt ihnen da einer entgegen mit lachendem Angesicht, er vermag sie zu beleben mit seiner Freude. Und das ist kein geringes Ding: einen Menschen beleben.

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* IM VERBORGENEN Es gibt Menschen, die im Offenbaren gar keine Herrschaft haben, aber im Verborgenen regieren sie das Geschlecht.

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* DAS REICH GOTTES Die nicht in der Einsamkeit wandeln, werden verwirrt sein, wenn der Messias kommt und man sie ruft; aber wir werden sein wie ein Mensch nach dem Schlafe, dessen Sinn ruhig und gelassen ist.

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* DIE WANDERUNG DER SEELEN Gott tut nicht zweimal das gleiche Ding. Und wenn eine Seele wiederkehrt, wird ein anderer Geist ihr Genosse. *

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Wenn eine Seele auf die Welt kommt, beginnt ihre Tat aus den heimlichen Welten emporzusteigen. * Es gibt nackte Seelen, die nicht in den Körper eingehen können, und über sie ist großes und mächtiges Erbarmen, mehr als über jene, die da gelebt haben. Denn diese waren im Körper und haben Söhne, jene aber können nicht nach oben steigen und auch nach unten können sie nicht hin, sich mit dem Körper zu bekleiden. Und es gibt noch Wanderungen auf der Welt, die sich noch nicht offenbart haben. *

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Die Gerechten müssen unstet und flüchtig sein, weil es vertriebene Seelen gibt, die nur dadurch emporsteigen können. Und wenn ein Gerechter sich wehrt und nicht wandern will, wird er unstet und flüchtig in seinem Hause. 5

* Es gibt Steine wie Seelen, die sind hingeworfen auf den Straßen. Aber wenn einst die neuen Häuser gebaut werden, dann fügt man ihnen die heiligen Steine ein.

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Die Erzählungen In den letzten Jahren seines Lebens erzählte Rabbi Nachman seinen Schülern mehrere Märchen und Geschichten. Es war immer irgend ein äußerer Anlaß, der ihn zum Erzählen brachte. Einige dieser Anlässe sind uns überliefert. Einmal berichtete ihm einer seiner Schüler, was er gerade von dem Kriege der Franzosen gehört hatte, der in jener Zeit war. »Und wir waren erstaunt über die große Erhebung, mit der Jener (Napoleon) erhoben worden war und aus einem Niederen (wörtlich: Knecht) ein Kaiser wurde. Und wir sprachen mit ihm davon. Und er sagte: ›Wer weiß, welche Seele sein ist, denn es kann sein, daß er vertauscht wurde. Denn in dem Quellschlosse der Wandlungen werden zuweilen die Seelen vertauscht.‹ Und sogleich begann er uns die Geschichte zu erzählen von dem Königssohn und dem Sohne der Magd, die vertauscht wurden.« Ein andermal kam ein Synagogen-Vorsänger zu ihm, und dessen Kleid war zerrissen. Da sprach er zu ihm: »Bist du denn nicht ein Meister des Gebetes, durch das der Segen herniedergebracht wird? Und du sollst in zerrissenem Gewande gehen!« Damals erzählte er die Geschichte von dem Meister des Gebetes. Ein andermal wieder hatte ein Schüler einem anderen geschrieben, er möge fröhlich sein. Als der Meister von dem Briefe hörte, sagte er: »Was wisset ihr, wie man sich zu freuen vermag inmitten der Schwermut? Ich will euch erzählen, wie man sich einst gefreut hat.« Und er begann die Geschichte von den sieben Bettlern, die letzte der Geschichten, die er nicht vollendet hat. Der Antrieb zum Erzählen war für Rabbi Nachman jenes Gefühl, daß seine Lehren »keine Kleider haben«. Die Geschichten sollten die Kleider der Lehren sein. Sie sollten »erwecken«. Er wollte eine mystische Idee oder eine Lebenswahrheit in das Herz der Schüler pflanzen. Aber ohne daß er es im Sinne hatte, gestaltete sich die Erzählung in seinem Munde, wuchs über den Zweck hinaus und trieb ihr Blütengeranke, bis sie keine Lehre mehr war, sondern ein Märchen oder eine Legende. Verloren haben die Geschichten ihren symbolischen Charakter deshalb nicht, aber er ist stiller und innerlicher geworden. Rabbi Nachman fand eine wenn auch spärliche Tradition jüdischer Volksmärchen vor. Aber er ist der erste und bisher einzige wirkliche Märchendichter unter den Juden. Die Geschichten wurden von seinen Schülern, namentlich von seinem Lieblingsschüler, Nathan von Niemirow, der sein eigentlicher Apostel war, aus dem Gedächtnis niedergeschrieben, die meisten (insbesondere

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die nicht in die Sammlung aufgenommenen) in völlig verstümmelter und fragmentarischer Weise. Nathan pflegte allerdings die einzelnen Geschichten, damit er sie nicht vergesse, sogleich nach dem Hören zwei anderen zu erzählen, bevor er nach Hause ging, um sie niederzuschreiben; doch scheint er mit der Niederschrift oft länger gewartet zu haben, denn von manchen Dingen gibt er selbst zu, daß er sie vergessen hat, von anderen auch geradezu, daß er sie nicht »zu ihrer Zeit« niederschrieb. Bei den Lehrworten kann man erkennen, welche unmittelbar aufgezeichnet wurden; sie zeigen den Geist und die Sprache des Meisters. Von den Geschichten hingegen sind alle offenbar entstellt. Einen ebenbürtigen Schüler, der das Vergessene im Sinne des Erzählers hätte ergänzen können, besaß Rabbi Nachman nicht; und er selbst sah sich wohl hier und da einmal die Niederschrift der Lehrworte an, niemals aber die der Erzählungen. So gilt vor allem von ihnen, was zwei frühe Geschichtsschreiber des Chassidismus von den Niederschriften der Schüler sagen. »Sie schrieben Dinge, die er nie gesagt hatte,« meint der eine, und der andere urteilt: »Sie glichen das Wort, das er gesprochen hatte, dem an, was sie selbst dachten.« Dreizehn der Geschichten sind fünf Jahre nach dem Tode des Meisters, 1815, gesammelt und in dem jüdischen Original mit hebräischer Übertragung veröffentlicht worden. Von diesen sind hier sechs mitgeteilt.

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Die Geschichte von dem Stier und dem Widder

In fernem Lande und zu einer fernen Zeit regierte ein König, der gab eines Tages einen Erlaß, daß alle Juden, die auf seines Reiches Erde und unter seines Schwertes Schutz lebten, die Taufe empfangen und seinem Bekenntnis sich bequemen müßten, und daß die, so sich weigern, von dannen zu ziehen und Heimat und Gut zu verlassen hätten. Viele waren, denen der Glaube einzig Vaterland und Besitz war: die flohen in alle Weiten. Andere wollten die Saat, die sie gesäet hatten, reifen sehen und mochten ihre Kleinode nicht im Gürtel bergen: die blieben und beugten sich zum Scheine, und äußerlich übten sie eines fremden Glaubens verhaßte Gepflogenheiten, hinter sicheren Mauern und festem Riegel aber hingen sie den Bräuchen ihrer alten Lehre an und blieben, wenn auch heimlich, Juden wie zuvor. Der König starb, und nach ihm trug sein Sohn die Krone. Dieser hielt seine Vasallen mit strenger Faust nieder und zwang fremde Reiche in den Bann seiner Waffen. Die Fürsten jenes Landes aber, auf denen seine Härte schwer lastete, empörten sich im geheimen wider ihn und beschlossen, ihn zu ermorden. Unter ihnen jedoch war einer von jenen Juden, die nur zum Scheine die Fessel eines fremden Glaubens trugen, der sagte sich: »Um meiner Güter willen, an denen mein Herz hängt, scheut mein Bekenntnis das Sonnenlicht. Was wird mit diesen Gütern geschehen, wenn kein König im Reiche ist, der Sitte und Gesetz aufrecht hält? Wie die wilden Tiere werden die Menschen übereinander herfallen, und der Gewaltige wird den Besitz des Zagen an sich reißen. Zu meinem eigenen Frommen ist es, daß ich hingehe und den König warne.« Und er ging hin und tat so. Der König hörte ihn an und ließ alsdann die Wahrheit seiner Worte prüfen, und es zeigte sich, daß sie gerecht waren. Um die Zeit, da die Verschwörer sich einschleichen wollten, stürzten sich verborgene Häscher auf sie und brachten sie bezwungen und gefesselt vor den König. Der ließ jedem seinen Spruch nach dem Maße seiner Schuld zuteil werden. Seinen Retter aber sprach er also an: »Wie mag ich dir lohnen? Ein Fürstentum kann ich dir nicht bieten, denn du besitzest es bereits, und welches Kleinod überstrahlte die Fülle der deinen? Laß mich den Wunsch wissen, der in deinem Herzen zu tiefst ruht, und sei der Erfüllung gewiß.« Da erwiderte der Fürst: »Laß mich Jude sein vor aller Welt und meine Gebräuche im Lichte üben. Gewähre mir, daß ich ohne Scheu Mantel und Riemen zum Gebete legen darf.« Bei dieser Rede erstarb die Seele des Königs in Bitterkeit, denn er haßte den Glauben der Juden. Aber von seinem eigenen Worte, das er gegeben hatte, bezwungen, gestand er widerwillig Gewährung zu. Der König verschied, und sein Sohn erbte das Reich. Aus dem Schick-

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sal seines Vaters war ihm die Erkenntnis gestiegen, daß es gut sei, das Land in Milde zu führen, und so wurde er ein gütiger und sanftmütiger Herr. Zuweilen gedachte er der Gefahr, die seines Vaters Leben bedroht hatte, und dann erfüllte ihn tagelang Bangigkeit um die Dauer seines Stammes. In einer solchen Zeit ließ er die Sterndeuter rufen und befahl ihnen, in den schimmernden Himmelszeichen zu lesen, was seinem Geschlechte vorbestimmt sei und welche Fährnisse ihm drohten. Die Magier fanden nur zwei Zeichen übler Deutung, zwei Tiere, Stier und Widder: vor diesen möge er sich hüten, kein anderes Wesen könne ihm Verderben bringen. Der König ließ den Schicksalsspruch im Buche der Erinnerungen eintragen, ermahnte seinen Sohn, gleich ihm milde zu regieren, und starb bald darauf. Der ihm auf dem Throne folgte, war wie seine Ahnen jäher und heftiger Gemütsart, gönnte den Waffen keine Ruhe und schlichtete Händel lieber mit Gewalt als mit Worten. Als er in der Chronik von den beiden Tieren las, die seinem Hause mit Verderben drohten, dünkte es ihm gar einfach, die Gefahr zu beseitigen: er verbot bei Todesgefahr, daß Stier oder Widder im Lande gehalten würden, und von nun an kannte er keine Furcht. Er unterdrückte seine Untertanen und lachte ihrer Zorn- und Rachegedanken, da er nun wußte, daß keine Verschwörung seinem Geschlecht etwas anhaben konnte. Er liebte es aber, in alten Zauberbüchern nachzulesen, um dort verborgene Weisheit zu finden, durch die er seine Macht befestigen und erweitern könnte. Da fand er eines Tages eine Stelle, in der geschrieben stand: »Sieben Wandelsterne bestrahlen die sieben Teile der Erde, und jeder Teil birgt sein besonderes Erz, das die Strahlen seines Sternes an sich zieht; wer da Boten hinsendet und aus den sieben Teilen der Erde die sieben Erze sich bringen läßt und einen erzenen Riesen aus ihnen bauen läßt und ihn auf einem hohen Berge aufstellt, so daß die sieben Wandelsterne ihr Licht auf ihn gießen, der kann durch dieses Bild die Weisheit der Gestirne, die über der Erde wandeln, an sich locken, nie erhörte Macht gewinnen und die Welt beherrschen; denn auf jede Frage, die er an den Riesen richtet, wird ihm die Antwort der Sterne durch das Leuchten der Erze in geheimen Zeichen kund.« Der König ließ das Standbild auf einem hohen Berge errichten, und als das geschehen war, bestieg er heimlich in tiefer Nacht den Berg und richtete an den Riesen die Frage, wie er die größte Macht auf Erden gewinnen könnte. Da begannen die Erze geheimnisvoll zu schimmern, wunderbare Zeichen erschienen und er vermochte sie auf rätselhafte Weise zu entziffern. Der Sinn aber war dieser: er möge hingehen, die Hohen erniedrigen und die Niedrigen erheben, dann werde er alle Menschen beherrschen. Der König stieg zu Tal, suchte noch in der Morgenfrühe den weisesten Mann

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seines Landes auf, verriet ihm den Spruch der Sterne und bat ihn um Deutung, wie er ihn zur Tat werden lasse. Der Weise antwortete ihm: »Jenen deiner Untertanen, die ohne Verdienst Würden und Ämter, ohne Rechtlichkeit Besitz, ohne Edelsinn adelige Namen ihr Eigen nennen, nimm, was ihnen nicht zukommt und in ihren Händen zu Unheil gereicht, und gib es denen, die ohne Schuld Unbill erleiden und ungeachtet ihres Wertes im Dunkel leben. So gedenke auch der Juden, die durch deine Ahnen der Heimat beraubt wurden oder ihren Glauben verleugnen mußten; öffne ihnen dein Land und gewähre ihnen, frei ihre Lehre zu bekennen.« Dem König gefiel d e r Rat wohl, die Reichen und Hohen, die Mächtigen seines Reiches, ihres Besitzes und ihrer Würde zu entkleiden, auch dünkte d i e s ihm wohl ein Weg zur Macht; befremdlich aber und gar töricht schien ihm die Weisung, den Unterdrückten Gut und Gewalt zu verleihen; wie leicht konnten ihm an ihnen heftige Widersacher erstehen, die alsdann, wenn sie stark geworden, vielleicht die Umstände günstig fanden, für das alte Unrecht an ihm Rache zu üben. So kehrte er zu seinem Palaste zurück, entschlossen, den Spruch nach seinem Sinne zu wenden. Er ließ sich die Bücher des Reiches aufschlagen und ersah, was an Lehen und Ehrenbezeugungen, an Rechten und Titeln seine Ahnen den vornehmen Geschlechtern gespendet hatten; all das hieß er in der Krone Namen zurückziehen, und wo Widerstand sich regte, gebot er, mit Gewalt ihn zu brechen. Da wurde mancher Stolze arm und der Ehren verlustig. Unter den Namen aber, die in den Büchern aufgezeichnet standen, als die von Männern, die Vorzüge und Auszeichnungen genossen, fand sich auch der jenes Juden, der dem Großvater des Königs das Leben gerettet hatte. Der König vermochte sich nicht völlig klar zu werden, worin das Privileg dieses Mannes bestand, und so ließ er ihn kommen und fragte ihn danach. Da sprach der Alte: »Mein Lohn ist, daß ich mich als Jude bekennen darf vor aller Welt.« »So hast du des Lohnes bis heute reichlich genossen,« rief der König, »ich entziehe ihn dir und du magst leben wie zuvor.« Da wandte sich der Jude zum Gehen. Vor dem Palast aber hob er die Hand und sprach vor sich hin: »So wahr Gott sich erbarmen möge, daß ich von nun ab Mantel und Riemen wieder im Dunkel und hinter verschlossenen Türen tragen muß, sollst du mir, harter König, mit deinem Geschlecht verflucht sein.« Nach einiger Zeit fügte es sich, daß eines Nachts ein schwerer Traum den König überkam. Er stand, so schien es ihm, auf einer weiten Ebene. Die Nacht barg alles Irdische in einer schwarzen sammetnen Luft. In unendlicher Höhe aber wölbte sich wie eine Glocke ein völlig lauterer Himmel, und darauf standen silberfunkelnd und Gestalten gleich alle zwölf

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Bilder des Tierkreises. Zwei von ihnen, Stier und Widder, dünkten ihm heller als die anderen, und blau blitzend schienen ihre Strahlen ihn zu treffen. Er sammelte seine Blicke auf sie, und siehe, da begannen sie lautlos zu lachen, daß ihm das Blut gefror. Und dieses stumme Lachen wurde zu einem grauenvollen Grinsen. Von Wahnwitz ergriffen, stürzte der König in sich zusammen. Da erwachte er. Die Furcht aber hielt mit eisernen Pranken sein Herz umklammert, und als er den Traum der Königin und seinen Kindern erzählte, erfaßte sie alle das Grauen, und keiner war unter ihnen, der nicht der alten Warnung gedacht hätte, die in den Chroniken verzeichnet stand: daß das Geschlecht gegen alle Mächte des Verderbens gefeit sei und einzig von zwei Tieren, Stier und Widder, ihm Untergang drohe. Läufer wurden entsandt und brachten alle Traumdeuter des Reiches herbei. Aber keiner war unter ihnen, der den Sinn des Gesichtes erfaßte, und keines Rede ging in des Königs Ohr ein. Mit zorniger Gebärde wies er sie von hinnen und sandte nach dem alten Weisen, der ihm einst den Spruch des erzenen Riesen gedeutet hatte. Der König erzählte ihm den Traum und sprach: »Rette mich, denn die Pein der Furcht hat meine Seele ergriffen und droht sie zu ersticken.« Da sprach der Weise: »Ich will dich hinführen, wo alle Angst der Erde zunichte wird. Ich kenne aus alten Büchern den Ort, den einzig auf der Welt alle dreihundertfünfundsechzig Wandelfahrten der Sonne bestrahlen. Dort wächst aus dem Kern der Erde, von ewigem Lichte gezogen, ein eherner Stamm hervor, der alle Not der Oberfläche und des Dunkels bannt. Dorthin folge mir mit den Deinen.« Der König willigte mit Freuden ein, und alsbald waren er und sein ganzes Haus zur Wanderschaft gerüstet. Der Weise leitete sie des Weges, und weithin waren sie schon gezogen, da gelangten sie zu einem Ort, von dem viele Pfade ausgingen, und an der Wende stand die gewaltige Erscheinung eines Engels, der Wächter war über alle Engel des Zornes. Denn jeder irdische Zorn schafft nach dem Urwillen einen Verderber, einen Engel des Zornes, und er, der hier an der Wegscheide stand, war ihr Beherrscher. Er trug eine stählerne Rüstung, blaue Blitze entquollen seinen Augen, und eine mächtige Flamme war das Schwert in seiner Hand. Bebend unterwarfen sich die Wanderer seiner Weisung, wohin sie zu ziehen hätten. Mit einem Feuerzucken hub er sein Schwert über einen der Pfade hin, und diesen wandelten sie. Dem Weisen aber war es kund aus dem Buch seiner Ahnen, daß jedem der Wege Bedeutung verliehen war: der eine war gerade und wohltätig und führte zu dem Orte des ewigen Lichtes, der andere war schlüpfrig, von kriechendem Gewürm durchquert, und leitete zu einem urgründigen Schlamm, ein dritter mit schreckenvollen Gruben und Höhlen mündete in einen Abgrund, der letzte aber voll sengender Qualen war der Weg des

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Feuers. Dieser war der Weg, den sie auf das Geheiß des Engels gingen. Ahnende Bangnis überkam den Weisen, und er war nur eine kurze Strekke gegangen, da hielt er inne, denn schon wähnte er, daß glühende Lüfte seine Kehle ausdörrten, und er erinnerte sich, daß es einen Weg gibt, der in die raumlose Glut führt, und daß vier Meilen vor ihrem Anfang schon das Feuer den Wanderer versengt. Und als sie noch eine Weile gegangen waren, erblickte er in der Ferne ein rotes Meer, das züngelnd zum Himmel loderte, und eingeschlossen in seinem Flutenbrand wie in einem blutigen Kristall einen Zug von Königen in den Trachten ferner und nie gesehener Völker, und ihre Reihe wurde geleitet von uralten Juden, die in ihre Gebetmäntel gehüllt waren und Stirn und Arm mit den heiligen Riemen umschlungen hatten. Der Weise wandte sich voller Entsetzen und forderte den König und sein Geschlecht zur Umkehr auf. Der König aber erwehrte sich des Rates, denn in Verblendung gedachte er gleich jenen Gekrönten ungefährdet durch die Glut zu gelangen. Er war aber mit den Seinen nur ein weniges vorwärts gedrungen, da tat sich gierig der Flammenschoß auf und begrub sie alle in sich. Der Weise jedoch hatte an seinem Orte verharrt und sah sie untergehen. Dann kehrte er um und ging den Weg zurück, und der Engel hatte sein Schwert in die Erde gebohrt und ließ ihn starr und schweigend vorüberziehen. Als der Weise in das Reich zurückkam, erzählte er allem Volk, das sich um ihn sammelte, welcher Untergang dem König und seinem Geschlecht beschieden war. Da wuchs ein großes Staunen in der Menge, denn alle kannten die alte Prophezeiung, nach der dem Königshause durch einen Stier und einen Widder die Vernichtung verheißen war, und keiner vermochte den Ausgang zu deuten. Da erhob sich der alte Jude, der in Heimlichkeit seinen Glauben hatte pflegen müssen, und er sprach: »Durch mich ist er vernichtet worden. Die Sternseher sahen und wußten nicht, was sie sehen. Ihr aber, wisset: aus dem Fell des Stieres werden die Gebetsriemen geschnitten, und aus der Wolle des Widders werden die Schaufäden gesponnen, die an dem Gebetsmantel hängen. Darum haben Stier und Widder unter den Sternen, von meinem Fluche angerufen, seines Verderbens gewiß, ihn verhöhnt. Jene Könige aber, die von den alten Juden unversehrt durch das Feuer geleitet wurden, waren solche, in deren Ländern Juden ohne Harm und Hader leben konnten und Gebetsmantel und Gebetsriemen in Freiheit tragen durften.«

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Es war einmal ein Rabbi, der hatte sein Leben der Thora dargebracht, all seinen Geist hatte er angewandt, sie zu durchforschen, und mit all seinem Willen hütete er die Gebote, daß sie bis ins kleinste geachtet würden in der Gemeinde. Als ihm in späteren Jahren der einzige Sohn geboren wurde, schien ihm dies ein Lohn und eine Zustimmung Gottes. Es war ihm, als ob ihm von oben eine Bestätigung seines Weges zuteil würde, und er schwor sich zu, all seine Tage, die ihm noch blieben, darauf zu schauen, daß sein Sohn gleich ihm mit strengen Gedanken in die Tiefen der Lehre eindringe und nicht um eines Haares Breite von des Gesetzes letzter und kleinster Forderung abweiche. Daß er gleich ihm bitter Feind sei jenen Schwärmern, die die erhabenen Worte mit einem Gaukeltanz bunten Weltkrams umwinden, die es wagen, ihre schweifenden Träume an die urewige ernste Macht der Thora zu knüpfen und das unstete Herz da spielen zu lassen, wo nur der stählerne Gedanke walten darf. Der Sohn wuchs heran und ward groß in der Weisheit der heiligen Bücher. Er hatte im Hause seines Vaters ein Stübchen, darin er zu weilen und sich mit gesammelten Sinnen in die Geheimnisse der Schrift zu versenken pflegte. Aber seine Seele konnte über den Büchern nicht verharren, und sein Blick hielt sich nicht auf der unendlichen Fläche der kleinen starren Lettern, sondern glitt immer wieder hinaus über die gelbe Flut der Ähren hin und bis zu dem dunklen Striche der fernen Tannenwälder. Und mit seinem Blicke glitt seine Seele hinaus und wiegte sich in der stillen Luft, scheu wie ein junger Vogel. Doch er zwang immer wieder Auge und Herz zurück in die enge Haft, denn er wollte wissen, und das Wissen war ja in den Büchern. Aber hielt er auch den Kopf mit beiden Händen über die zeichenbedeckten Blätter geneigt, so ließ sich die Seele doch nicht bannen. Und konnte sie sich an der Fülle da draußen vor dem Fenster nicht nähren, so schaute sie innig und heiß in sich selber, über wunderbare Saaten hin und zu geheimnisvollen Himmelsstrichen, die in ein unbekanntes Land hinüberblauten. Dennoch wuchs das Lernen in ihm, und er wurde stark im Erkennen; aber nicht aus dem Gewirr der Worte vor ihm strömte ihm die Weisheit zu, sondern aus ihm selbst, von seltsamer Wärme getrieben, sproßte sie auf und umfaßte seine Seele mit mächtigem Gezweige. Zur gleichen Zeit wurde jene schrankenlose Kraft des Wesens groß in ihm, die Heiligkeit heißt; und was er sprach, war lauter wie Kristall, und was er tat, geweiht; und wenn er durch sein Stübchen schritt, war es ihm, als wandelte er auf den Wogen eines einsamen Meeres. Weisheit und Heiligkeit aber vermählen sich zu jener tiefen und unbegreiflichen Wandlung, die die Stufe des kleinen Lichtes genannt wird

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und von einer Zeit zur andern in einer einzigen Seele erscheint und dahingeht; dieses war die Stufe, zu der der Jüngling erhoben wurde, ohne es zu ahnen. Aber wie einer, der sich unwissend wähnt, dieweil er im Innern die Welt umfängt, so glaubte er, um der Wahrheit willen auch fernerhin die Schriften durchforschen und ihrer dumpfen Stimme lauschen zu müssen, wiewohl ihm die letzten Dinge also vor den Augen standen, wie die stille Lampe, die seiner Arbeit leuchtete. Aber wie er nur den Büchern nahte, war ihm, als trete er in eine Leere, ein rätselhafter Mangel legte sich schwer auf ihn, und er fühlte sich verlassen im Grenzenlosen. So kehrte er von der Rede des toten Mundes immer wieder zu sich selbst zurück und gab sich den Verzückungen des großen Schweigens hin. Aber auch sie gewährten ihm den Frieden nicht, nach dem er verlangte, wie die ungeborenen Seelen nach dem Leben der Erde; und ihre selige Pein spannte ihn an, wie man einen Bogen spannt, den Pfeil in die Ferne zu entsenden, und nicht wie man eine Leier spannt, zu holdem zusammenklingen. Auch in der höchsten Erfüllung fehlte ihm etwas, und er wußte nicht, was das sei; auch in der gnadenvollen Stunde des Schauens schlug eine Bangigkeit in ihm, für die er keinen Namen hatte. Er wagte nicht, davon zu sprechen, es war allzu gewaltig, und wenn er es versuchte, sagte das Wort, das auf seine Lippen kam, schon anderes, als ihm in der Seele geschah. Von allen Menschen aber hielt er sich nur zu den Chassidim, zu jenen Schwärmern und Phantasten, die seinem Vater, dem Rabbi, so bitter verhaßt waren. Denn er fühlte, daß in ihrer Art, so wild und unbändig sie war, etwas von dem lebendig sein mochte, was durch seine Träume ging. Sein Vater zürnte ihm deswegen, aber er konnte den Verkehr nicht lassen. Und so war er einmal mit zweien von jenen, zwei Jünglingen, beisammen. Da stärkte er sein Herz zum Reden und rang mit den Worten, bis sie ihm gehorchten, und erzählte den beiden, wie ihn ein Mangel quäle und wie er verschmachte nach einem Unnennbaren. Da sprachen sie zu ihm: »Es gibt nur Einen, der dir zu helfen vermag. Das ist der große Zaddik, der eine Tagereise von hier wohnt. Denn ihm ist die Kraft gegeben, die Seelen frei zu machen. Er geht durch die Reihen der Menschen, und von dem Leuchten seiner Augen fließt eine Segnung Gottes zu ihnen allen hin. Er hebt die Hand den Bedrückten entgegen, und sie atmen auf wie aus einem schweren Traume. Er wischt die Zeichen des Grams und der Mühsal von den Stirnen. Er löst den Krampf des Hasses und zeigt den Schwermütigen die Schönheit der Welt.« »Ist er weise?« fragte der Jüngling. »Wir wissen nicht, ob er weise ist,« antworteten sie, »denn er liegt dem Lernen nicht ob und redet nie von den Dingen, von denen man sagt, man habe sie erkannt. Aber dieses

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wissen wir, daß er ins Nahe und ins Fernste wirkt, und ganz gewiß ist das sein, was man die Tat nennt.« »Ist er heilig?« fragte er weiter. »Wir wissen nicht, ob er heilig ist,« sagten sie, »denn er hält sich nicht abseits und hütet sich nicht, die Sündigen anzurühren. Aber dieses wissen wir wohl, daß er keinen entläßt, ehe er ihm die schwerste Bürde von der Seele nahm. Und ganz gewiß ist die Erlösung sein Reich.« »Ist es aber nicht so,« fragte er, und er blickte mehr in sich als zu ihnen hin, »daß Tat und Erlösung sich einen zur höchsten Begnadung, welche die Stufe des großen Lichtes genannt wird und von vielen Zeiten zu vielen Zeiten in einer einzigen Seele erscheint, um in Tausende zu strahlen und hinüberzuleben?« Da schwiegen die Jünglinge und waren betroffen ob des seltsamen Ungestüms seiner Worte, wie sie solches an ihm nicht kannten. Er aber stand erschauernd da und wußte nicht, was ihm widerfahre. Von dieser Stunde an aber war es in ihm beschlossen, daß er sich zu jenem Zaddik begeben und von ihm die Offenbarung seines Wesens empfangen müsse. Er ging zu seinem Vater und sagte ihm sein Vorhaben und bat ihn, er möge ihn ziehen lassen, wenn er anders wolle, daß das Leben nicht all seinen Wert für ihn einbüße. Der Vater aber achtete es für eine große Schande, daß sein Sohn den törichten Wundermann aufsuchen wolle, und bot alle Gründe dagegen auf, die ihm geläufig waren. Als der Jüngling beharrte, stritt er heftig wider ihn und gab ihm zu bedenken, wie wenig es für den gelehrten Sohn eines guten und strenggläubigen Geschlechtes sich schicke, sein Heil bei solch einem Irrlehrer und ungewissen Wirrkopf zu suchen. So wies er ihn zurück, aber der Jüngling kehrte immer wieder und wiederholte sein Ansinnen immer dringender. Und alle im Hause wurden es gewahr, wie an dieser ungestillten Sehnsucht das Leben des Knaben immer matter wurde und wie eine schier verlöschende Flamme hin und her flackerte. Und zu einer Stunde, als er seinen Wunsch wieder aussprach, neigte sich das Herz des Alten, von Liebe und Erbarmen überwunden, ihm zu. Er versprach, seinem Begehren willfährig zu sein, und beschloß, seinen Sohn selbst zu dem Zaddik zu führen, denn die Hingabe an sein einziges Kind war mächtig in ihm, auch hoffte er im verborgenen Herzen, daß es seiner Klugheit und Erfahrung gelingen werde, den Fremden albern und nichtig erscheinen zu lassen. Indem er einwilligte, sprach er jedoch: »Eins aber möge uns Zeichen sein, daß unsere Fahrt im Willen des Himmels liege: daß im Verlaufe der Reise nichts sich ereigne, was dem Gange des Alltags zuwiderläuft. Sollte uns aber ein Ding widerfahren, das uns den Fuß hemmt, so mag dies ein Hinweis sein, daß dir der Weg nicht bestimmt ist; alsdann wollen wir umkehren.« Am nächsten Tage begaben Vater und Sohn sich auf die Fahrt. Sie hatten sich bereits einige Stunden von ihrem Orte entfernt,

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als ihr Pferd auf einer Brücke stürzte und den Wagen zu Fall brachte. Wohl gingen die beiden unversehrt hervor, der Alte aber maß dem Unfall tiefere Bedeutung bei und wollte ihn nicht anders ansehen, denn als daß er eine Warnung darstelle, den Weg nicht fortzusetzen. So kehrten sie in die Heimat zurück. Aber von dieser Stunde an wurde der Jüngling von so unendlicher Traurigkeit befallen, daß der Vater bald wieder, von seinem Flehen bezwungen, sich aufs neue mit ihm auf den Weg begab. Sie hatten wohl schon eine halbe Tagereise hinter sich, als plötzlich die Achse des Wagens zerbrach und der Rabbi wiederum, verwirrt und geängstigt, da er das Geschehene nicht anders denn als eine höhere Fügung deuten mochte, von der Fahrt abstand und die Umkehr anordnete. Und wieder verzehrte sich der Knabe, daß der Vater vor Herzeleid es nicht länger anzusehen vermochte, und zum dritten Male traten sie die Reise an. Diesmal beschloß der Alte nicht umzukehren und keines Unfalls zu achten, es sei denn, daß ganz und gar Ungewöhnliches ihre Bahn hemme. So fuhren sie bis zum Abend und suchten erst mit eintretender Dunkelheit eine Herberge auf. Während sie in der Wirtsstube Rast hielten, gesellte sich ihnen als dritter ein reisender Kaufmann zu, mit dem sie alsbald in ein Gespräch kamen. Der Rabbi hatte es sich vorgesetzt, im Reden seines Besuches bei dem Zaddik nicht zu gedenken, denn es stand bei ihm fest, daß er sich dessen zu schämen habe. So sprachen sie über mancherlei Dinge der Welt und der Alte erstaunte, wie wohlbewandert und unterwiesen der Fremde auf jeglichem Gebiete sei, und wie er gar schicklich und gewandt die Unterhaltung zu lenken wisse. Und so geschah’s, daß der Rabbi wie Wachs in seinen Händen war und der fremde Gast so viel erfuhr, als ihm zu wissen behagte. Und indem sie so von diesem und jenem sprachen, führte der Kaufmann ganz von ungefähr die Rede auf die Zaddikim und wo man welche fände. Als der Rabbi mit einiger Wißbegier auf das Gespräch einging, erwähnte jener, daß unfern von hier ein Zaddik lebe, der viel von sich reden mache. Bei diesen Worten umfing er den Jüngling, der bis dahin ganz still und versunken dagesessen hatte, mit einem eigentümlich blitzenden und durchdringenden Blick. Der Knabe schreckte auf, wie wenn ihn ein schmerzhafter Stich aus dem Schlafe geweckt hätte, und hörte nun, wie sein Vater den Fremden fragte, ob er diesen Zaddik kenne. »Wohl kenne ich ihn,« erwiderte der Kaufmann mit einem leichtfertigen und höhnischen Lächeln. »So wißt Ihr ohne Zweifel, ob er in der Tat jener ehrwürdige und fromme Mann ist, als der er gilt?« Da lachte der Fremde wiederum hell auf und sprach: »Der Zaddik ein Frommer und Gerechter? Nie ist mir ein schlimmerer Weltmensch begegnet als er. Mit eigenen Augen habe ich sein sündhaftes Treiben gesehen und ich, der ich zu ihm kam, Hilfe und Beistand zu

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suchen, zog enttäuscht und entsetzt von dannen.« Der Alte wendete sich zu seinem Sohne und rief: »Ich habe geahnt, daß es so sei, wie dieser Mann in seiner Einfalt uns sagt. Wir wollen nach Hause kehren. Und nun du es selbst gehört hast, wirst du dein Herz von diesem Wahn befreien.« Als sie aber heimkamen, legte sich der Sohn hin und verschied. Uferlos war die Trauer, die der Tod über den alten Rabbi brachte. Einige Wochen aber nach dem Hinsterben des Sohnes erschien der Tote dem Vater im Traume, schrecklich anzusehen und flammend gleich einer Säule des Zornes. Zitternd rief der Alte: »Warum sehe ich dich in solcher Gestalt, mein Sohn?« Da erwiderte dieser: »Mache dich auf den Weg zu jenem Zaddik und du wirst es erfahren.« Am Morgen gedachte der Rabbi zwar der Erscheinung, aber er meinte, seine Sinne hätten ihn wohl genarrt und dies sei ein Traum wie andere. Aber es kam wieder und kam zum dritten Male, und da wagte der Alte nicht zu widerstehen und begab sich auf den Weg zu jenem Zaddik. Gegen Abend, als das Dunkel und die Müdigkeit ihn überkamen, kehrte er in einer Herberge ein, und als er eine Weile in dem dämmrigen Wirtsraum gesessen hatte, sah er, daß es dieselbe Herberge war, in der er vor wenigen Wochen mit dem jetzt toten Sohne eingekehrt war. Der Gedanke schreckte ihn aus seinem Brüten auf, und er blickte um sich und sah sich gegenüber die Gestalt jenes Kaufmanns sitzen, dem er auch damals begegnet war. Bei seinem Kommen war das Zimmer leer gewesen, und er hatte nicht bemerkt, daß jemand eingetreten wäre. Allein der Schmerz war zu heftig in ihm, als daß er der Verwunderung hätte Raum gegeben. Und so fragte er den Fremden nur: »Bist du nicht jener Kaufmann, mit dem ich vor kurzem hier gesprochen habe?« Da brach jener in ein unbändiges Gelächter aus und antwortete: »Ich bin es, und was ich wollte, ist mir wohl gelungen. Besinne dich, wie du mit deinem Sohne zum Zaddik ziehen wolltest. Und zuerst stürzte dein Pferd, und du kehrtest um. Und dann zerbrach die Achse deines Wagens, und du kehrtest wieder um. Und zuletzt kamst du und fandest mich und hörtest auf meine Worte und kehrtest um zum dritten Male. Und nun, da ich deinen Sohn getötet habe, magst du schon fahren. Denn wisse, dein Sohn hatte die Stufe des kleinen Lichtes, jenem Zaddik aber ward die Stufe des großen Lichtes gegeben, und wären sie auf Erden zusammengekommen, so hätte sich das Wort erfüllt und der Messias wäre erschienen. Nun aber, da ich deinen Sohn getötet habe, magst du schon fahren.« Und indem er dies gesagt hatte, wich er unmerklich von hinnen und war verschwunden, und der Rabbi starrte in die leere Luft. Und er zog seines Weges weiter und kam zum Zaddik und warf sich ihm zu Füßen und schrie: »Wehe, wehe um die, so verloren gehen und können nicht wiedergefunden werden.«

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Die Geschichte von dem Klugen und dem Einfältigen

In einer Stadt im Osten lebten zwei reiche Männer, die besaßen vielerlei an Gütern, lange Häuserreihen, Felder so weit man sehen mochte, und blankes Geld in Fülle, und Kostbarkeiten, woran sich ihr Herz erfreuen konnte. Jeder von ihnen hatte einen Sohn, und die beiden Knaben waren einander gar gut, spielten von Kind auf einträchtig miteinander und hielten auch in der Schule zusammen. Der eine aber war sehr klug, sein Verstand war scharf und hell und kein Ding war ihm so vielgestaltig, daß er es nicht erfaßt hätte. Der andere jedoch war einfach von Art und Geist, er konnte begreifen was schlicht und gerade war, nicht mehr und nicht weniger. Als die beiden Knaben eben dem Lernen entwachsen waren, begab es sich, daß die Väter mit einem Mal verarmten, und es blieb jedem nichts als das Haus, in dem er wohnte. Da sprachen sie zu ihren Söhnen: »Sehet zu, wie ihr euch durch die Welt helft, wir können euch nicht mehr beistehen, da nichts mehr unser eigen ist, als das Dach über unserem Haupte.« Der Einfältige, dem die Welt unüberwindlich dünkte, schickte sich an, bei einem armseligen Schuster das Handwerk zu erlernen. Der Kluge aber beschloß, sich die Welt zu erobern, kehrte der Heimat den Rücken und zog in die Fremde. Wie er so auf der Landstraße dahinwanderte, begegnete er einem mächtigen Wagen, auf dem Ballen von Waren aufgetürmt waren und den vier Pferde eben noch mit Mühe zogen. Neben dem Wagen schritt der Kaufmann mit seinen Dienern einher. Als der Kluge ihrer ansichtig wurde, begrüßte er sie und gesellte sich zu ihnen. Sie kamen ins Reden und er erfuhr, daß es Kaufleute aus Warschau seien, die auf dem Wege nach Hause noch Geschäfte in Menge zu besorgen hätten. Und da er sie fragte, ob sie wohl noch eines anstelligen Dieners bedürften, und sich ihnen anbot, war der Kaufmann gleich willens, es mit ihm zu versuchen, denn er hatte schnell erkannt, daß er einen scharfsinnigen und gewandten Burschen vor sich habe. Der Jüngling merkte wohl auf die Gepflogenheiten beim Handel und bald wußte er so flink Bescheid, wie nur irgendeiner. Als sie in Warschau ankamen, fragte er unter den Leuten der Stadt herum, welches Ansehen sein Kaufherr unter ihnen genösse. Er erfuhr, daß jener ein geachteter und rechtschaffener Mann sei, aber auch, daß sein Geschäft als schwer gelte, weil er viele Handelsreisen nach entlegenen Ländern unternehme. Als der Kluge so in der Stadt umherging, sah er die Diener in den Warengewölben, und ihre schmucke Tracht und ihr stattliches Aussehen stachen ihm gar sehr in die Augen. Da beschloß er seinen Dienst aufzugeben und verdingte sich einem Händler, der einen ansehnlichen Laden am Orte hielt. Und wie es der Brauch ist, mußte er

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zuerst mühselige Arbeit um geringen Lohn verrichten. Aber das verdroß ihn nicht, und bald gewann er das Vertrauen seines Herrn und hatte teil an der Führung des Geschäftes, bis er dessen völlig kundig war. Als er aber eines Tages sah, daß hier für ihn nichts mehr zu lernen sei, nahm er seinen Abschied und schloß sich einem Kaufmannszuge an, der nach London ging. Er hielt die Augen wacker offen und ließ sich nichts entgehen, was er allerorts an klugen und schicklichen Gebräuchen sah, und worin immer sich ein Land vor den anderen hervortat, das ließ er sich wohl gewiesen sein und nahm es auf. So bereiste er viele Reiche, England, Deutschland, Frankreich, Spanien, und zuletzt kam er nach Italien. Dort sah er gar feine und kunstreiche Geräte der Goldschmiedezunft, dergleichen er in keinem anderen Lande wahrgenommen hatte, und da Ort und Gelegenheit ihm günstig waren, setzte er Fertigkeit und Eifer darein, das Handwerk zu erlernen. Und so bedurfte es nicht langer Weile, da brachte seiner Hände Arbeit so Zierliches zutage, daß die ältesten Meister der Stadt eingestehen mußten, ihr Lebtag sei ihnen solches nicht gelungen. Da er es nun so weit gebracht hatte, daß keiner im Land es ihm mehr zuvortat, beschloß er sich dieses Handwerks zu begeben und ein neues zu erlernen, das als ungemein schwierig galt und gleichfalls wohl angesehen war. Und er ging zu einem Meister hin, der bislang unübertroffen war in der Kunst, Menschenköpfe und Tiergestalten und allerlei schöne und erfreuliche Dinge in edle Steine zu schneiden. Bald hatte sein Wille auch diese Kunst bezwungen, und es war keiner unter seinen Genossen, der sich mit ihm hätte messen können. Doch bestand auch dieses Tun vor seinen Augen nicht, und da er seine Hand nun so zu jeder kunstvollen Verrichtung geschickt wußte, gedachte er seinen Geist zu üben und die Natur der Menschen und der Dinge zu ergründen. Er begab sich auf eine hohe Schule, wo ein berühmter Meister der Heilkunde Jünglinge, die aus allen Ländern ihm zuströmten, unterwies. Da erfaßte er die Weisheit seines Lehrers mit solcher Schärfe, daß er jegliches Ding in der Welt und in der Seele des Menschen von Grund aus durchschaute, so daß nichts vor ihm standhielt, und alles gering in seinen Augen wurde. Am Ende trieb ihn ein heftiger Widerwille vor der Unvollkommenheit alles Lebens von Ort zu Ort, und er fand nirgends Ruhe. Da gedachte er seiner alten Heimat und beschloß sich ihr wieder zuzuwenden. Indessen war der Einfältige bei dem Schuster in die Lehre gegangen und hatte sich jahrelang gemüht, nur eben schlecht und recht das Handwerk zu erlernen, aber es war ihm nicht so gar gelungen. Als er ein Paar grober Stiefel halbwegs zustande brachte, tat er eine eigene Werkstatt auf, nahm sich ein Weib und schusterte drauf los. Da er aber sein Handwerk recht schlecht verstand, kamen nur die ärmsten Leute zu ihm, die wenig

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bezahlen konnten, und da er überdies sehr lange brauchte, bis er ein Stück fertig bekam, mußte er sich arg plagen, bis er das Wenige verdiente. Doch tat dies kärgliche und mühevolle Dasein seiner guten Laune keinen Eintrag, und obgleich er den ganzen Tag oft keinen freien Augenblick zum Essen fand, war er dennoch fröhlich und guter Dinge vom Morgen bis zum Abend. So geschah es zuweilen, daß er, während er den Faden durchs Pech zog, seiner Frau zurief: »Weib, stell mir sofort die Graupensuppe her!« Da reichte sie ihm ein Stück trockenes Brot. Und indem er es munter verzehrte, sagte er: »Frau, so wie heute ist dir die Graupensuppe noch nie gelungen! So, nun gib mir ein schönes Stück vom Braten!« Da reichte sie ihm abermals eine tüchtige Scheibe Brot. Als der Schuster auch diese aufgegessen hatte, rief er ganz entzückt: »Frau, dies ist der saftigste Braten, den ich mein Lebtag genossen habe. Jetzt gib mir noch den Nachtisch.« Und wieder erhielt er ein Stück Brot und pries es als den köstlichsten Kuchen. So würzte er sich jeden Tag den kargen Bissen mit den lustigsten Einfällen, und während er aß, schmeckte er wirklich alle die auserlesenen Leckereien, von denen er sprach. War er aber durstig, so rief er: »Weib, bring mir ein Glas Wein, aber von unserm besten!« Sie stellte ihm ein Glas Wasser hin und er hielt es gegen das Licht und sagte schmunzelnd: »Ich wette, klareren Wein trinkt auch der König nicht!« Und es war ihm, als spürte er das allerbeste Getränk auf der Zunge. Und so erging es ihm auch mit seiner Kleidung. Der Schuster und sein Weib hatten zusammen einen ruppigen Schafspelz. War es kalt und er wollte über Land gehen, so redete er zur Frau: »Meine Liebe, leg mir den Pelz um!« Und dann streichelte er ihn und sprach: »Ist es nicht ein feines Pelzchen? Und wie schön warm es hält!« Mußte er aber irgendwo in der Stadt vorsprechen, so meinte er: »Frau, tu mir den Tuchmantel her!« Dann legte sie ihm wieder den Pelz um und er sagte lächelnd: »Glänzt das Tuch nicht wie Atlas? Es geht doch nichts über mein Mäntelchen!!« Und so trug er den alten Pelz auch als Kaftan und als Joppe und war durchaus der Meinung, daß auf der ganzen Welt kein edleres Gewand sei. Hatte er aber mit vieler Mühe einen Schuh zustande gebracht – und sie gerieten ihm immer recht plump und ungeschlacht –, so rief er seine Frau herbei: »Sieh einmal, mein Herz, was für ein süßes und zierliches Schuhchen das ist! Hast du je ein hübscheres gesehen?« »Na,« sagte die Frau, »wenn deine Schuhe so vortrefflich geraten, warum nimmst du nur einen Taler für das Paar, während jeder andere Schuster hier am Ort das Doppelte verlangt?« »Weib,« lachte er da, »was willst du uns die Laune mit dem verderben, was andere tun? Denk lieber dran, was ich mit einem einzigen Paar Stiefel so von der einen Hand in die andere verdiene.« Und er zählte auf, was Leder und Pech und Faden ihn koste,

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und fand, daß ihm bare fünf Groschen als reiner Verdienst blieben, und war der Meinung, daß kein anderes Los dem seinen vorzuziehen sei. Die Leute der Stadt aber kannten den Schuster und seine närrischen Gebräuche wohl und trieben ihren Spott mit ihm. Gar oft geschah es, daß einer bei ihm eintrat, nur um ihn zu necken, aber er merkte es bald und gab dann keine Antwort als die, daß er beharrlich erwiderte: »Nur ohne Spott!« Fragte ihn einer rechtschaffen und ohne Arg, so gab er schlecht und recht Bescheid, wie er’s wußte. Wollte ihn jedoch jemand mit scheinbarem Ernst überlisten, um ihn zu närrischen Reden zu bringen und sich über ihn lustig zu machen, so sagte er ganz fröhlich: »Ei, Freund, sieh doch nur zu, wie ich gar so einfältig bin! Du kannst ein gut Stück klüger sein als ich und bist noch immer ein rechter Narr.« Eines Tages aber verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, daß der Kluge, der inzwischen in der Fremde ein unmäßig reicher und weiser Herr geworden sei in seinen Heimatsort einziehen werde. Als der Einfältige dies vernahm, schrie er eilend: »Weib, sofort gib mir das beste Festgewand her, damit ich meinem Jugendfreund entgegengehe und ihn begrüße.« Die Frau tat ihm den zottigen Pelz um, und so lief er vor das Stadttor auf die Landstraße, als eben ein prächtiger Wagen dahergefahren kam, in dem der Kluge glanzreich und würdevoll saß. Der Einfältige hielt das Gefährt an und rief voller Freude: »Gesegnet sei Gott, der dich hierher geführt hat, mein Bruder!« Und er sagte noch viele liebevolle und fröhliche Worte und gebärdete sich gar treuherzig und unbekümmert. Dem vielgelehrten Manne erschien dieses Gehaben recht töricht, aber er gedachte der einstigen Jugendfreundschaft, begrüßte den Schuster freundlich, nahm ihn in seinen Wagen auf und fuhr mit ihm in die Stadt. In der langen Zeit aber, die der Kluge fern von der Heimat verbracht hatte, war sein Vater gestorben, und das Haus, das er ihm hinterlassen hatte, war ungepflegt gänzlich verfallen, so daß er keinen Ort darin fand, wo er hätte wohnen können. Er mußte eine Herberge suchen, doch es fand sich in der ganzen Stadt keine, die zu seinem Ansehen und seinen Gewohnheiten gepaßt hätte. Der Einfältige aber war nach dem Tode seines Vaters in dessen Haus gezogen, und als er nun die Bedrängnis seines vornehmen Freundes vernahm, suchte er ihn schleunig auf und sprach zu ihm: »Mein Bruder, erweise mir die Ehre und kehre bei mir ein. Du wirst in meinem Hause Raumes genug finden, denn mein Weib und ich bedürfen nur einer einzigen Stube.« Der Kluge willigte ein, der Einfältige aber eilte heim, raffte den besten Hausrat zusammen, trug ihn in die Stuben, die sein Jugendfreund bewohnen sollte, und hieß seine Frau alles blank scheuern und aufs beste vorbereiten. So kam der Kluge in das Haus des Einfältigen.

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Der hohe Ruhm seiner Weisheit und seiner ungezählten Fertigkeiten verbreitete sich alsbald im ganzen Land. Die Großen und Vornehmen des Reiches eilten herbei, um sich an den Proben seines Wissens und seiner Kunst zu ergötzen. So gab ihm ein mächtiger Fürst den Auftrag, ihm einen Ring anzufertigen, so kunstvoll und wunderbar, wie er ihn nur zu ersinnen vermöchte. Der Kluge machte einen Ring und ritzte in ihn das Bildnis eines Baumes mit tausendfältig verschlungenen Ästen und Zweigen, und das Werk geriet ihm so kühn und fein zugleich, daß er sicher war, selbst in Italien, wo man sich wie nirgends auf diese Kunst verstand, könnte nichts seiner Arbeit an die Seite gesetzt werden. Aber der Fürst war ein roher und unkundiger Mensch, der nur groben und schreienden Prunk zu würdigen wußte, und der herrliche Gegenstand fand vor seinen Augen keine Gnade. Den Weisen aber erfüllte der Unverstand seines Auftraggebers mit heftigem Verdruß. Ein anderes Mal kam wieder ein Vornehmer des Reiches zu ihm und brachte ihm einen Edelstein, darein ein Bildnis geschnitten war, und verlangte von ihm, er möge die Zeichnung auf einen anderen, in Form und Farbe völlig gleichen Stein übertragen. Er machte sich an die Arbeit und sie gelang ihm so sehr, daß nach ihrer Vollendung keiner das Urbild von der Nachahmung zu unterscheiden vermochte. Und alle waren des höchsten Lobes voll; nur sein eigenes Herz schwoll in tiefer Bitterkeit, denn er erkannte einen winzigen, schier nicht sichtbaren Mangel an einer Stelle, die ihm nicht völlig mit der Vorlage übereinstimmend geraten war. Und wiewohl keiner imstande war, ihm diesen Fehler nachzuweisen, nagte die einsame Erkenntnis wie ein Wurm an seiner Seele. Nicht minder unglückselige Erfahrungen trug ihm seine Heilkunst ein. Kranke strömten ihm in Scharen zu. Da kam es einmal vor, daß ein Schwerkranker zu ihm gebracht wurde, dessen Leiden kein Arzt des Landes Einhalt zu tun vermocht hatte. Nun besaß der Weise eine wunderbar wirksame Arznei, von der er sicher wußte, daß sie die Heilung bewirken würde. Aber die Angehörigen des Kranken wendeten das Mittel auf eine ganz verkehrte Weise an, so daß er daran verstarb. Darauf erhoben sie ein großes Geschrei und einen großen Widerwillen gegen den Arzt und warfen ihm vor, er hätte den Kranken getötet. In einem andern Falle tat das gleiche Mittel bei der gleichen Krankheit die erwünschte Wirkung, und siehe, da rühmte sich der Genesene, nicht der fremde Weise und seine Tränklein, sondern seine eigene feste Natur hätte ihn gerettet Und so brachte dem Klugen seine Heilkunst nur eitel Mühsal und Ärger. Aber auch um sein tägliches Leben war es nicht besser bestellt. So schickte es sich eines Tages, daß er ein Gewand brauchte, und er ließ sich den besten Schneider des Ortes kommen, dem er bis aufs Kleinste auseinandersetzte, wie die Tracht beschaffen sein müsse.

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Der Meister gab sich viele Mühe, so daß der Anzug ihm wohl geriet und überaus prächtig ausfiel. Bloß der Aufschlag am Ärmel war nicht ganz so geworden, wie der Kluge dies für schicklich erachtet und gewünscht hatte, und dieser Umstand brachte den gelehrten Mann völlig außer sich, denn es machte ihm Sorge, daß man ihn in Spanien wegen dieser verkehrt aufgenähten Ärmelstulpe vielleicht ausgelacht hätte, wenn auch hierzulande die Leute von angemessener Kleidung gar wenig verstanden. Der Einfältige aber war allzeit guter Dinge und lief mit Scherzen und Gelächter bei dem Klugen aus und ein, was den zuweilen grimmig verdroß. Es blieb dem Schuster jedoch nicht lange verborgen, wie trübsinnig sein reicher Freund dahinlebte, und so sprach er eines Tages zu ihm: »Wie ist es nur möglich, daß du bei deiner Weisheit und deinem Reichtum immerzu mit Ungemach und Nöten im Streite liegst, während ich armer und einfältiger Mann friedsam und fröhlich meine Tage lebe? Vielleicht würdest du glücklicher sein, wenn du mit geringem Verstande und arglos wie ich in der Welt stündest.« »Guter Freund,« lachte da der Kluge, »das möchte mir immerhin etwa beschieden sein, daß mich eines Tages Krankheit befiele und meinen Verstand zerstörte, also daß ich würde wie du. Du aber kannst ohne Sorge leben, daß dich jemals meine Weisheit überkäme und du vielleicht gar leben müßtest wie ich; denn solches kann nun und niemals geschehen.« Indessen war es in der ganzen Stadt üblich, den armen Schuster nicht anders als den Einfältigen, und seinen reichen Genossen nicht anders als den Klugen zu nennen, und mit diesen Beinamen standen sie auch in dem Buche eingetragen, in dem man sämtliche Insassen des Ortes nach Namen und Art verzeichnet hatte. Nun fügte es sich einmal, daß der König des Reiches in diesem Buche blätterte und so erfuhr, daß es in einer Stadt seines Landes zwei Männer gab, von denen der eine schlechtweg der Kluge und der andere schlechtweg der Einfältige geheißen wurde. Da erwachte in ihm die Lust, die beiden kennen zu lernen, und er äußerte vor seinem Gefolge den Wunsch, man möge diese Männer zu ihm einladen. Alsbald aber fragte er sich: »Werden die beiden nicht erschrecken, wenn sie plötzlich eine Botschaft ihres Königs trifft? Der Weise wird vor Ehrfurcht nicht wissen, was er zu antworten hat, und der Einfältige am Ende gar ganz zum Narren werden. Es wird deshalb wohlgetan sein, ich wähle zwei meiner Hofleute, einen Klugen als Boten für den Klugen, und einen Einfältigen, daß er mit dem Einfältigen umzugehen verstehe, und sende sie zum Statthalter jener Provinz meines Reiches. Diesem lasse ich mein Vorhaben zu wissen tun, damit er die Boten auf angemessene Art zu den beiden weise. Dann möge man ihnen auch nicht sagen, der König befehle ihnen zu kommen, sondern sie würden ihn erfreuen, wenn sie es

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täten.« Ein Kluger ward zu diesem Behufe leicht gefunden, aber schwer war’s, einen Einfältigen herbeizuschaffen, denn wo in aller Welt würde solch einer in des Königs Nähe geduldet? Ja in der ganzen Königsstadt war kaum einer zu ermitteln. Dem Herrscher und seinen Beratern war das Nachforschen schon sauer geworden, als ihnen gerade noch beifiel, daß doch ein Einfältiger unter ihnen lebe, des Königs Schatzmeister nämlich, denn unter allen Ämtern am Hofe war seines das einzige, das einem Klugen nicht wohl hätte anvertraut werden mögen, da er ihm leichtlich mehr zu seinem eigenen Nutz und Frommen, als zu dem des Reiches hätte vorstehen können. So wurden also des Königs Schatzmeister und einer von seinen weisen Räten als Boten abgesandt. Sie kamen zum Statthalter, ließen ihn des Königs Willen wissen und fragten nach den beiden Leuten. Der Statthalter verwunderte sich und sagte ihnen: »Ja, den sie den Klugen nennen, der ist in Wahrheit ein großmächtig weiser, reicher und erfahrener Mann, und der mit Namen der Einfältige heißt, ist der armseligste Tor, den es je gegeben hat.« Zugleich kam ihm die Geschichte von dem Pelz in den Sinn, die jedermann kannte; er erzählte sie den Boten, damit sie ein Ansehen von dem geringen Verstande des Schusters bekämen und ließ ein festliches Gewand holen, um es dem Einfältigen zu überschicken, auf daß sein schlechtes Kleid des Königs Auge nicht verletze. Der Schatzmeister fuhr zum Orte des Schuhmachers, suchte dessen Haus auf, trat ein und überreichte ihm den königlichen Brief. Der Einfältige aber gab ihm das Schreiben zurück und sagte: »Wisse, daß ich des Lesens nicht kundig bin. Du mußt mir schon berichten, was hier geschrieben steht, wenn du willst, daß ich es erfahre.« Da antwortete ihm der Schatzmeister: »Der Sinn der Schrift ist dieser, daß dich der König einlädt, zu ihm zu kommen, denn er hat von dir gehört und ist begierig, dich kennen zu lernen.« Das dünkte dem Schuster sehr verwunderlich und er war bange, es möchte ihn Einer zum besten halten. Darum sagte er ganz treuherzig: »Nur ohne Spott!« Der Bote versicherte ihm: »Wahrhaftig, ohne Spott!« Da war die Freude des Einfältigen gewaltig. Er tanzte in der Stube herum und rief: »Weib, denke, welch ein Glück, der König ruft mich zu sich!« Gar fröhlich bestieg er den Wagen. Als ihm jedoch die köstlichen Kleider gereicht wurden, wehrte er sich dagegen und ließ sie sich nicht antun, denn er wollte in seinem geliebten wunderschönen Pelz vor den König treten. Während die beiden aber sich auf der Fahrt zur Residenz befanden, liefen beim König mannigfaltige Beschwerden über das Wesen und Treiben des Statthalters ein, der sein Amt mißbraucht und durch allerlei Ränke und Hinterlist das Land schwer zu Schaden gebracht hatte. Da er-

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grimmte der Fürst gar sehr über den Übeltäter, und mehr noch über seine eigenen Berater, die ihm diesen Mann als ein Muster von Weisheit und umsichtiger Führung gepriesen hatten, und er rief: »Allzu klug seid ihr mir, und über die Maßen habt ihr mir mit eurer Klugheit Leid angetan.« Und als die Räte murrten, erboste sich der König nur noch mehr und schrie: »Den einfältigsten Mann will ich zum Statthalter machen, denn seine Torheit kann nicht Schaden tun, wenn er nur redlich ist und einen geraden Sinn hat.« Wie er so sprach, entsann er sich, daß jener Einfältige, den er zu sich beschieden hatte, schon auf dem Weg zu dem Orte, wo der Statthalter lebte, sein müsse, und er beschloß, gerade ihm diese Würde zu verleihen. Er sandte daher in jene Stadt und befahl, daß man den Einfältigen mit großen Ehren empfange, und daß die weisesten und angesehensten Bürger ihn als ihren Obersten begrüßen sollten. Als der Schuster mit seinem Begleiter des Weges gefahren kam, geschah es, wie der König befohlen hatte. Der Einfältige geriet ob all des Gepränges und der Festlichkeit, mit der man ihm begegnete, in großes Staunen und er rief wie gewöhnlich: »Nur ohne Spott!« Aber bald überzeugte er sich, daß ihm die Würde wirklich zugedacht war, und er gab sich der Freude hin, daß ihm ein solches Glück beschieden sei. Und wie der Spruch sagt, daß Glück klug macht, so geschah es auch bei dem Schuster. Mit dem Amte ward ihm auch ein gut Teil Verstand, und je länger er sein Land verwaltete, desto mehr wuchs seine Weisheit. Dennoch aber hielt er sich einfach und redlich wie zur Zeit, als er ein armer Schuster gewesen war, und da er sein Leben selbst ohne Ränke verbracht hatte, wußte er Recht und Unrecht wohl zu durchschauen, und sein Richtspruch ward allenthalben geachtet. All sein Volk und seine Ratgeber gewannen Liebe zu ihm und sein Ruhm drang bald zum Könige, der nun nichts mehr sehnlicher wünschte, als einen Mann von so strenger Tugend und schlichter Weisheit an seiner Seite zu haben. So kam es, daß er den Einfältigen zum obersten Minister ernannte und ihm unweit seiner Residenz einen köstlichen Palast erbauen ließ. Als der andere Königsbote aber zum Klugen kam und seine Nachricht überbrachte, sprach der zu ihm: »Laß uns als vernünftige Leute nichts übereilen und bleibe daher diese Nacht bei mir, damit wir alles wohl überdenken und beratschlagen.« Und sogleich befahl er, ein reiches Mahl zu rüsten. Während sie aßen, ließ er all seinen Witz glänzen. Nachdem er viele scharfsinnige Dinge vorgetragen hatte, kam er auf die Botschaft des Königs und sprach folgendermaßen: »Wer bin ich, daß ein mächtiger König meiner begehrt? Was gilt mein geringes Vermögen, was mein unbedeutender Verstand gegen die ungemessenen Reichtümer und die glorreiche Weisheit eines Herrschers? Hat er nicht genug der edlen Va-

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sallen und der tiefsinnigen Berater an seinem Hofe, daß er mich kleinen und unwürdigen Mann zu sich bescheiden sollte?« Nun sann er lange und in sich gekehrt über seine eigenen Worte nach und rief endlich: »Unmöglich ist es, lasse dir sagen, daß ein König dergleichen täte. Übelgesinnte Menschen haben dich betört, als sie dich mit dieser Botschaft zu mir gehen hießen. Die Wahrheit ist, daß es überhaupt keinen König gibt. Oder hast du etwa das Schreiben, das du mir brachtest, aus seiner Hand empfangen?« Da sprach der Bote: »Nein, ich muß dir gestehen, daß ich es nicht vom Könige selbst, sondern von einem seiner Beamten erhalten habe.« »Hast du den König denn je zu Gesicht bekommen?« fragte der Kluge weiter. »Du scheinst mit den Sitten der Könige wenig vertraut zu sein,« antwortete der Abgesandte, »sonst wüßtest du wohl, daß sie sich gar selten dem Volke zeigen, und wenn es geschieht, so sind sie von so zahlreichem Gefolge umgeben, daß es schwer ist, des Königs ansichtig zu werden.« »Wenn du es recht bedenkst,« sprach da der Kluge, »wirst du gewahr werden, wie deine eigenen Worte beweisen, daß ich im Rechte bin. Denn wenn du, der du am Hofe einem wichtigen Amte vorstehst, den König nicht gesehen hast, wer sollte es dann wohl?« »Wer aber führt denn das Land?« fragte jener. Darauf erwiderte der Kluge: »Merke wohl auf, was ich dir sage, denn ich bin vielgereist und wohlerfahren. Sieh, im Lande Italia regieren siebzig edle Männer das Reich, sie werden vom Volke erwählt und teilen sich in die Führung der Staatsgeschäfte. Allda kann jeder würdige und verdienstvolle Bürger zur Herrschaft gelangen. Hier aber regieren gewiß die hohen Beamten und Höflinge, sie machen die Gesetze und tun was ihnen beliebt. Fragt aber das Volk: Wer verlangt das von uns? so antworten sie: Ei, euer König, und an euch ist es, ihm zu gehorchen. Siehe, so gebieten sie nach ihrem Willen, und der König ist nichts als ein leerer Name, den sie ersonnen haben, um das Volk zu schrecken und zu bändigen.« Da begann die Rede in die Ohren des Boten einzugehen, und der Zweifel wurde stark in ihm. Sein gelehrter Wirt aber redete weiter: »Vieles der Art könnte ich noch vorbringen, aber warte bis morgen, dann hoffe ich dich zu überzeugen.« Am nächsten Morgen erhoben sie sich zeitig und gingen selbander auf den Marktplatz. Dort trafen sie auf einen Soldaten, und der Kluge redete ihn also an: »Mein lieber Freund, sage mir, wem dienest du?« »Nun,« antwortete der, »wem dient wohl ein Soldat? Dem Könige, sollte ich denken!« »Dienest du schon lange?« fragte der Weise. »Wohl,« sprach der, »ich habe in mancher Schlacht treu für meinen Herrn gestanden und achte kein Handwerk höher denn das meine, des Königs Fahne hochzuhalten.« »Da kennst du deinen König wohl gut,« sagte der Kluge, »da du ihn also liebst?« »Ich habe ihn nie gesehen,« erwiderte jener traurig,

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»ob es gleich meines Lebens bester Wunsch war.« Da sprach der Weise zu seinem Begleiter: »Gibt es eine größere Narrheit, als daß einer sein Blut läßt für einen, den es nicht gibt? Und glaube mir, in solchem Irrtum ist das ganze Volk befangen.« Da ließ sich der Bote von seinem Genossen überzeugen, und als dieser ihm sagte: »So du willens bist, mit mir in die Welt zu ziehen, will ich dir der Menschen kurzen Sinn und verkehrte Meinung allerorten aufdecken,« war er gleich bereit, und die beiden zogen von dannen. Wohin sie kamen, vermochten sie nichts anderes zu sehen als Wahn, Verblendung und Irrtum. Die Entdeckung, daß es keinen König geben könne, war ihnen zum Sprichwort und Maßstab für jegliches Ding geworden, und sie pflegten zu sagen: »Dies ist ebenso wahr, wie daß es einen König gibt.« Indem sie so aller Herren Länder durchzogen und für nichts einen Sinn hatten als für Fehl und Mangel des Menschengeistes, ließen sie ihre äußeren Glücksumstände so völlig außer acht, daß sie gar bald des Lebens Nöte bitterlich erfahren mußten, so daß sie ihre Pferde und was sie sonst an Habe mit sich führten, hingaben, um nur dürftigen Unterhalt zu gewinnen. So aller schicklichen Ausrüstung bar und jeder Unbill armer Wanderer ausgesetzt, zogen sie unverdrossen weiter umher, einen immer größeren Vorrat an trübseligen Erfahrungen sammelnd. Endlich aber beschlossen sie, in die Heimat zurückzukehren, um den gewonnenen Erkenntnisschatz zu verwerten und unter die Leute zu bringen. So kamen sie in die Stadt, wo der arme Schuster nunmehr als oberster Minister residierte. Als sie durch die Gassen dahinzogen, gewahrten sie vor einem unscheinbaren Häuschen eine große Menschenmenge, die sich um eine Reihe von Wagen gesammelt hatte, fürstliche Karossen und elende Dorfkarren untereinander, und als sie näher hinzutraten, erblickten sie in jedem Gefährt einen Siechen oder Kranken, der begierig darauf harrte, durch die niedere Tür des Häuschens Eingang zu finden. Andere Menschen traten heraus mit strahlenden Mienen und fröhlichen Lobpreisungen für den hilfreichen Mann, der durch seinen lauteren Zuspruch und die gute Kraft seines gesegneten Wesens den Kranken wunderbare Erleichterung in ihren Leiden und manchem völlige Genesung brächte. Der Kluge meinte zuerst, hier wohne ein berühmter Arzt, erfuhr aber zu seiner Verwunderung, daß dieser heilende Mann weder gelehrt, noch der ärztlichen Wissenschaft kundig sei, vielmehr im Munde des Volkes den Ruf eines Wundertäters genieße. Da brach er in ein zorniges Gelächter aus und sprach zu seinem Begleiter: »Haben wir deshalb die ganze Welt durchzogen, um der Narrheiten allergrößte an der Schwelle der Heimat zu finden? Bruder, lasse dir sagen, dies ist ein arger Betrüger,

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der den unwissenden Leuten das Geld aus der Tasche zieht.« Sie wandten sich ab und gingen weiter, und da sie seit langem nichts gegessen hatten und Hunger verspürten, suchten sie die letzten Groschen in ihren Taschen zusammen und traten in die nächste Garküche ein, um dort Mahlzeit zu halten. Während sie speisten, verhöhnten sie das Unterfangen des Wundertäters auf laute und unziemliche Weise, so daß der Wirt hinter dem Schanktisch auf sie aufmerksam wurde und verdrießlich ihren Reden lauschte. Da es um die Mittagsstunde war, füllte sich die Speisestube alsbald mit Gästen, die die Worte der beiden mit Unwillen vernahmen, und als noch der Sohn des Wundertäters eintrat und Zeuge ihrer Spottreden werden mußte, ergrimmte der Wirt und warf die beiden vor die Türe, und die Leute fielen über sie her und prügelten sie weidlich durch. Die zwei Klugen flohen erbittert von hinnen und eilten zur Stadtwache, um dort Schutz und Recht zu suchen. Als der Hauptmann der Stadtwache vernommen hatte, aus welcher Ursache die beiden mißhandelt worden waren, fuhr er auf sie los, überhäufte sie mit Schmähungen und stieß sie endlich hinaus. Denn auch er glaubte an den Wundertäter, der ihm sein schwerkrankes Kind gerettet hatte. Die beiden gingen nun von Gericht zu Gericht und huben überall ihre Klage an, aber allerorten war der Wundertäter angesehen und verehrt, sie wurden einmal ums andere abgewiesen und bekamen nur bittere Worte und Püffe auf den Weg. Endlich kamen sie vor den Palast des Ministers und baten die Wachen, man möge sie vorlassen, denn ihnen sei groß Unrecht geschehen. Sie wurden vor das Angesicht des Ministers gebracht und dieser, der einstmals der Einfältige geheißen war, erkannte sogleich in dem armseligen und verhetzten Wanderer seinen Jugendgenossen. Der aber erkannte in dem Minister den dürftigen Schuster nicht wieder, denn er trug seine Würde gar stattlich und weise. Der einstige Freund aber gab sich ihm zu erkennen, begrüßte ihn mit herzlicher Miene und fragte ihn nach seinem Begehren. Da erzählte der Kluge, daß man ihn jämmerlich geschlagen habe, um solch eines Betrügers willen wie dieser Wundertäter sei, der die ganze Stadt am Narrenseil führe. Der Minister lächelte, tröstete ihn und forderte ihn auf, zunächst mit seinem Begleiter in das Bad zu gehen, wo Diener ihrer harren und ihnen schickliche Gewänder reichen würden. Danach lud er sie ein, sich mit ihm zum Mahle zu setzen. Bei Tische frug der Kluge, der in großer Verwunderung ob des veränderten Wesens und der glänzenden Umstände seines Freundes war: »Sage mir, mein Lieber, wie kamst du nur zu dieser Würde?« »Mein Herr, der König hat sie mir verliehen,« erwiderte der Minister. »Wie,« sagte der Kluge, »auch du bist von diesem Wahnsinn ergriffen und glaubst an einen König! Ich sage dir fürwahr, es gibt keinen König.« »Wie magst du mir so Ungeheuerli-

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ches vorbringen?« rief der Minister, »schaue ich doch täglich des Königs Angesicht.« »Wer sagt dir,« höhnte der Kluge, »daß der, mit dem du sprichst, in Wahrheit der König ist? Warst du von Kindheit an mit ihm vertraut? Hast du seinen Vater und Großvater gekannt, daß sie Könige waren? Menschen haben dir gesagt, daß dies der König sei. Sie haben dich genarrt.« Da sprach der Minister zu ihm: »So lebst du denn immer noch in deiner Klügelei und siehst das Leben nicht und tötest jegliche Freude? Sieh, du sagtest einst, es würde dir eher möglich sein, zu meiner Einfalt zu kommen, als mir zu deiner Klugheit. Nun bin ich wohl zu Weisheit gekommen, nie aber wirst du bei der Einfalt einkehren und ihre Gaben empfangen.«

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Die Geschichte von dem Königssohn und dem Sohn der Magd

Es war vor vielhundert Jahren, da herrschte weit von hier ein großer König, der regierte gar gütig über ein weites und fruchtbares Land. In seinem Palaste war eine Magd, die tat der Königin treue Dienste, und deren Herz war ihr hold und geneigt. Es war der Königin Gürtelmagd, sie hatte nur leichte Verrichtung und diente ihrer Frau im Hause des Königs. Da kam der Tag, da die Königin einen Sohn gebären sollte, und zur selben Stunde sollte solches auch der Magd widerfahren. Die Diener holten eine weise Frau herbei, die genoß um ihrer Klugheit und geheimer Künste willen ein großes Ansehen rings im Land. Sie hob den Sohn des Königs ans goldene Sonnenlicht und hob auch den Sohn der Magd. Dann hüllte sie das Königskind in grobes Linnen und legte es neben die schlafende Magd, das Kind aber, das die Magd geboren als eines Knechtes Sohn, wickelte sie in weiche Seide und bettete es auf das Lager der Königin. Als die Mütter erwachten, herzte jede das Kind in ihrem Arm. Die Knaben wuchsen schön und kraftvoll heran. Der Sohn des Knechtes wurde im Palaste geehrt und erhoben über alle Söhne des Landes. Er war der nächste unter dem Könige und saß auf silbernem Sessel neben dem Throne. Er wurde unterwiesen in allem, worin die Weisen des Landes und die Räte des Königs kundig waren. Der Sohn des Königs aber blühte auf unter dem niederen Dache eines Knechtes, und der Grund seines Herzens und sein helles Auge waren die einzigen Quellen seiner Weisheit. Wiewohl er einen niederen Mann Vater nannte, erfand man an ihm stolze Art und ein freies Wesen. Über alles liebte er die einsamen Pfade des Gebirges und mied es, der Lärmenden Genoß zu sein. Dem aber, der im Palaste weilte, war fremd und kalt zumute in dem blanken Schimmer der Königshalle, und er blickte oft hinaus, wo zwei Säulen sich öffnen und des Himmels Farbe hineinscheint, und sein Herz zog ihn zu dem Ackersmann, der mit dem Pfluge die schwarze Erde durchschneidet. Die weise Frau aber hauste draußen vor der Stadt, wo der Wald anhebt, in einem Hüttlein. Sie war gar grau und trug die Last vieler Jahrzehnte und fühlte ihren Tod nahen. Da bedrückte sie das Geheimnis gar sehr, daß sie des Königs Sohn vertauscht hatte mit dem Sohne der Magd. Und ob sie gleich sehr weise war und verborgener Kräfte kundig, verursachte es ihr doch nach der Weiber Art Pein, ihr Geheimnis in ewige Weile zu verschweigen. Da trat sie an das Fenster ihrer Hütte und redete es gar behutsam vor sich hin, daß es keiner vernehme als nur der Wind, der die Blätter der Birke regt. Der Wind jedoch trug es eilends den Weibern und Kindern zu, die im Walde Schatten und süße Beeren suchten. Die Frauen erzählten es daheim ihren Männern, und jeder Mann ver-

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traute es beim Abendtrunk seinem liebsten Freund. Die Männer der Stadt aber redeten so untereinander: »Lasset uns das Geheimnis wohl vor dem König bewahren, auf daß Unheil und Zweifel seine alten Tage nicht heimsuchen! Denn was sich ereignet hat, ist nicht zu bessern. Sollen wir den Jüngling, der in niederem Hause großwuchs, dereinst als König über uns setzen? Und kann nicht auch alles Lüge sein und eine müßige Mär?« Dennoch war einer in ihrer Mitte, der ging hin und verriet es dem falschen Königssohne und sprach: »Wisse, daß viele im Volke sind, die dich als den Sohn der Magd erachten, und gar leicht, denk ich, möchte einst die Zeit kommen, da sich das Land wider dich empört und jenen an deine Stelle hebt, trägst du nicht beizeiten Sorge, daß er verderbe.« Als der falsche Königssohn dies vernahm, ging er in die dunkelste Kammer seines Schlosses und sann Böses. Von Stund an verließ ihn der Unmut nimmer. Er ritt im Morgengrauen mit seinen Genossen aus und zertrat die Saat auf den Feldern des Mannes, der in Wahrheit sein Vater war. Und fortan tat er ihm Schaden an, wo er konnte. Es kam die Zeit, da der König alt ward und starb, und der falsche Königssohn bestieg den Thron und regierte das Land. Nun bedrückte er den Knecht immer grausamer. Der aber verstand gar wohl, warum ihm so geschah; und er sprach zu seinem Pflegling, der in Wahrheit der Königssohn war, und erzählte ihm, was die Leute von ihm redeten, und wie der König einen Haß auf ihn geworfen habe. Und er sprach: »Siehe, ich habe ein großes Erbarmen über dich: bist du mein Sohn, wie sollte ich nicht trauern, da jener dich vernichten will? Bist du aber der Königssohn, wie sie sagen, dann gebührt dir ein solches Schicksal fürwahr nicht. Darum fliehe aus dem Lande.« Da versank der Jüngling in Schwermut und fand keinen Rat bei sich. Der König aber verfolgte ihn mit Unbill aller Art, und sein Haß wuchs mit jeder Morgenröte. Endlich wurde jener willens zu fliehen. Sein Pflegevater gab ihm, was er an Gold besaß, und ließ ihm reiche Gewänder anfertigen. Und der Jüngling zog traurig aus dem Lande. In der Fremde verbrachte er seine Tage müßig, vertrank seine Goldstücke des Abends mit den jungen Leuten in den Schenken und warf sie den gleißenden Tänzerinnen zu. Aber sein Herz blieb schwer. Der falsche König regierte indessen sein Land hart und ohne Gnade. Wenn er mit düsterem Angesicht durch die Straßen seiner Stadt hinging und alle sich vor ihm neigten, glaubte er allemal ein Flüstern aus der Menge zu vernehmen, das ihn Sohn des Knechtes schalt. Und er wandte sich finster ab und verhängte neue Pein über sein Volk. Eines Tages zog er mit seinem Gefolge auf die Jagd, und sie kamen an einen Ort, wo es dem Könige lieblich dünkte zu weilen. Und er legte sich

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unter einem Baum zur Ruhe. Und der Baum stand in Blüte und neigte seine Zweige über ein helles Wasser. Da kam es den König an, daß er ein Unrecht verübt und einen Unschuldigen vertrieben habe. Dies legte sich schwer auf seinen Sinn und nahm alle Lust von ihm, also daß er seine Leute umkehren hieß. Als er aber im Palaste weilte, wich die Sorge von ihm, und er tat wie vordem. In derselben Zeit hatte der wahre Königssohn eines Nachts einen wunderlichen Traum. Er sah einen Markt vor sich, und es wurde ihm im Schlafe befohlen, auf diesen Markt zu gehen, dort würde einer auf ihn zukommen und ihm Arbeit weisen, die solle er auf sich nehmen, auch wenn sie ihm beschwerlich und niedrig schiene. Er erwachte, und der Traum war ihm tief in die Seele gedrungen. Dennoch schlug er sich ihn aus den Gedanken und lebte bei Spiel und Gelage wie zuvor. Aber der Traum überkam ihn zum andern Mal, und er kam wieder und immer wieder und lastete arg auf seinem Gemüte. In einer Nacht hatte er den Traum abermals, und er hörte die Stimme sagen: »Willst du dich deiner erbarmen, so versäume dich nicht und tue alsbald, wie dir geheißen ist.« Da erhob er sich beim Tagesgrauen vom Lager, hüllte sich in das schlichte Gewand eines Dieners, verschenkte, was er noch an Gold und kostbaren Kleidern besaß, an die Leute in der Herberge und zog zur Stadt hinaus, den Weg, den ihm die Stimme gewiesen hatte. Nachdem er eine gute Weile unterwegs war, sah er in der Ferne einen Markt und erkannte den Ort wieder, den er im Traum gesehen hatte. Gleich zu Beginn des Marktes trat ihm ein Kaufmann entgegen und sprach ihn also an: »Begehrst du Arbeit, so verdinge dich bei mir als Viehtreiber, ich brauche noch einen.« Dem Jüngling schien es hart, aber der Traum beherrschte ihn, und er willigte ein. Und der Kaufmann hieß ihn hierhin und dorthin und gebot ihm nach der Art eines rauhen Herrn. Und es erschien ihm ein böses Ding, dienen zu müssen und mit den anderen Hirten neben dem Vieh einherzulaufen. Der Kaufmann ritt neben den Herden und strafte die unachtsamen Treiber mit grausamen Stockschlägen. So zogen sie durch einen dichten, dunkeln Wald. Da wichen zwei Tiere von der Herde des Jünglings vom Wege ab und verschwanden zwischen den Bäumen, die so eng nebeneinander standen, daß es schien, als ob sie ihr Geäst zu einer einzigen großen Krone verflochten hätten. Der Kaufmann fuhr auf ihn los und drohte ihn zu töten. Der Jüngling eilte den Tieren nach, und da sie sich im Dickicht stets von neuem seinen Blicken zeigten und verschwanden, geriet er immer tiefer in den Wald. Als er endlich erschöpft innehielt, gewahrte er, daß die Nacht im Walde eingekehrt war. Das Grausen der großen und fremden Wildnis überfiel ihn; schauervoll

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drang das Brüllen des Getiers zu ihm. Er stieg auf einen Baum und verbrachte die Nacht in dem starken und dichten Gezweige. Als er am Morgen um sich blickte, standen seine beiden Tiere friedlich unter dem Baume. Er stieg hinab, um sie zu greifen, aber da er Hand an sie legen wollte, flohen sie wieder, und wieder jagte er ihnen nach. Zuweilen blieben sie in einer Lichtung stehen, um etwas Gras zu fressen; kam er aber heran, so lockten sie ihn wieder tiefer in den Wald. Er folgte ihnen bis in die dichteste Mitte des Waldes, wo die wilden Tiere hausen, die die Furcht nicht kennen, weil sie fern von den Wohnstätten der Menschen sind. Wieder brach die Nacht an, und der Schrei der Wildnis drang gräßlich an sein Ohr. Er bestieg einen sehr hohen Baum, und siehe, da lag ein Mensch. Er erschrak; aber da er gewahrte, daß es ein Wesen war wie er, machte es ihn froh, nicht mehr allein zu sein, und er fragte den anderen: »Wer bist du, Mensch?« Und der andere fragte ihn zurück: »Wer bist d u , Mensch, und woher bist du gekommen?« Und der Jüngling gab ihm Bescheid: »Zwei Tiere, die sich von der Herde entfernten, haben mich hierher verlockt; aber sage mir, wie bist d u hierher gekommen?« Da antwortete ihm jener: »Mich hat mein Pferd an diesen Ort gebracht: ich stieg ab, um zu ruhen, da entlief das Tier, ich jagte ihm nach und vermochte nicht, es einzuholen, und kam endlich hierher.« Da besprachen sie sich und kamen überein, daß sie zueinander halten wollten für alle Zeiten, auch wenn sie in das Reich der Menschen zurückkämen. Als aber die Nacht der Dämmerung zu weichen begann, erscholl die Stimme eines gewaltigen Lachens dröhnend über den Wald hin und machte ihn erzittern, und wie der Sturmwind ergriff sie den Baum, auf dem die beiden lagen, und bog ihn zur Erde nieder und schnellte ihn wieder in die Luft, also daß den Jüngling das Grauen überkam. Da sprach sein Genosse zu ihm: »Ich habe jetzt keine Furcht mehr, denn ich bin schon mehrere Tage und Nächte an diesem Ort, und jedesmal, wenn die Finsternis zu schwinden beginnt, braust dieses Lachen über den Wald.« Und der Jüngling antwortete ihm: »Offenbar ist dieses ein Ort der Geister, denn nie, solange die Welt besteht, ist im Reiche der Menschen eine Stimme gehört worden wie diese.« Bald darauf wurde es lichter Tag, und siehe, da standen die Tiere des Jünglings unter dem Baume, und auch das Pferd seines Gefährten hatte sich eingefunden. Sie stiegen zu Boden, die Tiere entwichen wieder, und jeder folgte den seinen in den Wald hinein, und so entfernten sie sich voneinander. Und wie der Jüngling dahinlief, sah er plötzlich etwas zu seinen Füßen liegen, und da er sich niederbeugte, war es ein Sack, mit schönem frischen Brote gefüllt. Da stillte er seinen Hunger und war voller Freude, denn was hätte er Besseres finden können

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in der Wildnis? Als er sich gesättigt hatte, nahm er den Sack auf seine Schultern und folgte den Tieren weiter. Aber wo der Wald ins tiefste Dunkel mündet und unentwirrbar wird, trat ihm auf seinem Weg ein Mann entgegen, fast nach Menschenart, jedoch so seltsam, wie er noch nie ein Wesen gesehen hatte. Wirre braunrote Haare wehten wie Flammen um sein erdgraues Gesicht, in dem tief eingebettet zwei grüne Augen wie große Malachitkugeln lagen. Sein Gewand schien aus der Haut von tausend Eidechsen gefertigt zu sein. Er blitzte den Jüngling mit den Augen so durchdringend an, daß der gebannt nicht von der Stelle weichen konnte. Das Waldwesen aber sprach ihn also an: »Wie bist du hierhergekommen?« »Und wie bist d u hierhergekommen?« fragte der Jüngling zurück. Da antwortete es: »Ich bin hier von Uranbeginn, – aber du, wie kommst du hierher? Denn niemals noch gelangte einer aus dem Reiche der Menschen an diese Stätte.« Da merkte der Jüngling, daß sein Begleiter kein Mensch war. Der Waldgeist aber tat ihm nichts Böses an und fragte noch einmal: »Was suchst du hier?« Darauf erwiderte jener: »Ich jage zwei Tieren nach, die sich von meiner Herde entfernt haben.« Da sprach der Waldgeist: »Genug: nun komm mit mir.« Und der Jüngling ging hinter ihm her und wagte nicht ihn anzusprechen. Unterwegs traf er auf seinen Genossen der Nacht, und er gab ihm ein Zeichen, daß er mitkommen möge. Da bemerkte der den Sack mit Brot auf seinen Schultern und begann ihn anzuflehen: »Mein Bruder, ich habe so viele Tage nicht gegessen, gib mir Brot.« Er antwortete: »Wie kann ich dir mein Brot geben? bedenk, womit werde ich mein eigenes Leben fristen in dieser Wildnis?« Der andere aber bat und drängte weiter und sprach: »Ich will dir mich selbst völlig zu eigen geben als dein Knecht, wenn du mir von dem Brote gibst.« Und der Jüngling nahm ihn an als seinen ewigen Knecht, und jener schwur mit Eiden, daß er ihn nie verlassen wolle; und der Jüngling teilte ihm von dem Brote mit, soviel er essen mochte. Sie folgten nun gemeinsam dem Waldgeist. Und endlich kamen sie aus dem Walde in ein düsteres Tal. Der Boden war von Schlangen und Salamandern bedeckt, die ihre feuchten glatten Leiber übereinander wälzten. Und der Jüngling fragte den Waldgeist: »Wie werden wir hier durchkommen?« Der antwortete ihm: »Scheint dir dieses schon wunderbar, um wie viel wunderbarer wird es dich bedünken, daß du in mein Haus kommen wirst?« Und er zeigte ihnen sein Haus, das hoch über ihren Köpfen in der Luft stand. Und er ergriff sie bei den Händen und hob sich mit ihnen in die Luft und brachte sie unangefochten in sein Haus. Dieses war angefüllt mit absonderlichen Geräten, deren Bedeutung der Jüngling nicht kannte; aber es fand sich auch alles darin, was ein menschliches Wesen zu seinem

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Unterhalt gebraucht. Der Waldgeist stellte ihnen gute Dinge zum Essen und zum Trinken im Überfluß auf den Tisch und verließ das Haus, wie er gekommen war. Jene aber blieben und sättigten sich. Da verdroß es den Knecht sehr, daß er sich verkauft hatte um einer Stunde willen, denn nun hatte er ja Speise in Fülle. Er seufzte und stöhnte laut: »Wie komme ich zu einem solchen Leben? Wie komme ich dazu, Knecht zu sein?« Da fragte ihn der Jüngling: »Von was für einer Größe kommst du denn her, daß es dich dergestalt verdrießt, zu dienen?« Darauf antwortete ihm jener und erzählte ihm, wie er ein mächtiger König gewesen sei im Reiche der Menschen, und wie sie im Volke geraunt hätten, daß der wahre König als Kind nach der Geburt entfernt worden sei und im Hause eines Knechtes als dessen Sohn lebe, indessen er, des Knechtes Sohn, auf dem Throne sitze; und wie er jenem seither viel Böses angetan habe, bis daß er das Land verließ. Und weiter erzählte er, eines Nachts sei ein Traum über ihn gekommen und die Stimme des Traums habe ihm befohlen: »Wirf dein Königtum von dir und gehe hin, wohin deine Augen dich führen, denn du mußt deine Schuld sühnen;« und er habe des Traums nicht geachtet; der aber sei immer wiedergekehrt, und keine Nacht habe er Ruhe gefunden, bis er endlich tat, wie ihm geheißen war, und das Königtum von sich warf und dahinging; und nun ist er ein Knecht geworden. Alles dies vernahm der Jüngling und schwieg; und er verstand, wer sein Genosse war. In der Abenddämmerung aber kam der Waldgeist und reichte ihnen Speise und Trank und bereitete ihnen ein Lager. Gegen Morgen erscholl wieder die Stimme des gewaltigen Lachens über den Wald hin. Und der Knecht redete dem Jüngling zu, den Waldgeist zu fragen, was das sei. Und er fragte ihn: »Was ist diese Stimme, die in der Morgenfrühe über den Wald braust?« Da sprach der Geist: »Das ist das Lachen, mit dem der Tag die Nacht auslacht, wenn sie beim Nahen der Dämmerung ihn fragt: ›Warum habe ich keinen Namen mehr, wenn du kommst?‹ und da bricht der Tag in ein Gelächter aus und nimmt Besitz von der Erde.« Und nachdem er dies gesagt hatte, verließ sie der Waldgeist wie vordem, und er kehrte erst am Abend zurück. In der Nacht aber hörten sie in einem mächtigen Anschwellen die Stimmen aller Waldtiere; und sie erkannten das Brüllen des Löwen und das schaurige Geheul des schweifenden Pardeltieres und das süße Gurren der Waldtaube und den Schrei des Hirsches, und immer neue Stimmen mengten sich darein. Und erst klang ihnen alles wie ein großes Gewirr; je mehr sie aber ihr Ohr hinneigten, empfanden sie, daß es die erhabene Weise eines wunderbaren Liedes war, also daß ihnen alles Glück der Erde eitel dünkte gegen die starke Wonne dieses Gesanges. Und es beredete der Knecht den Herrn, den Waldgeist zu fragen, was das sei, und der tat also. Da antwortete ihm der Geist: »Die

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Tiere des Waldes haben vernommen, daß die Sonne dem Mond ein neues Silbergewand beschert hat. Und da der Mond ihr großer Wohltäter ist und sein Licht über ihre nächtlichen Wege streut, denn die Tiere des Waldes bergen sich am Tag und wachen des Nachts, so haben sie beschlossen, ihn zu ehren mit einem neuen Liede und haben die Weise erdacht, die ihr gehört habt.« Und da sie sich des verwunderten, fuhr er fort: »Erscheint euch dieses schon seltsam, um wie viel mehr werdet ihr erstaunt sein, daß ich einen wundersamen Stab besitze, in dem die Kraft lebt, daß jedes Tier, das man damit berührt, diese Weise singen muß!« Am dritten Morgen aber führte sie der Waldgeist aus seinem Hause durch die Luft auf den Waldweg, wo er sie gefunden hatte, und er sprach zu ihnen: »Kehret nun in das Reich der Menschen zurück!« Da erwiderte ihm der Jüngling: »Wohin sollen wir uns wenden?« Der Waldgeist sagte: »Forschet nach dem Lande, das genannt wird das närrische Land mit dem weisen König!« Und er wies ihnen die Richtung des Weges. Und zum Abschied reichte er dem Jüngling den wunderbaren Stab, von dem er gesprochen hatte, als Gabe und hieß ihn guter Dinge sein und verschwand. So machten sie sich denn auf den Weg und kamen in den Bereich der Menschen und gingen weiter, bis sie zu dem Lande gelangten, das genannt wurde das närrische Land mit dem weisen König. Das Land war von einer Mauer umgeben, und sie mußten sie mehrere Meilen umgehen, bis sie an das Tor kamen. Als sie eintreten wollten, verweigerte ihnen der Torwart den Einlaß. Da rief der Jüngling: »Das ist fürwahr ein närrisches Land, das keinen Wanderer einläßt!« Der Mann am Tor erwiderte ihm: »Bislang nannte man unser Land das närrische Land mit dem weisen König, aber nun ist unser König gestorben, und er hat bei seinem Tode befohlen, daß man nach ihm das Land nenne das weise Land mit dem närrischen König, bis einer kommen würde, der es durch seine Weisheit unternähme, den ersten Namen wiederherzustellen, und der solle König werden an seiner Statt. Daher lassen wir keinen ein, er unterfange sich denn solcher Tat. Bist du dazu bereit, so tritt ein.« Das wagte der Jüngling nicht und trat gesenkten Hauptes zurück. Der Knecht sprach ihm zu, sie sollten nach einem andern Lande ziehen, denn hier sei doch ihres Bleibens nicht. Er aber wollte es nicht, denn er gedachte der Worte des Waldgeistes. Inzwischen gesellte sich noch ein Mensch zu ihnen im schwarzen Kleide, der auf einem ganz schwarzen Pferde saß. Er ritt auf sie zu und blickte den Jüngling an, dem wunderlich zumute ward; und es war ihm, als sei er gezwungen, mit seinem Stabe das Pferd zu berühren. Er tat es, und das Pferd begann die Mondweise zu singen mit einer gar köstlichen Stimme. Da lachte der schwarze Mann und sagte

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höhnisch: »Willst du in Ewigkeit nur Spiel und Schabernack treiben mit deinem Stabe? Und ist dir nicht in den Sinn gekommen, daß er dir zu Besserem verliehen ist? Du Tor! Ist dir nicht offenbar worden, daß dies Gerät aus jedem Wesen die eigene Stimme seines Herzens lockt und daß du, solang du es besitzest, jedes Ding aus dem Herzen des Dinges verstehen kannst?« Und nach diesen Worten wendete der Fremde sein Pferd und ritt davon. Da verstand der Jüngling, warum ihn der Waldgeist hierher gewiesen hatte, und er kehrte zum Tore zurück und begehrte Einlaß und vermaß sich, die Tat zu vollbringen. Die Wache führte ihn zu der Versammlung der Fürsten. Die saßen im Königssaale rings im Kreis und waren in großen Nöten und wußten sich keinen Rat. Und die Fürsten sprachen zu ihm: »Wisse, daß auch wir keine Narren sind, aber der verstorbene König war ein großmächtiger Weiser, also daß wir alle gegen ihn nur als Narren geachtet sind; darum nannte man das Land das närrische Land mit dem weisen König. Und der König hinterließ einen Sohn; auch er ist weise, aber nur so viel, daß er gegen uns ein Narr ist; und deswegen hat der alte König sterbend befohlen, daß der Name des Landes umgekehrt werde, bis einer käme, der ihm an Weisheit gleich wäre und den ersten Namen wiederherstellte. Dem, der das vermag, solle sein Sohn die Herrschaft übergeben. Wisse also, Jüngling, wessen du dich unterfängst, und daß die Prüfung schwer ist. In unserer Stadt ist ein wundersamer und furchtbarer Garten, der in uralter Zeit von einem Riesengeschlechte gepflanzt wurde. Darin wachsen gewaltige Waffen von Stahl und silbernes Kriegsgerät und goldenes Kriegsgerät auf weitem Feld wie Bäume aus der schwarzen Erde hervor. Betritt jedoch ein Mensch den Garten, dann erheben sich die Geister des vergangenen Riesengeschlechtes, das ihn gepflanzt hat, und verfolgen ihn, und er wird von unsichtbaren Mächten gejagt, bis er aus dem Garten flieht. Nun wollen wir sehen, ob du ein Weiser seist und die Geister zu bezwingen vermögest.« Der Jüngling ließ sich den Weg zum Garten zeigen. Ringsum war eine Mauer gezogen, ein verrostetes Tor hing offen in den Angeln, kein Wächter war zu sehen, und im weiten Umkreis gewahrte er nichts Lebendiges. In einer Vertiefung der Mauer neben dem Tor stand hinter silbernem Gitter die Bildsäule eines Menschen mit goldener Krone und goldenem Königsmantel, aber das Antlitz und die Hände waren aus Elfenbein. Über dem Bilde war eine alabasterne Tafel in die Mauer eingelassen, darauf standen in leuchtenden Zeichen die Worte: »Der hier steht, war ein König dieses Landes in alter Zeit, und vor ihm und nach ihm war ewiger Krieg, aber zu seinen Tagen war Friede.« Der Jüngling berührte das Gitter, und alsbald sprang es auf. Da verstand er, daß ihm geboten war, durch diesen König die

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Geister zu bannen und den Garten zu erlösen. Und er ergriff die Bildsäule und betrat mit ihr den Garten und stellte sie in der Mitte des Gartens auf. Nichts regte sich, und er kam in Frieden heraus. Da ging er hin und sagte es den Fürsten an, und sie kamen herbei, und er führte sie in den Garten in Frieden. Dann sprachen die Fürsten zu ihm: »Wiewohl wir dies gesehen haben, können wir dir doch das Königreich um der einen Tat willen noch nicht geben. Du mußt eine zweite Prüfung bestehen. Von alter Zeit her ist in unserm Lande ein hoher geschnitzter Thronsessel in einer marmornen Säulenhalle auf einem Hügel in der Mitte des Reichs errichtet. Der Stuhl ist aus dem Holze eines heiligen Baumes geschnitzt und wunderbar verziert mit den Gestalten aller Tiere und Gewächse, die es im Lande gibt. Vor ihm steht ein Tisch, und auf dem Tische steht ein Leuchter mit sieben Armen. Und ehedem war es so, daß jeder, der auf dem Thronsessel saß, das ganze Land überschaute, und es blieb ihm keine Tat geheim, die darin geschah. Und wer die sieben Arme des Leuchters entzündete, erkannte alle Gedanken, die rings im Lande gedacht wurden. Aber seit dem Tode des alten Königs trüben sich dem auf dem Stuhle die Augen, und er sieht nicht mehr, was ihn umgibt; und der Leuchter brennt nicht mehr, wenn man ihn entzünden will. Vom Thronsessel aus aber gehen viele Wege, gleich den Strahlen eines Sternes, nach allen Richtungen durchs ganze Land. Und inmitten jedes Wegs steht ein geflügeltes, goldenes Tier. Und ehedem sangen alle Tiere um Mitternacht eine wunderbare Weise. Aber seit dem Tode des alten Königs verharren sie in Schweigen, und wenn ein Mensch ihnen naht, reißen sie den Rachen auf und verschlingen ihn. Und das ganze Volk lebt in Angst und Bestürzung, und niemand ist, der verstünde, wie all dies gekommen sei. Nun wollen wir sehen, ob du ein Weiser seist und es wiederherzustellen imstande wärest, wie es gewesen ist.« Und sie führten ihn in die Halle zu dem Stuhle. Und als er ihn ansah, wußte er, daß er aus demselben Holze geschnitzt war, wie der wunderbare Stab, den ihm der Waldgeist geschenkt hatte. Und er ging hinzu und betrachtete ihn genau, um zu sehen, was damit geschehen sei, daß er seine Kraft verloren habe. Da bemerkte er, daß an der Spitze des Sessels ein winziges geschnitztes Röslein fehlte. Er ging umher und suchte und fand es verborgen unter einem Steine der Halle und fügte es dem Throne ein. Dann betrachtete er den Leuchter und fand, daß er von der Mitte des Tisches um ein weniges abgerückt war, und er brachte ihn an seine rechte Stelle. Hierauf bestieg er den Stuhl und entzündete den Leuchter. Und er überschaute das ganze Land und alle Gedanken und Taten, die vergangenen und die gegenwärtigen. Und er begriff, daß der alte König vor seinem Tode alles mit Absicht so verwirrt hatte, auf daß

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der Weise gefunden werde, der es wiederherstellen und jedes Ding an seinen rechten Ort bringen könnte. Und er sah die Tiere auf den Wegen stehen und bemerkte, daß auch sie um ein weniges von ihrer Stelle gerückt waren. Und er ließ alle Tiere an ihren alten Ort rücken, und die Tiere ließen die Menschen an sich herankommen. Und als das letzte Tier an seine Stelle kam, da war es Mitternacht, und alle stimmten die wunderbare Weise an. Da gaben sie dem Jüngling das Königtum. Und er sprach zu seinem Knechte: »Nun verstehe ich, daß ich in Wahrheit der Königssohn bin und du in Wahrheit der Sohn der Magd.«

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Die Geschichte vom Meister des Gebets

Es lebte einst ein Mann, welcher der Meister des Gebetes geheißen wurde. Der diente Gott alle Tage seines Lebens mit Lobpreisung und Gesängen und besaß in diesem Tun eine Kraft und Vollkommenheit, wie sie nie noch auf Erden in der Seele eines Erschaffenen erstanden war. Fern von den Wohnungen der Menschen hatte er seinen Ort erwählt an einem stillen, rings umschatteten See. Zuweilen geschah es, daß er sich aufmachte, die Stätte seiner Sammlung verließ und die Welt der irdischen Geschlechter heimsuchte. Da schloß er sich an diesen und jenen, der ihm von ungefähr begegnete, begann zu ihm zu reden und erhob, von Gesprächen über die Dinge der Erde mit dem zutraulich werdenden Gefährten emporsteigend, dessen Seele und führte sie allgemach dem letzten Sinne alles Seins zu. Und manches Mal ereignete es sich, daß Ohr und Herz des andern sich ihm auftaten und seine Rede eingehen ließen, und dieser Mensch tat eilig alle Bande und alle Lust des Lebens von sich ab gleich einem hemmenden Gewande und folgte ihm. So wuchs eine Siedlung an den Ufern des Sees und festigte sich. Der Meister aber verstand in seinem wissenden Herzen gar wohl, was einem jeden aus seiner Gefolgschaft not tat, um ihm zu heiligem Fluge den Trieb zu geben, und so ließ er den Reichen dürftig und entbehrend leben, daß der schlichte Sinn in ihm wach sei, dem aber, der ein Bettler gewesen war, warf er goldgestickte Kleider über zur Feier seiner Seele. Indessen schwoll in den Gebieten der Menschen die Klage um die Verschwundenen, und bald wurde dem fremden Manne auf allen Wegen nachgestellt. Aber niemals vermochte ihn einer zu erreichen, denn ihm war die Gabe eigen, sich in jede menschliche Erscheinung zu wandeln, die er erdenken konnte. Unberührt wirkte er mit seinem Worte und führte, die sein geworden waren, hinweg. Zu der gleichen Zeit gab es in dem Bereiche der Welt ein Land, das wurde nach der Art seiner Bewohner das Land des Reichtums geheißen. Die suchten und sahen das Ziel ihres Lebens einzig im Gelde und wollten kein anderes Verdienst und keine andere Vollkommenheit anerkennen, als den Besitz. So waren alle Würden und Stufen bei ihnen nach dieser Geltung angeordnet. Es bedurfte eines bestimmten Maßes an Eigentum, um einfach ein bloßer Mensch zu sein; wer nicht so viel besaß, stand tiefer und war in ihrer Schätzung dem Rang nach ein menschenähnliches Tier oder ein kahles Vogelwesen und so, Tier oder Vogel, wurde er gerufen. Wem mehr als jenes Mindestmaß zu eigen geworden war, wurde in der Würde erhoben, und ein sehr Reicher stand den Sternen nah, denn er habe, so meinten sie, die Gewalt der Sterne, die das Gold im Schoß der

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Erde wachsen lassen. Die Allerreichsten aber, die das Ihre nimmer umfassen oder auch nur überschauen konnten, die erhoben sie zu Göttern über sich und dienten ihnen im Staube. Alljährlich war geboten, daß jeder seinen Besitz nachweise, auf daß er sich in seiner Würde erhalte oder steige oder falle, und da konnte denn zuweilen aus einem Menschen ein Tier werden und aus einem Tiere ein Mensch. Weil sie nun dergestalt Ordnung, Gesetz und Herrschaft nach dem Willen ihres Glaubens bestimmt hatten und in diesem den einzigen Sinn und das wahre Wesen des Daseins gefunden zu haben wähnten, wuchs und schwoll ihr Stolz ins Ungemessene, und endlich fanden sie, daß es ihrer Erhabenheit gar nimmer gezieme, innerhalb der Grenzen der Welt, unter den gewöhnlichen Menschen zu weilen, und sie zogen allesamt in ein Gebirge an dem Rande der Erde, denn sie vermeinten, daß es ihnen auch äußerlich anstehe, höher zu wohnen als die übrigen Erdenvölker und auf sie hinabzusehen. So bevölkerten sie in einzelnen Scharen die Höhen des Gebirges, verschütteten die Wege, die von ihnen in die Welt hineinführten, und ließen jedem Berge nur e i n e n heimlichen Zugang. Diese verborgenen Pfade aber besetzten sie mit Wächtern, die sie unter den Ärmsten und Besitzlosen wählten, denn diese vergaben ihrer Würde nicht allzuviel, wenn sie sich auf dem Wege zu dem verachteten Weltbezirke verweilen mußten. Im Lande jedoch ging es immer wilder und wüster zu. Raub und Mord herrschte überall als das große Mittel zur Vollkommenheit; Barmherzigkeit aber und hilfreiche Darbietung wurde für schändlichen Wahnsinn erachtet. Man brachte den Reichsten, die als Götter galten, Menschentiere zum Opfer, und mancher zögerte nicht, jenen selbsteigen sein Leben zu opfern, denn hierdurch hoffte er bei der nächsten Wiederkehr ins Dasein gleichfalls als Reicher und Gott zu erscheinen. Es fügte sich aber, daß dem Meister des Gebetes Kunde ward von diesem Lande, und sogleich überkam ihn ein abgründiges Mitleid mit den armen Toren, und er beschloß aus all seiner Kraft, sie zurecht zu führen. So machte er sich auf und suchte die Wächter auf und redete ihnen zu, so recht aus dem Quell seines gütigen Herzens, von der Eitelkeit des Geldes und dem wahren Sinn der Welt. Aber sie achteten seiner nicht, denn waren sie gleich bitter arm und würdelos und standen nur auf dem Wege, der zu den gewöhnlichen Menschen führte, so war ihnen die Lehre von der Göttlichkeit des Goldes doch tief und sehnsüchtig im Herzen heimisch. So ließ der Meister sie denn und wandelte seine Erscheinung und gelangte heimlich in das Land. Da versuchte er alsbald wieder in die erstarrten Seelen der Leute zu dringen, aber all seine innerliche Gewalt war ohnmächtig, und er mußte ohne Werk von hinnen gehen, gedachte aber bald zu neuem Streiten wiederzukehren.

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In jenen Tagen weilte auf Erden ein gewaltiger Held, seine Tat war die Eroberung, und er begehrte, alle Länder sich zu unterwerfen. Viele Reiche waren ihm schon untertan und ihre Bewohner lebten friedlich unter seiner schutzreichen Hand. Wer sich ihm ergab, erlitt nicht Schaden an Besitz und Leben, aber er vernichtete jeden, der ihm zu widerstehen wagte. Er pflegte in jedes Land, dem er auf seinem Zuge sich nahte, Boten zu senden und Unterwerfung zu heischen, und erst wenn sie ihm verweigert wurde, kam er mit seinen Waffen über das Volk und machte es sich untertan. Nun geschah es, daß die Leute im Lande des Reichtums durch Kaufleute, die von ihnen ausgezogen waren in die verachteten übrigen Gebiete der Welt, um dort für ihre Großen neue Schätze zu sammeln, vernahmen, daß jener große Eroberer sich auf dem Wege zu ihrem Reiche befinde und es zu bezwingen gedenke. Eine ungeheuerliche Angst überkam sie. Nicht die neue Herrschaft fürchteten sie dermaßen. Aber sie hatten erfahren, daß der Held das Gold gering schätze, ja mißachte, und nicht dulde, daß man seinen Besitz ehre. Und so war es ihr Glaube und ihre Lebensordnung, die sich des Angriffes zu erwehren hatten. Daher hielt das Volk einen großen Rat; und wieder waren es die Kaufleute, die Umschau in allen Breiten der Erde getan hatten und von einem Lande wußten, dessen Reichtum den des ihren, ja jede Menschenvorstellung weit übertreffe, also daß alle seine Bewohner Götter an Macht durch ihren Besitz seien. Diese, vermeinten sie nun, hielten sicherlich die Hilfe in ihren goldstrotzenden Händen. Während aber der Rat tagte, hatte der Meister des Gebetes wiederum einen Gang in dieses seltsame Land getan. Wie das erste Mal, begann er mit den Wächtern zu reden, und sie erzählten ihm, wie ein unbesiegbarer Held ihr Gebiet bedrohe und wie ihre Großen gedächten, in das Land der Götter um Hilfe gegen den Heranziehenden zu senden. Da brach er in ein Gelächter aus und verwies ihnen solche Narretei und sprach ihnen von Gott, dem Quell und Stromziel alles inneren Lebens. Und diesmal folgten die Wächter mit halbem Ohr seiner Rede und zum Ende sagte einer: »Und was soll ich da tun, bin ich doch ein Einzelner und ein Machtloser!« Da schien es dem Meister, als habe sich schon ein Großes ereignet mit dieser Antwort, und er ging weiter in die Stadt, wo er überall von dem Kriegsmann reden hörte und von der drohenden Not um den Glauben. Er mischte sich unter allerlei Leute und lauschte ihnen und versuchte, ihnen die Nichtigkeit ihres Sinnes zu erweisen. Während sie ihm aber von dem Helden und seinen Taten berichteten, sagte er einmal zu sich selbst: »Sollte e r dies sein?« – und es war, als ob er jenen kenne. Das hatten einige bemerkt, die schon über ihn erbost waren, weil er ihr Gesetz verspotte; die nahmen ihn auf der Stelle fest und brachten ihn

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vor die Ältesten, auf daß sie ihn richten sollten als einen Lästerer des Glaubens und als einen, der mit ihrem Widersacher im Bunde sei. Die Richter begehrten nun von ihm zu wissen, ob er jenen Eroberer kenne. Der Meister antwortete: »Ich diente vor Zeiten einem Könige. An seinem Hofe lebte ein Held. Ist es dieser, wie ich glaube, der euer Land bedroht, dann kenne ich ihn. Weiter aber sollt ihr wissen, daß dieses Götterland, von dem ihr Hilfe erwartet, dem Untergange nahe ist und auch euer Verderben birgt, wenn ihr euch ihm nähert.« Da hielten sie ihn für einen Narren. Aber gleichwohl fragten sie ihn: »Woher nur stammt dir solche Wissenschaft?« Worauf er anhub und erzählte: »Der König, von dem ich euch sprach, besaß ein wunderbares Gebilde, das lieh seine Form von einer Hand mit all ihren Falten und Furchen. Dieses war die Landkarte aller Welten zu allen Zeiten, und was in Zeit und Ewigkeit geschieht, steht auf ihr verzeichnet zu lesen, die Schicksale der Länder und Städte und Menschen und alle Wege auf dieser Welt und die verborgenen Wege zu fernen Welten in fernen Zeiten. Und die Wege aus dem Irdischen zum Himmel: da ist der Weg Henochs und der Weg Mosches und der Weg Elijahus, auf denen sie zum Himmel aufgestiegen sind. Da steht jeglich Ding, wie es gewesen ist zur Stunde, da die Welt erschaffen ward, wie es heute ist und wie es sein wird dereinst. So ist da Sodom aufgezeichnet in seinem Stolze vor der Vernichtung, und da ist Sodom, wie es heute ist, vom Finger des Herrn berührt. Aber nur der König allein vermag in der Hand zu lesen. Und er auch hat mir darauf das Land gewiesen, das ihr das Reich der Götter nennet, und ich habe erkannt, wie es sich verzehren wird in seinen Eitelkeiten und mit sich reißen wird alle, die ihm nahen.« So sprach der Meister, und alle horchten auf, und der Klang der Wahrheit, der in seiner Rede tönte, pochte an ihre Herzen. So fragten sie weiter: »Nun sage uns, wo ist dein König?« Einige aber wurden sogleich von ihrer alten Sucht nach dem Golde ergriffen und forschten gierig: »Siehe, wenn er im Besitze solcher Weisheit ist, möchte es wohl sein, daß er uns Wege zeigen kann, die in den Erdenschoß zum Orte des Goldes führen?« Da ward jener zornig und rief: »Denket ihr noch immer an das Erraffen? Davon redet mir nimmer!« »Ei,« antworteten sie, »sag uns immerhin, wo dein König sich verweilen mag.« Er sagte: »Heute weiß auch ich nicht zu sagen, wo er ist. Aber ich will euch erzählen, was sich zugetragen hat.« Und er sprach: »Es waren ein König und eine Königin, die hatten eine einzige Tochter. Und an dem Hofe des Königs waren Meister mancher Künste und Kräfte. Und der König, welcher der Herr der Hand, der Landkarte aller Welten und Zeiten, war, wußte den Ort jeder Kunst und Kraft, wo sie

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ihren Urquell hat, der aus den Tiefen der Ewigkeit fließt; und er wußte die Wege zu den Orten. Und fühlte einmal ein Meister, wie die Gnade in ihm ermattete und die Dinge sich seinem Gebot nicht mehr fügten, dann sandte ihn der König an seinen Ort, seine Macht zu erneuern. So war da ein Sänger, der hatte die Gabe, bezaubernde Töne und Worte zu finden und mit ihnen allen Sinn zu ergreifen und alles Herz zu bewegen. Dem wies der König den Ort des unerschöpflichen Liedes, das aus sich selbst in sich zurück klingt und in dem das Blut aller Wesen rauscht. Und da war ein Weiser, den führte der König zum Orte des Lichtes, wo sich die letzten Gründe auftun und keine Schicht dem Auge widerstehen kann. Und mir wies er den Ort der Seele, wo der Born des Feuers mir entgegen schlug und die Gewalt meines Gebetes sich in seiner Flut verjüngte. Und gleichermaßen verdankt jener Eroberer, vor dem ihr bangt, dem Könige die Vollendung seiner Unbezwingbarkeit. Denn ihn leitete er den Pfad zu der Stätte, wo das Schwert des Sieges in der Erde stand, dessen Anblick alles Lebendige niederwirft, das ihm den Weg versperrt. Und der König gab ihm das Schwert. Aber von einer Zeit zur andern mußte er an seinen Ort zurückkehren und das Schwert in die Erde pflanzen, die es zu neuen Kriegen nährte und weihte. Da aber die Königstochter heranwuchs, berief ihr Vater alle die Seinen, auf daß sie Rat hielten, wer ihr Gatte werden sollte. Und mein Rat war der, man solle sie dem Helden geben. Und so geschah es, und der Held und die Prinzessin hielten Hochzeit. Über eine Weile gebar die Königstochter ein Kind, das war ein lichtes Wunder der Schönheit, und ein Strahlen ging von ihm aus. Es kam mit vollendetem Wissen zur Welt, und nur die Sprache ermangelte ihm noch. Aber aus seinen Mienen war zu lesen, daß es jeglicher Rede innersten Sinn verstand, und auch die stummen Dinge blickte es an, als erzählten sie ihm etwas, und lachte sie an, nicht dem Augenblick erliegend, sondern wie aus großer und heimlicher Kunde. Da begab es sich aber einmal, daß alle Leute des Königs zugleich gegangen waren, jeder nach seinem Orte, um seine Gabe zu erneuern. Um jene Zeit kam ein großer Sturmwind über die Welt und vermengte in seinem Toben die Elemente miteinander, machte das Meer zum Festlande und das Festland zum Meere und fruchtbare Menschenstätten zur ödesten Wüstenei. Brausend kehrte er auch in den Königspalast ein, hob das wunderschöne Kind der Königstochter auf seine Flügel und trug es in wirbelnder Eile von hinnen. Der König, die Königin, die Königstochter, alle eilten wehklagend ihm nach, aber in der ungeheuern Umwälzung der Elemente fand keiner den Weg, den das Kind hinweggeführt worden war, und so zerstreuten sie sich ziellos und irregeführt in alle

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Winde. Und indessen kehrte jeder von uns von seinem Orte zum Hause des Königs heim, einer nach dem anderen, und jeder fand es verlassen und jeder machte sich in seinem Schmerze auf, die Verlorenen zu suchen, und wartete nicht auf die Genossen. So sind wir alle voneinander gekommen und suchen einander in allen Weiten.« So sprach der Meister des Gebetes und die Leute hörten seine Worte mit unendlicher Verwunderung. Sie besprachen sich untereinander und beschlossen, ihn bei sich zu behalten, damit er, wenn jener Held sich wahrhaftig als sein Freund erweise, bei ihm Fürsprache für sie tue. Denn schon waren dessen Boten ins Land gekommen und begehrten Unterwerfung. Und indessen war der große Held selbst mit seinen Scharen dem Lande des Reichtums näher und näher gezogen, und während seine Boten noch mit den Mächtigsten des Reiches Zwiesprache hielten, lag er schon mit den Seinen vor den Mauern und harrte des Entschlusses. Als sich nun die Reichen an den Meister um Schutz wandten, sprach er, er wolle in das Lager des Helden gehen, ob er in ihm seinen einstigen Freund erkenne. Und also tat er und traf auf einen der Kriegsleute und begann ein Gespräch. Er fragte: »Welches sind eure Gepflogenheiten und wie ging es zu, daß ihr euch diesem Manne untertan gemacht habet?« Da hub der Soldat eine Erzählung an und berichtete, wie das große Ereignis jenes Sturmwindes über die Kinder der Welt hereingebrochen war. »Nachdem die Gewalt des Unholdes sich gesänftigt hatte,« sprach er, »und die Menschen ihren gewohnten Heimstätten entfremdet und zerstreut hilflos dastanden, bedachten sie, daß sie eines Lenkers bedürften, und sannen, wen sie zu ihrem Könige erheben möchten. Und alle wurden sie einig, daß der, der dem Zwecke des Lebens am nächsten stünde, ihrer aller Herr sein solle. Was aber der wahre Zweck des Lebens sei, darüber waren der Meinungen viele und unterschiedene. Und sie konnten zu keinem Frieden und zu keinem Beschlusse kommen. Die einen meinten, in der Weisheit das Ziel zu finden; denn was können einem, so sagten sie, alle Dinge Besseres geben, als von ihm erkannt zu werden? Andere aber warfen dagegen auf, die Weisheit sei eitles Spiel ohne das Wort und verzehre sich in ihren eigenen Kreisen, wenn sich zu ihr die Rede nicht geselle, die sie in das Reich des Wirkens und Geschehens führe; das Wort sei des Lebens Sinn. Da gab es nun wieder eine Schar, die erklärte, alles Wissen und Sagen komme von anderem oder gehe zu anderem; aber ganz im Eigenen, von keinem Fremden berührt, walte nur die Schönheit, die ewig in sich selber ruhe; sie allein sei zu suchen, ihr allein zu dienen, der allezeit sich erneuernden Blüte der Welt. Aber andere riefen dazwischen, die Schönheit sei gar nicht wirklich da, ohne einen, der sich ihrer freue; und sie sei ganz und gar nichts als ein Ding und Gebilde

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der Freude, geheimnisvoll aus Freude geboren, wundersam Freude zeugend allerorten, von Freude umschlossen; Freude sei die Sonne, in deren warmem Licht sich das Leben vollende. Doch waren da wieder einige, die hörten solchem verächtlich und mit gepreßten Lippen zu; und alsbald ließen sie sich vernehmen, es sei töricht, solchen flüchtigen und bestandlosen Eitelkeiten zuzustreben; das wahre Ziel des Lebens sei der Tod, und in seiner Luft zu atmen alle Erdentage die einzige Würdigkeit des Daseins. Ihnen jedoch erwiderten welche, der Tod setze nur dem Tatenlosen die Schranke seiner Bahn; wer aber sein Werk schaffe und Ehre gewinne, der könne nicht vernichtet werden, denn er stelle sich fernsten Geschlechtern als Bild in die reinsten Stunden ihres Lebens ein und mache sich zum nie verlöschenden Stern urkünftiger Menschenzeiten; Ehre sei der Zweck des Seins, weil sie es mit der Ewigkeit binde. Solchermaßen stritten sie alle um das Ziel, sieben Tage und sieben Nächte lang, bis es ihnen offenbar wurde, daß da kein Band und keine Brücke war von den einen zu den anderen. Und jede Schar machte sich auf, eine nach der anderen, und jede zog ihres Weges, sich ein Land und einen König nach ihrem Sinne zu erwählen.« »Ich aber,« so sprach der Kriegsmann zum Meister des Gebetes, »und meine Gefährten, eine große Schar, wir waren starke Männer, aber des Redens ungeübt, und wir hatten nicht teil an dem Streite. Doch konnten wir uns an keines der Völker schließen, denn wir fühlten es in unserem Blute und im Schlag unserer Herzen, wie ohne die Kraft das Leben des Sinnes ermangeln würde, wie sie allein es uns wert macht, da zu sein, und über sie hinaus war für uns nichts zu sehen, als sie zu üben und in ihr zu wirken und sie zur Herrin über die Erde zu erheben. Und als die anderen aufbrachen, da machten auch wir uns auf und zogen dahin, und jede lebendige Kreatur trat zur Seite und verbarg sich, wenn wir so kamen. Eines Tages aber trat uns ein junger Held entgegen und forderte in ruhevollen Worten Unterwerfung. Und da wir uns weigerten, erhob er ein ungeheures Schwert und hielt es uns entgegen, und der Anblick allein beugte uns insgesamt zur Erde. Wir gelobten ihm Treue, und er trat die Herrschaft über uns an, und seitdem ziehen wir ihm siegend nach von Land zu Land. Aber seltsam, unser Herr sagt, nicht Kraft und Eroberung bedeute ihm den Zweck der Welt; der sei ein anderer, und sein Weg leite zu einem andern Ziel. Uns jedoch ist seine Meinung und sein Wille dunkel, wiewohl in dieser Zeit eine Liebe zu unserem Herrn unsere Herzen berührt und sehend gemacht hat, also daß wir in manches blicken, was uns ehedem verschlossen war, und die Welt uns weiter und heller erscheint.« Als der Meister alles vernommen hatte, begehrte er, vor den Helden

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geführt zu werden, und so geschah es, und sie erkannten einer den andern und umfaßten einander. Aber der Schmerz um die Verlorenen war über ihnen. Und der Held begann von seinem Schicksal zu reden und sprach: »Als ich damals, nachdem der Sturm die Welt verwüstet hatte, von meinem Zuge zurückkehrte, fand ich mein Haus verwaist und alle meine Nahen waren mir verschollen. Da gebot ich meinen Schritten nicht mehr den Weg, sondern irrte im Zufall umher. Und wie ich so schweifte, kam ich an einen Ort, da wurde meinem Herzen aus sich selbst die Gewißheit, hier müsse der König weilen, und ich suchte, aber ich konnte ihn nicht finden. Da zog ich weiter. Und ein andermal fühlte ich die Nähe der Königin, und so habe ich auf meinen Wegen die Stätten aller Teuren betreten, ohne einen zu finden. Deinen Ort aber habe ich nicht gesehen, und meine Schritte haben die deinen nicht gekreuzt.« Der Meister antwortete: »Auch ich bin über all die Orte gegangen, an denen die Unseren sich verweilt hatten, um zu klagen, und an jedem Orte war die Klage in das Gezweige der Bäume und in die Kehlen der Vögel eingezogen, und so rauschte und sang sie zu mir hernieder. Und auch über deinen Ort bin ich gegangen. Denn auf einem Hügel lag ein goldener Glanz gebreitet und wich auch in der Dämmerung nicht, und der Glanz malte auf die steinige Hügelspitze die Gestalt einer Krone. Da wußte ich, hier hat der König gewohnt, und hier lag seine Krone neben ihm, die an keinem Orte weilen kann, ohne ihm ihr Bild zu lassen. Und von ringsumher kam aus der Luft die hohe Klage zu mir, mächtig und einsam wie das Tönen einer erzenen Glocke. Aber des Königs Spur konnte ich nicht finden. Und weiter ging ich über eine weite Sandlände, da gewahrte ich am Boden große blutige Tropfen, die standen auf dem Boden und versikkerten nicht und trockneten nicht, und in ihnen war es wie der Blick zweier Augen, der drang zu mir empor. Und ich wußte, daß dies die Tränen der Königin sind, die sie aus ihrem Blute geweint hat. Und durch den Sand wisperte die Klage, leise und gebrochen. Aber die Königin war nirgends in der weiten, offenen Fläche zu erschauen. Ich ging von hinnen, und an einem Morgen traf ich auf einen Bach, über dem floß ein dünner milchiger Streifen, der sich mit dem Wasser nicht vermischte. Und aus dem Bache summte es hervor, still und zärtlich voll, ein weiches, klagendes Wiegenlied, das niemals endete, und scheinbar ohne Wandel in gleichem Maße dahinfliegend, doch immer neue Klänge aus sich gebar. Und ich wußte, die Milch war der Brust der Königstochter entsprungen, als sie dastand und sich um ihr Kind härmte. Aber sie selbst war nicht da.

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Und später kam ich in einer Heide an einen riesigen Stein. Ich ließ mich neben ihm nieder und gewahrte, daß er mit Zeichen bedeckt war, und erkannte Linien und Wege, ähnlich jenen, die in der geheimnisvollen Hand des Königs eingeritzt waren. Hier war der Weise des Königs gewesen und hatte versucht, die Tafel der Welten nachzubilden. Und auch aus dem stummen Steine sprach die Klage mit gewaltiger tonloser Stimme, aus allen Furchen wehevoll hervorbrechend. Ein ander Mal gelangte ich auf steilem Grat zu einem Ort, wo der Abgrund sich blicklos in das Dunkel hin auftat. Aber das Dunkel war nicht leer, sondern ein Klingen schwebte darin wie von einer Harfe, und schwang dahin in den Raum, und verfing sich im Schrankenlosen, und kehrte wieder, und war wie eines Herzens Pochen und wiederkehrender Schlag, ein großes Saitenspiel im Dunkel, ein Gesang der Klage. Hier hatte der Sänger des Königs gestanden, und sein Lied hatte den Abgrund gefüllt. Dann kam ich an eine Wiese, in der ein einziger weitgedehnter Baum stand. Darunter war die Erde aufgewühlt, wie von dem Stoße eines ungeheuern Schwertes. Und aus der Öffnung stieg ein fernes Raunen der Klage. Da erkannte ich deine Gegenwart. Aber an einem anderen Tage führten mich meine Schritte in ein Waldtal. Da sah ich auf grauem Moose ein Löckchen sonnenblonder Haare liegen, und es war ein Licht an ihnen, als hätten sie die Sonne in sich getrunken. Und rings um mich zwischen den Büschen war ein sanftes Wandeln von nackten Kinderfüßen, und das Gras neigte sich zu beiden Seiten des Wandelns. Aber es war keine Gestalt dazwischen. Und in den Büschen war eine Rede, nicht wie Klage, sondern wie das klare und friedliche Sagen eines Kindes, das aller Zukunft sicher ist. Aber die Rede kam von keinem Munde, sondern hing und flatterte über den Büschen wie Sommerfäden.« Der Held erwiderte: »Über all diese Orte bin auch ich gegangen, aber bei den goldenen Haaren meines Kindes habe ich geweilt und habe geweint, und sieben von ihnen habe ich mit mir genommen, sie leuchten in den sieben Farben des Regenbogens und sind mein Trost auf allen meinen Wegen. Als ich mich erhob und weiter zog, traf ich auf eine Schar starker Leute, die habe ich bezwungen und mich an ihre Spitze gestellt, um die Welt für meinen König zu erobern.« Da entsann sich der Meister der Leute im Lande des Reichtums, und er erzählte dem Helden von dem Wahne, der sie befallen habe, und wie tief sie von ihrer Sucht besessen seien. Er klagte ihm, es dünke ihn ein schier unmögliches Beginnen, ihren Sinn zu wenden. »Denn,« so sagte er, »wo

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immer der Mensch sich daran hängt, etwas zu sein oder etwas zu wirken, da bleibt seine Wurzel im Menschlichen, und aus seiner Wurzel kann er heil werden, und worin immer er sich bindet, im Wissen oder im Worte, in Schönheit oder in Freude, in Tod oder in ewiger Ehre, er vermag durch sich selbst gelöst zu werden und sein Leben zu gründen; wo aber der Mensch sich an den Trug hängt, etwas zu h a b e n , da reißt er seine Wurzel aus dem Menschlichen, und sie saugt ihm kein Heil mehr aus der Menschenerde, und ich weiß ihm keine Hilfe.« Der Held sprach: »Ich habe einstens von unserem Könige gehört, daß es möglich sei, Menschen aus allen Irrungen zu befreien, nur aus der Irrung des Goldes nicht. Für die, so dieser verfallen sind, gebe es nur e i n Heil: sie müssen den Weg des Ortes geführt werden, von dem das Zauberschwert seine Kräfte leiht.« Da mußten sie beide wieder denken, wie mit dem König und den Seinen auch die Hand verschollen sei, die Tafel der Welten und Zeiten, und wie der Sturmwind die Wege zu den Orten verschüttet habe, an denen die Kräfte sich erneuern, und die Hand ist nicht da, und der König ist nicht da, die neuen Wege zu verkünden. Und der Schmerz überkam sie mächtiger als je vordem. Dann bat der Meister um Frist und Aufschub für das belagerte Land, dessen sein Herz sich erbarmt hatte, und der Held gewährte sie. Die beiden vereinbarten noch Zeichen, mit denen sie einander Kunde geben wollten, wenn etwas geschähe, was der eine den andern möchte wissen lassen. Sodann schieden sie, und der Meister zog seines Weges. Indessen hatten die Leute im Lande des Reichtums, um die Gefahr zu wenden, mehrere von denen, die nicht so viel besaßen, daß sie in ihren Augen die Würde eines Menschen erreicht hätten, ergriffen und sie den Reichen, die ihnen Götter dünkten, als blutiges Opfer geschlachtet. Als sich aber auch dieses Tun als fruchtlos erwies und sie nach wie vor Morgen für Morgen am Fuße ihrer Befestigungen die Schar des Helden in gewaltiger Ruhe gelagert erblickten, beschlossen sie, die gewährte Frist auszunützen und nunmehr Boten in jenes Land zu entsenden, dessen Reichtum so unendlich war, daß seine Bewohner für sie allesamt als Götter galten. Die Boten zogen aus, wichen aber versehentlich vom rechten Wege ab und verirrten sich. Indem sie suchend in der Welt umherstreiften, begegneten sie eines Tages einem Menschen, der trug in seinen Händen einen goldenen Stab, über und über bedeckt mit funkelnden Steinen, von denen ein Strahlen ausging wie von einem der großen Sternbilder. Sein Hut war mit Perlenschnüren umwunden, die die Schätze aller Meere in sich zu sammeln schienen. Alle Reichtümer ihrer eigenen Götter und die je-

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nes Landes, das sie suchten, zusammengenommen waren wie ein Kinderspiel gegen den unermeßlichen Wert der Kleinodien, die der Fremde an sich trug. Bei seinem Anblick sanken sie mit den Gesichtern in den Staub und stammelten Worte der Anbetung, denn was konnte ihnen die Erscheinung anderes bedeuten als den Gott über alle Götter. In Wahrheit aber war es der Schatzmeister des Königs, der damals, als der Sturmwind das Angesicht der Erde verwandelte, die Schätze seines Herrn geborgen und sie seither bewacht hatte. Er ließ sie aufstehen und als sie ihn angstvoll fragten, wer er sei, gab er ihnen Bescheid. Da flehten sie ihn an, er möge ihnen den Königsschatz zeigen. Er führte sie in die Berghöhle, wo die Schätze unübersehbar auf silbernen Tischen aneinandergereiht lagen. Da redeten die Boten zueinander: »Wozu sollen wir noch zu jenen Göttern gehen? Lasset uns diesen bitten, daß er mit uns ziehe, denn sicherlich ist er mächtiger als alle Götter, die wir kennen.« Als sie solche Bitte vor ihn brachten, war er bereit, mit ihnen zu gehen und befahl ihnen, die Schätze zu nehmen und auf ihre Gefährte zu laden; »aber achtet wohl darauf,« rief er ihnen zu, »dieser Dinge, die der Schmuck der Erde und ein zartes Gewand des Lebens sind, nicht nach Geldesart zu begehren, denn wo einer nach ihrem Besitze verlangt und das edle Gut, das geschaffen ist, Schönheit zu sein und Freude zu wirken, zu eitlem Haben mißbrauchen will, zerfallen sie zu Staub vor den gierigen Augen.« Das vernahmen die Boten mit unendlichem Staunen, und es währte lange, bis sie den Sinn der Worte erfaßt hatten; dann nahmen sie die Schätze auf und traten mit jenem den Heimweg an. Auf der ganzen Fahrt betrachteten sie die auf den Wagen ausgebreiteten Reichtümer nur verstohlen, mit scheuem und angstvollem Blick, und wenn eines der Juwele sich verschob, wagten sie kaum, es zurecht zu legen. Im Lande des Reichtums wurden sie mit rauschender Freude empfangen, denn nun wähnten dessen Insassen, vor dem Helden geborgen und sicher zu sein, da sie den Gott aller Götter in ihren Mauern bargen. Der Schatzmeister aber, der das Irren des Landes erkannt hatte, erließ Gesetze, um ihm zu steuern, und verbot den Götterdienst und die Opfer und die Erniederung der Besitzlosen, aber was er auch unternahm und wie er die Leute beredete, es gelang ihm nicht. Da sie ihm aber unablässig von dem Helden sprachen und baten, er möge sie von der Gefahr befreien, ging er in das Lager hinaus und ließ sich vor den Feldherrn führen. Alsbald erkannten sie einander in großer Freude. Nach einer stillen Weile begann der Held zu reden und erzählte ihm von allen Dingen, die geschehen waren, und auch von dem Meister des Gebetes erzählte er ihm. Dann sprachen sie von dem Lande des Reichtums, und der Held tat seinem Freunde jene einzige Befreiung kund. Da bat der Schatzmeister ihn um

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neuen Aufschub, und er gewährte ihn. Auch sie setzten noch Zeichen der Botschaft fest, dann trennten sie sich. Der Schatzmeister aber kehrte in das Land des Reichtums zurück und sprach zum Volke: »Nehmet von mir den Rat, wie ihr vor dem Helden bestehen könnet! Fern über Fernen, hinter weiten verschollenen Wegen liegt in dämmerndem Zauber der Ort, von dem das Schwert des Helden seine Kraft und sein Geheimnis nimmt. Diesen Ort müssen wir suchen, und ihr sollet an ihm frei werden in großer Macht und ewige Gewalt empfangen, in der alle Wehr und aller Sieg beschlossen ist.« Des waren die Leute wohl zufrieden, und sie erbaten von ihren vielgelobten Göttern, den Reichsten des Landes, daß sie selbst den Schatzmeister begleiten sollten. Der aber ließ den Helden seinen Willen und seine Absicht wissen, und im Grauen des nächsten Morgens kam der Held verkleidet zu ihm und schloß sich ihm an. Und auch dem Meister des Gebetes entboten sie Kunde, und auch er kam, um mit ihnen zu gehen, und umfaßte den Genossen in lichter Freude, und nun zogen sie mit den Boten des törichten Landes dahin. Da aber von der Zeit des Sturmwindes her die Erde mit all ihren Wegen verwandelt war, beschlossen sie, so lange von Reich zu Reich zu gehen, bis sie an den rechten Ort kämen. Nach manchem Wandertage sahen sie die weithingestreckte Mauer eines Landes vor sich. Sie hielten einen Mann an und fragten ihn, welches Land dies sei. Der Mann erzählte: »Als das große Wetter die Erde heimgesucht und ihre Essenzen vermischt hatte, veruneinigten sich die Scharen der Menschen und kamen in Streit miteinander um den Sinn des Lebens. Und jede Schar ging ihres Weges, ein Volk zu sein für sich und sich einen König nach ihrer Meinung zu erwählen. Und auch wir, die wir erkannt hatten, daß einzig die Weisheit Ziel und Grund alles Bestandes ist, taten also und zogen über die Fläche der Erde, um den Weisen und Wissenden zu suchen, der unser Herr sein sollte. So trafen wir auf einen, der saß da mit zurückgeworfenem Haupte und schaute zu den Sternen. Da fragten wir ihn: ›Bist du der Weise, der die Welt weiß, also daß seinem Auge kein dunkler Rest standhält, vor seinem Forschen keine Bahn sich verliert, seinem Gedanken die Elemente zulaufen wie die Schafe dem Rufe des Hirten?‹ Er antwortete: ›Ich weiß um das Leben der Sterne. So weiß ich die Welt.‹ Aber wir sprachen weiter: ›Und wenn das Beben über die Sterne kommt am Tage der Erneuerung und sie in Stücke schlägt, was weißt du dann?‹ Da schwieg er und gab uns keine Antwort. Und weiter trafen wir auf einen, der lag am Strande und schaute in das Meer, und wir taten unsere Frage. Er sagte: ›Ich weiß um das Leben des Meeres. So weiß ich die Welt.‹ Da fragten wir ihn: ›Und wenn die Sonne das Meer trinkt am Tage der Wende, was weißt du dann?‹ Darauf schwieg auch er und

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wir zogen weiter. So trafen wir manchen Weisen in seinem Schauen, und eines jeden Weisheit zerschellte an unserer Frage. Einmal aber erblickten wir auf unserem Wege einen alten Mann, der saß auf einem Steine, und seine Augen waren weit und schauend offen, aber auf kein Ding oder Wesen im Raume vor ihm gerichtet, sondern es war ein Schauen, das in sich selbst beschlossen und umfriedet war. Ihn fragten wir: ›Bist du der Weise; der die Welt weiß?‹ Da sah er auf zu uns und sprach: ›Ich weiß um meine Seele. Und sie ist das Firmament, das niemand zerbrechen kann. Und sie ist die See, die niemand verschlingen kann.‹ So neigten wir uns vor ihm und baten ihn, unser König zu sein. Da sah er uns wieder an, und dann ging er mit uns, und wir nahmen uns dieses Land zu eigen.« Da wußten der Meister und seine Leute, daß jener Weise der verlorene Ratgeber des Königs sein müsse. Sie ließen sich ihm melden, und er kam ihnen entgegen und begrüßte sie in Freuden. Und sie besprachen sich mit ihm über alle Dinge, die geschehen waren und geschehen sollten. Als sie ihm von dem Lande des Reichtums erzählten, sagte er zum Meister: »Es ist wahr, daß die vom Golde Betörten durch den Weg zu heilen sind, der zum Orte des Schwertes führt. Aber du mußt sie über diesen Ort hinausführen, bis du an einen hohen dunklen Berg gerätst. Wenn du ihn mit wachsamen Augen umschreitest, wirst du eine schmale Spalte gewahren, eben so weit, daß ein Mensch durch sie Eingang finden kann. Über dieser Türe wirst du riesenhafte Vögel in den Lüften ruhen oder sich bewegen sehen, und daran magst du die rechte Stätte erkennen. Die Tür führt zu einer Höhle. In dieser Höhle ist eine Küche, darin in erzenen Kesseln seit Urbeginn die wahre Speise des Menschengeschlechtes bereitet wird. Feuer wirst du nicht gewahren: es strömt aus den Feuerbergen der Erde in tiefen, unsichtbaren Gängen dem Orte zu; die Vögel in den Lüften fachen es mit ihren Schwingen an oder sänftigen es, je nachdem es nottut. Die Speise, die das Feuer kocht, ist es, die den Wahn löst. Doch wisse: nur wer aus eigenem Willen den Ort betritt, wird an ihm heil.« Das Wort war dem Meister schwer, und er und der Weise sprachen zu den Reichen, um den Willen in ihnen zu wecken; und der Weise sprach in großer Klarheit von der Nichtigkeit des Geldes, das nur ein leeres Gebilde des Tausches zwischen Menschen sei und in sich keinen Wert und keine Würde habe, sondern Wert und Würde nur von den schönen und erfreulichen Dingen empfange, die es zusammenbringe oder voneinander trage; und der Meister sprach in heiliger Kraft und Glut, wie alles Eigentum an Dingen eitel und bestandlos sei und allein die Seele, die alles Haben von sich abtue, das wirkliche Leben besitze. Diesen Worten lauschten sie achtsamer als in früherer Zeit, aber wie einer Botschaft in einer fremden Sprache, aus deren Dunkel nur hier

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und da ein verständliches Wort hervorklingt, und sie waren zum Willen nicht zu bewegen. Da war der Meister tief betrübt, und es war ihm nahe, umzukehren. Aber der Weise sagte: »Laß es dich nicht verdrießen. Ich weiß, der Morgen ist nicht fern, da der Wahn der Erde von ihr gehoben wird wie ein Alptraum der Dämmerung. Und wenn uns auch der Weg nicht bekannt ist und wir ihn kaum also in den Weiten suchen können, wie ein Blinder sich seinen ertastet, laß es dich dennoch nicht verdrießen, weiter zu gehen, und der Weg wird dir gegeben werden. Und auch mich laß mit euch gehen. Wisse aber, daß ich die Hand, die Tafel der Welten, aus dem Sturm gerettet habe, und ich habe sie verhüllt, und nie begehrte ich sie anzusehen, denn dies ziemt allein dem Könige, dem allein die Kraft gegeben ist, in ihr zu lesen. Auch sie will ich mit mir nehmen, daß sie in meinem Schutze bleibe.« So zogen sie denn alle vereint von dannen. Nach einer Zeit kamen sie wieder an ein Land, und wieder befragten sie einen Mann, dem sie an der Mauer begegneten. Er erzählte: »Als das Wirrsal um den Sinn des Lebens die Menschen auseinander trieb, waren ich und mein Volk die, denen das Wort über alles teuer und bedeutend erschien. Und wir zogen von Stätte zu Stätte; um den Herrn des Wortes zu suchen, der unser König sein sollte. So kamen wir an einen Markt; da stand auf der Rednerbühne ein Mann, der redete zur Menge, und sein Wort schien auf den bloßen Herzen zu liegen wie die Berührung einer Hand. Und wir sprachen zueinander: ›Nun werden sie hingehen wie eine große Welle und nach seinem Willen tun!‹ Aber als er vollendet hatte, verließen ihn die Leute gemächlich und gingen ihren Geschäften nach wie vordem, und sein Wort schwebte kaum noch über ihrer Haut. Ein andermal kamen wir an einen Garten, da saßen viele Jünglinge um einen Mann im Kreise, und er lehrte sie und erklärte ihnen die Dinge des Himmels und der Erde, und sein Wort war wie ein Feuerstrom. Und wir sprachen zu einander: ›Nun wird sein Wort in sie dringen und Wogen brennender Wahrheit zeugen.‹ Aber als er geendet hatte, legte einer dem anderen Fragen vor, und der gab Antwort nach der Antwort des Meisters, denn das Wort war in ihren Sinnen starr und lahm geworden und lag wie schwere Schlacken da. Und so geschah es uns noch manches Mal. Aber an einem Morgen kamen wir an eine Waldlichtung, da lehnte an einem Baume ein Mann und sang vor sich hin, in einer sonderlichen Weise; denn er sang und sang, und dann schwieg er, da rauschten die Bäume ihm ein Schwesterlied, und als es erlosch, kamen große Stimmen von den Felsen her, und wieder begann er, und da schwiegen die Dinge und lauschten, aber wie er innehielt, wurde ein Vogel gehört und bald ein Chor von Vögeln, und ihrem Verstummen antwortete der Bach und

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sang. So war des Mannes Lied um ihn und lebte allerorten und war doch stets anders und neu, denn jedes der Dinge hatte seine eigene gute Art. Und die Dinge und Wesen gaben den Sang weiter, und die Luft selbst wurde zu einem singenden Munde und trug das Lied in die Welten. Und auch uns erfaßte Lust es zu singen, und es kam auf unsere Lippen, und unser Herz war voll davon. Und es war noch in uns, als wir uns vor ihm neigten und ihn baten, als unser König mit uns zu kommen.« Da wußten der Meister des Gebetes und die Seinen, dies konnte kein anderer sein als der Sänger des Königs, und sie ließen sich zu ihm führen. Und sie begrüßten einander in Freuden. Und als er die Absicht ihres Weges erfahren hatte, zog auch er mit ihnen. Mitsammen kamen sie nach langer Fahrt wieder an die Grenze eines Landes, und wieder befragten sie einen seiner Bewohner. Er sprach: »Wir sind die, denen in jenen Tagen des Widerstreites offenbarer als je ward, daß nichts der Schönheit gleicht, die in den Wirbeln beharrt und allen Ansturm wandellos überwindet. So beschlossen wir, die Erde zu durchziehen und ein Wesen der Schönheit zu suchen, um in seine Hände die Herrschaft über uns zu legen. Aber die Zeiten gingen dahin, und noch irrten wir herrenlos umher. Denn allüberall war der Friede der Stirnen versengt von der Gier und der Wohlklang der Hände zerstört durch den Kampf, und die Angst der Seele hatte die Haltung zerrissen, und die Augen waren trübe von sinnlosen Bildern. So waren wir schon nahe daran, an unserem Ziele zu verzweifeln, als wir in einer menschenleeren Wildnis auf eine seltsame Frau stießen. Sie saß in silbergrauem Gewande allein in der Wildnis, und ihr Angesicht war weiß und regungslos. Nie hatten wir eine solche Schönheit geschaut und nie einen solchen Schmerz, wie er über ihr war, also daß sie ganz und gar ein Ding des Schmerzes schien. Aber er rührte nicht an ihre Schönheit, die aufrecht und unbewegt weiterblühte. Wir knieten vor der Frau nieder und sprachen unsere Bitte aus, sie möge unser Herr und König werden. Dreimal mußten wir unsere Bitte sprechen, ehe sie uns hörte. Beim dritten Male neigte sie ihr Haupt, mehr ihrem Schmerze gehörend als irgend einem Dinge der Welt. Und so ist sie seither geblieben, huldvoll uns gebietend, huldvoll Rat gewährend, verharrend in unbezwingbarer Ferne.« So wurde die Königstochter gefunden, und wie einen wundersamen Trost empfing sie den Gruß der Getreuen. Und auch sie zog mit den Leuten ihres Vaters dahin, denn über aller Absicht des Weges ward in ihr wie in ihnen das Gefühl der Bestimmung ihrer Schritte und der Wiederbringung alles Verlorenen mächtig. Es währte eine Zeit, da kamen sie an ein Land, das lag da in Schweigen, und nur mit Mühe konnten sie von einem der Insassen Bescheid er-

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langen. Er sprach: »Dieses hier ist das Land des Todes, und wir, die wir hier leben, leben unter den Flügeln des Todes. Denn als die anderen Menschen die Gewalt des Endes nicht erkennen wollten, sagten wir uns von ihnen los und zogen aus, den Gesalbten des Todes zu suchen. Aber es war uns lange nicht gewährt, ihn zu finden. Denn wie von uns selbst, ob wir uns auch schon seit Jahren geweiht und bereitet hatten, keiner so vollkommen war, daß er nicht in dieser oder jener Weile einen Augenblick lang den Arm des Lebens um seinen Nacken fühlte, so war überall in der Welt nicht einer, der ganz in den Händen des stummen Herrn gestanden hätte. Die er erfaßt hatte, wehrten sich wie Ertrinkende, und die sich selbst ihm hingaben, waren wie arme betäubte Motten vor dem Lichte; keiner aber wußte mit aller Seele in seinem Dienste zu leben und allen Sinn des Lebendigseins von ihm zu empfangen. Doch einmal trafen wir am Rande einer Felsenhöhle ein Weib in weißem Haar, das stand starr und ragend, und wir sahen, daß es in den Händen des Todes stand. Auch schien es nicht zu atmen, und so erscheint, wer die Luft des Todes atmet. Und von seinen Augen fielen blutige Tränen auf das Gras vor der Höhle, die töteten alle Halme und drangen in das Herz der in der Erde umhertastenden Keime und töteten sie, und alles Lebendige vor den Füßen des Weibes war verzehrt. So nahmen wir es auf unseren Königswagen und brachten es hierher und gründeten unser Land.« Der Meister und die Seinen ließen sich vor die Königin führen und neigten sich über ihre Hände, und die Königstochter legte ihre Arme um ihren Hals. Doch sie erwachte aus ihrer Starrheit nicht. Aber als der Meister von dem Wege sprach, den sie gingen, und wie das Ziel ihnen heller werde von Pfad zu Pfad, erhob sie sich, um mit ihnen zu gehen. Mitsammen kamen sie wieder an ein Land, da erzählte ihnen einer, an den sie sich mit ihrer Frage wandten: »Wir sind die Diener der Ehre. Als wir uns von der übrigen Welt getrennt hatten, wollten wir einen Sohn und Erwählten der Ehre zu unserem Könige machen. Und wir forschten, wer so rein und gerade auf seinem Rechte throne und sein Haus errichtet habe auf dem Sinne künftiger Zeiten, daß er würdig wäre, unser Herr und der Priester unseres Gottes zu sein. Aber da war niemand, dem solches zukam in unseren Augen, denn jedes Pfeiles Scheibe und jedes Pflugmessers Acker war die grelle, klirrende Gegenwart. Bis die Sterne uns zu unserem Könige führten. Er saß auf einem Hügel und seine Krone lag neben ihm, aber sein Haupt leuchtete im Glanze einer größeren und unsichtbaren Krone. Sein Blick war hoch über den Dingen und tauchte in die künftige Zeit. Und die Dinge huldigten ihm ringsum in ihrem Schweigen. Der Wind ehrte die grauen Strähne seines Bartes und das Geröll die Fläche seiner Sohlen. Und in seinen Augen spiegelten sich die

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Augen der Herrin Ehre, und auf seiner Stirn war der Kuß ihres Mundes. So ehrten wir zur Erde gebeugt den Staub zu seinen Füßen und erhoben ihn zu unserem Fürsten.« An der Schwelle des Palastes trat der König den Seinen entgegen, und vor seinem Gruße schmolz alle Starrheit. In aller Herzen entbrannte die Gnade des Augenblicks. Aber auch jetzt verließ sie das Bild des verlorenen Kindes nicht, und über der Flamme der Gnade schwebte die Wolke der Trauer. Da sprach der König: »Die Zeiten sind erfüllt und die Wege erschlossen, das Irren vollendet sich zum Wissen und der Mangel zur Fülle. So laßt uns nach dem Lande des Kindes ziehen.« Und sie zogen mit dem Könige dahin, festen Fußes und geraden Blickes, und kamen auf dem Wege, den er ihnen wies, in ein Land, das war das Land der Freude. Und sie wurden von dem Volke des Landes in Freuden empfangen. Dieses war das Volk, das in den Tagen des Widerstreites sich der Freude angelobt hatte und in die Welt gegangen war, sich den Frohen der Frohen zum Könige zu erwählen. Aber da war nirgends ein Lachen, auf dem eine Seele einherfuhr, denn jedes war brüchig und der Bitterkeit offen. Und so suchten sie eine lange Zeit. Aber an einem Morgen kam ihnen auf der Landstraße ein Kind entgegen gelaufen, das lief allein und lachend, mit strahlenden Locken, und breitete die festen, kleinen Arme im Morgenwind. Und es blickte all die stummen Dinge auf der Landstraße an, die Bäume und die Kieselsteine, als erzählten sie ihm etwas, und lachte sie an, nicht dem Augenblick erliegend, sondern wie aus großer und heimlicher Kunde. Da sprachen die wandernden Leute zueinander: »Wo ist auf Erden eine Freude wie diese? Alle Menschen lachen über irgend ein Geschehen, und ihr Lachen zerschellt an irgend einem anderen Geschehen. Aber dieses Kind lacht seinem Leben zu, als trüge es in sicherem Sinne alles was geschehen wird, und seine Freude nährt sich vom Glanze der künftigen Dinge.« Und sie erkoren das Kind zu ihrem Herrn. Das erzählten sie nun dem König und den Seinen. Und während sie noch sprachen, kam das Kind selbst einhergelaufen, lachend, mit strahlenden Locken, und breitete seine Arme dem Könige entgegen. Dieses war die Stunde der Freude. Die närrischen Götter aus dem Lande des Reichtums standen da und gafften und konnten ganz und gar nicht verstehen, welches Glück ihre Begleiter überkam, da sie doch nirgends Gold oder Goldeswert empfangen hatten. Doch auch ihrer wurde gedacht. Der Weg zum Orte der Höhle, in der die heilende Speise bereitet wird, war nun erschlossen, denn die Hand, die Tafel der Welten, war enthüllt, und der König las in ihr wieder wie vordem. Aber der König bestätigte das Wort des Weisen, nur wer aus

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eigenem Willen den Ort betrete, werde an ihm heil. Und so redeten all die seligen Genossen zum Herzen der Männer aus dem Lande des Reichtums, um den Willen in ihnen zu wecken. Jedoch keines ihrer Worte vermochte in den starren Herzen Wurzel zu fassen. Da geschah es aber, daß von den Reichen einer etliche der Goldmünzen, die er bei sich trug, zu Boden fallen ließ. Und das Kind richtete seine Augen darauf, und die glitzernden Scheiben gefielen ihm, und es nahm sie auf und warf sie in die Luft und lachte. Da fiel der Same des Lachens in die starren Herzen und keimte in ihnen auf. Und die Männer sprachen zueinander: »Wie geht das zu, daß unsere Seele auf diese blanken Dinger gestellt ist?« Und sie entsetzten sich, und eine Angst vor dem Innern ihres Lebens beschlich sie, und es erschien ihnen toll und ohne Sinn. Aber sie konnten sich nicht losmachen. Und sie riefen zum Meister des Gebetes mit lauter und flehender Stimme: »Bringe uns hinaus!« So nahm der Meister die Leute aus dem besessenen Lande mit sich und beschritt mit ihnen den Weg und führte sie in die Höhle und gab ihnen von der Speise zu essen. Da erst wurde die ganze Scham des Geldes in ihnen wach, und sie warfen alles Gold, das sie bei sich trugen, wie etwas unsäglich Schmachvolles von sich, und so groß war ihre Scham, daß sie sich auf der Stelle, wo sie standen, mit ihren Händen in die Erde wühlen wollten, um sich zu bergen. Aber der Meister richtete sie durch seinen Zuspruch auf und hieß sie von der Speise nehmen und in ihr Land bringen, daß alle davon kosteten und geheilt würden. Und so geschah es, und die Scham entbrannte im Lande des Reichtums. Und auch die kleinen Leute, die Tiere und Vögel geheißen hatten, schämten sich dessen, daß sie bisher in den eigenen Augen so klein gewesen waren, weil sie kein Geld hatten. Da aber die Wege erschlossen waren, ging jeder von den Leuten des Königs an seinen Ort, seine Kraft zu erneuern. Und da dies geschehen war und sie wieder Macht hatten über die Seelen des Menschengeschlechtes, sandte sie der König in alle Länder aus, allen Wahn zu heilen, alles Irren zu klären und alle Verwirrung zu lösen. Und die Völker wurden geläutert, und alle wendeten sich dem wahren Sinne des Lebens zu und gaben sich Gott zu eigen.

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Die Geschichten des Rabbi Nachman

Die Geschichte von den sieben Bettlern

Es geschah vor Zeiten, daß ein Land von dem Fluche des Krieges überfallen wurde. Während die waffentüchtigen Männer dem Feinde entgegenzogen, brach er vom Rücken her in das Land ein, traf Weiber und Kinder unbewehrt, riß ihr Gut an sich und trieb sie in die Flucht. Also von Not und Schrecken getrieben, eilten die Verjagten durch die Wälder. In der Hast und Verwirrung fügte es sich, daß zwei Mütter je eines ihrer Kinder verloren: es waren ein kleiner Knabe und ein kleines Mädchen, die zusammen gespielt hatten und nun in ihrer Verlassenheit vereint waren. Nachdem sie einen halben Tag weiter gescherzt und sich mit Moos und Steinen vergnügt hatten, begann sie der Hunger zu quälen, sie faßten einander an den Händen und gingen weinend immer tiefer in den Wald. Schließlich gerieten sie auf einen Weg, und nachdem sie ihm eine Weile gefolgt waren, kam ihnen ein Bettler entgegen, der eine gefüllte Tasche an seiner Seite hängen hatte. Sie liefen auf ihn zu und klammerten und schmiegten sich an ihn und baten ihn, er möge sie nicht allein lassen. Da reichte er ihnen Brot und Speise und ließ sie sich sättigen, dann aber hieß er sie getrost und guten Mutes weiter gehen, denn er könne sie nicht geleiten. Während er so sprach, sahen ihm die Kinder ins Angesicht und gewahrten, daß er blind war; und sie verwunderten sich gar sehr, wie er so sicher seines Weges dahergezogen war. Der Blinde aber entließ sie und segnete sie mit dem Spruche: »Möget ihr sein wie ich.« Die Kinder wanderten weiter. Die Nacht brach über sie herein, sie fanden einen hohlen Baum und legten sich darin zur Ruhe. Als sie am Morgen erwachten, erhoben sie sich und gingen weiter. Nach einer Weile verlangte es sie von neuem nach Nahrung, und sie begannen zu klagen. Da trat ihnen auf ihrem Wege wieder ein Bettler entgegen, und sie baten ihn, wie sie tags vorher den Blinden gebeten hatten. Jener bedeutete sie, daß er taub sei und sie nicht hören könne, aber er sah, daß sie hungrig und verlassen waren, und speiste und tränkte sie. Als er sich wandte, gewahrte er, daß sie ihm folgen wollten. Da wies er sie an, ihres Weges weiter zu gehen und nicht zu verzagen; und auch er segnete sie mit den Worten: »Möget ihr sein, wie ich.« Des folgenden Tages, als der Hunger sie wieder zu peinigen begann, begegneten sie abermals einem Bettler, dem sie ihre Not klagten. Er hörte ihnen zu und antwortete, aber sie konnten ihn nicht verstehen, denn er hatte eine schwere Zunge und stotterte. Er reichte ihnen Speise und Trank und tröstete sie, wollte sie aber nicht mit sich nehmen, sondern schied mit demselben Segenswunsche wie die früheren. Am vierten Tage fanden sie einen Bettler mit einem schiefen Halse, am fünften Tage einen Buckligen, am sechsten einen Mann mit lahmen

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Händen und am siebenten einen mit lahmen Füßen. Jeder spendete ihnen Nahrung und Zuversicht und segnete sie in der gleichen Weise. Am achten Tage verließen sie den großen Wald und sahen freundlich und glänzend vor sich im Tal ein Dorf liegen. Sie traten in das erste Haus und baten um Brot, und man gab ihnen reichlich. So gingen sie von Tür zu Tür, und als sie das Dorf verließen, hatten sie mehr, als ihre Hände fassen konnten. Da beschlossen sie, von nun an einander nimmer zu verlassen und zuzweit von der Menschen Güte zu leben, und sie nähten sich große Taschen, um die Gaben darin aufzunehmen. Und also durchstreiften sie fortan das Land, und man sah sie auf jedem Markte in der Schar der Bettler, und bei jedem Fest und bei jeder Hochzeit stellten sie sich ein. Und bald gewannen sich die zierlichen jungen Gestalten die Liebe der Genossen, wenn sie so, zart und einfältig, mit dem Teller in den kleinen Händen zwischen den verwitterten Alten auf den Schwellen saßen. Jeder Bettler im Lande kannte die verlorenen Kinder und beschützte sie wie sein eigen Blut, wo er sie traf. So vergingen die Zeiten, und die Kinder wuchsen heran. Einmal im Jahre war in der Hauptstadt des Landes ein großer Markt, zu dem viele Menschen aus allen Gegenden sich versammelten. Da gab es mancherlei Spiel und Lustbarkeit, alle Hände waren mild und offen, reichlich floßen die Gaben den Bettlern zu, von denen keiner fehlte, und auch sie wurden aufgeräumt und guter Dinge. Sie sahen voller Freude auf die beiden jungen Leute in ihrer Mitte, und in der heiteren Laune des Festes gerieten sie auf den Einfall, die beiden, die von früher Kindheit an stets beisammen geblieben waren, miteinander zu verheiraten. Der Knabe und das Mädchen waren es wohl zufrieden, und es war nur e i n e Sorge: wie man den Ort zur Hochzeit und das Festmahl bereiten könne. Doch war auch dafür bald Rat gefunden. Einer der Bettler schlug vor, man möge bis zum Geburtsfeste des Königs warten, da würde es der Speisen und Getränke für das Bettelvolk in Fülle geben; alles, was sie an Braten, Kuchen und Wein bekämen, möge man sammeln und die Hochzeit damit ausrichten. So geschah es. Am Vorabende des Festes aber hatten die Bettler eine Höhle vor der Stadt mit grünen Reisern und Feldblumen ausgeziert und große Steine zu Tischen zusammengeschoben und einen Baldachin aus blühendem Buschwerk bereitet. Und alle Bettler kamen zur Hochzeit und brachten ihre Gaben, und alle waren voller Freude. Inmitten des Glücks aber gedachte das Brautpaar des Tages, da sie als kleine Kinder im Walde verloren gegangen waren, und des blinden Bettlers, der ihren Hunger liebreich gestillt und sie getröstet hatte. Und ihre Herzen wurden bange vor Verlangen, den Alten wiederzusehen. Während sie so saßen und ihrer Sehnsucht nachsannen,

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beschattete sich der Eingang der Höhle, und in der Öffnung erschien eine gebeugte Gestalt, dunkel gegen den lichten Himmel. Eine Stimme sprach: »Sehet, hier bin ich,« und sie erkannten den ersten Bettler, der ihnen im Walde begegnet war. Er sprach weiter: »Ich bin gekommen, um euch meine Gabe zur Hochzeit darzubringen. Einst, da ihr Kinder wart, habe ich euch gesegnet, ihr möget sein wie ich. Heute schenke ich es euch als vollendetes Geschehen, daß ihr ein so langes Leben haben möget wie ich. Ihr meinet, ich sei blind. Aber ich bin nicht blind. Sondern also ist es, daß alle irdischen Zeiten zu mir nicht aufsteigen und mir nicht für einen Augen-Blick gelten. Ich bin sehr alt und noch gar jung, und ich habe noch nicht angefangen zu leben. Und das ist nicht mein eigen Wähnen, sondern der große Adler hat es mir eröffnet und zugesprochen. Und also hat sich dieses ereignet: Es geschah einst, daß eine Schar von Männern auf wohlausgerüsteten Schiffen eine Fahrt aufs Meer unternahm. Da aber gerieten sie in einen großen Sturm und unterlagen ihm dermaßen, daß sie nichts als das Leben retten konnten, indem sie schwimmend ein Eiland erreichten, das sich ihnen unverhofft geboten hatte. Wie sie die kleine Insel durchstreiften, sahen sie in ihrer Mitte einen Turm sich erheben, sie betraten ihn und stießen in ihm zwar auf keine lebendigen Gestalten, fanden aber gleichwohl alles, was der Notdurft des Lebens dient. Als der Abend anbrach, hatten sie durch eine Rast die Müdigkeit der Körper besiegt und sich um ein heiteres Licht versammelt. Einer unter ihnen kam mit dem Vorschlage, man möge erzählen. Jeder möchte die älteste Begebenheit, deren er sich entsinne, und den ersten Ursprung seines Gedenkens vorbringen. Da ihrer aber Greise sowohl als Jünglinge waren, erwiesen sie dem Ältesten die Ehre und baten ihn, zuerst zu erzählen. Der war ein meeralter Mann und sprach mit einer Stimme, die wie aus der Ferne kam: ›Was soll ich euch erzählen? Ich erinnere mich des Tages, da man den Apfel vom Zweige schnitt.‹ Da erhob sich der Zweitälteste und sprach: ›Ich aber denke noch der Zeit, da das Licht brannte.‹ Und der dritte, der noch jünger war, rief: ›Ich weiß mich zu entsinnen der Tage, da die Frucht sich zu formen begann.‹ ›Mein Gedenken aber,‹ fügte der vierte ein, ›reicht bis zu der Stunde, da der Same in den Blütenkelch fiel.‹ ›Und mir ist noch gegenwärtig,‹ sagte ein fünfter, ›wie der Geschmack der Frucht in den Samen einging.‹ ›Und mir,‹ setzte der sechste ein, ›wie der Geruch der Frucht in den Samen einging.‹ ›Und mir ist noch inne,‹ sprach der siebente, ›wie die Gestalt der Frucht sich dem Keim verband.‹ Ich aber – redete der blinde Bettler weiter –, der ich damals noch ein Knabe war, bin auch mit ihnen gewesen. Und ich sagte zu ihnen: ›Ich entsinne mich aller dieser Begebenheiten, und ich entsinne mich des

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Garnichts.‹ Und sie waren alle voller Staunens, daß die Jüngsten das früheste Gedenken hatten und das Kind von dem urältesten Geschehen wußte. Da kam der große Adler und pochte an den Turm und hieß sie alle heraustreten nach ihrem Alter, aber den Knaben hieß er vor allen gehen, denn er war in Wahrheit der Älteste im Gedenken, und den Ältesten führte er zuletzt hinaus, denn er war in Wahrheit der Jüngste. Und der große Adler sprach: ›Möget ihr euch erinnern, wie ihr vom Mutterleibe gelöst wurdet, oder wie ihr wuchset im Mutterleibe zur Zeit, da ein Licht auf dem Haupte des Kindes brennt, oder wie sich eure Glieder zu formen begannen im Mutterleibe; möget ihr euch der Stunde entsinnen, da der Same in den Mutterschoß fiel; möget ihr gedenken eures Geistes, ehe er in den Samen einging, oder eurer Seele, oder eures Lebens, ehe es in den Samen einging: – dieser Knabe ist über euch allen, denn ihm weben noch im inneren Sinne die Schatten des Uranfanges, und der Flügelschlag an der Schwelle des Werdens tönt noch in ihm nach, und der Anhauch des großen Nichts ist von ihm nicht gewichen. So steht er auf den Abgründen der Ewigkeit wie auf heimatlichem Boden.‹ Und weiter sprach der große Adler zu ihnen: ›Höret auf, arm zu sein und euch an fremdem Tische zu nähren, wendet euch den Schätzen zu, die euch gegeben sind, sie zu nützen. Geister, eure Körper sind zerschlagen, die Schiffe, auf denen ihr gekommen seid; siehe, sie werden wieder erbauet werden und wiederkehren.‹ Zu mir aber sprach er, und seine Stimme kam aus den Wolken und war wie die Stimme eines Bruders: ›Du komm mit mir, und sei mit mir, wo immer du wandelst, denn du bist wie ich, du bist alt und gar jung, und hast noch nicht angefangen zu leben, und so bin ich, alt und gar jung, und die Zeiten der Zeiten sind vor mir. Und so mögest du bleiben.‹ Also sprach der große Adler zu mir. Und dieses, ihr Kinder, schenke ich euch heute als hochzeitliche Gabe, ihr möget sein wie ich.« Und mit diesen Worten des blinden Bettlers ging ein Rauschen großer Freude durch die Höhle, dem Bräutigam aber und der Braut stand das Herz still vor der Berührung des Wunders. Am zweiten Tage der Hochzeit saß das Brautpaar schweigsam in der Reihe der Fröhlichen und gedachte voller Wehmut des zweiten Bettlers, des Tauben, der sie gespeist hatte, als sie in dem großen Walde umherirrten. Während sie ihn herbeiwünschten, sahen sie ihn schon vor sich stehen, ohne daß sie sein Kommen gefühlt hätten. Und er redete zu ihnen: »Hier bin ich, da ihr nach mir verlanget, und bin gekommen, daß ihr durch mich besitzen möget, was ich einst als Segen über euch sprach, ihr sollet sein wie ich. Ihr wähnet, ich sei taub. Ich bin nicht taub. Mein Ohr vermag nur dem großen Schrei der Not, der aus der Welt aufsteigt, keinen Eingang zu bieten. Denn die Stimme jeglicher Kreatur ist aus der

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Not geboren. Zu mir aber dringt all ihr Rufen nicht hin, und mein Herz wird von der Angst der Schöpfung nicht erfaßt. Und mit dem Brot, das ich esse, und dem Wasser, das ich trinke, lebe ich ein gutes Leben ohne Not und Gier. Des habe ich ein Zeugnis aus dem Munde der Leute, die in dem Reiche des Überflusses leben. Deren war einst eine Schar versammelt, und sie rühmten sich hoch und mit gar großen Worten des herrlichen Lebens, das sie in ihrer Heimat lebten, wo alles in Fülle gedieh. Da sprach ich, der zugegen war: ›Euer Leben ist eitel und ein unseliges Spiel vor dem meinen.‹ Da maßen sie meine graue Tracht und meine Betteltasche und lächelten über mich als über einen Toren. Ich aber sprach zu ihnen: ›Nun wohl; so wollen wir prüfen, wes Leben das bessere sei. Ich weiß ein Land, das war einst ein großer, wunderbarer Garten, wo in unerhörter Üppigkeit die köstlichsten Früchte der Erde gediehen, deren Anblick, Duft und Genuß alle Sinne der Bewohner dermaßen erfreuen und erquicken, daß es ihnen dünkte, nimmer und nirgends könne die Wonne ihres Lebens übertroffen werden. Über all ihr Gebiet war ein Gärtner gesetzt, der mit Weisheit hegte und pflanzte und die Schönheit und Fruchtbarkeit des Landes jedes Jahr von neuem schuf. Aber es geschah eines Nachts, daß der Gärtner entschwand und niemand wußte seinen Ort. Da verging der Segen von Jahr zu Jahr, die blinden Triebe wucherten in Menge, die Wildnis überzog das Land, und von Ernte zu Ernte minderte sich der Ertrag. Dennoch hätten die Insassen von dem reichen Nachwuchs sich nähren und in Freuden leben können, wäre nicht ein anderes Unheil über sie hereingebrochen. Ein fremder grausamer König kam mit seinen Scharen gezogen und machte sich das Land zu eigen. Er vermochte ihren Garten nicht, wie er es gern gewollt hätte, in seiner unverwüstlichen Triebkraft zu vernichten; so beschloß er, die Reinheit der Sinne seiner Einwohner zu zerstören, und ließ, während er auf seinem Eroberungszuge weiter eilte, die drei zügellosesten und verderbtesten Scharen seiner Knechte zurück. Diese lebten von nun an unter den Leuten des Landes und steckten sie mit ihren Lastern an und brachten Bestechung und Verleumdung und Buhlerei unter sie. Da verdunkelten sich den Leuten die einst von der freien Unschuld des Gartens genährten Sinne, ihre Augen sahen nur Trübe und Finsternis, ihr Mund schmeckte nur Bitterkeit, und ihr Geruch nahm nichts wahr, als den Gestank der Fäulnis, so daß es sie vor der Nahrung, die der Garten bot, ekelte, daß seine Düfte sie betäubten und sein Anblick ihnen zum Grauen wurde. Nun also gehet hin, ihr Söhne des Überflusses, und helfet jenen aus der Fülle eures guten Lebens.‹ Da machten sich die Leute auf und zogen mit mir in das Land des Gartens. Als sie aber dort anlangten, waren die Greuel der Verderbnis so groß, daß ihr Anblick den Reichen

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selbst die Sinne verwirrte und der Geschmack ihres Mundes ihnen widerlich ward. Da sprach ich zu ihnen: ›Nun ist es euch wohl inne geworden, daß all euer gutes Leben diesen nicht zu helfen vermag.‹ Und ich versammelte die Leute des Gartens und bot ihnen von dem Brote und dem Wasser, das ich in meiner Tasche trug, und ich verteilte es unter sie alle. Und siehe, die Güte meines Lebens überkam sie, und sie schmeckten in meinem Brote und in meinem Wasser alle Wohlgerüche und jeglichen Wohlgeschmack aller Speisen der Welt. Und ihre Sinne gewannen ihre Helle und Reinheit wieder, und sie verabscheuten ihr verirrtes Leben und erhoben sich und jagten die Knechte des grausamen Königs aus dem Lande. Und alsbald stand der verlorene Gärtner in ihrer Mitte, und jeder sah und fühlte den alten Segen wiederkehren. Also schauten die Leute aus dem Reiche des Überflusses, wie durch mich jene erlöst worden sind, und sie erkannten die Macht und Fülle meines guten Lebens. Euch aber, ihr Kinder, schenke ich es heute als hochzeitliche Gabe, ihr möget sein wie ich.« Und wie der taube Bettler dies gesprochen hatte, zog wieder der helle Jubel durch die Höhle, und der zweite Tag des Festes verging in strahlender Freude. Aber als der dritte Morgen anbrach, überkam das Brautpaar wieder die Bangnis, und übermächtig wuchs in ihnen die Sehnsucht nach dem dritten Bettler, dem Stammler, der sie im Walde gespeist und gesegnet hatte. Und wie sie zueinander redeten: »Daß man doch wüßte, wo er weile, ihn zu rufen und zu laden!«, da stand er vor ihnen, wunderbar, als käme er aus dem Herzen der Erde, und nahm sie in seine Arme und sprach mit klarer und lauter Stimme: »Einst habe ich euch gesegnet, ihr möget sein wie ich; und heute soll mein Segen auf euch herabkommen und an euch offenbar werden. Ihr wähntet, Stammeln sei meine einzige Rede, aber nicht also ist es, sondern die Laute der Welt, die nicht Gottessinn und Gottesweihe tragen, sind nur unwürdige Trümmer des wahren Wortes und klingen wie Scherben in meinem Munde. Mir ist gar große Macht der Sprache geschenkt, und das edelste Lied ist mir beschieden als dem Herrn der Sänger, und da ist kein Geschaffener, der mir nicht lauschte, bis mein Ton durch seine Seele zittert, wie der Ton der reinsten Glocke durch die klare Luft. Und in dem Liede ist eine Weisheit, die über aller Weisheit der Welt ist. Dieses ist mir gewiß aus dem Munde des gewaltigen Mannes, der da heißt der Mann der wahren Gnade. Denn ich gehe über die Erde und sammle alle Guttaten und alle Werke der Gnade und bringe sie jenem Manne. Und aus den Guttaten und den Werken der Gnade wird die Zeit geboren und erneuert sich im ewigen Strome. Denn die Zeit ist kein festes Ding und kein Sein von jeher, sie ist ein Ding, das geschaffen wird, und aus dem Tun der Seelen wird sie geschaffen. Ich will

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euch erzählen die Sage der Sagen, welche die urtiefe Wahrheit ist. An dem letzten Abgrunde des Raumes steht ein Berg, und auf dem Berge lagert ein Fels, und dem Felsen entströmt ein Quell. Aber wisset, daß jeglich Ding der Welt ein Herz hat, und auch die Welt selbst hat ein Herz. Und jener Berg mit dem Fels und dem Quell steht an dem einen Ende des Raumes, wo der letzte Abgrund beginnt, und das Herz der Welt steht am anderen Ende des Raumes, wo der erste Abgrund endet. Und das Herz der Welt steht da dem Quelle gegenüber, und es schaut aus nach ihm über die Fülle des Raumes und über alle Dinge hin, die im Raume sind, und es bangt nach dem Quell mit großer Bangigkeit, zu ihm zu kommen. Und das Herz schreit nach dem Quell immerdar. Ist es aber gar ermattet und will ein Weilchen ruhen und aufatmen aus seiner Not, dann kommt ein großer Vogel und spreitet seine Flügel über ihm aus, und dann ruht es eine Weile in ihrem Schatten, aber auch in der Ruhe noch weiß es den Quell und schaut ihm entgegen. Und nach der Ruhe hebt es sich auf, zu dem Quell zu gehen. Aber wie es nur sich ihm entgegenregt, sieht es den Hang des Berges nicht mehr, den es bislang sah, und es vermag nicht mehr dem Quell entgegenzuschauen. Und würde sein Schauen zum Quell ganz und gar enden, dann müßte es vergehen, denn sein Leben ruht in dem Quell und in der Bangigkeit nach ihm. Und mit dem Herzen müßte die Welt vergehen, denn ihr Leben und das Leben jeglichen Dinges ruht in ihm, und nur aus ihm hat alles seinen Bestand. Aber wie es den Hang des Berges nicht mehr sieht, da wird die Bangigkeit, den Quell zu schauen, größer denn die Bangigkeit, zu ihm zu kommen, und das Herz der Welt kehrt zurück an seinen Ort. Dem Quelle aber ist nicht Dauer gegeben, denn er ist jenseits der Zeit und kann aus sich selbst kein zeitliches Leben gewinnen. Und so müßte er ewig im Zeitlosen verborgen bleiben und könnte nie dem Herzen offenbar werden. Aber er empfängt von dem Herzen ein zeitliches Leben. Denn das Herz schenkt ihm Einen Tag und bringt ihn ihm als Gabe dar, und so dauert der Quell. Und wenn der Tag sich neigt und in den Abend mündet, dann sprechen sie zueinander Worte des Abschiedes und des letzten Segens, und das Lied des ewigen Bangens steigt auf. Und das Herz steht in großer Bangnis vor dem Tode und will vergehen, denn es hat nicht mehr zu geben als Einen Tag, und die Angst ist über ihm, daß der Quell ihm entrückt werde über die Schranke der Zeit. Aber der Mann der wahren Gnade wacht mit wissenden Augen über Herz und Quell. Und da der Abend sich zur Nacht weitet und das bange Lied durch die Nacht tönt, schenkt er dem Herzen Einen neuen Tag, und das Herz schenkt den Tag dem Quell. Aber wisset: die Zeit, die der Mann der Gnade vergibt, hat er aus meiner Hand. Denn ich gehe über die Erde und sammle alle Guttaten und alle Werke der

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Gnade. Und ich spreche über ihnen die Worte der großen Einung, und sie werden selbst zur Melodie, und diese bringe ich dem Manne der wahren Gnade, und er schafft aus ihr die Zeit; denn Zeit wird aus Melodie geboren und Melodie aus Gnade. Und so entströmen dem Liede die Tage und kommen zum Herzen und vom Herzen zum Quell, und so dauert die Welt und besteht in ihrer Bangigkeit. Mir aber füllen ewiglich Wort und Lied die Seele. Und dies schenke ich heute euch, ihr Kinder, als hochzeitliche Gabe, ihr möget sein wie ich.« Schweigend, die Stirn geneigt vor dem neuen Glücke, empfingen die beiden die Rede des Bettlers, und still, aber im Herzen seligen Liedes voll, verging ihnen der dritte Tag. Aber am vierten Morgen kam wieder eine Sehnsucht zu ihnen nach dem Bettler mit dem schiefen Halse, der ihnen einst so viel Güte erwiesen hatte. Und wieder stand er, wie von ihrem Verlangen gerufen, unversehens vor ihnen und sprach: »Ich bin gekommen, meinen Segen vom Walde her, da ihr Kinder waret, in reiner Erfüllung zu erneuern. Vermeinet ihr nicht, ich hätte einen schiefen Hals und vermöchte nicht geraden Antlitzes euch ins Auge zu schauen? Sehet, ich habe einen aufrechten Hals wie ihr. Aber ich wende immerdar mein Angesicht von den Eitelkeiten der Menschen und mag meinen Atem nicht mit ihrem Atem mischen. Mein Hals und meine Kehle jedoch sind derart wohlgebaut, daß ich alle Stimmen der Welt, die nicht Rede und Wortgebärde sind, aus meiner Kehle erzeugen kann, und es gibt keinen so fremden Klang, daß ich ihn nicht in seiner vollen Art bilden könnte. Und solches ist mir bestätigt von den Leuten im Lande der Musik. Denn es gibt ein Land, da sind sie alle der Flöte und des Saitenspiels kundig, und die Weisen schallen tausendfältig und doch verschwistert durch die Straßen und noch das Lallen der Kinder ist dort ein wundersamer Gesang. Und jeder fühlt in seiner Kehle mannigfaltige Stimmenfülle, und die Stimmen drängen sich in ihm und gebieten, sie zu singen und freizumachen. Einmal erzählten sich die Meister jenes Landes von den Stimmen, die in ihnen lebten, wie nicht bloß der lebenden Dinge Ton zu ihnen komme und sie bitte, ihm durch ihren Mund zur Freiheit und Vollkommenheit zu helfen, sondern wie auch die Seele der Harfe und der Laute und der Viola sich ihrer Seele vermählten und aus ihr redeten. Da rief ich, der ich mit ihnen war, sie an und sprach: ›Meine Stimme faßt all der euren vielfältigen Beruf in sich und mehr als dies; denn sie ist aller Klänge teilhaftig, die nie zu euch gelangten. Denn von Uranbeginn haben alle Wesen, denen das Wort nicht gegeben ist, nach meinem Kommen verlangt, sie zur reinen Stimme zu bringen, und das im Tone zu heben, was in ihrem Herzen zu innerst lag. Und wollet ihr meine Macht schauen und eure an ihr messen, wohlan! Es gibt zwei Menschenreiche, die sind tausend Meilen fern vonein-

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ander. Und kommt die Nacht, dann ist den Menschen jener Reiche kein Schlaf gegeben, sondern sie stehen umher, das Gesicht an die Mauer gepreßt, oder wandeln umher, mit müden Händen die Schläfe umfassend, und klagen eine bittere Klage, alle, Männer, Weiber und Kinder. Und die Tiere winseln, und die Bäume seufzen, und die Wasser rauschen gar traurig, und noch von den Steinen steigt eine starre Wehklage auf. Wohlan, ihr Meister, helfet jenen Reichen, besieget die klagende Stimme mit euren Stimmen!‹ Da begehrten sie, ich möge sie zu dem einen der Reiche führen, und ich führte sie und brachte sie dahin. Und es war Abend, als wir an die Grenze jenes Reiches kamen. Und wie wir an der Grenze waren, da begannen sie alle zu klagen eine gar bittere Klage, und ihre Stimme einte sich dem großen Klagechore, der aus dem Lande aufstieg. Da sprach ich zu ihnen: ›Ihr sehet nun, wie eure Macht erliegt und hilflos von einer größeren mitgerissen wird. Ich will euch aber erzählen, wie es mit diesen Dingen beschaffen ist. Es gibt zwei Vögel, ein Männchen und ein Weibchen, und sie sind ein einziges Paar, und keine anderen ihrer Art sind in der Welt. Und eines Tages fügte es sich, daß sie voneinander kamen und einander nicht wiederfinden konnten. Da gerieten sie in Angst, und indem sie suchend einander sich zu nähern wähnten, flogen sie immer weiter auseinander und flatterten und riefen, bis sie endlich ermattet niedersanken und nimmer hofften, einander wieder zu finden. Da ließ sich jedes in dem Geäste des nächsten Baumes nieder. Und es traf sich, daß das eine in dem einen, und das andere in dem andern der zwei Reiche war, und die tausend Meilen lagen zwischen ihnen. Und da klagen sie die Klage ihrer Sehnsucht, jedes an seinem Orte in die Ferne hin. Am Tage kommen alle Vögel aus den Wäldern ringsum zu jedem der beiden und trösten es mit tausend zwitschernden und gurrenden Rufen und sprechen ihm zu, es werde sein Gemahl wiederfinden; und so schweigt das Herz der beiden am Tage, wiewohl es zittert und voller Trauer ist, und sucht sich Frieden im Troste. Aber wenn der Abend kommt und die Scharen verflogen und die Laute verstummt sind, dann fühlt jedes wieder ganz und gar, wie allein es in der Welt ist, und hebt seine Klage an. Und da die Klage ertönt, ist sie gar laut und weithin hallend, und keiner, der sie hört, kann ihr widerstehen, alle zwingt sie einzustimmen, und greift von Mund zu Mund, und erfaßt immer neue Stimmen, und zieht wie gewaltige Flut durch das Land. Und da die Klage also durch das Land geht, ist aller Wesen inneres Weh in ihr, denn jedes Dinges heimlicher Schmerz hat sich an seinem Erbarmen entzündet. So stehen die zwei Reiche in Klage Nacht für Nacht.‹ Da sprachen die Meister zu mir: ›Wohlan, und du, vermagst du ihnen zu helfen?‹ Und ich sprach zu ihnen: ›Fürwahr, ich vermag es. Denn da die Stimmen aller Dinge in

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mir lebendig sind und jede Stimme mir ihr Leid verkündet hat, bin ich des Leidens aller Dinge voll. Und also, dieweil euch euer Erbarmen übermannt und zu einer Beute der Klage macht, ist mein Erbarmen der inneren Herzen kundig und ist gesammelt zur Tat.‹ Und ich führte die Meister hinweg, um sie von der Klage zu befreien, und kam mit ihnen in ihr Land zurück, das zwischen den zwei Reichen lag. Und da ich nicht bloß die Stimmen aller Dinge erzeugen kann, sondern sie auch zu werfen vermag, wohin ich will, also daß die Stimme, die ich bilde, nur an dem Orte gehört wird, an den ich sie werfe, wie fern er auch sein mag, schuf ich in meiner Kehle die Stimme des Männchens und warf sie zum Weibchen hin, und schuf die Stimme des Weibchens und warf sie zum Männchen hin. Und so hörten die zwei Vögel einander in meiner Stimme, und sie zitterten und saßen still auf ihren Zweigen und konnten sich nicht regen. Dann aber flogen sie auf und flogen mit steter Gewalt dem Rufe zu. Und sie fanden einander an dem Orte, wo ich mit den Meistern saß. So wurde die Klage gelöst. Euch aber, ihr Kinder, schenke ich dies heute als hochzeitliche Gabe, ihr möget sein wie ich.« Da zogen das große Erbarmen und die helfende Kraft in die Herzen der beiden ein. Am fünften Tage drang in ihre Freude die Erinnerung an den fünften Bettler, den Buckligen, und sie sehnten sich gar sehr nach ihm, daß er an ihrem Feste teilhabe. Da stand er schon vor ihnen und faßte ihre Hände und sagte: »Hier bin ich, zu eurer Hochzeit gekommen, meinen einstigen Segen zum Geschenk zu wandeln. Ich sprach es über eurer Kindheit, ihr möget sein wie ich. Euch dünkt, ich sei bucklig; das ist ein Schein und eitel Trugwerk und kommt daher, weil ich alle Lasten der Welt auf meinem Rücken trage, und mein Rücken ist gerade und stark, und er hat die Gabe des Kleinen, das das Große bezwingt. Denn ich trage auf meinem Rücken alle Lasten der Welt, Angst und Elend und Überdruß, alle nehme ich sie auf meine Schultern und trage sie. Und einst versammelten sich die Weisen und sie sprachen davon, wer wohl in Wahrheit das Kleine habe, das das Große bezwingt. Einer sprach: ›Mein Hirn ist das Kleine, das das Große bezwingt; denn in meinem Hirne trage ich das Bedürfen von tausend und tausend Menschen, die an mir hangen, und aus meinem Hirne speise ich sie und gebe jedem das Seine.‹ Da lachten sie seiner und schüttelten die Häupter. Und ein anderer sprach: ›Mein Wort ist das Kleine, das das Große bezwingt. Denn ich bin von dem großen Könige eingesetzt, alle Lobpreisung und alle Bitten und allen Dank und alle laute oder stammelnde oder stumme Rede zu empfangen und in meinem Worte vor ihn zu bringen. Und mein Wort hebt sie alle und faßt und sagt sie.‹ Da schüttelten sie wieder die Häupter, und ein dritter sprach: ›Mein Schweigen ist das Kleine, das das Große bezwingt. Denn allerorten stehen Wi-

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dersacher und Herren der bösen Sprache gegen mich auf, und sie streiten wider mich und erbosen sich gar sehr und bewerfen mich mit ihren Reden, mich zu schänden. Und ich schweige ihnen zu, und das ist meine Antwort auf alles.‹ Da schüttelten sie wieder die Häupter und ein vierter sprach: ›Mein Sehen ist das Kleine, das das Große bezwingt. Denn ich fasse in meinem Auge den Reigen der Welt und alle ihre Wirbel. Und sehend führe ich den großen Blinden, die Welt, ein Kleiner das Ungeheure. Ihr untertan ganz und gar, führe ich sie doch mit meinem Auge, das ihren Reigen faßt.‹ Da waren sie still und blickten auf ihn, der gesprochen hatte. Ich aber redete zu ihnen und sagte: ›Dieser hier ist der Größte von euch, aber ich bin über ihm, und ich habe die Gabe des Kleinen, das das Große bezwingt, denn ich trage auf meinem Rücken alle Lasten der Welt. Ich will euch ein Ding offenbaren. Es ist euch bekannt, daß jedes Tier einen Schatten weiß, in dem allein es ruhen mag, und jeder Vogel weiß einen Zweig, auf dem allein er ruhen mag. Aber wißt ihr auch, daß es einen Baum gibt, dessen Schatten alle Tiere des Feldes und dessen Zweige alle Vögel des Himmels sich zur Ruhestatt erwählen?‹ Da antworteten sie: ›Wir wissen es wohl von den Urvätern her, und wir wissen, daß alles Glück des Lebens nichtig ist gegen das große Glück, bei dem Baume zu weilen, denn alle Wesen sind dort verschwistert und spielen miteinander. Aber uns ist keine Kunde, wie wir zu dem Baume kommen könnten, denn die einen sagen, man müsse nach Osten gehen, und die andern meinen, nach Westen führe die Bahn, und wir vermögen es nicht zu erkunden.‹ Da sprach ich zu ihnen: ›Warum forschet ihr, auf welchem Wege ihr zu dem Baume zu gelangen vermöchtet? Forschet vorerst, wer und wer und welcher Art die Menschen sind, die zu dem Baume kommen können. Denn nicht jedem ist dieses zugeteilt, und keinem als dem, der die Gaben des Baumes hat. Der Baum aber hat drei Wurzeln, aus denen seine Gaben sind; die eine Wurzel heißt Glaube, die andere Wurzel heißt Treue, die dritte Wurzel heißt Demut, und Wahrheit ist der Stamm des Baumes; und nur wer alle diese hat, kann zu dem Baume kommen.‹ Da nahmen sie meine Worte auf und weil nicht alle jene Gaben hatten, beschlossen sie zu warten, bis alle würdig wären. Und die der Vollendung ermangelten, strebten und rangen, sie zu erwerben. In dem Augenblicke aber, da endlich allen die Gaben gleichermaßen beschieden waren, da wußten sie auch alle wie plötzlich erleuchtet den Weg und machten sich bereit und brachen auf. Und ich ging mit ihnen. Und wir gingen eine lange Zeit, bis wir von der Ferne den Baum erblickten. Da schauten sie und sahen, – siehe, da stand der Baum an keinem Orte, er stand da und hatte doch keinen Ort, und kein Raum war um ihn, und er war abgetrennt von allem Raume. Und sie verzweifelten, zu ihm zu kommen.

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Aber ich sprach zu ihnen: ›Ich kann euch zu dem Baume bringen. Denn er steht über dem Raume; und weil ich alle Lasten der Welt trage in der Weise des Kleinsten, das das Größte bezwingt, habe ich den Raum in mir überwunden und seine Seelenspur vernichtet, und da, wo ich bin, ist seine Herrschaft zu Ende und ist nur Ein Schritt dahin, wo der Raum nicht ist. So will ich euch nun zu dem Baume bringen.‹ Und ich tat also und brachte sie dahin. Euch aber, ihr Kinder, sei meine Kraft des Tragens beschieden, und dies schenke ich euch heute als hochzeitliche Gabe, ihr möget sein wie ich.« So wuchs von Tag zu Tag die Fülle der Wundergaben und die Freude. Aber am sechsten Tage saßen die beiden wieder in Bangen da und gedachten des Bettlers mit den lahmen Händen, und sie wünschten ihn innig herbei. Und wieder stand auch er vor ihnen und begrüßte sie und sprach: »Mein einstiger Segen soll nunmehr an euch wahr werden. Ihr vermeinet, meine Hände seien untüchtig und ich könne sie nicht regen. Aber in Wahrheit mag ich sie nur nicht nützen zu irgend einem Dinge, das die Gefesselten nicht los macht und die Gebannten nicht erlöst. Und meine Hände sind gar stark und wirken in die Tiefe und in die Weite. Einst versammelten sich die Starken und jeder berühmte sich der Kraft seiner Hände. Der eine sprach: ›Ich kann Pfeile in ihrem Fluge greifen und zu ihrem Ausgange heimsenden, und den Pfeil, der sein Ziel gefunden hat, vermag ich also zu greifen, daß seine Tat zu nichte wird.‹ Da fragte ich ihn: ›Über welche Pfeile ist dir solche Macht gegeben? Denn es gibt zehn Arten von Pfeilen, in zehnerlei Gifte getaucht.‹ Er antwortete, diese und diese Art der Pfeile sei seiner Kraft untertan. Da sagte ich zu ihm: ›Dann wirst du die Königstochter nicht heilen. Denn du wirst die zehn Pfeile nicht aus ihrem Herzen ziehen.‹ Und nun sprach ein anderer: ›Ich vermag mit meinen Händen die Kerker zu öffnen, und ihre Tore springen auf, wenn mein Finger sie berührt.‹ Da fragte ich ihn: ›Welche Kerker erschließest du? Denn es gibt zehn Arten von Kerkern, und die Bande ihrer Tore sind von zehnerlei Form.‹ Er antwortete, diese und diese Art könne ihm nicht widerstehen. Da sagte ich zu ihm: ›Dann wirst du die Königstochter nicht heilen. Denn du kannst nicht frei eingehen über die zehn Wassermauern, die ihr Schloß umgeben. Denn nur wer volle Freiheit schafft, wandelt frei.‹ Und ein dritter sprach: ›Ich vermag mit meinen Händen Weisheit zu geben, und ich teile jedem Weisheit zu, auf den ich meine Hände lege.‹ Da fragte ich ihn: ›Welche Weisheit ist es, die du austeilst? Denn es gibt zehn Arten von Weisheit, und jede gibt nur ein Stück des wahren Wesens.‹ Er antwortete, diese und diese Art der Weisheit besitze er in solcher Fülle. Da sagte ich zu ihm: ›Dann wirst du die Königstochter nicht heilen. Denn du kannst ihre zehn Leiden nicht er-

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kennen. Denn nur wer ganze Weisheit spendet, erkennt das Verborgene.‹ Und ein vierter berühmte sich: ›Ich vermag mit meinen Händen die Flügel des Sturmwinds zu fassen und zu lenken.‹ Da fragte ich ihn: ›Welchem Sturmwinde gebietest du? Denn es gibt zehn Sturmwinde, und jeder singt seine Weise, und er lehrt sie dich, wenn du sein Herr wirst.‹ Er antwortete, diesen und diesen Sturmwind könne er bezwingen. Da sprach ich zu ihm: ›Dann wirst du die Königstochter nicht heilen. Denn du kannst vor ihr die zehn Weisen nicht singen, die ihr Heil sind. Und die Weisen sind in der Macht der Stürme.‹ Sie aber fragten mich: ›Und was vermagst du, der du uns also richtest?‹ Ich sprach: ›Ich vermag all das eure, und ich vermag all dies, was ihr nicht vermöget. Ich habe die Kerker der Erde geöffnet, diese und jene, und ich vermag frei zu wandeln auf den Wogen. Ich habe Macht über alle fliegenden Geschosse, und aus allen Wunden ziehe ich die Giftpfeile und vernichte ihr Wirken. Ich habe aller Weisheiten Schätze gespendet aus meiner Fülle, und mir ward Kraft gegeben, alles Geheimnis zu ergründen. Ich habe die Sturmwinde an meinen Wagen gespannt, und im Sausen erfuhr ich ihre Melodien. Und ich vermag die Königstochter zu heilen. Wisset aber, einst begehrte ein Fürst eine Königstochter, und er stellte Ränke an, sie zu fangen, und es gelang ihm, sie in seine Hand zu bekommen. Aber eine kurze Zeit darauf kam dem Fürsten der Traum, sie stehe über seinem Lager und ihre Hände seien um seine Kehle gelegt und würgten ihn. Da erwachte er, und der Traum war in sein Herz eingezogen. Er berief die Deuter und sie deuteten, es werde geschehen nach dem Geschehen des Traumes, daß er durch die Königstochter werde sterben müssen. Da wußte der Fürst seiner Seele keinen Rat zu geben, denn es war ihm leid sie zu töten, weil sie so schön war, und es war ihm leid sie zu verbannen, weil er es nicht ertragen mochte, sie eines anderen Eigen zu wissen, und leid war ihm, sie in seiner Nähe zu lassen, denn er hing am Leben und wollte es nicht lassen, ehe er sein müde würde. Indessen begann seine Furcht in die Blicke einzudringen, mit denen er die Königstochter anschaute, und in die Worte, die er zu ihr redete. Und wie sie ihn so düster und zweifelsüchtig einhergehen sah, verdarb die Liebe, die sie zu ihm gewonnen hatte, Mal für Mal, und sie konnte seinen Anblick nicht länger ertragen und floh von dannen. Und fliehend kam sie zu dem Wasserschlosse, das hinter den zehn Wellenmauern auf den Fluten steht. Und all dies, Schloß und Mauern und ihr Ort, alles ist aus Wasser, und niemand kann über die Schwelle treten, denn er stürzt in die Wogen. Und als die Königstochter vor den Mauem stand, da schaute sie um sich, und sie sah, daß der Fürst mit seinen Leuten ihr nachgesetzt hatte, und da war kein Weg, ihm zu entfliehen. So stand sie und wandte ihr Gesicht wieder dem Wasser zu und schloß die

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Augen und hörte hinter sich das Stampfen von tausend Hufen, vor sich das Rauschen der großen Gewässer, und lieber dünkte ihr irgend ein Sein oder irgend ein Tod, als zurückzukehren in das Elend. Da hob sie die Arme um den Nacken und warf den Kopf zurück und lief in die Flut. Aber die Flut trug sie, und die Mauern waren offen, und sie lief durch die zehn Tore in das Schloß. Der König jedoch hatte sie in das Wasser tauchen gesehen, und der Grimm hatte ihn ergriffen, und er hatte seinen Schützen zugeschrien, auf sie zu schießen. Und die Schützen spannten die Bogen, und die Pfeile schwirrten und erreichten sie nicht. Aber als sie am Eingange des Schlosses stand, wandte sie sich, und ihre Augen öffneten sich und sahen den Fürsten an. Da kamen die letzten zehn Pfeile und durchbohrten ihr Herz, und sie fiel an der Schwelle hin; aber die Wellen trugen sie in das Schloß und betteten sie. Der Fürst jedoch und seine Leute setzten ihr nach und versanken in der Flut. Nun aber will ich hingehen und die Königstochter heilen; denn die Zeit ist erfüllt, und ich höre den Befehl ergehen.‹ Und ich ging hin und heilte die Königstochter. Euch aber, ihr Kinder, schenke ich heute als hochzeitliche Gabe die Kraft meiner Hände und dies, ihr möget sein wie ich.« Da stieg von neuem die Freude auf, und sie feierten ihr Fest in hoher Freude.

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»Das Ende dieser Geschichte, das ist von dem siebenten Bettler und ihren Abschluß zu hören sind wir nicht gewürdigt worden. Und Er sprach, er werde sie nicht weiter erzählen. Und dieses ist ein großer Verlust. Denn wir werden nicht gewürdigt werden, sie zu hören, bis daß der Messias kommt. Dies möge geschehen in Bälde, in unseren Tagen, Amen.«

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Die Geschichten des Rabbi Nachman

[Berichtigung]

Berlin W., 24. Dez. 1906 Düsseldorferstr. 2. Verehrliche Redaktion! Eine kleine Berichtigung zu N. Sokolows Aufsatz »Chassidismus« (Heft 51 der »Welt«) sei mir gestattet. Der Rabbi Nachman meines Buches, der Likute Maharan, der Märchenerzähler, ist nicht Reb Nachman K o s s o w e r , der Z e i t g e n o s s e des Bescht (nach der Legende erst sein Widersacher, dann sein Freund), sondern Reb Nachman B r a z l a w e r, der U r e n k e l des Bescht. Obgleich viermal wiederholt, liegt hier selbstverständlich nur ein lapsus calami vor.* Dennoch soll er berichtigt werden, schon deshalb, weil ich in meinem nächsten Buch unter anderen auch von Reb Nachman K o s s o w e r zu erzählen haben werde. Mit Zionsgruß Dr. Martin Buber.

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wie sich auch aus anderen Stellen des Aufsatzes ergibt. Anm. d. Red.

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Die Legende der Chassidim erzählt das Leben des Israel Baalschem, des »Meisters des wundersamen Gottesnamens«, des Begründers der letzten und höchsten Phase jüdischer Mystik, und das Leben seiner Schüler und Schülersschüler. Sie hat sich in der zweiten Hälfte des achtzehnten und der ersten des neunzehnten Jahrhunderts im Gange der Geschlechter gebildet als die jüngste aller Legenden. Von den Zivilisierten und Aufgeklärten lange verachtet, von den Historikern des Judentums geschmäht oder verschwiegen, ist sie in unseren Tagen als eine hohe Schöpfung unserer dichtenden Kraft und als Phänomen von Wärme, Farbigkeit und Lebensgefühl mitten in einem erkalteten, verblichenen und erstarrten Schrifttum erkannt worden. Wohl hat sie nicht die rauhe Macht, in der die Buddhalegende redet, und nicht die innige, die die Sprache der Franziskuslegende ist. Nicht im Schatten uralter Haine und nicht an silbergrünen Olivenhängen erwuchs sie, in engen Gassen und dumpfen Kammern ging sie von ungelenken Lippen zu bange lauschenden Ohren, ein Stammeln gebar sie und ein Stammeln trug sie weiter, denn die Menschen der Gassen und der Kammern wußten nur die Worte der Lehre und ihrer Deutung, aber wenn die Sehnsucht über sie kam und Bilder der Überlieferung mit Bildern des Traumes zur Legende verband, konnten sie nicht sprechen. Und wenn sie nun doch erzählen m u ß t e n , weil die Herrin über ihnen war, da stammelten sie eine seltsame Sprache, gemischt aus den Elementen, die ihr Leben regierten, aus der Rede der Bibel und der Rede des Marktes, die nun seltsam gemischt und doch gesondert nebeneinander wohnten; zwischen den beiden aber blitzten hier und da, wie aus der Erde heraufsprühend, die Flammen einer dritten Rede auf, eine starke, reine Flammensprache, wie sie hier und da in dem Sohar und den anderen Schriften der Kabbala unvermittelt und jäh aus dem Boden emporschlägt, aber doch wieder in ursprünglichen, neuen, unberühmten Worten, von denen es auf ewig unbegreiflich bleiben wird, wie sie in den Seelen dieser erblich lebensfremden Menschen gezeugt werden konnten. Seltsam wie die chassidische Ekstase, die hundert Jahre die Juden des Ostens mit läuterndem Feuer durchbrannte, seltsam wie die chassidische Phantasie, die aus dem Feuer der Ekstase heraufblühte und den Stamm, der anderthalb Jahrtausend lang kaum je der Mund zur Erzählung öffnete, Geschichten spinnen ließ, wie nun irgend eine sagenschöpferische Nation und die Ältesten Europas zu dessen Jüngsten im naivem Volksschaffen machte, so seltsam ist auch die Sprache, in der diese Phantasie redet.

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Diese Sprache kann nur der verstehen, der, von ihr umgeben Kind war. Jedem anderen wird sie roh und öde erscheinen. Ich durfte mich daher nicht damit begnügen, das Vorgefundene zu übertragen. Ich habe die Erzählung nachgebildet, – nacherzählt, wenn man will; aber ich habe alle Elemente der starken, reinen Flammensprache gewahrt und die anderen, die Rede der Bibel und die Rede des Marktes, nur da völlig verworfen, wo die erste der Seele des Erzählten fremd und die zweite des Geistes des Erzählten unwürdig war.

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1. Die Heiligen des Herrn und die Rache [»Die Heiligen und die Rache«, in diesem Band, S. 220-223]

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2. Der Zukunftsbrief Der Baalschem kam einst auf einer Reise mit einigen der Seinen in die Gegend von Brody. Als er noch einige Meilen von der Stadt entfernt war, dünkte es ihm wohl, Nachtrast abzuhalten, und er kehrte einem kleinen Gasthofe zu, den ein rechtschaffener Jude innehatte. Der Wirt, der in seinem Gast den Meister erkannte, tat gar alles, was ein hingebendes Herz und ein wohlbestelltes Haus vermögen, um dem Baalschem Ehre zu erweisen. Des andern Tags nach der Morgenmahlzeit, als die Fremden sich anschickten, die Reise fortzusetzen, sprach der Baalschem zum Wirt: »So du in deiner Seele einen Wunsch hegest, möchte es wohlgetan sein, wenn du ihn mir heute verrietest«. »Herr«, redete jener, »da wüßte ich Euch wahrlich nichts zu sagen, denn Gott hat meinen irdischen Stand recht sehr gesegnet«. Als der heilige Mann dies vernommen hatte, lächelte er ein kleines und sprach gar zutraulich: »Nun, da ich dir keine Bitte zu gewähren vermag, Freund, möchtest du mir wohl einen geringen Dienst tun?« Und er schritt zum Tisch, schrieb einiges auf ein Blatt, brach und versiegelte es, und alsdann setzte er die Weisung darauf, an wen es abzugeben sei. Hierauf trat er zum Wirt und sprach: »Siehe, hier habe ich etwas niedergeschrieben, und es tut not, daß du es bei Gelegenheit den Vorstehern der Gemeinde zu Brody überreichest, deren Namen du außen aufgezeichnet findest.« Der Hausvater war des mit Freuden willens, nahm den Brief, verwahrte ihn in seiner Brusttasche und rief: »Heute noch führt mich ein häuslich Ding in die Stadt, da will ich gleich hingehen und den Brief bestellen.« Da lächelte der Baalschem wieder, klopfte dem Wirt auf die Schulter und sagte: »Nun, Freund, haste nicht, all-

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zugroße Eile ist nicht vonnöten. Inzwischen hättest du wohl noch Lust, uns ein kleines Stück des Weges zu begleiten?« Da lief jener allsogleich in die Kammer neben dem Stall, darin er in einer Truhe sein bestes Pferdegeschirr verwahrte. Indes er sich bückte, um es unter dem anderen Kram herauszulesen, fiel ihm der Brief aus der Tasche, glitt zwischen dem Riemen- und Sattelwerk hindurch und barg sich am Boden der Kiste, ohne daß der Mann in seiner Eile es gewahr wurde. So ging er, den Wagen zu besorgen, und gab sodann dem Baalschem das Geleite. Als er ins Haus zurückkehrte, war es spät am Tag geworden, und er mußte den Gang nach Brody um einige Zeit verschieben. Nach einigen Tagen ging er wohl hinüber, dachte aber des Briefes nicht mehr. – Noch hatte das Jahr seinen Lauf nicht völlig abgetan, so brachten Reisende in das Wirtshaus die Kunde, daß der große Meister Israel Baalschem dem Leben auf dieser Erde den Abschied gegeben habe und in die wahre Welt eingezogen sei. Da faßte den Wirt eine große Wehmut an, daß es ihm hienieden nicht mehr beschieden sei, dem Herrn seiner Seele zu begegnen, und in dem Spiegel seines Gedächtnisses stiegen die Bilder jenes Tages auf, an dem der Baalschem sein Haus des Besuches gewürdigt hatte, aber die Erinnerung an jenen Brief blieb im Dunkel des Vergessens geborgen. Wie die Zeit darnach kam und ging, brachte sie gar viel Schweres und Unseliges über den Wirt, und obwohl er sich rechtschaffen und herzhaft gegen des Lebens Unbill wehrte, vermochte er doch nicht, dem Schlimmen Einhalt zu tun. Sein Haus und Ansehen schwand und zerfiel und selbst seiner Tage und Nächte harte Arbeit schuf ihm nichts Gutes, nun da sich sein Rad gewendet hatte. Es kam ein Morgen, da in der Lade kein Brot war und die Kinder vor Hunger weinten. Da vermochte er in die trüben Augen seines Weibes nicht mehr zu sehen. Umsonst forschte sein Blick an den kahlen Wänden der Stuben, ob sich noch ein geringes Ding fände, für das er die nötige Speise eintauschen könnte, aber alles war schon dahingegangen, um den Seinen die Notdurft zu erkaufen. Als er so sann und trachtete, fiel ihm eine alte Kiste ein, die einst neben dem Pferdestall gestanden hatte und dann, als er längst weder Pferd noch Stall mehr sein eigen nannte, mit anderem nutzlosen Gerümpel unter das Dach des kümmerlichen Häuschens gewandert war, in dem er jetzt wohnte. Und so stieg er hinauf und kramte in der alten Truhe, ob sich drin noch einiges alte Leder- und Metallzeug fände, für das der Händler ein paar Groschen böte. Als er so suchte und die Kiste ihres Inhalts entleerte, fand er am Boden unter einer dicken Staubschicht jenen langvergessenen Brief, dessen Besorgung einst – nun waren es siebenzehn Jahre – der Baalschem von ihm erbeten hatte. Er nahm ihn zur Hand und las die Aufschrift und erkannte die heilige

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Hand. Da stand im Bild vor seinem Geiste alles lebendig wieder da, die Tränen stürzten ihm nieder und er rief: »Wohl, nun kenne ich die Quelle aller meiner Leiden! Wehe mir Leichtfertigen, der ich verabsäumt habe, dem Befehl meines Herrn zu genügen«. Und wie er mit Schmerz und Reue von neuem auf die teuren Schriftzüge sah, kam ihm der Gedanke: »Vielleicht wäre es recht, wenn ich heute, obzwar so viele Jahre verlaufen sind, doch mit dem Brief nach Brody ginge und versuchte, die Männer zu finden, an die er einst geschrieben wurde. Vielleicht, daß er selbst heute noch sein Gutes zu stiften vermag.« Und er vergaß der Not und Bitterkeit in seinem eigenen Hause, und sein Herz erhob seine Füße. So ging er mit dem Briefe nach der Stadt Brody. Als er müde und erschöpft dort ankam, begab er sich, da es ihm an Zehrgeld um eine Herberge aufzusuchen, mangelte, nach der Art der Armen in das Lehrhaus. Hier wandte er sich an einige alte Männer mit der Frage, welches vor siebenzehn Jahren die Vorsteher der Gemeinde gewesen seien. Da nannten ihm die Leute nach etlichem Besinnen ein paar Namen, die aber nichts mit denen, die auf dem Briefe standen, gemein hatten. Er zog das Schreiben hervor und nannte die Namen, die da aufgeschrieben waren, und fragte die Alten, wann die Männer dieses Namens Vorsteher gewesen seien. Der Älteste unter ihnen besann sich und sprach: »Ich denke seit fünfundsiebzig Jahren aller Juden, die Vorsteher unter uns waren, mein Gedenken ist trotz meines hohen Alters hell wie ein klares Wasser, aber ich weiß, daß in all dieser Zeit keiner dieses Namens das Amt bekleidet hat.« Da mengte sich ein anderer in die Rede und sagte: »Es gibt wohl zwei junge Leute in unserer Stadt, die sich so benennen, aber sie sind kaum der Lehrzeit entwachsen und jungvermählt und haben noch keine Würde unter uns besessen.« Ein dritter rief unter Lachen: »Nun, gedulde dich ein Weilchen, soeben werden im Gemeindehause die Namen unserer neuen Vorsteher aus der Urne gezogen. Vielleicht hast du Glück und kannst deinen Brief sogleich bei ihnen abgeben«. Daraus entstand allerlei Fröhlichkeit und Scherz. Während sich alle der Heiterkeit hingaben, wurde auf einmal die Türe aufgerissen, und herein stürzten zwei mutwillige Knaben und riefen: »Masel tow! Die Wahl ist beendet! Die Jüngsten der Gemeinde sind zu unseren Ältesten geworden!« Und sie schrien in singendem Tone die Namen aus, die auf dem Briefe des Baalschem verzeichnet standen. Da kam ein scheues Staunen über die Leute, und die Männer geleiteten den Fremden zum Versammlungshause, wo die Neuerwählten soeben feierlich in ihr Amt eingesetzt worden waren. Bescheiden und durch die sonderbaren Umstände ein wenig verwirrt, trat der Ankömmling auf die beiden zu und überreichte ihnen den Brief, indem er sagte: »Diesen in eure Hände gelangen zu lassen, hat der Baalschem mir befohlen.« Da

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sahen sich jene eine Weile ohne Verständnis an, dann aber füllte sich ihr Mund mit Lachen, und der eine fragte: »Woher kommst du, Einfältiger, und wie verhält es sich damit, daß du uns einen Brief von dem heiligen Baalschem bringst, dessen Andenken zum Segen sei und der vor nun siebenzehn Jahren dahingeschieden ist, als wir noch kleine Kinder waren?« Der Fremde erwiderte gebeugten Geistes: »Ich bin aus einem kleinen Dorfe dieser Gegend, und auch mich dünkt der Hergang der Sache gar wunderbar.« Und er erzählte ihnen die Geschichte des Briefes und wie sich alles ereignet hatte. Sodann reichte er ihnen den Brief und sprach: »Nun nehmet ihn doch aus meiner Hand und öffnet ihn, denn ich trage Scheu ihn zu entfalten und in das Wunder zu greifen.« So nahmen sie dann das Schreiben und erbrachen es, und solcher Art war der Inhalt: »Der Mann, der euch, ihr Herren und Führer eurer Gemeinde, diesen Brief überreichte, ist ein rechtschaffener Mensch und gütigen Sinnes. Er hat viele Jahre seines Lebens großen Wohlstand genossen, bis sein Rad sich wendete und sein Gut von ihm genommen wurde. Nun leidet er die schwerste Armut. Ich, Israel Baalschem, verlange von euch, daß ihr euch zu seinem Glücke bemüht und ihm helfet, das Unheil zu überwinden. Vielleicht scheint es euch nicht glaubhaft, daß ich diesen Brief geschrieben habe. So möge euch dies zum Zeichen sein: Jeder von euch erwartet, daß sein Weib in diesen Tagen gebäre, und es wird nicht eine Stunde vergehen, nachdem ihr diesen Brief empfangen habet, da werden Boten zu euch kommen und euch melden, daß dem einen von euch ein Knabe, dem andern ein Mädchen zur Welt gekommen ist«. Und so geschah es, und es kamen zwei Boten und brachten die Nachricht, ganz wie es in dem Brief verheißen war. Da beschied sich die ganze Gemeinde zusammen wie zu einer Tat der Ehre, und durch den heiligen Willen des Baalschem taten sie dem Wirt so viel Gutes an, daß er sein Haus wieder bestellen konnte und binnen kurzem mit den Seinen zum früheren Wohlstand gedieh. 3. Die Predigt des neuen Jahres [In diesem Band, S. 286-290.] 4. Das dreimalige Lachen [In diesem Band, S. 304-307.]

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5. Der schlimme Sabbat [»Der zerstörte Sabbat«, in diesem Band, S. 270-276.] 6. Die vergessene Geschichte [In diesem Band, S. 245-255.]

Die Neidgeborenen Eine chassidische Legende

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In der Stadt Lublin lebten einst zwei Schüler, die einander sehr zugetan und befreundet waren. Sie gaben sich gemeinsam der heiligen Weisheit zu eigen, lebten zusammen im Hause des Rabbis von Lublin, teilten den Tisch, und keiner mochte ohne den andern irgend etwas vornehmen. Der eine, der etwas jünger an Jahren war und es durch sein freies und heiteres Wesen noch mehr schien, hatte ein sehr wohlgefälliges Ansehen und wurde von allen Juden der Stadt recht geliebt. Das Lernen in den heiligen Büchern war ihm überaus leicht, und er hatte trotz seiner Jugend viel der großen Dinge in sich geborgen, freilich nicht zutiefst erfaßt. Dies aber war ihm und auch allen kaum offenbar, die seinen Jugendreiz schauten und übermächtig fühlten, vielleicht nur seinem Freunde, der ihn jedoch darum nicht weniger liebte. Ja, er war ihm dadurch wohl noch teurer. Denn seine eigene Seele entbehrte der Helle und Leichtigkeit, und die Fülle dieser Eigenschaften erschien ihm am Gefährten gar bezaubernd. Er selbst hatte ein verschlossenes Antlitz und schien gar kühl von Gemüt, aber seine Seele war die Stätte eines dunklen Feuers, und er lebte in einer schrankenlosen Hingabe an das Mysterium der Lehre. Wohl wußte er weniger als der Freund, und auch dies Wenige trat ihm nur widerwillig auf die Zunge. Im Geheimen aber drang er in das Herz der Offenbarung ein, in großer Leidenschaft hing seine Seele an den Rätseln der Tiefe, und er hatte Stunden, in denen er dem Ewigen nahe, ja in ihm aufgelöst war. Die Freundschaft zu dem jüngeren Genossen pflegte er wie eine zarte, sehr liebliche Blume, mit der er – gleichsam dieses einzige Zugeständnis dem Irdischen gewährend – seine düstere Seele schmückte. Da fügte es sich, daß unter manchen anderen auch einer der bedeutendsten und angesehensten Juden der Stadt eine herzhafte Zuneigung zu dem jüngeren der Genossen gewann, ihn unter Zeichen der Geneigtheit in sein Haus zog und sich endlich den Wunsch nimmer versagen wollte, ihn zu seinem Eidam zu machen, indem er ihm die einzige Tochter vermählte, deren Wert an Schönheit und Seelenreiz in der ganzen Stadt bekannt war. Dem Schüler sagte es wohl zu, in eine reiche und vornehme Familie einzutreten und ein reizendes Mädchen zum Weibe zu gewinnen, und da sein Meister, der heilige Rabbi von Lublin, zu dem Bunde riet, kam das Verlöbnis zustande. Es war an dem Tage, an dem der Ehevertrag geschrieben werden sollte, da der ältere der beiden Freunde zugleich mit dem Rabbi von Lublin, um

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dem jungen Genossen an seinem Ehrentage das Geleit zu geben, in das Haus des Brautvaters kam, das er bisher nie besucht hatte. Während die schicklichen Gebräuche mit aller Würde und Feier, die die reiche Verwandtschaft für angemessen hielt, vollzogen wurden, sah der Freund des Bräutigams zum ersten Male die junge Braut. Sie war, wie sie im Munde der Welt lebte, von herzergreifender Schönheit und stand ganz wie traumgeboren da, während ihr Vater sie wie ein köstliches, aber lebloses Geschenk unbefragt dem fremden Manne gab. Da verstand der zweite Schüler, daß ihre Seele neu und in sich beschlossen noch in ihr ruhte und sich keinem Manne zuneigte, dem Bräutigam nicht und keinem anderen. Er wußte wohl, daß der junge Freund sie besitzen und gewinnen würde, aber er fühlte noch sicherer, daß sie hätte sein werden können, wenn des Vaters Wahl auf ihn gefallen wäre, und daß er die noch Schlafende hätte glühender und inniger erwecken können. Und er fühlte, daß der Freund, dem wahren Leben fremd, doch nur ein bezaubernder Tor war, dessen Kinderseele mit der herrlichen Frucht, die ihm zufiel, nur zu spielen verstünde. Da erfüllte ihn der Verlust mit ätzendem Weh, und ein grimmiger, schmerzhafter Neid wurde in ihm geboren. Er verließ das Fest und mied den Freund und dessen neue Heimat von der Stunde an. Aber auch in der heiligen Weisheit fand er keine Ruhe, denn es war ihm, als sei ihr Wesen tot und einzig das Leben mit einer lebendigen Seele, von der er träumte, daß sie wie blühend weißes, duftendes Wachs in seiner Hand gewesen wäre, begehrenswert. Im Hause des heiligen Rabbi erachtete man ihn für einen Kranken an der Seele und erwies ihm alle zarte Güte und Schonung. In seiner Kammer über dem Werke der Erkenntnis war er nimmer zu finden, vielmehr trieb ihn die Unrast im Gemüte umherzustreifen, und man konnte ihn nunmehr häufig vor der Stadt auf abseitigen Wegen irrend antreffen. Es war ihm oft, als wachse der dunkle Hang so gar ins Unermeßliche, daß der begrenzte Raum des Hauses ihn zu beengen schien; auch mochte er draußen im Schreiten durch Wildnis und Gestrüpp, die unlieblich die Stadt umfingen, leichter den wirren Gängen seiner Seele folgen. Eines Abends, als er auf dem Heimwege sich zur Stadt kehrte, gramvoll müde, da sein Geist sich wiederum mit düsterem Beharren an das Geschick des Freundes geheftet hatte, gesellte ein fremder Jude sich wandernd ihm zu. Bei seinem Anblick fuhr der Schüler zusammen, denn der Mann war mit einem Male neben ihm gegangen, aufgestiegen wie aus einem der grauen Wiesennebel, die rings über die Felder wallten. Kein Laut hatte sein Kommen gemeldet. Der Fremde aber grüßte zutraulich, und so ließ der Schüler sich ein

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Gespräch gefallen, zudem der Wanderer sich als ein Chassid zu erkennen gab, der mit jüdischen Leuten und deren Leben in der Stadt Lublin wohlbekannt schien. Er tat auch gleich nach dem heiligen Rabbi ehrerbietige Nachfrage, wie es um sein Haus und um sein Wirken bestellt sei, und welche Schüler wohl bei ihm zu finden seien. Da machte ihm der Jüngling denn zu wissen, daß er selbst einer sei aus der Schaar, die die Weisheit des Meisters nach Lublin gezogen habe. Als er dieses vernommen hatte, tat der Unbekannte recht von Herzen erfreut und meldete dem Schüler, er sei eben dazu hergezogen, um unter den jungen Leuten im Hause des Rabbis Nachschau zu halten. Denn in einer kleinen Stadt, gar nicht allzuweit vom Ort, habe ein reicher und sehr wohlgerühmter jüdischer Mann ihn abgesandt, hier in Lublin für ihn einen Eidam zu suchen, dem er die einziggeliebte wunderschöne Tochter geben möchte. Und nun, vermeinte der Fremde, habe er den richtigen Mann sogleich gefunden, noch ehe er die Stadt betreten. Und er lud den Schüler mit viel freundlichen Worten ein, schon morgen ihm in des Juden Haus zu folgen, wo sie alles wohl zu bereden und zu ordnen vermöchten. Indem der Schüler all dies hörte, war es ihm, als sei es gut, so zu tun; vielleicht fände er der kranken Seele Heilung, wenn er das Gesetz erfüllte und ein Weib nähme, und vielleicht ließe alles so glücklich sich an, daß er keinen mehr zu beneiden hätte. So sprach er »Ja«, und sie beschlossen, daß sie früh am Tage mit der aufkeimenden Helle am Ende der Stadt sich finden und den Gang zum Hause des Brautvaters tun wollten. Dann schieden sie als gute Freunde. Der Schüler ging in seine Kammer und harrte die Nacht über ohne Schlaf aus. Wohl versuchte er seine Seele betend zu bereiten, aber es gelang ihm nicht, sie zu sammeln. Als die Nacht zur ersten Morgenstunde erblich, verließ er des Rabbis Haus, in dem alles noch schlief, ohne Urlaub zu nehmen, und ging im Dämmer durch die Gassen zu dem Ende, wo er den Fremden fand. Sie wanderten in die frühe Stunde hinaus, den Weg, auf dem sie einander gestern begegnet waren. Allein bald hörte für den Schüler das bekannte Land auf. Sie gerieten in eine waldige Wirrnis. Der Weg wurde so eng, daß die Sträucher rechts und links über ihm zusammenschlugen, der Boden schien unbetreten, Moos, Gras und Blüten bedeckten den Pfad. Sie schritten stundenlang, ohne daß irgend etwas sich um sie änderte. Der Führer glitt schattengleich vor dem Jüngling einher; ohne zu ruhen, schien er niemals müde zu werden. Zuweilen wandte er sein Gesicht, und dann empfand der Schüler stets ein leises, fremdes Grauen, denn das Antlitz war immer gleichsam ein anderes und dennoch dasselbe.

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Es war in dem Walde völlig still, keines Tieres Schrei, kein Vogelruf, selbst die überhängenden Zweige bogen sich ohne Laut zur Seite. Mit schier klanglosem Munde sagte der Führer selten ein aufmunterndes Wort. Der Jüngling aber war so sehr in seinen Gedanken befangen, daß er der seltsamen Umstände wenig achtete. Ohne Rast und Labung gingen sie weiter. Ein schwach geröteter Abendschein leuchtete schon durch die lichter stehenden Stämme, und bald verließen sie den Wald. Sie standen in einer bläßlichen Landschaft, über der auf silbrig-hellblauem Himmel der Mond verschleiert hing. Vor ihnen schien weißer Nebel ein Stadtbild zu bergen. Da faßte der Schüler die kühle Hand des Gefährten und zog ihn vorwärts. Jetzt mußte die Stadt beginnen. Sie hielten vor einem großen, massigen Bau, dessen Umrisse ungewiß aus dem Nebel aufstiegen. Der Fremde blieb an einer Pforte stehen, hob die Hand und ließ einen metallenen Klopfer gegen das Holz der Thür fallen. »Wo sind wir?« fragte der Schüler. »Am Ziel!« gab jener zurück. »Ist die Stunde nicht zu spät«, meinte der Jüngling, »um in eines Juden ehrbares Haus zu treten?« – »Die Zeit ist gut«, sprach der Führer. Die Tür hatte sich inzwischen geöffnet, aber da war keiner zu sehen, der sie aufgetan hätte. Sie schritten über lange, wirr gewundene Gänge. Dann hob der Führer einen Vorhang. Sie traten in ein großes Gemach. Der Schüler gewahrte zum ersten nur einen Schimmer von bräunlich verdunkeltem Golde und verblichenen Farben an den Wänden und sah Wölkchen eines Räucherwerks die Luft beschweren. Dann klärten sich die Gegenstände. Alles war von einer ernsten erhabenen Pracht, alt und schier königlich von Ansehen. Er sah drei Gestalten sich lösen aus dem herben Dunst, der, aus einem bronzenen Becken aufsteigend, den Raum erfüllte. Mann und Weib, beide grauhaarig und schon ein wenig gebeugt, mit schweren kostbaren Gewändern angetan, redeten ihn mit Namen und Gruß an und wiesen ihm die Tochter, die er zum Weibe nehmen sollte. Sie hatte ganz im Hintergrunde gesessen, von ihm bisher nur schattenhaft gewahrt, und erhob sich nun, schlank und hoch. Mit sehr weißem Angesicht kam sie durch die duftende bläuliche Luft auf ihn zu, stand vor ihm und verneigte sich. Er sah, daß ihre Augen sehr dunkel waren, voller Wehmut und glitzerndem Hohn, und ihr Haar eine berauschende schwarze Woge. Ihr Anblick fiel wie der Blitz in sein Herz und erfüllte es mit einer ungekannten, taumelnden, stechenden Freude. Das Mädchen hatte das Ansehen der Braut seines Freundes, die er begehrt hatte. Es hatte ihre Züge; nur schwankender, fremder, geheimnisreicher. Da blickte er auf die Alten: auch sie glichen dem Brautvater und der Brautmutter auf der Hochzeit seines Freundes; nur älter, bleicher schienen sie und trugen, wie die Tochter, fremdartige Kleider.

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Nun legten sie den Ehevertrag vor ihn auf einen Tisch. Das Schriftstück war geschrieben mit bläßlich-rothen Lettern auf einem starken gelblichen Blatte, und es ermangelte nichts als sein Name. Der Vater öffnete eine schwere Truhe und zeigte ihm den goldfunkelnden Brautschatz. Da verneigte sich der Jüngling und sprach, er wolle gehen und seinen heiligen Lehrer herführen, damit der ihm Zeuge sei zu seiner Vermählung, und hochzeitliche Gewänder antun und wiederkommen und die Braut empfangen. Und wie er dies sagte – seine Stimme verzitterte seltsam in der Luft – schienen ihm die drei Gestalten zu erbleichen und zurückzuschwanken und es war, als ob selbst der Tisch vor ihm entweiche. Da streckte er angstvoll die Hand aus, um alles zu halten, fühlte das Blatt in seiner Hand, barg es rasch in seinem Rocke, neigte sich abermals wie im Traume und ging hinaus. Bald fand er sich im Walde, durch den er gekommen war, die Seele voll von einer wirren, betäubenden Wonne. Er ging die ganze Nacht, fast ohne sein Gehen zu verspüren; es war, als ob der Boden ihn vorwärts schöbe. Im Morgengrauen fand er sich auf einer bekannten Landstraße wenige Meilen von Lublin. Er fühlte plötzlich eine Kälte in allen Gliedern, und ein lähmendes Entsetzen kroch ihm in die Seele. Er tastete mit der Hand nach dem knisternden Blatt in seiner Tasche, und die Hand schmerzte, als hätte sie Feuer berührt. Es war ihm nun, wenn er des Mädchens gedachte, das sein werden sollte, als stehle er seines Freundes einstige Braut, und die seltsame Ähnlichkeit wurde ihm zum peinigenden Schrecken. Als er die Stadt betrat, begegneten ihm die Juden, die zum Morgengebet gingen. Er senkte die Stirn vor Scheu wie ein Gezeichneter und eilte nach Hause. Sogleich trat er in die Stube des Rabbis, der sich eben vom Gebet erhob und das Auge auf ihm ruhen ließ. Unter diesem Blicke gewann der Schüler Besinnung und Mut und sprach zu dem Lehrer von allem, was ihm begegnet war, holte den Ehevertrag aus der Tasche und legte ihn vor dem Heiligen nieder. Der sah das Schreiben an und sprach: »Wirf dich zur Erde und harre aus im Gebet! Es tut not, daß ich die Brauteltern mit der Braut rufe, auf daß sie bald hier erscheinen.« »Meister«, erwiderte der Schüler, »wenn du auch gleich Boten sendest, und wenn sie sich augenblicklich auf den Weg machen, so können sie vor morgen bei Tagesanbruch nicht hier sein.« »Da sei unbekümmert«, sprach der Rabbi, »raffe deine Seele zusammen und bete ohne Unterlaß!« Und sogleich warf auch er sich zur Erde und tat ein starkes Gebet zum Himmel. Es währte wohl eine Stunde, daß die beiden so lagen und beteten. Da sprang die Tür zu des Rabbis Gemach auf, und vor der Schwelle

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standen die drei, Brauteltern und Braut, und konnten sie nicht überschreiten. Sie waren anzusehen wie Gestorbene mit gebrochenem Blick, ein fahler, grünlicher Schein ging von ihren Gesichtern aus, und sie hoben die Arme flehend gen oben. Es stand der Rabbi auf und rief mit gewaltiger Stimme dreimal den heiligen Namen über die Dämonen. Da zerflossen die Gestalten und schwanden in der Luft. Der Meister befahl dem Jüngling, er möge den Vertrag zerreißen, und der tat es, und die Stücke des Blattes zerfielen in Staub. Da erklang ein zitterndes Seufzen der Erlösung durch das Zimmer. Der Rabbi aber und sein Schüler sanken nieder und sprachen ein Dankgebet.

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Rabbi Levi Jizchak von Berditschew hütete mit sorglicher Seele die Weihe aller Bräuche und gab jedem seinen Sinn aus der Tiefe. Einmal hatte er den Sseder der ersten Pessachnacht mit aller Inbrunst und Andacht gehalten, also daß jedes Gebot und jede Sitte lebendig und des Geheimnisses voll an des Zaddiks Tische erschien, und jedes Tun der Menschenhände und des Menschenmundes war wie ein gläserner Schrein, der wunderwirkende Kleinodien birgt. Mit einer Stimme, die wie Saitenspiel war, erzählte der Rabbi die alte Erzählung, und aus seiner Rede stieg das Sinnbild auf und leuchtete wie verschleierte Sterne im Raume. Mizrajim war die Verbannung der Seele und das Rote Meer ihre Befreiung. Sie hatte dem Pharao Städte bauen müssen, und die Fronvögte hatten sie wund geschlagen. Aber die Lösung wurde gesandt, und das Wunder kam, und die Dinge der Welt wandelten ihre Art, und der Tag der Seele brach an, und die Seele ging trockenen Fußes durch das Meer. So stieg das Sinnbild aus des Rabbis Seele auf und leuchtete über der Nacht. Und so ging die Nacht dahin, und die Versammelten wurden nimmer müde. Und als das Morgenrot kam, da schien es ihnen selbst wie ein Zeichen des Geheimnisses, und es war ihnen, als ob zwei Sinnbilder einander grüßten, das Wort des Zaddiks und das Morgenrot. Aber als der Sseder zu Ende war und Rabbi Levi Jizchak allein in seiner Kammer saß, mußte er an diese Nacht denken, die er gefeiert hatte, und an den Sseder, der gewachsen war aus dem Willen seines Herzens. Und es dünkte ihn schön und vollkommen, was geschehen war. Und er sprach zu Gott: »Du Grund und Heimat meines Lebens, meiner Seele Herr und Herrlichkeit, wahrlich, ich habe dir recht gedient in dieser Nacht und deine Ehre verkündet in Flammengesängen.« Und er hielt inne und horchte auf den Grund seines Lebens. Aber da war nichts als Schweigen. Da erschrak der Rabbi, denn nie noch war ihm dies widerfahren, und sammelte sein Herz und sprach mit hastigen Worten: »Habe ich nicht mit meinem Tun getaucht in die Mysterien deiner Gnade? Habe ich nicht die ungesäuerten Brote erhoben als das Siegel des Streites, den die Seele um dich streitet, und das Bitterkraut gegessen als die Pflanze des Leides, das die Seele für dich trägt, und des Pessachlammes gedacht als des Zeichens des Opfers, in dem die Seele sich dir entgegenbringt?« Doch das Schweigen lagerte wie zuvor. Und stammelnd sprach der Rabbi weiter: »Habe ich nicht die Hungrigen gerufen, daß sie kommen und essen,

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und auch die noch, die dahingingen im Hunger ihrer Sehnsucht und nicht genährt worden sind? Habe ich nicht die Durstigen gerufen, daß sie kommen und trinken, und auch die noch, die dahingingen im Durste ihres Erkennens und nicht gestillt worden sind? Und sind nicht die Geister gekommen und haben gegessen und getrunken an meinem Tische?« Aber das Schweigen lag starr und ungestört da. Da kroch das Unheil wie ein Wurm in das Herz des Rabbi, und er warf sich nieder und schrie mit der letzten und zerbrechenden Stimme: »Habe ich nicht deine Tat verkündet, o Befreier?« Da wurde das Wort wach auf dem Grunde seines Lebens, wie die Kraft in der Erde wach wird an einem Spätwintermorgen, und das Wort redete: »Warum rühmst du dich und nennst schön und vollkommen, was durch dich geschehen ist? Fürwahr, lieblicher ist mir der Sseder Chajims, des Wasserträgers, als der deine.« Da erhob sich Rabbi Levi Jizchak zitternd und verstört und rief seine Hausleute und seine Schüler zusammen und fragte sie: »Ist in dieser Stadt einer, der Chajim der Wasserträger genannt wird? Und kennt ihr ihn?« Da flüsterten sie miteinander und unterredeten sich, und ein Schüler sprach: »Wir glauben wohl, daß es hier einen Mann dieses Namens gibt, aber wir kennen nichts von ihm und nicht, wo er wohnt.« Und ein anderer fügte dazu: »Sicherlich ist es der Unwissenden einer. Und wohnen mag er wohl an der Grenze der Stadt, wo die Häuser der Armen sind.« Da rief der Zaddik: »Gehet hin und suchet ihn und bringet ihn eilig zu mir.« Und sie gingen, ihn zu suchen. Indessen schritt der Rabbi Levi Jizchak in seiner Kammer hin und her und mühte sich, seiner Seele die Ruhe wiederzubringen. »Gewiß ist es einer von den Verborgenen,« so redete er ihr zu, »von den heimlichen Gottessöhnen einer, die in Knechtesgestalt unter uns leben und ihr heiliges Wesen hinter rohem und bäurischem Getriebe verhüllt halten, also daß sie nur ihrem Herrn sich öffnen und gewähren. Einer von den Sechsunddreißig ist es, von den Zaddikim der unsichtbaren Welt, die sich ewig erneuern und durch die die Welt erneuert wird.« Aber seine Seele gab sich nicht zufrieden und wehrte ihn ab und sprach: »Mag es auch einer von diesen sein, was hat er geschaut, was ich nicht geschaut hätte, und welchen Dienst kennt er, den ich nicht kennte? Und in welchem Abgrund wohnt er, in dem nicht auch ich wohnte?« Also redete die Seele zu ihm und verachtete die Ruhe und haderte mit dem Nichts. Die Schüler aber liefen in der Stadt umher und fragten nach Chajim, dem Wasserträger. Endlich wurde ihnen sein Haus gewiesen, und sie gingen hin und klopften an die Tür. Eine Frau kam heraus und fragte nach ihrem Begehr. Als sie erfuhr, wen sie suchten, verwunderte sie sich und

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sagte: »Wohl ist Chajim, der Wasserträger, mein Mann. Aber er kann nicht mit euch kommen, denn er hat gestern viel getrunken, und nun schläft er noch, und wenn ihr ihn auch wecket, wird seine Müdigkeit ihn gefesselt halten, und er wird seine Füße nicht zu heben vermögen.« Jene aber antworteten nur: »Der Rabbi hat es befohlen!« und gingen hin und rüttelten ihn auf. Da sah er sie aus blinzelnden Augen an und verstand nicht, wozu sie seiner bedurften, und wollte sich wieder hinlegen. Sie jedoch hoben ihn vom Lager und nahmen ihn in ihre Mitte und trugen ihn fast auf ihren Schultern zum Zaddik. Der ließ ihm einen Sitz in seiner Nähe geben, und als er stumm und verwirrt dasaß, neigte er sich zu ihm und sprach: »Rabbi Chajim, mein Herz, worauf ging Euer Gedanke, als Ihr das Gesäuerte zusammensuchtet?« Da sah ihn jener mit stumpfen Augen an und schüttelte den Kopf und antwortete: »Herr, ich habe mich umgesehen in allen Winkeln und habe es zusammengesucht.« Und der Zaddik fragte weiter: »Und was hattet Ihr im Sinne, als Ihr das Gesäuerte verbranntet?« Da dachte jener nach und betrübte sich und sagte endlich zögernd: »Herr, ich habe völlig vergessen, es zu verbrennen. Und nun entsinne ich mich, es liegt noch auf dem Balken. Und dies mögt Ihr mir vergeben, Herr, daß ich es vergessen habe.« Als Rabbi Levi Jizchak dies hörte, ward auch das Letzte in ihm unsicher; aber er fragte weiter: »Und das saget mir noch, Rabbi Chajim: Wie habt Ihr den Sseder gehalten?« Da war es, als erwache jenem etwas in Aug’ und Gliedern, und er sprach mit weicher und demütiger Stimme: »Rabbi, ich will Euch die Wahrheit sagen. Seht, ich habe von je gehört, daß es verboten ist, Branntwein zu trinken die acht Tage des Festes, und da trank ich gestern am Morgen, daß ich genug habe für acht Tage. Und da wurde ich müde und schlief ein. Und dann weckte mich meine Frau, und es war Abend, und sie sagte zu mir: ›Warum hältst du nicht den Sseder wie alle Juden?‹ Sagte ich: ›Was willst du von mir? Bin ich doch ein Unwissender und mein Vater war ein Unwissender, und ich weiß nicht recht, was tun und was lassen. Aber sieh, das weiß ich: Unsere Väter und unsere Mütter waren gefangen bei den Zigeunern, und wir haben einen Gott, der hat sie hinausgeführt in die Freiheit. Und sieh, nun sind wir wieder gefangen, und ich weiß es und sage dir, Gott wird auch uns in die Freiheit führen.‹ Und da sah ich den Tisch stehen, und das Tuch leuchtete wie die Sonne, und standen drauf Schüsseln mit Mazzoth und Eiern und anderen Speisen, und standen Flaschen mit rotem Wein, und da aß ich die Mazzoth mit den Eiern und trank den Wein und gab meiner Frau zu essen und zu trinken. Und dann kam die Freude über mich, und ich hob den Becher zu Gott und sagte: ›Sieh, Gott, ich trinke diesen Becher zu dir. Und du neige dich zu uns und mache uns frei!‹ Und so saßen wir da und tranken und

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freuten uns vor Gott, und dann kam die Müdigkeit über mich, und ich legte mich hin und schlief ein.« Also erzählte Chajim der Wasserträger dem Zaddik von Berditschew und seinen Schülern.

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Einführung

Dieses Buch besteht aus einer Nachricht und einundzwanzig Geschichten. Die Nachricht sagt das Leben der Chassidim, einer ostjüdischen Sekte, die gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entstand und noch in unseren Tagen entartet fortbesteht. Die Geschichten erzählen das Leben des Stifters dieser Sekte, des Rabbi Israel ben Elieser, der Baal-schem, das ist Meister des wundersamen Gottesnamens, genannt wurde und von etwa 1700 bis 1760, zumeist in Podolien und Wolhynien, lebte. Aber das Leben, von dem hier Kunde gegeben wird, ist nicht das, das man das wirkliche zu nennen pflegt. Ich berichte nicht die Entwicklung und den Verfall der Sekte, ich beschreibe nicht ihre Gebräuche. Ich will nur das Verhältnis zum Absoluten und zur Welt mitteilen, das diese Menschen dachten, wollten und zu leben versuchten. Ich zähle auch nicht die Daten und Tatsachen auf, deren Zusammenfassung die Biographie des Baalschem zu nennen wäre*. Ich baue sein Leben aus seiner Legende auf, in der der Traum und die Sehnsucht eines Volkes sind. Die chassidische Legende hat nicht die strenge Macht, in der die Buddhalegende redet, und nicht die innige, die die Sprache der Franziskuslegende ist. Nicht im Schatten uralter Haine und nicht an silbergrünen Olivenhängen erwuchs sie, in engen Gassen und dumpfen Kammern ging sie von ungelenken Lippen zu bange lauschenden Ohren, ein Stammeln gebar sie und ein Stammeln trug sie weiter – von Geschlecht zu Geschlecht. Ich habe sie aus den Volksbüchern, aus Heften und Flugblättern empfangen, zuweilen auch aus lebendigem Munde, aus dem Munde von Leuten, die noch das Stammeln gehört hatten. Ich habe sie empfangen und neu erzählt. Ich habe sie nicht übertragen, wie irgend ein Stück Literatur, ich habe sie nicht bearbeitet, wie irgend einen Fabelstoff, ich habe sie neu erzählt als ein Nachgeborener. Ich trage in mir das Blut und den Geist derer, die sie schufen, und aus Blut und Geist ist sie in mir neu geworden. Ich stehe in der Kette der Erzähler, ein Ring zwischen Ringen, ich sage noch einmal die alte Geschichte, und wenn sie neu klingt, so schlief das Neue in ihr schon damals, als sie zum ersten Mal gesagt wurde. Mein Erzählen der chassidischen Legende geht ebensowenig wie auf *

Ich unterschätze aber eine Arbeit an diesem – zumeist recht dürftig und unsicher überlieferten – Material nicht und freue mich, dass nach dem Vorgang von S. Dubnow nunmehr S. A. Horodezky sie unternommen hat, noch mehr aber darüber, dass M. J. Berdyczewski, vor allen der Geeignete, die Worte des Baalschem nach ihren Gegenständen geordnet hat. Beide Publikationen stehen (in hebräischer Sprache) bevor.

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das »wirkliche« Leben darauf, was man die Lokalfarbe zu nennen pflegt. Es ist etwas Zartes und Ehrwürdiges, etwas Heimliches und Geheimnisvolles, etwas Ausgelassenes und Paradiesisches um die Atmosphäre des »Stübels«, in dem der chassidische Rabbi, der » Z a d d i k « , der »Gerechte«, der Heilige, der Mittler zwischen Gott und Mensch, mit weisem und lächelndem Mund das Mysterium und das Märchen austeilt. Aber mein Gegenstand ist nicht die Darstellung dieser Atmosphäre.* Meine Erzählung steht auf der Erde des jüdischen Mythos, und der Himmel des jüdischen Mythos ist über ihr. Die Juden sind vielleicht das einzige Volk, das nie aufgehört hat, Mythos zu erzeugen. Im Anfang ihrer grossen Urkunde ist das reinste aller mythischen Symbole, der Pluralsingular Elohim, und die stolzeste aller mythischen Sagen, die vom Kampfe Jakobs mit dem Elohim. In jener Urzeit entspringt der Strom mythengebärender Kraft, der – vorläufig – im Chassidismus mündet: von dem die Religion Israels zu allen Zeiten sich gefährdet fühlte, von dem aber in Wahrheit die jüdische Religiosität zu allen Zeiten ihr inneres Leben empfing. Alle positive Religion ruht auf einer ungeheuren Vereinfachung des in Welt und Seele so vielfältig, so wildverschlungen auf uns Eindringenden: sie ist Bändigung, Vergewaltigung der Daseinsfülle. Aller Mythos hingegen ist Ausdruck der Daseinsfülle, ihr Bild, ihr Zeichen; unablässig trinkt er von den stürzenden Quellen des Lebens. Die persönliche, ungemeinsame und unzugängliche Religiosität der Einzelseele hat ihre Geburt im Mythos, ihren Tod in der Religion. Solange die Seele in dem reichen Boden des Mythos wurzelt, hat die Religion keine Macht über sie. Deshalb sieht die Religion im Mythos ihren Erzfeind und bekämpft ihn, wo sie ihn nicht aufzusaugen, ihn sich nicht einzuverleiben vermag. Die Geschichte der jüdischen Religion ist die Geschichte ihres Kampfes gegen den Mythos. Seltsam und wunderbar ist es zu beobachten, wie in diesem Kampfe die Religion immer wieder den scheinbaren, der Mythos immer wieder den wirklichen Sieg gewinnt. Die Propheten streiten durch das Wort wider die Vielheit der Volkstriebe; aber in ihren Visionen lebt die ekstatische Phantasie der Juden und erwählt sie wider ihr Wissen zu Mythendichtern. Die Essäer wollen das Ziel der Propheten durch eine Vereinfachung der Lebensformen erreichen; und aus ihnen wird der Menschenkreis geboren, der den grossen Nazarener trägt und seine Legende schafft: den grössten aller Triumphe des Mythos. Die Meister des Talmuds gedenken *

Es ist sehr Schönes in dieser Art geschrieben worden. Das Schönste sind die chassidischen Geschichten von J. L. Perez (im jüdischen Idiom).

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in dem zyklopischen Werke einer Kodifizierung des Religionsgesetzes einen ewigen Damm wider die Leidenschaft des Volkes zu erbauen; und unter ihnen erstehen die Urheber der beiden Mächte, die im Mittelalter die Schützerinnen und Verweserinnen des jüdischen Mythos werden: durch die Geheimlehre die Urheber der Kabbala, durch die Agada die Urheber der Volkssage. Je weiter das Exil fortschritt, je grausamer es wurde, desto mehr erschien die Erhaltung der Religion zur Erhaltung des Volkstums notwendig; desto stärker wurde die Position des Gesetzes. Der Mythos musste flüchten. Er flüchtete in die Kabbala und in die Volkssage. Die Kabbala hielt sich wohl für dem Gesetz überlegen, für eine höhere Stufe des Erkennens; aber sie war die Domäne Weniger, dem Leben des Volkes unüberbrückbar fern und fremd. Die Sage hingegen lebte wohl im Volke und füllte dessen Dasein mit Farbe und Wohllaut, mit Lichteswellen und heimlicher Melodie; aber sie erachtete sich für ein armseliges Ding, das kaum ein Recht auf Existenz habe, sie hielt sich vergraben im letzten Winkel und wagte nie, dem Gesetz ins Auge zu sehen, geschweige denn eine Macht neben ihm sein zu wollen, sie war stolz und froh, wenn sie da und dort berufen wurde, das Gesetz zu illustrieren. Und plötzlich wächst unter den polnischen und kleinrussischen Dorfjuden eine Bewegung empor, in der der Mythos sich reinigt und erhebt: der Chassidismus.* In ihm strömen Mystik und Sage zur Einheit zusammen. Die Mystik wird Besitz des Volkes, und zugleich nimmt sie die ganze Erzählerglut der Sage in sich auf. Und in dem dunklen verachteten Osten, unter schlichten unwissenden Dörflern wird dem Kinde der Jahrtausende der Thron bereitet. Im Chassidismus siegt für eine Weile das unterirdische Judentum über das offizielle, – über das allbekannte, übersichtliche Judentum, dessen Geschichte man erzählt und dessen Wesen man in gemeinverständliche Formeln fasst. Für eine Weile nur. Es gibt in unseren Tagen noch Hunderttausende von Chassidim; der Chassidismus ist verdorben. Aber die chassidischen Schriften haben uns seine Lehre und seine Legende übergeben. Die chassidische Lehre ist das Stärkste und Eigenste, was die Diaspora geschaffen hat. Sie ist die Verkündigung der Wiedergeburt. Es wird keine Erneuerung des Judentums möglich sein, die nicht ihre Elemente in sich trüge.

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Über die jüdische Mystik und den Chassidismus habe ich einiges Allgemeine in der Einleitung zu den »Geschichten des Rabbi Nachman« gesagt.

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Die chassidische Legende ist der Körper der Lehre, ihr Bote, ihr Zeichen auf dem Wege der Welt. Sie ist die letzte Gestalt des jüdischen Mythos, die wir kennen. Die Legende ist der Mythos der Berufung. Das bedeutet: die ursprüngliche Personalität des Mythos ist in ihr gespalten. In dem reinen Mythos gibt es keine Verschiedenheit des Wesens. Er kennt die Vielheit, aber nicht die Zweiheit. Auch der Heros steht nur auf einer anderen Stufe als der Gott, nicht ihm gegenüber: sie sind nicht das Ich und das Du. Der Heros hat eine Sendung, nicht eine Berufung. Er steigt empor, aber er wandelt sich nicht. Der Gott hat Sonderheit wie er und wie er Grenze. Der Gott des reinen Mythos beruft nicht, er zeugt; er sendet den Gezeugten, den Heros. Der Gott der Legende beruft den Menschensohn: den Propheten, den Heiligen. Zuweilen mag, wo sich Mythos und Legende durchdringen, ein Gott stehen, der zeugt u n d beruft. Die Legende ist der Mythos des Ich und Du, des Berufenen und des Berufenden, des Endlichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf. Die Legende des Baalschem ist nicht die Geschichte eines Menschen, sondern die Geschichte einer Berufung. Sie erzählt kein Schicksal, sondern eine Bestimmung. Sie bewegt sich nicht in der Zeitfolge, sondern in den drei Kreisen der Weihung. Ihr Ende ist schon in ihrem Anfang, und ein neuer Anfang in ihrem Ende. Ravenna Im Herbst 1907

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Hitlahabut ist »das Brennen«; die Inbrunst der Ekstase. Sie ist der Becher der Gnade und der ewige Schlüssel. Ein feuriges Schwert hütet den Weg zum Baume des Lebens. Es zersprüht vor der Berührung der Hitlahabut. Ihr leichter Finger ist ihm übermächtig. Ihr ist die Bahn offen, und alle Schranke versinkt vor ihrem schrankenlosen Schritt. Die Welt ist nicht mehr ihr Ort: sie ist der Ort der Welt. Hitlahabut erschliesst dem Leben seinen Sinn. Ohne sie hat auch der Himmel keinen Sinn und kein Wesen. »Wenn ein Mensch die ganze Lehre und alle Gebote erfüllt hat, aber die Wonne und das Brennen hat er nicht gehabt: wenn der stirbt und hinübergeht, öffnet man ihm das Paradies, aber weil er in der Welt die Wonne nicht gefühlt hat, fühlt er auch die Wonne des Paradieses nicht.« Allerorten und allezeit kann Hitlahabut erscheinen. Jede Stunde ist ihr Schemel und jede Tat ihre Thronlehne. Nichts kann sich ihr entgegenstemmen, nichts sie herabdrücken; nichts kann sich ihrer Macht erwehren, die allen Körper zu seinem Geiste erhebt. Wer in ihr ist, ist in der Heiligkeit. »Er vermag eitle Worte mit seinem Munde zu reden, und die Lehre des Herrn ist in seinem Innern zu dieser Stunde; flüsternd zu beten, und sein Herz schreit in seiner Brust; in einer Gemeinschaft von Menschen zu sitzen, und er wandelt mit Gott: vermischt mit den Kreaturen und abgeschieden von der Welt.« Jedes Ding und jedes Tun wird so geheiligt. »Wenn der Mensch sich an Gott schliesst, kann er seinen Mund reden lassen, was er reden mag, und sein Ohr hören, was es hören mag, und er wird die Dinge binden an ihre obere Wurzel.« Die Gewalt, die so vieles im Menschenleben schwächt und entfärbt, die Wiederholung, ist ohnmächtig vor der Ekstase, die sich gerade an den regelmässigsten, gleichförmigsten Ereignissen wieder und wieder entzündet. Über einen Zaddik geriet Hitlahabut jedesmal, wenn im Vortrage der Schrift die Worte kamen: »Und Gott sprach«. Ein chasssidischer Weiser, der dies seinen Schülern erzählte, fügte hinzu: »Aber auch ich meine: wenn Einer in Wahrheit redet und Einer in Wahrheit empfängt, dann ist es genug an einem Worte, die ganze Welt zu erheben und die ganze Welt zu durchläutern«. Ewig neu ist dem Inbrünstigen das Allgewohnte. Ein Zaddik stand im ersten Morgendämmer am Fenster und rief zitternd: »Vor einer kleinen Stunde war noch Nacht, und jetzt ist Tag – Gott bringt den Tag herauf!« Und er war voll der Angst und des Zitterns. Auch sprach er: »Jeder Geschaffene soll sich vor dem Schöpfer schämen: wäre er vollkommen, wie ihm bestimmt war, dann müsste er erstaunen und

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erwachen und entbrennen über die Erneuerung der Kreatur zu jeder Zeit und in jedem Augenblick.« Aber nicht ein plötzliches Versinken in die Ewigkeit ist Hitlahabut, sondern ein Aufstieg zum Unendlichen von Stufe zu Stufe. Gott finden heisst den Weg finden, der ohne Grenze ist. Im Bilde dieses Weges sahen die Chassidim die »kommende Welt«, die sie niemals ein Jenseits nannten. Ein Frommer schaute einen toten Meister im Traume. Der erzählte ihm, von der Stunde seines Todes an gehe er an jedem Tage von Welt zu Welt. Und die Welt, die gestern als Himmel über seinen Blicken ausgespannt war, die ist heute die Erde unter seinem Fuss; und der Himmel von heute ist die Erde von morgen. Und jede Welt ist reiner und schöner und tiefer, als die vor ihr war. Die Engel ruhen in Gott, aber die heiligen Geister schreiten in Gott vor. »Der Engel ist ein Stehender, und der Heilige ist ein Wandelnder. Darob ist der Heilige über dem Engel.« Solch ein Weg ist die Ekstase. Wenn sie ein Ende zu bieten scheint, ein Erreichen, Erlangen, Ergreifen, ist es nur ein endgiltiges Nein, kein endgiltiges Ja: es ist das Ende der Gebundenheit, das Abschütteln der letzten Kette, die Auflösung, die allem Irdischen enthoben ist. »Wenn der Mensch von Kraft zu Kraft wandelt und nur empor und empor, bis er zur Wurzel aller Lehre und alles Gebotes kommt, zu Gottes Ich, der einfachen Einheit und Schrankenlosigkeit, – wenn er da steht, dann sinken alle Flügel der Gebote und Gesetze nieder, und alle sind sie vernichtet. Denn vernichtet ist der Trieb, da er darüber steht.« »Über der Natur und über der Zeit und über dem Denken« – so wird der genannt, der in der Inbrunst ist. Er hat alles Leid und alle Schwere abgetan. »Süsse Leiden, ich empfange euch in Liebe«, sagt ein sterbender Zaddik, und Rabbi Sussje ruft, da seine Hand sich aus dem Feuer schleicht, in das er sie gelegt hat, verwundert aus: »Wie grob ist Sussjes Körper geworden, dass er sich vor dem Feuer fürchtet«. Der Inbrünstige regiert das Leben, und kein äusseres Geschehen, das in sein Reich eindringt, vermag seine Weihe zu stören. Von einem Zaddik wird erzählt, er habe, als sich das heilige Mahl der Lehre bis zum Morgen hinzog, zu seinen Jüngern gesprochen: »Wir sind nicht in die Grenzen des Tages eingeschritten, sondern der Tag ist in unsere Grenzen eingeschritten, und wir brauchen vor ihm nicht zu weichen«. In der Ekstase rückt alles Vergangene und alles Zukünftige zur Gegenwart zusammen. Die Zeit verschrumpft, die Linie zwischen den Ewigkeiten verschwindet, einzig der Augenblick lebt, und der Augenblick ist die Ewigkeit. In seinem unzersplitterten Lichte erscheint alles was war und

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was sein wird, einfach und gesammelt. Es ist da, wie ein Herzschlag da ist, und wird offenbar wie er. Die chassidische Legende weiss gar viel von den Wunderbaren zu erzählen, die sich ihrer früheren Daseinsformen erinnerten, der Zukunft wie der eigenen Atemzüge gewahr wurden, von einem Ende der Erde zum andern blickten und alle Wandlungen, die sich in den Welten ereigneten, wie etwas verspürten, was ihrem Körper geschah. All dies hat nichts mit dem Gefühl zu tun, in dem Hitlahabut die Welt des Raumes und der Zeit überwunden hat. Wohl aber deuten uns etwas davon zwei naive, einander verwandte und einander ergänzende Anekdoten. Von einem Meister wird erzählt, er habe in Stunden der Entrückung auf die Uhr sehen müssen, um sich in dieser Welt zu erhalten; und von einem andern, er habe, wenn er die Einzeldinge betrachten wollte, eine Brille aufsetzen müssen, um sein geistiges Sehen zu bezwingen; »denn sonst sah er alle Einzeldinge der Welt als eines«. Aber die höchste Stufe, von der berichtet wird, ist die, auf der der Entrückte der eigenen Inbrunst entgleitet. Als ein Schüler einmal eines Zaddiks »Erkalten« bemerkte und tadelte, wurde er von einem andern belehrt: »Es gibt ein sehr hohes Heiligtum; wenn man dahin kommt, wird man alles Wesens los und kann nicht mehr entbrennen«. So vollendet sich die Inbrunst in der eigenen Aufhebung. Zuweilen äussert sie sich in einem Tun, das sie weiht und mit heiliger Bedeutung füllt. Die reinste Form, die, in der der ganze Körper der erregten Seele dient und jeder ihrer Hebungen und Neigungen das sichtbare Geschwister erschafft, aus tausend Fluten der Bewegung das eine Bild des verzückten Sinnes auftauchen lässt, ist der Tanz. Von dem Tanz eines Zaddiks wird erzählt: »Sein Fuss war leicht wie eines vierjährigen Kindes. Und alle, die sein heiliges Tanzen sahen, – da war nicht einer, der nicht zu sich heimgekehrt wäre, denn er wirkte im Herzen aller, die es sahen, beides, Weinen und Wonne, in einem.« Oder die Seele erfasst die Stimme des Menschen und macht sie singen, was sie in den Höhen erfahren hat; und die Stimme weiss nicht, was sie tut. So stand ein Zaddik in den »furchtbaren Tagen« (Neujahr und Versöhnungstag) im Gebet und sang neue Melodien, »Wunder der Wunder, die er nie gehört hatte und die kein Menschenohr je gehört hatte, und er wusste gar nicht, was er singt und welche Weise er singt, denn er war an die obere Welt gebunden«. Aber das eigentliche Leben des Inbrünstigen ist nicht unter den Menschen. Es wird von einem Meister gesagt, er habe sich wie ein Fremdling geführt, nach den Worten Davids des Königs: Ein Fremder bin ich im Lande. »Wie ein Mann, der aus der Ferne kam, aus der Stadt seiner Ge-

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burt. Er sinnt nicht auf Ehre und nicht auf irgend ein Ding zu seinem Wohle, nur darauf sinnt er, heimzukehren zur Stadt seiner Geburt. Nichts kann ihn besitzen, denn er weiss: Das ist Fremdes und ich muss heim.« Mancher geht in die Einsamkeit, in »das Wandeln«. Rabbi Sussje pflegte in Wäldern umherzustreifen und Lobgesänge zu singen, mit so grosser Glut, »dass man schier von ihm gesagt hat, er sei nicht bei Verstand«. Ein anderer war nur in Gassen und Gärten und Hainen zu finden. Als ihn sein Schwiegervater darob ermahnte, antwortete er ihm mit dem Gleichnis der Henne, die Gänseeier ausgebrütet hatte: »und als sie ihre Kinder auf der Wasserfläche umherschwimmen sah, lief sie bestürzt hin und her, Hilfe zu suchen für die Unglücklichen; und verstand nicht, dass dies jenen all ihr Leben war: dahinzustreichen über die Wasserfläche«. Doch gibt es tiefer Abgeschiedene, deren Hitlahabut in alledem noch nicht erfüllt ist. Die werden »unstät und flüchtig«. Sie gehen in die »Verbannung«, um »das Exil mit der Schechina zu tragen«. Es ist eine Urvorstellung der Kabbala, dass die Schechina, die Glorie oder Herrlichkeit Gottes, verbannt durch die Unendlichkeit irrt, von ihrem »Herrn« getrennt, und dass sie erst in der Stunde der Erlösung sich mit ihm wieder vereinigen wird. So wandern diese Ekstatiker über die Erde, wohnend in den stummen Fernen des Gottes-Exils, Genossen des heiligen Allgeschehens, wissend um das Rauschen im Blute des Weltenherzens. Der dergestalt Abgelöste ist Gottes Freund, »wie ein Fremdling eines andern Fremdlings Freund ist, ihrer Fremdheit auf Erden wegen«. Ihm widerfahren Augenblicke, in denen er die Schechina im Menschenbilde schaut, von Angesicht zu Angesicht, wie jener Zaddik sie im Heiligen Lande sah, »in der Gestalt einer Frau, die über den Gemahl ihrer Jugend weint und klagt«. Aber nicht bloss in Gesichten aus dem Dunkel und nicht bloss in dem Schweigen der Wanderschaft gibt Gott sich dem um ihn Entbrannten, sondern aus allen Dingen der Erde blickt sein Auge in das suchende, und jedes Wesen ist die Frucht, in der er sich der verlangenden Seele darbietet. Schleierlos ist das Sein in des Heiligen Hand. »Wer eine Frau sehr begehrt und ihre buntfarbnen Gewänder betrachtet, dessen Sinn geht nicht auf das Prunkzeug und die Farben, sondern auf die Herrlichkeit der begehrten Frau, die in sie gehüllt ist. Aber die andern sehen nur die Gewänder und nichts mehr. So schaut, wer Gott in Wahrheit begehrt und umfängt, in allen Dingen der Welt nur die Kraft und den Stolz des Bildners des Urbeginns, der in den Dingen lebt. Wer aber nicht auf dieser Stufe ist, sieht die Dinge von Gott getrennt.« Dies ist das Erdenleben der Hitlahabut, die sich über alle Grenzen

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schwingt und sich mit Gott vermählt. Sie ist die Tochter eines Menschenwillens und die Herrin der Heerscharen, das Fünklein eines Wesens, das sterben muss, und die Flamme, die Raum und Zeit verzehrt, das im Aufblühen welkende Gewächs einer Sehnsucht und die Wurzel des Weltenbaumes. Sie erweitert die Seele zum A l l . Sie verengert das A l l zum Nichts. Von ihr redet ein chassidischer Meister in Worten des Geheimnisses: »Die Schöpfung des Himmels und der Erde ist die Entfaltung des Etwas aus dem Nichts, das Hinabsteigen des Oberen in das Untere. Aber die Heiligen, die sich vom Sein ablösen und Gott immerdar anhängen, die sehen und erfassen ihn in Wahrheit, als wäre das Nichts wie vor der Schöpfung. Sie wandeln das Etwas ins Nichts zurück. Und dies ist das Wunderbarere: das Untere emporzubringen. Wie es geschrieben steht in der Gemara: »Grösser ist das letzte Wunder als das erste«.

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Aboda: Von dem Dienste

Hitlahabut ist das Gottumfangen ohne Zeit und Raum. Aboda ist das Gottdienen in der Zeit und im Raume. Hitlahabut ist das mystische Mahl. Aboda ist das mystische Opfer. Es sind die Pole, zwischen denen das Leben des Heiligen schwingt. Hitlahabut schweigt, da sie an Gottes Herzen liegt. Aboda redet: »Was bin ich und was ist mein Leben, dass ich mein Blut und mein Feuer vor dir darbringen will?« Alles ist Gott. Und alles dient Gott. Das ist die urgegebene Zweiheit, zusammengefaltet im Dasein der Welt, entwickelt im Leben des Heiligen. Das Mysterium, von dem man sich entfernt, wenn man von ihm redet, und das in der Wirklichkeit der Gott habenden, Gott suchenden Seele lebendig da ist: bewusst in ihrer Sehnsucht, keimhaft schlummernd in ihrer Ekstase, allsichtbar gegliedert im Rhythmus ihrer Taten. Hitlahabut ist so fern von Aboda wie Erfüllung von Verlangen. Und doch strömt Hitlahabut aus Aboda wie Gottfinden aus Gottsuchen. Der Baalschem erzählte: Ein König baute einst einen grossen und herrlichen Palast mit zahllosen Gemächern, aber nur ein Tor war geöffnet. Und als der Bau vollendet war, wurde verkündet, es sollten alle Fürsten erscheinen vor dem Könige, der in dem letzten der Gemächer throne. Aber als sie eintraten, sahen sie: da waren Türen offen nach allen Seiten, von denen führten gewundene Gänge in die Fernen, und da waren wieder Türen und wieder Gänge, und kein Ende stand vor dem verwirrten Auge. Da kam der Sohn des Königs und sah: eine Spiegelung war all die Irre, und sah seinen Vater sitzen in der Halle vor seinem Angesicht. Das Geheimnis der Gnade ist nicht zu deuten. Zwischen Suchen und Finden liegt die Spannung eines Menschenlebens, ja tausendfacher Wiederkehr der bangen wandernden Seele. Und doch ist der Flug des Augenblicks langsamer als die Erfüllung. Denn Gott w i l l gesucht sein, und wie könnte er nicht gefunden sein wollen? Der Enkel Rabbi Baruchs, des Enkels des Baalschem, spielte einst mit einem andern Knaben »Verstecken«. Und er verbarg sich und wartete in seinem Versteck viele Zeit und vermeinte, sein Gefährte suche ihn und könne ihn nicht finden. Aber als er lange gewartet hatte, kam er heraus und sah den andern nicht mehr und merkte, dass er ihn vom Anfang nicht gesucht hatte. Alsdann lief er in die Stube seines Grossvaters mit Weinen und Klagen um den Bösen. Da flossen die Augen Rabbi Baruchs über und er sagte: »So spricht Gott auch«. Wenn der Heilige ewig neues Feuer heranbringt, dass die Glut auf dem Altar seiner Seele nicht verlösche, redet Gott selbst den Opferspruch.

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Gott waltet im Menschen, wie er im Chaos waltete zur Zeit der werdenden Welt. »Und wie als die Welt sich zu entfalten begann und er sah: wenn es weiter auseinander fliesst, wird es nicht mehr zu seinen Wurzeln heimkehren können, da sprach er: Genug! – so ist es, wenn die Seele des Menschen im Leide zerflutet und das Übel so mächtig wird in ihr, dass sie bald nicht mehr heimkehren könnte, da erweckt sich sein Erbarmen und er spricht: Genug!« Aber auch der Mensch kann »Genug!« sagen: zu der Vielheit in sich. Wenn er sich sammelt und vereint, nähert er sich der Einheit Gottes, dient er seinem Herrn. Dies ist Aboda. Von einem Zaddik wurde gesagt: »Bei ihm ist Lehre und Gebet und Essen und Schlafen, alles Eines, e i n Dienst, und er kann die Seele zu ihrer Wurzel erheben.« Alles Tun in Eines gebunden, und das unendliche Leben in jeder Tat getragen: dies ist Aboda. »In alle Taten des Menschen, Sprechen und Schauen und Horchen und Gehen und Stehenbleiben und Sichlegen, sei das Schrankenlose eingekleidet.« Aus jeder Tat wird ein Engel geboren, ein guter oder ein böser. Aber aus den halben und wirren Taten, die ohne den Sinn oder ohne die Kraft sind, werden Engel geboren mit verrenkten Gliedern oder ohne Haupt oder ohne Hände oder ohne Füsse. In allem Tun durchstrahlt von den Wellen der Allsonne und gesammelten Lichtes in allem Tun, dies ist der Dienst. Aber keine Handlung ist zu ihm auserwählt. Gott will, dass man ihm auf a l l e Arten diene. »Es gibt zwei Arten von Liebe: die Liebe eines Mannes zu seinem Weibe, der geziemt es im Geheimen zu sein und nicht am Orte der Schauenden, dieweil diese Liebe beschlossen ist nur an einer von den Wesen geschiedenen Stätte; und die Liebe zu den Geschwistern und den Kindern, die keiner Verborgenheit bedarf. Und so gibt es in der Liebe zu Gott zwei Arten: die Liebe durch die Lehre und das Gebet und die Erfüllung des Gebotenen, und ihr geziemt es, in der Stille zu wandeln und nicht im Offenbaren, damit sie nicht zu Ruhm und Stolz verführe: und die Liebe in der Zeit, da man mit den Geschöpfen vermischt ist, redet und hört, gibt und nimmt mit ihnen, und in dem Geheimnisse seines Herzens hangt man an Gott und lässt nicht ab, ihm zuzusinnen. Und dies ist eine höhere Stufe als jene, und von ihr ist gesagt: Wer gäbe dich mir zum Bruder, der an den Brüsten meiner Mutter sog, ich würde dich in der Gasse finden und dich küssen, und nicht dürften sie mich darob verachten.« Dies ist aber nicht so zu verstehen, als sei in dem dergestalt Dienenden eine Spaltung zwischen der irdischen und der himmlischen Tat. Viel-

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mehr ist jede Bewegung des Hingegebenen ein Gefäss der Weihe und der Macht. Von einem Zaddik wird erzählt, er habe alle seine Glieder so geheiligt, dass jeder Schritt seiner Füsse Welten miteinander vermählte. »Der Mensch ist eine Leiter, aufgepflanzt auf der Erde, und ihr Haupt reicht in den Himmel. Und alle seine Gebärden und Geschäfte und Reden ziehen Spuren in der oberen Welt.« Hier ist der innere Sinn der Aboda angedeutet, der aus der Tiefe der altjüdischen Geheimlehre kommt und jenes Mysterium der Zweiheit von Inbrunst und Dienst, von Haben und Suchen wohl nicht klärt, aber verklärt. In Zweiheit ist durch die erschaffene Welt und ihre Tat der Gott zerfallen: in das Gotteswesen, Elohut, das den Kreaturen entrückt ist, und die Gottesglorie, Schechina, die in den Dingen wohnt, wandernd, irrend, verstreut. Erst die Erlösung wird beide in die Ewigkeit vereinigen. Aber es ist der Besitz des Menschengeistes, durch seinen Dienst die Schechina ihrem Quell nähern, in ihn eintreten lassen zu können. Und in diesem Augenblick der Heimkehr, ehe sie wieder niedersteigen muss in das Sein der Dinge, verstummen die Wirbel, die durch das Leben der Gestirne sausen, erlöschen die Fackeln der grossen Verheerung, entsinkt die Geissel der Hand des Geschickes, hält die Weltenpein inne und lauscht: die Gnade der Gnaden ist erschienen, der Segen träuft nieder auf die Unendlichkeit. Bis die Macht der Verstrickung die Gottesglorie herabzuzerren beginnt und alles wird wie zuvor. Das ist der Sinn des Dienstes. Nur das Gebet, das um der Schechina willen geschieht, lebt wahrhaft. »Durch seine Not und seinen Mangel kennt er den Mangel der Schechina, zu beten, dass der Mangel der Schechina gefüllt werde und dass durch ihn, den Betenden, die Einung Gottes mit seiner Glorie geschehe«. Der Mensch soll wissen, dass sein Leid aus dem Leide der Schechina kommt. Er ist »eines von ihren Gliedern«, und die Stillung ihres Entbehrens ist allein die echte Stillung des seinen. »Er sinne nicht auf seine Lösung im untern oder im obern Bedürfen, dass er nicht sei wie der die ewige Pflanzung verwüstet, Trennung zu schaffen; sondern alles tue er um des Mangels der Gottesglorie willen, und aus sich selber wird alles gelöst werden, auch sein eigen Leid befriedet aus der Befriedung seiner oberen Wurzel. Denn alles, oben und unten, ist e i n e Einheit.« »Ich bin das Gebet«, spricht die Schechina. Ein Zaddik sagte: »Die Menschen meinen, sie beten vor Gott, aber es ist nicht so, denn das Gebet selbst ist Gottheit.« In der Enge des Selbst kann kein Beten gedeihen. »Wer in Leid betet ob der Schwermut, die ihn regiert, und denkt, er bete in der Furcht vor Gott, oder wer in Freude betet ob der Helle seines Gemütes, und denkt, er bete

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in der Liebe zu Gott, dessen Gebet ist gar nichts. Denn diese Furcht ist nur Schwermut, und diese Liebe ist nur leere Freude.« Es wird erzählt, der Baalschem sei einmal an der Schwelle eines Bethauses stehen geblieben und habe nicht eintreten wollen und habe im Widerwillen gesprochen: »Da kann ich nicht ein. Ist doch das Haus von Ende zu Ende und über alle Ufer voll des Gebetes.« Und da sich die Begleiter verwunderten, weil ihnen schien, es könne kein grösseres Lob geben als dieses, deutete er es ihnen: Wenn die Worte nicht in ihrer Absicht auf das obere Geschehen gerichtet sind, dann können sie nicht aufsteigen, sondern lagern sich am Boden Schicht auf Schicht, bis sie das ganze Haus füllen in dickem Wirrsal. Zweierlei vermag die Gebete festzuhalten: wenn sie ohne die Intention gesprochen werden, und wenn die früheren Taten des Betenden sich zwischen ihm und dem Himmel wie eine harte Wolke breiten. Die Hinderung kann nur bezwungen werden, wenn der Mensch in die Sphäre der Inbrunst emporwächst und sich in ihren Gnaden reinigt, oder wenn eine andere Seele, die in der Inbrunst ist, die gefesselten Worte frei macht und mit dem ihren nach oben trägt. So wird von einem Zaddik erzählt, er sei beim Beten der Gemeinde eine lange Zeit stumm und ohne Bewegung dagestanden und habe dann erst selbst zu beten begonnen, »gleichwie der Stamm Dan am Ende des Lagers zog und alles Verlorene sammelte«; sein Wort sei ein Gewand gewesen, in dessen Falten hätten sich die niedergehaltenen Gebete geschmiegt und seien emporgetragen worden. Dieser Zaddik pflegte vor dem Beten zu sagen: »Ich binde mich mit ganz Israel, mit denen, die grösser sind als ich, dass durch sie mein Gedanke aufsteige, und mit denen, die kleiner sind als ich, dass sie durch mich gehoben werden.« Aber dies ist das Geheimnis der Gemeinschaft, dass nicht bloss der Niedere des Höheren bedarf, sondern auch der Hohe des Niederen. Hier ruht ein weiterer Unterschied zwischen dem Zustand der Ekstase und dem Zustand des Dienstes. Hitlahabut ist des Einzelnen Weg und Ziel; ein Seil gespannt über dem Abgrund, an zwei schlanke Bäume gebunden, die der Sturm bewegt; in Einsamkeit und Grauen betritt es der Fuss des Wagenden. Hier gibt es keine Menschengemeinschaft, nicht im Zweifel und nicht im Besitz. Der Dienst aber ist vielen Seelen in ihrer Vereinigung erschlossen. Er gewährt die letzten Schauer nicht, aber er ist frei von den dunkelsten Ängsten. Er ist nicht ein Seil, sondern eine Brücke. Den auf dem Seile Kommenden umfängt drüben der Arm des Geliebten; den Wanderern der Brücke öffnet sich die Halle des Königs. Die Ekstase will nichts als ihre Vollendung in Gott, sie gibt sich dahin. Im Dienste lebt eine Absicht, eine »Kawwana«. Die Wollenden binden sich aneinan-

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der zu grösserer Einheit und Macht. Es gibt einen Dienst, den nur die Gemeinde vollbringen kann. Der Baalschem sagte ein Gleichnis: Menschen standen unter einem sehr hohen Baume. Und einer von den Menschen hatte Augen zu sehen. Und er sah: im Wipfel des Baumes stand ein Vogel, herrlich in wesenhafter Schönheit. Aber die andern sahen den Anblick nicht. Und über jenen Mann fiel ein grosses Bangen, zu dem Vogel zu kommen und ihn zu nehmen; und er konnte nicht von dannen ohne den Vogel. Aber wegen der Höhe des Baumes war es nicht in seinem Vermögen, und auch eine Leiter war nicht zu finden. Doch aus dem grossen und mächtigen Bangen gab er seiner Seele den Rat. Er nahm die Menschen, die umherstanden, und stellte sie aufeinander, jeden auf die Schultern eines Gefährten. Er aber stieg zu oberst, also dass er zum Vogel kam, und nahm ihn. Und die Menschen, wiewohl sie dem einen geholfen hatten, wussten nichts von dem Vogel und sahen ihn nicht. Er aber, der von ihm wusste und ihn sah, hätte ohne sie nicht zu ihm kommen können. Würde jedoch der unterste von ihnen seinen Ort verlassen, dann müsste der oben zur Erde niederfallen. »Und der Tempel des Messias wird im Buche Sohar das Vogelnest genannt.« Es ist aber nicht etwa so, als werde nur des Zaddiks Gebet von Gott empfangen und als sei nur dieses lieblich in seinen Augen. Kein Beten ist gnadenstärker und dringt in geraderem Fluge durch alle Himmelswelten, als das Beten des Einfältigen, der nichts zu sagen und nur das ungebrochene Müssen seines Herzens Gott darzubringen weiss. Gott nimmt es an, wie ein König das Singen der Nachtigall in der Nacht seines Gartens, das ihm süsser klingt als die Huldigung der Fürsten im Thronsaal. Die chassidische Legende weiss sich nicht genug der Beispiele für die Gunst, die dem Ungeschiedenen leuchtet, und für die Macht seines Dienstes. Eines sei hier mitgeteilt. Ein Dorfmann, der Jahr für Jahr an den »furchtbaren Tagen« im Bethaus des Baalschem war, hatte einen Knaben. Der war stumpfen Verstandes und konnte nicht einmal die Gestalt der Buchstaben empfangen, geschweige denn die heiligen Worte erkennen. Und der Vater nahm ihn an den furchtbaren Tagen nicht mit sich in die Stadt, dieweil er nichts wusste. Aber als er dreizehn Jahre war und mündig vor Gottes Gesetzen, nahm ihn der Vater am Versöhnungstag mit, damit er nicht etwa esse am Tage der Kasteiung aus Mangel seines Wissens und Verstehens. Und der Knabe hatte ein Pfeifchen, darauf pfiff er immer in der Zeit, da er im Felde sass, die Schafe und Kälber zu weiden. Und er nahm es mit sich in der Tasche seines Kleides, und sein Vater sah es nicht. Und der Knabe sass in den heiligen Stunden im Bethause und wusste nichts zu sagen.

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Als aber das Mussafgebet angehoben wurde, sprach er zu seinem Vater: »Vater, ich habe mein Pfeifchen bei mir und ich will darauf singen.« Da war sein Vater sehr bestürzt und fuhr ihn an und sprach: »Hüte dich und hüte deine Seele, dass du dies nicht tuest.« Und er musste es in sich bewahren. Aber als das Mincha-Gebet kam, sprach er wieder: »Vater, erlaube mir doch, mein Pfeifchen zu nehmen.« Und als der Vater sein Verlangen sah und dass seine Seele bangte zu pfeifen, war er zornig und fragte ihn: »An welchem Orte hast du es?« und da er ihm den Ort zeigte, legte er die Hand auf die Tasche und hielt sie fortan darauf, um das Pfeifchen zu hüten. Und das Neïla-Gebet begann, und die Lichter brannten zitternd in den Abend, und die Herzen brannten wie die Lichter, unerschöpft vom langen Harren, und durch das Haus schritten noch einmal müde und aufrecht die achtzehn Segensprüche, und das grosse Bekenntnis kehrte zum letzten Mal wieder und lag vor der Lade des Herrn, die Stirn auf der Diele und die Hände gebreitet, noch einmal, ehe der Abend sich neigt und Gott entscheidet. Da konnte der Knabe seine Inbrunst nicht länger halten und riss mit vieler Kraft das Pfeifchen aus der Tasche und liess seine Stimme gar mächtig schallen. Und alle standen erschreckt und verwirrt da. Aber der Baalschem erhob sich über ihnen und sprach: »Das Verhängnis ist durchbrochen und der Zorn zerstreut vom Angesichte der Erde.« So ist jeder Dienst, der aus einer schlichten oder geschlichteten zwiespaltlosen Seele kommt, zureichend und vollkommen. Noch aber ist ein höherer. Denn wer von Aboda zu Hitlahabut aufgestiegen ist und seinen Willen in sie getaucht hat und seine Tat einzig aus ihr empfängt, der hat jeden besonderen Dienst überstiegen. »Jeder Zaddik hat seine besondere Art des Dienstes. Wenn aber die Zaddikim ihre Wurzel betrachten und zum Nichts gelangen, dann können sie Gott auf allen Stufen dienen«. So sprach einer von ihnen: »Ich stehe vor Gott wie ein Botenknabe«. Denn er war zur Vollendung und zum Nichts gekommen, bis er keine besondere Art mehr hatte, »sondern er stand bereit für alle Arten, die Gott ihm weisen würde, wie ein Botenknabe dasteht, bereit für alles, was ihm sein Herr befehlen wird.« Wer dergestalt in der Vollendung dient, der hat die urgegebene Zweiheit besiegt und hat Hitlahabut in das Herz der Aboda eingetan. Er wohnt in den Reichen des Lebens, und doch sind alle Mauern gefallen, alle Grenzsteine ausgerissen, alle Scheidung ist vernichtet. Er ist der Bruder der Geschöpfe und fühlt ihren Blick, als wäre es sein eigener, ihren Schritt, als gingen ihn seine Füsse, ihr Blut, als flösse es in seinem Leibe. Er ist der Sohn Gottes und legt bange und sicher seine Seele in die grosse Hand zu all den Himmeln und Erden und ungewussten Welten, und

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steht auf den Fluten des Meeres, in das alle seine Gedanken und aller Wesen Wanderschaften münden. »Er macht seinen Körper zum Throne des Lebens und das Leben zum Throne des Geistes und den Geist zum Throne der Seele und die Seele zum Throne des Lichtes der Gottesglorie, und das Licht umströmt ihn ringsum, und er sitzt inmitten des Lichtes, und zittert, und frohlockt.«

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Kawwana ist das Mysterium der auf ein Ziel gerichteten Seele. Kawwana ist nicht der Wille. Sie sinnt nicht darauf, ein Bild in die Welt der wirklichen Dinge zu versetzen; nicht, einen Traum zum Gegenstande festzumachen, dass er bei der Hand sei, beliebig oft empfunden zu werden in satter Wiederholung. Auch darauf nicht, den Stein der Tat in die Wellen des Geschehens zu werfen, dass sie eine Weile unruhig werden und sich verwundern, um sodann zurückzukehren zu den tiefen Befehlen ihres Lebens; einen Funken zu legen an die Zündschnur, die durch die Reihe der Geschlechter geht, dass eine Flamme hüpfe aus Zeit zu Zeit, bis sie in einer ohne Abschied und Zeichen erlischt. Nicht dies ist Kawwanas Meinen, dass die Pferde an dem grossen Wagen einen Antrieb mehr verspüren, oder dass ein Bau mehr aufgerichtet werde vor dem übervollen Blick der Sterne. Kawwana meint nicht den Zweck, sondern das Ziel. Es gibt aber keine Ziele, sondern das Ziel. Nur e i n Ziel ist, das nicht lügt, das sich in keinen neuen Weg verfängt, in das alle Wege münden, vor dem kein Abweg ewig flüchten kann: die Erlösung. Kawwana ist ein Strahl der Gottesglorie, der in jedem Menschen wohnt und die Erlösung meint. Dies aber ist die Erlösung, dass die Schechina aus der Verbannung heimkehre. »Dass alle Schalen von der Gottesglorie weichen und sie sich reinige und sich eine ihrem Eigner in vollkommener Einung.« Des zum Zeichen erscheint der Messias und macht alle Wesen frei. Manchem ist sein Leben lang, als müsse es hier und heute geschehen. Denn er hört die Stimmen des Werdens in den Schluchten brausen und fühlt das Keimen der Ewigkeit auf dem Acker der Zeit, wie wenn es in seinem Blute geschähe, und so kann er es nimmer anders denken, als dies und dies sei der erwählte Augenblick. Und immer noch heisser zwingt ihn sein Wähnen, weil immer noch gebieterischer die Stimmen reden und noch heischender das Keimen schwillt. Von einem Zaddik wird erzählt, dass er also sehr der Erlösung harrte: wenn er auf der Gasse ein Getümmel hörte, sogleich wurde er erregt zu fragen, was dies wolle und ob nicht der Bote gekommen sei; und jedesmal, wenn er zum Schlafen ging, befahl er seinem Diener, wenn der Bote käme, solle er ihn im gleichen Augenblick wecken. »Denn also sehr war in seinem Herzen das Kommen des Erlösers eingefasst, wie wenn ein Vater den einzigen Sohn aus dem fremden Lande erwartet und steht auf der Turmwarte mit Sehnsucht der Augen und lugt durch alle Fenster aus, und wenn man die Tür öffnet, eilt er hinaus, um zu sehen, ob sein Sohn nicht gekommen ist.«

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Andere aber sind des Schreitens kundig in seinem Masse und sehen Ort und Stunde der Bahn und wissen die Ferne des Kommenden. In allem stellt sich ihnen das Unvollendete dar, die Gebrechen der Wesen reden zu ihnen, und der Atem der Winde trägt ihnen Bitterkeit zu. Wie eine unreife Frucht ist die Welt vor ihren Augen. In sich sind sie der Glorie teilhaftig – da schauen sie hinaus: Alles liegt im Kampfe. Als der grosse Zaddik Rabbi Menachem in Jerusalem war, ereignete es sich, dass ein törichter Mann den Ölberg bestieg und in die Schofarposaune stiess. Und keiner hatte ihn gesehen. Und es war ein Gerücht im Volke, dies sei das Schofarblasen, das die Erlösung verkündigt. Als dies an die Ohren des Rabbis kam, öffnete er ein Fenster und sah in die Luft der Welt hinaus. Und sogleich sprach er: »Da ist keine Erneuerung.« Dies aber ist der Weg der Erlösung: dass alle Seelen und Seelenfunken, die der Urseele entsprossen und in der Urtrübung der Welt oder durch die Schuld der Zeiten gesunken und hinausgestreut sind in alle Kreaturen, die Wanderschaft beschliessen und geläutert heimkehren. Die Chassidim reden davon im Gleichnis des Fürsten, der das Mahl erst anheben lässt, wenn der letzte der Gäste eingezogen ist. Alle Menschen sind die Stätten wandernder Seelen. In vielen Wesen wohnen sie und streben von Gestalt zu Gestalt nach der Vollendung. Die sich aber nicht zu läutern vermögen, werden von der »Welt des Wirrsals« befangen und hausen in Wasserlachen, in Steinen, in Gewächsen, in Tieren, der erlösenden Stunde entgegenharrend. Doch nicht bloss Seelen sind überall verschlossen: auch Seelenfunken. Dieser ist kein Ding leer. Sie leben in allem, was ist. Jede Form ist ihr Kerker. Und dies ist der Sinn und die Bestimmung der Kawwana: dass es dem Menschen gegeben ist, die Gefallenen zu heben und die Gefangenen zu befreien. Nicht bloss warten, nicht bloss ausschauen: wirken kann der Mensch an der Erlösung der Welt. Dies eben ist Kawwana: das Mysterium der Seele, die darauf gerichtet ist, die Welt zu erlösen. Es wird von Heiligen berichtet, die es im Sturm und in der Gewalt zu vollbringen vermeinten. In dieser Welt; wenn sie von der Gnade der Inbrunst so durchglüht waren, dass ihnen nichts mehr unerreichbar schien, die sie doch Gott umfangen hatten. Oder in der kommenden Welt; ein Zaddik sprach im Sterben: »Die Freunde sind hingegangen und wollten den Messias bringen, und haben es in der Wonne vergessen. Aber ich werde nicht vergessen.« In Wahrheit jedoch kann jeder nur in seinem Bereiche wirken. Jeder

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hat eine weit in Raum und Zeit ausgespannte Sphäre des Seins, die ihm zugeteilt ist, durch ihn erlöst zu werden. Orte, die von Ungehobenem beschwert und in ihrer Seele gefesselt sind, warten auf den Menschen, der zu ihnen kommen wird mit dem Worte der Freiheit. Wenn ein Chassid an einem Orte nicht beten kann und an einen anderen geht, dann fordert der erste Ort von ihm: »Warum wolltest du nicht auf mir die heiligen Worte sprechen? Und wenn Böses an mir ist, so ist es an dir, mich zu erlösen.« Aber auch alle Reisen haben heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt. Von einigen Zaddikim wird gesagt, sie hätten die helfende Macht über die wandernden Seelen gehabt. In allen Zeiten, sonderlich aber, wenn sie im Gebete standen, seien die Irrfahrer der Ewigkeit bittend vor ihnen erschienen und hätten das Heil aus ihren Händen empfangen. Doch auch aus eigenem Trieb hätten sie die Stummen unter den Gebannten im Exil eines müden Leibes oder im Dunkel des Elements zu finden und sie emporzuretten gewusst. Diese Hilfe ist als ein ungeheures Wagen inmitten von andringenden Gefahren dargestellt, zu dem nur der Heilige sich spannen kann, ohne niedergeworfen zu werden. »Wer eine Seele hat, der mag sich in den Abgrund hinablassen, festgebunden durch seinen Gedanken wie durch ein starkes Seil am oberen Rande, und wird zurückkehren. Aber wer nur Leben hat, oder nur Leben und Geist, der hat die Artung des Gedankens noch nicht, und das Band wird nicht standhalten, und er wird in die Tiefe fallen.« Kann also nur der Begnadete geruhigen Mutes in die Finsternis tauchen, um einer Seele beizustehen, die den Wirbeln der Wanderschaft überliefert ist, so ist auch dem Geringsten nicht versagt, die verlorenen Funken aus ihrem Gewahrsam zu heben und heimzusenden. Ueberall sind die Funken eingetan. Sie hängen in den Dingen wie in versiegelten Brunnen, sie ducken sich in den Wesen wie in zugemauerten Höhlen, sie atmen Bangigkeit aus und Dunkel ein, sie warten; und die im Raume wohnen, schwirren wie lichttolle Falter um die Bewegungen der Welt umher, schauend, in welche sie einkehren könnten, durch sie gelöst zu werden. Alle harren sie der Freiheit. »Der Funke in einem Gestein oder Gewächs oder einer andern Kreatur ist wie eine völlige Gestalt, die in der Mitte des Dinges wie in einem Block sitzt, dass Hände und Füsse sich nicht strecken können und der Kopf auf den Knien liegt. Und wer den heiligen Funken zu heben vermag, der führt ihn an die Freiheit und keine Lösung Gefangener ist grösser als diese. Wie wer einen Königssohn aus der Gefangenschaft errettet und zu seinem Vater bringt.«

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Aber nicht durch Beschwörungsformeln und nicht durch irgend ein vorgeschriebenes sonderbares Tun geschieht die Befreiung. All dies wächst auf dem Grunde der Anderheit, der nicht der Grund der Kawwana ist. Es bedarf keines Sprunges aus dem Gewohnten ins Wunder. »Mit jeder Tat kann der Mensch an der Gestalt der Gottesglorie arbeiten, dass sie aus dem Verborgenen trete.« Nicht die Materie der Handlung, nur ihre Weihung entscheidet. Eben dies, was du im Gleichmass der Wiederkehr oder in der Fügung der Ereignisse tust, eben diese aus Übung erworbene oder aus Eingebung gewonnene Antwort des Handelnden auf das vielfältige Begehren der Stunden, eben diese Stetigkeit des lebendigen Stromes wird, in der Weihe vollzogen, zum Erlösen. Wer in Heiligkeit betet und singt, in Heiligkeit isst und redet, in Heiligkeit des gebotenen Tauchbades und in Heiligkeit der Geschäfte bedacht ist, durch den werden die gefallenen Funken erhoben und die gefallenen Welten erlöst und erneuert. Um jeden Menschen ist – in die weite Sphäre seines Wirkens eingebaut – ein natürlicher Bezirk von Dingen gelegt, die vor allem zu befreien er bestimmt ist. Es sind die Wesen und Gegenstände, die der Besitz des Einzelnen genannt werden: seine Tiere und seine Wände, sein Garten und sein Anger, sein Gerät und seine Speise. Indem er sie in Heiligkeit hegt und geniesst, macht er ihre Seelen los. »Daher soll der Mensch sich immerdar seiner Geräte und alles seines Besitzes erbarmen.« Aber auch in der Seele selbst erscheinen die der Lösung Bedürftigen. Die meisten sind die Funken, die durch die Schuld dieser Seele in einem ihrer früheren Leben in die Niederung geraten sind. Sie sind die fremden, störenden Gedanken, die oft den Betenden befallen. »Wenn der Mensch im Gebete steht und begehrt, sich an das Ewige zu schliessen, und die fremden Gedanken kommen und fallen: heilige Funken sind es, die gesunken sind und von ihm erhoben und erlöst werden wollen; und die Funken sind ihm zugehörig, der Wurzel seiner Seele verschwistert: seine Kräfte sind es, die er erlösen soll.« Er erlöst sie, wenn er jeden trüben Gedanken seiner reinen Quelle wiedergibt, jeden auf Sonderheit sinnenden Trieb in den göttlichen Alltrieb ergiesst, alles Fremde in der Eigenheit untergehen lässt. Dies ist die Kawwana des Empfangens: dass man die Funken in den umgebenden Dingen und die Funken, die aus dem Unsichtbaren nahen, erlöse. Aber es gibt noch eine andere Kawwana, das ist die Kawwana des Gebens. Sie trägt keine verirrten Seelenstrahlen in hilfreichen Händen; sie bindet Welten aneinander und herrscht in den Geheimnissen, sie schüttet sich in die durstige Ferne, sie schenkt sich der Unendlichkeit. Auch sie bedarf des Wunderbaren nicht. Ihre Bahn ist das Schaffen, und das Wort vor aller anderen Gestalt des Schaffens.

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Die Sprache war für die jüdische Mystik von je ein seltsamer und schauererweckender Gegenstand. Eine eigentümliche Theorie der Buchstaben als der Weltelemente liegt vor, die von ihren Vermischungen als von dem Innern der Wirklichkeit handelt. Das Wort ist ein Abgrund, durch den der Redende schreitet. »Man soll die Worte sprechen, als seien die Himmel geöffnet in ihnen. Und als wäre es nicht so, dass du das Wort in deinen Mund nimmst, sondern als gingest du in das Wort ein.« Wer des heimlichen Liedes kundig ist, das das Innen ins Aussen trägt, der tiefen, dunklen Weise, die wunderbar die Laute reiht, des heiligen Reigens, der einsame spröde Worte zum Gesang der Fernen verschmilzt, der wird der Gottesmacht voll, »und es ist, als schüfe er Himmel und Erde und alle Welten von neuem«. Er findet sein Reich nicht vor wie der Seelenbefreier, er spannt es aus vom Firmament zu den schweigenden Tiefen. Aber auch er wirkt an der Erlösung. »Denn in jedem Zeichen sind Welten und Seelen und Göttliches, und sie steigen auf und binden sich und vereinigen sich mit einander, und danach vereinigen sich die Zeichen, und es wird das Wort, und die Worte einen sich in Gott in wahrhafter Einung, da ein Mensch seine Seele in sie geworfen hat, und alle Welten einen sich und steigen auf, und die grosse Wonne wird geboren.« So bereitet der Wirkende die letzte All-Einung vor. Und wie uns Aboda in Hitlahabut, das Urprinzip des chassidischen Lebens, mündete, so mündet hier Kawwana in Hitlahabut. Denn Schaffen ist Geschaffenwerden: das Göttliche bewegt und bewältigt uns. Und Geschaffenwerden ist Ekstase: nur wer sich in das Nichts des Absoluten einsenkt, empfängt die formende Hand des Geistes. Dies wird im Gleichnis dargestellt. Es ist keinem Ding der Welt gegeben, in sich umgeschaffen zu werden und in neue Gestalt zu kommen, es komme denn vordem zum Nichts, das ist zur »Gestalt des Dazwischen«. Kein Wesen kann auf ihr bestehen, sie ist die Kraft vor der Schöpfung und heisst das Chaos. So ist das Vergehen des Eies zum Küchlein und so der Same, der nicht keimt, ehe er in der Erde aufgegangen und verwest ist. »Und dies wird Weisheit genannt, das heisst: ein Gedanke, der keine Offenbarung hat. Und also ist es, wenn der Mensch will, dass eine neue Schöpfung aus ihm komme, dann muss er mit aller seiner Möglichkeit zur Eigenschaft des Nichts kommen, und dann schafft Gott in ihm eine neue Schöpfung, und er ist wie ein Quell, der nicht versiegt, und wie ein Strom, der nicht aufhört.« So ist zwiefach der Wille der chassidischen Lehre von der Kawwana: dass der Genuss, die Verinnerung des Aussen, in Heiligkeit geschehe; dass das Schaffen, die Veräusserung des Innen, in Heiligkeit geschehe. Durch heiliges Schaffen und heiligen Genuss vollzieht sich die Erlösung der Welt.

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Schiflut: Von der Demut

Gott tut nicht zweimal das gleiche Ding, sagt Rabbi Nachman von Bratzlaw. Einzig und einmalig ist das Seiende. Neu und ungewesen taucht es aus der Flut der Wiederkünfte auf, geschehen und unwiederholbar taucht es in sie zurück. Jegliches erscheint zum andern Male, aber jegliches gewandelt. Und die Würfe und Stürze, die über den grossen Weltgebilden walten, und die Feuer und Wasser, die die Gestalt der Erde bauen, und die Mischungen und Entmischungen, die das Leben der Lebendigen kochen, und der Geist des Menschen mit all seinem Versuchen und Vergreifen an der weichen Fülle des Möglichen, sie alle können nicht ein Gleiches schaffen und nicht wiederbringen eines der Dinge, das da besiegelt ist, gewesen zu sein. Die Einmaligkeit ist eine Ewigkeit des Einzelnen. Denn mit seiner Einzigkeit ist er unverlöschbar in das Herz der Allheit eingegraben und liegt im Schosse des Zeitlosen immerdar als der also und nicht anders Beschaffene. So ist die Einzigkeit das wesentliche Gut des Menschen, das ihm gegeben ist, es zu entfalten. Und dies eben ist der Sinn der Wiederkehr, dass sich die Einzigkeit in ihr immer mehr reinige und vollkommen werde; und dass in jedem neuen Leben der Wiederkehrende in ungetrübterer und ungestörterer Unvergleichbarkeit stehe. Denn reine Einzigkeit und reine Vollkommenheit sind eines, und wer so ganz und gar einzig geworden ist, dass keine Anderheit mehr Macht über ihn und Ort in ihm hat, der hat die Reise vollbracht und ist erlöst und kehrt in Gott ein. »Jedermann soll wissen und bedenken, dass er in der Welt einzig ist in seiner Beschaffenheit, und kein ihm Gleicher war je im Leben, denn wäre je ein ihm Gleicher gewesen, dann brauchte er nicht zu sein. Aber in Wahrheit ist jeglicher ein neues Ding in der Welt, und er soll seine Eigenschaft vollkommen machen, denn weil sie nicht vollkommen ist, zögert das Kommen des Messias.« Nur aus seiner eigenen Art, aus keiner fremden kann sich der Strebende vollenden. »Wer die Stufe des Gefährten erfasst und seine Stufe fahren lässt, diese und jene wird durch ihn nicht verwirklicht werden. Viele taten wie Rabbi Simeon ben Jochai und es geriet nicht in ihrer Hand, weil sie nicht in dieser Beschaffenheit waren, sondern nur wie er taten, da sie ihn in dieser Beschaffenheit sahen.« Aber wie der Mensch in einsamer Inbrunst Gott sucht und es doch einen hohen Dienst gibt, den nur die Gemeinde vollziehen kann, und wie der Mensch mit dem Tun seines Alltags Ungeheures wirkt, aber nicht

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allein, sondern der Welt und der Dinge bedarf er zu solchem Tun, so bewährt sich die Einzigkeit des Menschen in seinem Leben mit den andern. Denn je einziger einer in Wahrheit ist, desto mehr kann er den andern geben, und desto mehr will er ihnen geben. Und dies eine ist seine Not, dass sein Geben eingeschränkt ist durch den Nehmenden. Denn »der Schenkende ist von Seiten der Gnade und der Empfangende ist von Seiten des Gerichts. Und so ist es mit jedem Ding. Wie wenn man aus einem grossen Gefäss in einen Becher giesst: das Gefäss schüttet sich in Fülle aus, aber der Becher setzt seiner Gabe die Grenze.« Der Einzige schaut Gott und umschlingt ihn. Der Einzige erlöst die gefallenen Welten. Und doch ist der Einzige kein Ganzes, sondern ein Teil. Und je reiner und vollkommener er ist, desto inniger weiss er es, dass er ein Teil ist, und desto wacher regt sich in ihm die Gemeinschaft der Wesen. Das ist das Mysterium der Demut. »Der Mensch hat ein Licht über sich, und wenn zwei Menschen einander mit den Seelen begegnen, gesellen sich ihre Lichter zu einander, und aus ihnen geht e i n Licht hervor. Und dies wird Zeugung genannt.« Allzeugung fühlen wie ein Meer und sich darin wie eine Welle, das ist das Mysterium der Demut. Nicht das ist Demut, wenn einer »sich übersehr erniedrigt und vergisst, dass der Mensch durch sein Wort und seine Geberde über alle Welten den überfliessenden Segen herabzubringen vermag«. Dies wird unreine Demut genannt. »Das grösste Böse ist, wenn du vergissest, dass du ein Königssohn bist.« In Wahrheit demütig aber ist, wer die andern wie sich fühlt und sich in den andern. Hochmut heisst: sich gegenüberstellen. Nicht wer sich weiss, nur wer sich mit andern vergleicht, ist der Hochmütige. Kein Mensch kann sich überheben, wenn er auf sich ruht: sind ihm doch alle Himmel offen und alle Welten ergeben: der überhebt sich, der sich dem andern gegenüber fühlt, sich höher sieht als das allergeringste der Dinge, der mit Elle und Gewichten schaltet und Urteil spricht. Ein Zaddik sprach: »Wenn heute Messias kommt und sagt: ›Du bist besser als die andern‹, dann sage ich ihm: ›Du bist nicht Messias‹.« Ohne Werk und Wesen lebt die Seele des Hochmütigen, flattert und müht sich und wird nicht gesegnet. Die Gedanken, die nicht das Gedachte, sondern sich und ihren Glanz meinen, sind Schatten. Die Tat, die nicht auf das Ziel, sondern auf die Geltung sinnt, hat nicht Körper, nur Fläche, nicht Bestand, nur Erscheinung. Wer misst und wägt, wird leer und unwirklich wie Mass und Gewicht. »Wer seiner voll ist, in dem hat Gott keinen Raum.« Von einem Jüngling wird erzählt, der die Abgeschiedenheit auf sich

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nahm und sich von den Dingen der Welt löste, allein der Lehre und dem Dienste anzuhangen, und sass in der Einsamkeit, fastend von Sabbat zu Sabbat und lernend und betend. Aber in seinem Sinne hatte er über aller Absicht den Stolz seines Tuns, und es strahlte vor seinen Augen, und seine Finger brannten, es auf seine Stirn zu legen wie den Reif des Gesalbten. Und also fiel all sein Werk der »andern Seite« anheim, und das Heilige hatte kein Teil daran. Aber immer stärker trieb sich sein Herz auf und fühlte das Sinken nicht, indes die Dämonen mit seinen Taten spielten, und dünkte sich ganz von Gott besessen. Da kam es einst, dass er sich aus sich hinauslehnte und die Dinge ringsum stumm und abgewandt gewahrte, und da ergriff ihn das Erkennen, und er schaute sein Tun, aufgeschichtet zu Füssen eines riesenhaften Götzen, und sich selbst schaute er in schwindelnder Leere, preisgegeben dem Namenlosen. Dies wird erzählt und nicht weiter. Der Demütige aber hat die »ziehende Kraft«. Alle Zeit, die der Mensch sich über anderen und vor anderen sieht, hat er eine Grenze, »und Gott kann seine Heiligkeit nicht in ihn lassen, da Gott ohne Grenze ist«. Aber wenn der Mensch in sich ruht wie im Nichts, ist er durch kein Andres begrenzt und ist grenzenlos und Gott giesst seine Glorie in ihn. Die Demut, die hier gemeint ist, ist keine gewollte und geübte Tugend. Sie ist nichts als innerliches Sein, Fühlen und Aussagen. Nirgends ist ein Zwang an ihr, nirgends ein Sichbeugen, Sichbeherrschen, Sichbestimmen. Sie ist zwiespaltbar wie eines Kindes Blick und schlicht wie eines Kindes Rede. Rabbi Jakob Jizchak von Lublin, der »Seher«, hatte einen Widersacher, einen harten und engsüchtigen Gelehrten, der »der eiserne Kopf« genannt wurde. Der bedrängte ihn unaufhörlich mit Fragen, Einwänden und Vorwürfen. Einmal sagte er zu ihm: »Ihr wisst doch selbst, dass Ihr kein Zaddik seid. Warum führt Ihr andere auf Eure Wege und ziehet sie zu Eurer Gemeinde?« Sprach Rabbi Jakob Jizchak: »Was kann ich tun? Laufen mir zu und werden meines Wortes froh und begehren es gar.« Darauf jener: »So gebet es am Sabbat allen insgesamt zu wissen, dass Ihr keiner der Erhabenen seid.« Dies zu tun, war der Zaddik erbötig, und am nächsten Sabbat sprach er vor den Ohren aller die Worte, die jener ihm befohlen hatte. Da zog in alle Herzen eine tiefe und wundersame Demut ein, und hingen ihm fürder noch eifriger an als bisher. Als er dies dem eisernen Kopf bekannt gab, bedachte sich der und sagte sodann: »Es ist dies der Weg bei euch Chassidim, den Demütigen zu lieben und den Hochmütigen zu meiden. Darum saget ihnen, Ihr seiet der Auserwählten einer, und sie werden sich von Euch kehren.« Antwortete der Meister:

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»Wenn ich auch kein Zaddik bin, so bin ich doch kein Lügner, und wie kann ich wider die Wahrheit reden?« Der Demütige lebt in jedem Wesen und weiss jedes Wesens Art und Tugend. Weil keiner ihm »der Andere« ist, weiss er aus dem inneren Grunde, dass keiner des verhüllten Wertes ermangelt; weiss, dass da »kein Mensch ist, der nicht seine Stunde hätte«. Nicht fliessen ihm die Farben der Welt ineinander, sondern jede Seele steht in der Herrlichkeit ihres Eigendaseins vor ihm. »In jedem Menschen ist Köstliches, das in keinem andern ist. Daher soll man jeden ehren nach seinem Verborgenen, das nur er hat und keiner der Gefährten.« Rabbi Wolf von Zbaraz sah an keinem ein Böses und nannte jeden Menschen Zaddik. Als zwei einst miteinander stritten und man Wolf gegen den Schuldigen aufzureden versuchte, antwortete er: »Bei mir sind sie beide gar gleich – und wer kann wagen, sich zwischen zwei Zaddikim zu stellen?« »Gott schaut nicht auf den bösen Teil,« sagte ein anderer, »wie dürfte ich es tun?« Wer in den Wesen lebt nach dem Mysterium der Demut, kann keines verdammen. »Wer über einen Menschen das Urteil spricht, hat es über sich gesprochen.« Der Baalschem sagte zu einem Rabbi, der über einen Sündigen eine harte Busse verhängt hatte: »Du hast noch nie den Sinn der Sünde gefühlt und noch nie den Sinn des gebrochenen Herzens.« Wer sich vom Sünder sondert, geht in der Schuld von dannen. Der Heilige aber vermag an der Sünde eines Menschen als an seiner eigenen zu leiden. So wird uns von Rabbi Sussje, dem seligen Gottesnarren, berichtet. Wenn er ein Vergehen erfuhr, war es ihm, als habe er es getan. So kam er einst in eine Herberge und sah auf dem Angesicht des Wirtes die Sünden vieler Jahre wie ein Netzwerk aus versteckten Furchen. Und eine Weile war er still und unbewegt. Aber als er allein in der Stube war, die man ihm gewiesen hatte, fiel der Schauer des Mitlebens auf ihn, und er warf sich zu Boden und schrie auf: »Sussje, Sussje, du Arger, was hast du getan? Ist doch keine Lüge, die dich nicht verlockt hätte, und kein Frevel, den du nicht ausgeschlürft hättest! Sussje, Törichter, Verwirrter, wohin nun mit dir?« Und nannte die Sünden des Wirtes mit Ort und Zeit als seine eigenen und schluchzte. Der Wirt war dem seltsamen Manne nachgeschlichen und stand vor der Tür und hörte seine Rede. Und erst fasste ihn eine dumpfe Bestürzung, dann aber leuchteten Reue und Gnade in ihm auf, und er erwachte zu Gott. Mitleben allein ist Gerechtigkeit. Ein Rabbi hiess im weiten Land der Gerechte, denn er sprach jedem das Urteil nach seinem Tun, nicht mehr und nicht geringer. Vor den kam einmal ein Weib, in irgend einer Sache

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seinen Rat zu erfragen. Er aber fuhr sie an: »Eine Buhlerin bist du!« und schüttete sein Wissen um die Heimlichkeiten ihres Lebens in schweren und drohenden Worten über sie aus und hiess sie sich hinwegheben. Da antwortete die Frau und sprach aus der Bedrängnis ihres Herzens: »Der Schöpfer der Welt ist den Bösen langmütig und fordert ihre Schuld nicht in Eile ein und offenbart ihr Geheimnis keiner Kreatur, auf dass sie sich nicht schämen, zu ihm zurückzukehren, und verbirgt ihnen sein Angesicht nicht. Und der Rabbi von Apta sitzt auf seinem Stuhl und kann sich keinen Augenblick lang enthalten, zu offenbaren, was der Schöpfer der Welt bedeckt hat.« Seither pflegte der Rabbi zu sagen: »Von je hat mich keiner bezwungen, nur einmal ein Weib.« Mitleben als Erkennen ist Gerechtigkeit. Mitleben als Sein ist Liebe. Denn jenes Gefühl der Nähe und jenes Wollen der Nähe zu Wenigen, das unter den Menschen Liebe heisst, ist nichts als Erinnerung aus einem Himmelsleben: »Die im Paradies beieinander sassen und Nachbarn und Verwandte waren, die sind einander nahe auch in dieser Welt.« In Wahrheit aber ist Liebe ein Urweites und Tragendes und ohne alle Wahl und Scheidung hingebreitet zu den Lebendigen. Ein Zaddik sprach: »Wie könnt ihr von mir sagen, ich sei ein Führer des Zeitalters, da ich noch in mir die Liebe zu den Nahen und zu meinem Samen stärker fühle als zu allen Menschensöhnen?« Dass sich dieses Meinen auch auf die Tiere erstreckt, sagen die Erzählungen von Rabbi Wolf, der nie ein Pferd anzuschreien vermochte, von Rabbi Mosche Leib, der die vernachlässigten Kälber auf den Märkten tränkte, von Rabbi Sussje, der keinen Käfig sehen konnte »und die Unseligkeit der Vögel und ihr Bangen nach dem Fluge in der Luft der Welt, gemäss ihrer Natur, freie Wanderer zu sein«, ohne ihn zu öffnen, und die Schläge des Besitzers mit lächelnder Freude wie einen kostbaren Lohn empfing. Aber nicht nur die Wesen, denen der kurze Blick der Menge den Namen der Lebendigen zuspricht, gehören der Liebe des Liebenden zu: »Dir ist kein Ding in der Welt, in dem nicht Leben wäre, und von seinem Leben hat jedes die Gestalt, in der es vor deinen Augen steht. Und siehe, dieses Leben ist das Leben Gottes.« So ist es gemeint: die Liebe zu den Lebendigen i s t die Liebe zu Gott, und sie ist höher als irgend ein Dienst. Ein Meister fragte einen Schüler: »Du weisst, dass nicht zwei Kräfte zur gleichen Zeit im Menschensinne Fassung haben. Wenn du dich nun am Morgen von deinem Lager hebst und zwei Wege sind vor dir: Liebe zu Gott und Liebe zu den Menschen, welcher ist der erste?« Jener antwortete: »Ich weiss es nicht.« Da sprach der Meister: »Sieh, es steht geschrieben in dem Gebetbuche, das in den Händen des Volkes ist: ›Ehe du betest, sage das Wort: Und du sollst lieben den Andern wie dich selbst‹. Meinst du, das hätten die Ehrwürdigen

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ohne Absicht befohlen? Wenn einer dir sagt, er trage Liebe zu Gott und trage nicht Liebe zu den Lebendigen, Falsches redet er und Unmögliches gibt er vor zu besitzen.« Darum ist, wo einer sich von Gott entfernt, die Liebe eines Menschen das einzige Heil. Als ein Vater dem Baalschem klagte: »Mein Sohn ist von Gott gewichen – was soll ich tun?«, erwiderte er: »Ihn mehr lieben«. Eines der chassidischen Grundworte ist dieses: mehr lieben. Seine Wurzeln graben sich tief ein und strecken sich weit hin. Der mag die Kategorie: Judentum neu verstehen lernen, der es verstanden hat. Es ist eine grosse Bewegung darin, die sich in unterirdischer Historie verwirklicht und inniger noch in zeitloser Weisheit und am innigsten wohl in einem Traum, den zu träumen und zu tragen allerorten und allezeit junge Menschen erstehen und sterben. Eine grosse Bewegung, und doch wieder nur ein verlorener Klang. Es ist ein verlorener Klang, wenn irgendwo – in jener dunkeln, fensterlosen Stube – und irgendwann – in jenen Tagen ohne Kraft der Botschaft – die Lippen eines namenlosen, dauerlosen Menschen, des Zaddiks Rabbi Rafael, diese Worte bilden: »Wenn ein Mensch sieht, dass sein Gefährte ihn hasst, soll er ihn m e h r lieben. Denn die Gemeinschaft der Lebendigen ist der Wagen der Gottesglorie, und wo ein Riss im Wagen ist, muss man ihn füllen, und wo der Liebe wenig ist, dass die Fügung sich löst, muss man Liebe mehren an s e i n e r Seite, den Mangel zu zwingen.« Dieser Rabbi Rafael rief einst vor einer Fahrt einem Schüler zu, er solle sich zu ihm in den Wagen setzen. Darauf jener: »Ich fürchte, ich könnte es Euch eng machen.« Und er mit erhobener Stimme: »So wollen wir einander mehr lieben: dann wird uns weit sein.« Sie sollen hier stehen als Zeugen, das Sinnbild und die Wirklichkeit, verschieden und eines, untrennbar, der Wagen der Schechina und der Wagen der Freunde. Es ist die Liebe ein Wesen, das in einem Reiche lebt, grösser als das Reich des Einzelnen, und aus einem Wissen redet, tiefer als das Wissen des Einzelnen. Sie ist in Wahrheit z w i s c h e n den Kreaturen, das heisst: sie ist in Gott. Leben durch Leben gedeckt und gebürgt, Leben sich giessend in Leben, so schaut ihr die Seele der Welt. Wessen das eine ermangelt, des wird das andere ihm entgegenschwellen. Wenn eines zu wenig liebt, wird das andere mehr lieben. Die Dinge helfen einander. Helfen aber ist: selbst in einem gesammelten Willen das Seine aus sich selbst tun. Wie der, der mehr liebt, dem Andern nicht Liebe predigt, sondern selbst liebt und sich also gewissermassen nicht um ihn kümmert, so kümmert sich der Helfende gewissermassen nicht um den Andern, sondern tut das Seine aus sich selbst im

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Gedanken der Hilfe. Das bedeutet: das Eigentliche, was zwischen den Wesen geschieht, geschieht nicht durch ihren Verkehr, sondern durch eines jeden scheinbar einsames, scheinbar unbekümmertes, scheinbar brückenloses Tun aus sich selbst. Dies wird im Gleichnis gesagt: »Wenn ein Mensch singt und kann die Stimme nicht erheben, und einer kommt ihm zu helfen und hebt an zu singen, dann kann auch jener wieder die Stimme erheben. Und das ist das Geheimnis der Verbindung.« Es gibt aber noch eine andere Hilfe, eine weite und wissende, vom Leid der Welten geboren, von ihrem Blut genährt. Wer der ringenden Ewigkeit hilft, hat jedem Leben geholfen. Auch davon redet ein stilles Gleichnis. Drei Männer sassen einst im Kerker, an einem Orte schwerer Finsternis. Von diesen Männern waren zwei weise, der dritte war ein Tor. Es wurden ihnen aber täglich andere Speisen und anderes Gerät zum Essen gebracht, und das Dunkel und die Not hatten den Narren also verwirrt, dass er nicht mehr wusste, wie er die verschiedenen Geräte gebrauchen solle, die Speisen zum Munde zu bringen, und stumpf und ratlos dasass, ohne zu essen und zu trinken, bis es der eine der beiden Weisen merkte und ihn unterwies. Am nächsten Tage aber wusste er das neue Gerät wieder nicht zu führen, und wieder musste der Gefährte ihm beistehen. Und so ging es seither Tag für Tag. Der andere Weise aber sass und schwieg und achtete keines anderen Dinges als seiner Gedanken. Einmal fragte ihn jener: »Warum sitzest du für dich und schweigst und hilfst mir nicht, den Toren zu belehren?« Antwortete er: »Du mühst dich stetig aufs neue und kommst zu keiner Grenze, denn morgen wandelt sich das Gerät, und du musst wieder beginnen. Ich aber sitze und sinne, wie ich in die Wand eine Öffnung bohren mag, dass das Licht der Sonne hineinstrahle und er alles sehe.« Es ist aber all dies nicht etwa so zu verstehen, als gälte das einfache Einanderhelfen nicht im Lichte der Lehre. Vielmehr ist dieses einfache Einanderhelfen keine Aufgabe, sondern das Selbstverständliche und die Wirklichkeit, auf die das Zusammenleben der Chassidim gegründet ist und über der sich die höheren Gestalten der Hilfe aufbauen. Die Hilfe ist keine Tugend, sondern eine Ader des Daseins. Das ist der neue Sinn des alten jüdischen Wortes, das Wohltun rette vom Tode. Nur eines wird geboten und gefordert: dass der Helfende sich nicht auf die Andern besinne, die mithelfen können, auf Gott und die Menschen, und nicht vermeine, eine Teilkraft zu sein, die nur beizutragen habe, sondern dass jeder als Ganzheit antworte und einstehe. So pflegte Rabbi Mosche Leib zu sagen: »Es gibt keine Eigenschaft, die nicht eine Erhebung hätte. Und auch die Gottesleugnung hat eine Erhebung. Denn wenn einer zu dir kommt und von dir Hilfe fordert, sollst du nicht etwas tun und dann

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ein Frommer sein und zu ihm sagen: ›Habe Vertrauen und wirf deine Not auf Gott‹, sondern da sollst du handeln, als sei kein anderer, der ihm helfen könnte, nur du allein.« Und noch eines wird geboten und gefordert, und dieses eine ist wieder nichts als ein Ausdruck des Mysteriums der Schiflut: helfen nicht aus Mitleid, das heisst aus einem scharfen, raschen Schmerz, den man bannen will, sondern aus Liebe, das heisst aus Mitleben. Der Mitleidige lebt nicht das Leid des Leidenden mit, er trägt es nicht im Herzen, wie man das Leben eines Baumes trägt mit allem Saugen und Treiben und mit dem Traum der Wurzeln und dem Begehren des Stammes und den tausend Fahrten der Zweige, oder wie man das Leben eines Tieres trägt, mit allem Gleiten und Strecken und Greifen und allem Glück der Sehnen und Gelenke und der dumpfen Spannung des Gehirnes; er trägt dieses sonderliche Wesen, das Leid des Andern, nicht im Herzen, sondern er empfängt von dieses Leides äusserlichster Geberde einen scharfen, raschen Schmerz, dem Urschmerz des Leidenden abgrundweit unähnlich, und so wird er bewegt. Es soll aber der Helfende mitleben, und nur Hilfe aus Mitleben besteht vor den Augen der Seele. So wird von einem Zaddik erzählt, der, wenn ein Armer sein Mitleid erregte, erst ihn mit aller Notdurft versorgte, dann aber, da er in sich verspürte, dass die Wunde des Mitleids geheilt war, sich mit grosser, ruhevoll hingegebener Liebe in das Leben und Bedürfen des Andern versenkte, es in sich als sein eigenes Leben und Bedürfen fasste und in Wahrheit zu helfen begann. Lieben heisst: das Bedürfen des Andern als sein eigenes fühlen und dennoch auch der eigenen Fülle gewahr werden, sie helfend auszuteilen. Rabbi Mosche Leib erzählte: »Ich habe die Liebe von einem Dorfmann gelernt. Der sass mit andern Bauern beisammen, und als sein Herz lebhaft war vom Weine, sprach er zu einem: ›Liebst du mich oder nicht?‹ Und er antwortete ihm: ›Ich liebe dich gar sehr.‹ Sprach jener: ›Du sagst, ich liebe dich, weisst du denn, was mir fehlt? Liebtest du mich in Wahrheit, du würdest es wissen.‹ Da schwieg der andere und vermochte kein Wort zu sagen. Ich aber verstand: das ist die Liebe zu den Menschen, zu fühlen ihr Bedürfen und zu tragen ihr Leid.« Wer solcherweise miterlebt, der verwirklicht mit seinem Tun die Wahrheit, dass alle Seelen eine sind, denn jede ist ein Funken aus der Seele des Urmenschen, und sie ist ganz in ihnen allen. Und weil er die Einheit der Seelen mit seinem Tun verwirklicht, kann von keiner ihm ein Übel nahen. Denn wenn einer ihm Böses tut, sieht er es, als habe eine närrische Hand die Genossin geschlagen und habe nicht bedacht, dass sie eins sind und dieser Schmerz ihr Schmerz und dass das Herz, das ihn erfährt, eben das ist, das ihr eignes Leben trägt. Wie sollte er darob

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trauern oder gar zürnen oder gar auf Vergeltung sinnen? »Wenn ein Mensch sich einmal im Irren einen Schlag versetzt, wird er nun einen Stock nehmen und die Hand schlagen, die ihn geschlagen hat? Es geschah ja aus mangelndem Wissen, und wie sollte er seinen Schmerz noch mehren wollen?« So lebt der Demütige, der der Gerechte und der Liebende und der Helfer ist: vermischt mit allen und allen unberührbar, der Vielheit ergeben und gesammelt in seiner Einzigkeit, vollziehend auf den Felskuppen der Einsamkeit den Bund mit dem Unendlichen und im Tale des quellenden Lebens den Bund mit den Irdischen, blühend aus tiefem Gelübde und allem Willen der Wollenden entzogen. Er weiss, dass alles in Gott ist, und grüsst die Boten wie vertraute Freunde. Ihn schreckt nicht das Vorher und Nachher, nicht das Oben und Unten, nicht das Diesseits und Jenseits. Er ist zu Hause und kann nie verstossen werden. Die Erde kann nicht umhin, seine Wiege, und der Himmel kann nicht umhin, sein Spiegel und sein Echo zu sein.

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Als Rabbi Elieser, den Vater des Kindes Israel, das Sterben überkam, kannte er nicht Wehr noch Staunen, sondern liess dem Tod willig die Seele hin, die in vielen Erdenjahren der Wanderung und des Drangsals müde geworden war und nach dem Feuerquell der Erneuerung verlangte. Aber seine alten Augen, die mit Begier des vollendeten Bildes gewärtig waren, suchten doch noch wieder und wieder das blonde schmale Köpfchen des Knaben; und als ihm die lösende Stunde wie ein Ruf aller Tiefen erschien, hob er ihn noch einmal auf seine Arme und hielt ihn mit inniger Kraft: das selige Licht seiner letzten Wege, das ihm und seinem alternden Weibe so spät noch aufgegangen war. Er sah ihn eindringlich an, als wolle er hinter der hellen Stirn einen Geist aufrufen, der jetzt noch schlief, und sprach: »Mein Kind, er wird dir entgegentreten, der Dunkle, am Anfang, an der Vollbringung, an jeder Wende; im Gesichte des Schattens und im Gesichte des Lebendigen. Er ist die Schale, die du zerbrechen sollst. Er ist der Abgrund, den du überfliegen sollst. Er ist der Rest von dir. Er schliesst deinen Kreis, und du schliessest seinen Kreis. Es werden Zeiten sein, da du wie ein Blitz in seine letzte Verborgenheit niederfahren wirst, und er wird aufgehen vor deinen Gewalten wie eine dünne Wolke; und es werden Zeiten sein, da er dich umringen wird mit Fluten weichen Düsters, und du wirst einsam auf deinem Riffe stehen mitten im Meere seiner Nacht. Aber jene Zeiten werden zerreissen, und diese Zeiten werden zerreissen, und du wirst ein Sieger sein in deiner Seele. Und dieses wisse, dass deine Seele ein Erz ist, das keiner zersplittern und nur Gott verschmelzen kann. Darum fürchte den Dunkeln nicht, fürchte nichts und niemals!« Das Kind las von dem welken Munde die Worte, und es war, als ob ein Unmündiger den grossen, strahlenden Becher leerte, der dem Manne bestimmt ist. Die Worte senkten sich ein und blieben. Als Rabbi Elieser verschieden war, nahmen die frommen Leute der Gemeinde die Sorge um den Knaben auf sich, um der Liebe willen, mit der sie den Vater geliebt hatten. Und da es an der Zeit war, taten sie ihn in die Schule. Allein es begab sich, dass er der lauten Enge sehr abhold war; immer wieder entwich er und lief in den Wald, wo er sich zwischen Bäumen und Tieren vergnügte und in dem grossen grünen Gehege ohne Scheu vor Nacht und Wetter sich so sicher vertraut bewegte, als wäre es das Haus seiner Geburt. Wenn sie ihn alsdann unter eifrigem Ermahnen zurückbrachten, hielt er wohl einige Tage unter dem einförmigen Sprechgesang des Lehrers still, dann aber lief er wieder davon, entglitt leise wie ein Kätzchen und warf sich in den Wald. Nach einiger Weile

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erfanden die Männer, die um ihn sorgten, sie hätten des Betreuens genug getan, und ihre Mühen um den Wilden wären ganz und gar vergeblich. So liessen sie ab, und er blieb ungeschaut und ungefragt und lebte mit dem stummen Werden der Kreaturen. Als er zwölf Jahre hatte, verdingte er sich dem Lehrer als Behelfer, die Knaben aus dem Hause zur Schule und wieder heimwärts zu führen. Da sahen die Leute in dem stumpfen Städtchen etwas Wundersames geschehen. Ihre Knaben mit den schattenblassen Wangen und den zagen, altklugen Augen, mit dem müden Schritt, verwandelten sich. Israel führte Tag für Tag einen singenden und jubelnden Zug durch die Strassen zur Schule und führte ihn auf einem weiten Umweg über Wiese und Wald wieder nach Hause. Die Kinder senkten nicht mehr die kleinen, schweren Köpfe. Blumen und grüne Zweige trugen sie in Händen und regierten die Welt. Da entbrannte in ihnen die Andacht. Und so gross war die steigende Flamme, dass sie den trüben Qualm des Elends und der Verwirrung, der wie ein enger Panzer sich um die Erde presst, durchbrach und in die Himmel loderte. Und siehe, oben erglänzte ein ewiger, blühender Widerschein. Und die verlassene Gottesherrlichkeit hielt in der Irrfahrt inne und hob ihr schmerzensreiches Angesicht dem Licht entgegen, das war wie die rosenglühende Dämmerung eines kommenden Reiches. Der dunkle Geist aber schwoll auf in Hass und Bangen und stieg, nächtig und schwer, stieg bis in die Himmel, und ein rauchfarbner Flor umdüsterte die schimmernde Ahnung. Er redete mit harter Bewegung von dem, was da unten sich zu ereignen begann, und wie er um sein Werk betrogen würde. Er schrie in wütiger Begier, kämpfen wolle er wider den allzufrühen Boten. Sein Schrei drang wie ein doppelt geschärfter Dolch ins Herz der Gottesherrlichkeit, das duldende Haupt sank wieder auf die Brust, und sie hob die leidvolle Hand zur gewährenden Geberde. Da ging der Trübe von hinnen und stieg in sich selber hinab. Hier fand er die Bilder aller Wesen in bleicher und gespenstischer Leere: sie lebten nicht, aber sie schoben sich und drängten sich zusammen und gaben sich her und woben die tolle Erscheinung. So griff er nach ihnen, zog eins nach dem andern hervor und prüfte es, die einen mit gleichgültigem, die andern mit gelangweiltem, etliche mit einem zärtlichen und wohlgefälligen Blick. Die band er dann aneinander und mischte und knetete sie und erschuf aus ihnen ein hohles Ungeheuer, umstachelt von allem Entsetzen, mit der Fratze des Lebendigen. Und als ihn das Gebilde angrinste, nahm er sein eigenes Herz, Kern aus dem Kerne der Finsternis, und tat es in die Höhle des Tieres. Als Israel die singenden Kinder wieder über die Wiesen führte, brach

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der Werwolf aus dem Walde und fiel in fahler Ungestalt und mit schaumtriefendem Munde unter die Schar. Einige der Knaben flohen in brennender Angst, andere sanken besinnungslos zusammen oder klammerten sich zitternd und stumm an Israel. Zwar entwich das Tier alsbald, aber viele der Kleinen lagen tagelang fiebernd und in wirren Träumen, und allen war das lichte Reich erloschen. Die Eltern bangten und waren bestürzt und ohne Rat und hielten die Kinder in den Stuben versperrt. In Israel aber erwachten die Worte seines Vaters, wie ein Schläfer auf dem Felde erwacht, wenn die Schauer des Abends über ihn gleiten, und er schüttelte das Grauen ab. Und stark im gewonnenen Sinne ging er in die Häuser und sprach den Eltern zu, sie sollten ihm die Knaben wieder lassen, ohne Furcht und Sorge: er wolle sie vor dem Unhold bewahren. Und sein Wort war so hell im Laute und so schwingend im Mute, dass die Leute ihm nicht widerstreben konnten und keinen Willen mehr fühlten als den seinen. Als er nun wieder mit der jungen Schar hinauszog, sprach er ihr zu, wie er den Grossen zugesprochen hatte, und noch anders, aus der umfangenden Wärme des brüderlichen Lebens, bis die Seelen sich weiteten und erstarkten. Als sie auf die Wiese kamen, hiess er sie stehen bleiben und ging allein weiter. Und wieder brach der Werwolf aus dem Wald, furchtbarer als zuvor, und blutiger Geifer troff ihm aus dem aufgerissenen Rachen. Aber der Knabe Israel ging ihm entgegen. Riesenhaft hob sich das Tier vor seinem Blick, es war ihm, als wüchse es in die Wolken und streckte seine Tatzen über die Fläche der Erde. Aber er ging weiter. Und nun stand er vor dem Leibe des Wesens, nun sah er nichts mehr, alles Bild ging unter, nun war kein Raum mehr zwischen beiden. Aber das Wort war wach in ihm wie der Stoss einer Flamme, und er ging weiter: ging in das Wesen hinein. Zuerst fühlte er rings um sich einen feuchten, totkalten Nebel, dann fühlte er nichts mehr, und dann fielen graue, schwere Flocken rings um ihn nieder, und zuletzt zerflossen auch sie und er stand in stiller Luft und ein Herz lag auf seiner Hand, das war dunkel und zitterte. Da griff er danach und umpresste es mit seinen Fingern. Aber als er dies tat, schrie eine dunkle Stimme auf und Tropfen eines dunklen Blutes fielen schwer zur Erde. Da löste er die Finger und sah das Herz an, und er sah es zittern. Und er verstand, dass es nicht aus der Bedrängnis zitterte, sondern es war ein Krampf des Willens und des Verhängnisses von je und für immer. Da kam über Israel das grosse Leid, und er erbarmte sich des dunklen, zitternden Herzens, und es kam ihm, dass er es freigeben musste, gut oder böse, Herz des Satans oder Gottes Herz, um des Leidens willen. So legte er es auf den Boden, und die Erde schlang es ein oder es entschwand.

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Für die Knaben aber kam nie mehr die lichte Zeit zurück. Mochten sie auch singen und jubeln, im innern Leben waren sie gebeugt, seit sie das dunkle Herz gesehen hatten.

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Der Fürst des Feuers

Als Rabbi Adam, der Zauberkundige, in hohen Jahren stand, fiel auf ihn die letzte Sorge, wem er seine Schriften nach seinem nahen Tode anheim gebe. Denn in ihnen war der Weg zu jenen unaussprechlichen Gewalten verzeichnet, mit denen er zuweilen in das Triebwerk der Geschicke gegriffen und den Gang der Räder nach seinem Sinne befohlen hatte. Wohl war dem Meister ein Sohn geboren, allein der war nur seines Leibes Erbe und Blüte. Das war dem Rabbi in langen Jahren schmerzliche Erkenntnis geworden, und zwiespältig und bitter dünkte ihm an vielen Tagen seines Willens hohe Kunst, da dieses zu wenden ihr in Ewigkeit verwehrt blieb. Zu der Zeit, da sein Leben im hohen Sommer der schwellenden Seelenkraft stand, reckte er allnachts die Fäuste gegen den Himmel und haderte darob mit dem Unnennbaren, der auf all sein verwegenes Weltenspiel mit einem Lächeln niedersah wie ein Mann auf eines Knaben kleines, keckes Unterfangen. Dann kamen die Jahre der Müdigkeit, da der Körper schwer und widerspenstig wurde und die Seele einsam zu ihren steilen Wanderungen aufstieg, während der Leib bleiern und lastend der tiefen Schlucht des Schlafes verfiel. Und damals wurde sein Sinn milde, und er blickte um Versöhnung in die ewigen Augen, die über den Welten leuchten. Da hob er sich Nacht um Nacht im Traume und tat die aus Herzblut geborene Frage: »Wem, o Herr, lasse ich die Quellen meiner Gewissheit und meiner Mächte?« Und oftmals fragte er vergebens, und das Dunkel seines Traumes blieb wortlos. Aber in einer Nacht kam die Antwort und war über ihm: »Du sollst sie senden und zuteilen dem Rabbi Israel, dem Sohne des Elieser, der in der Stadt Ukop weilt.« In den Tagen, die alsbald kamen, fühlte er, wie die Schleier des leiblichen Vergehens ihn sacht umspannen. Er berief den Sohn in die Abgeschiedenheit seiner Kammer und öffnete die Lade, die die geheimnisreichen Blätter barg, darauf jedes Zeichen dem Vorbestimmten ein Schlüssel zu der Burg der Gewalten werden konnte. Indem der Alte zu sprechen begann, erhob sich der ferne Schmerz vergangener Tage noch einmal und drückte ihm die Kehle zu, so dass die Worte nur schwer sich ihr entrissen. Aber wie ein Ding, das dem Scheidenden nimmermehr ziemen will, tat er das Leid ab und gab dem Sohne die Weisung und sprach: »Bringe sie dem Israel, ihm gehören sie zu, denn die Wurzel seiner Seele ist ihnen eingeboren. Achte es für eine hohe Gnade, wenn er bereit sich weist, mit dir zu lernen, und halte dich zu aller Zeit in Demut, dieweil du nur der arme Bote bist, erwählt, dem Helden das Schwert zuzutragen, das schweigsame Geister unter der Erde in vielen Gezeiten ihm geschmiedet und geschliffen haben«.

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Darnach, als eine kleine Frist dahin war, liess der Alte die Fesseln und Spangen, die Dauer und Ort hiernieden um ihn gelegt hatten, sacht von den dürftigen Gliedern gleiten und entschwand der Welt. Der Sohn, nachdem er des Vaters abgestorbenen Teil mit heiligen Ehren der Erde wiederum anheimgegeben hatte, trug in Treuen das letzte Geheiss, bestellte sein irdisches Gut und trat mit den Schriften des Toten die Reise nach Ukop an. Er war allezeit ein willig und fügsam Werkzeug in des Vaters machtreichen Händen gewesen, hatte des eigenen Willens fast ermangelt und seine Seele zum Zug nach oben der väterlichen überlassen, wie man wohl Nachen an Nachen kettet zur Fahrt den Strom entlang. Nun fristete sein Geist sich führerlos in Bangigkeit dahin, und unter manchem Zagen wandte er es unterwegs im Bedenken, wie er es wohl bestelle, in Ukop jenen Israel zu finden, der seines Vaters Erbe und sein eigner Hort zu werden bestimmt war. Als er sodann die Stadt erreichte, begegneten ihm die Leute, da er sie wissen liess, dass er des Wundertätigen Sohn sei, in vielen Ehren, und er fand es leicht, unter ihnen offenen Auges zu leben, um den Erwählten der Macht zu suchen. Aber wie er sich auch umtat, bot sich keiner seinem forschenden Sinn dar, als der Knabe Israel, der vierzehn Jahre war und im Bethaus kleinen Dienst tat. Denn wiewohl dieser sich in harmloser und einfältiger Art anliess, wo er sich unter den Augen aller wusste, ahnte der Suchende in der Seele des Knaben eine heimliche Gnade, die von diesem Unmündigen in Einfalt gehütet und geborgen wurde. Daher beschloss er im Rate seines Herzens, dem Kinde nahe zu kommen. Dieses Sinnes begab er sich zum Vorsteher der Gemeinde und erbat sich von ihm einen stillen Raum im Bethaus, darin er, dem lauten Tag enthoben, der heiligen Weisheit in Frieden pflegen möchte. Desgleichen heischte er, dass man ihm den Knaben Israel zum Diener gewähre, damit er ihm zur Hand sei in all seinem Bedürfen. Der Gemeindevorsteher und die andern waren es wohl zufrieden und ersahen es für den jungen Israel als eine gar reiche Ehre, dem Sohn des Gewaltigen gesellt zu sein. Der aber gab sich nunmehr das Gebaren, als sei er zutiefst in das Wesen der hohen Bücher versunken und achte alles Ereignis um ihn her nicht mehr und minder als einer Mücke Sonnentanz. Dessen war der Knabe sehr froh und liess nicht von seiner alten Gewohnheit, die also war, dass er allnachts sich zu erheben pflegte, um der Weisheit anzugehören und an die Feuerquellen des Geistes zu dringen, dieweil er des Tages mit kindischem Gehabe jegliches Wähnen täuschte, das sich etwa ob seines schimmernden Antlitzes erheben mochte. Der junge Rabbi aber hatte gleichwohl alsbald sein heimliches Wesen erlauscht und war der Gewissheit gewärtig. Eines Nachts, als der Jüngling erschöpft von der

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sehnsüchtigen Spannung seines Geistes sich auf sein Lager warf und seinem Alter gemäss einem tiefen Schlaf verfiel, erhob der andre sich, nahm ein Blatt aus den zauberreichen Schriften und legte es auf des Schläfers Brust. Darauf eilte er auf sein eigenes Ruhebett zurück und hielt sich lauschend stille. Nach einer Stunde des schweigsamen Harrens sah er, wie der Knabe erst unruhvoll sich wendete, dann noch schlummerbefangen nach dem Blatte griff, endlich wie von geheimnismächtigen Händen erfasst, sich aus dem Bann des Schlafes aufriss und beim Schein eines kleinen Öllichts, das des Nachts in der Kammer glomm, sich in die Schrift versenkte. Und dem Beschauer war, als würde der Raum heller und grösser, indem der Knabe las, und das Kind selbst wurde ihm fremder und heiliger, indem es strahlenden Angesichts seine Seele dem Zaubersinn des Blattes vermählte. Endlich gewahrte der Rabbi, wie ein Seufzer des Knaben Brust erhob und schier zu sprengen schien. Israel barg das Blatt in seinem Gewande, und wie beladen von einer urgeheimen Last, taumelte er dem Lager aufs neue zu, der unduldsam heischenden Natur zu einem kurzen Schlafe gehorchend. Der Rabbi aber erlahmte seither niemals, seiner zu achten zu allen Stunden, und als in einer zweiten Nacht sich das Geschehen der ersten wiederholt hatte, war er der Wahrheit inne. Nun zögerte er nimmer, rief den Knaben zu sich und eröffnete ihm die Sendung des toten Meisters. »Ich gebe dir ein Ding, das wenige Male im Gange unseres Sternes in vergänglichen Händen lag«, sprach er. »Siehe, nur wenige, die durch seinen Besitz mit ihrem Geist die obern Welten umspannten – und ihre Namen sind unvergessen –, hatten es vor dir zu eigen. Jahrhunderte versank es gleich einem verschwundenen Königsschatz, dann stieg es wiederum auf, mit dem Urstrom der Schauung und der Kraft einen menschlichen Geist zu tränken. Wisse, mein Vater war der letzte jener kurzen Reihe. Jetzt, nach einer Bestimmung, deren Ursprung mir verborgen ist, gehört es dir an, und willst du mir gnädig sein, um dessen willen, dass ich betraut war, dir das Kleinod zu bieten, so lass, wenn du über den Schriften verweilst, meine arme Seele die Luft sein, die dein Wort aufsaugt, das sonst ins Wesenlose entflöge.« Und Israel antwortete: »Es soll so sein, wie du es sagst. Doch hüte das Schweigen, dass keiner um das Ding wisse, denn du und ich, und lass die äussere Gestalt unseres Lebens nicht anderen Schein gewinnen als bislang.« Der Rabbi stimmte ihm bei. Damit aber ihrer Heimlichkeit mehr sichere Hut werde, beschlossen sie, das Bethaus zu lassen, und zogen in ein still entlegenes Häuschen vor der Stadt. Die Juden von Ukop achteten es als eine völlig unvermutete Huld, dass der Sohn des Rabbi Adam den Israel in den Schutz seines Geistes genommen hatte und ihn der Lehre teilhaftig werden liess, und da sie den Knaben nicht anders als

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des Heiles unbedacht wussten, meinten sie, dieses Glück könne nur so gedeutet werden, dass es um der Verdienste seines Vaters Elieser willen sich also fügen mochte, dass der gelehrte Mann an ihm Wohlgefallen gefunden habe. Dermassen begab es sich, dass die beiden in eine Einsamkeit sanken, in der die Stimme der Erde zu Tode verstummt war und nichts Lebendes Gestalt gewann. Denn aus den Büchern des Rabbi Adam stieg ein Glanz auf und ein berauschender Atem des Geistes und die Süssigkeit aller Seelenmächte und nahm die Beiden so völlig ein, dass sie alles Leben um sich vergassen und dem Leib nur so viel von Speis und Trank vergönnen mochten, dass er die flüchtige Seele festhalte. Es war der junge Israel, der voll lauterer Fröhlichkeit, einem spielenden Kinde gleich, ganz ohne Hinterhalt und zweckbewussten Willen in die Tiefe der Schriften untertauchte und sein Herz in ihnen badete und sie nicht anders aufnahm, als ein Schwamm das Wasser aufsaugt oder ein Stein die Sonnenglut. Also ganz warf er sich ihnen hin und gab des Menschen Gier und Vernunft gänzlichen Urlaub. Der Sohn des Rabbi Adam aber hegte seinen scharfen Verstand und bedurfte eines Dinges, ihn alltäglich daran zu wetzen. Desgleichen war sein Willen ein gefrässig Tierchen und heischte sein Brot und wollte schlingen. Und so gefiel es ihm keineswegs auf die Dauer, ewiglich in der goldenen Luft der Entzückung zu verharren, da die Worte wie springende Strahlen kristallenen Flusses von dem Munde des Knaben kamen. Sondern er begehrte die Dinge zu drehen und im Kopfe zu erwägen, die seltsam genug aus den alten Büchern aufstiegen; und endlich die Macht zu schmecken, die in den Zauberformeln lag. Und in der Entbehrung dieser Dinge, die ihm nottaten und wohlgefielen, zog sich seine Seele zusammen und war eng und beklemmt und schaute ihm kümmerlich und zag aus den trüben Augen. Des ward der junge Israel inne und sagte eines Tages: »Bruder, mein Bruder! Was heischen deine Blicke? Was kannst du missen in diesen Tagen?« Da seufzte der Rabbi aus dem Grunde und gab ihm zurück: »Knabe, wäre meine Seele also vom Zweifel und Wägen unversehrt wie die deine, also jung und heil wie ein Vogelei, ich würde mich wiegen wie du in dieser Zeiten Wonne. Aber siehe, was dir eingeht wie Honig und deinen Sinn zur Paradiesesruhe stillt, mir nagt und frisst es gleich einer beissenden Lauge an den Wunden. In mir sind viele Gedanken, die ewig kreisend mir niemals Rast vergönnen, in mir gehen Zweifel hin und wieder, die nimmer stille schweigen. Und in den Reichen ist nur einer, der mir Hilfe geben kann, und so du willst, der du nun des heischenden Wortes mächtig bist, so lass ihn uns rufen, den Fürsten der Thora.« Da erschrak der Knabe Israel bis auf den Grund seiner Seele, und alles

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empörte sich aus seinem reinen Wesen. »Durchbrich die Demut unseres Harrens nicht,« rief er aus. »Noch blendet mich der Schein der Waffen, und noch winkt die Stunde nicht, sie zu brauchen.« Da versank der Rabbi schweigend und enttäuscht in sich. Sein Aussehn wurde scheel und gelb, also dass Israel sich heftig erbarmte um der edlen Nöte willen, von denen er wähnte, dass sie den Genossen versehrten. So besiegte er die eigene Scheu und hiess den Rabbi sich rüsten, dass sie gemeinsam sich zu dem gefahrenreichen Wagnis bereiteten. Um die Kawwana der Seele zu erlangen aber, deren es bedurfte, den Wächter der Thora niederzuzwingen, war es geboten, von Sabbat Abend zu Sabbat Abend nicht Speise noch Trank zu geniessen noch irgend einem Gedanken oder einer irdischen Botschaft Zutritt zu verstatten, vielmehr in völliger Abgeschiedenheit und Reinheit zu verharren, die Seele gänzlich gelöst von jeglichen Banden. So rüsteten sie denn das Haus und versperrten Tür und Fenster, dass kein Menschenblick oder Wort sie hemme, ja kein Vogellaut und Sonnenschimmer eindringe. Alsdann tauchten sie in das heilige Bad, alles Unreine von sich abzutun, hernach von Sabbat Abend zu Sabbat Abend lebten sie in Nichtachtung des Verlangens ihrer Leiber nach der Labung durch Speise, und endlich am Eingang der beschliessenden Nacht spannten sie ihre Seelen zur letzten Inbrunst, und Israel rief erhobenen Armes und zuckenden Mundes in der Angst des Vergehens die zwingende Formel in das starre Dunkel hinauf. Als er aber geendet hatte, stürzte er wie geschlagen zur Erde und schrie: »Wehe, wehe, mein Bruder! Du hast ein Irren in unsere Kawwana fliessen lassen. So ist ob der fehlbelasteten aus dem Munde des Zürnens ein Verhängnis ausgegangen, und schon fühl ich es die Luft in unserer Kammer zum Ersticken anfüllen. Ich sehe ihn, des Wächters Bruder und Nachbarn, den Fürsten des Feuers, wie er sich erhebt und die dunkelglühenden Schwingen zum Niedersteigen spannt, damit er sehrenden Brand und vernichtende Flamme über uns ergiesse. Wisse, wir sind in Todes Hand gegeben. Wenn unser Lid sich senkt, verfallen wir der feurigen Tiefe. Und es gibt nur eine Rettung: dass wir wachen und streiten ohne Unterlass bis zum Morgen.« Sie warfen sich nieder und sammelten starke Worte in ihrer Seele und riefen den Geist zum Sturme auf, also dass das Herz in der Brust ihnen flatterte vor Ungestüm, und sie beschworen mutige Bilder vor ihr Auge, auf dass sie dem Träumen nicht verfielen. Eine weiche Glut umlagerte ihr Haus wie Sommermittags Atmen, und aus ihr stiegen süsse Lockungen der Ruhe auf und wurden stärker und sanft bezwingend wie Sommermittags Müdigkeit. Endlich konnte der Rabbi nimmer standhalten und lehnte das Haupt gegen die Mauer. Da umzuckte ihn ein tanzender Blitz, und ein unseliges Fieber riss ihn auf und warf ein

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Stammeln dunkler Lästerung aus seinem Munde. Und schon streckte er die Arme wider den Knaben, als wollte er ihn verderben, da kam der andere Blitz und fuhr ihm ins Herz, fein und leise, wie wenn’s ein Sonnenstrahl wäre, und der Rabbi schlug starr zu Boden.

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KAWWANA = Intention: die magische Spannung der auf ein Ziel gerichteten Seele.

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Am letzten Osthang der Karpathen stand eine dunkle gebeugte Bauernschänke. Ihr schmaler Vorgarten mit den roten Beeten atmete der Macht der Berge zu, aber auf der Rückseite blinzelten die schiefen Dachluken zur weiten gelben Ebene hinüber, die im Licht wie in einem nährenden Segen lag. Das kleine Wirtshaus war recht einsam. An den Markttagen kam wohl einiges Volk des Weges, Landleute und jüdische Händler aus den Bergdörfern, die ein Stündlein verweilten und einander zu glücklichem Kauf oder Verkauf zutranken; sonst aber kehrte nur selten ein Jäger oder ein verirrter Wanderer ein. Wenn ein Gast kam, wurde er von einer schlanken Frau mit braunen und heimlichen Augen in einer stillen Weise begrüsst und zum Sitzen eingeladen. Dann trat die Frau vors Haus, hob die Finger über den Mund und rief mit einer Stimme, die so hell war wie die hellen jungen Stauden vor dem Garten, einen Namen zu den Felsen hinüber: »Israel!« Im vordersten Felsen, einen Steinwurf weit vom Hause, war ein Raum ausgehauen. Er war wie eine Stube mit vieler Sonne in der Tür und einem schweren Düster im Grunde, und wölbte sich wild und zackig auf, als hätten Träume und die Gewalten einer Seele wieder und wieder zu seiner Decke emporgeschlagen; nach den Seiten aber zogen sich gesenkte Gänge in die Finsternis, in eines Menschen Höhe und Breite, als träte hier einer in Stunden der Nacht an das Reich der inneren Erde, Zwiesprach zu halten mit namenlosen Dingen. Die Stube war stumm und wehrte den Geräuschen; kam aber der helle Ruf der Frau herüber, dann trug ihn die Luft wie eine treue Dienerin zu dem, dem er galt. Und wo immer er war und ob er dem Dunkel des Grundes nahe lag oder dem Sonnenhimmel, auf den Ruf machte er sich auf, schritt zum Hofe und stand alsbald vor dem Gast, ihn zu bedienen. Dem Gast aber, dem er nahte, griff ein Schauer, wiewohl nicht unhold, ans Herz; und noch die Bauern und Händler, die den Mann von manchem Jahre kannten, erfuhren jedesmal von neuem eine Furcht und ein Ehren ob seines Anblicks. Denn so sanft sein Gruss und seine dienende Geberde war, er erschien ihnen in der Hülle eines strengen Glanzes und war den Bauern wie der Herr der Berge, den Juden aber wie eine ferne, grosse Erinnerung. Er war dreissig oder mehr: die Jahre flogen zu ihm herbei wie Vögel mit starken Schwingen, und kamen zu ihm und brachten ihm in den Schnäbeln Körner des Geheimnisses, und flogen vorüber. Er sah ihnen nicht nach, er sah den kommenden nicht entgegen. Um ihn war das Warten: die Gipfel sahen auf ihn nieder und warteten, die Quellen blickten

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wartend zu ihm hinauf; er aber wartete nicht. Von diesen Jahren ist nichts erzählt, als dass er mit seinem Weibe, mit dem er lange im Elend gewandert war, am Osthang des Gebirges wohnte und den Wanderern diente. Aber die Höhle im Berge ist noch unzerstört: da kannst du die wilde Wölbung und die gesenkten Gänge lesen. Doch ein Morgen erschien, da wurde ihm das Auge der Gipfel, das Auge der Quellen offenbar. Er erkannte, dass er in einem Warten stand und durch ein Warten ging. Die Erde seiner Höhle brannte, vom Eingang war die Stille, von den Wänden das Flüstern genommen: die Stimmen riefen ihn. Aus der Wölbung donnerte ein Befehl, in den Gängen hallte sein Echo, die Stimmen waren irgendwo in einer Stimme gebunden wie die Strahlen in der Sonne. Diesem Morgen folgte der Tag, und ihm viele Tage: der Befehl wuchs über dem Haupte des Mannes. Er fühlte die Stunde kommen, er hörte ihren Schritt in der Ferne. Er sah hinter sich wie in ein zertrümmertes Throngemach, er ging in die Tat seines Lebens wie in eine Dämmerung ohne Ziel. Und wieder erschien ein Morgen, da hellte es sich ringsum auf, und das Wissen kam leise zu ihm, wie ein Kind sich von rückwärts zum Vater schleicht, die Arme um seine Schläfen und die Finger vor seine Augen zu pressen. Da schwieg der Befehl, das Schweigen erglühte, und der Baalschem löste die Stirn aus den umschlingenden Händen und schaute in die Welt. *

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An diesem Morgen fuhr Rabbi Naftali der Ebene zu. Er hatte südlich des Gebirges einen Freund besucht, und ob die Rückfahrt auch schon Tage währte, er war noch voll des Gespräches. In seinem Gedanken wiederholten sich Rede und Widerrede, aber reiner und mächtiger, als sie gesprochen worden waren, und fügten sich zueinander und zeugten neues und neues Wort und wuchsen in Geschlechtern der Rede. Und Rabbi Naftali wusste nichts anderes als das Gespräch in ihm. Es schlug in Zeichen durch die Wolken, in der Stimme des Windes waren seine Laute verstreut. So kam der Wagen zu der kleinen Bauernschänke am letzten Hange. Da zerriss das Wort in Rabbi Naftali. Er erschrak und blickte auf. Da sah er das Haus mit dem hellen Vorgarten, und es kam ihn plötzlich an, er sei müde, ja er müsse wohl müde sein, da das Wort in ihm zerrissen sei. Er stieg vom Wagen und trat in das Haus. Die Frau begrüsste ihn, hiess ihn sich setzen, stand hoch, die Finger überm Mund, und rief zu den Felsen

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hinüber: »Israel!« Und nach einem Augenblick sah Rabbi Naftali den Wirt in langen, festen Schritten herankommen und sich ihm mit einem gütigen Lächeln verneigen. Es war an Stirn und Augen zu sehen, dass der Mann ein Jude war; aber er trug Bauerntracht, den kurzen Schafspelz mit dem dicken bunten Gurt und die erdfarbnen Schaftstiefel, und sein langes lichtbraunes Haar presste kein Käppchen ein. Das verdross den Rabbi, und nicht gar freundlich sagte er ihm seinen Wunsch. Aber der Mann wahrte das Lächeln und die Demut der Haltung und diente dem Rabbi so fein und leise, dass es fast seltsam schien, wie zart sich der grosse und offenbar starke Mensch bewegte. Als Rabbi Naftali eine Weile geruht hatte, rief er: »Israel, bereite mir den Wagen, denn ich will weiter fahren«. Der Wirt trat hinaus, um den Befehl zu vollziehen, aber im Gehen wendete er sich halb und sagte lächelnden Angesichts: »Sechs Tage führen vom Anfang zum Sabbat – warum solltet Ihr hier nicht noch sechs Tage bleiben und bei mir Sabbat halten?« Da fuhr ihn der Rabbi an und hiess ihn schweigen, denn leichtfertiges Sagen war ihm widerlich. Und der Mann schwieg und bereitete den Wagen. Als aber Rabbi Naftali weiter fuhr, war es ihm unmöglich, das Gespräch in seinem Geiste wieder anzuheben, sondern es erschien ihm wie ein zerrissenes Gespinst, das niemand ganz machen kann. Und er verwunderte und betrübte sich. Und da er sich dennoch mühte und nicht ablassen wollte, geschah es, dass sich seinem Auge alle Dinge verwirrten, und ein grosser Wirbel umfing ihn, also dass er im Wirbel dahinfuhr, inmitten verwirrter und durcheinander kreisender Dinge. Es hatte aber Rabbi Naftali bislang niemals die Dinge betrachtet, sondern es war ihm genug, ihre Gegenwart zu kennen und zu ertragen. Und nun zwang ihn der Wirbel, aufzuschauen, und er sah die Dinge der Welt, aber verscheucht von ihren Orten und verloren im Wirrsal. Es war ihm, als breche von unten eine wilde Tiefe herein, Erde und Himmel einzuschlürfen. Und über den Rabbi fiel der Schrecken nieder wie ein Würger, im Herzen des eigenen Sinnes spürte er den Wirbel schwellen, und er erfuhr die Finsternis. In dem gleichen Augenblick aber sah er einen riesenhaften Mann im Schafspelz und erdfarbenen Schaftstiefeln auf den Wagen zuschreiten. Der Mann ging leichten Fusses durch die Verwirrung und schob die jagenden Kreise der Zerstörung sacht zur Seite, wie ein Schwimmer friedsame Wellen. Dann nahm er die Zügel und wandte mit einem starken Ruck die Pferde, die sogleich den Weg, den sie gekommen waren, mit verdreifachter Schnelligkeit zurückzulaufen begannen, so dass sie nach kurzer Zeit wieder an der Bauernschänke standen. Dem Rabbi Naftali waren Angst und Qual mitsamt der Verwirrung im Nu ver-

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schwunden, als sei all dies nie gewesen. Er verstand nicht, was ihm widerfuhr, aber keine Frage war in seinem Sinne. Als er vom Wagen stieg und wieder in den Vorgarten trat, in dessen Mitte jetzt der zum Mahle gerüstete Tisch stand, begrüsste ihn wieder die schlanke Frau mit freundlichem und unbewegtem Angesicht, wieder rief sie zu den Felsen hinüber, und wieder stand der bäurische Mann vor ihm und verneigte sich, nicht anders, als wenn er ihn zum erstenmal sähe. Eine lange Zeit war die Weihe des Unbegreiflichen über der Seele des Rabbis. Als er aber Stunde für Stunde um sich die Dinge in der gewohnten Art und im geordneten Treiben aller Tage sah, und den Wirt damit beschäftigt, die Wanderer zu bedienen und ihre Pferde zu tränken, edleren Gebarens wohl, aber sonst ganz so wie irgend ein kleiner Schankpächter des Landes, begann er den Geschehnissen nachzusinnen. Und wie stets vor diesem Tage, so waren ihm nun auch wieder seine Gedanken zu Willen, so dass er bald in sich die Einsicht geformt und gefestigt hatte, hier habe nichts als ein Trug seiner in der scharfen Luft der Berge ermatteten Augen oder seines vom Hin und Her des neugeschaffenen Gesprächs überwältigten Sinnes gewaltet. So beschloss er, über Nacht in der Herberge zu bleiben und alle Müdigkeit auszuschlafen, am Morgen aber weiter zu ziehen. Als der Rabbi am nächsten Tage wieder auf der Fahrt war, musste er über die gestrige Torheit hell auflachen. Schön und stark geflochten lag der Kranz der Kreaturen um ihn her, jede an ihrem Orte wachsend und gesichert. Er fühlte, er sehe sie nun zum erstenmal in ihrer Wahrheit, und war dessen froh und hatte einen jungen Mut in seinem Schauen und verwunderte sich über sich selber. Wie glückselig war diese Freiheit und Zuversicht der Wesen im Raume! Aber während er dergestalt staunte und sich freute, geschah es, dass er den Blick zum Himmel hob, und er entsetzte sich, und ein Grauen erschlug seine Freude. Denn statt des leichten, vieltönig blauen oder von mannigfaltigem Grau durchzogenen Gewölbes, das ihm von gleichgültiger Gewohnheit des Sehens vertraut war, spannte sich eine erzene Feste hart, schwer, aller Fugen und Lücken bar, über der Erde. Und als er erbebend niederblickte, merkte er, dass keines der Dinge in Freiheit und Zuversicht stand, sondern gefangen und siech wuchsen sie an ihren Plätzen, und die sich regten, schlichen wie in einem weiten, aber dumpfen Käfig umher. Und es erschien Rabbi Naftali, auch er selber sei gefangen, in einen ewig unentrinnbaren Kerker gebannt, und er verfiel einer Trauer, aus der ihn nicht sein Gedanke und nicht seine Gewissheit Gottes emporzutrösten vermochte. Aber da er im tiefsten Schachte der Trauer lag, wurde sein Blick wach, und da er aufsah, da war am Firmament das Wandeln eines Mannes. In erdfarbnen Schaft-

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stiefeln ging er am Himmelsrund hin und rührte hier und hier leise an die eherne Decke. Und wo sein Finger sie traf, da lockerte und löste sie sich, und es war wie ein Schmelzen und wie ein Aufgehen. Der Finger schlug Bresche auf Bresche in die Feste, und das leichte Blau strömte herein. Zuletzt zerfloss die ganze starre Wölbung, und das weiche Lichtgewebe breitete sich wieder über dem Gesichtskreis, wie es sich den Menschenaugen an allen Tagen zeigt. Und darunter atmeten alle Kreaturen tief auf, und noch das verschlafene Gewürm schüttelte sich, als würfe es Fesseln ab. Und mit den andern allen atmete Rabbi Naftali auf und atmete die Freiheit ein wie die Luft des Lebens. Er sah zum Himmel empor und suchte den Wundermann, aber der war verschwunden. Da fasste den Rabbi wieder das Geheimnis an, er wandte den Wagen und trieb die Pferde, bis er wieder an der Bauernschänke stand. An der Schwelle trat ihm der, den er suchte, mit dem alten Gruss entgegen, ohne Frage in Wort und Geberde; aber der Gruss dünkte dem Rabbi liebreicher als am Tage zuvor. Darum zwang er alles Bedenken und sprach: »Israel, was ist dies für ein Ding mit dir, dass ich dir in seltsamer Weise auf meinen Wegen begegne?« Da hob der andere den Blick und lächelte. Und das Lächeln war nicht nach Menschenart, sondern wie eines Sees, der zwischen Felsen ruht, schmerzliches und nachsichtiges Lächeln aus seinem Grunde herauf, wenn die Abendsonne ihn streichelt und spricht: »Nun gebe ich dich dir zurück« – aber der See lächelt und antwortet: »Mir?« So lächelte der Mann und antwortete: »Mir?« Und der Rabbi wollte nicht weichen, sondern weiter fragen; aber da fühlte er, dass sein Mund verschlossen war, denn das Lächeln des andern hatte ihn getroffen. So blieb er schweigsam und der Fragen voll. Von dannen konnte er nicht mehr, und das Bleiben brachte ihm Stunde um Stunde neue Ungewissheit und neuen Seelenstreit. Die Nacht kam und war wie der Tag, nur langsamer, und so, dass jede Unbegreiflichkeit sich in ihr noch vertiefte. Am Morgen erst löste ihm der Schlaf die Seele, und sie empfing einen Traum. Und der Traum, den der Rabbi träumte, war der Anbeginn der Schöpfung. Das Licht schied sich von der Finsternis, und die Feste ward zwischen den Wassern. Und Rabbi Naftali erschien es, als sei das Wirrsal, aus dem geschaffen wurde, seine Seele, und als sei sie die gesichtlose Tiefe, aus der Himmel und Erde hervorsprangen. Und er spürte die knetende Hand des Geistes. Als er erwachte und vors Haus trat, war er der Ungewissheit frei. Alles schien ihm einfach und bestimmt, und er umfing die Welt mit den Augen wie mit Armen der Seele. Es war ihm, als sehe er die Dinge nicht aus der Ferne seines Leibes, sondern aus ihnen heraus und wie ein Ding sich selber sieht, wenn es vor den Wegen des Lebens erschrickt und sich be-

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sinnt und sich in sich anschaut. Und er sprach zu sich: »Ich weiss es nun. Es gibt Zeiten, da der Wirbel über die Welt stürzt und ihre Fügung zerbricht, und Licht und Finsternis sind nicht mehr geschieden, und die Kreaturen haben ihren Ort verloren und schwirren im Raume umher. Und es gibt Zeiten, da der Himmel die Erde gefangen hält, und die Feste, die nur sondern sollte, bannt und bindet die Kreaturen. Aber ist all dies nicht eine Spieglung und ein Spiel der Zeit? Denn nun sehe ich: ein Glück ist über den Dingen und eine Freude. Mitsammen leben die Dinge, ungestört von Wirbel und Bann, und gehen aufrecht durch den Zorn der Gewalten und verharren. Und jedes wirkt das Seine aus seinem Herzen in die Welt, und hat in seiner Tat die Freude, und hat aus seinem Werk die Glückseligkeit. Kein Wirbel kann den Kranz des Tuns zerreissen, der die Wesen umschlingt und einigt. Kein Bann kann die Liebe fesseln, die vom Wesen zu seinem Werke geht. Unüberwindlich in ihrem Glück ist die Schöpfung, die selige Welt der schaffenden Dinge.« Als der Rabbi also zu sich selber sprach, schloss er die Augen vor Glück, und eine stille Weile ging über die Welt hin. Und die Weile wurde immer stiller, bis die Stille so tief war wie ein Schauer der Seele. Da öffnete der Rabbi die Augen. Und das erste, was er sah, war das Zusammensinken eines ungeheuren Schleiers. Dann lag die Welt vor ihm wie ein Abgrund. Und in dem Abgrund war das Aufgehen der Sonnenscheibe wie eine stumme, langsame Qual, und das Wachsen vieler Bäume und Kräuter wie ein ewiges, schmerzensvolles Zucken, und das Laufen und Hüpfen und Fliegen vieler Tiere wie ein sinnloses Jagen und Suchen. Und jede Kreatur litt, dass sie tun musste, was sie tat, und kam nicht los und keuchte in ihrem Leide dahin. Es war aber also: alle Dinge standen in dem Abgrund, und doch war der ganze Abgrund ohne Schranke zwischen jedem Ding und dem andern, und keines konnte zum andern hinüber, ja keines konnte das andere sehen, denn der Abgrund ohne Schranke war zwischen ihnen. Und dieser Blick des Rabbi war nicht wie ein Gesicht, das schauend du, wiewohl davon besessen, doch ahnst, es werde jetzt oder später, irgend einmal vor deinem Tode schwinden und nicht mehr da sein. Sondern es war ihm, als sei er all seine Zeit in einem Trug gegangen und sehe nun erst die Wahrheit und das Leben; und als würde ihm, möchte er auch bis zum Zerfall der Welt dauern, niemals ein anderes Bild erscheinen als dieses. Und dieser Blick nahm dem Rabbi mit einem Griff, was er gewonnen hatte in der Stunde davor und in allen Stunden, und sein Herz schwankte, halb gezogen, sich gegen Gott zu erheben, und halb, mit Gott zu leiden. Aber in dem Augenblick, da Rabbi Naftali dieses geschah, gewahrte er, dass ein Mann im Abgrund erschien, der war ihm vertraut von Gestalt

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und von Angesicht. Und der Mann war hier und überall, und hatte Flügel und vielfältiges Sein und überspannende Gegenwart. Denn sein Mund war an das Ohr der Sonne gelegt und sprach zu ihr, und sein Arm war um den Leib der Bäume geschlungen, und das Getier schmiegte sich an seine Knie und die Vögel an seine Schultern. Siehe, da war der Trost in die Welt gekommen. Denn durch den Helfer waren die Dinge verbunden und sahen und kannten und fassten einander. Und die Sonne litt nicht mehr, denn sie schaute, was sie schuf und wem sie es schuf. Und was wuchs, wusste, wem zu es sich regte, und was lief, wusste, wen es suchte. Und alles war in allem, denn die Dinge erfuhren den Helfer und sahen einander durch sein Auge und berührten einander durch seine Hand. Und da die Dinge zu einander kamen, war kein Abgrund mehr, sondern ein lichter Raum des Schauens und Umfangens, und eine tiefe Welle aus Sinn und Ziel. * Diese waren die drei ersten Tage. Und ihnen folgten die drei andern, und an jedem weitete sich Rabbi Naftali der Weg, und er erkannte die Schöpfung. Aber in dem Häuschen am Berghang blieb das Leben, wie es war, und der Wirt blieb der Gleiche im Gang und in der Geberde. So war dem Rabbi seine Welt wie ein Pendelschlag, und ewig wechselten ihm das Wunder der Ferne und das Wunder der Nähe. Er wagte kein Wort mehr, keinen fragenden Blick: er lebte und wartete. So kam der Sabbatabend heran. Mit schlichtem und demütigem Wort sprach der Wirt den Gruss an die heilige Braut, und hielt das Mahl in Treuen nach frommer, ungelehrter Männer Art. Naftali sah von einer Weile zur andern zu ihm hin und erwartete, er wusste nicht was für ein Geheimnis und Heil. Aber nichts geschah, und er wartete noch immer, als der Wirt schon den Tisch gesegnet hatte, und wartete noch, als er sich erhob, dem Gast die Hand entgegenstreckte und ihm den Frieden wünschte für diese Nacht und für alle Zukunft seines Lebens. In der Nacht fand der Rabbi keinen Schlaf. Aller Wille dieser Tage war zu einem grossen Rauschen über seinem Haupte geworden, und es war ihm, als müssten hier und jetzt das Wunder der Ferne und das Wunder der Nähe zusammenfliessen. Mitten in der Nacht kam der Befehl zu ihm, lautlos, ohne Erscheinung. Er stand auf und ging. Da war er auch schon in der andern Kammer und sah. Und sah: die Kammer war bis zur Manneshöhe von Flammen erfüllt. Stumpf und dunkel stiegen die Flammen auf, als zehrten sie von einem

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Schweren, Unbekannten. Kein Geräusch und kein Rauch gesellte sich dem Brande, und jegliches Gerät blieb unversehrt. Mitten im Feuer aber stand der Meister mit erhobener Stirn und geschlossenen Augen. Und weiter sah der Rabbi: eine Scheidung geschah in dem Feuer, und es gebar ein Licht, und das Licht war wie eine Decke über den Flammen. Und das Licht war zwiefach. Unten war es bläulich und gehörte dem Feuer an, aber das obere Licht war weiss und unbewegt, und es breitete sich um das Haupt des Meisters bis an die Wände. Und das bläuliche Licht war der Thron des weissen, und das weisse ruhte auf ihm wie auf einem Throne. Und das bläuliche Licht wandelte unablässig seine Farbe, zuweilen zu Schwarz und zuweilen zu einer roten Woge. Aber das weisse oben wandelte sich nie, es blieb immer weiss. Und das bläuliche Licht war ganz in das Feuer gebettet, und das Fressen des Feuers war sein Fressen. Aber das weisse Licht, das auf ihm ruhte, verzehrte nicht und hatte keine Gemeinschaft mit der Flamme. Und der Rabbi sah: das Haupt des Meisters stand ganz im weissen Licht. Und die Flammen schlugen am Körper des Meisters empor. Aber welche der Flammen emporkam, wurde zu Licht, und von Weile zu Weile wurde mehr des Lichtes. Und der Rabbi sah: alles Feuer war zu Licht geworden. Und das blaue Licht begann ins weisse einzudringen, aber jede Welle, die eindrang, wurde selber weiss und wandellos. Und der Rabbi sah, dass der Meister ganz in weissem Lichte stand. Aber über seinem Haupte ruhte oben ein verborgenes Licht, das war aller Farben und allen Blickes bar und nur im Geheimnis offen dem Schauenden. Und der Rabbi fiel nieder. Denn er erkannte den Menschen und das Ziel des letzten Tages. *

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Als der Morgen kam, feierten sie den hohen Sabbat mitsammen.

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Die Heiligen und die Rache

Als die Macht des Bilbul über die Stadt Pawlicz kam und der Triumph der Lüge einherfuhr, flohen aus allen Orten der Gegend die Juden vor der drohenden Vernichtung in die Weite. Aber einige fromme, alte Männer wollten sich nicht bewegen lassen, von dannen zu ziehen. Sie sprachen zu ihren Seelen: »Wie eine lange eingedämmte Schleuse ist dieses fremde Volk. Es will uns schlagen, um seine Kraft zu schmecken. Aber wie lange sind wir selbst wie eine eingedämmte Schleuse gewesen und konnten Gott nicht dienen nach unserem Sinne! Von Geburt auf war unser Leben ein gestörter und entweihter Gottesdienst. Denn hier ist die Welt eng und dumpf, und wir haben keinen Raum, dem Herrn zu jubeln, und wir atmen eine Luft, die nicht des Herrn ist. Einst war die Mazo das Werk unseres Feldes, und die Kraft unserer Hände lebte in unserem Felde und diente Gott. Aber jetzt kommt die Mazo zu uns aus der Erde der Fremden, die unser Feind ist. Einst war der Esrog die Lust unseres Gartens, und der Herzschlag unserer Freude lebte in unserem Garten und diente Gott. Aber jetzt kommt der Esrog zu uns wie ein Gast aus einem sehr fernen Lande, das wir nicht schauen werden. Und in diesem fernen Lande sind die Wurzeln unseres Gebetes geblieben. Nun sprechen wir die Worte, aber sie haben keine Wurzeln, und wie könnten sie da zu Gott emporwachsen? Es ist uns nicht gegeben, dem Herrn mit unserem Leben zu dienen. So wollen wir ihm mit unserem Tode dienen und ausharren zur Heiligung seines Namens.« Also sprachen sie und liessen sich in Gewahrsam nehmen und warteten in Freuden, dass sie getötet würden. Aber einer war nicht mit ihnen geblieben. Das war der Rabbi von Koraczow. In jungen Jahren hatte er ein Buch begonnen, in dem gesagt wurde, wie man Gott dienen könne mit seinem Leben. Er hatte streng und hart gelebt und alle Kraft und alles Verlangen und allen Gedanken in das Buch getan. Wenn er irgend etwas träumte und wollte, nahm er seinen Traum und seinen Willen wie einen Stein in die Hand und legte ihn auf die andern, dass sein Bau zu Gott emporwachse. So fügte sich ein Teil des Buches langsam zum andern. Es war aber alles darin so angeordnet, dass ein Aufstieg waltete von niederen Stufen des Dienstes zu immer höheren. Und so oft er daranging, von einer neuen Stufe zu reden, bereitete sich der Rabbi in grosser Glut der Seele und lebte in Sammlung alle Tage, bis er in seine Kammer ging, um zu schreiben. Da sass er dann und tat sein Werk, und keiner durfte ihn rufen und zu Speise und Trank oder zum Schlafe mahnen, bis er vollendet hatte, von der Stufe zu reden. Und er sprach zu keinem von seinem Buche. Als aber der Bilbul dahergezogen kam, unterredete sich der Rabbi mit seiner Seele, und es war ein tiefes

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Zwiegespräch durch viele Stunden in der stillen Kammer. Und das Buch, das bis zur höchsten Stufe gediehen war – von dieser aber war noch nicht begonnen zu reden –, lag auf dem Tische, und er sah es nicht an. Zuletzt aber kam sein Blick und ruhte auf dem Buche. Und er erhob sich und nahm das Buch und machte sich auf, nach der Wallachei zu fliehen. Als der Rabbi auf seinem Wege nach Miedzyborz kam, hiess ihn der Baalschem bei ihm bleiben, bis er ihn entlassen würde. Und er blieb beim Baalschem. Und dieser sprach zu ihm: »Die Heiligen werden errettet werden« und wiederholte es Mal für Mal. Aber am Vorabend des Sabbat kam ein Brief zum Rabbi; darin stand, wie sie gepeinigt worden waren mit allen Arten der Todespein, und wie sie in Qualen und grosser Freude dahingegangen waren zur Heiligung des Namens. Als der Baalschem den Brief gelesen hatte, ging er Mincha beten und zitterte, und wer ihn ansah, musste zittern. Und einer sprach zum andern: »Wenn erst die Stunde kommt, den Sabbat zu empfangen, wird die Freude gewiss zu ihm heimkehren. Denn was immer ihm je widerfuhr, noch nie hat er den Sabbat ohne Freude empfangen.« Aber die Stunde kam, und der Baalschem empfing den Sabbat in grossem Zittern und hielt den Becher in einer zitternden Hand. Und sogleich ging er von dannen in die Stube, in der er zu schlafen pflegte, und legte sich auf die Erde, das Gesicht zum Boden und die Arme von sich gestreckt, und lag so eine lange Zeit. Und da das Hausgesind und die Gäste auf ihn warteten, kam sein Weib in die Stube und sprach: »Die Lichter werden schon ausgehen.« Er sprach: »Lass die Lichter ausgehen und schicke die Gäste heim.« So ging sie, er aber lag immer noch auf der Erde. Aber der Rabbi konnte es nicht länger ertragen, denn sein Herz brannte. Und er ging zu der Stube des Baalschem und lauschte, aber es war sehr still in der Stube. Und er ging an die Tür und sah durch eine Spalte der Tür und schaute in das Dunkel. So stand er und stand bis zur Mitternacht. Da kam ein grosser Lichtschein in die Stube. Und der Baalschem rief: »Gesegnet sei, der da kommt, Rabbi Akiba!« Und jeden der Heiligen grüsste er bei seinem Namen und rief: »Gesegnet sei, der da kommt!« Sodann sprach er zu ihnen: »Ich verhänge es über euch, dass ihr Rache nehmet an den Widersachern. An dem Senator, der euch foltern liess. An den Knechten, deren Hand bereit war zu eurer Qual. An dem Volke, dessen Mund jauchzte vor eurem Leide.« Da tönte durch den Raum ein dunkler Chor und war doch wie Eine Stimme, die sprach: »Wir bitten dich, dass dieses Wort nicht noch einmal von deinen Lippen gehe.« Er aber wiederholte: »Ich verhänge es über euch.« Und wieder sprachen die Heiligen: »Wir haben unsern Tod gern gelitten!« Aber der Baalschem stand mitten im Lichte wie eine rote Flamme und schrie, und sein Wort

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war wie das Rauschen gewaltiger Flügel: »Für das Schlagen und Stechen, für das langsame Morden, für die Schändung durch ihre Hände, für den Stoss ihrer Füsse, für das Ducken und Erniedrigen, für das Spotten und Spielen, für die Knechtschaft der Jahrhunderte, für die Not des Schlechtwerdens nehmet Rache.« Da war eine Bangigkeit und ein Beben in der Choresstimme, als sie sprach: »Wir bitten dich, dass das Wort des Verhängens nicht zum dritten Mal von deinen Lippen gehe. Denn du sollst wissen, dass du an diesem Abend den Sabbat der Welten gestört hast. Siehe, es ward ein grosses Gewirr, und wir wussten nicht, was das sei. Und wir stiegen zu höheren Kreisen auf, und auch da war das Gewirr, und wir wussten nicht es zu deuten. Und als wir zu einem gar hohen Kreise kamen, wurde zu uns gesprochen: ›Gehet eilig hinab, machet still die Tränen des Rabbi Israel Baalschem.‹ So wollen wir es dir denn erzählen. Du sollst wissen: alle Schmerzen, die ein Mensch leidet in seinem Leben, sind ein leichter Tand gegen die Schmerzen, die wir gelitten haben zur Heiligung des Namens, gesegnet sei er. Und der böse Trieb kam über uns und wollte unsern Sinn beugen, und wir stiessen ihn mit beiden Händen hinweg. Aber es gelang ihm, mit einer Fingerspitze einen Gedanken in uns zu berühren, und er machte ein Zeichen an dem Gedanken. Um dieses Dinges willen ward uns bestimmt, für einen Augenblick in das Tal Hinom zu kommen und einen Augenblick lang die Not der Welt zu leiden. Und alle Schmerzen, die wir gelitten hatten, erloschen und waren wie leichter Tand vor diesem Leide. Und als wir in den Garten Eden kamen, sprachen wir: ›Wir wollen Rache nehmen für die Knechtschaft der Jahrhunderte, für die Not des Schlechtwerdens, die dem bösen Trieb Macht gegeben hat, unsere Gedanken zu berühren. Für den Raum, in dem wir gewohnt haben, für die Luft, die wir eingeatmet haben, für den gestörten und entweihten Gottesdienst unseres Lebens wollen wir Rache nehmen.‹ Da wurde uns geantwortet: ›Wollt ihr Rache nehmen, so müsset ihr in neue Körper eingehen und auf die Erde zurückkehren und noch einmal als Menschen ein Leben zu Ende leben.‹ Wir aber sprachen: ›Wir loben den Herrn, gesegnet sei er, und danken ihm, dass wir bestanden haben zur Heiligung seines Namens, und dass wir einen Augenblick lang das grosse Leid im Tale Hinom gelitten haben. Heute aber, sollen wir auf die Erde zurückkehren, wo wir keinen Raum haben, dem Herrn zu jubeln, und wo wir eine Luft atmen, die nicht des Herrn ist, so kann es fürwahr geschehen, dass wir schlechter werden und die Macht des Bösen erhöht wird. Wir wollen nicht zurückkehren.‹ Also sprachen wir. Und so bitten wir dich, dass das Wort des Verhängens nicht zum dritten Mal von deinen Lippen gehe.« Da schwieg der Baalschem und sprach kein Wort. Und der Lichtschein schwand aus der Stube, und das

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Dunkel erfüllte sie. Aber der Baalschem lag auf der Erde wie eine rote Flamme. – Der Rabbi von Koraczow aber hat sein Buch nicht vollendet. Ja, es weiss kein Mensch, was daraus geworden ist. BILBUL = Verwirrung, Verleumdung, hier Ritualmord-Beschuldigung. MAZO = das ungesäuerte Brot, das am Osterfeste zur Erinnerung an den Auszug aus Aegypten gegessen wird. ESROG = der zu religiösen Zwecken am Laubhüttenfeste benützte Paradiesapfel. MINCHA = Nachmittagsgebet. TAL HINOM = Hölle. Rabbi Akiba, der den Zug der Märtyrer führt, ist der grosse Meister des Tal10 muds, der unter Hadrian den Foltertod erlitt. Die kleine Stadt Miedzyborz in Podolien war der endgültige Wohnsitz des Baalschem. Zur Heiligung des Namens (des Gottesnamens) = zum Ruhme Gottes. 5

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Die Himmelwanderung

Am Tage dient er den Kreaturen. Auf den Winden kommen Boten gefahren, bittende Herolde steigen aus dem Boden auf. Zusammengeflutet aus dem Munde alles Lebendigen, dringt die Stimme des Leidens zu ihm. Er empfängt den Ruf und teilt die Antwort aus. Unablässig gibt er seine Gabe, den tiefen Trost. Unter der Berührung seiner Finger heilen die Wunden der Welt. Am Tage dient er den Kreaturen. Aber am Abend löst sich seine Seele. Sie will nicht bei dem trägen Genossen ruhen. Sie streift Ort und Dauer wie zwei Handfesseln weg und enthebt sich den Grenzen. Sie stösst das Land mit dem Fusse ab, sie prüft den Flug, und die Himmel nehmen die Freigelassene auf. In den Himmeln ist nicht Ort und Dauer, nur Weg und Ewigkeit. Jede Nacht führt die Seele weiter im Wege, tiefer in die Ewigkeit. Aber eine Nacht kommt, da steht eine Weltenwand vor der Seele auf und deckt ihr Bahn und Blick. Schrankenlos wie der Flug war, ist die Hemmung. Der Weg stirbt. Ein dunkler Finger hat das Licht aller Sterne und die Verheissung aller Himmel ausgelöscht. Über dem toten Weg reckt sich eine dunkle Wand randlos in die Nacht. Und die Wand hat ein Gesicht, ungeheuer und schattenhaft, doch scheint es der Seele näher als ihr eignes Auge. Und die Seele erkennt es: es ist das Angesicht des Lebens, das sie am Abend verlassen hat und in das sie am Morgen zurückkehren will wie in ein wartendes Bett. Aber jenseits der Wand erwacht ein Laut, eine grosse Stimme in der Finsternis. Es ist, als stünde drüben der tote Weg auf und redete. Und die Stimme der Verborgenheit spricht: »Seele, verlangende Seele, Seele der Kraft und des Traumes! Seele, die sich bewahren mag und sich verlieren! Seele, die alles begehrt, beides, Bestand und Unendlichkeit, Wollen und Wissen, Sinne und Geheimnis zugleich! Hier ist die Grenze. Hier ist der Altar der Welt. Hier geht kein Leben vorbei, es opferte sich denn. Denn der Name dieses Ortes ist: Gottes Wahl. Bis hierher gilt Diesundjenes. Hier beginnt das Eine. Seele, die bis hierher gekommen ist, Stille, Mächtige, wähle! Scheide ab von dem Leibe der Erde, und ich öffne mich dir. Oder wende den Flug. Denn wer mich berührt hat, kehrt nicht wieder.« Und die Stimme versinkt. Und wieder ist nichts vor der Seele als die dunkle, stumme Wand.

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Aber die Seele erhebt die Stirn. Einen Augenblick lang steht sie, als horchte sie dem verklungenen Worte nach, dann spricht sie die Antwort: Ich scheide ab von – In diesem Augenblick hat sich auf der Erde eine Frau über ein Bett gebeugt, in dem der Körper eines Mannes liegt. Sie schaut, sie tastet über die bleiche Schläfe des Liegenden hin. Dann schreit sie auf: »Israel!« In geradem Fluge hebt sich der Ruf den Himmeln zu. Er ist schneller als die Geister der Sterne, schneller als die Engel des Raumes. Ehe der Augenblick sich schliesst, steht er am Ende des Weges, den die Seele in vielen Nächten vollbracht hat, und legt seine leichte Hand auf ihre Schulter. Da hält die Seele im Wort inne und blickt hinter sich. Dann spricht sie nicht weiter. Sie legt den Arm um den Nacken des Boten und wendet den Flug. Diese war die letzte Wanderung des Meisters in den Himmeln.

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Jerusalem

Es geschah zu Zeiten, dass den Baalschem des Nachts Stimmen aus der Tiefe aufriefen und sein Ohr wurde hell und wach, obgleich der Schlaf auf seinen Sinnen lag. Er unterschied alsdann mit grosser Klarheit, wie von undenklicher Ferne der Laut aus dem Munde vieler uralter Dinge auf der Wanderschaft zu ihm war und ein einiges Getön von ungeheurem Weh sein Lager umgab. Er fühlte, dass ein Wille hier hundert getrennte Stimmen zu einer verflochten hatte. Die Stimmen langten an sein Herz und weckten es auf. Aber sie waren von allzuweit, und das Herz verstand den Sinn ihres Wortes nicht. Es konnte nur die grosse, ferne Not ahnen, die es anrührte, und war von dieser Zeit zu allen Tagen und Nächten im Gleichmass seiner Schläge erschüttert. Aber in einer Nacht waren die Stimmen ganz nah an des Meisters Ohr, zitternd von der Müdigkeit der langen Wanderung. Er erkannte sie und woher sie ihm kamen, und er erkannte Eines, das ihm fremd gewesen war bis zu dieser Stunde. Denn es war das alte Land, das zu ihm sprach aus der nie erlösten Schande des Verfalles. Es war der alte Weinberg, nun zur fahlen Steppe geworden, die die Herden fremder Wandervölker mit verhassten Hufen traten Jahr für Jahr, die begrabenen Mauern unter der Erde, das verschüttete Erz, das mitdröhnte unter der Last des unermesslichen Schuttes, der versteinerte Hang, der einmal den leuchtenden Wald getragen hatte, und der verdorrte Wasserquell. Sie schrieen aus der letzten Not, die fühlt, dass der Schlaf unversehens in den Tod sich hinüberschleichen will, jetzt und jetzt, von Atemzug zu Atemzug, wenn die Hand nicht kommt, die aus dem Dunkel aufreisst und die Seele befreit, die müde geschlagene Seele des alten Landes. Und die Stimmen redeten zum Baalschem. »Komm, komm und säume nicht. Du bist der Erwartete, dessen Atem das Gestein von unseren Gräbern heben wird wie der Frühlingswind den Flaum, der aus dem Vogelneste fällt. Dein Wort wird die Kräfte entfesseln. Der Bach wird rinnen, der Wald auferstehen, der Weinstock Früchte tragen, der Fels wird sich kleiden. Komm und lege deine Hand auf uns!« Von der Nacht war die Seele des Baalschem in sich gewiss, dass er sich auftun müsse und hingehen zum Lande. Und er reckte sich empor und schrie zu Gott: »Gib mir Urlaub, Herr, und Frist. Löse, womit du mich hier gebunden hältst, damit ich hingehe in dein Land, das mich ruft.« Aber Gott sprach nächtens zu ihm und antwortete: »Israel, es ist mein Spruch über dir, dass du weilest an deinem Orte und dich nicht auftuest nach meinem Lande.« Da lag der Baalschem viele Nächte in der Qual. Die Stimmen waren

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vor seinem Ohr und das Wort des Herrn auf seinem Herzen. Und der Jammer der Stimmen fuhr als Sturmwind in den Lüften, und es war eine Bewegung wie von grossem Sterben, wie an dem Tage, da Jerusalem, die Herrliche, fiel. Da siegte die Sehnsucht nach der sterbenden Erde über das Wort des Himmels, und da tat sich der Meister auf und wanderte gegen Jerusalem. *

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Es war die erste Nacht, da sie auf ihrer Fahrt unter fremdem Dache sich zur Ruhe legten, der Baalschem und Rabbi Zewi der Schreiber, sein Schüler, der mit ihm war. In jener Nacht kehrten die Stimmen der Heimsuchung wieder an den Ort, von dem sie ausgegangen waren. Und da sie heimkehrten, flog ihnen ein grosses Raunen entgegen, und die alte Erde bebte unter ihrem Gruss, und jegliches begrabene, erstarrte und versagende Ding erhob sich und lauschte. Und die Stimmen riefen: »Stehet auf, ihr Schlafenden, und ihr Verstümmelten, bereitet euch, denn euer Erlöser ist auf dem Wege!« Da hob sich der ungeheure Leib der Erde in einem schweren Atemzug, und in dem einen Aufatmen schüttelte sie den uralten Schlaf ab. Und ein jegliches Ding rief mit herzgeborenem Ton den Lebensruf aus, und war ein gewaltiges Rauschen der Freude in der Nacht, und ein Leuchten war und ein geheimes grosses Erheben von Schlucht zu Gipfel, und das versunkene Gut blühte, Schwert und Opferschale, und die erstorbenen Gewässer rauschten, und es kreiste der Saft des Kornes und der Rebe. Und die Sterne über dem alten Lande wuchsen in dieser blauen Nacht der Erwartung. *

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Der Baalschem schritt unverdrossen vorwärts, aber seine Helle und Freudigkeit war nicht bei ihm. Er blieb still und sann in sich, und wenn Rabbi Zewi von dem wunderbaren Ziel ihrer Reise sprach, antwortete der Meister kaum anders, als mit einem verlorenen Seufzer. Denn er trug ein Ding auf seinem Herzen, das lastete sehr und wurde schwerer mit dem Wege. Das war die Gottesstimme, die vor der Sehnsucht hatte verstummen müssen und nun gar stille schwieg, aber immerdar weilte und nicht von dem Herzen wich. Und zuweilen war dem Meister, als sei eines zarten Kindes heimlich verhaltenes Weinen in seiner Brust, und nachts war da manchesmal ganz inwendig ein Klagegetön ohne Wort, so tief und leidensvoll, dass er erwachend in sich horchen und horchen musste. Allein

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mit jedem Morgen trug er die wachsende Last weiter auf die Wanderschaft. So liess er Stadt und Land hinter sich, Vertrautes und Fremdes. Der Mond hatte schon zu mehreren Malen über ihm gewechselt, als er nach eines Tages Irregehen des Abends an die Küste des Meeres kam, das ihn vom Ziele schied. Doch da war nicht Haus noch Stätte, so weit das Auge sah, kein Segel am Wasser, nur Strand, schimmernd und weit, der Wasserschlag am Sand und eine laue Nacht mit mildem Himmelslicht. Da warfen sie sich beide nieder zur Erde, die noch des vergangenen Tages Glut ausatmete, zu ruhen und den Morgen zu erwarten, der sie zu Schiffern weisen würde. In der Mitte der Nacht fand der Meister sich mit dem Weggesellen auf hohem Meer in einem kleinen Schiff ohne Ruder, nur ein Segel über sich, flammend rot und gelb. Das Schifflein aber wurde von einem ungeheuren Sturm hin und her geworfen, und ringsum war nicht Himmel noch Land zu sehen, nur Wasser in aller Weite, entfesselt und heulend. Der Baalschem suchte um sich, aber da war nichts als des Wassers tötliche Einsamkeit. Er suchte in sich, aber siehe, da war alles von ihm gewichen, alle Weisheit und alle Herrschaft. Da fühlte er eine Verlassenheit, die grösser war als die Meeresnot. Er fand sich leer und bar in seiner Seele wie die hingeworfene Schale einer Frucht ohne Saft und Süsse. Ein grosses Weinen kam über ihn, und sein Beben war stärker als das Rütteln des Sturmes. Dann warf er sich neben den Gefährten hin und wartete auf das Vergehen. Aber indem er lag, ein elend taubes Ding, tat sich ganz sacht eine Stimme auf und hub zu reden an, erst leise und heimlich, doch allgemach schwoll sie an und ward grossmächtig und schlang das Toben des Meeres wie ein nichtiges Geräusch in ihren Schall. Und der Meister trank den Laut der Gottesstimme. Im Morgenzwielicht erhoben sich der Baalschem und Rabbi Zewi aus dem nassen Sand. Haar, Antlitz und Gewand waren ihnen durchnässt, wie denen, die das Meer ans Ufer spült. Sie sprachen nicht und mieden einer des andern Auge und wandten sich, und ohne Wort und Zeichen schritten sie einig den Weg zurück, den sie am Abend gekommen waren. Als sie mehrere Stunden gewandert waren – die Sonne stand hoch und trocknete ihnen die feuchten Kleider –, sah der Rabbi von ungefähr den Meister an und gewahrte das alte heilige Leuchten auf seinem geliebten Angesicht. * In der Nacht, da der Baalschem mit der Verlassenheit auf den Wassern und mit der Verlassenheit in seiner Seele kämpfte, lag das Land, das ihn

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gerufen hatte, in der Erwartung. Die Stimmen der Lebendigbegrabenen redeten aus der Erde hervor und fragten die Stimmen in der Luft: »Was höret ihr?« Da sprachen die Schwestern in der Luft: »Ein Sturm braust, und auf den empörten Wassern streitet, der uns erlösen soll«. Und eine Zeit verging, dann fragten wieder die Stimmen der Erde: »Naht er dem Lande?« Und die Antwort kam: »Das Wort ist über ihm«. Und wieder schwand eine Zeit, und noch einmal stieg die Frage empor: »Was höret ihr?« Und wie das Rauschen todmatter Flügel klang es zurück: »Wir hören den Schritt des Davonziehenden in der Ferne«. Da tat die alte Erde den Mund auf und sprach: »So will ich mich hinlegen zu sterben«. Und sie verhüllte ihr Angesicht und schloss die Augen. Und jegliches Ding kehrte an den Ort seiner Ruhe zurück und bereitete sich zum Tode. Und die Stille dehnte sich über das Land hin, und in der Stille war der Gram, und in dem Gram war das Sterben. Aber über der Stille ward ein Ruf lebendig, der durchbrach und zerstreute sie. Und der Ruf umfing das Land und redete zu ihm: »Du wirst nicht sterben, meine Freundin. Erde des Herrn, du wirst erwachen und leben. Und du hadre nicht mit dem, den du gerufen hast. Denn er ist geboren als einer, der wiederkehren soll, und die Hand des Herrn ist über seinen Wurzeln, ihn wiederzubringen zu seiner Zeit; ihn wiederzubringen zu deiner Zeit, o meine Freundin.«

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Die Legende des Baalschem

Saul und David

Dies war, als der Baalschem zurückgekehrt war von der vergeblichen Reise und die Männer sich um ihn zu sammeln begannen, das Heil zu nehmen von seiner segnenden Hand und von seinem ratenden Munde. Und diese Ersten wurden geheissen: die Gemeinschaft. Denn sie sassen miteinander an seinem Tische und war ihnen gemein die Luft der Seelen, und doch erschien Jeglichem das allgemeine Wort des Meisters wie eine Heimlichkeit, die seinem Ohre bestimmt war und keinem. In jener Zeit geschah es zuweilen, dass der Baalschem inmitten des Gespräches in der Rede stockte, erbleichte und dann für eine lange Zeit verstummte und ohne Anteil, das Auge blicklos ins Ungewisse gewendet, unter den Freunden verweilte. Dann pflegten allgemach auch die Getreuen zu erschweigen und in einem bänglichen Warten auszuharren, bis der Sinn des Meisters ihnen heimkehrte. Wenn sich dieses nach einiger Frist erfüllte, erschien der Heilige sehr ermattet, als ob irgend eine verhehlte Kraft am Quell seiner Seele sich genährt und ihn schier zum Versiegen gezwungen hätte. Er fand dann wohl noch ein mildes Zeichen für jeden seiner Gäste, aber alsbald pflegte er sich zu erheben und in sein Gemach zu gehen, das er sodann für viele Stunden verschloss. Die Schüler redeten oftmals untereinander von diesem Ereignis, doch fanden sie nimmer, wie sie auch forschten, dem fremden Geschehen die Deutung. Da fügte es sich einmal, dass Rabbi Wolf, der Fröhliche, der keiner Angst je Einlass gab und immerdar getrost war ob der Liebe des Meisters, um dieses Dinges willen ihn anging und Widerrede und Aufschluss empfing. So hat es sich begeben, dass wir wissen, wie es sich zugetragen hat. Was aber später geschah, das haben die Lippen des Mannes selber kundgegeben, der an den Wurzeln des Geheimnisses wohnte. Denn in den Jahren des Baalschem lebte in der Stadt Kossow ein Rabbi, der in seinem dunkeln gewaltsamen Geiste den Erhabenen bekriegte. Dieser Hader aber war uralten Grundes und hatte seinen Keim in den grossen Tagen der Könige. Es wird berichtet und dargetan, dass Israel, der Sohn des Elieser, den wir den Baalschem nennen, als ein Erbe und Unterpfand der Zeiten in seinem Blute die Seele trug, die einst David, den König, verlassen hatte, als seine Jugend zerbrach und die Sucht ihn befiel. Dem Rabbi von Kossow aber, dessen Name wie der Name jenes künftigen Schmerzgekrönten, des Urenkels des Baalschem, Nachman war, hatte Sauls, des Traumfürsten, Seele sich einverleibt. Darum geschah es von einer Weile zur andern, dass der Rabbi von einem Ingrimm befallen wurde, der unerbittlich und aller Martern kundig war und nicht in ihm geboren, und den er tagelang in sich hegte und mit dem Leben sei-

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ner Adern nährte, bis das Ding in ihm mächtig war und ihn übermannte. Dann riss er sich mit den letzten Kräften auf und entsandte seine rasende Seele, dass sie der Seele des Heiligen sich nahte wie ein gespenstischer Vogel und ihr in düsteren Lauten ein Raunen zuwarf, sich mit ihm zu messen, und da jene das Tuch übers Haupt schlang und schwieg, sich erhöhte wie ein Drache der Finsternis und in Worten einer ungestümen Schwermut und eines dröhnenden Hohnes die Verborgene herausschrie. So ereignete es sich, dass der Baalschem zuzeiten plötzlich von seiner Seele verlassen wurde, da sie zum Kampfe auszog. Mal um Mal aber, wenn die Blicke wie Schilder aneinander klirrten und die Welten sich aus dem Schlafe reckten und erwachten, das glühende Ringen zu schauen, vermochte es keine der beiden Seelen, sich wider die andere zu heben, denn der einen klare Flamme schlug in aufrechtem Erbarmen zu den Himmeln auf, dieweil der anderen schwarzes Feuer zweifelsüchtig und wie von Schrecknissen gescheucht zerflackerte. Es war aber die Macht und das Zehren dieser Stille also gewaltig, dass die Seelen, sobald der Ruf der Leiber oder eine mahnende Stimme aus der ungeschiedenen Tiefe sie traf, zum Letzten erschöpft sich erfanden und wie nach schwerer Fehde heimkehrten. Nun aber tat der Rabbi von Kossow wohl niemals einem Menschen Erwähnung von diesen Dingen und sprach nie im Lauten Feindseliges wider den Meister; er konnte jedoch die Schatten nicht verjagen, die sein Angesicht überkamen, wenn von allen Zungen das lebendige Zeugnis für jenen erstand. Dies gewahrten die Schüler, die ihm anhingen und ihn liebten, und es war ihnen weh, seine Seele alsdann sich in der Pein ergehend zu schauen, auch erregte sich wohl der Eifer in ihnen, dass ein anderer sich über ihren Lehrer erheben sollte. So bedrängten sie den Rabbi viele Male mit stacheligen Reden, sein Heimliches zur hellen Glut zu schüren und ihn zum offenen Widerstreit zu bewegen. »Saget uns, o Herr«, sprachen sie, »wie geht dieses zu, dass alle Leute zu diesem Manne ziehen und so wundersam, mit Verklärung im Ton und wie von einer Gnade Berührte sein Lob ausrufen? Ist es etwa derwegen, dass niemals noch einer kam, gross und geschmeidig genug im Geiste, seine Ränke und Künste zu zerbrechen? Soll er die Ursache werden, dass Euer Ruhm zu allen Zeiten sterbe vor dem seinen? Ewig die Schlinge, die Euren Aufflug hemmt? Ziehet hin, auf dass er sich an Euch messe, sodann werden wir und alle mit der Augen Innerstem die Wahrheit schauen.« Lange verschloss sich der Rabbi, der stolz und ehrlich vor sich selbst und seines Feindes tief bewusst war, diesen Worten. Da aber die Schüler nicht abliessen in ihn zu dringen, gewannen sie allgemach Wirkung und Macht in seiner Seele. Eines Tages rüstete er sich mit den Seinen zur

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Die Legende des Baalschem

Fahrt, bezwang die Scham und zog nach Miedzyborz zum Baalschem. Als sie in sein Haus traten, kam der Heilige ihnen entgegen, schlank erhoben, doch voller Ehrfurcht, und mit hohen Worten gab er dem Rabbi seinen Gruss. Jener neigte sich und gab den Gruss zurück, und es war, als ob zwei grosse Helden der alten Zeit einander den Willkomm spendeten. Sie schienen den Genossen urfern und entrückt und wurden selber keines andern Dinges gewahr und achtsam denn einander. Die Schüler verblieben scheu im Vorhof, die Beiden aber traten selbander in ein Gemach, und als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, war es der harrenden Schar, als sei sie durch einen Wall der Zeiten von den Meistern geschieden. Die standen Aug in Auge, und die alte Liebe stand auf und das alte Leid und der alte Hass. Wie ein Feld lebendiger Halme rauschte die Fülle der verschollenen Jahre. Aber bald war nur noch der Grimm im Rabbi, und er erfand sich vielverschlungene, maschenreiche Reden und führte sie mit schlauem Bedacht gegen den Baalschem, dass der sich in ihnen verfange und ihm erliege; doch sie fielen ohne Kraft und Griff zur Erde. Nachdem das Gespräch eine Weile zwischen den beiden hin und her geglitten war – der Heilige aber ruhte wie ein lächelndes Kind in der friedseligen Gewissheit seines Wesens –, fragte der Rabbi: »Ist dem so, wie sie sagen, Israel, dass du jeglichen Gedanken der Menschensöhne weisst?« Und der Meister antwortete: »Dem ist so.« Darauf fragte jener zum Neuen: »So ist es dir bewusst, was meinen Gedanken füllt zu dieser Zeit?« »Du weisst,« sagte der Baalschem, »dass die Gedanken der Menschen gemeiniglich nicht zu ruhen pflegen, sondern hin und wieder kreisen wie die Möven über dem Wasser. Binde deinen Gedanken nunmehr an ein Ding, und ich will es dir nennen.« Also tat der Rabbi, und der Baalschem sprach: »Der vierfach urgeheime Name Gottes ist es, daran dein Gedanke hängt.« Da der Rabbi erkannte, dass der Heilige in seinen Geist geblickt hatte, ergriff ihn eine fiebernde Erbitterung, und er rief: »Dieses konntest du ohne Wunder und Erschauen wissen. Muss ich doch den Namen Gottes zu jeder Zeit vor mir tragen, und wenn du heischest, dass all mein Denken e i n Ding umschlinge, was bleibt mir als dieses Letzte, Eine? Gering, fürwahr, achte ich deine Kunst.« Der Baalschem aber harrte aus in seiner Milde und sprach: »Hat Gott nicht viele Namen? Ich aber sage dir den einen, unaussprechlichen an.« Da er jedoch sah, wie die Blicke des Rabbis zuckten und sich wehrten, trat er vor ihn hin, und aus seinen Augen brach nun entfesselt der Strom der Liebe. Und er redete also: »Dieses hast du gedacht, Nachman: ›Soll ich ewig gefangen bleiben in den vier Buchstaben? Zwingt mich ewig das tyrannische Wort? Versunken sind die Zeiten und enttauchen wieder,

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und mich hält in peitschenden Ketten der Geist. Wohin bist du geflogen, letzter der reinen Tage, da ich durch das Land Benjamin zog mit fröhlichen Schultern, Hauptes länger denn alles Volk? Tag der Sonne, Tag der Freiheit, nie, nie bist du gekehrt. Aber dein Bruder blieb, der dir gefolgt war, blieb bei mir mit dem Ölglas und dem Namen des Herrn. Er umspannt meinen Hals, wenn ich mich lege, er schliesst sich um meine Knöchel, wenn ich vom Lager aufspringe. Er hat mich mit Zorn getränkt und mit Wahnsinn gefüttert. Er führt mein Schwert wider meinen Leib: täglich stürze ich darein und sterbe.‹ Dieses hast du gedacht, Nachman: ›Soll ich ewig gefangen bleiben in den vier Buchstaben? Wie, wenn ich mich losmachte und wieder würde wie dazumal, ehe ich in die Stadt kam, in der der Mann des Herrn war!‹ Aber ich sage dir, Nachman, mein Freund, du Freund Gottes: willst du losmachen dein Herz von deiner Brust und dein Hirn von deinem Haupte? Sieh, du hast dich erkannt, – bist du noch länger gefangen? Sieh, du hast dich erkannt, – fühlst du nicht deinen Willen in Gottes Willen brennen? Nimm die Last der Zeiten in die Hände, – ist sie nicht schon geschwunden? Küsse den Tag, der dich bannte, – bist du nicht schon gelöst? Rege die Seele in Gott wie das Herz sich in deiner Brust regt. Nun kehrt die Zeit der Sonne dir wieder, die Zeit der Freiheit.« Der Rabbi sprach: »Du hast die Wahrheit geredet, Israel!« Dann neigte er sich und sprach das Wort des Friedens und ging zur Stunde hinweg mit gestillter Seele.

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Der zweite Kreis: Das Gebetbuch / Das Gericht / Die vergessene Geschichte / Die niedergestiegene Seele / Der Psalmensager / Der zerstörte Sabbat / Der Widersacher

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An den zwei hohen Festen, welche die furchtbaren Tage genannt werden, das sind die Feier des neuen Jahres und der Versöhnungstag, pflegte der Rabbi von Dynow, wenn er vor die Bundeslade trat, um zu beten, das grosse Gebetbuch des Meisters Lurja zu öffnen und vor sich auf den Ständer hinzulegen. So lag es offen vor ihm alle Zeit seines Betens, aber er blickte nicht hinein und rührte es nicht an, sondern liess es gross und offen daliegen im Angesicht der Lade und vor den Augen der Gemeinde, dass das starke unverblasste Schwarz der Lettern aus dem breiten, gelblichen Grunde weithin schlug, und er stand hochgestreckt in seiner Weihe davor wie der opfernde Hohepriester vor dem Altar. Also geschah es, und aller Augen mussten immer wieder darauf blicken; aber keiner von den Chassidim wagte es, davon zu sprechen. Einmal jedoch stärkten etliche ihr Herz und fragten den Rabbi: »Wenn unser Herr und Lehrer aus dem Buche des Meisters Lurja betet, warum sieht er nicht hinein von Seite zu Seite nach der Ordnung seines Betens, und wenn er nicht daraus betet, warum öffnet er es und warum liegt es vor ihm?« Da sprach der Rabbi zu ihnen: »Ich will euch erzählen, was sich in den Tagen des heiligen Baalschem, sein Andenken sei zum Segen, ereignet hat. In einem Dorf lebte ein Pächter mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn. Der Gutsherr war dem stillen Manne zugetan und gewährte ihm manche Vergünstigung. Dennoch kamen schlimme Jahre über ihn. Einer schlechten Ernte folgte im nächsten Sommer immer wieder eine schlechtere, und so stieg und schwoll die Not, bis die grauen Wogen über seinem Haupt zusammenschlugen. Er hatte jeder Mühe und jeder Entbehrung standgehalten; dem Elend konnte er nicht ins Auge schauen. Er fühlte sein Leben schwach und schwächer werden, und als sein Herz zuletzt stille stand, war es wie das Ersterben eines Pendelschlags, dessen stetes Leiserwerden man nicht wahrgenommen hat und dessen Aufhören über einen nun wie etwas Plötzliches gerät. Und wie seine Frau mit ihm durch das holde und das arge Schicksal gegangen war, so ging sie auch mit ihm hinaus. Als sein Grab bereitet war, konnte sie sich nicht länger zwingen, sie sah ihren kleinen Sohn an und konnte sich doch nicht zwingen, und so legte sie sich hin und redete sich vor, sie gehe nicht zum Tode, bis sie zu ihm kam. Der kleine Nachum war drei Jahre alt, als die Eltern starben. Sie waren aus der Ferne gekommen, und man wusste von keinen Verwandten. So nahm ihn der Gutsherr zu sich, dem der Knabe mit dem schmalen, aus den goldroten Locken blütenweiss hervorschimmernden Gesicht gar gut gefiel. Bald gewann er des Kindes zarte, fast traumhafte Art mehr und

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mehr lieb, und er zog es wie ein eigenes auf. So wuchs der Knabe heran in Licht und Freude und wurde in allem Wissen und in allen Künsten unterwiesen. Von seiner Eltern Art und Glauben wusste er nichts. Wohl verschwieg ihm der Gutsherr mit nichten, dass sein Vater und seine Mutter Juden gewesen waren; doch als er ihm davon sprach, fügte er hinzu: »Ich aber habe dich mir genommen, und nun bist du mein Sohn, und all das Meine ist dein«. Dies verstand Nachum wohl; das aber, was ihm von seinen Eltern gesagt worden war, das schien ihm jenen Geschichten zugehörig, die ihm die Mädchen von Waldteufeln, Nixen und buntem Elfenvolk erzählten: wunderbar war es ihm nur und unbegreiflich, dass er selbst mit solch einer Geschichte zu schaffen hatte, und er fühlte sich einem fernen Dunkel verbunden, das ein Grauen und eine Sehnsucht zu ihm entsandte, von dem er dergestalt zuzeiten wie von einer leichten, schwermütigen Welle seine Seele umfangen spürte und das ihm doch ewig fremd und ewig rätselvoll blieb. Eines Tages kam er unversehens in eine abgelegene Kammer des Hauses, in der allerlei Gerümpel übereinandergeschichtet lag, das seine Eltern einst hinterlassen hatten. Da waren seltsame Dinge, die er nicht kannte. Da war ein sonderbar gestaltloser weisser Mantel mit langen schwarzen Streifen. Da war ein gesticktes Stirntuch von prächtiger und doch stiller Art. Da war ein mächtiger, vielarmiger Leuchter verblassten Glanzes. Da war ein reich verästelter, in einer Krone zusammenwachsender Gewürzbehälter, um den noch ein letzter, dünner Duftnebel zu flattern schien. Und da war endlich ein grosses schweres Buch, in dunkelbraunen verschlissenen Sammet gebunden, die Ecken silberbeschlagen, mit silbernen Klammern. Das waren die Dinge, die seine Eltern nicht hatten aufgeben können, auch vor den Augen des letzten Elends nicht. Und nun stand er und sah darauf, und die Boten des Dunkels waren ihm näher als je. Dann nahm er das Buch und trug es scheu und vorsichtig, beide Arme fest darum gelegt, in sein Zimmer. Da löste er die Klammern und öffnete es ganz leise, und die breiten schwarzen Lettern starrten ihn an, fremd und doch nicht fremd, sahen ihn an wie eine Schar kleiner Kameraden, blickten zu ihm empor wie ein Reigen lieber feiner Gesellen, wirbelten vor ihm dahin, flogen durcheinander, zerflimmerten, – und siehe, da waren keine Lettern mehr, und das Buch war wie ein dunkler See, daraus schauten ihm zwei Augen entgegen, tränenlos, aber eines ewigen Schmerzes voll. Und Nachum wusste, dass dies das Buch war, aus dem seine Mutter gebetet hatte. Seither hielt er es tagüber verborgen, aber an jedem Abend holte er es aus dem Versteck, und beim Licht der Lampe, und lieber noch beim lebendigen Licht des Mondes sah er auf die

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fremden Lettern, bis sie sich zum Reigen einten und zum See zusammenflossen, daraus die Augen der Mutter hervortauchten. So kamen die Tage des Gerichtes heran, die Tage der Gnade, die furchtbaren Tage. Aus allen Dörfern zogen die Juden zur Stadt, um im Rauschen der Volksgemeinde vor Gott zu stehen, um ihre Schuld mit der Schuld der Tausende ihm darzubringen und in seinem Feuer aufgehen zu lassen. Nachum stand vor der Tür des Hauses und sah die Wagen vorübereilen, unzählig viele, sah Männer und Frauen darin in Festgewändern, und über allem war die Macht der Bereitschaft. Und ihm war, als seien all die Menschen Boten zu ihm, Boten des Dunkels nicht mehr, Boten der Sonne und des lichten Seelengrundes, und als enteilten sie ihm nur deshalb, weil er sie nicht anriefe. Und er rief einen an und fragte ihn: »Wohin fahret ihr, und was ist dies euch für eine Zeit?« Und jener sprach: »Wir fahren dem Tag der Erneuerung entgegen, dem Tag des Anfangs, da im Buch des Himmels geschrieben wird unsere Tat und unsere Lösung. Und wir fahren, um zu Gott zu reden in grosser Schar und unsere Stimmen zu binden zu e i n e m Gebete.« Der Knabe hörte das Wort; aber weit ausgespannt darüber flog ihm ein anderes Wort zu, ein grosses Rufen, das kam aus der Unendlichkeit zu ihm. Und von dieser Stunde an war das Rufen über ihm, brausend im Schweigen wie ein mächtiger Sturmwind, still im Lärm wie die Schwingen eines stillen Vogels. Und das Rufen erhellte das Dunkel, das ihm so lange die Welt umkleidet hatte, und das Grauen ging in der Sehnsucht auf, und die Sehnsucht war wie ein junges grünes Blatt in der Sonne. So wandelten die zehn Tage der Busse hin, und der Vortag des Versöhnungsfestes war da. Und wieder sah der Knabe die Juden aus den Dörfern die Strasse zur Stadt fahren; stumm und regungslos sassen sie da, und ihre Gesichter waren bleicher als vordem. Und wieder fragte Nachum einen von ihnen: »Was führt euch und wohin?« Und jener sprach: »Dies ist der Tag, auf den wir hofften und harrten, der Tag der Versöhnung, da unsere Schuld sich löst im Lichte des Herrn und er seine Kinder aufnimmt in die Heimat seiner Gnade.« Da lief der Knabe in seine Stube und nahm das Buch mit den silberbeschlagenen Ecken in die Arme und lief aus dem Haus auf die Strasse und lief, bis er in die Stadt kam. Und in der Stadt lenkte er seinen Schritt zum Bethaus, und er trat ein. Und als er eintrat, war es die Stunde, da das Kolnidre gesprochen ward, das Gebet der Lösung und der heiligen Freiheit. Und er sah die Scharen stehen, in den langen weissen Sterbegewändern, stehen und sich neigen und sich erheben vor Gott. Und er hörte sie aufschreien zu Gott, aufschreien aus allen verdeckten Tiefen zum Licht, aus allen Geheimnissen ihrer Seele zur Wahrheit. Und die Hand des Geistes war auf der Schulter des Knaben, und er

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stand und neigte sich und erhob sich vor Gott, und er schrie auf zu Gott. Und da er merkte, wie rings um ihn Worte schallten in einer fremden Sprache, und es über ihn kam, dass er nicht beten konnte wie die andern, nahm er das Buch der Mutter und legte es auf den Ständer und rief: »Herr der Welt! Ich weiss nicht was zu beten, ich weiss nicht was zu sagen – da hast du, Herr der Welt, das ganze Gebetbuch.« Und er legte den Kopf auf das offene Buch und weinte und unterredete sich mit Gott. Es war aber an jenem Tage, dass die Gebete der Gemeinde wie flügellahme Vögel am Boden flatterten und sich nicht emporschwingen konnten. Und das Haus war ihrer voll, schwer die Luft, trüb und verzagend der Sinn der Beter. Da kam das Wort des Knaben, das nahm die Gebete aller auf seine Fittiche und trug sie in Gottes Schoss. Der Baalschem aber sah und erkannte alle diese Dinge, und er sprach das Gebet in hoher Freude. Und als das Fest vorüber war, nahm er den Knaben zu sich und zog ihn heran und lehrte ihn den Sinn des Lebens und alle lautere und gesegnete Weisheit.« Also erzählte der Rabbi von Dynow seinen Frommen. Und er sprach: »Auch ich weiss nicht, was ich tun soll, und ich weiss nicht, wie viel, und wie ich die Absicht der heiligen Männer, der ersten Beter, aus deren Mund die Gebete sind, erfüllen kann. Darum nehme ich das Buch des Meisters Lurja, des Ehrwürdigen, und mische es auf, dass es vor mir liege zur Stunde des Gebetes, und gebe es Gott mit allem Willen der darin ist und aller Inbrunst und allem Sinne.«

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Einmal begab es sich – es war an dem vierten Tag der Woche, sagen sie, und um jene erste Stunde des Abends, da die Sonne uns eben entschwunden ist –, dass der Baalschem sein Haus verliess, eine Reise zu tun. Und keiner Seele, so Schüler nicht als Freund, heisst es, hatte er dazumal von seinem Weg gesprochen, so dass Ziel und Sinn jener Fahrt für alle die Seinen im Dunkel lagen, selbst für jene, die ihn begleiteten. Und auch dazumal fuhr er in einer knappen Stundenzahl eine grosse Strecke des Weges, wie es ja allen bekannt ist, dass dem Willen des Meisters Ort und Zeit nicht Fessel und Hindernis bedeuteten wie einem unter uns. Um Mitternacht – die Fahrt war dermassen eilig gegangen, dass die, so mit ihm waren, nicht Haus noch Baum am Wege unterschieden, – hielt der Baalschem in einem fremdem Dorf vor dem Haus eines Zollpächters und Herbergvaters an, die Stunden der Nacht, die ihm verblieben waren, dort zu ruhen. Es wies sich, dass der Wirt weder den Baalschem noch einen unter den Seinen kannte, wohl aber begierig war, wie es unter Leuten dieses Gewerbes kein Seltenes ist, zu wissen, wes Standes sein Gast wohl sei und zu welchem Ende er diese Reise unternehme. Indem er dem Meister und den andern einen späten Imbiss bot und ihnen zum Lager aufbreitete, gab sich Rede und Antwort, also dass der Baalschem dem Wirt auf dessen Anfrage zu wissen tat, er sei ein Prediger und habe vernommen, dass am Vorabend des kommenden Sabbats ein reicher und grosser Mann in Berlin Hochzeit halte, und zu der Zeit wolle er dort sein, um bei dem Fest seines Amtes zu tun. Als der Gastgeber das gehört hatte, hielt er ein Weilchen still und betreten an sich, ehe er sagte: »Herr, Ihr verhöhnet wohl meine Wissbegier! Kenne ich doch die Stadt Berlin reichlich hundert gute Meilen weit von hier! Wie wollt Ihr die Strecke in der Frist abtun, die Euch bleibt! Ja, wenn Ihr Pferd und Mann nicht schontet und Euch des Nachts nicht Rast gönntet, Ihr würdet etwa vermögen, zum andern Sabbat dort zu sein, nimmermehr aber an diesem.« Da lächelte der Baalschem ein kleines und bot ihm Antwort: »Sei um deswillen unbekümmert, Freund, meiner Pferde bin ich sicher. Sie haben schon manch gutes Stücklein für mich getan.« Der Baalschem legte sich mit den Seinen zur Ruhe nieder, der Wirt aber blieb die ganze Nacht auf seinem Bette wach, denn der fremde Mann und seine Sache dünkten ihm allzu wunderlich. Dazu verstand er, dass etwas an dem Manne war, was ihn nicht glauben lassen mochte, er sei ein Spassvogel oder gar ein Narr. Das Verlangen kam über ihn, das Ende dieses Dinges zu sehen. Und als er so um einen schicklichen und ehrbaren Vorwand sann, dem fremden Prediger sein Geleit zu bieten, fiel

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ihm manches Geschäft ein, das er in Berlin mit einigem Vorteil hätte abtun können. Da beschloss er, des Morgens mit dem Gaste darüber zu reden. Als der Meister mit seinen Leuten zu guter Zeit sich vom Lager erhoben hatte, trat der Wirt zu ihm und trug ihm seinen Wunsch vor, und der Baalschem war es gern zufrieden. Hingegen zeigte er nicht sonderliche Eile wegzukommen, sah sich auf mancherlei Weise geruhig im Hause um, sprach mit den Seinen eine gute Weile ein Gebet und hiess endlich den Wirt noch eine kräftige Mahlzeit bereiten. Die nahmen sie zu sich und verblieben dann noch in mannigfaltigem Gespräch, während der Wirt von innerer Unrast und Neubegier getrieben ab und zu ging und sich nicht Rast noch Deutung über dieses absonderliche Wesen wusste. Als der Tag wiederum niederging, befahl der Meister, den Wagen zu bereiten und die Pferde anzuspannen. Sie zogen von hinnen, und bald kam die Nacht über sie. Der Baalschem mit den Seinen sass schweigend. Dem Wirt war es bald seltsam und fremd in seinem Sinne, und es dünkte ihn, dieses sei eine Fahrt, deren gleichen er niemals noch eine getan. Nichts als das Dunkel war da. Zuweilen war es ihm, als rollten sie tief unter den Wegen der Menschen durch geheimnisreiche Gänge der Erde hin, und dann wieder schien ihm der Weg, den sie nahmen, so entfesselt von Schwere, so leicht und durchsichtig, als schwebten sie über allen Dünsten in den Lüften dahin. Sie begegneten keinem Laut, keinem Menschen, keinem Tier, keinem Ort. Der Wirt vermochte keinem Gedanken Halt zu gebieten, alles in ihm und um ihn schien sich in Flüchtigkeit aufgelöst zu haben. Plötzlich war es ihm, als würde die Luft um ihn dichter, die erste Helle brach an, er fühlte die Erschütterungen des Wagens auf dem Erdboden wieder unter sich, fernhin bellte ein Hund, ein Hahn krähte, eine Hütte lag seitab im Dämmer. Eine Weile fuhren sie so, der Morgen war klar, und als die letzten Dünste in der Sonne aufgingen, sah der Wirt vor sich eine grosse Stadt liegen. Nicht der vierte Teil einer Stunde ging um, da langten sie in Berlin an. Der Meister wählte eine bescheidene Herberge, die am Ende der Stadt stand, in jener Gegend, wo noch niedere Häuser fast ländlich in ihren Gärtchen lagen. Da liess er sich in einer Laube vor dem Haus mit seinen Schülern zum Morgenimbiss nieder. Als sie diesen eingenommen hatten, blieben sie im Gebet und in Gesprächen gelassen beisammen. Der fremde Wirt, der die Fahrt mit ihnen getan hatte, dachte der Worte des Predigers, dass er zur Hochzeit eines grossen Mannes nach Berlin reise und dass heute der Tag des Festes sei, und er konnte nicht verstehen, wie der Baalschem so ruhig sich hier verweile, statt sich den Gästen im Hause des

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Bräutigams zu gesellen. Noch tief befangen in dem Geschehnis der Nacht und doch schon gestachelt von der neuen Frage, lief er ab und zu, aber wenn er sich dem Meister näherte und sich anschickte, den Mund aufzutun, hob der Baalschem das helle Angesicht, und der Wirt schaute darin den heiteren Spott, mit dem jener über seine unruhige Seele in grosser Güte lächelte. Da verging ihm der Mut zur Frage, und er nahm Urlaub, sich ein wenig in der fremden Stadt umzutun. Er war noch nicht eine Stunde unterwegs, als er sah, dass allenthalben die Menschen beisammen standen, einander eine Neuigkeit mitzuteilen und sie zu besprechen. So trat er an einen heran und fragte bescheiden, was da wohl geschehen sei, dass die Leute ihrer Geschäfte vergässen und so in Aufregung umherstünden. Er bekam den Bescheid, dass im Haus eines reichen Juden, der eben heute habe Hochzeit halten sollen, am Morgen die Braut plötzlich dahingeschieden sei, nachdem sie noch bis zur Mitternacht mit aller Freudigkeit ihren Staat gerüstet und die Vorbereitungen zum Fest geleitet, den Rest der Nacht aber in friedvollem, gleichmässigem Schlafe verbracht hatte. Auch war sie keineswegs krank oder schwächlich gewesen, sondern als ein schönes und starkes junges Geschöpf allen bekannt. Der Wirt liess sich das Haus des Bräutigams weisen. Dort eingetreten, fand er die Festgäste in Trübsal und Verwirrung die Tote umstehen, die bleich, aber unentstellt auf ihrem Bette ruhte. Die Ärzte schienen sich noch um sie bemüht zu haben und nahmen eben ihren Abschied von dem Herrn des Hauses, indem sie mit etlicher Verlegenheit schonend vermeinten, dass nun doch tot bleiben müsse, wer tot sei. Der Bräutigam stand und schwieg, und sein Antlitz war vom Kummer wie von einem grauen spinnwebenen Schleier umsponnen. Der und jener unter den Gästen trat zu ihm und raunte ihm zu, was ihn trösten sollte, aber der Mann blieb stumm, als ob er nicht hörte. Da wagte es auch der Wirt und ging zu ihm und erzählte ihm, auf welche absonderliche Weise er heute Nacht so weiten Weg gekommen sei, mit dem fremdem Prediger, der zu seiner, des Bräutigams Hochzeit gewollt habe. Und er meinte, der Wundermann, der diese Fahrt vermochte, verstünde sich wohl auf mehr, was nicht gewöhnlich sei, und riet dem Herrn des Hauses, zu ihm zu gehen und ihm sein Leid zu vertrauen. Da wies es sich, dass der Trauernde ihn vernommen hatte, denn er griff nach seiner Hand und hielt sie fest und begehrte zur Herberge des Baalschem zu gehen. Er trat vor den Meister und sagte ihm alles von der schweren Begebenheit und entbot ihn an das Bett der Toten. Der Baalschem ging unverweilt mit ihm, trat an die entseelte Braut und schaute lange in ihr verschwiegenes Angesicht. Alle waren still geworden und warteten auf sein Wort. Er aber wandte

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sich von der Ruhenden und achtete keines und sprach mit unbewegter Stimme zu den Frauen: »Bereitet eilig der Toten das Sterbegewand und tut eure Bräuche gar schnell und ungesäumt.« Zum Bräutigam sagte er: »Entbiete rasch Männer, dass sie am Orte des Lebens, wo du die Toten deines Hauses zur Ruhe bringst, auch dieser eine Stätte bereiten.« Da sandte der Bräutigam hin und liess ein Grab aufwerfen. Der Meister aber sprach weiter: »Ich gehe mit euch dieser Toten zum Geleite. Ihr aber nehmet die Hochzeitsgewänder und den Schmuck, den sie sich selbst zum heutigen Tage erlesen hat, und bringet ihn zum Grabe.« Als alles bestellt war, legten sie die Leiche in einen offenen Schrein und trugen sie hinaus. Der Baalschem ging als erster dem Sarge nach, und ihm folgte vieles Volk mit zitternden Herzen und verhaltenem Atem. Vor dem Grabe befahl der Baalschem, die Tote im unbedeckten Sarge in die Grube zu legen, so dass ihr Angesicht frei gegen Himmel schaute und von allen gesehen werden konnte. Auch hiess er keine Erde auf sie werfen. Zwei Männern gab er Weisung, neben ihm zu stehen und seines Winkes gewärtig zu sein. Dann trat er zum offenen Grabe, lehnte sich auf seinen Stab und liess seine Augen auf dem Antlitz der Toten ruhen. So stand er unbeweglich, und die ihn ansahen, bemerkten, dass er gleichsam ohne Leben war, als ob die Seele ihm entwichen wäre oder er seinen Geist an einen andern Ort entsandt hätte. Alle umstanden in weitem Kreise das Grab. Der vierte Teil einer Stunde verging, da regte sich sein Gesicht, und er winkte den beiden Männern. Sie traten an das Grab und sahen, dass das Antlitz der Verschiedenen sich mit dem Hauche des Lebens gerötet hatte und dass der Atem aus ihrem Munde kam und ging. Der Baalschem gebot sie aus dem Grab zu heben, und so geschah es, und sie stand aufrecht und blickte um sich. Da trat der Meister zurück und befahl dem Bräutigam, er möge unverzüglich und schweigend die Braut in ihre Schleier kleiden lassen und zum Baldachin führen und des Geschehenen mit keinem Worte gedenken. Der Bräutigam aber bat den Meister, er möge es sein, der die Ehe segne. So führten sie die Verschleierte ins Haus unter den Baldachin. Als der Baalschem aber die Stimme erhob und den Ehesegen über das Paar sprach, riss die Braut sich die Schleier vom Gesichte, sah ihn an und rief: »Dieser ist der Mann, der mich losgesprochen hat.« Da fuhr der Baalschem auf und schrie sie an: »Schweige!« Die Braut verstummte und der Baalschem verliess das Haus. Später, als alle Hochzeitsgäste beim Mahl sassen und die Schatten der vergangenen Ereignisse zu weichen begannen, hub die Braut selbst an, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Bräutigam war bereits einmal vermählt gewesen, und als Witwer hatte er sie zur Frau begehrt. Das erste verstorbene Weib aber war ihre

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Tante gewesen und hatte sie als kleine Waise bei sich aufgenommen und gehegt und neben sich im Hause gross werden lassen. Da geschah es, dass die Frau krank wurde und ihr nimmer zu helfen war, und sie selbst verstand gar wohl, dass ihrer Zeit nun das Ende kam. Da legte es sich ihr schwer in den Sinn, dass, wenn sie ein Weilchen tot wäre, ihr Mann, der noch jung war, es wohl kaum werde lassen können, eine andere an ihre Stelle zu erheben. Und wie sie nachsann, begriff sie, dass es ihre junge Verwandte sein würde, die so wohl Bescheid wie sie selbst in heilen Tagen in allen Geschäften des grossen Hauses wusste und lieblich anzusehen ihm zu jeder Stunde des Tages vor Augen sein würde. Und weil sie selbst ihren Mann sehr geliebt hatte und bang um die kurze Frist war, die ihr an seiner Seite nur gegönnt gewesen, neidete sie das junge Wesen gar sehr. Und als sie ihre letzten Stunden verrinnen fühlte, rief sie die beiden an ihr Bett, die sie so vergehen sahen und sie liebten, und ihre Seelen flossen vor Trauer über. Und da nahm sie ihnen Versprechen und Handschlag ab, einander niemals zu nehmen. Den beiden, die um die Sterbende litten, dünkte das nicht schwer, und gern gaben sie es hin. Dann aber trug man die Tote hinweg, und ihr Platz war leer, und selbst ihr Schatten war aus den Räumen gewichen, und da waren nur noch die Lebenden und alles war Leben um sie her, und sie sahen sich ins Auge zu jeder Stunde und verstanden bald, dass sie einander dennoch nicht lassen konnten. Da brachen sie ihren Eid und gelobten sich einander an. Aber am Morgen der Hochzeit, als die Luft im Hause voll leichten freudigen Lebens schien und keiner der dunklen Tage dachte, da eine nun Tote hier leidvoll gehaust hatte, kam der Wille der verstorbenen Frau zurück an seine Stätte und heischte sein gebrochenes Recht und begehrte das lebende glückliche Weib zu töten. Als nun, der fremden Kraft zu Gebot, das Leben der Braut sich von ihrem Körper gelöst hatte und der starr und unbewegt lag, rang ihre Seele gewaltig mit der Seele der Toten um den Bräutigam. Als man sie zu Grabe trug aber, kamen ihrer beider Seelen vor die Entscheidung, und es war eine Menschenstimme über ihnen, die das Recht sprach, und sie rangen vor ihr um das Gericht. Und die Stimme sprach das Urteil: »Du Tote, die du keinen Teil mehr an der Erde hast, lass ab von ihr. Denn siehe, bei den Lebendigen ist das Recht. Es ist keine Schuld auf diesem Weib und dem Mann, der es begehrt. Sie mussten tun, was sie nicht wollten, um die Not ihrer Seele zu stillen.« Und da die Tote nicht nachliess, die Braut zu bedrängen, schrie die Stimme sie an: »Lass ab von ihr! Siehst du nicht, dass sie zur Hochzeit gehen muss? Der Baldachin wartet!« Da erwachte die Braut zum Leben, liess sich aus

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dem Grabe tragen und in ihre Schleier kleiden, und noch leise betäubt folgte sie den Frauen zum Baldachin. »Aber«, sprach sie zum Bräutigam und zu den Gästen, da sie ihre Erzählung vollendet hatte, »als der Prediger den Segen über uns sprach, erkannte ich die Stimme, die über mich das Recht gesprochen hatte.«

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Als der Leib des Baalschem sich im immerwährenden Feuer seiner Seele schon fast aufgezehrt hatte und er daran war, sein irdisch Kleid abzuwerfen, rief er alle Schüler zu sich. Er war auf sein letztes Lager hingestreckt, das er nimmer lassen sollte; den Kopf hatte er, ein weniges erhoben, in die linke Hand gestützt, und sein Antlitz war während der ganzen Zeit, da er sprach, voll den Seinen zugewandt. Es war schon gänzlich bleich und gleichsam entrückt, aber sein Blick ruhte fest und eindringlich auf dem, zu dem er sprach. Er sagte einem jeden aus der Schar, wie er sein künftiges Leben zu führen habe, welchem Geist er es anheimgeben solle, und achtete es nicht gering, den einzelnen Mann zu beraten, welcher Art sein Erwerb sein müsse, auf dass auch der Seele das Ihre beschieden werde. Manchem sagte er voraus, was die Zeit für ihn daherführen und welcher Gestalt sein Teil sein würde, das sie ihm auf ihrem Flug dereinst vor die Füsse fallen liesse. Unter seinen Schülern aber war einer, der ihm auch diente und stets um ihn blieb. Dessen Name war Rabbi Simeon. Ihn rief der Baalschem zuletzt und sprach zu ihm: »Freund, dir ist es vorgesehen, in der Welt umherzufahren und alle Orte heimzusuchen, wo Juden wohnen. Da wirst du in die Häuser gehen und Geschichten erzählen, von mir reden und mit ehrlichen Worten darstellen, was du all dein Lebtag bei mir gesehen und von mir erfahren hast. Und was die Menschen zum Lohn dir in die Hände legen für dein lebendiges Wort, davon soll dein Erwerb sein.« Da quoll dem Rabbi Simeon ein Unmut im Herzen auf. Wohl liebte er es, wie nichts sonst auf der Welt, vom Meister zu reden und dessen Worte mit den eigenen Lippen nachzuformen; aber wie mochte es ihm frommen, bettlergleich umherzuziehen, keines Hauses – auch des geringsten nicht – Herr zu sein, ein ewiger Wanderer zu Gast am fremden Herde? So brachte er es nicht über sich, zu schweigen, und musste sein Tröpfchen Bitterkeit und Kümmernis in des Herrn Sterben fliessen lassen, und er sagte halblaut: »Was wird der Sinn davon sein, unstet und flüchtig soll ich werden und der ärmste Pilgermann hiernieden.« Da tröstete ihn der Baalschem und redete ihm zu: »Dein Weg wird ein lichtes Ende haben, Freund, und auch ein irdisches Gut wirst du auf ihm finden.« Wie es dann alsbald geschah, dass der Meister sacht die letzten Fesseln löste und der Geist in das Ewige einging, waren die Schüler in Liebe bedacht, zu erfüllen, was der Wille des Baalschem über sie bestimmt hatte. Rabbi Simeon tat ein Wanderkleid an und zog von dannen und ging von Stadt zu Stadt, allen Juden die Geschichten vom heiligen Baalschem zu vermelden. Er gewann Ehre davon und hatte sein leichtes Auskommen.

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Und da er noch jung war und mit unbeschwertem Sinn die Augen schweifen lassen konnte, gewann er die schönen Wege sehr lieb, die über die bunte Erde führen, und im Hin- und Wiederziehen fühlte er keine Bangnis mehr. So waren zwei Jahre und ein halbes hingegangen, da traf er einen alten Mann, der aus Jerusalem kam, und der tat ihm zu wissen, dass in Italien in einer Stadt, deren Namen er ihm nannte, ein reicher Jude angesessen sei mit grossem Besitz, der in seinem Herzen eine erstaunliche Liebe trage zum heiligen Baalschem. Sein ganzer Sinn sei von ihm erfüllt, und all sein Trachten stehe darauf, vom Meister zu hören. Da meinte Rabbi Simeon bei sich, dieser Jude in Italien sei der rechte Mann, die wunderbaren Geschehnisse, von denen er zu sagen wusste, zu vernehmen. Waren doch seine Worte von dem Erhabenen über manchen törichten Sinn dahin- und an manchem leichtfertigen Ohr vorbeigezogen, so dass er wohl Lust spürte, vor einem wahren Lauscher, der ihm das Herz auftäte, zu erzählen. Er kaufte ein Pferd und rüstete sich zur Reise. Sieben Monate währte es, bis er zur Stadt des reichen Mannes kam, denn er musste an jedem Orte unterwegs so lange verweilen, bis er sich durch sein Erzählen in den Häusern das Geld zur Zehrung für einen neuen Teil seiner Fahrt erworben hatte. Sogleich nach seiner Ankunft in der Stadt ging er in das Haus eines Juden und fragte nach jenem Mann, der so grosse Ehrfurcht für den Baalschem hegen sollte. Da erzählten ihm die Leute, dass der Jude, den er nannte, vor etwa zehn Jahren als ein Fremder in die Stadt gekommen sei. Er habe schon damals unerhörten Reichtum mit sich getragen. Wenige Monate habe er hier geweilt, da sei der Letzte eines grossen, schier königlichen Geschlechtes gestorben; sein Palast und all sein umliegendes Gut sei an einen fernen Verwandten in Rom gefallen, der alsbald, da er sein angestammtes Haus nicht lassen wollte, den Wunsch aussprach, für all das hier möchte ein Käufer sich finden. Da nun sei der fremde Jude hingegangen und habe in purem Golde den grossen Kaufpreis erlegt. Und alle Juden des Landes seien es über alle Massen zufrieden, dass der fremde Mann so fürstengleich unter ihnen hause; denn es sei ein frommer und gütiger Segensgeist in ihm und über ihm. Auf dem Boden seines Besitzes habe er den Genossen einen herrlichen Tempel errichtet. Da trage seine Seele, die in einem ewigen niegesehenen Aufschwung zu Gottes Füssen liege, auch die Seelen der Lauen und Weltlichen mit sich nach oben. Am Sabbat sei sein Palast jedem ehrbaren Juden offen, in weiten Sälen stünden die Sabbattafeln im Kerzenschein, im Linnen- und Silberglanz, und seit dem Fall der heiligen Stadt sei der Tag des Herrn wohl nirgend und nimmer so strahlend und herrlich erlebt worden wie hier. Und bei jeder der drei Mahlzeiten des Sabbats lasse der Reiche je eine

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Geschichte vom heiligen Baalschem sich und seinen Gästen vortragen, und in Ehren werde jeder aufgenommen, der von dem Gnadenreichen zu sagen wisse. Auch sei der Lohn über alle Weise: am Tage nach dem Feste reiche ihn der grosse Jude selbst in wohlgeprägtem Gold dem Erzähler. Als Rabbi Simeon solches vernommen hatte, stärkte sich seine Seele in grosser Freude. Er entsandte nach dem Palast und liess da melden, ein Diener und Schüler des Heiligen sei in der Stadt angekommen. Sogleich kam der Haushofmeister, holte ihn ab und führte ihn unter mancher Ehrenbezeugung nach dem Schloss, wo ihm mehrere schöne und bequeme Räume zu seiner Wohnung angewiesen wurden. Indessen hatte es sich in der Stadt selbst, ja im ganzen umliegenden Land unter den jüdischen Leuten als seltene Kunde verbreitet, dass ein Schüler des Baalschem gekommen sei. Und am Sabbat drängten sich alle, die zu hören begierig waren, in so grosser Menge wie noch nie zu den Tischen des gastlichen Mannes. Als die Gesänge der ersten Sabbatmahlzeit unter den Säulen der Halle feierlich und innig erklungen waren, erhob der Hausherr das Antlitz und wandte es dem Rabbi Simeon zu, und der las darin eine tiefe Bitte und eine sehnsüchtige Erwartung. Der Grosse forderte ihn mit leiser und demütiger Stimme auf, wenn er ihn und sein Haus dessen für würdig erachte, von dem hohen Meister zum Trost der Seelen zu reden. Rabbi Simeon richtete sich in seinem Stuhle auf, legte die Arme auf die geschnitzte Lehne und öffnete den Mund, um in süssen und ehrfürchtigen Worten das Bild des wundersamen Herrn aus seiner Seele aufsteigen zu lassen. Und er war es gewöhnt, dass die Worte und Gleichnisse aus dem Leben des Baalschem wie von selbst aus seinen Lippen kamen, und dass sein Herz war wie ein volles Salbgefäss, bereit, bei jedem Gedenken an den Meister überzufliessen. Aber wie er nun da sass, gewärtig, dass die Rede sich ihm im Munde gestalten würde, stieg ihm plötzlich von innen eine Eiseskälte auf, das Wort gefror ihm auf den Lippen, er erstarrte und erbleichte; dann stürzte eine siedende Welle über ihn hin, er erglühte und errötete, und alles Besinnen wich von ihm. Wie hinter einem glutroten Schleier sah er viele Augen an seinem Munde hängen; er tat die Lippen auf, seinen eigenen Laut zu hören, aber er fühlte, dass er klanglos totgeboren blieb. Es peinigte ihn die stumme Forderung auf all den Gesichtern, die ihm unerbittlich zugewandt blieben; allenthalben sah er Gedanken des Zweifels und der Vieldeutigkeit wie kleine böse Geisterchen darüber hinschwirren. Da nahm er alle seine Kraft zusammen, um das Bild des toten Meisters vor seine Seele zu stellen, aber es blieb in ewigem Schatten und wollte nicht aufsteigen. Nun gedachte er der Stadt Miedzyborz, ihrer Häuser und Mauern und Gärten

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und all der kleinen Dinge, die ihm so vertraut waren, aber der Gedanke wandelte sich nicht zum Bilde und sein Herz blieb leer. Und nichts, nicht der kleinste Zufall, nicht die geringste Begebenheit war ihm gegenwärtig. Es war, als ob er, am selben Tag geboren, nichts von der Welt in seinem Sinne trüge. Tief verwirrt und beschämt brach er in Tränen aus und fühlte wie ein Feuermal brennend den Schmerz in seiner Seele, den die Missachtung, die nun offen auf allen Gesichtern stand, ihm zufügte. Sie mochten wohl glauben, er sei ein Betrüger, vom Geist der Lüge tückisch im Stiche gelassen, ein Falscher, der den Baalschem nie von Angesicht erschaut. Und er erlebte, wie die Leute voll Abscheu sich von ihm wandten. Nur der Hausherr sah ihn voll gütigen Verstehens und versonnen an, und er sagte: »Wir warten bis morgen. Vielleicht kommt dir dein Erinnern zurück.« Rabbi Simeon lag die ganze Nacht in Tränen und wartete, dass das Bild des Baalschem ihn heimsuchen würde. Aber er blieb verlassen, und sein Sinn war verödet. Als er bei der Sabbatmorgenmahlzeit erschien, wandten sich alle von ihm ab oder sahen über ihn hinweg, als ob der Raum, in dem er sich befand, eitel Luft wäre, und er spürte wohl, welch bittere Verachtung aller Herr geworden war. Der Hausherr aber sprach ihn wiederum an: »Vielleicht kannst du uns jetzt eine Geschichte erzählen.« Da redete Rabbi Simeon zu ihm und beschwor ihm, dass diese Nacht des Vergessens, in die sein Denken versunken war, kein leer und zufällig Ding sei, sondern sicherlich von einer überirdisch herrschenden Gewalt verhängt aus tiefem Grund und zu sinnvollem Ziel. Der reiche Mann antwortete: »Lasst uns warten bis zur dritten Mahlzeit.« Und Rabbi Simeon wurde auf seinem Angesicht eines stillen, demütigen und ergebenen Lächelns gewahr. Aber er war von Schmerz und Scham allzusehr heimgesucht, als dass er sich dessen in sich bedacht hätte. Auch bei der dritten Mahlzeit kehrte ihm die Erinnerung nicht wieder, und er litt in einem Abgrund der Qualen. Der Sinn der Gäste war gegen ihn ergrimmt, denn sie vermeinten, er habe sie mit falschen Worten verhöhnen wollen oder sein Herz sei noch mit unerforschten Ränken wider sie erfüllt. Sie sagten ihm spitze und beissende Reden und übergossen ihn mit Spott und schimpflichen Worten. Er aber wappnete sich in Liebe und nahm alles mit getreuem und unverzagtem Herzen entgegen, denn ganz in sich fühlte er nun, dass alles dies geschehen müsse, um ein wunderbares Ding zu erfüllen. Aber sein irdischer Verstand gab sich nicht zufrieden, wie sehr auch sein hohes Erkennen in sich ruhte. Er quälte sich gar sehr, seine Seele mit einer Erklärung des Geschehens zu stillen. So meinte er zuweilen, dass der Baalschem über ihn erzürnt sei, weil er die Heimat gelassen habe, um in ein ungewisses Land zu ziehen, oder dass er ihn um der

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Ursache willen, dass sein Sinnengrund nicht genug geläutert und erglüht sei, nicht mehr wert erachte, sein Leben zu erzählen. Und noch viel dergleichen ersann er sich, aber nichts drang so tief in sein Gemüt, dass es seine fragende Begierde erlöscht hätte. So waren seine Nöte ohne Ende, und er versank ins Gebet, ob ihm nicht aus dem Grunde der Andacht sein Heil entgegenschauen möchte. Am Sabbatausgang sandte sein Gastgeber ein letztes Mal zu ihm und liess ihn fragen, ob er sich nun entsinne. Aber Rabbi Simeon fühlte den hohen Sinn der Dinge nicht mehr, auch nicht die Inbrunst und Sehnsucht, die in der Frage war; er spürte nur noch die Bedrängnis, die man ihm antat, und die verdross ihn sehr, und er sprach: »Es liegt nicht in meiner Macht. Der Himmel ist es, der nicht will. Lasst mich nach Hause zurückkehren!« Da kam der Herr selbst zu ihm und sagte ihm: »Tue mir die Liebe an und verweile noch ein weniges, etwa bis zur Mitte der Woche, vielleicht dass uns von oben noch Erbarmen wird. Und entsinnst du dich auch dann nicht, so magst du scheiden und nach Hause zurückkehren.« Rabbi Simeon achtete der Worte des Mannes in seinem eigenen Gram nicht allzusehr. Er verstand nur, dass er bleiben sollte, und er willigte darein, weil er dem Herrn, der durch ihn enttäuscht worden war, zu Willen sein mochte. Die Zeit aber war bald dahin, und nichts hatte sich verändert. Rabbi Simeon nahm unter Tränen der Scham Urlaub. Der reiche Mann entliess ihn mit traurig gesenktem Auge und reichte ihm eine ansehnliche Gabe, die ihn für die weite Reise und die vielen Nöte entschädigen sollte. Auch gab er ihm einen bequemen Reisewagen und Diener mit, dass sie ihn bis an die Grenze des Landes brächten, von wo ab er sich wohl leichter allein mit seinem Pferde behälfe. Der Gast stieg hinab und setzte sich in den Wagen. Alles war bereit, der Kutscher trieb eben die Pferde an, da war es Rabbi Simeon, als führe ihm blitzgleich ein weisser zündender Lichtstrahl durch den Leib. Schmerz und Seligkeit waren in ein Gefühl gemengt. Und als er sich auf sich selbst zu besinnen vermochte, war es eine gewaltige Geschichte von dem heiligen Baalschem, die plötzlich urnahe mit Bildesklarheit ihm vor der Seele stand. Er gab sich eine Weile dem heftigen Entzücken hin, das ihn im Augenblick der Gnade überkommen hatte, dann hiess er den Kutscher den Wagen, der sich bereits einige Strassen von dem Palast entfernt hatte, wenden und kehrte zum Hause zurück, wo er einen Diener zum Herrn entsandte und ihm melden liess, Rabbi Simeon sei zurückgekehrt, da er sich einer herrlichen Geschichte von dem heiligen Meister entsonnen habe. Und der Herr empfing ihn – Rabbi Simeon aber, der nichts als seine Geschichte sah und fühlte, entging die zitternde Erwartung in seinen Mienen –, und er sprach: »Ich

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bitte dich, dass du dich zu mir setzest und mir die Begebenheit vermeldest, deren du dich zu dieser Stunde entsannest.« Rabbi Simeon aber erzählte ihm, was folgt: »Es begab sich einmal um die Zeit des ersten Frühjahrs, just vor den Tagen, in denen die Christen ihr Ostern feiern, dass der heilige Baalschem einen ganzen Sabbat in unsäglicher Betrübnis verbrachte. In tiefer Versunkenheit ging er in seinem Haus umher, bange, als ob seine Seele ihn verlassen hätte und zu irgend einem gefahrreichen, verhängnisschweren Kampfe gezogen wäre, und als erwartete er zitternd und der Zweifel voll ihre Wiederkehr. Nach der dritten Mahlzeit, die er schweigend eingenommen hatte, hiess er den Wagen bereiten und die Pferde einspannen. Seine Schwermut und sein Zagen hatten wie eine drohend gefärbte Wetterwolke über dem Haus und den Seinen gelagert; es war, als ob alle in einem innern Weinen aufgingen. Bei seinem Gebot, die Ausfahrt zu rüsten, aber zog ein freies Aufatmen erlösend durch den Raum, denn alle wussten, auf diesem Weg ins Land nach Sabbatausgang pflegte sich zu schlichten und zu befreien, was vorher an Bösem und Gefahrvollem sich angesammelt und zusammengeballt hatte. Diesesmal waren es nur drei unter den Seinen, denen er den Segen gönnte, an der Fahrt teilzuhaben, und ich war einer unter ihnen. Wir fuhren die ganze Nacht, und wie oft schon, kannte keiner von uns das Ziel der Fahrt. Als das Morgenlicht zögernd aufstieg, kamen wir in einer grossen Stadt an. Die Pferde mässigten ihren rasenden Lauf und hielten plötzlich, wie von einer gewaltigen Hand eingehalten, vor dem Tor eines grossen düsteren Hauses, dessen Seite in einer engen Gasse lag, während der Giebel einem breiten Platz zugekehrt schien. Das Tor aber war verschlossen, die Fenster von den Läden bedeckt, die ganze Gasse lag öde und verschwiegen da. Der Meister hiess mich absteigen und anpochen. Ich tat es und tat es eine geraume Zeit vergeblich, und schliesslich legte ich all mein Begehren nach Rast hinein, und die grauen, verschlossenen Häuser hallten von meinen Schlägen wieder. Da wurde eine kleine Tür, die in einem der riesigen Seitenflügel des Tores eingelassen war, von innen geöffnet. Vor uns stand eine alte Frau mit verstörtem Angesicht, daraus die geröteten Augen uns trübe und verzweifelt anstarrten. Sie betrachtete uns eine Weile, dann schrie sie plötzlich auf uns ein: »Was treibt euch, dass ihr gerade heute hierher kommen musstet! Ja, wisset ihr denn nicht, dass ihr auf dem Wege zur Schlachtbank seid?« Und da ich sie ohne Verständnis anblickte, denn mir schien, es sei uns eine Tolle in den Weg geraten, zog sie uns in den Torweg und sprach: »Nun sehe ich, dass ihr Fremde seid und mit dem Brauch unserer Stadt nicht vertraut. Der ist so: Sie haben seit etlichen Jahren hier einen Christen-

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bischof, einen stolzen, unbeugsamen Mann, der den Juden blutfeind ist. Der nun hat geboten, dass sie alle Juden, die sie am Tag vor ihrem Osterfest auf der Strasse finden, greifen und martern, um Rache für ihren Messias zu üben. Deshalb hüten wir uns an diesem Tag und bergen uns zuinnerst in den Häusern. Das wissen sie wohl, und nun wollen sie das Los werfen, wer von unserem Volk der Pein anheimfallen soll. Wehe ihm, er wird vergehen unter ihren Händen! Euch aber,« schrie sie und drängte uns zum Wagen, »euch, die ihr fremd hier seid, wird man nicht schonen! Ihr kennet nicht die Leute dieser Stadt, reissende Tiere sind sie, wenn ihr Blut entzündet wird! Eilet, eilet, suchet den nächsten Ort zu gewinnen und wartet dort das Ende dieses Unglückstages ab, ehe ihr hierherkommet, eure Geschäfte zu tun!« So schrie die Alte und goss ihren Schmerz über uns aus und hob die Hände und ballte sie gegen oben. Uns dreien, die wir den Meister geleitet hatten, wurde es dunkel im Herzen. Der Baalschem aber hatte ihrer keine Acht, schob sie beiseite, trat ein, hiess uns das Tor öffnen und Wagen und Pferde in den Ställen und unseren Bedarf, den wir mit uns führten, im Hause bergen. Er aber stand und schaute ruhig auf alles, was nach seinem Wort geschah. Dann hiess er uns Tor und Tür wieder schliessen, und wir standen in dem grossen dunklen Flur. Der Meister winkte uns und ging voran, die Treppe aus geschnitztem Holz um einige Stufen ersteigend. Er öffnete eine Tür, und wir traten in einen grossen, stattlichen Raum, der um ein weniges über die ebene Erde erhöht war. Ich stand eine Weile, ehe meine Augen das Zimmer übersahen, denn obwohl draussen inzwischen der helle Morgen heraufgestiegen war, lag das Gemach im Dunkel. Man hatte die Fensterläden geschlossen und überdies die schweren Vorhänge zusammengezogen. Nach einiger Umschau wurde ich gewahr, dass der Raum viele Menschen barg. Sie hatten sich lautlos, wie vor Schmerz und Angst der Besinnung ledig, in den Ecken und Winkeln versteckt. Es mochte wohl der ganze Hausstand hier versammelt sein. Indessen war uns die Alte vom Hausflur hereingefolgt, weinte und widerstritt in heftigen Worten dem Baalschem, dass er eingedrungen sei und am Ende damit gar das Unglück über ihr Haus herbeiziehe. Er antwortete ihr aber nicht, sondern durchmass die Stube mit grossen Schritten und hielt bei einem der Fenster, das von einem halbrunden Ausbau ins Freie ging. Er streckte gelassen die Hand aus und schob die Vorhänge zurück, hierauf öffnete er die Fenster und die hölzernen Läden dahinter und stand nun mit seiner ganzen Gestalt gegen den offenen Rahmen. Die Morgenhelle und eine klare Luft strömten herein. Die Alte wagte nicht mehr laut zu reden, aber sie bedrängte den Meister mit verzweiflungsvollen Geberden, dass er wieder schliessen

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und sich zurückziehen möge. Da er aber gar nicht auf sie sah, sank sie endlich schweigend neben den andern zu Boden. Das geöffnete Fenster aber, das uns nun den freien Blick gewährte, ging nicht in die enge Gasse, durch die wir angekommen waren, sondern auf jenen grossen Platz, dem die Giebelseite des Hauses angehörte. Inmitten sah ich eine Kirche aus weissem, edlem Gestein, die zwei schlanke, spitze Türme gegen oben sandte. Gerade unserem Fenster gegenüber, an der Aussenseite des Gemäuers, war eine Kanzel angebracht, wunderbar anzuschauen, wie ein geöffneter Blütenkelch. Sie war herrlich geziert mit erhabenem Bildwerk und goldenem Wandschmuck. Etwa dreissig steinerne Stufen führten zu ihrer Höhe. Als der Meister aufgetan hatte, waren noch wenige Menschen dagewesen, aber sie mehrten sich von einer Minute zur andern, sammelten sich und umstanden jetzt schon in gewaltiger Menge die Kanzel. Und alsdann dröhnten die Stimmen vieler Glocken über uns hin und machten die Luft in dem Zimmer erbeben. Draussen unter den Menschen wurde eine Bewegung bemerkbar, ein Schieben und Drängen, und dann wurde in der dunklen Menge eine breite lichte Strasse, und es erschien im prächtigen Aufzug mit Fahnen, Lichtern und Räucherwolken unter seinem silbernen Baldachin der Bischof. Nun war alles still geworden und wartete, der Bischof aber in seinem gleissenden brokatnen Gewand stieg die Stufen zur Kanzel hinan. Dort versank er anscheinend in ein stilles Beten, sich zur Predigt zu bereiten, und die ganze Menge kniete lautlos. Der Meister aber stand unentwegt in dem offenen Fenster und sah hinaus. Plötzlich sprach er mit heller Stimme in eben dieses lautlose Schweigen hinein: »Simeon, gehe hinaus und sage dem Bischof: Israel, der Sohn Eliesers, ist hier und lässt dich rufen.« Als die Leute, die mit uns im Zimmer waren, diese Worte hörten, kam eine wilde Angst über sie und liess sie selbst die Furcht vergessen, die sie vorher getrieben hatte, sich in den Ecken zu bergen. Sie fuhren insgesamt auf und umringten den Baalschem und schrien auf ihn ein. Ein alter Mann sagte ihm, bebend vor Zorn: »Wer bist du denn, Verruchter, der du einen jüdischen Mann zu dieser Stunde dem Henker in die Hände lieferst!« Und sie verfluchten ihn aus der Bitterkeit ihrer gefolterten Seelen. Er aber stand, als rührten ihre Worte ihm nicht an Ohr und Verständnis, sah mich bedeutsam an und sprach. »Geh, Simeon, geh schnell und fürchte dich nicht!« Und ich, der ich einen Gedanken lang gestanden und wider die Furcht in meinem Herzen gestritten hatte, erkannte nun meinen Herrn wie zuvor und ging ohne Zagen durch die Menge zur Kanzel, und keiner hat auch nur ein Wort gesprochen oder einen Finger an mein Gewand getan. Und ich schritt die Hälfte der Stufen hinan, bis ich innehielt und den Bischof

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in hebräischer Sprache anredete: »Der Baalschem ist hier in jenem Hause. Er lässt dich rufen, dass du zu ihm kommen mögest.« Da gab mir der Bischof in der gleichen Sprache Erwiderung: »Ich weiss von seiner Gegenwart. Sage deinem Herrn, dass ich sogleich nach der Predigt bei ihm erscheinen werde.« Und ich wandte mich und ging durch die Menge über den Platz und trat in das Haus. Die Leute aber, bei denen wir weilten, hatten in der Beängstigung ihrer Sinne sich an die verschlossenen Fenster geschlichen, um durch die Spalten auf den Platz zu blicken und zu sehen, was mit mir sich begeben würde. Und sie sahen, dass ich heil durch die Menge zur Kanzel kam, mit dem Bischof Zwiesprache hielt, wie mir geheissen ward, und ungefährdet wieder heimkehrte. Da fassten sie, dass es etwas Grosses um unseren Meister sein müsse, der dem Geist der Blutgier gebot, und als ich in das Zimmer trat, gewahrte ich sie meinen Herrn umringen und ihm Abbitte tun. Aber so wie er früher nichts um ihr Schelten gegeben hatte, so achtete er jetzt ihres Lobes nicht. Er hörte unbeirrt nur auf meine Botschaft, als seien er und ich allein im Hause. Als er mich vernommen hatte, lächelte er ein weniges und sprach zu mir: »Kehre um, geh noch einmal zur Kanzel und sage dem Bischof: ›Sei kein Narr und komme sogleich, denn es ruft und lädt dich der Mann Israel, der Sohn des Elieser‹.« Ich tat nach seinem Geheiss und schritt wieder zur Kanzel. Als ich auf den Platz trat, hatte der Bischof eben begonnen, zu predigen. Ich stieg hinan und zog ihn ein wenig an seinen Mantel, dass er meiner gewahr werde. Da hielt er inne und sah mich an, und ich wiederholte die Worte des Baalschem. Ich bemerkte, dass sein Angesicht sich bei meiner Rede verfärbte; dann wandte er sich zum Volk und sprach: »Habet für eine kleine Weile Geduld. Ich werde zurückkehren.« Er folgte mir über den Platz durch die Menge in seinen gold- und blumengestickten Gewändern, die hohe goldene Mütze auf dem Haupt, und also trat er in das Haus und trat vor meinen Meister, den heiligen Baalschem. Sie gingen beide in ein besonderes Zimmer, verschlossen die Tür hinter sich und verharrten so an die zwei Stunden. Dann trat der Baalschem allein heraus. Er war hoch aufgerichtet, und in seinen Augen leuchtete die Herrlichkeit Gottes. Er befahl uns, eilig Wagen und Pferde zu rüsten, und ohne Besinnen und Umschau fuhren wir von dannen. Ich weiss nicht, was zwischen dem Bischof und unserem Meister sich ereignet hat; auch den Namen der Stadt weiss ich bis heute nicht, denn der Baalschem hat ihn uns damals und später nicht kund getan. Ich weiss nur, dass es ein Grosses war, das der Heilige gewirkt hatte, als er aus jener verschlossenen Stube trat, denn der Geist des Herrn leuchtete gewaltig von seiner Stirne, und er war anzusehen wie ein Cherub aus den Heer-

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scharen. Nach seinem Tod habe ich versäumt, Nachfrage nach jener Begebenheit zu halten, denn ich hatte sie alsbald nach unserer Rückkehr völlig aus den Gedanken verloren, und heute erst, eben als ich dieses Haus verlassen hatte, entsann ich mich ihrer wieder.« Als Rabbi Simeon schwieg, stand der reiche Mann auf, sank wortlos in die Knie, streckte die Hände gegen oben, und Tränen stürzten aus seinen Augen nieder. Endlich rang sich ein Strom glühender Dankesworte von seinen Lippen, und er pries Gott mit unendlichem Lobe. Dann sprach er zu Rabbi Simeon: »Mein Freund, gesegnet sei dein Kommen, und gesegnet ein jedes deiner Worte. Ich weiss, dass die lautere Wahrheit aus deinem Munde kam. Ich will dir kundtun, was von der Begebenheit dir dunkel blieb. Wisse, dass ich jener Bischof bin, den du gerufen hast. Und wisse, dass ich dich erkannt habe, sowie du mein Haus betratest. Ich war einst ein Jude, erfüllt mit der wahren, wunderbaren Weisheit, und eine geheiligte Seele war mein eigen. Da gewann der Geist der bösen Mächte Gewalt über mich und beherrschte mich völlig, also dass ich vom Glauben abfiel. Und da meine Seele stark und fruchtbar blieb und voll des Feuers war, gewann ich bald hohes Ansehen unter den Gläubigen meines neuen Bekenntnisses. Ich nahm die Weihen ihrer Kirche, stieg immer höher in ihren Würden, und bald beherrschte ich als Bischof alle Seelen des Landes. Gross aber war mein Hass gegen mein einstiges Volk, und immer höher schwoll er an jedem neuen Tage. Denn wisse: in den Nächten, wenn meine Seele wehrlos war und vom bösen Geiste allen Gewalten preisgegeben, kam die Scham des Abtrünnigen zu mir und erwürgte mir alle Ruhe. Tags aber, wenn ich gewappnet war mit dem Schilde des Versuchers, nahm ich Rache für die Unrast meiner Nächte, und da schürte ich das böse Feuer und nährte alle Tücken in den Seelen meiner Gemeinde gegen die Kinder des Volkes, das ich verleugnet hatte. Ich hiess sie grausame Racheostern feiern und vergiftete den Juden alle Tage des Jahres mit bitterer Angst. Nun aber war es so, dass meine jüdischen Ahnen ein glaubensstolzes und ehrenhaftes Geschlecht darstellten, das ein grosses Verdienst vor dem Herrn aufwies, und manch einer von ihnen hatte mit dem Blute seines Herzens den hohen Bund besiegelt. Meine Missetat hatte den Frieden ihrer Ewigkeit gestört; im Schmerze versammelten sie sich und suchten den heiligen Baalschem heim und baten ihn, dass er sich meiner verfallenen Seele erbarme und zu meiner Lösung wirke. Da kam der Geist des Heiligen in nächtlichen Träumen zu mir und rang mit dem bösen Geiste, der mich besass. Sie waren beide gewaltige Kämpfer, und ich wurde zwischen ihnen hin- und hergerissen wie ein armseliges Blatt im feu-

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rigen Sturm. An jenem Sabbat der Juden aber, der dem christlichen Osterfest voranging, war der Geist des Heiligen Tag und Nacht mir zur Seite, und schon hatte er meinen Willen gewonnen, und in der Nacht beschloss ich, am Morgen zu fliehen, alles zu lassen und zu dem Volk meiner Kindheit wiederzukehren. Aber mit dem Tage stieg der Zweifel in mir auf, und als die Glocken nach mir riefen und die Menge wartend die Kirche umgab, die Diener mir die goldenen Gewänder auf die Schultern legten, da vermochte ich nicht, all dem Glanz auf Erden, all der Macht über den Menschensinn zu entsagen, und ich schritt hinan zur Kanzel. Da entsandte dich der Heilige, mich zu rufen. Ich aber wollte vorerst meine Predigt sprechen, denn an meinen eigenen Worten, am entzündeten Gemüt derer, die mich umringten, gedachte ich meinen Willen zu stärken, um dann vor dem Meister in meinem Trotz bestehen zu können. Du riefst zum zweiten, und siehe, da verliess mich aller Widerstand, und ich folgte, wie ein Kind in der Dämmerung dem Ruf der Mutter nachgeht. Ich kam zum Meister, und er rang um meine Seele und gewann sie. Er wies mir den Weg, wie ich mich von meiner Schuld erlösen könne, und ich wurde zum Büsser von dieser Stunde an. Vor dem König und vor allem Volke bekannte ich mein Verfehlen; dann zog ich aus dem Land. Ich kam hierher und verbrachte meine Jahre in der Läuterung meiner Seele und erwartete den göttlichen Losspruch. Denn wisse, der Baalschem hat mir verkündet: ›Wenn einst einer zu dir kommt aus fernem Land und dir deine Geschichte erzählt, deute es als das Zeichen der Befreiung aus den Ketten deiner Taten.‹ Und als du kamst und alles Geschehene deinem Gedanken entrückt war, da verstand ich, dass dies um meinetwillen sei, weil ich das Meine noch nicht vollbracht habe. Und ich versenkte mich aufs neue in die Tiefen der Hingabe. Nun aber, da du dich entsannest, weiss ich, dass mir geholfen ist. Du aber, mein Freund, wirst nun eine Stätte haben und nimmer flüchtig sein auf Erden: denn alles, was mein ist, will ich mit dir teilen, aus dessen Munde mir das Wort der Lösung kam.«

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Die niedergestiegene Seele

Es war unter den vielen kinderlosen Ehefrauen, die mit Bitten und Bedrängen um das Wunder zum Baalschem kamen, ein Weib, das regelmässig in bestimmten, kurzen Zeitfristen wiederkehrte, um zu seinen Füssen zu weinen und ihm den Mangel ihres Lebens still ans Herz zu fesseln. Von ihr kam kein lautes Heischen, kein gewaltsam überfliessendes Schluchzen und Begehren. Sie erschien und verschwand ohne viele Worte, doch mit einer stummen, stählernen Zähigkeit und einem hartnäckigen Brand in den Augen. Als der Baalschem sie zum erstenmal unter seinen Besuchern gesehen hatte, war sie ein lieblich jugendfrisches Geschöpf gewesen. In den Jahren aber, da sie in ihrer eindringlich schweigsamen Art oftmals wiedergekehrt war, wurde ihr Antlitz vergilbt und ihre Gestalt so hager, als sei alles hinweggebleicht und hinweggezehrt vom grossen Wunsch und von den vielen Wanderwegen, denn die Stadt, wo sie vermählt und behaust war, lag weit vom Wohnort des Meisters. Das war dem Heiligen wohl bekannt und griff ihm innig ans Herz. Als sie einstmals wieder das schmale, stille Haupt vor ihm beugte, die dunklen Augen von lautlos rieselnden Tränen benässt, flehend mit dieser einzigen, ehrfürchtigen Geberde, legte er ihr seine Hand auf den Scheitel und hielt eine lange Weile nachsinnend inne. Sein Auge sah weithin, wie das Auge eines, der aus einer dahingegangenen Ferne eine lange Reihe vergangener Bilder aufweckt. Dann atmete er tief auf, schaute auf sie nieder und sagte mild: »Geh heim, Weib, du wirst in Jahresfrist den Sohn gebären, auf den deine Seele hofft!« Das Weib ging also hinweg. Und sieben Jahresläufe wurde sie nimmer vom Meister ersehn. Darnach fand er sie eines Tages wieder mit einem herrlichen Knaben an der Hand unter der Schar derer, die ihn zum Fürsprech ihrer Seelen erkoren. »Meister,« sprach sie, »sieh hier das Kind, das mir nach deinem Worte geboren wurde. Dir bringe ich es dar, denn wisse, ich zittre um sein Wesen, das nicht aus meinem geboren scheint, wie sein Leib aus meinem Leibe. Und ich bin bange, dass sein Anblick und Besitz mein und meines Mannes geringen Sinn zur Hoffahrt verführen möchte.« Der Baalschem sah auf das Kind, und es war ihm, als hätte er niemals etwas so Anmutiges und Stolzes ersehen wie dieses kleine Geschöpf in seinem dürftigen Gewändchen. Auch das zarte Wesen schaute auf, aber keineswegs nach Kinderart, scheu oder zutraulich, vielmehr ernst und schwer senkte es seine Augen in die des Meisters ein. Es war wie ein Fragen darin oder ein schwermütiges Suchen. Der Baalschem hob das Kind hoch auf seine Arme und fragte das Weib: »Wie kann dein Herz es verwinden, ihn von dir zu lassen, um den du all die Jahre deiner Jugend mit Gott gerungen

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hast?« Da antwortete das Weib: »Herr, als der Knabe zum erstenmal seine Augen auftat und mich ansah, mit fremden Blicken wie von weither, da zog mein armes Herz sich zusammen in Staunen und Scheu, als ob er nicht meines Blutes wäre. Mit seinem fernen Auge hat er alsdann, als er grösser wurde, über unser kleines Haus hinweggesehn und über all unser Tun und ist mit uns gewesen gleich als ein Gast und nicht als unser einer. Ob er auch still und gut war und mir wenig Nöte mit seines Leibes Bedürfen antat, Meister, es ist ein ewiges Zuwarten und Aufhorchen in seinem kleinen Gesicht und ein ganz seltsames Wesen über ihm. Da sank uns gar bald der Mut, dieses Kind zu leiten und aufzuziehn, denn uns dünkt, wer ihm Führer sein will, der muss weiter sehen, als wir beiden armen Leute. Darum biete ich ihn dir!« Der Baalschem nickte schweigend und entliess die Frau, den Knaben aber nahm er unter sein Hausgesind auf. Und er gewährte ihm, heranzuwachsen, seinem Herzen allzeit nahe, und speiste seine Seele mit dem grossen, heiligen Feuer des eigenen Wesens. Er liebte ihn mit einer blühenden, reichen Liebe, wie man eines einzig teuren Freundes Kind hält. Der Knabe aber hing seinem Pfleger mit einer Treue an, die so brennend als ehrfürchtig war, und kannte kein seligeres Genügen, als mit dem Heiligen die Luft eines Raumes zu atmen und still geduldet jedes Wort seiner Rede aufzusaugen. Und derart war das Kind im Stand der hohen Gnade, dass es allen Staunen schuf, die es sahen, und in aller Herzen Gefallen gewann. Es waren viele unter den Reichen, die ihn gern ihrem Haus zur Ehre gewonnen hätten und willens waren, ihn einer Tochter zu vermählen. Und es schickte sich, dass sie dem Meister davon redeten. Der aber gab ihnen nur geringes Gehör und wehrte sie so leichthin lächelnd ab, wie man ein gänzlich Unmögliches abstreift. So gedieh in allen die Meinung, es sei dies darum, dass keine der Verbindungen ihm genug des Glanzes für den Pflegesohn verheisse. So gebot ihnen die Ehrfurcht vor dem Meister, ihren Wunsch zu vergessen. Da geschah es eines Tages, dass der Baalschem einen Vertrauten zu sich beschied und ihn in eine entfernte Stadt gehen und alldort einen Mann aufsuchen hiess, dessen Namen er ihm zu wissen tat. Diesem hiess er ihn ein Schreiben reichen, dass er in seine Hände legte. Der Bote ging wie ihm befohlen war und kam nach zweier Wochen Wanderschaft in den genannten Ort und forschte in den Häusern der Frommen nach dem Manne. Allein, es zeigte sich, dass keine Seele den Namen kannte. So ging Tag um Tag hin, und nichts wurde dem Suchenden kund, so dass sein Mut schon sank und Beschämung ihn befiel, als er eines Abends einem ältlichen, gebückten und armseligen Juden begegnete, der einen Korb frischer Gartenfrüchte feilbot. Da er ihn von ungefähr nach seinem

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Namen fragte, wies es sich, dass er es sein musste, dem das Schreiben des Baalschem bestimmt war. Da der Bote dies erkannt hatte, reichte er ihm den Brief, obgleich es ihm gar sonderbar erschien, was der Heilige diesem geringen und töricht aussehenden Manne so wichtiges mitzuteilen haben möchte. Allein alsbald zeigte sich, dass der Händler des Lesens keineswegs kundig war, und so eröffnete der Bote den Brief und las ihn ihm vor. Da war geschrieben, dass der Meister für seinen Pflegesohn des armen Mannes drittgeborene Tochter zum Weibe heische – es war ihr Name und Alter genannt –, und ferner, dass er willens sei, die Aussteuer und Hochzeit aus seinem Gute zu besorgen. Auch wolle er dem Vater fürder Beistand tun, falls es ihm an irgend einem Dinge mangle. »Bist du also zufrieden?« fragte der Bote den Alten. »Ach, Herr«, sagte der und lachte über sein ganzes vergrämtes Gesicht, »wie sollt ich es wohl zustande bringen, da unzufrieden zu sein? Hab ich nicht das Haus voller Töchter, die barfuss gehen und sich um den raren Bissen untereinander balgen? Und gar dies Kind, das der Erhabene seinem Knaben zum Weibe begehrt? Sie ist viel zu vornehm für meine Armut, geht und tut ihr Tagewerk, als ob sie im Traume wandle, und setzt ihre Rede, dass ich alter Einfältiger kaum weiss, was sie da sagt!« Des nächsten Tages brachen sie auf, zum Baalschem zu ziehen, der Bote und der alte Jude mit seinem Kind. Als sie im Haus des Meisters angelangt waren, gab er dem Vertrauten reichen Dank und Lohn, den Vater mit seiner Tochter aber nahm er liebreich auf und tat ihnen viel Güte an, dass sie in Freude und Heiterkeit auferstanden wie die Pflanzen am Morgenlicht. Alsbald bereitete sich das Haus zur Hochzeit. Das Segensgeleit aber sprach der Baalschem selbst über die jungen Leute. Als das Mahl seinem Ende zuging und alle, die um die blanken Tafeln sassen, freudigen und feierlichen Herzens waren, begann der Heilige, fast wie achtlos, nur zum Nächsten gewendet, und erzählte mit leiser Stimme eine Geschichte. An seinen Mienen jedoch und am Ernste seiner wunderbaren Augen erriet ein Jeder, dass dieses Ding, von dem er zu reden anhub, aus der Urquelle seines Wissens kam und an den Sinn dieses heiligen Tages rührte. So wurden sie aufhorchend stumm und unterliessen jegliche Hantierung, das Antlitz und das Wesen dem Meister zugewandt. Das Brautpaar aber fasste sich an den Händen und lauschte, wie in die eigene Seele hinein horchend, vom Geheimnis umfangen. Die Geschichte lautete also: Es herrschte einst ein weitgebietender König in einem fernen Lande, der war sehr traurig durch viele Jahre, denn sein Gemahl hatte ihm kein Kind geboren. Und da er nach seinem Hingang all seine hohe Macht und das Reich

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nicht seines eigenen Blutes Sprossen lassen konnte, starb ihm im Herzen der letzte Freudenfunke und der Anblick seiner Throngüter und seines Landes edle Friedensblüte machten ihn nimmer froh. Also sprach er von dieses Schattens nächtiger Düsterkeit über seinem einst strahlenden Leben mit einem grossen Magier jener Tage. Der hörte ihm wägend zu, lächelte böse und vielsagend und redete alsdann: »Mein Herr, es liegt ein jegliches Ding daran, dass wir die Oberen zwingen mit heftigem Ansturm der wünschenden Seele und mit nimmermattem Ringen, unserem Begehren nachzugeben. Es mag aber sein, dass du ermüdet bist ob deiner Schwermut. So harre ein kleines, ich will dir Helfer schaffen im Rufen und im Streit. Folge nur meinem Rat ohne Beginnen und lasse noch heute im Lande wissen, dass du es verhängest über das Volk der Juden, das unter deinem eingeborenen Volke haust, es möge solange verurteilt sein, seines Glaubens und seiner Sitten zu vergessen und ihrer nimmer zu pflegen bei Todesnot, bis der Himmel dir den Sohn und Erben deiner glorreichen Herrschaft gewährt.« Obzwar der König mit nichten begriff, wie es in der Meinung des Magiers um das bestellt war, was er dartat, und wie all dies mit einem Erben seines Blutes, den er also gewinnen sollte, zusammenhing, willigte er gleichwohl in den Vorschlag und liess die Kunde verbreiten rings in allen seinen Landen. Da erschrak ein jeglich jüdisches Herz in seiner schmerzlichsten Tiefe, und Scheu und Kummer krochen in die Seelen. Weil die Juden aber ihrem Glauben ergeben waren, liessen sie nicht von ihm, sondern dienten ihm wohl unter Zagen, aber in gleicher Treue wie ehedem, in dunklen Nächten und heimlichen Verliessen, in stählern gehüteter geheimnisvoller Gemeinschaft. Und so kam es, dass die Seelen, die des Tages in den Krallen jenes bitterbösen Tieres, das da Angst heisst, stumm und verschlossen waren, des nächtens, wenn ihnen niemand ihren Gott wehrte, aufstöhnten in hellem und loderndem Wehe, und wie Sturmwind gewaltig stiegen ihre vereinten Bitten auf, der Herr möge dem König das Kind senden, das sie aus knechtischer Schande und Bitterkeit befreie. Und so schaurig war ihr Schrei und so inbrünstig ihre Ausdauer, dass die Himmel von der Unruhe und dem Andrang erregt wurden und die heiligen Seelen, die unentwegt in der Freude Gottes bestehen, wieder irdisches Leid mitzufühlen begannen und mit erzitterten in dem grossen Jammerruf. Aber der Sinn des Allerhöchsten blieb also ruhevoll, als teile nicht der leiseste Seufzer einer Kreatur die seligen Lüfte. Da wurde eine der verklärten Seelen so gar wunderbar vom Gefühl des süssesten und brennendsten Mitleidens ergriffen, dass sie die Scham beiseite tat und herrlich glühend vor dem Thron des Ewigen erschien und bat: »Du, dessen Namen ich nicht nenne, lasse mich wiederkehren zur Erde, von der

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du mich erlöst hast, auf dass ich, dem König zum Sohn geboren, durch meine Einkehr in die Menschheit das Judenvolk freimache, das in seinem Jammer meine Seligkeit mit Weh verdunkelt.« Und der Herr gewährte es. Dem König wurde der Sohn geboren, nach dem sein Sinn verlangte. Allein in der völligen Beglückung vergass der König die Juden und unterliess es, ihre Not nach seinem Wort zu beenden, und es war keiner im Land, der ihr Fürsprech beim Herrscher geworden wäre. Das Kind aber war über alle Massen schön von Angesicht und liebreizend in seiner Seele und von frühen Jahren an dem sinnenden Ernst und der Weisheit hold. Es wies sich späterhin, als es zum Jüngling wurde, dass an seinem lauterklaren Geist die Lehren seiner Erzieher erbleichen mussten wie trügerisches Metall, und so kam der König in eine wahrhafte Not, wen er seinem Sohn zum Führer bestelle. Just in jenen Tagen jedoch war rings im Land viel des Aufhebens um einen alten Fremdling, der vor kurzem erst nach der Königsstadt gekommen und von dessen Herkunft wohl viel des Vermutens aber keine sichere Kunde war. Obzwar der greise Mann keinen suchte und den Markt und die Gassen mied, erzählte man sich doch vieles von seinem unerhörten Wissen und einer seltenen Macht seiner stolzen und gütigen Seele, die ihn da und dort, wo die Not es heischte, zum Berater und Helfer werden liessen. Auch sprach man viel von den eigentümlichen Gewohnheiten seines Lebens, die ganz und gar von jenen abweichen sollten, deren man in jenem Land und zu jenen Tagen pflegte. Das Ende all dieser Betrachtungen war, dass das Volk wähnte, er sei höheren Gewalten verbunden oder gar verschwistert, und grosse Ehrfurcht vor ihm gewann. Auch dem König wurde davon geredet, und es kam soweit, dass dieser in dem geheimnisreichen Mann den rechten Lehrer für seinen einzigen Sohn erblickte und ihn vor sich rufen liess und von ihm verlangte, dass er bei ihm wohne und den Königssohn erziehe. Der weise Mann war willens, das Begehren des Königs zu erfüllen, wenn ihm ein Bedingen, das er stellte, erfüllt würde. »Wisse,« sprach er, »dass im Kreislauf eines jeglichen Tages für mich Stunden kommen, da meine Seele meinen Leib verwaist und zum Firmament aufsteigt, einem ewigen Geheiss Folge zu leisten. In dieser Zeit ist mein Leib todesgleich und meine Sinne sind verschlossen, wer meiner gewahr wird, scheidet mein Wesen für immer und fällt mit mir dem Tod anheim. Darum willst du, dass ich in deinem Hause wohne, gebiete, dass zu jenen Stunden, in denen ich mein Gemach verschlossen halte, keiner bei mir eindringe, mit Gewalt nicht, noch mit List!« Das gelobte der König mit seiner Rechten und gab es allem Hausgesind wie seinem eigenen Sohn zu wissen, dass nach seinem Willen der Wunsch des Weisen zu achten sei bei eines jeden eigenem Leben.

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Der Königssohn gewann eine starke Liebe zu dem Alten und war ihm mehr zugetan denn seinem eigenen Vater. Nur dass der Lehrer ihm zu Zeiten gebot, ihn zu verlassen, tat ihm bittern Schmerz, und nach Art der Jugend setzte er dem Manne zu, mit Schmeicheln und Bitten, er möge ihn in jenen geheimen Augenblicken um sich dulden, ohne dass ihm jemals Gewähr ward. Da verbarg er sich eines Tages in einem Winkel des Gemachs, hinter einer Tür, die auf einen Söller führte, und harrte mit pochenden Pulsen. Als der Meister den Raum verriegelt hatte und nach einer Weile alles still wurde, trat er heraus und fand seinen Lehrer an einem Tisch sitzend über einem alten Buch, bekleidet mit dem Gebetmantel und mit den Gebetriemen gekrönt. Der Alte aber sah ihm voll Kummer und Schrecken schweigend ins Angesicht. Da wurde dem Jüngling recht wehe und er sprach: »Ich habe Euch mitnichten betrüben wollen, der ich Euch im Grunde meiner Seele getreu bin. Doch nun würdigt mich Eures Vertrauens und saget mir, welcher Art dies seltsame Gebaren ist, das ich an Euch bemerke.« Da erzählte der Alte, dass er, von Geburt und Abstammung ein Jude, durch das Gebot des Königs seines Glaubens verwiesen also zur Heimlichkeit verurteilt sei. Der Jüngling wurde begierig, etwas von den Gesetzen und vom Wesen dieses Glaubens zu erfahren. Der Lehrer tat ihm den Willen, da er ihm im Gemüte hold war. Alsbald gewann der Königssohn eine Neigung zu den heiligen Schriften, und der Lehrer unterwies ihn nun Tag für Tag in grossem Eifer und Geheimnis. Das alte wundermächtige und heldenhafte Leben, das aus den ehrwürdigen Zeichen aufstieg und in dem jungen Geist lebendig wurde, überkam den Knaben, und er fühlte, dass er alles dieses fürder nimmer in Verborgenheit gewinnen, sondern offen bekennen und erwählen müsse. Das sprach er seinem Lehrer aus. Der aber riet ihm, er möge, wenn dem also sei, Stand und Ehren und allen Glanz der Zukunft dahinwerfen und in der Stille nächtens mit ihm fliehen in ein fernes Land, wo sie unbekümmert und unangefochten der Lehre leben wollten. So war es der Jüngling zufrieden, und sie gingen hinweg, eilends, mit Schweigen und unter grosser Vorsicht, dass keiner ihres Weges gewahr wurde. Also kamen sie in ein Land, da das Judenvolk in Frieden seines Glaubens pflegte. Hier lebten sie mehrere Jahre in Abgeschiedenheit. Der Jüngling wurde unter der Leitung des Meisters und durch der eigenen Sehnsucht brennende Bestrebung ein Grosser in der Erkenntnis und ein Begnadeter der Mysterien. Darnach fügte es sich, dass ein heiliger Zaddik aus uraltem, erhabenem Geschlecht in jene Stadt kam, wo die Juden ihn in hohen Ehren empfingen. Auch der Königssohn und sein Lehrer eilten herbei, den Heiligen zu grüssen. Dabei begab es sich, dass der Jüngling durch seine edle Führung und die grosse Lauterkeit, die von ihm ausging,

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das Wohlgefallen des Zaddiks so sehr gewann, dass er ihm seine einzige Tochter zur Ehe bot. Als der Königssohn die Hochzeit beging, sprach er zu dem jungen Weibe: »Ich habe eine Bitte an dich, Teure, an diesem Tag: es ereignet sich zuweilen, dass in den Augenblicken der Erhebung mein Leib wie leblos darnieder liegt und einem Toten gleich sieht. Dann mögest du mit nichten dich dem Schmerz hingeben, noch Zeugen herbeirufen, dass sie mich etwa beleben, sondern gleichmütig und in Frieden die Zeit erwarten, da meine Seele freiwillig in den Bezirk des körperlichen Lebens zurückkehrt.« Das Weib, das so holden als tapferen Gemütes war, versprach dies wohl zu achten und tat es auch hinfürder, sowie die Umstände es geboten. Sie war dem Manne eine sanftmütige und glückliche Gesellin und die beiden weilten all ihre Zeit in liebreicher Gemeinschaft. Da ereignete es sich einstmals, dass der Gatte in eine ungewöhnlich tiefe Verzückung verfiel, in der sein Leib wahrlich totengleich verblieb. Die junge Frau ertrug den Anblick anfangs gefassten Mutes, alsdann aber, als die übliche Spanne Zeit verstrichen war, überkam sie eine betäubende Angst, sie wollte Menschen herbeirufen, entsann sich aber des Verbotes und sank alsdann still an der Seite des Leblosen in verzweifeltem Harren nieder. Nach langen Stunden zeigten sich an dem Körper des Entrückten die ersten Spuren der wiederkehrenden Belebung. Er richtete sich auf und kam langsam zur völligen Besinnung. Die Frau wollte ihn freudig grüssen, allein er erwiderte still und wehmütig ihre fröhlichen Worte, und es war ihr, als ob sein Blick mit einem zagenden, zarten Mitleiden auf ihr ruhe. Auch blieb er den ganzen Tag in sich gekehrt und versonnen. Des Abends fragte ihn die Frau mit liebevollem Drängen, was ihm das Herz belaste, er möge ihr nichts verschweigen. Da antwortete er ihr: »Wisse, Geliebte, dass mir heute, als ich in den ewigen Höhen weilte, eine bittere Kunde geworden ist. Um meiner Geburt willen und um der ersten Jahre meines Lebens, die ich in Gepränge und eitler Weltlichkeit am Königshofe gehalten wurde, ist mir ein höherer Aufstieg der Seele verwehrt, es sei denn, dass ich den Tod ergreife und dann wiedergeboren werde von einem armen, reinen und demütigen Weibe. Darum bitte ich dich, mein Liebling und mein Gemahl, dass du eines Sinnes mit mir seist, und mir, der voll Sehnsucht ist, gewährest dahinzugehen ohne Verzug.« Es sprach die Frau in leuchtender Liebe: »Ich bin es zufrieden, wenn du mich mit dir sterben lässt und wenn ich mit deiner Seele wiederum zur Erde kehre und alsdann in deinem verjüngten Leben aufs neue dir als Weib vereint werde.« Sie legten sich zum Todesschlaf selbander und gingen im gleichen Atemzug vereint dahin. Und es verging hier unten ein Mass der Zeit,

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indessen ihre Seelen ins Dunkel tauchten, da man die Zeit nimmer misst. Und dann kehrten sie wieder. Der Mann wurde von einer Demutsreichen in der Stille der Armut geboren, und das Weib sah in eines Dürftigen Hütte wieder ins irdische Licht. Und siehe, ihre Kindheit und die Jahre ihrer Jugend waren ein langes, ungewusstes Suchen nach dem Unbekannten, das ihnen im Grunde des Herzens schlief. Sie sahen über das Leben und ihre Nächsten hinaus mit fremden, irrenden Augen dem Gemahl ihrer Seele entgegen und waren nur zaghaft, weil sie, seit sie aus den Fluten des Vergessens aufgestiegen waren, nicht mehr wussten, was sie erwarteten. Und ihr, Freunde, ihr alle sollt wissen, dass sie sich gefunden haben und sich begegnet sind auf dem neu bestrahlten Wege ihrer Jugend, und dass sie hier Bräutigam und Braut mild vereint unter euch sitzen.« Da war ein grosses Bewegen in aller Herzen, als der Baalschem schwieg, und über aller Stirnen lag ein Glanz wie vom Begreifen aller Wandelgänge der Ewigkeit.

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Der Psalmensager

In einer Stadt unfern der Stadt des Baalschem lebte ein reicher Mann, der zu den stillen seltenen Zeiten seiner Einkehr in sich selber dem Dienste Gottes gar hold war, gemeinhin aber dem bunten Treiben und einer herzhaften Geselligkeit hingegeben die Güter seiner Seele brachliegen liess. Er hatte wohl oft von dem Heiligen gehört und wusste, dass alle Frommen ihn heimsuchten, doch mied er ihn von jeher, sei es, dass er eine Scheu vor ihm trug, sei es, dass er von jeglichem Tag mit irgend einer Last weltlichen Glückes beladen keinen Drang nach dem hellen Frieden des Meisters verspürte. Der Baalschem aber wusste um ihn und um sein Leben, wie um das aller Kreatur, und liebte ihn auf eine heimliche Weise aus der Ferne. Denn der sorglose Mann war im Grunde seines lärmenden Wesens von einer triebhaften grossen Güte, die, bisweilen vom Begehren nach der Lustbarkeit überwuchert, vom jäh aufwallenden Zorn verdunkelt, doch immer wieder kräftig hervorbrach und vielen Armen und Bedrängten ein bescheidenes Genügen im Schatten seines breiten, reichlichen Daseins gewährte. Als er einmal wiederum in sich schaute, fand er, dass er etwas für die Ehre Gottes tun müsse, und beschloss gesammelt und voll Demut, eine Thora schreiben zu lassen. Als die Stille aus seinem Herzen verflogen war, blieb wohl der Wille zurück, allein die Demut hatte ihn verlassen, und er begann die Ausführung auf seine Art mit vielem Prunk und Glanz. Ein berühmter und sehr kunstreicher Thoraschreiber wurde berufen. Dann liess der Reiche selbst die auserlesensten Tiere schlachten, verteilte ihr Fleisch unter die Armen, liess die Häute zu Pergament verarbeiten und auf sie die heiligen Bücher schreiben. Das Werk währte eine lange Zeit und war vollendet die Rede und das Staunen der Stadt. Der Besitzer hatte ihm eine kostbare Lade und eine Hülle aus edlem Stoff mit Zieraten aus Metall und Steinen bereiten lassen. Als alles fertig dastand, gab er der Stadt ein Fest. Nicht die Armen und nicht die Missgünstigen schloss er aus, sondern nahm alle in sein Haus auf zum Mahle, denn er wollte, dass sein stolzer Gottesdienst ein Freudenfeuer in allen Seelen entzünde. Es währte schon drei Tage, dass sein Haus sich zu jeder Stunde aufs neue mit Menschen füllte, die sich an die langen Tische setzten und assen und tranken, und seine Diener hatten all die Nächte sich des Schlafes erwehren müssen. Unter ihnen war einer, ein schlichter und redlicher Mann, der Psalmensager zubenannt, weil die heiligen Gesänge nicht aus seinem Munde wichen; er gesellte sie aller Arbeit, die er tat, und sagte sie auf eine schöne und seltsame Weise, nicht wie ein Buch der Schrift, son-

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dern wie die Klage eines Menschen, der leidet und Gottes Ohr an seinem Munde fühlt. Der Reiche kam oft leise herbei und hörte ihm zu, und sein Herz sang mit dem Singenden. Es war ihm, als töne in dem Lied des Mannes die Stille, die ihn selber so selten heimsuchte, und wie um ihr zu gehorchen, ehrte er ihn und hielt ihn niemals zu harter Arbeit. In den Tagen des Festes aber hatte der Psalmensager gleich den andern Knechten unablässig bei Tische aufwarten und den Gästen dienen müssen. Doch hatte ihn der Hausvater den Besuchern zugeteilt, die er vor allen wert hielt und in seiner eigenen Stube bewirtete. Da begab es sich am Abend des dritten Tages, dass die Gäste das Handwasser zum Segen der Waschung vor der Mahlzeit begehrten; sie riefen den Diener, und es wies sich, dass er nirgends zu finden war. Da ging der Herr selbst im Hause umher, ihn zu suchen, und fand ihn nach einiger Weile in einer der Bodenkammern in seinen Kleidern auf einem Bette schlummernd. Er rief ihn an, aber der andere war tief im Schlaf befangen und gab nicht Rede und Antwort. Da stieg dem Herrn der Grimm auf, er riss den Liegenden an den Schultern hoch und schrie ihm zu: »Geh zum schwarzen Jahr, du Psalmensager!« Der Diener sah dem reichen Mann mit starren Augen ins Gesicht. Dann sprach er: »Herr, Ihr wähnet schlecht, wenn Ihr glaubet, es sei da keiner, dem armen Psalmensager sein Recht zu schaffen.« Der Herr aber achtete seiner Worte gering und begab sich wieder zu seinen Gästen. Als er ein geringes später vom Saal auf den Flur des Hauses ging, um etwa Neuangekommene zu begrüssen, trat eben ein fremder Mann zum Tor herein, nach der Art eines Dieners im Gewande, der sprach ihn an und sagte: »Herr, mein Gebieter hat ein Ding mit Euch zu bereden, das ist von Wichtigkeit und mag keinen Aufschub leiden. Darum bittet er Euch, da ihn einiges abhält zu Euch zu kommen, Ihr möget die kleine Mühe nicht scheuen, in den Wagen zu steigen, der vor Eurer Tür steht. Der Weg ist kurz und die Pferde schnell, Eurer Zeit wird geringe Einbusse geschehen.« Der reiche Mann wunderte sich ob des fremden Dieners und ob der sonderbaren Sache, aber etwas lähmte sein Bedenken, verbot ihm die Frage und drängte ihn vorwärts. Im leichten Hausgewand stieg er in den Wagen, und das Gefährt bewegte sich eilends von hinnen. Der Mond schob sich gelb und wächsern den Himmel herauf, gross und noch nie erlebt. Nach einer Weile, die dem Mann nicht kurz noch lang schien, bemerkte er, dass der Hufschlag der Pferde verstummt war und der Wagen dennoch weiter raste. Es war kein Weg mehr, und rechts und links war nimmer, keine Luft um ihn, und nichts, dessen sein Erkennen sich hätte bemächtigen dürfen. In ihm war alles in ein Staunen gelöst, ohne

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Erwartung oder Angst. Er fühlte, er hatte den Schritt hinüber getan, und was gegolten hatte, galt nun nicht mehr. Da hielt der Wagen an. Er folgte einem Zwang, der so unfassbar als bestimmt war, und stieg aus. Im selben Augenblick gewahrte er, hinter sich blickend, dass der Wagen, dessen Tritt sein Fuss noch vor einer Sekunde berührt hatte, verschwunden war. Er stand in einem hochstämmigen Wald, dessen Bäume wie ragende Säulen aufschossen, schlank und glatt; die Kronen aber sah er nicht, weil sie zu hoch sich wölben mochten und weil ein milchweisser Nebel zwischen den Stämmen war, der ihm die Sicht benahm. Unter seinen Füssen war klirrender Frost. Ihn fror mit schneidendem Schmerz an allen Gliedern. Das zwang ihn vorwärts, schwieg auch sonst sein Wille und all sein Wesen, dem zumute war wie einem Kind, das diesen Augenblick in eine gar fremde Welt geboren wurde. Er ging und ging und es schien ihm, als ob in dem milchigen Dunst, der statt einer Luft war, Gesichter auftauchten, ein Wallen und Bewegen von Gestalten, nicht dichter als dieser Nebel selbst und völlig in ihn verschmolzen. Er wanderte durch all dies hindurch, und sein Gehen war ohne Mass und Vergleich wie vordem seine Fahrt, bis vor ihm in der Weite ein Licht aufstand, das, den Dunst durchstrahlend, ihn nach einem Ziele lockte. Dieses wies sich als ein Haus, verschleiert vom Nebel, und die Lichtquelle war die Tür, die offen stand und jene klare Helle ausströmen liess. Er ging heran, und da er auf der Schwelle stand, klärte sich der Nebel zu einer krystallenen Luft, die unbeweglich stand. Er trat in eine Stube, deren Decke aus starken Balken war und ganz altersbraun, aber Wand und Boden waren frisch und strahlend weiss. Die Stube war von einer süssheimlichen Wärme erfüllt. Sieben hohe Lichter brannten festlich in einem Ständer auf dem mächtigen Tisch und flammten starken Duft aus ihrer Leuchte. An den Wänden standen Stühle mit aufstrebenden Lehnen, alte dunkle Stühle, aber umfangend und gebieterisch fast wie Throne. Sonst gewahrte der Eingetretene nichts, als einen ungeheuren grünen schimmernden Ofen, der eine Ecke des Raumes füllte. Bang und wie traumbefangen trat er näher, wagte nicht Tisch noch Stuhl zu berühren, sondern barg sich hinter dem Ofen, zu warten, wer allda käme. Da sass er, und die gläserne Luft sang seltsam in seinen Ohren. Alsdann traten Drei in die Stube, je einer in kurzer Frist nach dem andern, und waren uralte Männer, gebeugt und dennoch so hoch, dass ihr Haupt an die Balken der Decke zu rühren schien. Haar und Bart wallten eisgrau und es war, als habe die Zeit sich in ihren Wellen verflochten. Hinter dem Schatten der weissen Wimpern barg das Auge Sonne und Blitz. Das Gewand der Drei war schlicht, Leinen und Fell, allein ihr We-

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sen war von solcher Art, dass der Mann hinter dem Ofen zur Stunde wusste, es habe der Vater- und Königsname vor diesen nimmer zu Recht bestanden. Sie grüssten einander mit grossem sanftem Grüssen mit der Erzväter Namen und liessen sich in die Stühle nieder und ruhten stumm wie nach langer Wanderung. Indes sie sassen, trat ein Vierter ein, der war nicht so alt und nicht so gross, doch mit des Herrschers Gewand und Geberden angetan. Er neigte sich, wie ein Enkel sich ehrfürchtig dem Ahnen neigt, und sie grüssten ihn mit Davids, des Königs, Namen. Und er erhob seine Stimme, und es war, als ob die Luft vor ihrem Grimm erbebte, und die Lichter schienen einen Augenblick lang zu versprühen, als er sagte: »Einen Rechtsstreit, o Väter, habe ich wider den Mann, der hinter dem Ofen sitzt!« Dem Verborgenen rissen die Worte die Brust auf, als dränge ein Schwert in sie, und seines eigenen Herzens Schläge empörten sich wider ihn: über ihm stand nichts mehr denn das Grauen. Die Väter aber hoben die Häupter zu lauschen. Da, so fühlte der Mann, tat sich zwischen Geschehen und Geschehen ein Abgrund auf, und ein ungeheures Rad stand irgendwo stille. Der König sprach: »Der sich hier verborgen hält, hat der Unbill eines Atemzuges wegen mit der Verwünschung seines Mundes über einen wehrlosen Knecht die letzten Greuel geschleudert. Und dieweil der Knecht mein Diener war vor allen und auf seinem Munde mein Lied nicht erstarb, bin ich aufgestanden zu seiner Hut und heische hier sein Recht, und dass der es beugte des Todes sei um seines Frevels willen.« Dem Reichen in seinem Versteck war, als ob sein Blutkreis allbereits stocke über dem Königswort; und grösser als alle erdgeborene Angst war seine Angst und Not. Er hob das Auge, dass es ihm den letzten Blick gönne, da sah er jenseits des Tisches einen Mann stehen und erkannte ihn als einen, dem er im Leben zuweilen von ferne begegnet war und den sie den Wundertäter und den Meister des Namens genannt hatten. Der Mann aber stand dem König aufs Haar gegenüber und trug das Haupt hoch und in seinen Augen war ein Blitzen wie von blauem Stahl. Und er fing des Königs letztes Wort auf, da es noch die Luft schnitt, und erhob seine Stimme wider ihn und sprach, indes die Väter mit stummem Haupteswenden gross und vertraut zu ihm herüberschauten: »Bruder David, kommst von den Himmeln, und ist mir doch, als sässest noch auf deinem Throne zu Jerusalem! Willst ein Böses mit Böserem tilgen, willst ein geringes Weh mit unleidlichem Weh stillen, willst ohnmächtige Rache reinigen mit zündender Rache?« Da antwortete ihm der König, und sein Wort flog wie ein Felsblock, geschnellt von Gipfel zu Gipfel: »Du spotte mir nicht, Bruder! Ich bin nicht um Rache gierig, es ist um

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Strafe und Gerechtigkeit! Oder ist dies deine Meinung, dass der getreue Knecht getreten werde und sein Peiniger stolz und straflos verharre?« Aber die Stimme des Baalschem stand auf und war gewachsen im Schweigen wie eines Erzengels Stimme, die die Ewigkeit geschmiedet hat im Funkeln der Elemente. Und er sprach also: »Bruder und König, siehe, es ist ein Fremdling bei mir zu Gast, und hat des jungen Hirten weiss-rotes Angesicht und blanke Augen, und lasten gleichwohl Binde und Reif auf seiner Stirn, die ohne Schatten ist – König, eines Königs Seele ist mit mir. Sie kam zu mir, als ich durch des Weibes Leib dieses neue Mal zum Leben wiederkehrte. Und in Stunden der Nacht, wisse, redet sie, geschmiegt an meines Ohres Wurzel, und ist ganz scheu und ist mir ganz vertraut. Und redet aus Urtiefen, aus Schmerzensabgrund: ›Ich habe bei ihm gestanden, als er zum Treuen sprach: ‚Geh hinab zu deinem Hause‘, und habe vernommen, als er am andern Tag zu ihm sprach: ‚Warum bist du nicht gangen zu deinem Hause?‘ und war mit ihm am Tag, der nach diesem kam, da er den Brief schrieb: ‚Stellet ihn vor den Streit, da er am härtesten ist, und wendet euch hinter ihm ab, dass er erschlagen werde und sterbe!‘ Zu der Stunde habe ich mich von ihm gehoben mit Blut und Schmerzen, und bin wund von der Stunde an!‹« Da hob David die Stirn unter dem Reif, und Stirn und Krone glänzten, und er sprach, und ein tiefer Strom lief unter seiner Stimme hin: »Ich bin in des Ungeheuers Rachen zutiefst getaucht und bin ans Licht gestiegen, und meines Mantels Saum war schwarz und klebte von geronnenem Blut, und ich habe mein Lied mit mir heraufgetragen. Denn mein Lied ist mir geboren aus Sünde und Befleckung, und ist aufgestiegen, und war Friede zwischen Ihm und mir.« Nach diesen Worten des Königs geschah es, dass das Schweigen vom Boden aufstand und zwischen die beiden trat. Da stand es ragend zwischen beiden und sah zu ihnen nieder. Und unter seinem Blick wandelte sich das Antlitz des Baalschem. Geheimnisse und Klarheiten glitten darüber und es war zu schauen, wie wenn das Firmament seine Landschaft mählich entschleiert und hinter den Wolken öffnet sich der krystallene Plan. Alsdann redete der Baalschem, und auch seine Stimme war gewandelt: »Dein Lied ist die diamantene Brücke, die hinaufführt aus dem Kessel der Verworfenheit an Gottes Herz. Und wenn es im Ohr des Sündigsten erklingt, ist es eine goldene Kette und bindet ihn an Gottes Hand. Und wenn es in einer Nacht aus der Brust des Unholds aufstöhnt, ist es ein Engel und trägt ihn über die Sphären und bettet ihn in Gottes Schoss. Als dein Lied mich an der Hand nahm, vergass ich die Gerechtigkeit, und als es mir zulächelte, entschwand mir alles Gegenüber.«

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Da beugte der König sein Haupt vor dem Meister, und aus dem Zeitlosen rauschte eine grosse Bewegung empor, wie wenn ein Geheimnis sich erfüllt und untergeht. Dem Mann hinter dem Ofen fuhr ein weisser Strahl über die Augen. Er stand in seinem Haus und hielt die Klinke seiner Stubentür. Da waren die Gäste und wuschen ihre Hände vor der Abendmahlzeit.

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Der zerstörte Sabbat

Wie in jeder Woche fuhr der Baalschem damals bei Sabbatausgang aus der Stadt, und mit ihm waren die drei seiner Schüler, die die drei Davide genannt wurden, nämlich Rabbi David von Nikolajew, Rabbi David Pirkes und Rabbi David Leikes, und der Diener Aleksa, der die Pferde lenkte. Und gemeiniglich war es so, dass der Meister Richtung und Schnelligkeit der Fahrt ohne alle Rede mit seinem Willen bestimmte, und der Diener Aleksa mochte seinen Rücken den Pferden zuwenden, sie brachten den Wagen zur gewünschten Zeit an die gewünschte Stelle. Diesmal aber fühlte der Baalschem, wie sein Wille ohnmächtig war dem starken Zug der Tiere gegenüber, und er sah, wie sie den Wagen einem unbekannten Ziel zuführten und keinen Befehl des erschrockenen Kutschers annahmen. Da wollte er umkehren und rief es laut und fasste selbst die Zügel, aber er hatte keine Macht über die Pferde, und sie liefen, dem Geheiss seiner Hand entgegen, in scharfem Trabe weiter, wohin der unsichtbare Zwang sie trieb. So kamen sie in eine Wildnis und zogen den Wagen hinein, bis ringsum kein Pfad und kein Ausblick war, und irrten nun in knappem, gleichmässigem Schritt in der Wildnis umher. Dies währte drei Tage, und der Baalschem trug es wie ein Verhängnis, gegen das keine Menschenseele zu murren wagen kann, aber die Schüler sassen betäubt und elend da, und der Diener Aleksa gebärdete sich wie toll, als ob er nie noch mit seinem Herrn Wundersames und Furchtbares erfahren hätte. Nach den drei Tagen aber kam ein neuer Trieb in die Pferde, und sie rannten aus der Wildnis in einen darangrenzenden Wald und zerrten den Wagen in das tiefste Dickicht hinein. Da blieben sie stehen und wieherten behaglich, als wären sie in den Stall zurückgekehrt und hätten das schönste Futter vor sich. Die im Wagen aber konnten nicht mehr scheiden zwischen Tag und Nacht. Sie nährten sich kümmerlich von den geringen Vorräten, die sie mitgenommen hatten, und kein Schlaf kam über sie, so überstark hielt die Bangigkeit ihre Herzen umfangen. So vergingen Stunden und wieder Stunden. Aber eine kam, da erkannte der Baalschem an der siebenfachen Traurigkeit, die in seine Sinne drang, dass der Vortag des Sabbats herangebrochen war, und er wusste nicht, wie er mit seinen Schülern den hohen Tag empfangen und ehren könnte. Da drang die Traurigkeit von seinen Sinnen in seine innere Einsicht, und er fühlte, wie ein schwellendes Wasser über all seine Weisheit hinströmte und sie verschlang. In der tiefen Not sass er da und schaute vor sich hin und spürte eine trostlose Ermüdung sich über alle seine Glieder hinziehen und verfiel endlich in einen schweren, stumpfen Schlaf. Da kam eine Hoffnung in die Seele der Schüler, denn sie wussten die Heiligkeit, die

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um den Schlummer ihres Meisters allezeit webte, und wie ihm, was im Wachen düster und verworren erschien, im Traum sich klärte, und wie da aus aller Trübe die reine Gestalt der Wahrheit sich in strahlender Erscheinung hob; denn der Mund der Dinge suchte das Ohr des Meisters, wenn er mit geschlossenen Aussensinnen lag und sein Geist sich dem inneren Worte eröffnete. Aber der Baalschem erwachte in einer dumpfen und ruhelosen Weise, und die Starrheit, die auf ihm lag, war fast zur Lähmung gewachsen. Dies war der Augenblick, da die Verzweiflung aus dem Wasser oder aus der Mauer oder aus den Wolken hervorkriecht und den Menschen ansieht. Schon züngelte sie heran, schon suchte ihr roter Blick den, der der Herr der Geheimnisse gewesen war und nun vom letzten Wissen verlassen sass; da reckte er sich auf und hob den Arm und deutete mit zitterndem Finger in die Ferne. Siehe, da war ein Licht in der Ferne, ein kleines, schwankendes Licht hinter tiefem Gestrüpp. So liessen sie den Wagen und gingen mühevoll dem Lichte zu, und allgemach erleuchtete sich ihnen das Angesicht der Erde, und die ewige Sonne stand über ihren Häuptern, und sie sprachen: »Gesegnet sei der Herr, und gesegnet sei sein Name!« Im Lichte aber sahen sie in der Ferne ein kleines Haus, das lag wie ein matter grauer Fleck mitten in dem dunkeln Grün des Waldes. Sie gingen auf das Haus zu. Vor der Tür stand ein riesenhafter, stiernackiger Mann, gekleidet nach der Art jener Leichtfertigen, die die gute Sitte der Väter verachten, mit rotgelbem, struppigem Haar und ungeschlachten, baren Füssen; auch waren die Schaufäden des Gesetzes an seinem Gewande nicht zu sehen. Er stemmte die Fäuste in die Seiten, sah die Herankommenden hohnvoll an und schwieg. Sie verneigten sich vor ihm und fragten: »Ist es gewährt, dass wir den heiligen Sabbat in Eurem Hause feiern?« Da schrie er sie mit greller Stimme an: »Ich will euch nicht und leide es nicht, dass ihr über meine Schwelle tretet. Kenne ich euch nicht? Euer Gesicht redet von euch. Chassidim seid ihr, tragt eure Frömmigkeit zu Markt und predigt auf den Gassen. Geht, mein Nacken ist Erz gegen eure nichtigen Worte. Ich hasse euch, euch alle hasse ich von gestern und ehegestern und von je her. Mein Vater hat euch gehasst und mein Grossvater, meinem ganzen Hause seid ihr verhasst. Darum geht eilend von hinnen, denn ich will euer Gesicht nicht mehr sehen.« Sie aber trugen seine Worte in Schweigen und fragten nur: »So wollet uns sagen, ob es in der Nähe andere Wohnstätten gibt, dahin wir uns wenden könnten, um den heiligen Sabbat zu feiern.« Da lachte der Mann hoch auf und rief in grimmigem Lachen: »Wieviel Zeit ihr gebraucht habt, um hierherzukommen, so viel Zeit und mehr braucht ihr, bis ihr an einen anderen Menschenort kommet.« Als er dies gesagt hatte und in der gleichen Weise weiter und weiter lachte, als könne er

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nimmer aufhören, wollte ihnen der neue Mut, der zu ihnen gekommen war, schier wieder entschwinden. Aber Rabbi David Pirkes, der jüngste der Davide, der sonst nie ein Wort sagte, sondern in der Schar der Schüler schweigsam und versonnen zu sitzen pflegte, trat hervor und sprach zu dem Mann, gar leise und friedfertig: »Es mag sein, dass dieses und jenes in deinem Sinne wider uns redet. Aber ist es wahrhaft so, dass du in deinem Willen trägst, uns in die Wildnis hinauszustossen? Sieh, der Sabbat ist dein und unser Heiligtum, und wenn wir uns in ihm ergehen, müssen wir irgendwo und irgendwann auch deinen Schritten begegnen. Willst du den Sabbat der Zukunft verderben? Sieh, der Herr ist dein und unser Gott, und wenn du deinem Rasen gebietest und erschweigst und deine Seele zurückrufst im Schweigen, wirst du es verspüren, wie in diesem Augenblick er dich anschaut aus dem Herzen der Welt.« Da war der Mann still und sah von einem zum andern, ohne zu sprechen. Aber Rabbi David von Nikolajew, der älteste der Davide, der sich wohlbewandert glaubte in dem Treiben des Menschengemütes und auf den Wegen der heimlichen Menschenabsicht, sprach: »Bedenke auch, dass wir kein Geschenk begehren. Vielmehr wollen wir dir zahlen, wieviel du auch fordern magst, und sei es das Zehnfache dessen, was allerorten üblich ist.« Der Mann jedoch sah mit verächtlichem Lächeln über ihn hinweg und wandte sich zu dem Jüngsten und sagte in einem brummigen und unwirschen Ton: »So sei es. Aber glaubet nicht, dass ihr mir in mein Haus euren Sabbat bringen dürfet. Hier herrscht mein Brauch und mein Gesetz allein. Daher merket auf, was ich über euch verfüge. Fürs erste weiß ich wohl, ihr bringt viel Zeit damit zu, euch zum Gebet zu bereiten, und achtet nicht, wie weit es im Tag sei, und wartet, dass die Gnade euch erfasse. Aber hier gilt das Dasitzen und Ausschauen nicht, ich bete ab, was zu beten ist, und dann gehe ich ans Essen, denn ich bedarf vieler Speise und muss oft und schnell meinem Hunger Genüge tun. Fürs zweite kenne ich eure Art, zu beten, wie ihr schreit und tobt und einer lauter als der andere zu Gott reden will. Aber hier ist kein Raum für den Lärm eurer Verzückungen, und ich werde mich und meine Leute von euch nicht belästigen lassen. Fürs dritte liebt ihr es, an dem Mahl zu mäkeln und wie rechte Narren des langen zu erwägen, ob dies und jenes für euch Chassidim rein sei; das soll euch hier nicht beifallen.« Solch Verkennen und Entstellen der heiligen Sitten und das Verbot, dass sie nicht geübt werden sollten, war dem Baalschem und den Seinen eine harte Schickung, aber sie hatten keinen Weg vor sich als diesen, und so stimmten sie zu und versprachen, sich in alles zu fügen. Da hiess er sie eintreten. Sie kamen in eine enge und kahle Stube. Als sie sich eine Weile auf den Boden ausgestreckt und von der schwersten Müdigkeit befreit hatten, fragte

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der Baalschem, ob in der Nähe sich ein Bach oder ein Wasserbehälter befinde, wo sie ein Tauchbad nehmen könnten zu Ehren des Sabbats. Da geriet jener von neuem in Wut und schrie: »Habe ich es mir doch gleich gedacht, dass ihr ein elendes Diebsgesindel seid! Ihr wollt nur herumspähen, wo ich mein Gut verwahre. Wahrlich, ich nehme eure Siebensachen und werfe sie hinaus und euch dazu!« Da mussten sie lange flehen und Versöhnung erbitten, bis er sich wieder geneigt zeigte, sie zu behalten. Der Baalschem und die Seinen sassen nun da und sahen dem Mann zu, der in der Stube aus- und einging, und verwunderten sich über ihn, denn sie hatten noch nie einen Menschen gesehen, der so plump und roh und unsauber war wie dieser. Auch in der Stube waren Boden und Wände besudelt, und weder Tisch noch Bank standen da, sondern vier Pfähle waren in die Diele eingerammt, und darauf lag ein unbehobeltes Brett. Bald bemerkten sie, dass dies der einzige Wohnraum war, denn wohl gab es andere Stuben im Haus, aber sie waren alle verschlossen, und die Türen waren grau vor Staub und mit Spinngeweb bezogen, als ob sie nie geöffnet würden. Auch war nirgends ein lebendiger Hausgenosse zu sehen, nicht einmal eine Katze oder ein Vogel. Der Abend war nah, und noch erblickten sie nirgends weder Geräte noch Speisen zu Ehren des Sabbats. Der riesige Mann ging müssig umher, schnitt zuweilen eine Schnitte von einer ungeheuren Wassermelone ab, die in einer Ecke lag, und steckte sie in den Mund. Dann ging er wieder einher und summte vor sich hin nach Art der Bauern. Die Gefährten befiel ein Schrecken, er könnte gar des Sabbats nicht achten und ihm die Weihe versagen, der alle Juden in der Welt mit heiligem Eifer dienen. Da nahm er aber ein Stück grober, ungebleichter Leinwand und breitete es auf seinem elenden Tische aus. Darauf legte er einen kleinen Haufen Lehm, bohrte mit dem Finger ein Loch hinein und tat darein eine armselige Wachskerze. Nun begann er die süssen und holden Worte, mit denen seit Urzeiten Woche für Woche in allen Ländern der Erde der Sabbat als die Braut unserer Seele empfangen wird, in eitler Eile herzusagen, wie die Toren tun, die die Laute schlingen und den Sinn des Wortes ersticken. In einem Augenblick hatte er das Gebet vollendet, und die Gäste mussten desgleichen tun, von ihrem Versprechen gebunden. Wie sehr sie auch sein Wesen und sein Wille peinigte, konnten sie doch in der Heiligkeit des Abends keinen Hass wider ihn hegen und riefen ihm zu: »Gut Sabbat!« Er aber schnaubte sie zur Antwort an: »Ein böses Jahr komme über euch!« Und als sie den Sang anstimmen wollten: »Friede sei mit euch!«, fuhr er auf sie los und machte sie schweigen. Dann schickte er sich an, den Segen über den Wein zu sprechen. Sie baten ihn, er möge ihnen Wein geben, damit

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sie selbst den Segen tun könnten, aber er weigerte ihn und rief: »Wenn ihn alle segnen wollten, würde das Licht bald dahin sein. Lasst nur mich es für euch tun.« Und so nahm er den Becher zwischen zwei Finger und murmelte die Worte vor sich hin. Sodann tat er den Mund weit auf und goss den Wein hinein, dass nur ein paar Tropfen auf dem Grunde des Bechers blieben. Die reichte er ihnen und sagte: »Da, ihr Saufbolde, aber trinket nicht zuviel, dass ihr euch nicht berauschet.« Nun legte er ein hartes, schimmeliges Brot aus schwarzem Mehl und Roggenkleie auf den Tisch und brach für jeden ein Stück ab. Und als einer von den Schülern nach dem Laib greifen wollte, um sich ein zweites Scheibchen abzuschneiden, stiess ihn der Hausherr zurück und sprach zu den Gästen: »Waget es nicht, mit euren eklen Händen an mein Brot zu rühren.« Hierauf setzte er ihnen eine Schüssel mit dünnem Linsenbrei vor und legte vor jeden einen grossen Löffel und hiess sie hineingreifen und essen, denn Teller und dergleichen Feinheiten mehr gebe es hier nicht. Dabei neigte er sich über die Schüssel und schöpfte sich einen Löffel voll Brei und ass mit gieriger Hast, dass ihm die Brühe aus den Mundwinkeln in die Schüssel zurückfloss und die Gefährten es nicht mehr über sich vermochten, eine Hand nach der Speise auszustrecken. Nach dem Mahl wollten sie die Sabbatlieder singen, aber auch das verbot er ihnen, sagte schnell und allen Brauch vernachlässigend das Tischgebet herunter und erhob sich, um den Gästen auf dem Boden ein unwürdiges Lager zu bereiten. In der ersten Morgenfrühe erwachten sie und hörten ihren Gastwirt umhergehen und das Morgenlied, das mit den Worten anhebt »Die Seele alles Lebendigen«, nach einer bäurischen Tanzweise absingen. Damit begann ihr Tag, und er wurde noch bitterer und leidvoller, als der Abend gewesen war. Den Baalschem hatte alle Kraft des inneren Blickes verlassen, und die heilige Weisheit war von ihm gewichen, und so sass er und schlug die Hände ineinander und konnte nichts denken als dieses: »Was ist dies, und warum ist dies, das mir Gott hier getan hat?« Endlich brach die Nacht heran, und der Schlaf kam sanft und gütig über ihn. Als er sich am Morgen erhob, fühlte er eine neue Kraft in sich keimen und betete mit Macht, denn er reiste nie von einem Orte ab, ohne mit Gott geredet zu haben, und sodann befahl er dem Diener Aleksa, die Pferde, die in den Stall gebracht worden waren, vor den Wagen zu spannen. Aber der Diener kehrte sogleich zurück und berichtete, die Haustür sei geschlossen. Da ging der Meister zum Hausherrn und bat ihn, die Tür zu öffnen, und sprach: »Nimm unseren Dank für alle Freundschaft, die du uns erzeigt hast, und wolle uns nun den Weg weisen, darauf wir am schnellsten nach unserer Heimat zurückkehren können.« Jener aber gab zur Antwort:

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»Mit nichten, sondern ihr werdet noch meine Gäste bleiben.« Und er liess sich nicht erbitten und hielt sie gleichsam gefangen in seinem Hause bis zum vierten Tag. Am Morgen des vierten Tages aber kam er zu ihnen und sprach: »Heute werde ich die Tür öffnen.« Und während er dies sagte, sah er sie in einer seltsamen Weise an und ging. Da kam ein Grauen über sie, denn sie verstanden sein Gebaren nicht, und so schlich sich ihnen in den Sinn, ob er sie nicht ermorden wolle. Während sie aber solcher Furcht nachsannen, öffnete sich die Tür zu einem der verschlossenen Zimmer, und eine schöne und edel gekleidete Frau trat hervor, die neigte sich vor dem Meister und sprach: »Rabbi, ich erbitte von Euch, Ihr möget mit euren Schülern bei mir den heiligen Sabbat feiern.« Der Baalschem antwortete ihr: »Du nennst mich Rabbi. Wie konntest du da zulassen, dass mein Sabbat dergestalt zerstört wurde?« Da fragte die Frau: »Rabbi, erkennet Ihr mich nicht?« Er sprach: »Nein, ich erkenne dich nicht.« Sie sprach: »Als ich fast noch ein Kind war, diente ich in Eurem Haus. Ich war eine Waise, und kein Mensch lebte mir in der Welt. Über meinen Händen aber waltete ein Ungeschick, also dass ich manches kostbare Gefäss, das ich trug, zu Boden fallen und zerschellen liess. Darob ermahnte mich Eure Frau gar häufig. Da wurde einmal der Sabbattisch bereitet, und Eure Frau wollte die Schüsseln auftragen. Ich aber mochte weisen, dass ich gewandter worden war, und bat sie, die Sabbatschüssel in meine Hände zu geben. Kaum aber hielt ich sie, kam ein Zittern in meine Finger, und ich liess die Schüssel fallen. Da erzürnte sich Eure Frau über mich und gab mir einen leichten Streich ins Gesicht. Ihr aber sasset unfern und sahet es und liesset es schweigend geschehen. Da schrie eine Stimme in den Himmeln laut auf, und das Urteil ward über Euch gesprochen, dass Ihr um Eures Schweigens willen verlieren solltet, was Euch in der kommenden Welt bestimmt war. Mir aber geschah später die Gnade, dass ich von diesem Mann, der ein heimlicher Zaddik ist und seine Heiligkeit in seinem Tun verbirgt, zur Frau genommen wurde. Er war es, der mir eröffnete, was über Euch verhängt worden war. Da begannen wir zu Gott zu beten, dass das Urteil gewandelt werde, und unsere Bitte wurde uns gewährt, und es ward milder und immer milder, bis man aussprach, dass Euch ein Sabbat zerstört werden müsse, denn der Sabbat ist die Quelle der kommenden Welt. Und uns wurde es aufgegeben, Euch solches anzutun. Aber nur, wenn wir es ganz und gar vollendeten, so ward uns gesagt, würde unsere Tat das Verhängnis vernichten. So haben wir es denn getan im Wehe unserer Herzen. Und nun ist Euer Teil zu Häupten des obersten Paradieses.« In diesem Augenblick kehrte die Weisheit zum Meister zurück, und das innere Sehen lebte in ihm auf, und er sah in die

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Tiefe der Geschicke und sah sein Heil und sah den heiligen und heimlichen Mann in seiner Wahrheit vor sich stehen. So gingen sie mitsammen in die geschmückten Räume und verblieben miteinander diesen und die nächsten Tage und feierten den Sabbat in hoher Freude.

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Einer der Eifrigsten unter denen, die sich wider den Baalschem erhoben, war Rabbi Jakob Josef von Szarygrod. Keinem wohl strömte der kämpfende Wille aus so tiefen und verborgenen Quellen zu. Denn die ketzerischen Dinge, die ihn erschauern und ergrimmen machten, lagen wie Ahnung und Keimschicht in seiner eigenen Seele, ganz unten, unter dem Bereich des Wortes, ja tiefer als der Raum, in dem sich der Gedanke gebiert. Drei Bräuche der Neuerer aber waren es vor allen, denen der Rabbi feind war: die Freude ihrer Feste, die den Zaun des heiligen Gesetzes niederbrach und hoch aufwallte im Tanz und im trunkenen Lied, die Seltsamkeit ihres Dienstes, da die Gemeinde nur lose die Betenden umschlang und in Wahrheit jeder für sich und auf seine Weise, oft auch mit wilder und entfesselter Geberde zu Gott redete; mehr als alles aber die leise, von Geheimnis schwingende Predigt des Meisters nach der dritten Sabbatmahlzeit in der Dämmerung. Oft hatte der Rabbi von dieser Predigt gehört. Sie war nicht, wie die Sitte gebot, aus Deutungen der Schrift aufgebaut, auf denen sich kunstvoll Deutungen der Deutungen türmen. Sie sprach von den Dingen der Seele, als ob man von diesen Dingen reden dürfte. Manchesmal waren es gar gewöhnliche Geschichten, wie das gemeine Volk sie sich in den Trinkstuben erzählt; aber sie wurden langsam und feierlich gesagt wie die Worte des Mysteriums der Keduscha, und die Leute lauschten ihnen, als setzten sie die Offenbarung am Sinai fort. So oft auch dem Rabbi davon berichtet wurde, immer wieder überkam ihn der Zorn wie zum erstenmal. Geschichten am Sabbat! Was für einen Sinn können Geschichten haben? Und noch zorniger hiess er in sich die Stimme schweigen, die tief unten erwacht war und es zu wissen vorgab. Und er mahnte seine Seele an den wahren Weg zur Vollendung, durch die Abkehr vom Lebendigen, durch Zucht und Herbheit, durch Fasten und Schweigen. *

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Einstmals machte sich der Baalschem am Abend auf und fuhr nach Szarygrod. Er war ohne Gefährten und unterredete sich mit der Sommernacht wie mit einer Freundin. Als sie Abschied nahm und der Tag noch zögernd aufstieg, kam der Wagen des Meisters in die kleine Stadt. Da lagen die Häuser mit geschlossenen Fensterläden im Zwielicht wie freudlos Schlummernde mit schweren geschlossenen Lidern. Den Baalschem kam das Erbarmen an mit ihnen allen, die hinter diesen Fenstern ihren

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dumpfen Frühschlaf hielten. Er ging mit steten Schritten unter der wachsenden Tageshelle auf und nieder, bis über eine Weile ein Gesell des Weges kam; der trieb einige Tiere vor sich her, die er tagüber vor der Stadt auf der Weide hatte. Zu dem begann der Meister wie von ungefähr zu reden und kam, indem der Mensch anfangs ein wenig einfältig und scheu ihm Antwort bot, allmählich ins Erzählen einer Geschichte. Wie er so redete, kam ein anderer herzu, alsbald ein dritter, dann aber immer mehr und mehr, meist Knechte und arme Leute, die den Tag früh beginnen. Sie alle standen und lauschten begierig und riefen gar noch andere aus den Häusern herbei. Wie die Stunde vorrückte, kamen die Mägde mit den Wasserkrügen auf dem Weg zum Brunnen und hielten inne, die Kinder kamen aus den Stuben gesprungen, und die Hausväter selber liessen ihr Geschäft und ihren Gang, dem fremden Mann zuzuhören. Es war aber seine Erzählung so seltsam lieblich verknotet, dass, wann immer einer ankam, es ihn wie ein Anfang dünkte und jeder, des früheren unbegierig, ganz auf das Kommende gerichtet war und ihm entgegenharrte wie der Erfüllung seiner liebsten Hoffnungen. So hatten sie alle die eine grosse Geschichte, und darin jeder seine eigene kleine und allerwichtigste, und die kleinen kreuzten einander und verhakten sich, als müssten sie sich tief verwirren, aber im Nu waren sie wieder gelöst und geordnet und liefen fein säuberlich neben einander hin; war aber eine abgelaufen, dann liess sie eine neue Verheissung zurück, die alsbald eine Genossin zu erfüllen sich anschickte. Um ein geringes stand das ganze Städtchen auf dem Marktplatz, und alle lauschten, und jeder hatte vergessen, was ihm sonst um diese Stunde zu tun obliegen mochte. Die Handwerker hatten ihre Geräte in der Hand und die Frauen ihre Kochlöffel. Ganz vorn aber stand mit einem grossen Schlüsselbund der Tempeldiener, der just auf dem Weg zum Bethause gewesen war, es zu öffnen. Ueber ihn war die Erzählung mit solcher Gewalt geraten, dass er sich bis dicht vor den Meister durchgedrängt hatte und nun stand und lauschte mit Ohr und Herz und dem ganzen Leibe, seines Amtes so wenig eingedenk, als wäre es nur ein verschollener Traum. Es war aber die Erzählung des Baalschem nicht wie eure Erzählungen, Kinder der Zeit, die krumm wie ein kleines Menschenschicksal oder rund wie ein kleiner Menschengedanke sind. Sondern der farbige Zauber des Meeres war darin und der weisse Zauber der Sterne und der unbegreiflichste von allen, das zarte Wunder der unendlichen Luft. Und doch war es keine Mär der Ferne, was die Erzählung sagte, sondern jedem erwachte unter der Berührung ihres Wortes die heimliche Melodie, die verschüttete, zersprengte, totgewähnte, und jeder empfing die Botschaft sei-

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nes verlorenen, vergessenen Lebens, dass es noch da und ihm offen und nach ihm bange war. Zu jedem sprach sie, zu ihm allein, kein anderer war, alle waren er, er war die Erzählung. Da hob der Meister den Blick und sah lächelnd ins Weite, sah durch Häuser und Mauern, wie vor der Tür des Bethauses der Rabbi stand, der um diese Stunde sein Gebet zu verrichten kam; und da war das Haus geschlossen, und der Diener fehlte, und da war keiner von den allen, die Tag um Tag zu dieser Zeit versammelt waren und ihn erwarteten. Der Baalschem sah in den Geist des Rabbis und sah den Grimm und die Bitterkeit in ihm wachsen und wie er seinen Unwillen band und sich zur Geduld bezwang. Da beschloss der Meister, den Diener aus der Erzählung zu lösen, und augenblicklich kam es über den Mann wie ein Erwachen, und ohne sich zu besinnen lief er, so schnell er konnte, nach dem Bethaus. Als er an der Tür ankam, fand er den Rabbi, der mit gefalteter Stirn, die Augen zu Boden gesenkt, die Worte des Unmuts zurückdrängte und nur mit einer barschen Bewegung zu eiligem Öffnen drängte. Der Diener aber, noch erfüllt und umgeben von der Erzählung, ward weder der eigenen Verfehlung noch des Ärgers seines Herrn gewahr, sondern begann von dem fremden Mann zu melden, der auf dem Platz stehe und Geschichten sage, alles Volk um ihn geschart. Er beschrieb die Gestalt und das Ansehen des Fremden, und da wusste der Rabbi, wer gekommen war und mit ihm um die Seelen stritt, und ein zorniges und wehes Funkeln kam in seine Augen. Wortlos schob er den Diener beiseite, trat in das Haus und begann zu beten. * Nach einer Zeit geschah es, dass ein Mann von den Frommen des Baalschem und aus seiner Stadt seine Tochter einem geliebten Schüler des Rabbis von Szarygrod verlobte. Die Hochzeit sollte in der Stadt des Baalschem vollzogen werden. Rabbi Jakob Josef hegte einen schweren Kummer ob dieses Verlöbnisses. Als er davon erfuhr, war es ihm wie die Kunde, sein Sohn sei unter schlimme Gesellen geraten. Wohl erwies sich, als der Schüler selbst vor ihm erschien und ihm alles berichtete, die Liebe stärker als der Zorn, und er musste ihn segnen. Aber als er ihn bat, zu seinem hohen Feste nach Miedzyborz zu kommen, weigerte er es ihm und erklärte, nie und nimmer könne er die Stätte des Ketzers betreten. Der Schüler jedoch lag ihm mit inständigen Bitten an Tag für Tag, bis dem Rabbi einmal das Wort entfuhr: »Wie soll ich mit dir ziehen – wird doch dich und deine Freunde der erste Gang in Miedzyborz zu dem unheiligen Mann führen, der das

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Volk Israel verdirbt!« Da versprach der Jüngling, um einen günstigen Spruch seines Lehrers zu gewinnen, er wolle das Angesicht des Baalschem nicht schauen, und unter dieser Bedingung willigte der Rabbi ein, mit ihm zu fahren. Als sie aber unterwegs waren und unfern des Reiseziels in einer Herberge weilten, merkte er, wie der Schüler sich mit seinen Freunden heimlich unterredete, und er erkannte, dass sie darüber sprachen, wie sie es anstellen möchten, ohne das Wissen des Rabbis in das Haus des Baalschem zu kommen. Da trat er auf sie zu und sagte zum Bräutigam: »Ich habe Unrecht daran getan, dir ein Bedingen aufzulegen, das du nicht zu erfüllen vermagst. Da es mir aber nicht ansteht, allein die Heimfahrt anzutreten, werde ich hier verbleiben, bis ihr von der Hochzeit heimfahret, und sodann mit euch nach meiner Stadt zurückkehren.« Der Schüler versuchte stammelnd erneute Bitte und Versprechung, aber der Rabbi hörte ihm nicht zu, sondern wandte sich zum Wirt und ersuchte ihn, ihm ein Zimmer zu weisen, in dem er ungestört seinen Studien obliegen könnte. Eine Weile danach sass er in einer stillen Stube und hatte die Bücher aufgeschlagen vor sich liegen. Aber als er sich darüber beugte und beginnen wollte zu lesen, sah er, dass die Lettern, statt wie immer in ihrem schönen Gefüge willig dazustehen, – jede freudig erwartend, dass er an sie käme, stolz befriedigt, wenn er sie gelesen hatte, – sich in einem tollen Tanze einherschwangen und die Gliedmassen in die Luft warfen, ja ein dickes rundes Ding überkugelte sich in einem fort, ohne zu ermüden. Der Rabbi schloss die Augen, öffnete sie wieder, und als das Unwesen nicht aufhören wollte, schlug er mit heftiger Hand auf das Buch. Da war im Augenblick alles still und wohlgesittet, jedes sass an seinem Platz, als hätte es sich nie von dannen gerührt, und ein paar obenstehende Lettern hatten sogar schon das Lächeln der freudigen Erwartung bereit. Als aber der Rabbi nun anheben wollte zu lesen, drang ihm aus dem Buch ein aus hundert dünnen Stimmen gemischter Lärm entgegen. Das waren die Wörter, die miteinander stritten. Aber es waren nicht etwa zwei Lager von Kämpfern, sondern jedes Wort widersprach allen andern, und jedes versicherte, es sei von Lügnern und Heuchlern umringt, die es lediglich darauf abgesehen hätten, ihm seinen eingeborenen Sinn zu rauben und zu erschlagen, aus tückischem Neid, weil sie selbst keinen Sinn und keine Seele hätten. Und als der Rabbi auch diesen Krieg beschwichtigt hatte, standen die Sätze auf und erklärten, sie wollten nicht länger einem unbekannten Zweck dienen, der über allen schwebt, sondern aus sich selber und für sich selber leben. Der Rabbi sah auf das Buch und lächelte. Dann schlug er es zu und lächelte wieder. Hatte er doch ein Buch in sich, ein grosses und überrei-

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ches, das keiner ihm verwirren konnte. Aber als er den ersten Gedanken aufrufen wollte, brach sein Lächeln ab. Denn kein Gedanke stieg auf, nur ein dumpfes Vergessen lagerte wie über einer verlassenen Gräberstätte. Da erschrak der Rabbi, und das erste Erschrecken seines Lebens kam über ihn wie eine Todesnot. Dann aber verstand er, dass ihm befohlen war, nach Miedzyborz zu gehen. Und alsbald lebten die Gedanken in ihm auf, so sturzhaft, dass er fast zum zweitenmal erschrak. Es kam ihm nicht in den Sinn, einen Wagen zu mieten, er trat hinaus auf die Strasse und ging. Als er nach Miedzyborz kam, trug es ihn weiter, ohne dass er seine Augen oder seinen Willen befragte, bis vor ein grosses, abgesondert stehendes Haus, aus dem das Licht vieler Kerzen und das Gespräch vieler Stimmen ihm entgegendrangen. Er verstand, dass es das Haus des Baalschem war, und wollte weitergehen, als es urplötzlich stille ward. Dann erschien es ihm, das Licht werde dreifach heller, und aus dem Schweigen begann eine Stimme zu reden, die tönte so wunderbar, dass er näher treten und lauschen musste. Und er hörte, was die Stimme sprach. »Ich will euch eine Geschichte erzählen. Es war einmal ein Rabbi, ein weiser und strenger Mann. Der sass in der Nacht des neunten Ab in seiner Kammer und trauerte über den Tempel und über Jerusalem. Und anders als in allen Jahren in dieser Nacht war diesmal seine Trauer. Denn in den anderen Jahren war es ihm gewesen, als wäre er hingestellt in die Zerstörung der Stadt und schaute mit seinen Augen den Brand und das Verderben. Aber in dieser Nacht war es ihm, er sei eine eherne Säule am Hause des Herrn, und er fühlte die Hand der Chaldäer auf sich, die ihn zerbrach, und wieder war es ihm, er sei das Erz einer zerbrochenen Säule, das gen Babel geführt wird. Und das Klagelied kam auf seinen Mund, aber nicht wie dessen, der sieht und trauert, sondern wie das Stöhnen der zerbrochenen Säule. Und nicht wie einer, der kommt und geht, sondern wie ein Ding, das in der Herrlichkeit gelebt hat und nun zerschlagen und in die letzte Schmach geschleppt wird, rief er zu Jerusalem: Stehe auf, schreie in der Nacht, am Anfang der Wachen schütte dein Herz aus vor dem Herrn wie Wasser! Und da ward es ihm, er sei Jerusalem die Stadt, und der Brand und das Verderben gingen über ihn hin, und die tausendfache Verwüstung geschah an seinen Gliedern. Da brach der Schrei aus ihm und schüttelte ihn wie ein Sterbendes und warf ihn auf das Lager. Und da er also lag, war sein Leib so bar des Lebens, wie der Leib eines, der im Vergehen liegt. Die Nachtstunden strichen hin und kamen auf ihn, der ohne Empfindung war, wie wenn die Zeit zu Sand würde und auf ihn niederrieselte, ihn zu begraben. Um die Mitternacht aber fühlte

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er ein Bewegen in der Luft, und ein Hauch glitt an seine Stirn wie lebendiger Atem. Er öffnete die Augen und gewahrte über sich gebeugt die Gestalt eines Knaben und erkannte das Angesicht seines Lieblingsschülers, die weichen Züge, die nun von einem Schrecken entstellt waren. Der Knabe berührte seine Hand und sprach, und seine Stimme schwankte: ›Rabbi, Ihr laget wie einer, dessen Seele schon flüchtig ist, ihn zu verlassen. Ihr müsset Euch ein wenig Speise gewähren, um Euer Leben zu stärken.‹ Der Rabbi wandte das Haupt und flüsterte, und seine Zähne schlugen wider einander: ›Kind, was redest du? Ist doch heute der neunte Ab, ein Tag der Trauer und des grossen Fastens!‹ Aber der Knabe umschlang seine Hand fester mit seinen beiden warmen Händen und bat: ›Rabbi, denket, dass es verboten ist, sich mit Willen dem Tod anheimzugeben!‹ Und er ging und kehrte wieder und trug, sie mit den Armen umfassend, eine grosse Schüssel voll herrlicher Früchte und kniete vor dem Rabbi nieder und sah ihn bittend an und neigte bittend den Kopf. Und der Rabbi, vom buntfreudigen Anblick und Wohlgeruch belebt, richtete sich auf und sprach den Segen über die Frucht des Baumes, wie einer, der sich anschickt zu essen. Aber als das letzte Wort seinem Mund entwichen war, ergriff ihn ein jähes Entsetzen über sein Tun. Er hob die Hand gegen den Schüler und schrie ihn an: ›Hebe dich hinweg, Geist der Verführung, der du vertraute Gestalt borgst, mich zu betören!‹ Der Knabe erzitterte unter den Worten seines Lehrers und wich bangend aus dem Hause. Der Rabbi aber fiel in einen tiefen Kummer wie in einen Abgrund. Vor ihm erschienen die Jahre seines Lebens mit all ihrem Opfer und Bann, mit ihren Kriegen und Triumphen, mit der hohen Macht über sich selber, die wuchs und stieg von Jahr zu Jahr. Und dann erschien vor ihm ein kleiner mattäugiger Wunsch, der schleppte sich wie ein kranker Zwerg zu den Jahren hin und wischte sie mit seinem Finger weg, dass nichts mehr von ihnen da war. Und der Kummer des Rabbis wurde immer tiefer, bis die Trauer dieses Tages und das Leid um Jerusalem in dem Kummer versanken, und der Kummer schlang sie ein und breitete sich und herrschte über die Seele mit Geissel und Feuerbrand. Und in dem Rabbi war nichts mehr von der Stunde, da er eine Säule gewesen war im Hause des Herrn und da er die Stadt gewesen war unter der Hand des Unheils, sondern er war dieser Mensch, hier liegend auf einem Lager in der Nacht, dieser Mensch, der gesammelt und gesammelt hatte, mit strenger und nicht ermüdender Hand, und dem nun ein kranker Zwerg alles raubte, mit dem Ruck eines dürren Fingers in der Finsternis. Über sich und ringsum fühlte er die Nacht, stehend und unwandelbar, die Nacht und den Abgrund. Aber die Nacht stand nicht, sondern zog über ihm hin mit dem Wallen

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ihrer Haare und dem Wehen ihrer Schleier. Und ehe sie entwich, legte sie ihre Hand auf seine Augen und gab ihm den Schlaf. Aber irgendwoher fiel ein Samen in den Schlaf, und der Traum keimte und wuchs und kündete. Der Traum führte ihn unter den offenen Mittagshimmel, der durch die Baumkronen eines grossen Fruchtgartens auf ihn herabschaute. Er ging durch die schmalen vielverschlungenen Wege des Gartens, gestreift vom hohen Gras und den niederhangenden früchteschweren Zweigen. So kam er an das Ende des Gartens und sah über die niedrige Mauer hinaus, und was er sah, waren die Gässchen der Stadt, in der er hauste. Ihm aber war in seinem Traum wohl bewusst, dass ein Garten solcher Art in seinem Wohnort nicht stünde, und wunderlich furchtsam und zweifelnd wandte er den Fuss und ging in den Garten zurück und suchte nach einem, der ihm Rede stehen könnte. Als er der Mitte des Gartens sich näherte, wo alle Wege sich kreuzend zusammenliefen, sah er einen Mann in Gärtnertracht stehen; der war tief zur Erde gebeugt, hob aber nun die Stirn ihm entgegen und blickte ihn funkelnd an. Der Rabbi fragte ihn: ›Was für ein Garten ist dies, und sage mir, wessen ist er?‹ Der Mann redete hart und kurz: ›Er gehört dem Rabbi dieser Stadt.‹ Der gab verwundert zurück: ›Ich bin der Rabbi dieser Stadt und bin arm und kenne keinen Besitz. Woher käme mir dieser Garten?‹ Da sprach der Mann wieder, und Blitze erwachten auf dem Grund seiner Augen, und ein Donner spielte in seiner Stimme: ›Aus Wunsches Pein, aus Schuld und Scham, aus einem eitlen Segensspruch hat dir die Hölle diesen Garten geboren.‹ Er stampfte mit dem Fusse auf, da spaltete sich die Erde bis zum feurigen Kern, und der Rabbi sah die Wurzeln der Bäume verschlungen in die Urtiefe sich senken und dort vereint sich aus der Flamme nähren. Da erwachte er, und der Schauer des Traumes hielt ihn bis zum Abend, da der Trauertag endete. Zu der Frist reckte sich der Rabbi auf und schüttelte alles von seiner Seele ab, ging in seine Stube und verschloss die Tür. Er nahm die Bücher der Psalmen in die Hand und stand und sprach die Psalmen mit gewaltigem Ton. Das erste Buch hatte er gesprochen, da ward fern in der Nacht draussen ein Laut, der redete: ›Genug, die Früchte sind schon abgefallen!‹ Aber der Rabbi erhob das Haupt und die Stimme und sprach das zweite Buch. Und da er geendet hatte, tat sich wieder der Laut auf, und er klang näher und deutlicher: ›Genug, das Laub ist schon verwelkt!‹ Doch der Rabbi erneute seine Kraft und betete das dritte Buch. Nun war die Stimme ganz nah, und von ihrem Hauch klirrten die Fenster, und sie redete: ›Genug, schon sind die Zweige verdorrt!‹ Der Rabbi spannte alles Vermögen seiner Seele und las das vierte Buch. Da wankte der Boden seines Hauses, und die Stimme erscholl, als würde sie unter

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seinen Füssen aus der Erde geboren: ›Genug, schon sind die Äste abgestorben!‹ Der Rabbi fühlte, wie das Ermatten sich an ihn heranschlich, aber sein Blick zuckte nicht, und er riss die letzte Macht hervor, und das letzte Buch erstand von seinem Munde und stieg hoch und wirbelnd wie Opferrauch. Als er schwieg, sprang die verschlossene Tür des Gemaches weit auf, und in ihr stand ein düsterer Bote, gebeugt und keuchend, wie gehetzt von einem langen, wilden Lauf, und seine Stimme war wie verflackernd im Luftzug: ›Genug, genug, du hast uns besiegt, schon sind die Stämme abgehauen!‹ Und die Gestalt zerging mit ihrem letzten Ton. So hat es sich dazumal ereignet. Die Tage, die Monde und Jahre sind darüber hingegangen. Aber die Wurzeln des Gartens sind in der Erde geblieben, und der Rabbi wacht in vielen Nächten, sinnend, wie er sie ausrotten möchte. Allein er kann es nimmer ersinnen.« So erzählte die Stimme drinnen im hellen Saal. Rabbi Jakob Josef stand im Schatten, die Stirn an die Mauer gepresst, und die Worte fielen auf sein Herz wie Tropfen eines flüssigen Brandes. Als die Rede drinnen verstummte, seufzte er auf und stürzte durch die Tür in den Saal und zu den Füssen des Baalschem und rief: »Meister, lehre mich, was ich tun soll, die Wurzeln auszurotten!« Der Baalschem sprach: »Wisse, nicht aus dem Wunsche ist dir der Garten geboren worden, sondern aus des Wunsches Kummer und Pein, da du dich befleckt wähntest und um dich littest und den Gram auf dein Haupt streutest wie Asche. Da hast du dem leichten Bilde deines Wunsches Bestand und Dauer gegeben und hast seine Wurzeln eingesenkt in das Reich der Körper, da es zuvor ein Schatten war. Aber als ich dies erzählt habe, ist der Körper zum Wort geworden und zum schwebenden Atem und leichter, als das leichte Bild deines Wunsches gewesen war. Und da ich ein Froher zu Frohen redete, ist die Freude hingegangen und hat die Wurzeln ausgerissen.« Rabbi Jakob Josef aber ist darnach der geworden, den sie den grossen Jünger nannten.

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Der dritte Kreis: Die Predigt des neuen Jahres / Die Wiederkehr / Von Heer zu Heer / Das dreimalige Lachen / Die Vogelsprache / Das Rufen / Der Hirt

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Die Predigt des neuen Jahres

Die erste Sonne des Jahres stand in der Mittagshöhe und die Luft war voll des Schofarklanges. Man hörte ihn auf allen Wegen, ja es gab der Schüler welche, die ihn zu sehen vermeinten, als hätte das Tönen Kreise eines fremden, glühenden Lichtes in das Grau des Frühherbsttages gezogen. In dem Hause des Baalschem sassen die Schüler um den uralten langen Tisch, der heute fester als je die Füsse gegen den Boden zu stemmen schien, um sich wider die Zeit zu behaupten. Die einen blickten hinaus in die Lichtkreise, die andern sahen an den geschwärzten Wänden hinauf, als müssten sie im nächsten Augenblick zur Seite weichen und das Reich des Geheimnisses erschliessen. Der Nachsegen des Mittagmahles war beendet, und der Baalschem begann, die Predigt des neuen Jahres zu sprechen. Die Schüler konnten in sein Angesicht nicht schauen, aber wenn sie die Augen schlossen, kam Wort für Wort vor sie mit einem Angesicht, blitzend das eine, abgrundsdunkel das andere, ein drittes rein und still wie die Liebe Gottes zur Welt. Mit geschlossenen Augen sassen sie da, die jungen und die alten, und lauschten, und schauten. Und der Baalschem sprach. Es ist zu sagen, dass die Stimme des Baalschem gemeiniglich war wie ein leichtes Schlagen von Erz an Erz, und nur im tiefen Gebet mischte es sich zuweilen darein wie der Schrei der Lerchenkehle. Aber am Tag des neuen Jahres war seine Stimme neu und gewandelt. Es war der Schofar, der in ihr atmete und Menschenlaut war. Der Weckruf des Tekia kam und rüttelte an den Toren der Seele. Das wogende Schewarim umpfing die Losgemachte wie das Beben der Sehnsucht. Der hohe Jubel der Terua trug sie zur Erlösung empor. Und das Wort, über das der Baalschem sprach, war das Wort des neuen Jahres: Stosse in den grossen Schofar zu unserer Befreiung! »Stosse in den grossen Schofar«, so rief er zum Herrn, »wenn der Kreis des Jahres sich rundet und die Seelen aller Dinge in die Finsternis tauchen zu neuer Geburt. Siehe, deine Kinder sind morsch geworden vom Anhauch der Stürme. Siehe, der Brand der Wüste hat ihr Mark versehrt. Nun da der Kreis deines Jahres sich schliesst und das Dunkel der Wende seine Fluten entsendet, stosse in den grossen Schofar, o Herr, zur neuen Geburt! Deine Pein hat unsere Hände gemartert, bis sie schwach wurden vor dem Leben. Deine Wanderschaft hat unsere Füsse gejagt, bis sie auf festem Boden wankten. Du hast den Wurm in unsere Herzen geschickt, und sie sind zernagt wie krankes Laub. Dein Bote hat seine Hand auf

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unsere Stirnen gelegt, und unsere Gedanken starren im Eise. Stosse in den grossen Schofar, o Herr, zu unserer Befreiung! Der Engel des Herrn erfasste mich in der Nacht und führte mich hinaus, und ich stand im Leeren, und die Nacht lag auf meinen Schultern wie eine grosse Last, und die Nacht wälzte sich von unten an meine Sohlen heran. Und der Engel sprach: »Schaue!«, und die Finsternis wich, und ich stand leicht in heller Leere, und ich sah. Da war ein Kreis zwischen zwei Abgründen, ein schmaler runder Grat. Und im Bezirke des Kreises schloss sich ein roter Abgrund wie ein See von Blut, und ausser des Bezirkes des Kreises dehnte sich ein schwarzer Abgrund wie ein Meer von Nacht. Und ich sah, siehe da ging ein Mensch auf dem Grate wie ein Blinder, mit wankenden Füssen, und seine beiden schwachen Hände rührten an die Abgründe zur Rechten und zur Linken, und seine Brust war aus Glas, und ich sah sein Herz flattern wie krankes Laub im Winde, und auf seiner Stirn war das Zeichen des Eises. Und der Mensch ging weiter und weiter den Weg des Grates, ohne rechts und links zu sehen, und schon war er dem Ende des Kreises nahe, das sein Anfang ist. Und ich wollte ihm rufen, aber mein Sehen lähmte meine Zunge. Und der Mensch blickte plötzlich auf, und sah rechts und links, und er strauchelte, und aus den Abgründen stiegen Arme auf, ihn zu fangen. Da berührte der Engel meine Lippen, und meine Zunge war frei, und ich rief und schrie zu jenem: »Erhebe deine Flügel und fliege!« Und siehe, da erhob der Mensch seine Flügel, und keine Schwäche und keine Starrheit war mehr an ihm, und der Grat verschwand unter seinen Füssen, und den Abgrund des Blutes verschlangen Gottes Wasserquellen, und der Abgrund der Nacht verging in Gottes Lichte, und die Stadt des Herrn lag da, offen allerwärts. Sehet, ein Kreis ist unser Jahr. Wir gehen auf schmalem, rundem Grat zwischen zwei Abgründen und sehen die Abgründe nicht. Sind wir aber an das Ende des Grates gekommen, das sein Anfang ist, da fällt die Angst und das Zittern über uns wie der Sturm des Herrn, und der Blitz des Herrn fährt über die Abgründe hin, und wir sehen sie, und wir schwanken. Aber der Schofar tönt über uns und fasst unsere Seelen und trägt sie, und jeder Schofarton trägt viele Seelen auf seinen Flügeln. Und die Schofarim schwingen sich zu den Himmeln auf. Und die Himmel lauschen, und die Angst und das Zittern kommt über sie wie der Sturm des Herrn, und der Weltenschofar erschallt. Und der Weltenschofar trägt auf seinen Flügeln die Seele, die aus unseren Seelen geboren wurde und die Seele des Messias ist. Und er schwingt sich auf zu dem Reiche des Geheimnisses, und er schlägt mit seinen Flügeln an die Pforte, und die Pforte tut sich

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weit auf, und siehe, da ist nicht Pforte mehr noch Mauer, sondern die Stadt des Herrn liegt da, offen allerwärts. Stosse in den grossen Schofar, o Herr, zur Geburt der Seele!« Die Stimme des Baalschem war wie der Schofar, bis er schwieg. Dann erhob er sich und ging in seine Kammer und schloss sich ein. Und mit ihm erhoben sich die Schüler und traten hinaus. Wie Träumende gingen sie durch die Gassen, blicklos und bang. Sie hatten ein kleines Haus ausserhalb der Stadt, wo sie sich zu versammeln und miteinander die ewigen Dinge zu betrachten pflegten. Dahin gingen sie nun, und die Flügel der Stimme waren über ihnen. Aber im Haus des Baalschem lebte dazumal ein Knabe, Josef mit Namen, und alle nannten ihn Jossele. Als der Meister in seine Kammer gegangen war und die Gefährten alle zu ihrem Hause ausserhalb der Stadt, blieb er allein zurück an dem langen Tische, denn er war zu jung, um von jenen nach dem Ort ihrer Betrachtung mitgenommen zu werden. So sass er zwischen den geschwärzten Wänden und fühlte die Flügel der Stimme an seinen Schultern. Und wie die ersten Schatten des Spätnachmittages ihr goldbraunes Zucken über die weisse Decke des Tisches warfen, legte Jossele den Kopf in die Hände, denn ihm war Angst um der Flügel der Stimme willen, die er an seinen Schultern fühlte. Und die dicht aneinander und vor die Augen gepressten Finger schufen ihm ein Dunkel, aber in dem Dunkel erwachte ein rotblaues Licht, das sang zu ihm wie die Stimme, um deren willen ihm Angst war. Und es geriet über Jossele mit einer stürzenden Gewalt, wie lang verhaltene Tränen urplötzlich hervorschiessen: Jetzt und jetzt wird Meschiach kommen. Und die Stube weitete sich, und die Wände verschwanden, und vor ihm war ein rotblaues Licht, das strahlte rings hinaus mit Strahlen einer nächtigen Sonne. Und Jossele lief auf das Licht zu. Aber da war die Türe, wie ein stechender, weckender Schmerz. Der Knabe stand einen Augenblick lang sehend auf einem schmalen Grat zwischen zwei Abgründen, und der Blitz des Herrn fuhr vor ihm hin, und er schauderte und schwankte. Da aber erfasste ihn die Gewalt mit Fängen der Cherubim, und die Stimme brauste, und das Licht war in sein Herz gefallen und brannte. Und Jossele öffnete die Türe und lief hinaus, und er lief durch die Gassen der Stadt, und lief in stürzender Eile, bis er zum Hause der Schüler kam. Da standen seine Sohlen, und seine Kehle spannte sich, und er rief: »Meschiach!« Aber da war kein Laut rings um ihn, nur seine Stimme tönte und verklang sehr langsam und lebte vor ihm und war wie die Stimme, deren Flügel er an seinen Schultern fühlte. Da zwang er seine Augen, aufzusehen, und mühte sich, bis er sah. Da sassen die Gefährten alle vor der Schwelle des Hauses in langer bogenrunder

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Reihe, und eines jeden Mund war fest verschlossen, und eines jeden Blick lag in der Ferne, und kein Glied regte sich. Und Jossele hörte seine Stimme rufen: »Jetzt und jetzt wird Meschiach kommen« und hörte die Stimme verklingen mitten in starrendem Schweigen. Da flog die Seele des Knaben auf den Flügeln der Stimme auf und flog zu einem der Schüler hin und legte sich an seine Brust, und Jossele sprach: »Nachum, weisst du noch, wie du gefastet hast von einem Sabbat zum andern, um Meschiach zu rufen? Weisst du noch, wie ich zu dir kam, als du am Boden lagst am letzten Tag und mit der Stirn an die Diele schlugst, wie wir dann zusammen geweint und gebetet haben? Sieh, Meschiach kommt!« Aber jener schwieg. Und die Seele wandte sich und flog zum zweiten hin und schmiegte sich an seine Schläfe, und Jossele sprach: »Elimelech, ich sah dich einmal über ein Feuer geneigt, dass deine Lokken an die Flammen sprangen, und deine Lippen flüsterten: Meschiach. Ich sah dich einmal den Arm emporheben und die Hand gen Himmel schütteln, und deine Lippen flüsterten: Meschiach. Elimelech, er kommt!« Aber jener schwieg. Und abermals wandte sich die Seele und flog auf den dritten zu und glitt über seine Hand, und Jossele sprach: »Jehuda, ich habe dich damals gehört, als du den Zauber tatest über den Wassern und den dunklen Spruch sprachest in das Wehen des Windes. Der Zauber ist mit den Wassern verronnen, und der Spruch ist im Winde verweht. Aber jetzt Jehuda, horch, jetzt kommt er, hörst du ihn kommen? Jehuda, lass uns ihm entgegengehen.« Aber jener schwieg. Und Jossele sah die Gefährten an und schaute mit seiner Seele auf sie, und da sah er, sie hörten seine Worte nicht, und er sah sie lauschen, einem fernen Schritt. Da sassen sie in langer, bogenrunder Reihe und horchten auf einen fernen Schritt und blickten in die Ferne. Alsdann kam die Einsamkeit über Jossele und legte ihre kalte, harte Hand auf seinen Nakken, und die Krallen der Hand gruben sich in sein Fleisch, und die Hand lag auf seinem Nacken wie ein riesenhaftes, lebendiges, sich einkrallendes Siegel. Und Jossele sah, wie das rotblaue Licht seinem Herzen entstieg und vor seinen Augen verflimmerte. Und Jossele fühlte, wie die Flügel an seinen Schultern verschrumpften und wie sie abfielen. Und Jossele wollte sprechen, aber seine Kehle trug keine Stimme. Und Jossele wollte hinweg, aber er konnte den Fuss nicht heben. Und Jossele setzte sich zu den andern und blickte in die Ferne und horchte auf einen fernen Schritt. So sassen sie beisammen, bis die Sterne kamen. Da wich es von ihnen, und sie kehrten in die Stadt zurück. Und Jossele stand in seiner Stube wie ein Blinder, mit wankenden Füssen, und seine beiden schwachen Hände rührten an die Abgründe zur Rechten und zur Linken, und sein Herz

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flatterte wie krankes Laub im Winde, und auf seiner Stirn war das Zeichen des Eises. SCHOFAR = die Posaune, die am Tage des Neuen Jahres geblasen wird. TEKIA, SCHEWARIM, TERUA = Namen der angeordneten Schofarklänge. MESCHIACH = Messias. 5

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Am Jahrestage des Todes des heiligen Ropczycer Rabbis hatten sich alle Zaddikim in Ropczyce versammelt. Dort sassen sie in einem Saal und harrten in Wehmut und Schweigen, ob die Seele des Verstorbenen die Schatten seines erhabenen Wesens über ihre in Trauer verdunkelten Herzen ausgiessen würde, als die Tür aufflog und ein grelläugiges Weib hereinstürzte, das stöhnend aus unbeschwichtigten Schmerzen sich auf die Erde warf und schrie: »Seid mir gnädig, ihr heiligen Meister, und höret, was für ein grausames Unglück über mich dahergefahren ist! Da habe ich vorige Woche einem Juden achthundert Silbergulden eingehändigt, damit er auf die Dörfer fahre, Flachs einzuhandeln. Und den Gewinn, der uns ganz sicher war, darein wollten wir uns teilen, in halb und halb. Vergehen mir da etliche Tage, ich höre nichts von ihm, und mir wird ganz gequält und unruhig um das Herz. Just heute am frühen Morgen kommt mir einer ins Haus, der hier in der Gegend heimisch ist, und ich hör von ihm, der Jud ist gestorben eines jähen Todes und hat man nicht Geld noch Kaufbriefe bei ihm gefunden. Nun frag ich und heisch ich, wo ist mein Geld geblieben? Rabbanim, schaffet mir einen rechten Rat! Ihr sitzet hier beisammen wie die Erzengel des Herrn im Licht, über euren Häuptern steht der Himmel als eine offene Pforte, eurem Wollen ist die Macht dort einzudringen, was Zaddikim verhängen, macht der Herr zu Geschehen!« Da griff der Jammer des Weibes etlichen der Zaddikim an die Seele, so dass sie sprachen: »Werde still, Weib, wir wollen dazu tun, dass dein Geld gefunden werde!« Jetzt aber ist der Zaddik Rabbi Schalom von Kaminka aufgestanden und hat gerufen: »Hört ihr alle, und auch du, Weib! Hier kann kein Versprechen bestehen und Frucht tragen. Das Geld bleibt verloren für alle Zeit. Wer es suchen wollte, müsste in die Kette des Geschehens greifen, die über das Rad aller Zeiten läuft. Vermagst du mir zu sagen, Weib, in welchem Körper deine Seele gehaust und was sie in ihm gewirkt hat, ehe sie auf dem Weg der Wanderung in diesen kam? Es wird sich begeben haben, dass du in einem verblichenen Leben eine unerfüllte Schuld mit von hinnen genommen hast, und dieser Jude wurde nur geboren, um deine Schuld zu erfüllen, und da er es getan hat, war sein Tun in diesem Leibe vollbracht und er ist hingegangen. Du aber sei froh und danke, dass der Mangel deiner Seele hinweggetilgt ist!« Und als er dies gesagt hatte, wandte Rabbi Schalom sich zu den Zaddikim und redete: »Meine Lehrer und Meister, so es euch gefällt, höret auf

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mich, ich will euch eine Geschichte sagen vom heiligen Baalschem, dessen unendliches Verdienst uns stärke. In Rischa hat in den Tagen des grossen Heiligen ein vornehmer Jude gelebt, ein reicher Mann, gelehrt und wohlbewandert in den Schriften. Ob er gleich den Chassidim nicht zugezählt werden durfte, achtete er doch den Baalschem als einen Wunderbaren und Begnadeten, vernahm mit Begierde die Reden, die umgingen über die erstaunlichen Zeichen, die der grosse Meister gewirkt hatte, und gewann so endlich das Verlangen, ihn von Gestalt, Angesicht und Rede kennen zu lernen. Da liess er eines Tages seinen Reisewagen rüsten, hiess den Kutscher und den Diener aufsitzen und fuhr stattlich und prächtig angetan wie ein Adliger nach Miedzyborz, dem Wohnorte des Baalschem. Dort betrat er dessen Haus und war recht bedacht, den Heiligen seine Gelehrsamkeit spüren zu lassen, denn so hoffte er es zu erlangen, dass der Meister ihn wert erachte, mit ihm über die Auslegung der Schrift oder über die Geheimnisse der Kabbala zu reden. Dergleichen aber liess der Baalschem gar füglich abseits liegen und sprach einfach und beschaulich von allerlei Weltdingen, wobei den reichen Juden dünkte, dass der Zaddik ihm durch das Gespräch keine gewaltige Ehre erwiese. Dennoch wollte er ansehnlich und würdig Urlaub nehmen, und so legte er, bevor er seinen Abschied bot, ein Päckchen Rubel still vor sich auf den Tisch. Der Baalschem sah es, und für einen Augenblick kam ein feines, strahlendes Lächeln in seine Augen, und es war, als ob er über die Stube und den Gast, ja über alles Land weit hinaus auf ein fernes Geschehnis schaue. Wie es nun der Brauch ist bei den Juden, dass sie den Zaddik heimsuchen und von ihm heischen, dass er mit der Gewalt seines Gebetes den Himmel bezwinge, ihren Wünschen Gnade und Erfüllung zu gewähren, dafür ihm aber eine Gabe reichen, damit er, der um ihretwillen stets mit dem Geist über der Erde schwebt, sein und seines Hauses täglich Bedürfen auf ihr bestreiten könne, so gab der Baalschem sich jetzt den Anschein, er vermeine, auch hier sei es um solch ein Lösegeld zu tun, und sprach: ›Nun, Freund, müsst Ihr mir aber auch sagen, was Euch fehlt und wofür ich den Mittler machen muss?‹ Darauf sprach der Reiche, und er legte in seine Worte eine gar stolze Zufriedenheit: ›Mir mangelt – der Name Gottes sei gesegnet – nichts! Mein Haus hat seinen Wohlstand, die Kinder sind mir aufgewachsen zur Freude meiner Seele, meine Töchter haben mir angesehene Eidame zugebracht, Enkelkinder werden mir im Hause gross. … Nein, Meister, nichts fehlt mir!‹ Nun, meinte der Baalschem, solch ein Lösegeld sei ein rares Ding und nicht übel anzunehmen. Ihm sei es noch nie widerfahren, dass ein Jude

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vor ihn getreten sei und ihm ein Opfer gereicht habe, ohne ihm zugleich das Herz zu zerreissen und die bittere Lauge seiner Leiden wie eine ätzende Flut darüber auszugiessen. Der eine bot ihm den Anblick einer qualvollen Wunde, für die er Heilung suchte, ein anderer weinte, dass sein unfruchtbares Weib ihm Kinder gebären möge, dem dritten drohte das Gefängnis und er wollte ihm entrinnen. Hier aber war einer gekommen, der gab, und begehrte nichts. ›Weshalb bist du denn zu mir gekommen?‹ fragte er. ›Nur sehen wollte ich Euch,‹ gab der Mann zurück, ›denn Eure Wunder leben im Volke, und man nennet Euch einen göttlichen Mann. Ich aber habe zu meiner Seele gesprochen: ›Ich will hingehen und ihn von Angesicht und Stimme kennen!‹ Darauf der Baalschem: ›Nun, Freund, ist dem so, dass du den weiten Weg getan hast, allein um vor mir zu stehen mit Aug und Ohr, so sieh mich auch gut an und hör mir zu – ich will dir eine Geschichte erzählen und hingeben zur Spende auf deinen Weg. Aber, Freund, gut hör mir zu, und alle Kraft der Seele leg in dein Lauschen! Meine Geschichte ist so geschehen: Es haben einmal in einer Stadt zwei reiche Juden gewohnt, Nachbarsleute, die hatten ein jeder einen Sohn. Die Jungen waren bei gleichen Jahren, begnadete Seelchen und beide von fruchtbarem Verstand. Sie ersannen ihre Spiele füreinander und lernten zusammen und liebten einander mit einer tiefen, unbeirrbaren Liebe, dass einer gleichsam des andern Leben war. Aber wie lange ist Judenkindern die Jugend gegönnt? Werden sie nicht gleichsam zu früh aus dem Schlummer gerissen, der die Kraft des Tages bergen sollte? So die beiden. Sie wurden dreizehn, vierzehn Jahre alt, dann vermählte man sie. Der eine zog viele Meilen weit gegen Mittag, der andere noch weiter nach der anderen Seite fort. Nun aber, Freund, hör mir gut zu. Die beiden jungen Leute waren bloss in ihrer Liebe zueinander heimisch, die Welt war ihnen noch fremd, und so schrieben sie sich allwöchentlich lange Briefe und darin war ihr Leben. Allmählich jedoch haftete ihr Blick an dem, was sie zunächst umgab und anging, und das zog ihre Gedanken an sich und sog sich fest in ihrem Geiste; aber jeden Monat schrieben sie einander und verschwiegen sich mit nichten, was ihnen begegnet war. Dann aber schloss die Welt sie in ihre Arme und presste ihren Seelen den freien Atem aus, und sie hatten Scham, einander in Briefen zu gestehen, dass ihrem Herzen die Stille mangelte, daraus das lebendige Wort der Liebe kommt, und waren sich zutiefst zu teuer, einander die hohlen Schalen leerer Worte zu bieten, und so schwiegen sie endlich gar, und nur das Gerücht aus fremdem Mund

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spann zwischen ihnen feine Fäden hin und wieder, und sie hörten voneinander, dass beide in Wohlstand hausten und gross und gesegnet in ihrer Welt waren. Nach vielen Jahren aber fügte es sich, dass einer von ihnen alles dessen verlustig ging, was ihn reich, froh und sicher gemacht hatte, ja, dass er so arm wurde, dass kein ehrbares Gewand sein eigen war. Wie er nun dastand und wider das Elend stritt, dachte er des Jugendfreundes und sprach zu sich: Er, der mir einst die ganze Welt und viel schöner war, als sie selbst es später sein mochte, er wird mich wiederbeleben aus dieser Not, die mich starr und lahm macht, wenn ich nur zu ihm kommen werde. Und er ging unter den Leuten umher und erborgte sich das Reisegeld unter vielen Demütigungen und Leiden und fuhr in die Stadt, in der der Freund hauste, und suchte ihn heim. Dort wurde er in glückseliger Herzenswärme empfangen, das ganze Haus einte sich zum Feste. Als sie beim Mahle sassen, Seite an Seite, fragte der Freund: ›Du Seele meiner Kindheit, sage mir, wie ergeht es dir in der Welt?‹ Sprach der andere: ›Viel mag ich nicht reden, wisse nur, selbst die Kleider, in denen ich gehe, sind nicht mein!‹ Und wie er redete, fielen ihm die Schmerzenstränen aus den Augen und sickerten in das feine Linnen, das den Speisetisch festlich deckte. Da hat der Gefährte nimmer gefragt, und das Mahl ist weitergegangen mit Scherz, Gesang und Spiel. Als es zu Ende war und Freund bei Freund in der Stille sass, rief der Hausherr seinen Schreiber und hiess ihn eine Aufstellung seines ganzen Vermögens machen, und als das geschehen war, alles zu zwei gleichen Hälften teilen und die eine seinem Herzbruder übergeben. Der vor Tagen noch Arme fuhr reichgesegnet heim, traf alsbald Arbeit und Gelingen vereint, und in einigen Jahren stand sein Haus reicher und sicherer da, als es je vordem gewesen war. In der nämlichen Zeit aber fügte es sich, dass im Hause des andern Freundes das Unglück Gast wurde und sich als ein hartnäckiger Geselle erwies, der nimmer von hinnen wich, wie der Mann auch alle Gewalten antrieb, es zu verjagen. Erst mit ihm zugleich zog es aus dem Hause. Da aber war die Dürftigkeit übergross geworden, und zu alledem traf er kein Herz auf seinem bitteren Wege, das ihm geraten und ihm geholfen hätte. Wie er nun in einer armseligen Stube sass und die Not wie eine grosse, dürstende Spinne in ihr grauses Gespinst ihn einwob, und er fühlte es atemlos immer enger und dichter werden, da fiel ihm der Freund seiner Kindheit ein, und vor seinem Namen riss das Gewebe, und er fühlte, wie sein Geist beschwingt und frei sich aus der Tiefe hob, bereit, den Kampf mit den feindseligen und unreinen Elementen der Welt aufs neue zu beginnen. Er schrieb sogleich an den Genossen, von dem er vernommen

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hatte, dass sein Wohlstand weit über seinen ehemaligen Besitz hinausgewachsen war, dass er zu ihm zu kommen gedächte in grosser Bedrängnis, um aus seiner geliebten Hand ohne Scham sich die Hilfe zu erbitten. Und er liess ihn wissen, an welchem Tag und zu welcher Stunde er die Stadt zu verlassen gedachte, um den Weg zu ihm zu nehmen. Dann, zur rechten Zeit, schon völlig wohlgemut, machte er sich zu Fuss auf den weiten Weg. Der grossen Müdigkeit, die ihn schliesslich befiel, achtete er kaum, denn hinter jeder Biegung der Strasse, in jeder fernen Staubwolke hoffte er das Gefährt des Freundes zu erblicken, der ihm entgegenfahren würde, denn er wusste ja den Tag seiner Wanderung. Er näherte sich schon der Stadt, – noch immer allein, zu Tode erschöpft. ›Vielleicht ist mein Freund auf einem andern Wege mir entgegengefahren, – es gibt wohl deren mehrere, die von seiner zu meiner Stadt führen!‹ dachte der Wanderer. ›Er wird, da er mich nicht angetroffen hat, umgekehrt sein, und ich werde ihn in seinem Hause finden!‹ Da er die Häuser und Gärten der Stadt in einem Schimmer von Weiss und Grün vor sich sah, schwand ihm die Schwere aus den Gliedern, und er schritt rascher aus. Unschwer vermochte er den Weg zu seines Freundes Haus zu erfragen, es lag stattlich und ernsthaft in einer reichen Strasse. Er trat ein und fand den Saal, in den er trat, angefüllt mit wuchtigen, wertstrotzenden Geräten, aber von Menschen leer. ›Seltsam,‹ dachte er, ›dass mein Freund auch hier mich nicht erwartet. Sollte mein Brief verloren, sollte der Bote trügerisch gewesen sein?‹ Er liess sich nieder und wartete. Indessen sass sein Freund oben im letzten Stockwerk des hohen Hauses in seinem Gemach zwischen Büchern und Rechnungstafeln. Er hatte den Kopf in seine Hände vergraben. Seit Tagen stritt seine Seele einen ungeheuren Kampf. Als er den Brief seines Jugendfreundes erhalten hatte, stand jene Stunde vor ihm, da der andere all sein Hab und Gut mit ihm geteilt hatte, um der Liebe aus den Kindertagen willen, da ihre Seelen Geschwister gewesen waren. Und er verstand, dass nun an ihm die Reihe war, ein Gleiches zu tun. Nun aber hatte sein Wesen, einst rein und gütig den Händen des Ewigen entsprungen als eine klare, singende Quelle, sich in jenen Zeiten, da er aus plötzlicher Armut rasch wieder zu unvermutetem Reichtum gelangt war, getrübt. In ihm war zuerst die Angst vor einem erneuten Verarmen gewesen, später eine übertriebene Liebe zum Besitz, die sich zu einem kalten Geiz steigerte. Darüber war er von innen leer geworden. Und nun bäumte es sich in ihm auf vor dem Gedanken, sich auch nur von einem kleinen Teil des Seinen zu trennen. Er beschloss endlich, jede Gabe zu verweigern. Da er aber bedachte,

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dass beim Anblick des Freundes alle Härte in ihm schmelzen könnte, dass seine Seele auftauen würde, wenn sie aus dem Blütengarten ihrer Jugend das Silberläuten vernähme, überkam ihn eine würgende Angst. Er rief seine Diener und befahl, dass sie den Mann aus dem Haus zu weisen hätten, und er legte ihnen schreckliche Worte, scharfe und seelenlose, in den Mund. Als nun einer aus der Schar der Knechte eintrat, der Wartende seinen Namen nannte und den Herrn begehrte, tat der Diener nach seinem Befehl und wies ihn fort, wie es ihm geboten war. Der arme Gefährte ging von hinnen aus der Stadt an einen Ort, wo er mit seiner Seele allein war. Da weinte er sich gut aus vor Gott und sprach: ›Herr, der Freund, der mein einziger Hort auf Erden war, meiner Seele Bruder, dem ich von meinem Gut einst so viel gegönnt habe wie mir selber, er hat mich nicht vor sein Angesicht gelassen.‹ In seinem bitteren Weinen, in der Auflösung seiner Seele, erschöpft am Leibe von der weiten Reise ohne Rast und Labung ist der Arme gestorben in jener Stunde. Wenige Tage später ist auch der Reiche dahingegangen. Zusammen haben sie vor dem hohen Richter der Welt gestanden. Dem Armen hatten Leid und Güte ein Sein im hohen Lichte errungen, der Reiche aber sollte versinken in Verwirrung und Trostlosigkeit in den Raum, wo Eis wie Feuer brennt und die harten Herzen ihren Ort haben. Als sein Gefährte den Richtspruch vernommen hatte, schrie er unter Tränen: ›Herr, selbst die Helle, die von dir ausgeht, kann den dunklen Kummer nicht erleuchten, den ich alle Ewigkeit fühlen werde, wenn dieser in das Reich der Qualen versinken soll, der meine ganze Welt war, als ich, ein Kind, mit ihm zu deinen Füssen spielte.‹ Es redete die hohe Stimme der Himmel und sprach zu ihm: ›Dein und sein Richter sollst du sein. Was begehrst du für euch beide?‹ Da antwortete jener: ›Gewähre uns, o Herr, noch einmal auf die Welt niederzusteigen, lass unsere Seelen mit einem neuen Körper, mit einer reinen Hülle der irdischen Wirklichkeit geboren werden. Noch einmal lass ihn selbst über den Weg seiner Seele entscheiden. Ihn lass in Reichtum, mich in Armut geboren werden. In Bettlergestalt will ich bei ihm erscheinen und zurückerlangen, was er mir schuldet und verweigert hat in jenem vergangenen Leben. Ist sein Sinn aber karg wie einst, glühende Tränen wie flüssiges Silber will ich über sein Herz giessen, Worte, die wie Flügel die Luft um ihn bewegen sollen, will ich ersinnen, auf den Knien will ich mit seiner starren Seele ringen, um das Gut von ihm zu erreichen, sei es Heller um Heller!‹ Da beschied die hohe Stimme den beiden eine neue Wiederkehr.

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Der harte Mann lebte in reichem Hause ein üppiges Leben, der andere kam unter dürftige Leute in einem fernen Lande, ein Armer in Wahrheit. ›Nun, o Freund,‹ mahnte der Baalschem, ›spanne deine Seele an und höre mir gut zu! Was vor diesem Leben, auf der Wanderung der Geister mit ihnen beiden sich ereignet hatte, das wussten sie nimmer. Es geschah, dass der Arme in der Not seines Lebens auf die Wanderschaft zog, um zu betteln, und so ist er in die Stadt gekommen, wo der andere in seinem schönen Hause unter Reichtum und gutem Leben in die irdische Seligkeit eingebettet war. An dem Tag, da der Arme jenen Ort betrat, war sein Elend und Entbehren so hoch gestiegen, wie ein schwellendes Wasser, das seinen höchsten Stand erreicht hat. Er irrte durch die Strassen und kam zum Haus des reichen Mannes. Hier hielt er ein und hob die Hand, mit dem Klopfer die Tür zu berühren. In dem Augenblick kam ein Mensch des Weges, erblickte den Bettler an der Pforte und rief ihm zu: ‚Hier pochst du vergebens, aus dem Haus ist noch keiner getröstet weggegangen!‹ Da wusste er, dass man ihm die Gabe weigern würde, und seine Hand fiel herab, aber etwas in seinem Herzen sagte ihm, dass er hier und nirgend anders das Almosen empfangen müsse, wenn seinem Leben sollte geholfen werden. So pochte er und trat vor den Herrn des Hauses und bat um eine geringe Spende, damit er seinen wühlenden Hunger stillen könne. ›Reicht Ihr mir nichts, so sterbe ich!‹ sagte er. ›Ihr haltet mein Leben in eueren Händen!‹ Der Hausherr verzerrte sein finsteres Gesicht zu einem Lachen und höhnte: ›Spar deine Zeit und red nicht lang! Jedes Kind auf der Strasse weiss, ich gebe kein Almosen. Um dich brech ich nicht mit meinem Brauch!‹ Da fühlte der Arme eine seltsam zwingende Kraft in sich aufsteigen, es war ihm, als bäte er um mehr als um sein Leben. Fremde, gewaltige Worte stiegen aus seinem Munde, er fand eindringliche Geberden und rang mit aller Anstrengung um das verschlossene Herz. Als der Reiche eine so grosse Gewalt auf sich einstürmen fühlte, erfasste ihn die Wut, er schlug auf den Bettler los, und er, der sein letztes Leben in seine Bitten gesammelt hatte, sank unter dem Schlage tot darnieder. ›Nun, Freund,‹ sagte der Baalschem, ›hast du mich zu Ende gehört. Fehlt dir wirklich noch immer gar nichts?‹ Da brach der Jude in Tränen vor dem Meister in die Knie: ›Rabbi, der Böse bin ich. Du hast den Schleier der Zeiten aufgetan, meine Augen haben über die Kette des Geschehens hingeschaut! Was soll ich tun, dass ich die Seele, die verdorben ist, mir behüte und reinige?‹ Es antwortete der Baalschem: ›Geh und sieh in jedem Armen auf dem Wege ein Kind des Bettlers, den du erschlagen hast, gib von deinem Gut

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und von deiner Hilfe soviel du vermagst, lass deine Seele die Gabe mit Liebe überströmen!‹« Dies hat Rabbi Schalom von Kaminka den Zaddikim erzählt, die zum Jahrestag in Ropczyce versammelt waren.

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In den Tagen des Baalschem lebten zwei Freunde. Beide standen in jener Zeit der reichsten Jugend, da noch die letzte Morgenröte hold und unbestimmt am Himmel glüht: die wilden Träume der Dämmerung zittern noch nach, bald naht Sonne, die strenge Herrin, und ihr Reich der Gestalten wird sichtbar, aber jetzt leuchtet die schwere und selige Stunde, und Traum und Tag erblassen vor der morgenroten Frage um den Sinn des Lebens. Oft sassen die Freunde beisammen, an einen Baum oder an die kahle Wand ihres Stübchens gelehnt, und redeten von dem Sinn des Lebens. Dem einen war die Welt erschlossen durch das Wort des Baalschem. In jedem Ding empfing er eine Botschaft und mit jeder Tat sandte er eine Antwort. Er warf sich auf das junge Feld hin und sog die Gnade aus der Ackererde, er grüsste den Wind und das Wasser und die schönen vorüberlaufenden Tiere, und sein Gruss war ein Gebet. So war ihm der Sinn des Lebens in Gott eingewurzelt. Sein Gefährte aber ereiferte sich gegen ihn darob und meinte, all dies sei eine Sünde wider den Geist der Wahrheit. Denn viele Flächen habe jedes Ding und viele Formen jedes Wesen, und wer seine Seele zur Sklavin eines Glaubens erniedrige, der sehe von allem nur e i n e Fläche noch und e i n e Form, arm und behaglich werde sein Weg, und tot sei in ihm das Suchen nach Wahrheit, der Sinn des Lebens. Darauf antwortete jener leisen Mundes, in der Welt der Verklärung gebe es keine Flächen und Formen, sondern jedes Ding stehe da in seiner Reinheit. So stritten die beiden Freunde oft miteinander, und jeder fühlte im Sprechen die Tore seiner Seele aufspringen und sah angstvoll und verzückt in ein Land, von dem das Wort nichts zu sagen wusste. Da geschah es, dass eine schwere Krankheit den einen der Jünglinge, der dem Baalschem ergeben war, befiel. Und an der starren Kraft der Schmerzen erkannte er, dass sie die Boten einer Gewalt waren, die sein Erdenleben zum Ende führen wollte. Daher stemmte er sich nicht wider sie, sondern legte seinen Wunsch in den des mächtigen Elements, das seinen Leib mit brennenden Armen umschlungen hielt. Mochte er aber noch so willig das Kommen des Blitzes erwarten, der zwischen den beiden Welten aufzuckt, dennoch stand ein Grauen auf dem Wege von seiner Gegenwart, die so leidvoll aber so unsagbar wirklich war, zu alle dem, das sich ereignen sollte im Abgrund der Ewigkeit. Und so liess er dem Baalschem kundtun, dass er sich zum Sterben rüste, und als der Meister an seinem Bette stand, sprach er: »Rabbi, wie und womit soll ich ziehen? Sieh, ein Grauen steht vor mir und stört meinen Frieden.« Der Baal-

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schem nahm die Hand des Kranken in seine Hände und redete zu ihm: »Kind, besinne dich: bist du nicht allezeit von Heer zu Heer gegangen und von Tor zu Tor? So sollst du auch fürder gehen in den Gärten der Ewigkeit.« Und er hob den Finger über die Stirn des Kranken und berührte sie und redete zu ihm: »Dieweil noch die Stunde der letzten Morgenröte über dir ist, die schwere und selige Stunde, und dieweil du wahrhaft in ihr gelebt und ihr Glück nicht gescheut hast, will ich deinen Weg leicht machen und will mein Zeichen auf deine Stirn schreiben, auf dass niemand deinen Schritt schrecke und deine Bahn hemme. So gehe hin, Kind, wenn dich der Tod beruft, und trage meinen Segen vor dir und deine Wahrheit.« Und neigte sich über ihn und legte Stirn an Stirn und segnete ihn. Aber als der Meister gegangen war, schlich sich der andere Jüngling ins Zimmer und kniete vor dem Bette nieder. Und er küsste die Hand des Kranken und sprach: »Mein Liebling, sie wollen dich nehmen, und ich weiss, du wehrst dich nicht. Und besinne dich, wie wir damals mit einander redeten, in den Birken am Sommerabend, und zuletzt sagtest du nur: Ja, es ist, und ich sagte: Nein, es ist nicht. Und nun ist mir sehr bange, und du gehst fort von mir, gehst willig fort mit diesen deinen Augen. Mein Liebling, die Birken sind in deinen Augen und der Sommerabend. Und alles sagt: Ja, es ist. Und sieh, ich fühle, dass es ist, ich selbst sage es ja, und weiss es auch, denn sonst wäre kein Sinn in allem, und du gehst fort von mir, und wohin gehst du?« Und er schluchzte über der Hand des Freundes und küsste sie wieder und wieder. Der Sterbende aber sprach: »Lieber, ich gehe den Weg weiter. Und sieh, wenn ich unterwegs bin, dann will ich dein gedenken und unserer Liebe und wie wir unsere Seelen tauschten am Abend. So will ich dann kommen zu dir, dir zu künden von meinem Wege. Darum gib mir deine Hand. Sieh, ich umschliesse sie mit meiner und schlinge meine Finger in deine, so stark ich kann, und dies ist mein Versprechen an dich, dass ich kommen werde.« Da schrie der andere auf und rief: »Du sollst nicht gehen, ich halte dich, du sollst nicht gehen!« Aber der Sterbende sprach in seinem Frieden: »Nicht doch, und kannst auch nichts wider den Herrn. Jedoch meine Hand sollst du halten, bis das Atmen in ihr aufhört, und dies wird bald sein, und mein Versprechen an dich ist mein Gruss an die Erde, die so schönen Wind und so schönes Wasser und so schöne vorüberlaufende Tiere trägt, mein Gruss, dass ich wiederkommen will, sie und dich zu schauen.« Das war sein Scheiden. Und als er aufstieg, öffneten sich die Pforten des Firmaments vor dem Zeichen auf seiner Stirn, und weit tat sich ihm auf das Reich der kommenden Welt. Und er wandelte von Tor zu Tor und von Heiligtum zu

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Heiligtum und erfuhr das Unerfahrbare und empfing den Sinn des Lebens. Die Zeit schwieg, und der Raum war nicht da, nur der Weg des Werdens ohne Ort und Ablauf, nur das Blühen in der Luft der lebendigen Stille. Aber plötzlich war sein Schritt gehemmt, und die Zeit schwatzte um seine Ohren, und der Raum stiess ihn ringsum mit kantigen Fäusten. Da stand er inmitten von wortlosen Gewalten und konnte nicht weiter. Und er rief ihnen zu und wies ihnen das Zeichen auf seiner Stirn. War ein Starren in den Gewalten und wie ein Lachen und fast wie ein Kopfschütteln, und er verstand, dass seine Stirn kein Zeichen mehr trug. So stand er und war ein Mensch, und die Verzweiflung des Menschen glitt heran und fasste seine Finger wie zum Tanz. Da riss er sich los und wandte sich, und da sah er einen alten Mann vor sich stehen, der sprach zu ihm und fragte: »Warum stehst du hier?« Antwortete er: »Ich kann nicht weiter.« Sprach der Alte: »Nicht gut ist das Ding. Denn verweilst du dich hier und gehst nicht weiter und weiter, dann kannst du das Leben des Geistes verlieren und bleibst an diesem Ort wie ein stummer Stein. Denn alles Leben der kommenden Welt ist zu schreiten von Heer zu Heer, nach oben und oben, bis in den Ungrund der Ewigkeit.« Fragte ihn der Jüngling: »Und was vermag ich zu tun?« Sprach wieder der Alte: »Ich will in das Heiligtum gehen und hören, zu erfahren, was dies ist und warum dies ist.« Er ging und kehrte zurück und sprach: »Du hast deinem Freunde versprochen, zu ihm zu kommen und ihm von deinem Wege zu künden, und hast es vergessen und nicht getan. Darob ist das Zeichen von deiner Stirn gewischt und ist dir verwehrt, in dieses Heiligtum zu kommen, welches das Heiligtum der Wahrheit ist.« Da schaute der Jüngling die Erde und seinen Freund, und er trauerte ob seines Vergessens. Und nach einer Weile fragte er: »Was soll ich tun, um das Ding zu lösen?« Antwortete der Alte: »Geh hin zu deinem Freunde und erscheine ihm im Traume der Nacht und künde ihm, was er zu wissen begehrt.« Dies sprach er und ging von dannen. Der Jüngling aber stieg zur Erde nieder und trat in den Traum seines Freundes ein. Er strich dem Schlafenden über die Stirn und flüsterte in sein Ohr: »Lieber, ich bin gekommen, um dir von meinem Wege zu künden. Du aber zürne mir nicht, dass ich gesäumt habe. Denn wie kann man eines Menschen, und auch des liebsten, gedenken mitten im Schauer der Gotteswirbel, die alle Grenzen überfluten?« Jener aber warf sich im Schlafe empor und drückte die Hand an die Augen und stiess die Worte seines Unmuts aus schier ineinander gepressten Zähnen hervor: »Geh von mir, du Bild und du Lüge, und ich will mich nicht länger von dir narren lassen. Gewartet habe ich und gewartet, und der Verheissene

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kam nicht. Und nun ist ob des Wartens mein Sinn verdorben, dass ich Nacht für Nacht getrogen werde und den Verheissenen zu sehen vermeine. Und dann ist alles dunkel und zerfliesst in die Schatten. Aber nun will ich mich nicht länger narren lassen und befehle dir, zerfliesse sogleich und auf mein Wort, denn es soll mich nicht befallen dein Schwinden wie ein Schlag aus leerer Nacht. Und komm nicht wieder, hör dies und komm nicht wieder!« Da erzitterte der Jüngling und beugte sich über den Gefährten und schmiegte sich zitternd an ihn und sprach ihm zu: »Wahrlich, kein Trug, sondern dein Freund bin ich und gekommen zu dir aus der Welt des Wesens. Und denke du, wie wir sassen unter den Birken am Sommerabend. Und denke, wie unsre rechten Hände einander umschlangen in der Stunde meines Sterbens.« Aber der Träumende schrie: »Das Gleiche sagst du Nacht für Nacht, und fängst du mich und ich hebe mich zu dir, da gehst du hin in die Schatten. So lass nun ab von mir, und sieh, ich mache mich los!« Und nochmals versuchte der Gekommene den Kampf und rief: »Hast du nicht selbst gesprochen: Ja, es ist?« Jener jedoch lachte mit harter Stimme: »Wohl habe ich gesprochen, und auch gewartet habe ich. Aber der Verheissene kam nicht, und nun schaue ich es: ich war das Spiel in der Hand einer grausamen Stunde. Die hat mich geknechtet und geschändet und hat das Ja des Verrates auf meine Lippen gebracht. Aber ich schreie dir entgegen: Nein, es ist nicht. Und Nein und Nein, und nun will ich dich in Stücke reissen, du tolle Lüge!« Da wich der Jüngling und bog sich zum Entschwinden, aber noch kam ihm ein Letztes, und aus matter Ferne rief er dem Genossen zu: »So will ich dir ein Zeichen bringen. Am hellen Tage will ich wiederkehren und dir ein Zeichen bringen.« Und er sah das Haupt des Geliebten müde, aber mit einem aufblinkenden Staunen, wie der erste Vorschein der Hoffnung, über den Augen in die Kissen zurücksinken. Und in der oberen Welt eilte er zum Tempel der Wahrheit und suchte den Alten und fragte ihn: »Rede und hilf mir, welches Zeichen kann ich meinem Freunde bringen, dass ich in der Wahrheit bin?« Sprach der Alte: »Auch darin will ich dir raten, mein Sohn, und Gott sei mit dir. Siehe, am Mittage jedes Sabbats predigt der Baalschem in dem ewigen Lehrhause, das in dem Himmel des heiligen Erkennens steht, von den Geheimnissen der Lehre. Und bei der dritten Sabbatmahlzeit, welche genannt wird das Mahl der heiligen Königin, predigt er von diesen Geheimnissen vor den Ohren der Menschen, nachdem sein Wort die Weihe der oberen Welt empfangen hat. So gehe du am Mittage des Sabbats und höre die Rede deines Meisters in den Himmeln, und sodann steige zu deinem Freunde nieder, wenn er des Nachmittags auf seinem Lager ausgestreckt ist und nicht mehr wachen Sinnes, sich doch auch keine Ruhe

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finden kann, und vermelde ihm die Rede. Und dies sei ihm zum Zeichen, auf dass er zum Mahl der Königin in das Haus des Baalschem komme und die Worte vernehme aus seinem Munde.« Und der Jüngling tat also und nahm die Rede des Meisters auf und stieg nieder und trat in den Wachtraum seines Freundes und goss die Worte über ihn aus wie einen Balsam. Sodann beugte er sich über ihn und küsste ihn, Mund auf Mund, mit dem Kusse des Himmels. Dann entflog er. Jener aber erhob sich alsbald und ihm war, als habe er das Unerfahrbare erfahren. Und er ging hinaus, da standen die Birken in der Mittagsonne. Lange sass er unter den Birken wie ein Wissender, und in dem jungen, weit ausgespannten Sinne strahlte die Erfüllung von Ferne zu Ferne. Als aber die Sonne sich neigte, ging er zum Hause des Baalschem, nicht aus dem Zweifel, sondern aus der Sehnsucht. Und er stand in der Tür und hörte wie aus dem Munde der Gotteskraft die Worte aus dem Munde des Baalschem. Da neigte er sich zu den Füssen des Sprechenden und sagte: »Rabbi, segne mich, dieweil ich sterben will. Denn was soll ich noch hier?« Aber der Meister sprach: »Nicht also. Zu den Birken tritt hinaus, die wieder im Sommerabend stehen, und rede zu ihnen in deiner Freude: Ja, es ist. Und wohl segne ich dich, aber nicht zum Tode, sondern hier schon zu schreiten von Tor zu Tor, von Heer zu Heer, und so für und für.«

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Das dreimalige Lachen

Einmal an einem Freitagabend, als der Baalschem mit einigen seiner Schüler zu Tische sass, begab es sich, da er eben den Segen über den Wein gesprochen hatte, dass sein ernstes Gesicht mit einem Male wie von innen heraus mit einem hellen freudigen Schein erstrahlte, und er begann zu lachen und lachte gar sehr in einer innigen Weise. Die Schüler blickten im Zimmer umher und schauten sich untereinander an, aber da war kein Ding, das des Lachens Ursache hätte sein können. Nach einer kurzen Frist lachte der Baalschem zum andern Mal und ganz auf die selbe Art, wie mit der unvermuteten Fröhlichkeit und Helle eines Kindes. Und dann ging eine kleine Weile hin, und sein Lachen erklang zum dritten Male. Die Schüler sassen schweigsam um den Tisch. In ihren Augen war dieser Vorfall ein seltsames und unbegreifliches Ding, denn sie kannten den Meister wohl und wussten, dass seine Seele sich nicht leichtfertig solcher Bewegung hingab. So ahnten sie einen tiefen unbekannten Grund dieser Freudigkeit und hätten ihn gern gekannt, doch keiner fand den Mut, dass er den Meister darum angegangen hätte. Da richteten sie alle ihre Augen auf den Rabbi Wolf in ihrer Mitte, dass der vom Meister erfrage, aus welcher Ursache dieses Lachen erklungen sei. Denn so war der Brauch, dass der Rabbi Wolf am Sabbatausgang, wenn der Baalschem in seiner Stube sass und Rast hielt, zu ihm trat, um von ihm zu vernehmen, was im Laufe des Sabbats sich mochte zugetragen haben. So geschah es auch diesmal, dass dieser Schüler zum Meister kam und ihn fragte: »Lass uns wissen, was der Sinn des Lachens war, das gestern abend über dich kam.« Da sprach der Baalschem: »Nun wohl, so möget ihr wissen, woher mir die Freude zuflog. Haltet euch bereit, mit mir zu kommen, und ihr sollt hören.« Darauf hiess er den Knecht die Pferde einspannen, denn so hielt es der Baalschem, dass er jedesmal nach Ausgang des Sabbats für eine Weile die Stadt liess, eine Fahrt ins freie Land zu tun. Er bestieg mit seinen Schülern das Gefährt, und sie kehrten nicht wie sonst nach einigen Stunden in ihre Heimat zurück, sondern fuhren die ganze Nacht weiter schweigend durch die Dunkelheit. Am Morgen langten sie in einem Ort an, und der Baalschem liess bei dem Hause des Vorstehers den Wagen halten. Bald war seine Ankunft der ganzen Judenheit bekannt geworden, und alle kamen und umringten das Haus, um ihn zu ehren. Er aber achtete niemandes, sondern befahl dem Vorsteher, ihm Sabbatai, den Buchbinder, rufen zu lassen. Da erwiderte Jener ein wenig unzufrieden: »Meister, was wollt

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Ihr von diesem, der ein kleiner unbeachteter Mann in unserer Gemeinde ist? Wohl weiss jeder von uns, er ist ein redlicher Jude, aber nie habe ich ihn um der geringsten Wissenschaft willen rühmen hören. Was kann Euch der frommen?« »Gleichwohl«, sprach der Meister, »ist es mein Wille, dass du ihn mir rufest.« Man schickte um ihn, und er kam, ein bescheidener grauhaariger Alter. Der Baalschem sah ihn und sprach: »Auch deine Ehefrau möge kommen«, und auch sie war alsbald zur Stelle. »Nun«, heischte der Meister, »magst du mir erzählen, was ihr in der letzten Sabbatnacht getan habt. Aber sage die schlichte Wirklichkeit, habe keine Scham und verbirg uns nichts.« »Herr,« erwiderte jener, »nichts will ich vor dir verhehlen, und habe ich gesündigt, so siehst du, mich bereit, aus deinen Händen die Busse zu nehmen, als käme sie von Gott. Siehe, alle Tage, die mir der Himmel gegeben hat, kam mir mein Erwerb aus meiner Arbeit. Einst war sie gesegnet, und ich war tätig und vermochte mir beizeiten ein kleines Gut zur Seite zu legen. Von Anfang an aber war es mein Brauch, dass am Mittag des fünften Tages in der Woche mein Weib hinging, um mit aller Sorglichkeit jene Dinge einzukaufen, die nötig sind, den Sabbat zu feiern, unser Bedürfen an Mehl, Fleisch, Fischen und Lichtern. Und wenn am Vortag des Sabbats die zehnte Stunde sich erfüllt hatte, so liess ich meine Arbeit und ging zum Bethaus, um dort bis nach dem Abendgebet zu verweilen. So habe ich von Jugend an getan. Jetzt aber, da ich zu altern anhebe, hat sich das Glücksrad über mir gedreht, mein Besitz ist mir aus den Händen geschwunden, und meine Kraft, mir aus meiner Arbeit Früchte zu schaffen, ist gar gering. Nun lebe ich ein bitteres Sorgenleben, und oft ist es mir nicht gegeben, alles Bedürfen des Sabbats am fünften Tage einzuschaffen, wie es unser Hausbrauch zu guter Zeit war. Mein Trost ist, – was auch über mich kommen mag, eines brauche ich nicht zu lassen: um die zehnte Stunde des Sabbatvortages ins Bethaus zu gehen und so das Meine zu tun. Nun vernimm, Meister, es war die zehnte Stunde am Vortag dieses Sabbats, und in meiner Hand lag auch nicht ein Heller, die Bedürfnisse des Sabbats zu erstehen, und mein armes Weib hatte kein Stäubchen Mehl mehr in der Truhe. Nun aber hatte ich alle Tage meines Lebens nie eines Menschen bedurft, so wollte ich auch diesen Tag ohne Almosen bestehen und nicht bittend eine Schwelle überschreiten. Und es war in meinem Herzen beschlossen, dass es besser sei, am Sabbat zu fasten, denn eine Gabe zu begehren von Fleisch und Blut. Aber ich fürchtete, dass es meiner Frau allzusehr das Herz bedrücken würde, am Sabbat auch nicht eine Kerze auf dem Tische brennen zu sehen, und dass sie eine

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oder etwa ein Sabbatbrot oder ein wenig Fisch annehmen möchte, wenn ihrs eine Nachbarin in Güte anböte. Darum redete ich zu ihr und verlangte ihr es ab, dass sie verspräche, von keinem Menschen eine Hilfe zu nehmen, sei es auch, dass wer sie darum bedrängte; denn verstehe, Meister, die Juden, unter denen wir leben, sind gut von Gemüt und möchten es schwerlich besehen, dass uns der Tisch am Sabbat leer stünde. Und meine Frau sagte mirs zu. Ehe ich zum Bethaus ging, sprach ich zu ihr: ›Heute werde ich säumen und mich im Gebet verweilen, bis der Tag sich neigt. Denn wenn ich mit den andern vom Bethaus heimginge und sie sähen in meinem Hause kein Licht, so würden sie mich um die Ursache fragen, und ich wüsste nicht, was ihnen antworten. Wenn ich aber dann komme, mein Weib, so wollen wir in Liebe empfangen, was der Himmel uns bescheiden wird.‹ So sagte ich meiner alten Ehefrau zum Troste. Sie aber blieb und kehrte und säuberte das Haus in allen Ecken und Winkeln, und da der Herd kalt war und sie keine Speise vorzubereiten hatte, blieb ihr viel Zeit, die sie nicht anders hinzubringen wusste, als dass sie einen alten Schrein öffnete und die vergilbten, verblichenen Kleider aus unserer Jugend herausnahm, um sie zu bürsten und reinlich wieder einzubreiten. Da fand sie unter all dem alten vertragenen Zeug einen Ärmel, den wir vor Jahren einmal vermisst hatten und der seither nimmer aufzufinden gewesen war. Auf dem Kleidungsstücke aber sassen etliche Knöpfe, wie Blümlein geformt, aus Gold- und Silberdraht, wie man dergleichen lieben Zierat auf altem Zeug wohl antrifft. Die schnitt mein Weib gar eilig ab und trug sie dem Goldschmied hin, und der gab ihr so viel Münze, dass sie erstehen konnte, was an Speisen für den Sabbat not tat, auch zwei gute, starke Lichter und sogar noch, wessen wir für den nächsten Tag bedurften. Am Abend, als alles Volk gegangen war, schritt ich langsam die Gässchen lang unserem Hause zu und sah schon von weitem, dass ein Licht brannte, und der Kerzenschimmer liess sich gar festlich und traulich an. Ich aber mochte dessen nicht in mir achten und dachte: Siehe, meine alte Frau hat getan nach Weiberart und konnte sich nicht enthalten, etwas anzunehmen. Ich trat ein und fand den Tisch wohl gedeckt und bereitet mit Sabbatbrot und Fischen, und auch den Wein fand ich vor, den Segen darüber zu sprechen. Aber ich verwehrte mir, mich zu erzürnen, weil ich den Sabbat nicht zerreissen wollte. So hielt ich mich zurück und sprach den Segen und ass vom Fisch. Darnach sagte ich, aber ich tat es mit sanfter Rede, weil mich ihrer armen bekümmerten Seele erbarmte, zu meiner Frau: ›Nun erweist es sich, dass dein Herz nicht bereit und stark ist, das Harte zu empfangen.‹ Sie aber liess mich nicht zu Ende reden, sondern sprach mit heller Stimme: ›Mein Mann, entsinnst du dich noch des alten

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Zeugs mit den Silberknöpfen, das uns seit Jahren mangelt? Als ich heute die grosse Truhe ausfegte, habe ich es vorgefunden. Die Knöpfe gab ich dem Goldschmied, und für das Geld habe ich den Sabbat bestellt.‹ Meister, als ich das hörte, da gingen mir die Augen von Tränen über, so gross war die Freude, die mir aus dem Herzen kam. Und ich warf mich nieder vor dem Herrn und dankte ihm, dass er meines Sabbats gedacht hatte. Ich sah mein Weib und sah ihr gutes Gesicht von meinem Glück wiederstrahlen. Da wurde mir warm, und ich vergass der vielen kümmmerlichen Tage und fasste meine Frau und führte sie im Tanze rund in der Stube herum. Dann ass ich die Sabbatsuppe, und mir war immer leichter und dankbarer zumute; da tanzte ich in Freuden und Lachen ein zweites Mal, und als ich die Zukost verzehrt hatte, tat ichs zum dritten. Sieh, Meister, so gross war mein Glück, dass diese Segensgabe am Sabbat mir von Gott allein und nicht von den Menschen gekommen war. So konnte ich mein Herz nicht verschliessen in dieser gewaltigen Freude. Herr, wenn es aber, wiewohl es mir im Sinne lag, mich damit vor Gott zu neigen, unwürdige Torheit war vor dem Höchsten, dass ich mit meinem Weibe getanzt habe, so gebet mir eine gnädige Busse, und es soll an mir nicht fehlen, dass ich sie verrichte.« Hier schwieg Sabbatai, der Buchbinder. Und der Baalschem sprach zu seinen Schülern: »Wisset! alle Heerscharen des Himmels haben mit ihm gejubelt und mit ihm sich im Reigen gedreht, und eine goldene Freude strahlte im Paradiese um der Freude dieser beiden alten Herzen willen. … Und ich, der all dies sah, lachte darob mit ihm zu den drei Malen.«

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Rabbi Arje, der Prediger von Polana, trug in seiner Seele brennendes Begehren nach einer Weisheit, die in der Gemeinde der Irdischen so selten ist, dass nur einer, ein Einziger je in der Frist eines Menschenalters, ihr Erbe und Hüter ist. Zur Zeit, da Rabbi Arje auf Erden ging und um ihren Besitz rang und sich härmte, war es der Baalschem, der sie inne hatte, als Beute, die der Flug seiner Seele ihm gebracht, eines Tages, als sie in unermessliche Höhen sich erhoben und geweitet hatte. Der Sinn der Weisheit aber war, dass der, so sie trug, Gehör hatte für die Sprache aller Kreaturen unter der Sonne. Es ging ihm ein, was die Tiere auf der Erde und in den Lüften zueinander redeten und sich vertrauten von den Geheimnissen ihres Daseins; ja selbst was Baum und Kraut aussprachen, war ihm kund. Und wenn er sein Ohr an den schwarzen Erdboden oder an den nackten Felsen presste, kam ihm das Raunen der Geschöpfe zu, die das Licht scheuen und in Spalten und Höhlen hausen. Nun war Rabbi Arje in sich wohl klar, welche Vermessenheit in seinem Wunsche lag. Doch vermeinte er, indem er sich selbst zum Richter über seine Seele setzte, er dürfe ihn dennoch hegen, des hohen Willens halber, aus dem ihm dieses Begehren geboren war. Er, der ein Redner war und eindringlich und furchtbar im Worte werden konnte, er glaubte, wenn er die Sprache aller Kreaturen verstünde und auf seine Zunge leiten könnte, würde seine Rede mächtiger denn je die Seelen aller ihm zuführen, er würde predigen aus dem Geiste der Erde und der Himmel und so regieren die Herzen seiner Gemeinde, wie ein Kaiser seine Reiche. Und sein Inneres dürstete nach jener feinen, ungreifbaren Macht, die ihm herrlicher und begehrenswerter vorkam, denn irgend ein Ding der Welt. So fasste er den Mut, zum Baalschem zu ziehen, ihm seine Begierde zu offenbaren und mit seinem Verlangen den Willen des Heiligen zu umspannen, auf dass der ihm gewogen werde und er aus dem seligen Munde die Weisung empfange, die zu jener wunderbaren Stufe führt, auf der das Menschenohr allen Stimmen unter dem Himmel verstehend sich auftut. Und er meinte, da das Endziel dessen, was er heischte, ein so hohes war, würde der Meister die Gewährung ihm nimmer versagen. Wunsch und Hoffen beschwingten seine Füsse. So ging er des Weges, ohne Mensch und Ding zu achten, ganz eingesponnen in seinen Wundertraum der Seelenmacht. Und so trat er in die Stube des Meisters. Das Gemach war von Menschen erfüllt, die umher stehend oder sitzend lauschten, denn der Baalschem redete gerade. Als Rabbi Arje die Tür hinter sich zugezogen hatte, neigte er tief und

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schweigend das Haupt gegen die Erde nieder, und als er es erhob, tauchte sein Blick, vom nie rastenden Begehren seines Geistes hartglänzend und unstet geworden, just in die milden blauleuchtenden Augen des Meisters, die wie zwei sanfte, friedenstrahlende Sterne über dem Raume waren. Der Baalschem stand sprechend ihm gegenüber an die Wand gelehnt. Der Rabbi fühlte an seinem Blick, dass er ihn wohl gesehen und erkannt hatte, aber der Heilige tat es durch kein Wort oder Zeichen kund, und so blieb der Gruss unerwidert, da alle, die sonst anwesend waren, aus Ehrfurcht vor dem Erhabenen nicht sprachen und sich nicht bewegten. Der Gast blieb neben der Tür stehen und wartete. Er bemerkte, dass der Meister in einem Gleichnis redete, doch war er nicht imstande, der Rede mit seinen Sinnen zu folgen, denn es kränkte ihn tief im Herzen, dass der Baalschem sich nicht unterbrach, ihn mit Worten willkommen zu heissen oder ihm doch mit der Hand einen flüchtigen Gruss zuzuwinken. Doch zügelte er seine ungeduldigen Gedanken und nahm sich vor, sich stille zu verhalten, bis der Meister geendet haben würde, denn sicherlich wollte er ihm alsdann Willkomm und Frieden entbieten. Der Baalschem aber hatte gesprochen, und nun liess er den und jenen aus der Hörer Mitte zur Rede kommen, denn noch erzählend hatte er aus den Mienen gelesen, was ein jeder unter ihnen empfand, Widerspruch, Frage und Zustimmung. Während Rede und Gegenrede gehört wurden, achteten nicht Wirt noch Gäste auf den Angekommenen, und so stand der Rabbi fort und fort tottraurig und verwundet an der Tür. Die Scham, sich so missachtet zu sehen, stieg ihm heiss und trocken in der Kehle auf und dörrte ihm schier den Atem. Und dennoch wusste er sich allzeit vom Heiligen geliebt und in Freundschaft gehalten. Es war ihm, als müsste er sich leise hinwegschleichen, um irgendwo sich auszuweinen; als könnte er sein Lebtag nimmer froh werden. Aber während seine Hand sich an die Klinke schleichen wollte, sie sachte niederzudrücken, gedachte er des Begehrens, das ihn hergebracht hatte, aufflammend beherrschte ihn sein ewiger Wunsch, und er meinte, keine Demütigung sei so elend, keine Schmach so brennend, als dass er sie um dieses Zieles willen nicht ertrüge. So harrte er aus. Indessen wandten sich viele der Gäste zum Gehen. Der Wirt geleitete sie zur Tür, den Frieden spendend. Da, als sein Gewand den Rabbi streifte, wandte er sein Haupt fast unmerklich ihm zu und gab ihm den Gruss, gleichsam über die Schulter hinweg, ohne Freude und Bewegung, mit gleichmütiger Stimme, wie einem Niegesehenen, um den sich der Sinn nicht bekümmert. Dem Prediger war nun der Mut gar krank und siech geworden. Er empfand, als hätte man ihn des Bodens beraubt, darauf seine Füsse standen, und er sänke ganz allmählich tiefer und tiefer in eine

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kalte wirbelnde Finsternis. Doch wurde seine Sehnsucht wiederum wach und belebte ihn aufs neue, und er raffte all seine Stärke und all seine Geduld zusammen und wappnete sich so gegen die Unbill, die dieser Tag ihm brachte. Und er sagte sich: Mag es ein grausamer Zufall sein, der mich so beschämt, oder eine Prüfung, die der Meister als gut erfand zu meiner Läuterung, ich bleibe und harre der gütigen Stunde. So brachte er den Tag bis zum späten Nachmittag in dem Hause des Baalschem zu unter den Freunden und Schülern und empfing von seinem Herrn geringe Ehre und Beachtung. Gegen Abend liess der Meister Wagen und Pferde zur Ausfahrt rüsten, denn er gedachte noch des selbigen Tages eine Reise nach Kaminka und Jampol anzutreten. Und schon befiel den Rabbi Arje kalt und bitter eine allerletzte Verzweiflung, da er den Herrn sich so seinem Wunsche entziehen sah, als der Meister mit einer freundlichen Bewegung seiner Hand ihn zu sich rief und ihm gebot, sich einigen anderen Männern seiner Begleitung auf dieser Reise zu gesellen. Da erbebte des Predigers Angesicht vor tiefer Freude, denn er wusste, der Heilige wählte mit Bedacht zu Genossen auf seinen Fahrten jene unter seinen Jüngern, denen er sich oder seinen Willen oder sein Erkennen in irgend einer Weise mitzuteilen gedachte. Nunmehr eilte das Schiff seiner Hoffnung aufs neue mit weissen, glänzenden Segeln vogelgleich auf das Meer seines stolzen Wunsches hinaus. Denn er fühlte, dass der Meister sein Begehren erkannt und die Gewährung auf dem Wege ihm zugedacht hatte. Schweigsam und voller Bangen fuhren die Genossen in das schon dämmernde Land hinaus. Und wie nach dem Sonnenniedergang alle Gerüche der Pflanzen und der Dunst der Erde herber und stärker sich lösten und die Luft würzten, stieg die Erwartung aus den Seelen auf, denn auf diesen Reisen, die der Meister mit den Schülern unternahm, pflegten ernste und wunderbare Dinge sich zu erfüllen. Weisse Nebel, sonderbar gestaltet, wirbelten und zogen sich aus den Ackergründen auf den Weg heraus, warfen sich den Pferden entgegen, stiegen knapp neben dem Wagen aus der Erde auf, die Schauer der Insassen vermehrend. Und dann kam das Dunkel, und die Pferde griffen eiliger aus, alles verschwamm in der Finsternis. Rabbi Arje war nach dem ersten jubelnden Entzücken seines Geistes in eine seltsame müde Erstarrung verfallen. Während der scharfen Fahrt tat ihm die Nachtkühle weh, und sein Herz war ermattet von den wechselnden Gefühlen des Tages. Er hielt die brennenden Augen krampfhaft offen, denn, wie er meinte, jeden Augenblick konnte der Meister seinen Namen rufen, um mit ihm von dem zu reden, was er begehrte. Doch der Baalschem verblieb in wortloser Versunkenheit. Um Mitternacht ge-

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bot er dem Wagen Halt. Es war eine Herberge in einem Städtchen am Wege, vor der sie hielten. Der Meister stieg sogleich die Treppe empor zum Obergemach, wo der Wirt ihm eine Ruhestätte bereitete. Die Jünger verblieben insgesamt in der grossen Stube zu ebener Erde. Eine Magd richtete eilig mit einigen Polstern und Decken notdürftige Lager auf den Wandbänken her. Alle warfen sich ermattet nieder und schliefen ein. Rabbi Arje legte sich mit den anderen hin, aber sowie sein Körper das Lager berührte, war alle die lähmende Müdigkeit, die ihn auf der Fahrt gepeinigt hatte, dahin. Seine Gedanken flogen in einem wirbelnden Tanze auf, und sein ewiger Wunsch kreiste in ihrer Mitte. Er fühlte den Sturm in seiner Seele wie einen äusseren Lärm. Mit Anstrengung lauschte er auf jeden Laut im Hause. Würde der Meister jetzt, jetzt, da alle schliefen, in der geheimnisreichsten Stunde der Nacht, ihn auf seine Kammer rufen, um ihm die Offenbarung zu bescheren? Wie er lag und lauschte, befiel ihn ein halber Schlummer, aus dem alsbald ein trügerischer Ton ihn auffahren liess. Dann lag er glühend in dem Fieber seines Geistes und harrte dem Morgen entgegen. Während die Schatten der Nacht aus dem tiefen Schwarz sich in ein fahles Grau verfärbten, vernahm er über sich ein Geräusch in den Dielen und erkannte die Schritte des Meisters. Dann wurde sachte eine Tür aufgetan, und eine Stille wie zuvor folgte. Der Prediger lag eine Weile und lauschte, dann bezwang ihn die Ungeduld, er schlich sich an den Schlafenden vorbei hinaus und eilte die Treppe hinauf, da er nun gewiss war, dass der Baalschem, der stets in einer geringen Frist des Schlafes die Quellen seines Lebens erneute, sein Lager verlassen hatte. Und Rabbi Arje vermeinte, diese nachtgeborene Stunde des kommenden Tages sei seiner Bitte günstig. Auf den letzten Stufen der Treppe traf ihn ein so starkes, so blendendes Licht, dass er getroffen zurücktaumelte und eine Zeit mit geschlossenen Augen sich an dem Geländer festhielt. Als er mühsam die Augen aufzuhalten imstande war, gewahrte er den Heiligen in der Öffnung seiner Kammertür, und das Angesicht des Baalschem war der Kern jenes feurigen Glanzes, der ihn vorher zurückgeworfen hatte. Das Haupt des Meisters war wie von einer bleichglühenden flüssigen Materie; aus den Augen schienen blaue Silberbäche hervorzubrechen. Der Anblick war in Furcht und Schönheit von solcher Art, dass den Prediger eine zitternde Schwäche in allen Gliedern befiel und er sich auf der letzten Stufe niederwarf, das Antlitz auf den Boden bergend. Er fühlte, dass der Erhabene jetzt Eines mit dem höchsten Strom der Glorie war und nur die schimmernde Hülle, von der fernen Seele bestrahlt, vor seinen Augen zwischen den zwei Welten weilte. Als er es wagte, den Blick wieder zu erheben, glich

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das Antlitz des Herrn einem erbleichenden Gestirn, das der Tageshelle der Wirklichkeit weicht. Nach einer Weile rief ihn der Baalschem mit Namen. Er erhob sich von den Knien und eilte gesenkten Gesichtes zu dem Meister, warf sich dort aufs neue zur Erde und brach in Tränen aus. »Freund, was begehrst du von mir um diese frühe scheue Stunde?« fragte der Heilige. In dem Beben seines ehrfürchtigen Herzens fand der Prediger kein Wort zur Erwiderung. »Sei ohne Zagen, steh auf!« ermutigte ihn der Meister, doch als der Rabbi zu reden versuchte, brach nur ein rauhes Stammeln über seine Lippen. Da erhob er sich verstört und beschämt, verliess den Herrn, ging leise zu den Genossen hinunter, die tief im Morgenschlaf befangen sein Kommen überhörten, und suchte aufs neue sein Lager auf. Er erhob sich mit ihnen zum Frühmahl, sass verschlossen inmitten ihrer Gespräche und verriet mit keiner Silbe das Erlebnis der Nacht. Der Baalschem aber war wie immer, geruhig und mitten im Leben. Als es zur Abfahrt ging, rief er den Prediger herbei und sagte zu ihm: »Freund, du sollst den Platz an meiner Seite einnehmen, wir wollen beide selbander sein.« So fuhren sie in den lauten, geschäftigen Tag hinein. Als das Städtchen hinter ihnen lag, die Felder sich dehnten und fern ein Wald vor dem Blau des Himmels dunkelte, sah der Baalschem seinem Nachbarn mit einem eigentümlichen Lächeln ein wenig vorgebeugt unter die Augen und begann so zu reden: »Der Grund deiner Ankunft und deines Weilens in meinem Hause, Lieber, ist mir bewusst. Du hofftest, dass ich dich in meine Erkenntnis einführe, damit sich dein Ohr wie meines der Sprache aller Kreaturen öffne. Siehe, ich weiss, dies allein hat dich zu mir geführt.« Rabbi Arje ergriff die Hand des Meisters und legte sein brennendes Angesicht darauf, und kein Ton der Antwort kam über seine Lippen. Der Baalschem aber sah hinaus auf die zartgrünen Saatfelder, und das Lächeln blieb auf seinen Mienen. Nach einer Frist redete er wieder: »Setze dich näher zu mir und neige dein Ohr zu meinem Munde. Ich will dich nun meine Weisheit wohl lehren. Sei nur ohne Sorge, dass die Andern uns vernehmen möchten, meine Rede geht allein in dein Ohr ein, und der Lärm von Huf und Rad verschlingt meine Worte für die Genossen. Ehe ich dich in den Urgrund des Geheimnisses einführe, tut es not, dass ich ein Ding, das du weisst, vor dein Auge hebe. Aber wisse, dass dieses, was ich dir nun sagen will, nur die Vorbereitung für die letzte der Offenbarungen ist. Du weisst von dem gewaltigen Wagen, der in der höchsten Sphäre der oberen Welt steht. An seinen vier Enden ist je das Haupt einer Kreatur, eines Menschen, eines Stieres, eines Löwen und eines Adlers. Diese vier Geschöpfe bergen in sich Ursprung und Quell alles dessen,

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was in den lebenden Wesen unserer Welt sich ereignet und sich erfüllt, Atem gewinnt und als Wort geboren wird. Siehe, von dem Menschenantlitz kommt uns der Geist und die Seele der Sprache zu, die wir zu Menschen Geschaffenen hier unten tauschen. Aus dem Haupte des Stieres kommt den Tieren, die uns dienstbar und hilfreich wurden, die Kraft und der Sinn ihrer Laute; von dem des Löwen die Bedeutung der Schreie, die das unbändige und wilde Getier in den Wäldern und Wüsten in die Dämmerung sendet, sich zu rufen und zu locken; der Kopf des Adlers aber erzeugt in seinem Gehirne die Laute der Vogelwelt, mit denen sie die Lüfte unter dem Himmel füllt. Und das wisse, Freund, wer seine Seele so hoch zu spannen vermag, dass sie in jene Sphäre der oberen Welt eindringt, in der der Wagen steht, und wer dann aus ihren Augen so klar und tief schaut, dass er das Geheimnis des Grundwesens der vier Kreaturen des Wagens erkennt, die das Sinnbild der Geschöpfe unserer Welt sind, der, Freund, hat den Sinn offen für alle Laute auf Erden. Er scheidet das falsche Wort von dem wahren und den trügerischen Ton vom herzgeborenen. Er hört die Stimmen unter der Erde sich in den Nächten unterreden, wenn dem Menschengeschlecht die Stille vollkommen und jeder Laut abgestorben dünkt. Und die Stimmen der Tiere auf der Erde und der Vögel in den Lüften tragen ihm jene Heimlichkeiten der Natur und des Lebens herbei, für die die Sinne der Menschen sonst taub und unempfindlich sind. Siehe, und so schweigt die Welt ihm nie, sie drängt sich an ihn heran mit allen Wundern, nichts ist ihm starr und versagend, denn er hat die Wurzel, aus der alles kommt, im oberen Wagen geschaut und erkannt. Aber verstehe wohl: was ich dir nun sagen werde, ist der Kern der Offenbarung selbst. Darum beuge dein Ohr tief zu meinem Munde und höre mit ganzer Seele mir zu. Verschliess dich in diesem Augenblick vor allem, was ausser dir und meinen Worten weilt!« Und nun flüsterte der Meister dem Prediger erhabene und nie vernommene Dinge zu, dass die Mysterien des Wagens und seiner Gestalten ihm in ihrer letzten Tiefe erschlossen wurden. Und der Meister fuhr fort zu reden, und es war dem Prediger, als ob Tor um Tor vor ihm aufspringe, alle Schatten und Dunkelheiten wichen, alles Trübe und Unreine sich kläre und sein Herz dem grossen Herzen der Welt nahe sei. Und wie er so an den Meister gedrängt, das eine Ohr nahe dem Munde des Heiligen, sass und im Lauschen aufging, fuhr der Wagen in einen Wald ein. Der Weg war knapp und eng für das stattliche Gefährt, und dem Prediger streiften die Nadelzweige das eine Ohr. So wurde er ein kleines aufmerksam auf den Ort und bemerkte, dass allerlei Vögel gar anmutig ihren Frühgesang aufführten. Und bald unterschied er wunder-

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lich genug einzelne Worte und Partien, und das ganze war eine grosse Unterredung, und alles hatte einen munteren, lieblichen Sinn. Da wurde es dem Prediger fröhlich und stolz ums Herz, und er hörte emsig weiter zu und unterschied alsbald auch Stimmen anderer Tiere und den Inhalt ihrer Reden mit recht innigem Behagen an seiner wunderbaren Fähigkeit. Über dem einen aber liess er das andere mit nichten, sondern horchte mit dem zweiten Ohre nicht minder eifrig den Worten des Meisters, und so mit geteiltem Geiste nahm er beides hin. Der Wald ging zu Ende, und ganz nah sah man die Stadt liegen, die das Ziel des Baalschem war. Der Meister hatte seine Unterweisung geendet und blickte den Prediger stillschweigend und forschend an. »Hast du gut inne, was du von mir vernommen hast?« fragte er nach einer Weile. Und Rabbi Arje sah ihn jetzt mit sicheren, frohen Augen strahlend an und sagte: »Ja, Meister, alles hab ich wohl verstanden!« Da fuhr ihm der Heilige mit der flachen Hand leicht über die Stirn. Siehe, nun hatte der Rabbi alles, alles vergessen, was der Baalschem an Offenbarung in seinen Geist gelegt hatte. Er sass da, trostlos leer und wie ausgebrannt, und hörte die Vögel in den Ackerfurchen schreien und verstand und empfand dabei so wenig als je vor diesem Tage – eines Getieres simpler, sinnloser Laut! Der Baalschem aber lächelte und sprach: »O wehe dir, Rabbi Arje, der du eine unstete, gierige, naschhafte Seele hast! Konntest du sie mir nicht ganz überlassen in dem Augenblick, da ich die Gnade aller Gnaden in sie legen wollte? O wehe dir, Freund, der du in Vielheit und Hast sie bereichern wolltest! Gottes Wunder sind derer, die sich in Einem sammeln und bescheiden können!« Da sank der Prediger in sich zusammen und schluchzte schwer und bitterlich.

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Rabbi David Pirkes, der Schweigende, der Schüler des Baalschem, wollte den Messias rufen. Er wollte aus seinem Willen einen Sturmwind machen, der sollte an der oberen Pforte rütteln, sollte einziehen und rufen und fassen und auf die Erde reissen. Und er versammelte seine Kraft und holte sie aus allen Dingen, denen sie gegeben war, und band sein Leben los von allen Wesen und Mächten. Und als seines Leibes Gegenwart und schwerer Sinn seine Weihetaten störten, kasteite er sich und brachte sich dahin, wo man der Speisen und des Schlafes entraten kann, und lebte in Einheit und Gelöstheit der Seele viele Tage und Nächte. Aber bald gewahrte er seine Schranken und sah, dass er allein war. Er sollte für die Zeit sprechen, aber er konnte es nicht. Er sollte ihre Reife künden, aber er fühlte sie nicht. Er war nicht mit ihr vermählt. Fern von ihm breiteten sich die Lager der Menschen. Da fand Rabbi David, was ihm zu tun gebührte. In jedem Jahre am Versöhnungstag wurde er berufen, das grosse Gebet vor der Gemeinde zu sprechen. Jetzt verstand er den Sinn davon. Er wusste, er würde auf den Flügeln seines Wortes das Beten aller tragen, das Gebet der Gemeinde und das Gebet ganz Israels, – denn ist nicht das Bethaus des Baalschem der Mittelpunkt der geistigen Erde? Und er beschloss, sein Wort zu schleudern auf das Volk wie ein gewaltiges Netz, dass alle Inbrunst von ihren engen Eigenzielen weggezogen und dem Messias zugeführt werde. Binden wollte er die Seelen Israels zu einer ringenden Schar, zu einem fordernden Fluge. Ja, er wollte für die Zeit sprechen. Alle Worte sollten in sein Wort fliessen und in ihm emporströmen. Ja, er wollte die Reife der Zeit künden. Das Vielfache sollte zur Einheit zusammenwachsen, die keinen Mangel mehr kennt. Vermählen wollte er sich mit der Zeit und sein Blut mischen mit ihrem Blute, seine Seele mischen mit ihrer Seele, und das Vermählte in die Nacht werfen um des Morgens willen. Der Versöhnungstag war da, und die Gemeinde versammelte sich zum Frühgebete. Wie Tote standen sie in den Kleidern der Toten und bereiteten sich, in das Auge der Ewigkeit zu schauen. Nur der Meister fehlte. Der Baalschem war sonst der erste im Bethause, wie ein Torhüter Gottes. Heute säumte er, und die Schar der Seinen harrte sein voller Bangigkeit, denn sie wussten, wie alles, was er tat, seinen Sinn nahm aus dem heimlichen Geschehen der Welt. Als der Morgen sich schon in den breiten Tag ergossen hatte, trat der Baalschem endlich leise und fast zögernd ein und ging den Versammelten vorbei und sah keinen an und ging an seinen Ort und setzte sich und legte den Kopf auf das Betpult. Und jene standen und schauten zu ihm und wagten nicht, mit dem Beten zu beginnen. Er aber

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hob den Kopf nach einer Weile, und seine Augen blinzelten wie eines, der sich müht, in die Sonne zu blicken, und dann senkte er ihn und hob ihn wieder, und dies währte eine Zeit. Danach regte er sich wie ein Erwachender, der einen umklammernden Traum von den Gliedern abtun will, und winkte, man solle sich zum Frühgebete stellen. Aber als dieses gesprochen war und die Gemeinde sich geweihten Herzens zu dem grossen Gebete rüstete, welches das Mussaf genannt wird, sah der Meister sich im Kreise um und sah sie stehen, eine grosse Schar, stumm, im Gewande des Todes, hingegeben zum Sterben und zum Leben. Und leise, Wort von Wort gezogen, wie aus der Tiefe des Sterbens, sprach er zu denen, die um ihn standen: »Wer wird Mussaf vorbeten?« Und so kaum hörbar die Rede war, im gleichen Augenblick war ein Staunen entzündet in der Gemeinde und wogte still durch den stillen Raum. Denn alle wussten, dies war Rabbi Davids Amt, und er war eingesetzt vom Meister seit Jahr und Jahr und war Gottes Diener im lauten und tragenden Sprechen des hohen Mussaf am Tage der Versöhnung, aus all den zitternden Herzen und von all den flüsternden Lippen emporzutragen die Wünsche und die Bitten, von der Scheu der Herzen und Lippen gelöst. Aber keiner wagte, dem Heiligen zu antworten, und schweigend wogte das Staunen. Er jedoch fragte wieder und wieder, bis einer leise und mit Zagen sprach: »Rabbi David ist doch der Beter!« Da richtete sich der Baalschem auf und wendete sich zur Lade, vor der Rabbi David unirdisch bleich und wie abgestorben stand, und redete zu ihm in gewaltigem Hohn, Wort von Wort gezogen, wie aus der Tiefe der Hölle: »Du, David, willst Mussaf vorbeten? Weisst nichts und willst Mussaf vorbeten am Jomhakippurim?« Da standen sie alle bestürzt und verstanden nicht, was sich ereignete, und jeder fragte seine Seele, wie es möglich sei, dass der Meister dergestalt einen Menschen schmähe, und gar einen Zaddik, und gar am Tage der Versöhnung. Allein die Furcht war gross, und niemand sprach ein Wort. Rabbi David aber stand noch starr und aufgereckt vor der Lade, und ihm war, als trüge ihn ein Wirbelsturm durch die Nacht; und Fäuste hoben sich aus dem Wirbel und schlugen ihn, und dünne, spitzige Finger zerrten das Gewand von ihm, und stählerne Knöchel klopften ihm an Aug und Ohr und Brust und Arm und Knie und lähmten ihm Sinne und Glieder, und eisige Krallen rissen seine Seele hervor und warfen sie in die Nacht. So stand er wie in leerem Raume und wurde keiner Zeit gewahr und war verloren. Urplötzlich aber wich der Wirbel von ihm, und er sah sich vor der Lade stehen und hörte ein Wort des Baalschem zu sich herübertönen. Und der Baalschem redete mit leichter Stimme: »Ist keiner da, vorzubeten, nun, so geh schon du, Rabbi David!« Da stürzten Rabbi David die Tränen hervor, und er weinte und weinte und

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begann aus dem Weinen zu beten und betete in grossem Weinen, und sein brechendes Herz sandte ihm Tränen und immer neue Tränen. Und die Tränen nahmen in ihrem Strome seine Bereitschaft mit und seinen grossen Willen und trugen mit sich davon die Kawwana seiner Seele, die Frucht der Tage und der Nächte, die Spannung des Unendlichen. Und nichts fühlte und wusste er mehr als das Leid seines Herzens, und aus seinem Herzeleid redete er zu Gott und betete und weinte. Und an seinem Leid entbrannte das Leid der Gemeinde und schlug empor wie Bergesfeuer. Wer eine Decke gebreitet hatte über die Winkel seines Lebens, der zog sie nun weg und wies Gott seine Wunden wie einem Arzte. Wer eine Mauer errichtet hatte zwischen sich und den Menschen, der riss sie nieder und litt den Schmerz der anderen in seinem Schmerze mit. Und wem die Brust schwer war, weil er in seinen engen Kreisen das Wort nicht finden konnte, das hindringt zum Kern der Geschicke, der fand es nun und atmete in Freiheit. Aber als das Fest sich geneigt hatte und die letzten Feiertöne der Neïla in den Abend verbraust waren, trat Rabbi David vor den Baalschem hin. Und als er vor ihm stand, ohne ihn anblicken zu können, und das gütige, ruhevolle Angesicht unfern des seinen nicht sah, nur fühlte, vermochte er sich nicht länger zu halten, sondern sank vor die Füsse des Herrn und lag eine Weile stumm und ringend da. Endlich hob er den Blick und sprach in schwerer Mühe: »Rabbi, welche Schuld hast du an mir erschaut?« Und hinter ihm hatte sich die Gemeinde geschart, und alle harrten der Worte des Meisters; mit Augen, die das Gebet geläutert und befriedet hatte, sahen sie auf seinen Mund, und von all den Herzen, die aus dem Quell der Gottesglut gestillt waren, schlug ihm die eine Frage entgegen. Und der Baalschem sprach: »Keine Schuld finde ich an dir, Rabbi.« Und legte ihm die Hände auf die Schultern, und neigte sich zu ihm wie ein Vater, der seinen Sohn im Schweigen segnet, und sprach zum andern Mal: »Keine Schuld finde ich an dir.« Und als des andern trauervoller, wartender Blick zu ihm aufflog, sprach er weiter: »O Rabbi David, du hast dich bereitet und geheiligt und hast im Feuer der Kasteiung gebadet deinen Leib und hast deine Seele gespannt wie eine Bogensehne der Kawwana, um den Messias zu rufen.« Und er hielt inne, und jener beugte die Stirn, und er sprach weiter: »O Rabbi David, du wolltest dein Wort wie ein Netz schleudern auf das Volk Israel und aller Willen dir dienstbar machen, um den Messias zu rufen.« Und tiefer beugte jener die Stirn, und der Baalschem sprach weiter: »O Rabbi David, vermeinst du, deine Gewalt könnte fassen das Unfassbare? Und dränge sie auch vor bis zum innersten Himmel und umfinge mit zwingenden Armen den Thron des Messias, vermeinst du, du hieltest ihn, wie meine Hand deine

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Schulter greift? Über die Sonnen, über die Erden wandelt Messias in tausend und tausend Gestalten, und die Sonnen und die Erden reifen ihm entgegen. In seiner obern Form gesammelt, zerstreut in unsägliche Weite, hütet er allerorten das Wachsen der Seele, hebt er aus allen Tiefen die gefallenen Funken. Täglich stirbt er die stillen Tode, täglich keimt er in stillen Geburten, täglich steigt er empor und nieder. Wenn einst die Seele schlank und vollendet mit reinen Sohlen den reinen Boden tritt, dann wird seine Stunde in seinem Herzen aufpochen, dann wird er sich aus allen Gestalten ziehen und wird sitzen auf dem Throne, Herr der Himmelsflammen, die gesprossen sind aus den erlösten Funken, und wird niedersteigen und kommen und leben und wird der Seele sein Reich schenken.« Und weiter sprach der Baalschem: »Du aber, Rabbi David, was hast du getan? Du wolltest deine Seele mit der Seele Israels in die Nacht werfen um des Morgens willen. Aber kennst du den Herrn der Nacht, den Herrn des anderen Reiches? Wisse, immer ist Einer, der die Zeit befragt, und Einer, der für die Zeit antwortet. Einer, der geben will, und Einer, der nicht annehmen kann. Dieser ist er, der Herr der Nacht, der dazu eingesetzt ist, das Fehle der Zeit zu künden und zu vollziehen. Und als er sah, dass du dich bereitetest und heiligtest, da glomm eine grosse Freude in ihm auf, und er gedachte in deinem Gebete das Gebet Israels einzufangen und sich ein Spiel und ein Kleinod daraus zu machen. Und auch er spannte seine Seele wie eine Bogensehne der Kawwana, und stellte sich auf dem Wege auf, wo dein Gebet aufsteigen sollte, und mühte sich, es zu fangen. Und ich stritt mit ihm an diesem Morgen und wollte ihn verjagen, aber ich konnte es nicht. Da schlug ich deine Seele mit einem Wirbel der Schande, dass sie ihren Willen verliess und in Tränen aufging. Und dein Gebet stieg auf mitten in den Gebeten Israels und stieg frei empor zu Gott.« Da beugte sich noch tiefer und völlig zu Boden die Stirn des Rabbi David. Aber der Baalschem hob ihn empor und zog ihn zu sich heran und sprach: »Als das Weinen über deine Seele kam, da ist an deinem Leide das Leid Israels entbrannt. Und jeder stand im Läuterfeuer seines Herzeleids vor Gott, und jeder wurde rein im Strome seiner Tränen. Wie viele gefallene Funken hast du da emporgehoben! Fürwahr, Rabbi, als du weintest, da war der Messias in dir.«

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JOMHAKIPPURIM = Versöhnungstag. NEÏLA = Schlussgebet des Versöhnungs- 35 tages.

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Immer, wenn das Licht seinen Boten sendet, sendet auch die Nacht ihren Boten. Das Licht hat nur sein Auge, aber die Nacht hat tausend Arme. Der Bote des Lichts hat nur seine Tat, aber der Bote der Nacht hat tausend Geberden. Damals hiess er Jakob Frank. Aller Kunst des Truges kundig, fälschte er das Heiligste, durchzog mit zwölf Erwählten die Städte Polens und liess sich als den Messias und Gottessohn verehren. Der farbige Bann der Lüge ging von ihm aus, sein weicher glänzender Blick berauschte das Land, und jedes schwankende Herz fiel ihm zu. An einem Morgen fühlte der Baalschem eine Hand auf seiner Schulter, und als er sich wandte, sah er den Engel des Kampfes mit bleicher Stirn und zürnenden Brauen. »Was begehrst du, o Herr?« fragte er mit unsicherem Munde. Aber jener sah ihn von Grund zu Grund an, wie der Himmel einen Brunnen ansieht, und sprach nur: »Du weisst es« und ging. Und der Baalschem fühlte, dass die Hand von seiner Schulter gewichen war, aber an ihrer Statt war die Last eines langen Lebens gekommen und wollte nicht weichen. Dennoch rüstete er sich. Und da er sah, dass der Kraft, die in ihm wohnte, nicht genug war zum Werke, beschloss er, alle Strahlen heimzurufen, die er je an irdische Wesen gespendet hatte. Und er beschwor weithin die Strahlen und warf einen Ruf über die Erde und sprach: »Kehret heim, meine Kinder, denn ich bedarf euer zum Kampfe.« Und flogen alsbald herbei die Strahlenkinder und umlagerten ihn in urweitem Kreise und schwiegen. Und Israel der Sohn des Elieser, der Baalschem, blickte weit hinaus, wo Sphäre der Seinen sich leuchtend um Sphäre schloss, wie die sinkende Sonne am Tagesrande ihr Bild anschaut, ausgegossen im Abendrot über alle Fernen. Sodann sprach er mit leisen und langsamen Lippen: »Meine Kinder, meiner Kraft Gestirne und wandernde Flammen. Ich habe euch einst entsendet und hingeschenkt, Trost zu bringen oder Tat oder Freude oder Lösung. Aber nun rufe ich euch heim, dass ihr wieder mein seiet und mir helfet in dem grossen Streite wider den Boten der Nacht. Und seht, ich hätte euch nicht gezogen von den Stätten der lebendigen Welt, darin ihr wachset und Leben wecket, wenn es nicht um das Heil ginge und um die Geburt der Zukunft. Nun aber berufe ich euch.« Da war wieder das Schweigen und lag über dem Lande, als sei jeder Laut aufgesogen von dem schweigenden Licht der Strahlenkinder. Endlich sprach eines: »Vater und unser Meister. Vergib du, und auch ihr alle vergebet, dass ich leichtes Ding vor euch rede. Aber es ist dies, dass ich dich bitten will, lieber Herr, du mögest mich wieder an meine Stätte

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Die Legende des Baalschem

lassen. Denn als du mich aus dir gabst, hast du mich in das Herz eines Jünglings entsandt, der sehr traurig war. Er sah von seinem Fenster auf einen wildbewachsenen Hügel, der war einmal grün und einmal gelb und rot und einmal weiss, nach dem Wege des Jahres. Und der Jüngling stand da und sah darauf hin, wie man so auf die Dinge hinsieht. Aber seit ich in sein Herz gekommen bin, sieht er von seinem Fenster auf den Hügel des Lebens, und Grün und Rot und Weiss sind die Lichter eines zauberhaften süssen Spieles. Willst du es ihm nehmen?« Da schwieg der Baalschem und winkte dem Fünklein Gewährung zu. Aber alsogleich hoben andere Stimmen an und erzählten von den Menschen, die sie aus Zweifel und Leere, aus Taumel und Bitterkeit, aus Blindheit und tiefer Not befreit hatten und die, wenn sie von ihnen gingen, wieder hinsinken müssten in die harte verschlingende Finsternis. Und bald tönte es von tausend Mündern durch die Luft: »Willst du sie alle verderben, die du gelöst hast? Und welches Heil könnte es je sühnen, wenn alle diese jetzt heillos würden?« So tönte tausendfältig die Frage hin. Lange sass der Baalschem und lauschte der erschütterten Luft, die auch nach dem letzten Ton nicht wieder ruhig werden wollte, sondern zitterte und sang. Dann lächelte er seltsamen Angesichtes und sprach: »Wohl denn, meine Kinder, und ich segne euch zum andern Male. Und nun – kehret heim!« Und er erhob sich und breitete seine Hände über die leuchtenden Scharen, und es war wie ein Gruss der letzten Stunde. Und als er allein war und weit am Himmelsrand das letzte Strahlengold zurück in die Welt verfliessen sah, sprach er zu seiner Seele: »So suche dir nun eine Gefährtin, liebe Seele, die in ihre Tat gehüllt und geschlossen ist wie der ruhende Vogel in seine Schwingen und die also in der Glorie ihrer Gnaden steht, dass alle Strahlen ihrer Kraft nur den Glanz ihres Kleides dichter und dichter weben. Suche dir die Schwester, liebe Seele, und lege auf ihre Schultern die Botschaft und das Geheiss, und deinen Arm lege um ihren Nacken, und lenke sie wider den Mann, der tausend Geberden, dass sie ihn vertilge.« Und er schwang sich empor in die obere Welt und trat in den Prophetenhimmel. Da fand er Achija von Schilo, den Alten, der einst als der Gesandte des göttlichen Zornes wider die Könige Judas über die heilige Erde geschritten war. Der grüsste den Baalschem und sprach: »Gesegnet sei, der da kommt: Israel, mein Sohn. Ich höre eines Wunsches Rauschen um deine Schritte, eines mächtigen Wunsches Gebrause. Wie in der Zeit, da ich zu dir dem Knaben in den Nächten niederstieg und dich das Geheimnis des Eifers lehrte, und hell auf lodertest du mir entgegen und hieltest mich in den Armen deiner Feuerbrände, ehe ich noch bei dir war, so bist du noch heute des Feuers voll und glühst über und über. Wahrlich wie der Seraphim einer, der

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Feurigen, die ewig die eigene Flamme trinken und doch alle Welten aus ihr ernähren.« Aber der Baalschem gab ihm die Gegenrede: »Nicht also, lieber Meister, sondern hingegeben habe ich der Glut aus dem Kerne viel und viel, und bin nur noch der Schatten meiner Flamme, bewegt wie sie aber dunkel. Und dies ist mein Wunsch, den du entlauscht hast meinem Schritte, und wohl ein mächtiger: zu finden die Seele, die in einsamem Feuer atmet wie die Seraphim. Denn ich will ihr Feuer werfen auf den Boten der Nacht, dass es ihn aufschlürfe und zu nichte mache.« Da sprach Achija: »Des ist mir wehe, mein Sohn, dass ich dir die Kunde nicht schenken kann. Denn mein Amt ist, die erwählten Seelen das Geheimnis des Eifers zu lehren. Aber die solcher Lehre bedürftig und ihr geöffnet ist, und sei es die höchste Seele, es ist nicht die, die du suchst. Denn nicht dringt das Geheimnis zu denen, die selbst das Geheimnis sind. Doch lass uns Elija fragen, den Boten des Bundes. Auf seinen Fahrten über die Erden mag er wohl erschaut haben, die du suchst.« Und sie traten zu Elija hin, der eben mit flüchtiger Sohle durch die Halle des Prophetenhimmels ging, die Glieder noch gespannt vom Fluge, im Herzen schon neuen Weges gewärtig. Als sie an ihn traten, neigte er sich zu ihnen, und es war, als ob ein Wandelstern in seiner Bahn innehielte, um einen Menschen anzuschauen. Und ehe noch die Frage sich von ihnen gelöst hatte, redete der Seher zum Baalschem: »Den du suchst, ist Mosche der Hirt. Und wisse, er weidet die Schafe in den Bergen, die genannt werden die Poloninen.« Und kaum hatte das Wort ihn verlassen, neigte sich Elija wieder seinen Erden zu und bereitete sich zur neuen Fahrt. * Die milden Matten neigten sich wie Wellen, von dem Atem des tiefen und stillen Sommers regiert. Die Luft war voll eines Wissens, das nicht reden mag. Der Baalschem ging, und nichts rührte an seine Seele, denn sein Wille war über ihr und hielt sie jeglichem Ding verschlossen, die in einem langen Leben sich an ein jegliches Ding dahingegeben hatte in strömendem Mitdasein. Er achtete der Tiere nicht, die aus dem Walde traten mit traulichem Geäuge, da sie seinen Schritt vernahmen, und antwortete dem Zweige nicht, der seinen Arm liebkoste. Ganz in sich gezogen ging er durch den Stolz der Gelände hin. Seine Füsse verspürten den Weg nicht und trugen ihn wie in einem steten Anbeginn. So kam er an die grosse Bergwiese, die hinter einem breiten Graben anhebend in jähem Schwung sich bis zum Gipfel des Berges aufreckte. Auf der mächtigen Fläche waren Mosches Schafe wie ein leichtes weisses Wölkchenvolk verstreut. Als der Baalschem die Weide erblickte, fuhr er sich schwer

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über die Augen, wie wer wider die Heimsuchung eines Bildes streitet, und trat alsdann hinter ein Gebüsch, um unbemerkt nach dem Hirten auszuschauen, denn er fühlte noch kein Wort in sich. Da sah er einen Jüngling, der stand am Rande des Grabens, die Schultern von den lichten Haaren gedeckt und das Auge wie eines Kindes Auge in seiner Bläue gross geöffnet, starker Gestalt, in grobem Gewande. Und der Jüngling tat den Mund auf und redete, und wiewohl keiner vor ihm war und in aller Weite keiner, hielt er Zwiesprach mit einem Wesen und gab viele inbrünstige Worte aus. Und also redete er: »Lieber Herr, so unterweise mich, was ich für dich tun mag! Hättest du doch Schafe, die ich hüten könnte, ich wollte ihrer warten zu Tage und zur Nacht, ohne Lohnes zu begehren. Sage, was ich tun soll!« Nun schwieg er, und da geriet der Wassergraben in seinen Blick. Da machte er sich auf und hub an, mit eingestemmten Armen, die Füsse dicht aneinander, über den Graben zu springen. Der war breit, Schlammes und allerlei Gezüchtes voll, und das Springen kostete dem Knaben den lichten Schweiss. Doch liess er nicht ab und hielt sich keines Augenblickes Dauer an einem Ufer, sondern sprang hinüber und herüber, sprechend: »Dir zur Liebe, süsser Herr, und dir zum Gefallen!« Zuweilen nur unterbrach er sein Tun, um nach den Schafen auszusehen, die sich indessen allzusehr verstiegen hatten, und gab dem Vieh liebreiche Wörtlein und viel freundlicher Sorge. Dann aber lief er wieder zum Graben. Lange schaute der Baalschem darauf, und es war ihm, als sei dieser Dienst grösser als aller, den er je aus geweihter und gesammelter Seele Gott zugebracht hatte. Endlich kam er aus seinem Versteck, trat zu Mosche und sprach: »Ich habe ein Wort zu dir.« Antwortete der Hirt: »Es ist mir nicht verstattet, denn mein Tag ist derer, die ihn gedungen haben.« Der Meister sagte: »Sehe ich dich doch springen ohne Mass der Zeit.« Der Hirt gab zurück: »Tu’s um Gottes willen, und für ihn darf ich die Weile versäumen.« Aber der Baalschem legte ihm die gute Hand auf den Arm: »Freund, auch ich bin dir um Gottes willen gekommen.« Da war jener erfasst, und sie sassen Seite an Seite unter einem Baum, und der Heilige redete von göttlichem Ding in klarem und mächtigem Bekennen, dass der neben ihm aus einer bebenden Seele den Worten lauschte und sie in das Beben seiner Seele aufnahm und darin trug. Und der Baalschem sprach von den Trümmern des Gottestempels zu Jerusalem und von dem Herzen, das unter den Trümmern schlägt und wartet. Und von den Getrennten sprach er: von dem einsamen Gott, dem die Lichtglorie entsunken ist, vom Dunkel gekrönt schaut er in den wirbelnden Abgrund der Dinge und wartet; durch den Abgrund aber wandelt die Schechina, wie eine zarte verstossene Jungfrau im Sonnengewande, und

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bangt, und leuchtet, und alle Wesen trinken ihr Licht und ihre Bangigkeit. Und die Wesen hellen sich und glühen auf von der Gottesspende und brennen empor wie eine Flamme, die sich dem Himmel opfert. Und schneller wird das Schlagen des begrabenen Herzens, und sehnsüchtiger der Schritt der Herrlichkeit, und tiefer der Blick des Einsamen. Und schon ist es, als wollten alle Seelen heimkehren und Gottes Verbannung lösen und das Geheimnis der Ewigkeit erfüllen. Aber die Nacht ist wachsam: aus ihrer Höhle spähen tausend Augen in das Werden hinaus, und tausend Arme schlängeln sich in das Werden hinein. Und da es an der Zeit ist, sendet die Nacht ihren Boten. In weicher, lockender Finsternis zieht er über die Erde. Wen sein Wort berührt hat, von dem fällt die Lichthülle ab, und wer seinen Blick empfangen hat, in dem erlischt die opfernde Flamme. Als der Baalschem von dem Boten redete, sprang der Hirt auf beide Füsse und schrie: »Herr, wo ist dieser Mann, von dem du sagst? Denn es soll nicht sein, dass er länger lebe, als bis zum Augenblick, da ich ihn finden werde!« Doch der Meister hiess ihn stille sein und begann ihn im Kampfe zu unterweisen. Der Dämon des Widersachers aber schwang in den Lüften und wurde des Bundes der Seelen gewahr, wie die reife, erleuchtete die sturmstarke, wehende umfasste und lenkte. Und da er mit der Macht des Fluches in das Innere der geschehenden Welt zu schauen vermochte, verstand er, was das Zwiegespräch des Alten mit dem Jungen auf dieser Wiese am Walde ihm und der Ewigkeit meinte. Er streckte sich über die Welt und sog sich mächtig an all dem Bösen, das in jenen Tagen gedieh. Darauf erstritt er sich den Weg in das obere Reich und begehrte in gellendem Wort sein Recht auf die Zeiten. Da kam aus der namenlosen Mitte der Einsamkeit eine Stimme, die war so voll der Trauer und übervoll, wie eine Schale, über die sich die Flut des Meeres hingiesst; und die Trauer trieb und wogte um die Stimme wie die Flut des Meeres. Und der Dämon fiel nieder und erschrak, denn das Wissen war über ihn gekommen. Die Stimme aber sprach: »Fülle pocht wider Fülle, und der Kreis schlingt sich in den andern. In welchen Zeiten willst du walten? Der Augenblick ist dein, und immer der Augenblick, bis dich einst die Seele gewaltigt und du dich in mein Licht stürzest, weil du es nicht länger erträgst, der Herr des Augenblicks zu sein. Und siehe, du weisst es.« Und die Stimme schwand, aber die Flut der Trauer trieb und wogte, und der Dämon lag vor ihr in den Fesseln des Wissens. Alsbald jedoch schüttelte er sie ab und fuhr nieder, und zitternd griff er in die Wolken und ballte sie mit wütigen Fäusten. Er riss den Sturm empor und entliess die Blitze und zwang den Donner wieder und wieder zum Werke. Er entsandte die

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Die Legende des Baalschem

klamme Angst aus seinem Gefolge, und sie ergriff die Herzen mit Würgerhänden. Feuer fiel in die Stadt, und die Glocken stöhnten auf. Da fuhr Mosche, der Hirt, als er Schall und Getöse vernahm, über den heiligen Worten auf und gedachte seiner Tiere, die in der Unbill des Himmels schutzlos über den Berg verstreut geblieben waren. Er sprang empor und eilte mit langen, eiligen Schritten hinan, die Verirrten mit kindlichen Schmeichelworten zu locken, und hörte nimmer auf den Heiligen und sein Warnen. Der Baalschem wurde still, und die Trauer kam auf seine Stirn, und er beugte sich vor der Vernichtung. Und langsam, Haupt und Blick zur Erde gezogen, stieg er nieder. Aber als er im Tale stand, fühlte er einen Arm um seinen Nacken. Und da er sich wandte, sah er den Engel des Kampfes mit strahlender Stirn und liebreichen Brauen. Und der Engel legte auch den andern Arm um seinen Nacken und küsste ihn. Und Israel ben Elieser erkannte, dass dieser der Engel des Todes ist, der da heisst der Wiederbringer. Und sein Erkennen tröstete ihn.

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Das Hohe Lied Eine chassidische Legende von Martin Buber

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Rabbi Jaakob Jizchak, der Zaddik von Lublin, wurde im ganzen Lande Polen nicht anders genannt als der Seher. Wem er ins Angesicht sah, dem sah er in die Wurzel der Seele. Der Weg des Menschen lag dann vor seinem Blick im Lichte. Er sah seine Wanderschaft von der Stunde, da sein Wesensfunke aus dem weltumfangenden Adam Kadmon gehoben und ausgeschickt worden war, bis zu diesem Leben, und von diesem Leben bis zu der letzten Weile, da alle Zeit in der Erlösung aufgeht. Alle Läuterung schaute er und alle Trübung, den ganzen Widerstreit der großen Bahn. Was dem Menschen sonst an Gestaltung des Daseins widerfahren war und noch widerfahren sollte, war nur wie ein Nebel vor dem Auge des Meisters; aber der Seele Schicksal war ihm bewußt und offenbar. Streng war die Luft im Hause des Zaddiks, kalt und klar wie auf den Gipfeln, wo man Ausschau hält. In strenger Führung lebten die Schüler vor ihm. Von allen Schülern der liebste war ihm Rabbi Zwi Hirsch von Zydaczów. Jung war Rabbi Zwi Hirsch und unruhevollen Geistes. Seit er unter dem Schatten der Heiligkeit des großen Zaddiks verweilte, war er stiller geworden als vordem; aber die suchende Angst war von ihm nicht gewichen. Einmal kam ein Bote aus fernem Lande zu ihm, ein frommer Mann, der umherzog, Almosen zu sammeln für die Armen seiner Heimat, und übernachtete in seinem Hause. Als er sah, wie Rabbi Zwi Hirsch zur Mitternacht aufstand und die Klage um Jerusalem sprach nach der Art der Chassidim, faßte er Vertrauen und Liebe zu ihm. Am Morgen begann er mit ihm zu reden von den Dingen der Lehre und des wahrhaften Lebens, und im Gange des Gesprächs erzählte er ihm von seinem Lehrer, Rabbi Baruch von Miedzyborz, dem Enkel des Baalschem, wie er eine Flamme des Herrn sah und eine lebendige Lohe, die sich der obern Welt entgegenschwinge, um sich der göttlichen Urglut zu vereinen. Und als er Abschied nahm, sprach er: »Komm doch in unsere Stadt, das Angesicht des Heiligen zu schauen.« Aber Rabbi Zwi Hirsch sagte: »Ich kann meinen Meister nicht lassen, es sei denn auf sein Geheiß.« Und er blieb, aber sein Sinn war in der Ferne. * * *

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Das Hohe Lied

Nach mancher Zeit geschah es, daß es der Wille des Zaddiks von Lublin ward, Rabbi Baruch von Miedzyborz zu besuchen, um seine Art zu erkennen. Denn wenn er von einem Menschen Seltsames und Unerforschliches hörte, verlangte es ihn danach, Auge in Auge mit ihm zu stehen und das aus seinem Anblicke zu erfahren, was jenseits des sichtbaren Tuns im Dunkel der innern Begnadung ruht. Aber wie er sonst immer, bevor er selbst kam und in reiner Betrachtung das heimliche Seelenwesen des andern las, zu ihm einen Schüler zu entsenden pflegte, um an dessen ihm offenbaren Geiste das Wirken des unbekannten zu erschauen, so gab er auch dieses Mal den Auftrag, und Rabbi Zwi Hirsch war es, auf den seine Wahl fiel. So kam er dahin, wo seine Sehnsucht längst schon ihre Wohnung aufgeschlagen hatte, und saß am Tische des Rabbi Baruch und fühlte einen starken und warmen Blick und wagte nicht, zu den flammenblauen Augen aufzuschauen, von denen der Blick zu ihm kam und die in dem weißen stillen Angesicht das Stillste und doch auch das Lebendigste waren. Wenn er dann allein war, versuchte er, den Wurzeln des Blickes nachzusinnen und den Weg des Menschen zu verstehen, aus dem die hohe Liebe dergestalt strahlte. Aber es wollte ihm nicht gelingen, und all sein Fassen und Begreifen war eitel vor der hellen Macht, die ihm entgegentrat. Weil er aber mit dem tiefen Willen seines Herzens ein Schüler des Sehers von Lublin gewesen war, konnte er nicht leichten Sinnes aus der Seele reißen und verwerfen, was die Weisung des Lehrers in ihn gepflanzt hatte. Darum sprach er zu sich, nun wisse er, auf welchem Grunde die Art Rabbi Baruchs allem Forschen standhalte: er sei von jenen, die wohl die ewige Mauer zwischen sich und den Menschen niedergerissen hätten, aber nur, um sich ihnen nicht anders als in einer dichten Hülle aus undurchdringlichem Willensgewebe zu zeigen. Und mehr als es ihn einst verlangt hatte, den Heiligen zu schauen, verlangte es ihn nun danach, ihn in seiner Einsamkeit zu schauen, wenn er ohne alle Menschengemeinschaft vor Himmel und Erde stehe und Gottes Licht und Gottes Luft als die einzigen irdischen Zeugen seines Wortes fühle. Daraus ward ihm eine eifervolle Sehnsucht, die alles aufzehrte, was außer ihr in seinem Geiste lebte. Und als der Freitag herankam, an dem, wie in jeder Woche, Rabbi Baruch vom Tauchbade in seine Kammer ging, um allein im Angesichte der obern Welt das Hohe Lied zu sprechen, da hatte sich Rabbi Zwi Hirsch in der Kammer verborgen, da er der Überkraft seiner Sehnsucht nicht länger zu widerstehen vermochte. * * *

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Die Kammer war weiß und still, und Rabbi Baruch trat ein, und sein weißes stilles Angesicht strahlte im Raume. Er war nicht anders als zu aller Zeit, nur seine Lippen bebten leise, aber in seinen Augen war die gleiche tiefe und gesegnete Glut wie vordem. Er neigte sich sacht, und siehe, da war rings um ihn ein Neigen, keines sichtbaren Wesens, nur fühlen konnte es Rabbi Zwi Hirsch, wie das Neigen in der Stube war, seiner voll die Luft, von ihm umweht der Heilige, der nun aufrecht dastand, nur das Haupt ein wenig vorgebeugt, und das Hohe Lied zu sprechen begann: »Das Lied der Lieder Salomos.« Aber als er dieses Wort sprach, den Namen Salomos, des Königs zu Jerusalem, erhob er die Stirn, und seine Gestalt wuchs königlich empor. Und als er weiter sprach und die Worte aus seinem Munde kamen: »Es führte mich der König in seine Gemächer«, da weitete sich die Kammer und ward zum Königssaale mit zypressenem Getäfel, und von den Wänden schlug ein purpurner Glanz, und der Heilige stand da, an einen Zedernpfeiler gelehnt. Und er sprach weiter: »Ich bin eine Blume zu Saron.« Da schwanden die Wände und aller Prunk zerfloß, und ein Weingarten dehnte sich in köstlicher Blüte. Und mitten in der blühenden Fülle stand er und sprach: »Sein Panier ist über mir, die Liebe. Stärket mich mit Trauben, erlabet mich mit Äpfeln, denn krank in Liebe bin ich.« Und die Worte wurden zu Flammen, und die Flammen zu loderndem Feuer, und die Weinstöcke entbrannten, und im Feuer lebte eine Stimme, die redete von der Liebe und wuchs im Reden und war wie ein gewaltiges Stürmen. Aber über Rabbi Zwi Hirsch fiel eine große Bangigkeit und wuchs mit dem Wachsen der Stimme. Und er schloß die Augen und wagte nicht zu atmen und war in der Macht der Bangigkeit. Und als über ihm die Worte ertönten: »Meines Freundes bin ich und nach mir ist sein Verlangen,« da war es ihm, als sei die Last zu schwer und als müsse seine Seele von seinem Körper abscheiden. Aber er faßte die innere Kraft seines Herzens, wie man ein Schwert erfaßt, und kämpfte wider die Macht der Schwere und schlug sie und sprach zu seinem Herzen: »Ich übergebe Gott meine Seele in Liebe und will ausharren, und wenn meine Seele scheiden soll, da bin ich, um den Willen des ewigen Herrn zu tun.« Und als er dies in sich gesprochen hatte, da ward von der Höhe ein neuer Geist über ihn ausgegossen, und ihm war, als wäre ihm Auge und Ohr neu geworden. Und er fühlte das Wunderbare: die Stimme, die er aus dem Feuer hörte, war nicht allein, sondern umgeben und umschlungen von einer andern. Und er hörte, es wurde eine Stille, und danach hörte er die andere Stimme, und es war, als ob der Mund der Erde redete: »Die Mandragoren gaben ihren Duft, und über unserer Tür sind mancherlei edle Früchte. Mein Freund, ich habe sie dir, neue und alte, bewahrt.«

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Das Hohe Lied

Als Rabbi Zwi Hirsch nach Lublin zurückgekehrt war und vor dem strengen Angesicht seines Lehrers stand, war es ihm, als sei die Menschensprache gestorben und er solle sie zum Leben erwecken. Er rang um die Erzählung, nach der das Auge des Meisters fragte, aber er konnte nur stammelnd vermelden: »Herr, ich habe Rabbi Baruch gesehen und gehört, da er das Hohe Lied sprach.« Und das Auge fragte weiter. So redete er wieder: »Herr, das Wort war in seinem Munde, als würde es heute geboren, und was er sprach, erhob sich und war da durch sein Wort.« Da umfing es den Hörenden wie ein Walten aus der Tiefe der Zeiten, und der Geist des Schauens war über ihm und er fragte: »Weißt du nicht, daß in ihm Salomos Seele lebt, des Königs zu Jerusalem? So spricht er das Lied aus Salomos Seele.« Aber in Rabbi Zwi Hirsch war das Geheimnis entglommen, und er wußte sich keine Ruhe mehr und sagte leise: »Herr, ihm antwortete eine Stimme der Liebe.« Da senkte der Meister das Haupt und erzitterte, und er sah sein Leben. Es war wie eine Felsenwildnis mit zackigen Gipfeln, in kalter, klarer Einsamkeit. Dann richtete er sich wieder auf und in seinen Augen war ein Leuchten wie aus Gletscherfirnen. Sie kamen zu Rabbi Baruch und wurden in Ehren empfangen. Und Rabbi Jaakob Jizchak schaute lange und tief Rabbi Baruch an. Und es schien, als sagte ihm sein Blick dieses Mal nicht alles aus der Ewigkeit dieser Menschenseele und als werde ihm etwas vorenthalten, etwas Zartes und Gewaltiges, um das alles, was er sehend erkannte, nur wie Gewänder war, die im Rausche der Zeiten sich woben und zerfielen. Als aber am Vortage des Sabbats Rabbi Baruch zum Flusse ging, um das heilige Tauchbad zu vollziehen, lud er den Zaddik von Lublin ein, mit ihm zu gehen. Und Rabbi Baruch schritt unbewegt, als bände er in der Stille alle Gluten und Kräfte in eins, um des Werkes willen. Aber Rabbi Jaakob Jizchak fühlte eine Macht auf sich eindringen, die er nicht kannte. Da sprach Rabbi Baruch: »Wir gehen durch das Reich, in dem ich lebe«. Aber Jener verstand ihn nicht. So kamen sie an ein weiteres Blachfeld, und plötzlich umwehte sie eine heiße und trockene Luft. Da sah Rabbi Baruch den Gefährten mit einem gütigen Blicke an und fragte ihn: »Was fühlt der Seher?« Und Rabbi Jaakob Jizchak sprach: »Ich fühle die Luft des Landes Israel. Sie ist wie die Luft der Wüste.« Dann gingen sie weiter und kamen an eine öde Lande, darüber ein undurchdringliches Schweigen lag, nur ein ganz blasses, kaum hörbares Summen tönte darein. Und wieder fragte Rabbi Baruch: »Was hört der Seher?« Und Rabbi Jaakob Jizchak sprach: »Ich höre den Sand rinnen im Lande Israel. Er rinnt über die Erde der Weinberge und über die Erde der Weizentriften. Er rinnt über die Gräber der Propheten und über die Gräber der Könige.« Dann gingen sie weiter und kamen an den Fluß und sahen das dunkle Wasser.

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Und wieder fragte Rabbi Baruch: »Was sieht der Seher?« Aber Rabbi Jaakob Jizchak fiel nieder und schluchzte wie ein Kind und rief: »Ich sehe die verbannte Gottesherrlichkeit. Sie wandelt auf den Trümmern des Tempels«. Da legte Rabbi Baruch die Arme um ihn und hob ihn und sprach: »Tauche mit mir in den Fluß«. Und sie tauchten miteinander. Und Rabbi Jaakob Jizchak fühlte um seinen Körper den Strom des Paradieses, und er hörte eine Stimme erschallen, die rief die Verwaisten aus allen Enden der Erde, und seine Augen schauten die Erlösung. So kam der Sabbat heran, und Rabbi Jaakob Jizchak lebte in Rabbi Baruchs Reich. Aber als der Sabbat ging, sah er, daß sein Herz einer fremden Macht Stätte geworden war und eines fremden Feuers voll, und er erschauerte ob der Glut seines Herzens, und ein Verlangen erfaßte ihn nach der kalten klaren Luft, die seine Heimat war. Sein Herz war hier und dem Wunder untertan, aber sein Auge war rein und stark geblieben und schaute das All und das Wesen wie vordem. Und Rabbi Jaakob Jizchak war es, als sei er ein Diener seines Auges, und nur so könne er Gott dienen nach seiner Weise. Und er befahl seinem Herzen und zwang es zum Entschluß. Und er ging zu Rabbi Baruch und nahm den Abschied von ihm für das Leben und für alle Leben, und er grüßte ihn mit einem langen und tiefen Gruße, wie Sterne einander grüßen mögen, wenn sie auf ihrer Bahn einander begegnen. Sodann zog er mit seinem Schüler von dannen. * * *

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Aber in der Seele des Schülers lebte das Hohe Lied. Er hörte es bei der Lehre und beim Gebet, es tönte in seine Ruhe und in seine Wege. Wenn er in den Morgen hinausschritt, flog es wie ein kleiner lieblicher Vogel vor ihm her, und wenn er nach dem Tun des Tages dastand und in den Abend schaute, breitete es seine Schwingen von Himmelsrand zu Himmelsrand. Dies währte eine Zeit, bis er beschloß, seinen Meister zu verlassen und nach Miedzyborz zu Rabbi Baruch zu ziehen, um endlich die Hand Gottes zu finden, die er von der Kindheit an mit Angst gesucht hatte. Aber er sprach zu seinem Herzen: »Dies vermag ich nicht zu tun, von meinem lieben Meister zu fliehen, sondern ich muß nach Lublin fahren und von ihm Urlaub nehmen, und es für meine Seele erbitten, daß er mir gestatte, zu Rabbi Baruch zu ziehen und sein Schüler im Dienste des Herrn zu werden.« So stand er vor seinem Lehrer und sah ihn an und konnte kein Wort finden, ihm zu sagen, was er sich selbst kaum zu sagen wußte. Aber Rabbi Jaakob Jizchak sah ihn mild und traurig an und sprach zu ihm: »Lieber,

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du willst mich verlassen«. Da kamen Rabbi Zwi Hirsch die Tränen, und er fühlte keine Stimme in seiner Kehle und schwieg. Und der Meister sprach weiter: »Willst du dich verfehlen an deiner Liebe zu mir? Du weißt es, wie ich dich von Stufe zu Stufe führte, einem Vater gleich, der zärtlich und geduldig seinen Knaben das Gehen lehrt. Du weißt es, wie du an meiner Hand Schritt für Schritt tatest im heiligen Erkennen, Blick für Blick in die Wahrheit des Lebens, tiefer und tiefer.« Da sammelte Rabbi Zwi Hirsch seine Kraft und sagte leise: »Herr, was soll ich tun? Sieh, mein Herz brennt!« Aber der Meister redete von neuem mit einer neuen Stimme, aus der ein tiefes und trauriges Wissen gebieterisch erklang: »Glaubst du denn, du vermöchtest zu finden was du suchst, wenn du mich lässest und zu ihm gehst? Dein Suchen wird mit dir gehen und bei dir bleiben, und die Unrast wird dein Wesen verzehren. Denn was dort ist, kannst du dir nicht nehmen und dein machen, sondern in der Sehnsucht wirst du leben immerdar, und wirst ewig vor dem Ziele stehen und es nie erreichen. Und die Unrast wird darob wachsen und wachsen, und sie wird aus deiner Seele alle Weisheit ausbrennen und alle Tiefenschau, die du bei mir erlangt hast. Aber nichts Neues wird dir geschenkt werden, und du wirst angstvoll und hilflos umhertappen wie ein blinder Tor in einem fremden Lande. Und die Sehnsucht wird dir zur Lüge werden und dich doch festhalten, und sie wird nicht mehr wie ein Vogel des Wunders sein, sondern wie eine glatte und gleitende Schlange, die dein Herz umringeln und vergiften wird.« Da beugte sich Rabbi Zwi Hirsch vor den Worten des Meisters und nahm es auf sich, nicht mehr nach Miedzyborz zu fahren, und blieb bei Rabbi Jaakob Jizchak von Lublin. Aber das Hohe Lied lebte in seiner Seele wie eine heilige Flamme. Und wenn es ihm je geschah, daß sein Sinn im Dienste schwach ward und sein Denken erblaßte, gedachte er der Augenblicke, da er das Lied der Lieder aus dem Munde Rabbi Baruchs vernommen hatte: alsbald erstarkte sein Herz, und er tat seinen Dienst im Gedenken des Hohen Liedes, und seine Augen strahlten; denn er sah ein Feuer und hörte aus dem Feuer zwei Stimmen, die redeten zueinander die Worte der Liebe.

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Ein Anhänger des Maggid von Kosnitz (Kozienice), ein frommer Chassid, pflegte mit jedem Mondwechsel seinen Meister aufzusuchen. Und bei jedem dieser Besuche band er dem Rabbi seit vielen Jahren das nämliche Anliegen auf die Seele, daß er, der schon an der Schwelle des Alters stehe, mit seinem Weibe in der langen Zeit ihrer Ehe kein Kind gewonnen habe, und er bat ihn das Verhängnis von ihm zu nehmen, damit, wenn er einst stürbe, ein irdisch Teil von ihm bliebe. Rabbi Israel pflegte ihn geduldig anzuhören und ihm dann freundlichen Abschied zu geben, doch war er bisher nie mit einem Wort auf die Bitte des Chassids eingegangen. Eines Abends redete der Mann mit seinem Weibe wie an vielen Abenden vordem von ihrem Unsegen – und da geschah, daß das Weib nicht wie sonst ergeben vor sich hinklagte, sondern der Schmerz brach ungestüm hervor, mit Heftigkeit flossen die Tränen, ihre leidenschaftliche Bewegung rüttelte auch den Mann auf, daß er wie mit neuen Augen auf seine Gefährtin blicke. Und er fühlte, wie bei der Tiefe ihres Jammers ja auch noch die Scham der Unfruchtbarkeit auf ihr lastete. Da erfaßte ihn ein brennendes Erbarmen und es kam ihm in den Sinn, wie er diesmal den Rabbi noch herzlicher als sonst mit seinem Kummer bedrängen und nicht innehalten wollte, bis jener sein Wort gesprochen habe. Dies sagte er der weinenden Frau. Froh und ungeduldig zugleich griff sie den Gedanken auf und beredete den Mann mit vielfältigen Vorstellungen, doch ja nicht den nächsten Monat abzuwarten, sondern ungesäumt sogleich die Reise zu tun. Ihrem Ungestüm vermochte er nicht zu widerstehen. So eilte er schon mit dem kommenden Tag nach Kosnitz und eröffnete dem Maggid sein Herz. Diesmal hörte Rabbi Israel ihm so freundwillig zu, daß Zutrauen und Hoffnung noch während er sprach sich ihm beflügelten. Als er aber geendet hatte, währte das Schweigen des Meisters so lange, daß sein froher Mut sich wieder minderte. Endlich redete der Rabbi: »Freund, es kann dir wohl geholfen werden, doch ist mir bang, dich auf den Weg zu weisen, der zum Ziele führt. Sieh, schon liegt dein und deines Weibes Leben im Schatten des Niedergangs, und soll euer Wunsch sich noch erfüllen, so mußt du den Gewinn eurer arbeitsreichen Jahre und die Geborgenheit eures Alters, all euer Gut mußt du hinopfern. Den Sohn wirst Du noch in Deinen Armen

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halten, aber in Dürftigkeit, mühselig und sorgenreich wirst du seiner Jugend warten. Geh hin und berat es mit deinem Weibe, und ist sie’s zufrieden, so kehr wieder, dann will ich dir den Weg weisen.« Der Chassid wanderte heimwärts und alles, was der Maggid ihm entdeckt hatte, erzählte er seinem Weibe. Da sah er, während er redete, wie sie aus tränennassen Augen ihm zulächelte. Ein Schimmer von Holdseligkeit kam über sie, und jung und unverdrossen schien sie ihm wie damals, als er sie gefunden und erwählt hatte vor vielen Jahren. Sogleich war sie willens und bereit zu aller Arbeit und aller Entbehrung und wollte keine Bitterkeit auf Erden erkennen, wenn ihr noch vergönnt würde, ein Kind aus ihrem Leibe im Licht der Sonne auf ihren Armen zu wiegen. »Sieh,« sprach sie, »die Unfruchtbaren frösteln ihr Lebtag schon im Todesschatten, was soll mir der Wohlstand und das gemächliche Behagen, wenn ich einst hinscheiden soll und lasse kein Teil hier auf Erden, in dem ich fortlebe.« So machte der Chassid, wie sie es wollte, sogleich geduldig sich wiederum auf und eilte zum Maggid nach Kosnitz, die verheißene Weisung zu empfangen. Der Meister aber sagte also: »Nimm dein bares Vermögen und was an Goldes wert etwa dir im Hause liegt an dich und was du an Gütern ober Liegenschaften besitzest, mußt du sogleich veräußern und in bares Geld umwandeln. Damit rüste dich aus und wandre nach Lublin zum Rabbi Jaakob Jizchak. Ihm mußt du sagen, daß ich dich ihm zugesandt habe, und aus seinem Munde empfängst du alsdann den Spruch, der dein Schicksal wendet.« So tat der Mann, ging heim, verkaufte all sein Gut und nahm das Geld in seinen Beutel an seinem Leibe mit auf die Wanderschaft. Das Weib half ihm guten Willens in allem, gab ohne Bedauern Bequemlichkeit und Schmuck dahin und verhieß ihm obendrein, indes er ihrem Glücke nachzog, sich bis zu seiner Heimkehr von ihrer Hände Arbeit zu ernähren. So zog er unverzagt nach Lublin, wo er bei dem Rabbi Jaakob Jizchak, dem großen »Seher von Polen«, sich meldete, wie der Maggid von Kosnitz ihn angewiesen hatte. Der Lubliner hörte ihn mit verschlossener Seele an und wenig Trost hatte er aus der Aufnahme. Mit trockenen Worten wurde ihm die Weisung, sich in der Stadt niederzulassen und auszuharren, bis die Zeit reif sei, sein Geschick zu lösen. Mit kurzem Gruß entließ der Meister ihn aus seinem Gemach, nachdem er ihm bedeutet hatte, er würde ihn rufen lassen, wenn die Stunde da sei.

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So nahm er in einer bescheidenen Herberge Quartier und wartete geduldig viele Wochen hin. Nach einer Weile begann er zu fürchten, der Rabbi möchte seiner und seiner Sache völlig vergessen haben. So mengte er sich unter die Schar der Schüler und in ihrer Mitte zog er zuweilen in des Rabbis Haus, in der Hoffnung, dessen Auge auf sich zu ziehen und ihm seine Sache in der Erinnerung wachzurufen. Allein es schien, daß der Meister es mit Fleiß mied, seiner ansichtig zu werden, und aus dem freudigen Warten wurde bleierne Pein. Traurig lebte der Chassid seine Tage hin, voller Sorge um sein Weib daheim, das in Kümmernis sich durchschlagen mußte, indes er, dem Geheiß des Maggid folgend, müßig ging, Tag und Nacht des Rufs gewärtig. So schmolz seine Barschaft, so sehr er sich auch mit geringer Kost beschied, und dies machte ihm Sorgen, denn also konnte er im Lauf der Zeiten zum Bettler werden, ehe der Rabbi seiner dachte. Unvermutet traf ihn der Ruf, den er doch so sehnlich erwartet hatte, und also redete Rabbi Jaakob Jizchak zu ihm: »Deinen Meister, den Maggid von Kosnitz zu ehren, werde ich dir zu Hilfe sein und meine Hände werden den Knoten lösen, in den die Fäden deines Schicksals verstrickt sind. Entsinne dich, wie in deinen Knabenjahren deine Eltern einem Mädchen dich verlobt hatten und wie du es späterhin verlassen hast, um einer andern dich zu verbinden, die deinen Augen wohlgefiel. Deinetwillen hat ein Geschöpf unverdient Bitterkeit und Schmerz des Verstoßenseins erduldet, du aber bist deines Weges gegangen und hast ihr Leid von deinem Herzen abgeschüttelt. Damals hast du die Fessel geschmiedet, die die Freude deines Lebens gefangen hielt, und die Tränen der Verlassenen haben dein Eheweib unfruchtbar gemacht. Willst du das Verhängnis lösen, so mußt du hingehen, die zu suchen, die du einst so hart gekränkt hast, und ihr Verzeihn erbitten, so völlig, daß auch nicht ein Funken von Unwillen wider dich in ihrer Seele weiterglimmt. Versteh aber wohl, sehr entrückt ist dir der Ort ihres Weilens, unter vielen Nöten wirst du sie aufsuchen müssen. Jetzt zieh nach Balta zu jenem Markt, den sie den grünen Sonntag nennen. Forsche ohne Rast ihr nach von der ersten bis zur letzten Stunde, nie sei darin müßig und lasse das Zagen nicht Herr über dich werden. Mehr zu sagen ist mir nicht gewährt, dir aber ist befohlen zu suchen und nimmer müde zu werden. Geh hin, und findest du die Frau, so trachte, daß du erfüllest, was sie zur Sühne von dir begehret.« Der Mann sagte seinen Dank, machte sich reisefertig und wanderte nach Balta. Mit beklommenem Gemüt erwartete er den ersten Markttag. Im Morgengrauen, als die letzten Buden noch zurechtgezimmert wur-

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den, stand er schon da und sah zu, wie der Platz sich füllte, bis der wirbelnde Marktlärm um ihn kreiste. Dies laute Treiben war ihm fremd und tat ihm weh. Doch hielt er ihm stand von der frühesten Stunde bis zur letzten niedersinkenden der Nacht und wich nicht eher, bis der Platz öde lag und keine Seele mehr zu erblicken war. Und so tat er den ersten Tag wie den zweiten und jeden künftigen. Und er hörte auf jede Stimme, blickte in jedes Gesicht und frug jeden der ihm Rede stand, um eine Spur von jener Frau zu finden, die in Jugendtagen ihm angelobt gewesen war. So ging Tag um Tag hin, kein Blick und keine Worte führten ihn zu seinem Ziele, todmüde, hungrig, das Herz von Enttäuschung verzehrt, stand er die vielen Tagesstunden unter Marktschreiern und Feilschern zwischen den Ständen umher. So kam der letzte Tag. Die Kaufleute packten ihre Waren zusammen und luden Säcke und Kisten auf ihre Wagen, die Fremden verließen in Scharen die Stadt, der Abend nahte, im letzten Tageslicht riß man schon die Buden nieder. Diesen Tag hatte der Chassid wie ein Fiebernder ohne Rast alle Gassen durchstreift und vor allen Herbergen gestanden. Angstvoll hatte er in jedes fremde Frauenantlitz gespäht und jeden Ton einer fernen Stimme aufgefangen, vergebens wie vordem, und nun ging der Markt zu Ende, die Frist lief ab und seine letzte Hoffnung starb hin. Plötzlich bezog sich der Himmel, ohne Dämmerung ging der Tag in nächtliche Finsternis über, ein heftiger Regenschauer prasselte nieder, die Leute ließen Arbeit und Waren im Stich und flüchteten vor der eindringenden Nässe in die nächsten Häuser. Erst als das Wasser seine Kleider bis auf die Haut durchnetzte, schrak der Chassid auf und sah sich nun auch nach einer schützenden Stelle um. Unfern gewahrte er einen großen finstern Torbogen, eilte auf ihn zu und trat ein. Abgemattet wollte er seinen Körper gegen die Mauer lehnen, da kam ein Knistern und Rauschen an sein Ohr, als habe er ein seidenes Frauenkleid gestreift, scheu wich er bei Seite, den Raum zwischen sich und der Trägerin freizugeben, den die Sitte gebot. Er blickte ein wenig auf, und gewahrte jetzt, da sein Auge sich an die tiefe Dunkelheit des Ortes gewöhnt hatte, neben sich zwei Frauen, die er vordem bei seinem eiligen und zerstreuten Eintritt nicht wahrgenommen hatte. Doch hatte er ihrer schon nicht mehr acht – so sehr hatten seine trübseligen Gedanken ihn wieder in ihren Strudel gezogen –, als ein seltsamer Ton ihn aufschreckte. Eine der Frauen lachte; es war die, die ihm zunächst stand. Sie lachte mit klanglosen schmerzlichen Lauten, zuweilen mengte ein schwingender Ton sich ein wie von zartem zerspringendem Glas. Jetzt aber redete sie mit verhaltener Stimme und doch vernahm er jedes Wort: »Sieh, diesem war ich als Kind angelobt und er war es, der mich alsdann

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von sich stieß. So groß ist sein Abscheu noch heute vor mir, daß er um alles bedacht ist, meine Nähe zu meiden.« Dem Mann stand alles Blut im Herzen still. Er sah aus brennenden Augen durch den dunklen Raum auf die, die sprach, und sah endlich ein hochgestrecktes bleiches Weib, mit starren schwarzen Kleidern festlich angetan, Haar und Angesicht schimmerten halbverhüllt unter Schleiern, an Brust und Händen aber funkelte kostbares Geschmeide auf. Je länger er sie ansah, um so banger wurde sein Mut. Endlich raffte er sich auf, näherte sich ihr und mit gesenktem Blick sagte er voll Zagen: »O Frau, was redest du?« Ihre Stimme zitterte verschwebend über ihn hin: »Herr, bin ich denn von dir vergessen wie der Tote vom Herzen? Ja, ich bin das Mädchen, das dir in Kindertagen angelobt war und später dir so unwert schien. Aber sag mir, was tust du hier?« »Frau«, erwiderte er, »laß dir schlichtweg sagen, ich bin um deinetwillen hergekommen. Ich will dir nichts verhehlen in dieser Stunde. Meine Ehe war ungesegnet, mein Weib ist unfruchtbar und mir kein Kind geboren. So sind unsre Tage in Trübsal verflossen. Sieh, nun aber hat der Rabbi von Lublin mir die Augen aufgetan und ich weiß, mein Leben ist an den Schmerz gefesselt, den ich dir angetan habe. Nur wenn du mir verzeihen kannst bis zum letzten Frieden, nur dann bin ich erlöst von der Klammer meiner Schuld und in den Tagen unsres Alters wird mein Weib mir Kinder geben und wir werden spät noch des Lebens froh. Durch unendliches Ungemach bin ich gegangen, um dieses Tages willen. Ach Frau, nun tu du Gnade an mir! Was du über mich verhängen wirst, mein Unrecht zu sühnen, ich will es vollführen.« Die Frau wandte ihm ihr Angesicht zu und sagte leise, so daß jedes Wort wie eine Perle von ihrem Mund sich löste und in sein Herz fiel: »Herr, unser Gott war mir gnädiger, als du heute ermessen magst, irdisch Gut frommt mir nicht mehr und an keiner Sühne hangt mein Frieden. Aber höre, fern von hier lebt mir ein Bruder, bei Suwalki auf einem Dorfe. Er ist rechtschaffen und fromm, aber sein Haus ist in schwere Armut geraten. Eben um diese Zeit soll er seine Tochter vermählen, doch fehlt ihm alles, kein Heller ist in seiner Tasche und kein Rat, wie er ihr die Ausstattung schaffe. Wie es mir einst geschah, wird ihr geschehen, sie wird verschmäht werden und große Herzensnot wird über ihr und den Ihren sein. Soll ich das Leid, das mir durch dich geschah, aus dem letzten Grund meines Herzens tilgen, so wandre dorthin und wende die Trauer von ihr und ihrem Haus ab. Zweihundert Goldgulden tun not, damit alles gut zu Ende geführt wird, gibst du ihnen das Geld, so ist geholfen.« »Mit Freuden«, sprach der Chassid, »will ich tun was du verlangst. Nimm sogleich das Geld aus meinen Händen hin. Was frommt es uns,

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daß ich zu deinem Bruder fahre, gib ihm selbst, schick es ihm durch einen Boten; ganz wie es dir gut scheint, magst du alles bestellen. Mich aber laß heimkehren, mir ist nach der Heimat bange.« Da schüttelte die Frau sachte das Haupt und sprach: »Nein, all dies zu tun ist mir versagt. Nur diese meine Worte kann ich dir hingeben, alles Erfüllen aber ist bei dir. Bring dem Bruder meine Grüße und lege du selbst das Gold in seine Hand. Lebe wohl, meine Zeit ist um.« Sie winkte ihrer Begleiterin, beide traten auf die Straße hinaus und schon schlang die Dunkelheit sie ein. Da stürzte der Chassid, von ihrer Rede und ihrem eiligen Scheiden verwirrt, ihr nach, sie festzuhalten. Noch einmal schimmerte ihr Antlitz auf, schon fern, doch ihm zugewandt und sagte voll Wehmut: »Freund, vergebens folgst du mir, weit geht meine Reise. Eile tut mir not.« Flüchtig hob sie ihre Hand zum Abschied und war hinweg. Am nächsten Morgen trat der Chassid die Wanderung nach Suwalki an und als er nach Wochen mühseliger Fahrt dort angelangt war, hielt er alsbald Nachfrage nach Rabbi Leib, dem Bruder seiner einstigen Braut. Man nannte ihm ein nahes Dorf als dessen Wohnort und so ließ er ungesäumt Suwalki und suchte jenen Ort auf. Er fand Rabbi Leib verschlossen und bedrückt, wenig geneigt, dem Unbekannten Gast sein Herz zu eröffnen. Erst nachdem er viele Worte und viele Herzlichkeit angewandt hatte, stand der Hausherr ihm Rede und entdeckte ihm, wie schwere Sorge auf ihm laste, da er in diesen Tagen die Tochter zu vermählen habe. Durch mancherlei harte Zufälle, durch Mißernte und Geiz seines Pachtherrn habe er die Mitgift des Mädchens aufbrauchen müssen, um seinem übrigen Hausstand das Leben zu fristen. Die Verlobung sei schon in den Kindertagen der Braut geschlossen, als er und die Seinen noch im Wohlstand lebten, allzusehr hätte sein Unglück ihn von den Verhältnissen des Bräutigams entfernt, und sei er nun nicht imstande den Ehevertrag einzuhalten, so würde dies der Familie des Verlobten zum willkommenen Anlaß das Band zu lösen, denn längst sähen sie mißgünstig auf die Armut der Braut und nur Sitte und Ehrbarkeit binde sie. Sein Kind aber fiele der Verachtung anheim, schon seit Wochen sitze sie darum trostlos weinend in der Kammer. »Nun Freund,« sagte der Chassid, »sei nicht also verzagt, vielleicht kann ich dir Rat schaffen!« »Ach,« erwiderte Rabbi Leib, »wie kämst du, ein Fremdling, dazu mir zu helfen?« Und er lächelte bitter und ungläubig vor sich hin. »Nun,« sprach der Chassid, »sieh, ich habe die zweihundert Goldgulden bei mir und weiß just keine bessre Anwendung dafür, als daß ich dir sie anvertraue, solange du sie gebrauchst!«

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Allmählich schöpfte der Hausvater Vertrauen zu dem Fremden, dessen ehrliches Gesicht ihn einnahm, und nun wollte er wissen, wie es denn käme, daß er als Unbekannter solche Gnade vor seinen Augen gefunden habe. Da meinte der Chassid, es sei nun an der Zeit, daß auch er sein Geschick und seine Sendung enthülle, und er begann, indem er sagte: »Esther Schifra, deine Schwester hat mich hergesandt und mir geboten, dir Hilfe zu leisten!« Der Hausherr aber wandte bei diesen Worten sein Gesicht abseits und mit einer seltsam schwankenden Stimme tat er die Frage: »Wo hast du meine Schwester zuletzt gesehen und wann hat sie dir befohlen also zu tun?« »Vor etlichen Wochen,« sagte der Chassid, »es war auf dem großen Markt zu Balta, habe ich sie wiedergefunden nach vielen Jahren; da erzählte sie mir von deinem Mißgeschick und sehr lastete dein Leid auf ihrem Herzen. Sie hat mich angewiesen, unverzüglich dir zu Hilfe zu eilen, und siehe, darum bin ich hier!« »Narr«, schrie nun der Hausherr mit zornrotem Gesicht, »wie wagst du herzukommen, um meine Not so zu verhöhnen! Seit fünfzehn Jahren ist Esther Schifra, meine Schwester, tot, mit diesen meinen Händen habe ich ihr Grab bestellt und sie darin gebettet!« Da seufzte der Chassid tief auf, und verbarg sein Angesicht. Endlich raffte er sich auf und nun fand er Worte, dem Bruder der Toten die Wahrheit zu weisen. Als er Ansehn und Gewand der Frau im Torweg beschrieb, traten dem Rabbi Leib stille Tränen in die Augen und er sprach: »Ja, so wie du sagst von Angesicht und so geschmückt habe ich vor fünfzehn Jahren sie ins Grab gelegt. Um deinetwillen ist sie heraufgestiegen für eine Abendstunde, dir beizustehen, darum Bruder, darf ich ohne Scham aus deinen Händen die Hilfe annehmen.« Mit Worten des Segens einer für den andern gingen sie von einander in Frieden. Der Chassid lebte fortan in großer Dürftigkeit mit seinem Weibe, doch wurde ihr Bund gesegnet. Ehe das Alter über Beide kam, empfingen sie einen Sohn.

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Der Totlebendige Dunkel und verborgen waren die Wege des Rabbi Leib, des Sohnes der Sara. Niemand kannte den Ort seiner Geburt und seiner Kindheit. Aber schon einem der früheren Geschlechter hatte das Buch, das unter dem Namen des Engels Rasiel geht, sein Kommen verkündet. Wie eines Engels waren seine Taten, aus tiefem Geheimnis ins Licht wachsend. Nirgends blieb sein Fuß länger, als die Sendung es wollte, und von Ort zu Ort wanderte er in zeitlosem Flug; die Erde sprang unter ihm hinweg und er war im Aufblitzen des Augenblicks an seinem Ziel. Er hatte die Gabe, zu sehen und nicht gesehen zu werden. Seine Stätte war zumeist in Wäldern und auf Heiden, da stand er oft in den langen Nächten vom Abend zum Morgen ohne Bewegung. Man sagte, er löse die Seelen der Toten, die in der Welt des Wirrsals kreisen; denn es steht geschrieben von der Bangnis der Seelen, die in Wasserdünsten leben, in Steinen und Bächen und Pflanzen und Holzspänen. Auch wußte man, daß er die Sechsunddreißig kannte, die heimlichen Lenker des Zeitgeschlechts, die sich in Dörfern bergen, in Bauerntracht oder armselige Lumpen gekleidet, und ihnen Nahrung brachte. In jeder Zeit nämlich ist einer der dies tut: der kennt die Orte der Sechsunddreißig und ihre Namen, er kommt zu ihnen und sorgt für sie. Man ahnte, daß Rabbi Leib den Elementen nahe war. Und heute noch, wenn der Sturm auf seinem Feuerwagen über die Himmel fährt und das Rasseln der Räder und der Schlag der Hufe herniederdonnert, sprechen sie im Volk dreimal den Namen des Heiligen und wissen sich geschützt. Er selbst blieb der Menge fern, fern auch dem Treiben der andern Zaddikim. Wenige empfingen die Gnade, seine Schüler zu sein. Sie sahen ihn verschwinden und wiederkehren, sie hingen ihm an und stillten ihre Seele an seinem Wort. Da war aber eines, das ihnen schier unbegreiflich schien, denn sie konnten es mit dem Wesen, das sie sonst an ihrem Herrn kannten, nicht vereinen. Es war nämlich sein Brauch, daß er zu jedem großen Markte zog, der an irgendeinem Ort im Lande stattfand, dort eine Bude mietete und sich dermaßen unter die Händler und Feilscher mengte. In den Herzen der Schüler, die ein unverrückbares Vertrauen zu der heiligen Berufung ihres Meisters stark in der Treue machte, lebte wohl eine Ahnung, daß dies Tun ihres Herrn nicht eitel sei, noch von den Zufällen der schwankenden Welt bestimmt, sondern seine Wurzeln im Urgrund alles Geschehens habe. Allein wie sie auch raten und sinnen mochten, nie geschah es, daß sie aus eigener Kraft zur Erkenntnis gelang-

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ten. So eröffneten sie eines Tages dem Rabbi selbst ihre Begierde, zu erfahren, was ihn triebe, von Markt zu Markt zu fahren und sich unter die Söhne des Alltags zu mischen. Der Meister erwiderte nicht sogleich, sondern sah ihnen nur wehmütig mit einem absonderlichen Lächeln in die Augen. Derart überkam sie wohl das Feuer der Beschämung und gebot ihnen Schweigen, aber bald war der Drang zu forschen wieder stärker geworden, so daß sie den Rabbi mit Fragen aufs neue angingen. Endlich geschah es einmal, als sie ihn eben, während er auf einem Markt in seiner Bude stand, wiederum befragt hatten, daß er ihnen Stille gebot und sie dessen achten hieß, was sich nun begeben würde. Mit ausgestrecktem Arm wies er wortlos ins Gedränge auf einen Mann, der nach Knechtesart einhergehend, obgleich von schwacher Gestalt, auf seinen Schultern eine ungeheure Bürde schleppte. Sie gewahrten, wie der Meister seine Augen groß und zwingend auf den Träger geheftet hatte, und es schien, daß von diesen Augen ein Bann ausging, der den fremden Mann von seinem Weg und seinem Geschäft abzog, denn er schwankte einem Trunkenen oder Irren gleich mit einem Mal von seiner Richtung ab, suchend, wie einer, der sich von weither rufen hört und nicht weiß, von wo die Stimme kommt. So näherte er sich dem Rabbi und den Seinen. Vor dem Meister blieb er stehn, senkte seine Bürde zur Erde und blickte ihn mit demütiger, wortloser Frage in dem fahlen Antlitz suchend an. Rabbi Leib beschied ihn mit einer Gebärde nah zu sich heran, beugte sich zu seinem Ohr nieder und flüsterte ihm einige Worte zu, deren die Schüler nicht inne wurden. Da erhellte sich das Gesicht des fremden Lastträgers wie von einem inneren Licht. Er seufzte auf, als sei ihm ein langgehegtes Leid abgefallen, neigte sich, nahm seine Last auf und ging schweigend mit bestimmten Schritten von hinnen, seinem Ziele zu. Rabbi Leib gebot seinen Schülern: »Ihr folgt diesem Manne und achtet, was er tun wird!« Sie gingen dem Knechte nach und sahn, daß er einem Kaufherrn angehörte, der am Ende des Marktes seine Tische hatte, worauf die Waren ausgelegt waren. Der Mann legte seine Bürde zu den übrigen Sachen und näherte sich sodann seinem Dienstherrn, wartend bis er, der eben mit Käufern in Gespräch und Tätigkeit war, Zeit fände, ihm Gehör zu schenken. Die Schüler traten nach dem Geheiß ihres Meisters heran, um zu sehen und zu lauschen. Nun hörten sie, wie der Knecht zu seinem Herrn sagte, es sei ihm not, augenblicks hinweg zu gehn und seinen Dienst zu lassen. Er bat, der Herr möge ihm den Lohn ausfolgen, der ihm für seine Arbeit zukomme. Der Kaufmann sah den Mann zornig und verächtlich an und gebot ihm, dergleichen üble Scherze zu lassen, da hiefür im Andrang des Marktes nicht Muße sei. Der Knecht aber wiederholte nun seine Worte. Da

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erkannte der Herr wohl, daß es Ernst sei, und wurde von einer unbändigen Wut befallen. Schreiend schalt er den Diener einen faulen und nichtsnutzigen Knecht, der seinen Herrn im Stiche lasse, wenn die Arbeit sich häufe, der sich nur füttern lassen wolle, wenn nichts zu tun sei, und was derart bösartige Reden mehr waren. Eine Menge müßiger Gesellen, davon die Märkte stets voll sind, liefen sogleich herzu, sich des Lärms freuend, ja nach einiger Weile, da der Kaufherr es für gut befand fort und fort zu zetern und zu klagen, ließen selbst Händler und Käufer ihre Plätze und kamen herbei, zu sehen, was die Ursache des Geschreis sein möge. Der Anblick der vielen Menschen aber stimmte den Zornigen noch schlechter und er schwur, er wolle keinen Heller Lohnes zahlen. Da wandte der Diener sich, ohne länger seines Rechtes zu warten, und ging leise hinweg, dessen der Händler, der immer weiter seinen Grimm in heftigen Reden ergoß, nicht gewahr wurde und die Menge nicht achtete. Die Schüler des Rabbi Leib aber lösten sich sogleich aus der Schar und folgten dem Knechte nach. Wie sie hinter ihm hergingen, merkten sie, daß der Fremde, der wie ein Irrlicht vor ihnen herglitt und dessen Schritte die Erde nicht mehr zu hemmen schien, in Sterbekleidern ging. Die Jünglinge hielten sich an den Händen, und so zogen sie lang hinter dem Wanderer her, ehe einer von ihnen den Mut gewann, ihn anzuhalten und zu bitten, er möge ihnen sagen, was zwischen ihm und ihrem Meister sich zugetragen habe und welches sein Wesen sei, da er, so wunderlich gewandelt, so wunderlich sich gebare. Der Mann hob seinen Blick vom Boden und ließ sie in sein von den Leiden ungezählter Jahre verstörtes Angesicht schauen. Dann begann er zu sprechen. Seine Stimme war wie ein Vogel, der nur im Flug den Sand berührt, voll Begier, der Rast ein Ende zu setzen und mit den Lüften zu gehen. »Freunde«, sprach er, »ich bin ein Gestorbener seit langer Zeit, lief so viele Jahre auf Erden einher und wußte nicht, daß ich tot sei. Von meiner Seele verlassen, an nichtiges Tun gebunden, hatte ich keine Kenntnis von mir, sinnlos kreuzte ich die Pfade der Welt. Da rief mich das Wort des gesegneten Meisters und weckte mich zur Besinnung. Er hat mir die Erlösung gekündet. Nun gehe ich, mich zu betten, wo das Lager mir bereitet ist.« So redend schwand er hinweg und ließ die Schüler auf der dunkelnden Straße. Die aber hielten sich fester an den Händen. Sie wußten nun, warum ihr stiller Meister sich ins Getöse der Märkte und Straßen wandte.

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Vorrede Dieses Buch besteht aus einer Nachricht und zwanzig Geschichten. Die Nachricht sagt das Leben der Chassidim, einer ostjüdischen Sekte, die gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entstand und noch in unseren Tagen herabgesunken fortbesteht. Die Geschichten erzählen das Leben des Stifters dieser Sekte, des Rabbi Israel ben Elieser, der Baalschem, das ist Meister des Gottesnamens, genannt wurde und von etwa 1700 bis 1760, zumeist in Podolien und Wolhynien, lebte. Aber das Leben, von dem hier Kunde gegeben wird, ist nicht das, das man das wirkliche zu nennen pflegt. Ich berichte nicht die Entwicklung und den Verfall der Sekte, ich beschreibe nicht ihre Gebräuche. Ich will nur das Verhältnis zu Gott und zur Welt mitteilen, das diese Menschen meinten, wollten und zu leben versuchten. Ich zähle auch nicht die Daten und Tatsachen auf, deren Zusammenfassung die Biographie des Baalschem zu nennen wäre. Ich baue sein Leben aus seiner Legende auf, in der der Traum und die Sehnsucht eines Volkes sind. Die chassidische Legende hat nicht die strenge Macht, in der die Buddhalegende redet, und nicht die innige, welche die Sprache der Franziskuslegende ist. Nicht im Schatten uralter Haine und nicht an silbergrünen Olivenhängen erwuchs sie, in engen Gassen und dumpfen Kammern ging sie von ungelenken Lippen zu bange lauschenden Ohren, ein Stammeln gebar sie und ein Stammeln trug sie weiter – von Geschlecht zu Geschlecht. Ich habe sie aus den Volksbüchern, aus Heften und Flugblättern empfangen, zuweilen auch aus lebendigem Mund, aus dem Mund von Leuten, die noch das Stammeln gehört hatten. Ich habe sie empfangen und neu erzählt. Ich habe sie nicht übertragen, wie irgendein Stück Literatur, ich habe sie nicht bearbeitet, wie irgendeinen Fabelstoff, ich habe sie neu erzählt als ein Nachgeborener. Ich trage in mir das Blut und den Geist derer, die sie schufen, und aus Blut und Geist ist sie in mir neu geworden. Ich stehe in der Kette der Erzähler, ein Ring zwischen Ringen, ich sage noch einmal die alte Geschichte, und wenn sie neu klingt, so schlief das Neue in ihr schon damals, als sie zum erstenmal gesagt wurde. Mein Erzählen der chassidischen Legende geht ebensowenig wie auf das »wirkliche« Leben darauf, was man die Lokalfarbe zu nennen pflegt. Es ist etwas Zartes und Ehrwürdiges, etwas Heimliches und Geheimnisvolles, etwas Ausgelassenes und Paradiesisches um die Atmosphäre des »Stübels«, in dem der chassidische Rabbi, der »Zaddik«, der »Bewährte«, der Heilige, der Mittler zwischen Gott und Mensch, mit weisem und lä-

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chelndem Mund das Mysterium und das Märchen austeilt. Aber mein Gegenstand ist nicht die Darstellung dieser Atmosphäre. Meine Erzählung steht auf der Erde des jüdischen Mythos, und der Himmel des jüdischen Mythos ist über ihr. Die Juden sind ein Volk, das nie aufgehört hat, Mythos zu erzeugen. In der Urzeit entspringt der Strom mythengebärender Kraft, der im Chassidismus mündet, von dem die Religion Israels zu allen Zeiten sich gefährdet fühlte, von dem aber in Wahrheit die jüdische Religiosität zu allen Zeiten innerstes Leben empfing. Alle positive Religion ruht auf einer ungeheuren Vereinfachung des in Welt und Seele so vielfältig, so wildverschlungen auf uns Eindringenden: sie ist Bändigung, Bewältigung der Daseinsfülle. Aller Mythos hingegen ist Ausdruck der Daseinsfülle, ihr Bild, ihr Zeichen; unablässig trinkt er von den stürzenden Quellen des Lebens. Deshalb bekämpft die Religion den Mythos überall, wo sie ihn nicht aufzusaugen, ihn sich nicht einzuverleiben vermag. Die Geschichte der jüdischen Religion ist großenteils die Geschichte ihres Kampfes gegen den Mythos. Seltsam und wunderbar ist es zu beobachten, wie in diesem Kampf die Religion immer wieder den scheinbaren, der Mythos immer wieder den wirklichen Sieg gewinnt. Die Propheten streiten durch das Wort wider die Vielheit der Volkstriebe; aber in ihren Visionen lebt die ekstatische Phantasie der Juden und erwählt sie wider ihr Wissen zu Mythendichtern. Die Essäer wollen das Ziel der Propheten durch eine Vereinfachung der Lebensformen erreichen: und aus ihnen wird heimlich der Menschenkreis geboren, der den Nazarener trägt und seine Legende schafft: den größten aller Triumphe des Mythos. Die Meister des Talmuds gedenken in dem zyklopischen Werk einer Kodifizierung des Religionsgesetzes einen ewigen Damm wider die Leidenschaft des Volkes zu erbauen; und unter ihnen erstehen die Urheber der beiden Mächte, die im Mittelalter die Schützerinnen und Verweserinnen des jüdischen Mythos werden: durch die Geheimlehre die Urheber der Kabbala, durch die Aggada die Urheber der Volkssage. Je weiter das Exil fortschritt, je grausamer es wurde, desto mehr erschien die Erhaltung der Religion zur Erhaltung des Volkstums notwendig, desto stärker wurde die Position des Gesetzes. Der Mythos mußte flüchten. Er flüchtete in die Kabbala und in die Volkssage. Die Kabbala hielt sich wohl für dem Gesetz überlegen, für eine höhere Stufe des Erkennens; aber sie war die Domäne Weniger, dem Leben des Volkes unüberbrückbar fern und fremd. Die Sage hingegen lebte wohl im Volk und füllte sein Dasein mit Lichtwellen und Melodie; aber sie erachtete sich für ein armseliges Ding, das kaum ein Recht auf Existenz habe; sie hielt sich ver-

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graben im letzten Winkel und wagte nie, dem Gesetz ins Auge zu sehen, geschweige denn eine Macht neben ihm sein zu wollen, sie war stolz und froh, wenn sie da und dort berufen wurde, das Gesetz zu illustrieren. Und plötzlich wächst unter polnischen und kleinrussischen Dorfjuden eine Bewegung empor, in der der Mythos sich reinigt und erhebt: der Chassidismus. In ihm strömen Mystik und Sage zur Einheit zusammen. Die Mystik wird Besitz des Volkes, und zugleich nimmt sie die ganze Erzählerglut der Sage in sich auf. Und in dem dunklen verachteten Osten, unter schlichten unwissenden Dörflern wird dem Kind der Jahrtausende der Thron bereitet. Es gibt in unseren Tagen noch Scharen von Chassidim; der Chassidismus ist im Verfall. Aber die chassidischen Schriften haben uns seine Lehre und seine Legende übergeben. Die chassidische Lehre ist die Verkündigung der Wiedergeburt. Es kann keine Erneuerung des Judentums glücken, die nicht ihre Elemente in sich trüge. Die chassidische Legende ist der Körper der Lehre, ihr Bote, ihr Zeichen auf dem Wege der Welt. Sie ist die letzte Gestalt des jüdischen Mythos, die wir kennen. Die Legende ist der Mythos der Berufung. Das bedeutet: die ursprüngliche Personalität des Mythos ist in ihr gespalten. In dem reinen Mythos gibt es keine Verschiedenheit des Wesens. Er kennt die Vielheit, aber nicht die Zweiheit. Auch der Heros steht nur auf einer anderen Stufe als der Gott, nicht ihm gegenüber: sie sind nicht das Ich und das Du. Der Heros hat eine Sendung, nicht eine Berufung. Er steigt empor, aber er wandelt sich nicht. Der Gott des reinen Mythos beruft nicht, er zeugt; er sendet den Gezeugten, den Heros. Der Gott der Legende beruft den Menschensohn: den Propheten, den Heiligen. Die Legende ist der Mythos des Ich und Du, des Berufenen und des Berufenden, des Endlichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf. Die Legende des Baalschem ist nicht die Geschichte eines Menschen, sondern die Geschichte einer Berufung. Sie erzählt kein Schicksal, sondern eine Bestimmung. Ihr Ende ist schon in ihrem Anfang, und ein neuer Anfang in ihrem Ende. Ravenna, im Herbst 1907

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Vorwort zur Neuausgabe

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Es sind fünfzig Jahre, seit mich die Legendenliteratur des Chassidismus in ihren Bann zog. Bald danach begann ich mit der Nacherzählung des Baalschemzyklus, aus der dieses Buch entstanden ist. Das vorgefundene Material war so formlos, daß ich mich versucht fühlte, mit ihm wie mit irgendeinem dichterischen Stoff zu schalten. Daß ich dieser Versuchung nicht erlegen bin, verdanke ich der Macht der chassidischen Anschauung, die mir in all diesen Geschichten entgegentrat. Hier war etwas Tragendes, das durchaus gewahrt werden mußte. Was das war, ist der den Erzählungen dieses Buches vorausgeschickten Darstellung zu entnehmen. In diesen Grenzen aber, die das Hereintragen fremder Motive verboten, blieb der epischen Gestaltung alle Freiheit. Erst eine Weile nachdem dieses Buch erschienen war, hat sich meinem Autorenverhältnis zur chassidischen legendären Überlieferung die strengere Bindung auferlegt, die in jeder einzelnen Geschichte den mit ihr gemeinten Vorgang, wie roh und unbeholfen immer er tradiert war, zu rekonstruieren gebot und deren Ergebnisse aus drei Jahrzehnten in dem Buch »Die Erzählungen der Chassidim« (hebräische Ausgabe 1947, deutsche Ausgabe 1949) gesanmmelt worden sind. Spät erst wurde in dem chronikartigen Roman »Gog und Magog« (hebräische Ausgabe 1943, deutsche Ausgabe 1949) unternommen, beiden, Treue und Freiheit, genugzutun. Die vorliegende Umarbeitung der »Legende des Baalschem«, aus dem Sommer 1954 stammend, ist lediglich sprachlicher Art; der Charakter des Buches ist unverändert geblieben. Jerusalem, im Frühling 1955

Die Erklärung ungeläufiger Wörter und Namen ist am Schluß des Buches gegeben.

Das Leben der Chassidim

Hitlahawut: von der Inbrunst Hitlahawut ist »das Entbrennen«; die Inbrunst der Ekstase. Ein feuriges Schwert hütet den Weg zum Baum des Lebens. Es zersprüht vor der Berührung der Hitlahawut. Ihr Lodern ist ihm übermächtig. Ihr ist die Bahn offen, und alle Schranke versinkt vor ihrem schrankenlosen Schritt. Die Welt ist nicht mehr ihr Ort: sie ist der Ort der Welt. Hitlahawut erschließt dem Leben seinen Sinn. Ohne sie hat auch der Himmel keinen Sinn und kein Wesen. »Wenn ein Mensch die ganze Lehre und alle Gebote erfüllt hat, aber die Wonne und das Entbrennen hat er nicht gehabt: wenn der stirbt und hinübergeht, öffnet man ihm das Paradies, aber weil er in der Welt die Wonne nicht gefühlt hat, fühlt er auch die Wonne des Paradieses nicht.« Allerorten und allezeit kann Hitlahawut erscheinen. Jede Stunde ist ihr Schemel und jede Tat ihre Thronlehne. Nichts kann sich ihr entgegenstemmen, nichts sie herabdrücken; nichts kann sich ihrer Macht erwehren, die allen Körper zu seinem Geist erhebt. Wer in ihr ist, ist in der Heiligkeit. »Er vermag eitle Worte mit seinem Munde zu reden, und die Lehre des Herrn ist in seinem Innern zu dieser Stunde; flüsternd zu beten, und sein Herz schreit in seiner Brust; in einer Gemeinschaft von Menschen zu sitzen, und er wandelt mit Gott: vermischt mit den Kreaturen und abgeschieden von der Welt.« Jedes Ding und jedes Tun wird so geheiligt. »Wenn der Mensch sich an Gott schließt, kann er seinen Mund reden lassen, was er reden mag, und sein Ohr hören lassen, was es hören mag, und er wird die Dinge binden an ihre obere Wurzel.« Die Gewalt, die so vieles im Menschenleben schwächt und entfärbt, die Wiederholung, ist ohnmächtig vor der Ekstase, die sich gerade an den regelmäßigsten, gleichförmigsten Ereignissen wieder und wieder entzündet. Über einen Zaddik geriet Hitlahawut jedesmal, wenn im Vortrag der Schrift die Worte kamen: »Und Gott sprach.« Ein chassidischer Weiser, der dies seinen Schülern erzählte, fügte hinzu: »Aber auch ich meine: wenn einer in Wahrheit redet und einer in Wahrheit empfängt, dann ist es genug an einem Worte, die ganze Welt zu erheben und die ganze Welt zu entsühnen.« Ewig neu ist dem Inbrünstigen das Allgewohnte. Ein Zaddik stand im ersten Morgendämmer am Fenster und rief zitternd: »Vor einer kleinen Stunde war noch Nacht und jetzt ist Tag – Gott bringt den Tag herauf!« Und er war voll der Angst und des Zitterns. Auch sprach er: »Jeder Geschaffene soll sich vor dem Schöpfer schämen: wäre er vollkommen, wie ihm bestimmt war, dann müßte er erstaunen und

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erwachen und entbrennen über die Erneuerung der Kreatur zu jeder Zeit und in jedem Augenblick.« Aber nicht ein plötzliches Versinken in die Ewigkeit ist Hitlahawut, sondern ein Aufstieg zum Unendlichen von Stufe zu Stufe. Gott finden heißt den Weg finden, der ohne Grenze ist. Im Bilde dieses Wegs sahen die Chassidim die »kommende Welt«, die sie niemals ein Jenseits nannten. Ein Frommer schaute einen toten Meister im Traum. Der erzählte ihm, von der Stunde seines Todes an gehe er an jedem Tag von Welt zu Welt. Und die Welt, die gestern als Himmel über seinen Blicken ausgespannt war, die ist heute die Erde unter seinem Fuß; und der Himmel von heute ist die Erde von morgen. Und jede Welt ist reiner und schöner und tiefer, als die vor ihr war. Die Engel ruhen in Gott, aber die heiligen Geister schreiten in Gott vor. »Der Engel ist ein Stehender, und der Heilige ist ein Wandelnder. Darum ist der Heilige über dem Engel.« Solch ein Weg ist die Ekstase. Wenn sie ein Ende zu bieten scheint, ein Erreichen, Erlangen, Ergreifen, ist es nur ein endgültiges Nein, kein endgültiges Ja: es ist das Ende der Gebundenheit, das Abschütteln der letzten Kette, die Lösung, die allem Irdischen enthoben ist. »Wenn der Mensch von Macht zu Macht wandelt und nur empor und empor, bis er zur Wurzel aller Lehre und alles Gebots kommt, zu Gottes Ich, der einfachen Einheit und Schrankenlosigkeit – wenn er da steht, dann sinken alle Flügel der Gebote und Gesetze nieder, und alle sind sie vernichtet. Denn vernichtet ist der Trieb, da er darüber steht.« »Über der Natur und über der Zeit und über dem Denken« – so wird der genannt, der in der Inbrunst ist. Er hat alles Leid und alle Schwere abgetan. »Süße Leiden, ich empfange euch in Liebe«, sagt ein sterbender Zaddik, und Rabbi Sußja ruft, da seine Hand sich aus dem Feuer schleicht, in das er sie gelegt hat, verwundert aus: »Wie grob ist Sußjas Körper geworden, daß er sich vor dem Feuer fürchtet.« Der Inbrünstige regiert das Leben, und kein äußeres Geschehen, das in sein Reich eindringt, vermag seine Weihe zu stören. Von einem Zaddik wird erzählt, er habe, als sich das heilige Mahl der Lehre bis zum Morgen hinzog, zu seinen Jüngern gesprochen: »Wir sind nicht in die Grenzen des Tags eingeschritten, sondern der Tag ist in unsere Grenzen eingeschritten, und wir brauchen vor ihm nicht zu weichen.« In der Ekstase rückt alles Vergangene und alles Zukünftige zur Gegenwart zusammen. Die Zeit verschrumpft, die Linie zwischen den Ewigkeiten verschwindet, einzig der Augenblick lebt, und der Augenblick ist die Ewigkeit. In seinem unzersplitterten Licht erscheint alles, was war und was sein wird, einfach und gesammelt. Es ist da, wie ein Herzschlag da ist, und wird vernehmbar wie er.

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Die chassidische Legende weiß viel von den Wunderbaren zu erzählen, die sich ihrer früheren Daseinsformen erinnerten, der Zukunft wie der eigenen Atemzüge gewahr wurden, von einem Ende der Erde zum andern blickten und alle Wandlungen, die sich in den Welten ereigneten, wie etwas verspürten, was ihrem Körper geschah. All dies ist nicht jener Zustand, in dem Hitlahawut die Welt des Raums und der Zeit überwunden hat. Wohl aber deuten uns etwas davon zwei naive, einander verwandte und einander ergänzende Anekdoten. Von einem Meister wird erzählt, er habe in Stunden der Entrückung auf die Uhr sehen müssen, um sich in dieser Welt zu erhalten; und von einem andern, er habe, wenn er die Einzeldinge betrachten wollte, eine Brille aufsetzen müssen, um sein geistiges Sehen zu bezwingen: »denn sonst sah er alle Dinge der Welt als eins«. Aber die höchste Stufe, von der berichtet wird, ist die, auf der der Entrückte der eigenen Inbrunst entgleitet. Als ein Schüler einmal eines Zaddiks »Erkalten« bemerkte und tadelte, wurde er von einem andern belehrt: »Es gibt ein sehr hohes Heiligtum; wenn man dahin kommt, wird man alles Wesens los und kann nicht mehr entbrennen.« So vollendet sich die Inbrunst in der eigenen Aufhebung. Zuweilen äußert sie sich in einem Tun, weiht es und füllt es mit heiliger Bedeutung. Die reinste Form, die, in der der ganze Körper der erregten Seele dient und jeder ihrer Hebungen und Neigungen das sichtbare Geschwister erschafft, ist der Tanz. Von dem Tanz eines Zaddiks wird erzählt: »Sein Fuß war leicht wie eines vierjährigen Kindes. Und alle, die sein heiliges Tanzen sahen – da war nicht einer, in dem sich nicht die heilige Umkehr vollzog, denn er wirkte im Herzen aller, die es sahen, beides, Weinen und Wonne, in einem.« Oder die Seele erfaßt die Stimme des Menschen und macht sie singen, was sie in den Höhen erfahren hat; und die Stimme weiß nicht, was sie tut. So stand ein Zaddik an den »furchtbaren Tagen« (Neujahr und Versöhnungstag) im Gebet und sang neue Melodien, »Wunder der Wunder, die er nie gehört hatte und die kein Menschenohr je gehört hatte, und er wußte gar nicht, was er singt und welche Weise er singt, denn er war an die obere Welt gebunden«. Das eigentliche Leben des Inbrünstigen ist nicht unter den Menschen. Es wird von einem Meister gesagt, er habe sich wie ein Fremdling geführt, nach den Worten Davids, des Königs: Ein Gastsasse bin ich im Land. »Wie ein Mann, der aus der Ferne kam, aus der Stadt seiner Geburt. Er sinnt nicht auf Ehre und nicht auf irgendein Ding zu seinem Wohl, nur darauf sinnt er, zur Stadt seiner Geburt heimzukehren. Nichts kann er besitzen, denn er weiß: Das ist Fremdes, und ich muß heim.« Mancher geht in die Einsamkeit, in »das Wandeln«. Rabbi Sußja pflegte

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in Wäldern umherzustreifen und Lobgesänge zu singen, mit so großer Glut, »daß man schier von ihm gesagt hat, er sei nicht bei Verstand«. Ein anderer war nur in Gassen und Gärten zu finden. Als ihn sein Schwiegervater darob ermahnte, antwortete er ihm mit dem Gleichnis von der Henne, die Gänseeier ausgebrütet hatte: »und als sie ihre Kinder auf der Wasserfläche umherschwimmen sah, lief sie bestürzt hin und her, Hilfe zu suchen für die Unglücklichen; und verstand nicht, daß dies jenen all ihr Leben war: dahinzustreifen über die Wasserfläche«. Doch gibt es tiefer Abgeschiedene, deren Hitlahawut in alledem noch nicht erfüllt ist. Die werden »unstet und flüchtig«. Sie gehen in die »Verbannung«, um »das Exil mit der Schechina zu tragen«. Es ist eine Urvorstellung der Kabbala, daß die Schechina, die »einwohnende« Gegenwart Gottes, verbannt durch die Unendlichkeit irrt, von ihrem »Herrn« getrennt, und daß sie erst in der Stunde der Erlösung sich mit ihm wieder vereinigen wird. So wandern diese Ekstatiker über die Erde, in den stummen Fernen des Gottes-Exils weilend, Genossen des heiligen Allgeschehens. Der dergestalt Abgelöste ist Gottes Freund, »wie ein Fremdling eines andern Fremdlings Freund ist, ihrer Fremdheit auf Erden wegen«. Ihm widerfahren Augenblicke, in denen er die Schechina im Menschenbild schaut, von Angesicht zu Angesicht, wie jener Zaddik sie im Heiligen Lande sah, »in der Gestalt einer Frau, die über den Gemahl ihrer Jugend weint und klagt«. Aber nicht bloß in Gesichten aus dem Dunkel und nicht bloß im Schweigen der Wanderschaft gibt Gott sich dem um ihn Entbrannten, sondern aus allen Dingen der Erde blickt sein Auge in das suchende, und jedes Wesen ist die Frucht, in der er sich der verlangenden Seele darbietet. Schleierlos ist das Sein in des Heiligen Hand. »Wer eine Frau sehr begehrt und ihre buntfarbnen Gewänder betrachtet, dessen Sinn geht nicht auf das Prunkzeug und die Farben, sondern auf die Herrlichkeit der begehrten Frau, die in sie gehüllt ist. Aber die andern sehen nur die Gewänder und nicht mehr. So schaut, wer Gott in Wahrheit begehrt und umfängt, in allen Dingen der Welt nur die Kraft und den Stolz des Bildners des Urbeginns, der in den Dingen lebt. Wer aber nicht auf dieser Stufe ist, sieht die Dinge von Gott getrennt.« Dies ist das Erdenleben der Hitlahawut, die sich über alle Grenzen schwingt. Sie ist die Tochter eines Menschenwillens und die Herrin der Welten, das Fünklein eines Wesens, das sterben muß, und die Flamme, die Raum und Zeit verzehrt. Sie erweitert die Seele zum All. Sie verengert das All zu Nichts. Von ihr redet ein chassidischer Meister in Worten des Geheimnisses: »Die Schöpfung des Himmels und der Erde ist die Entfaltung des Etwas aus dem Nichts, das Hinabsteigen des Oberen in das Un-

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tere. Aber die Heiligen, die sich vom Sein ablösen und Gott immerdar anhangen, die sehen und erfassen ihn in Wahrheit, als wäre das Nichts wie vor der Schöpfung. Sie wandeln das Etwas in Nichts zurück. Und dies ist das Wunderbarere: das Untere emporzubringen. Wie geschrieben steht in der Gemara: Größer ist das letzte Wunder als das erste.«

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Hitlahawut ist das Gottumfangen ohne Zeit und Raum. Awoda ist das Gottdienen in der Zeit und im Raum. Hitlahawut ist das mystische Mahl. Awoda ist das mystische Opfer. Es sind die Pole, zwischen denen das Leben der Heiligen schwingt. Hitlahawut schweigt, da sie an Gottes Herzen liegt. Awoda redet: »Was bin ich und was ist mein Leben, daß ich mein Blut und mein Feuer dir darbringen will?« Hitlahawut ist so fern von Awoda wie Erfüllung von Verlangen. Und doch strömt Hitlahawut aus Awoda wie Gottfinden aus Gottsuchen. Der Baalschem erzählte: Ein König baute einst einen großen und herrlichen Palast mit zahllosen Gemächern, aber nur ein Tor war geöffnet. Als der Bau vollendet war, wurde verkündet, es sollten alle Fürsten vor dem König erscheinen, der in dem letzten der Gemächer throne. Aber als sie eintraten, sahen sie: da waren Türen offen nach allen Seiten, von denen führten gewundene Gänge in die Fernen, und da waren wieder Türen und wieder Gänge, und kein Ziel erstand vor dem verwirrten Auge. Da kam der Sohn des Königs und sah, daß all die Irre eine Spiegelung war, und sah seinen Vater sitzen in der Halle vor seinem Angesicht. Das Geheimnis der Gnade ist nicht zu deuten. Zwischen Suchen und Finden liegt die Spannung eines Menschenlebens, ja tausendfacher Wiederkehr der bangen wandernden Seele. Und doch ist der Flug des Augenblicks langsamer als die Erfüllung. Denn Gott will gesucht werden, und wie könnte er nicht gefunden werden wollen? Wenn der Heilige ewig neues Feuer heranbringt, daß die Glut auf dem Altar seiner Seele nicht verlösche, redet Gott selber den Opferspruch. Gott waltet im Menschen, wie er im Chaos waltete zur Zeit der werdenden Welt. »Und wie als die Welt sich zu entfalten begann und er sah: wenn es weiter auseinander fließt, wird es nicht mehr zu seinen Wurzeln heimkehren können, da sprach er: Genug! – so ist es, wenn die Seele des Menschen im Leiden zerflutet und das Übel so mächtig wird in ihr, daß sie bald nicht mehr heimkehren könnte, da erweckt sich sein Erbarmen und er spricht: Genug!« Aber auch der Mensch kann »Genug!« sagen: zu der Vielfältigkeit in sich. Wenn er sich sammelt und vereint, nähert er sich der Einheit Gottes, dient er seinem Herrn. Dies ist Awoda. Von einem Zaddik wurde gesagt: »Bei ihm ist Lehre und Gebet und Essen und Schlafen, alles eines, und er kann die Seele zu ihrer Wurzel erheben.«

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Alles Tun in eines gebunden, und das unendliche Leben in jeder Tat eingehegt: dies ist Awoda. »In alle Taten des Menschen, Sprechen und Blicken und Horchen und Gehen und Stehenbleiben und Sichlegen, sei das Schrankenlose gewandet.« Aus jeder Tat wird ein Engel geboren, ein guter oder ein böser. Aber aus den halben und wirren Taten, die ohne den Sinn oder ohne die Kraft sind, werden Engel geboren mit verrenkten Gliedern oder ohne Haupt oder ohne Hände oder ohne Füße. In allem Tun durchstrahlt von den Wellen der Allsonne und gesammelten Lichtes in allem Tun, dies ist der Dienst. Aber keine Handlung ist zu ihm auserwählt. Gott will, daß man ihm auf alle Arten diene. »Es gibt zwei Arten von Liebe: die Liebe eines Mannes zu seinem Weibe, der geziehmt es, im Geheimen zu sein und nicht am Ort der Zuschauer, da diese Liebe sich nur an einer von den Wesen geschiedenen Stätte vollenden kann; und die Liebe zu den Geschwistern und den Kindern, die keiner Verborgenheit bedarf. Und so gibt es in der Liebe zu Gott zwei Arten: die Liebe durch die Lehre und das Gebet und die Erfüllung des Gebotenen, der geziemt es, in der Stille zu wandeln und nicht im Offenbaren, damit sie nicht zu Ruhm und Stolz verführe; und die Liebe in der Zeit, da man mit den Geschöpfen vermischt ist, redet und hört, gibt und nimmt mit ihnen, und in dem Geheimnis seines Herzens hangt man an Gott und läßt nicht ab, ihm zuzusinnen. Und dies ist eine höhere Stufe als jene, und von ihr ist gesagt: ›Wer gäbe dich mir zum Bruder, der an den Brüsten meiner Mutter sog! Fände ich dich auf der Gasse und küßte dich, sie dürften mich doch nicht verachten.‹« Dies ist aber nicht so zu verstehen, als sei in dem solcherart Dienenden eine Spaltung zwischen der irdischen und der himmlischen Tat. Vielmehr ist jede Bewegung des Hingegebenen ein Gefäß der Weihe und der Macht. Von einem Zaddik wird erzählt, er habe alle seine Glieder so geheiligt, daß jeder Schritt seiner Füße Welten miteinander vermählte. »Der Mensch ist eine Leiter, gestellt auf die Erde, und ihr Haupt rührt an den Himmel. Und alle seine Gebärden und Geschäfte und Reden ziehen Spuren in der oberen Welt.« Hier ist der innere Sinn der Awoda angedeutet, der aus der Tiefe der altjüdischen Geheimlehre kommt und das Geheimnis jener Zweiheit von Inbrunst und Dienst, von Haben und Suchen erleuchtet. In Zweiheit ist durch die erschaffene Welt und ihre Tat der Gott zerfallen: in das Gotteswesen, Elohut, das den Kreaturen entrückt ist, und die Gottespräsenz, Schechina, die in den Dingen wohnt, wandernd, irrend, verstreut. Erst die Erlösung wird beide in die Ewigkeit vereinigen. Aber es ist der Besitz des Menschengeistes, durch seinen Dienst die Schechina

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ihrem Quell nähern, in ihn eintreten lassen zu können. Und in diesem Augenblick der Heimkehr, ehe sie wieder niedersteigen muß in das Sein der Dinge, verstummen die Wirbel, die durch das Leben der Gestirne sausen, erlöschen die Fackeln der großen Verheerung, entsinkt die Geißel der Hand des Geschicks, hält die Weltenpein inne und lauscht: die Gnade der Gnaden ist erschienen, der Segen träuft nieder auf die Unendlichkeit. Bis die Macht der Verstrickung die Gottesglorie herabzuzerren beginnt und alles wird wie zuvor. Das ist der Sinn des Dienstes. Nur das Gebet, das um der Schechina willen geschieht, lebt wahrhaft. »Durch seine Not und seinen Mangel kennt er den Mangel der Schechina, zu beten, daß der Mangel der Schechina gefüllt werde und daß durch ihn, den Betenden, die Einung Gottes mit seiner Schechina geschehe.« Der Mensch soll wissen, daß sein Leid aus dem Leid der Schechina kommt. Er ist »eines von ihren Gliedern«, und die Stillung ihres Entbehrens ist allein die echte Stillung des seinen. »Er sinne nicht auf seine Lösung zugleich im untern und im obern Bedürfen, daß er nicht sei, wie der die ewige Pflanzung zerhaut und Trennung schafft; sondern alles tue er um des Mangels der Schechina willen, und aus sich selber wird alles gelöst werden, und auch sein eignes Leid wird gestillt werden aus der Stillung der obern Wurzel. Denn alles, Oben und Unten, ist eine Einheit.« »Ich bin das Gebet«, spricht die Schechina. Ein Zaddik sagte: »Die Menschen meinen, sie beten vor Gott, aber es ist nicht so, denn das Gebet selber ist Gottheit.« In der Enge des Selbst kann kein Beten gedeihen. »Wer in Leid betet ob der Schwermut, die ihn beherrscht, und denkt, er bete in der Furcht vor Gott, oder wer in Freude betet ob der Helle seines Gemütes, und denkt, er bete in der Liebe zu Gott, dessen Gebet ist gar nichts. Denn diese Furcht ist nur Schwermut, und diese Liebe ist nur leere Freude.« Es wird erzählt, der Baalschem sei einmal an der Schwelle eines Bethauses stehen geblieben, habe nicht eintreten wollen und habe im Widerwillen gesprochen: »Da kann ich nicht hinein. Das Haus ist ja randvoll von Lehre und Gebet.« Und als sich die Begleiter verwunderten, weil ihnen schien, es könne kein größeres Lob geben als dieses, deutete er es ihnen: »Die Worte, die hier von den Leuten tagsüber ohne die wahre Andacht, ohne Liebe und Barmherzigkeit gesprochen werden, haben keine Flügel. Sie bleiben zwischen den Mauern, sie hocken am Boden, sie breiten sich Schicht auf Schicht wie moderndes Laub, bis der Mulm das Haus vollgepfropft hat und für mich darin kein Platz mehr ist.« Zweierlei vermag die Gebete festzuhalten: wenn sie ohne die Intention gesprochen werden, und wenn die früheren Taten des Betenden zwischen ihm und dem Himmel wie eine schwere Wolke lagern. Die Hinderung

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kann nur bezwungen werden, wenn der Mensch in die Sphäre der Inbrunst emporwächst und sich in ihren Gnaden reinigt, oder wenn eine andere Seele, die in der Inbrunst ist, die gefesselten Worte frei macht und mit dem ihren nach oben trägt. So wird von einem Zaddik erzählt, er sei beim Beten der Gemeinde eine lange Zeit stumm und ohne Bewegung dagestanden und habe dann erst selbst zu beten begonnen, »gleichwie der Stamm Dan am Ende des Lagers zog und alles Verlorene sammelte«; sein Wort sei ein Gewand gewesen, in dessen Falten hätten sich die niedergehaltenen Gebete geschmiegt und seien emporgetragen worden. Dieser Zaddik pflegte vor dem Beten zu sagen: »Ich binde mich mit ganz Israel, mit denen, die größer sind als ich, daß durch sie mein Gedanke aufsteige, und mit denen, die kleiner sind als ich, daß sie durch mich gehoben werden.« Aber dies ist das Geheimnis der Gemeinschaft, daß nicht bloß der Niedere des Höheren bedarf, sondern auch der Hohe des Niedern. Hier ruht ein weiterer Unterschied zwischen dem Zustand der Ekstase und dem Zustand des Dienstes. Hitlahawut ist des Einzelnen Weg und Ziel; ein Seil ist über den Abgrund gespannt, an zwei schlanke Bäume gebunden, die der Sturm bewegt; in Einsamkeit und Grauen betritt es der Fuß des Wagenden. Hier gibt es keine Menschengemeinschaft, nicht im Zweifel und nicht im Besitz. Der Dienst aber ist vielen Seelen in ihrer Vereinigung erschlossen. Er gewährt die letzten Schauer nicht, aber er ist frei von den dunkelsten Ängsten. Er ist nicht ein Seil, sondern eine Brücke. Den auf dem Seil Kommenden umfängt drüben der Arm des Geliebten; den Wanderern der Brücke öffnet sich die Halle des Königs. Die Ekstase will nichts als ihre Vollendung in Gott, sie gibt sich dahin. Im Dienste lebt eine Absicht, eine »Kawwana«. Die Wollenden binden sich aneinander zu größerer Einheit und Macht. Es gibt einen Dienst, den nur die Gemeinde vollbringen kann. Der Baalschem sagte ein Gleichnis: Menschen standen unter einem sehr hohen Baum. Und einer von den Menschen hatte Augen zu sehen. Er sah: im Wipfel des Baums stand ein Vogel, herrlich in wesenhafter Schönheit. Die andern sahen den Vogel nicht. Über jenen Mann aber fiel ein großes Bangen, zu dem Vogel zu kommen und ihn zu nehmen; er konnte nicht von dannen ohne den Vogel. Wegen der Höhe des Baums war es jedoch nicht in seinem Vermögen, und auch eine Leiter war nicht da. Weil aber sein Bangen so übermächtig war, fand seine Seele sich den Rat. Er nahm die Menschen, die umherstanden, und stellte sie aufeinander, jeden auf die Schultern eines Gefährten. Er aber stieg zu oberst, so daß er zum Vogel kam, und nahm ihn. Die Menschen, wiewohl sie dem einen geholfen hatten, wußten nichts von dem Vogel und sahen

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ihn nicht. Er aber, der von ihm wußte und ihn sah, hätte ohne sie nicht zu ihm kommen können. Würde jedoch der unterste von ihnen seinen Ort verlassen, dann müßte der oben zur Erde niederfallen. »Und der Tempel des Messias wird im Buche Sohar das Vogelnest genannt.« Es ist aber nicht etwa so, als werde nur des Zaddiks Gebet von Gott empfangen und als sei nur dieses lieblich in seinen Augen. Kein Beten ist gnadenstärker und dringt in geraderem Flug durch alle Himmelswelten, als das des Einfältigen, der nichts zu sagen und nur das ungebrochene Müssen seines Herzens Gott darzubringen weiß. Gott nimmt es an, wie ein König das Singen der Nachtigall in der Dämmerung seines Gartens, das ihm süßer klingt als die Huldigung der Fürsten im Thronsaal. Die chassidische Legende weiß sich nicht genug der Beispiele für die Gunst, die dem Ungeschiedenen leuchtet, und für die Macht seines Dienstes. Eines sei hier mitgeteilt. Ein Dorfmann, der Jahr für Jahr an den »furchtbaren Tagen« im Bethaus des Baalschem war, hatte einen Knaben. Der war stumpfen Verstandes und konnte nicht einmal die Gestalt der Buchstaben empfangen, geschweige denn die heiligen Worte erkennen. Der Vater nahm ihn an den furchtbaren Tagen nicht mit sich in die Stadt, weil er nichts wußte. Doch als er dreizehn Jahre war und mündig vor Gottes Gesetzen, nahm ihn der Vater am Versöhnungstag mit, damit er nicht etwa esse am Tag der Kasteiung aus Mangel seines Wissens und Verstehens. Der Knabe aber hatte ein Pfeifchen, darauf pfiff er immer in der Zeit, da er im Felde saß, die Schafe zu weiden. Das hatte er nun in der Tasche seines Kleides mitgenommen, ohne daß sein Vater es wußte. Der Knabe saß in den heiligen Stunden im Bethaus und wußte nichts zu sagen. Als aber das Mußafgebet angehoben wurde, sprach er zu seinem Vater: »Vater, ich habe mein Pfeifchen bei mir, und ich will darauf singen.« Da war der Vater sehr bestürzt und fuhr ihn an: »Hüte dich, daß du dies nicht tuest.« Und er mußte es in sich bewahren. Aber als das Minchagebet kam, sprach er wieder: »Vater, erlaube mir doch, mein Pfeifchen zu nehmen.« Der Vater wurde zornig und fragte ihn: »Wo hast du es?«, und da er ihm den Ort zeigte, legte er die Hand auf die Tasche und hielt sie fortan darauf, um das Pfeifchen zu hüten. Aber das Neïlagebet begann, und die Lichter brannten zitternd in den Abend, und die Herzen brannten wie die Lichter, unerschöpft vom langen Harren, und durch das Haus schritten noch einmal müde und aufrecht die achtzehn Segensprüche, und das große Bekenntnis kehrte zum letztenmal wieder und lag vor der Lade des Herrn, die Stirn auf der Diele und die Hände gebreitet, noch einmal, ehe der Abend sich neigt und Gott entscheidet. Da konnte der Knabe seine Inbrunst nicht länger niederhalten, er riß das Pfeifchen aus der

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Tasche und ließ dessen Stimme mächtig schallen. Alle standen erschreckt und verwirrt. Doch der Baalschem erhob sich über ihnen und sprach: »Das Verhängnis ist durchbrochen und der Zorn zerstreut vom Angesicht der Erde.« So ist jeder Dienst, der aus einer schlichten oder geschlichteten zwiespaltlosen Seele kommt, zureichend und vollkommen. Noch aber ist ein höherer. Denn wer von Awoda zu Hitlahawut aufgestiegen ist, seinen Willen in sie getaucht hat und seine Tat einzig aus ihr empfängt, der hat jeden besonderen Dienst überstiegen. »Jeder Zaddik hat seine besondere Art des Dienstes. Wenn aber die Zaddikim ihre Wurzel betrachten und zum Nichts gelangen, dann können sie Gott auf allen Stufen dienen.« So sprach einer von ihnen: »Ich stehe vor Gott wie ein Botenknabe.« Denn er war zur Vollendung und zum Nichts gekommen, bis er keine besondere Art mehr hatte, »sondern er stand bereit für alle Arten, die Gott ihm weisen würde, wie ein Botenknabe dasteht, bereit für alles, was ihm sein Herr befehlen wird«. Wer so in der Vollendung dient, der hat die urgegebene Zweiheit besiegt und hat Hitlahawut in das Herz der Awoda eingetan. Er wohnt in den Reichen des Lebens, und doch sind alle Mauern gefallen, alle Grenzsteine ausgerissen, alle Scheidung ist vernichtet. Er ist der Bruder der Geschöpfe und fühlt ihren Blick, als wäre es sein eigner, ihren Schritt, als gingen ihn seine Füße, ihr Blut, als flösse es in seinem Leib. Er ist der Sohn Gottes und legt bang und sicher seine Seele in die große Hand zu all den Himmeln und Erden und ungewußten Welten. »Er macht seinen Körper zum Thron des Lebens und das Leben zum Thron des Geistes und den Geist zum Thron der Seele und die Seele zum Thron des Lichtes der Gottesglorie, und das Licht umströmt ihn ringsum, und er sitzt inmitten des Lichtes, und zittert, und frohlockt.«

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Kawwana ist das Mysterium der auf ein Ziel gerichteten Seele. Kawwana ist nicht der Wille. Sie sinnt nicht darauf, ein Bild in die Welt der wirklichen Dinge zu versetzen; nicht, einen Traum zum Gegenstand festzumachen, daß er bei der Hand sei, beliebig oft empfunden zu werden in satter Wiederholung. Auch darauf nicht, den Stein der Tat in die Wellen des Geschehens zu werfen, daß sie eine Weile unruhig werden und sich verwundern, um sodann zurückzukehren zu den tiefen Befehlen ihres Lebens; einen Funken zu legen an die Zündschnur, die durch die Reihe der Geschlechter geht, daß eine Flamme hüpfe aus Zeit zu Zeit, bis sie in einer ohne Abschied und Zeichen erlischt. Nicht dies ist Kawwanas Meinen, daß die Pferde an dem großen Wagen einen Antrieb mehr verspüren, oder daß ein Bau mehr aufgerichtet werde vor dem übervollen Blick der Sterne. Kawwana meint nicht den Zweck, sondern das Ziel. Es gibt aber keine Ziele, sondern das Ziel. Nur ein Ziel ist, das nicht lügt, das sich in keinen neuen Weg verfängt, in das alle Wege münden, vor dem kein Abweg ewig flüchten kann: die Erlösung. Kawwana ist ein Strahl der Gottesglorie, der in jedem Menschen wohnt und die Erlösung meint. Dies aber ist die Erlösung, daß die Schechina aus der Verbannung heimkehre. »Daß alle Schalen von der Schechina weichen und sie sich reinige und sich eine ihrem Eigner in vollkommener Einung.« Des zum Zeichen erscheint der Messias und macht alle Wesen frei. Manchem ist sein Leben lang, als müsse es hier und heute geschehn. Denn er hört die Stimmen des Werdens in den Schluchten brausen und fühlt das Keimen der Ewigkeit auf dem Acker der Zeit, wie wenn es in seinem Blute wäre, und so kann er es nimmer anders denken, als dies und dies sei der erwählte Augenblick. Und immer noch heißer zwingt ihn sein Wähnen, weil immer noch gebieterischer die Stimmen reden und noch heischender das Keimen schwillt. Von einem Zaddik wird erzählt, daß er so sehr der Erlösung harrte: wenn er auf der Gasse ein Getümmel hörte, sogleich wurde er erregt zu fragen, was dies wolle und ob nicht der Bote gekommen sei; und jedesmal, wenn er schlafen ging, befahl er seinem Diener, wenn der Bote käme, solle er ihn imgleichen Augenblick wecken. »Denn so sehr war in seinem Herzen das Kommen des Erlösers eingefaßt, wie wenn ein Vater den einzigen Sohn aus dem fremden Lande erwartet und steht auf der Turmwarte und lugt durch alle Fenster aus, und wenn man die Tür öffnet, eilt er hinaus, um zu sehen, ob sein Sohn nicht gekommen ist.« An-

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dere aber sind des Schreitens kundig in seinem Maß, sehen Ort und Stunde der Bahn und wissen die Ferne des Kommenden. In allem stellt sich ihnen das Unvollendete dar, die Gebrechen der Wesen reden zu ihnen. Wie eine unreife Frucht ist die Welt vor ihren Augen. In sich sind sie der Glorie teilhaftig – da schauen sie hinaus: alles liegt im Kampf. Als der große Zaddik Rabbi Menachem in Jerusalem war, ereignete es sich, daß ein törichter Mann den Ölberg bestieg und in die Schofarposaune stieß. Keiner hatte ihn gesehn. Da hieß es im Volk, dies sei das Schofarblasen, das die Erlösung verkündigt. Als das Gerücht an die Ohren des Rabbis kam, öffnete er sein Fenster und sah in die Luft der Welt hinaus. Und sogleich sprach er: »Da ist keine Erneuerung.« Dies aber ist der Weg der Erlösung: daß alle Seelen und Seelenfunken, die der Urseele entsprossen und in der Urtrübung der Welt oder durch die Schuld der Zeiten gesunken und hinausgestreut sind in alle Geschöpfe, die Wanderschaft beschließen und geläutert heimkehren. Die Chassidim reden davon im Gleichnis des Fürsten, der das Mahl erst anheben läßt, wenn der letzte der Gäste eingezogen ist. Alle Menschen sind die Stätten wandernder Seelen. In vielen Wesen wohnen sie und streben von Gestalt zu Gestalt nach der Vollendung. Die sich aber nicht zu läutern vermögen, werden von der »Welt des Wirrsals« befangen und hausen in Wasserlachen, in Steinen, in Gewächsen, in Tieren, der erlösenden Stunde entgegenharrend. Doch nicht bloß Seelen sind überall eingeschlossen: auch Seelenfunken. Dieser ist kein Ding leer. Sie leben in allem, was ist. Jede Form ist ihr Kerker. Und dies ist der Sinn und die Bestimmung der Kawwana: daß es dem Menschen gegeben ist, die Gefallenen zu heben und die Gefangenen zu befreien. Nicht bloß warten, nicht bloß ausschauen: wirken kann der Mensch an der Erlösung der Welt. Das eben ist Kawwana: das Mysterium der Seele, die darauf gerichtet ist, die Welt zu erlösen. Es wird von Heiligen berichtet, die es im Sturm und in der Gewalt zu vollbringen vermeinten. In dieser Welt; wenn sie von der Gnade der Inbrunst so durchglüht waren, daß ihnen nichts mehr unerreichbar schien, die sie doch Gott umfangen hatten. Oder in der kommenden Welt; ein Zaddik sprach im Sterben: »Die Freunde sind hingegangen und wollten den Messias bringen, und haben es in der Wonne vergessen. Aber ich werde nicht vergessen.« In Wahrheit jedoch kann jeder nur in seinem Bereiche wirken. Jeder hat eine in Raum und Zeit ausgesparte Sphäre des Seins, die ihm zugeteilt ist, durch ihn erlöst zu werden. Orte, die von Ungehobenem beschwert

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sind, warten auf den Menschen, der mit dem Wort der Freiheit zu ihnen kommen wird. Wenn ein Chassid an einem Ort nicht beten kann und an einen anderen geht, dann fordert der erste Ort von ihm: »Warum wolltest du nicht auf mir die heiligen Worte sprechen? Und wenn Böses an mir ist, so ist es an dir, mich zu erlösen.« Aber auch alle Reisen haben heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt. Von einigen Zaddikim wird gesagt, sie hätten die helfende Macht über die wandernden Seelen gehabt. In allen Zeiten, sonderlich aber, wenn sie im Gebete standen, seien die Irrfahrer der Ewigkeit bittend vor ihnen erschienen und hätten das Heil aus ihren Händen empfangen. Doch auch aus eigenem Trieb hätten sie die Stummen unter den Gebannten im Exil eines müden Leibes oder im Dunkel des Elements zu finden und sie emporzuretten gewußt. Diese Hilfe ist als ein ungeheures Wagen inmitten von andringenden Gefahren dargestellt, zu dem nur der Heilige sich spannen kann, ohne niedergeworfen zu werden. »Wer eine Seele hat, der mag sich in die Schlucht hinablassen, festgebunden durch seinen Gedanken wie durch ein starkes Seil am oberen Rand, und wird zurückkehren. Aber wer nur Leben hat, oder nur Leben und Geist, der hat die Artung des Gedankens noch nicht, das Band wird nicht standhalten, und er wird in die Tiefe fallen.« Kann also nur der Begnadete gelassenen Muts in die Finsternis tauchen, um einer Seele beizustehn, die den Wirbeln der Wanderschaft überliefert ist, so ist auch dem Geringsten nicht versagt, die verlorenen Funken aus ihrem Gewahrsam zu heben und heimzusenden. Überall sind die Funken eingetan. Sie hängen in den Dingen wie in versiegelten Brunnen, sie ducken sich in den Wesen wie in zugemauerten Höhlen, sie warten; und die im Raume wohnen, schwirren wie lichttolle Falter um die Bewegungen der Welt umher, ausschauend, in welche sie einkehren könnten, durch sie gelöst zu werden. Alle harren sie der Freiheit. »Der Funke in einem Gestein oder Gewächs oder einer andern Kreatur ist wie eine völlige Gestalt, die in der Mitte des Dinges wie in einem Block sitzt, daß Hände und Füße sich nicht strecken können und der Kopf auf den Knien liegt. Wer aber den heiligen Funken zu heben vermag, der führt ihn in die Freiheit, und keine Lösung Gefangener ist größer als diese. Wie wer einen Königssohn aus der Gefangenschaft errettet und zu seinem Vater bringt.« Aber nicht durch Beschwörungsformeln und nicht durch irgendein vorgeschriebenes sonderliches Tun geschieht die Befreiung. All dies wächst auf dem Grunde der Anderheit, der nicht der Grund der Kawwa-

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na ist. Es bedarf keines Sprungs aus dem Gewohnten ins Wunder. »Mit jeder Handlung kann der Mensch an der Gestalt der Schechina arbeiten, daß sie aus dem Verborgenen trete.« Nicht die Materie der Handlung, nur ihre Weihung entscheidet. Eben dies, was du im Gleichmaß der Wiederkehr oder in der Fügung der Ereignisse tust, eben diese aus Übung erworbene oder aus Eingebung gewonnene Antwort des Handelnden auf das vielfältige Begehren der Stunden wird, in der Weihe vollzogen, zum Erlösen. Wer in Heiligkeit betet und singt, in Heiligkeit ißt und redet, in Heiligkeit des gebotenen Tauchbads und in Heiligkeit der Geschäfte bedacht ist, durch den werden die gefallenen Funken erhoben und die gefallenen Welten erlöst und erneuert. Um jeden Menschen ist – in die weite Sphäre seines Wirkens eingebaut – ein natürlicher Bezirk von Dingen gelegt, die vor allem zu befreien er bestimmt ist. Es sind die Wesen und Gegenstände, die der Besitz des Einzelnen genannt werden: seine Tiere und seine Wände, sein Garten und sein Anger, sein Gerät und seine Speise. Indem er sie in Heiligkeit hegt und genießt, macht er ihre Seelen los. »Darum soll der Mensch sich immerdar seiner Geräte und all seines Besitzes erbarmen.« Aber auch in der Seele selbst erscheinen die der Lösung Bedürftigen. Die meisten sind die Funken, die durch die Schuld dieser Seele in einem ihrer früheren Leben in die Niederung geraten sind. Diese sind die fremden, störenden Gedanken, die oft den Betenden befallen. »Wenn der Mensch im Gebet steht und begehrt, sich an das Ewige zu schließen, und die fremden Gedanken kommen und fallen: heilige Funken sind es, die gesunken sind und von ihm erhoben und erlöst werden wollen; und die Funken sind ihm zugehörig, der Wurzel seiner Seele verschwistert: seine Kräfte sind es, die er erlösen soll.« Er erlöst sie, wenn er jeden trüben Gedanken seiner reinen Quelle wiedergibt, jeden auf Sonderheit sinnenden Trieb in den göttlichen Alltrieb ergießt, alles Fremde in der Eigenheit untergehen läßt. Dies ist die Kawwana des Empfangens: daß man die Funken in den umgebenden Dingen und die Funken, die aus dem Unsichtbaren nahen, erlöse. Aber es gibt noch eine andere Kawwana, das ist die Kawwana des Gebens. Sie trägt keine verirrten Seelenstrahlen in hilfreichen Händen; sie bindet Welten aneinander und herrscht in den Geheinmissen, sie schüttet sich in die durstige Ferne. Auch sie bedarf der Wunderhandlung nicht. Ihre Bahn ist das Schaffen, und das Wort vor aller anderen Gestalt des Schaffens. Die Sprache war für die jüdische Mystik von je ein geheimnisvoller und schauererweckender Gegenstand. Eine eigentümliche Theorie der Buchstaben als der Weltelemente liegt vor, die von ihren Vermischungen

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als von dem Innern der Wirklichkeit handelt. Das Wort ist ein Abgrund, durch den der Redende schreitet. »Man soll die Worte sprechen, als seien die Himmel geöffnet in ihnen. Und als wäre es nicht so, daß du das Wort in deinen Mund nimmst, sondern als gingest du in das Wort ein.« Wer des heimlichen Liedes kundig ist, das das Innen ins Außen trägt, des heiligen Reigens, der einsame spröde Worte zum Gesang der Fernen verschmilzt, der wird der Gottesmacht voll, »und es ist, als schüfe er Himmel und Erde und alle Welten von neuem«. Er findet sein Reich nicht vor wie der Seelenbefreier, er spannt es aus vom Firmament zu den schweigenden Tiefen. Aber auch er wirkt an der Erlösung. »Denn in jedem Zeichen sind die Drei: Welt, Seele und Gottheit. Sie steigen auf und verbinden sich und vereinen sich mit einander, und danach vereinen sich die Zeichen und es wird das Wort, und die Worte einen sich in Gott in wahrhafter Einung, da ein Mensch seine Seele in sie eingefaßt hat, und alle Welten einen sich und steigen auf, und die große Wonne wird geboren.« So bereitet der Wirkende die letzte All-Einung vor. Und wie uns Awoda in Hitlahawut, das Urprinzip des chassidischen Lebens, mündete, so mündet hier Kawwana in Hitlahawut. Denn Schaffen ist Geschaffenwerden: das Göttliche bewegt und bewältigt uns. Und Geschaffenwerden ist Ekstase: nur wer sich in das Nichts des Unbedingten einsenkt, empfängt die formende Hand des Geistes. Dies wird im Gleichnis dargestellt. Es ist keinem Ding der Welt gegeben, in sich umgeschaffen zu werden und in neue Gestalt zu kommen, es komme denn vordem zum Nichts, das ist zur »Gestalt des Dazwischen«. Kein Wesen kann auf ihr bestehen, sie ist die Kraft vor der Schöpfung und heißt das Chaos. So ist das Vergehen des Eis zum Küchlein, und so der Same, der nicht keimt, ehe er in der Erde aufgegangen und verwest ist. »Und dies wird Weisheit genannt, das heißt: ein Gedanke, der keine Offenbarung hat. Und so ist es: wenn der Mensch will, daß eine neue Schöpfung aus ihm komme, dann muß er mit aller seiner Möglichkeit zur Eigenschaft des Nichts kommen, und dann schafft Gott in ihm eine neue Schöpfung, und er ist wie ein Quell, der nicht trocknet, und wie ein Strom, der nicht versiegt.« So ist zwiefach der Wille der chassidischen Lehre von der Kawwana: daß der Genuß, die Verinnerung des Außen, in Heiligkeit geschehe und daß das Schaffen, die Veräußerung des Innen, in Heiligkeit geschehe. Durch heiliges Schaffen und heiligen Genuß vollzieht sich die Erlösung der Welt.

Schiflut: von der Demut Gott tut nicht zweimal das gleiche Ding, sagt Rabbi Nachman von Bratzlaw. Einzig und einmalig ist das Seiende. Neu und ungewesen taucht es aus der Flut der Wiederkünfte auf, geschehen und unwiederholbar taucht es in sie zurück. Jegliches erscheint zum andern Mal, aber jegliches gewandelt. Und die Würfe und Stürze, die über den großen Weltgebilden walten, und die Wasser und Feuer, die die Gestalt der Erde bauen, und die Mischungen und Entmischungen, die das Leben der Lebendigen kochen, und der Geist des Menschen mit all seinem Versuchen und Vergreifen an der weichen Fülle des Möglichen, sie alle können nicht ein Gleiches schaffen und nicht wiederbringen eins der Dinge, das da besiegelt ist, gewesen zu sein. Die Einmaligkeit ist eine Ewigkeit des Einzelnen. Denn mit seiner Einzigkeit ist er unverlöschbar in das Herz der Allheit eingegraben und liegt im Schoß des Zeitlosen immerdar als der so und nicht anders Beschaffene. So ist die Einzigkeit das wesentliche Gut des Menschen, das ihm gegeben ist, es zu entfalten. Und dies eben ist der Sinn der Wiederkehr, daß sich die Einzigkeit in ihr immer mehr reinige und vollkommen werde; und daß in jedem neuen Leben der Wiederkehrende in ungetrübterer und ungestörterer Unvergleichbarkeit stehe. Denn reine Einzigkeit und reine Vollkommenheit sind eins, und wer so ganz und gar einzig geworden ist, daß keine Anderheit mehr Macht über ihn und Ort in ihm hat, der hat die Reise vollbracht und ist erlöst und kehrt in Gott ein. »Jedermann soll wissen und bedenken, daß er in der Welt einzig ist in seiner Beschaffenheit, und kein ihm Gleicher war je im Leben, denn wäre je ein ihm Gleicher gewesen, dann brauchte er nicht zu sein. Aber in Wahrheit ist jeglicher ein neues Ding in der Welt, und er soll seine Eigenschaft vollkommen machen, denn weil sie nicht vollkommen ist, zögert das Kommen des Messias.« Nur aus seiner eigenen Art, aus keiner fremden kann sich der Strebende vollenden. »Wer die Stufe des Gefährten erfaßt und seine Stufe fahren läßt, diese und jene wird durch ihn nicht verwirklicht werden. Viele taten wie Rabbi Simon ben Jochai, und es geriet nicht in ihrer Hand, weil sie nicht in dieser Beschaffenheit waren, sondern nur wie er taten, da sie ihn in dieser Beschaffenheit sahen.« Aber wie der Mensch in einsamer Inbrunst Gott sucht und es doch einen hohen Dienst gibt, den nur die Gemeinde vollziehen kann, und wie der Mensch mit dem Tun seines Alltags Ungeheures wirkt, aber nicht

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allein, sondern der Welt und der Dinge bedarf er zu solchem Tun, so bewährt sich die Einzigkeit des Menschen in seinem Leben mit den andern. Denn je einziger einer in Wahrheit ist, desto mehr kann er den andern geben, und desto mehr will er ihnen geben. Und dies eine ist seine Not, daß sein Geben eingeschränkt ist durch den Nehmenden. Denn »der Schenkende ist von seiten der Gnade und der Empfangende ist von seiten des Gerichts. Und so ist es mit jedem Ding. Wie wenn man aus einem großen Gefäß in einen Becher gießt: das Gefäß schüttet sich in Fülle aus, aber der Becher setzt seiner Gabe die Grenze.« Der Einzige schaut Gott und umschlingt ihn. Der Einzige erlöst die gefallenen Welten. Und doch ist der Einzige kein Ganzes, sondern ein Teil. Und je reiner und vollkommener er ist, desto inniger weiß er es, daß er ein Teil ist, und desto wacher regt sich in ihm die Gemeinschaft der Wesen. Dies ist das Mysterium der Demut. »Der Mensch hat ein Licht über sich, und wenn zwei Menschen einander mit den Seelen begegnen, gesellen sich ihre Lichter zu einander, und aus ihnen geht ein Licht hervor. Und dies wird Zeugung genannt.« Allzeugung fühlen wie ein Meer und sich darin wie eine Welle, dies ist das Mysterium der Demut. Nicht das ist Demut, wenn einer »sich übersehr erniedrigt und vergißt, daß der Mensch durch sein Wort und seine Gebärde über alle Welten den überfließenden Segen herabzubringen vermag«. Dies wird unreine Demut genannt. »Das größte Böse ist, wenn du vergissest, daß du ein Königssohn bist.« In Wahrheit demütig aber ist, wer die andern wie sich fühlt und sich in den andern. Hochmut heißt: sich gegen andere messen. Nicht, wer sich weiß, nur wer sich mit andern vergleicht, ist der Hochmütige. Kein Mensch kann sich überheben, wenn er auf sich ruht: sind ihm doch alle Himmel offen und alle Welten ergeben; der überhebt sich, der sich dem andern überlegen dünkt, sich höher sieht als das allergeringste der Dinge, der mit Elle und Gewichten schaltet und Urteil spricht. Ein Zaddik sprach: »Wenn heute Messias kommt und sagt: ›Du bist besser als die andern‹, dann sage ich ihm: ›Du bist nicht Messias‹.« Ohne Werk und Wesen lebt die Seele des Hochmütigen, flattert und müht sich und wird nicht gesegnet. Die Gedanken, die nicht das Gedachte, sondern sich und ihren Glanz meinen, sind Schatten. Die Tat, die nicht auf das Ziel, sondern auf die Geltung sinnt, hat nicht Körper, nur Fläche, nicht Bestand, nur Erscheinung. Wer mißt und wägt, wird leer und unwirklich wie Maß und Gewicht. »Wer seiner voll ist, in dem hat Gott keinen Raum.« Von einem Jüngling wird erzählt, der die Abgeschiedenheit auf sich

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nahm und sich von den Dingen der Welt löste, um allein der Lehre und dem Dienst anzuhangen, und saß in der Einsamkeit, fastend von Sabbat zu Sabbat und lernend und betend. Aber in seinem Sinn hatte er über aller Absicht den Stolz seines Tuns, es strahlte vor seinen Augen. Und so fiel all sein Werk der »anderen Seite« anheim, und das Heilige hatte kein Teil daran. Aber immer stärker trieb sich sein Herz auf und fühlte das Sinken nicht, indes die Dämonen mit seinen Taten spielten, und dünkte sich ganz von Gott besessen. Da kam es einst, daß er sich aus sich hinauslehnte und die Dinge ringsum stumm und abgewandt gewahrte: da ergriff ihn das Erkennen, und er schaute sein Tun, aufgeschichtet zu Füßen eines riesenhaften Götzen, und sich selbst schaute er in schwindelnder Leere, preisgegeben dem Namenlosen. Dies wird erzählt und nichts weiter. Der Demütige aber hat die »ziehende Kraft«. Alle Zeit, die der Mensch sich über andern und vor andern sieht, hat er eine Grenze, »und Gott kann seine Heiligkeit nicht in ihn gießen, da Gott ohne Grenze ist«. Aber wenn der Mensch in sich ruht wie im Nichts, ist er durch kein Andres begrenzt und ist grenzenlos, und Gott gießt seine Glorie in ihn. Die Demut, die hier gemeint ist, ist keine gewollte und geübte Tugend. Sie ist nichts als innerliches Sein, Fühlen und Aussagen. Nirgends ist ein Zwang an ihr, nirgends ein Sichbeugen, Sichbeherrschen, Sichbestimmen. Sie ist zwiespaltbar wie eines Kindes Blick und schlicht wie eines Kindes Rede. Der Demütige lebt in jedem Wesen und weiß jedes Wesens Art und Tugend. Weil keiner ihm »der Andere« ist, weiß er aus dem inneren Grunde, daß keiner des verhüllten Wertes ermangelt; weiß, daß da »kein Mensch ist, der nicht seine Stunde hätte«. Nicht fließen ihm die Farben der Welt ineinander, sondern jede Seele steht in der Herrlichkeit ihres Eigendaseins vor ihm. »In jedem Menschen ist Köstliches, das in keinem anderen ist. Daher soll man jeden ehren nach seinem Verborgenen, das nur er hat und keiner der Gefährten.« »Gott blickt nicht auf den bösen Teil«, sagte ein Zaddik, »wie dürfte ich es tun?« Wer in den Wesen lebt nach dem Mysterium der Demut, kann keines verdammen. »Wer über einen Menschen das Urteil spricht, hat es über sich gesprochen.« Wer sich vom Sünder sondert, geht in der Schuld von dannen. Der Heilige aber vermag an der Sünde eines Menschen als an seiner eigenen zu leiden. Mitleben allein ist Gerechtigkeit. Mitleben als Erkennen ist Gerechtigkeit. Mitleben als Sein ist Liebe. Denn jenes Gefühl der Nähe und jenes Wollen der Nähe zu wenigen,

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das unter den Menschen Liebe heißt, ist nichts als Erinnerung aus einem Himmelsleben: »Die im Paradies beieinander saßen und Nachbarn und Verwandte waren, die sind einander nah auch in dieser Welt.« In Wahrheit aber ist Liebe ein Urweites und Tragendes und ohne alle Wahl und Scheidung hingebreitet zu den Lebendigen. Ein Zaddik sprach: »Wie könnt ihr von mir sagen, ich sei ein Führer des Zeitalters, da ich noch in mir die Liebe zu den Nahen und zu meinem Samen stärker fühle als zu allen Menschensöhnen?« Daß sich dieses Meinen auch auf die Tiere erstreckt, sagen die Erzählungen von Rabbi Wolf, der nie ein Pferd anzuschreien vermochte, von Rabbi Mosche Leib, der die vernachlässigten Kälber auf den Märkten tränkte, von Rabbi Sußja, der keinen Käfig sehen konnte, »und die Unseligkeit der Vögel und ihr Bangen nach dem Fluge in der Luft der Welt, gemäß ihrer Natur, freie Wanderer zu sein«, ohne ihn zu öffnen. Aber nicht nur die Wesen, denen der kurze Blick der Menge den Namen der Lebendigen zuspricht, gehören der Liebe des Liebenden zu: »Dir ist kein Ding in der Welt, in dem nicht Leben wäre, und von seinem Leben hat jedes die Gestalt, in der es vor deinen Augen steht. Und sieh, dieses Leben ist das Leben Gottes.« So ist es gemeint: die Liebe zu den Lebendigen ist die Liebe zu Gott, und sie ist höher als irgendein Dienst. Ein Meister fragte einen Schüler: »Du weißt, daß nicht zwei Kräfte zur gleichen Zeit im Menschensinn Fassung haben. Wenn du dich nun am Morgen von deinem Lager erhebst und zwei Wege sind vor dir: Liebe zu Gott und Liebe zu den Menschen, welcher ist der erste?« Jener antwortete: »Ich weiß es nicht.« Da sprach der Meister: »Es steht geschrieben in dem Gebetbuch, das in den Händen des Volks ist: ›Ehe du betest, sage das Wort: Liebe deinen Genossen dir gleich.‹ Meinst du, das hätten die Ehrwürdigen ohne Absicht befohlen? Wenn einer dir sagt, er trage Liebe zu Gott und trage nicht Liebe zu den Lebendigen, Falsches redet er und Unmögliches gibt er vor zu besitzen.« Darum ist, wo einer sich von Gott entfernt, die Liebe eines Menschen das einzige Heil. Als ein Vater dem Baalschem klagte: »Mein Sohn ist von Gott gewichen – was soll ich tun?«, erwiderte er: »Ihn mehr lieben.« Eines der chassidischen Grundworte ist dieses: mehr lieben. Seine Wurzeln graben sich tief ein und strecken sich weit hin. Der mag die Kategorie Judentum neu verstehen lernen, der es verstanden hat. Es ist eine große Bewegung darin. Eine große Bewegung, und doch wieder nur ein verlorener Klang. Es ist ein verlorener Klang, wenn irgendwo – in jener dunkeln, fensterlosen Stube – und irgendwann – in jenen Tagen ohne Kraft der Botschaft – die Lippen eines namenlosen, dauerlosen Menschen, des Zaddiks Rabbi Rafael, diese Worte bilden: »Wenn ein Mensch sieht, daß sein Gefährte ihn

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haßt, soll er ihn mehr lieben. Denn die Gemeinschaft der Lebendigen ist der Wagen der Gottesherrlichkeit, und wo ein Riß im Wagen ist, muß man ihn füllen, und wo der Liebe wenig ist, daß die Fügung sich löst, muß man Liebe mehren an seiner Seite, den Mangel zu zwingen.« Dieser Rabbi Rafael rief einst vor einer Fahrt einem Schüler zu, er solle sich zu ihm in den Wagen setzen. Darauf jener: »Ich fürchte, ich könnte es Euch eng machen.« Und er mit erhobener Stimme: »So wollen wir einander mehr lieben: dann wird uns weit sein.« Sie sollen hier stehen als Zeugen, das Sinnbild und die Wirklichkeit, verschieden und eines, untrennbar, der Wagen der Schechina und der Wagen der Freunde. Es ist die Liebe ein Wesen, das in einem Reich lebt, größer als das Reich des Einzelnen, und aus einem Wissen redet, tiefer als das Wissen des Einzelnen. Sie ist in Wahrheit zwischen den Kreaturen, das heißt: sie ist in Gott. Leben durch Leben gedeckt und gebürgt, Leben sich gießend in Leben, so erst erkennt ihr die Seele der Welt. Wessen das eine ermangelt, des wird das andre ihm entgegenschwellen. Wenn eines zu wenig liebt, wird das andre mehr lieben. Die Dinge helfen einander. Helfen aber ist: selbst in einem gesammelten Willen das Seine von sich selbst aus tun. Wie der, der mehr liebt, dem andern nicht Liebe predigt, sondern selbst liebt und sich also gewissermaßen nicht um ihn kümmert, so kümmert sich der Helfende gewissermaßen nicht um den andern, sondern tut das Seine von sich selbst aus im Gedanken der Hilfe. Das bedeutet: das Eigentliche, was zwischen den Wesen geschieht, geschieht nicht durch ihren Verkehr, sondern durch eines jeden scheinbar einsames, scheinbar unbekümmertes, scheinbar brückenloses Tun von sich selbst aus. Dies wird im Gleichnis gesagt: »Wenn ein Mensch singt und kann die Stimme nicht erheben, und einer kommt ihm zu helfen und hebt an zu singen, dann kann auch jener wieder die Stimme erheben. Und das ist das Geheimnis der Verbindung.« Das Einanderhelfen ist keine Aufgabe, sondern das Selbstverständliche und die Wirklichkeit, auf die das Zusammenleben der Chassidim gegründet ist. Die Hilfe ist keine Tugend, sondern eine Ader des Daseins. Das ist der neue Sinn des alten jüdischen Wortes, das Wohltun rette vom Tode. Geboten wird, daß der Helfende sich nicht auf die anderen besinne, die mithelfen können, auf Gott und die Menschen, und nicht vermeine, eine Teilkraft zu sein, die nur beizutragen habe, sondern daß jeder als Ganzheit antworte und einstehe. Und noch eins, und dies ist wieder nichts als ein Ausdruck des Mysteriums der Schiflut: helfen nicht aus Mitleid, das heißt aus einem scharfen, raschen Schmerz, den man bannen will, sondern aus Liebe, das heißt aus Mitleben. Der Mitleidige lebt

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nicht das Leid des Leidenden mit, er trägt es nicht im Herzen, wie man das Leben eines Baums trägt mit allem Saugen und Treiben und mit dem Traum der Wurzeln und dem Begehren des Stammes und den tausend Fahrten der Zweige, oder wie man das Leben eines Tieres trägt, mit allem Gleiten und Strecken und Greifen und allem Glück der Sehnen und Gelenke und der dumpfen Spannung des Gehirns; er trägt dieses sonderliche Wesen, das Leid des andern, nicht im Herzen, sondern er empfängt von dieses Leides äußerlichster Gebärde einen scharfen, raschen Schmerz, dem Urschmerz des Leidenden abgrundweit unähnlich, und so wird er bewegt. Es soll aber der Helfende mitleben, und nur Hilfe aus Mitleben besteht vor den Augen Gottes. So wird von einem Zaddik erzählt, der, wenn ein Armer sein Mitleid erregte, erst ihn mit aller Notdurft versorgte, dann aber, da er in sich verspürte, daß die Wunde des Mitleids geheilt war, sich mit großer, ruhevoll hingegebener Liebe in das Leben und Bedürfen des andern versenkte, es in sich als sein eigenes Leben und Bedürfen faßte und in Wahrheit zu helfen begann. Wer solcherweise mitlebt, der verwirklicht mit seinem Tun die Wahrheit, daß alle Seelen eine sind, denn jede ist ein Funken aus der Urseele, und sie ist ganz in ihnen allen. So lebt der Demütige, der der Gerechte und der Liebende und der Helfer ist: vermischt mit allen und allen unberührbar, der Vielheit ergeben und gesammelt in seiner Einzigkeit, auf den Felskuppen der Einsamkeit den Bund mit dem Unendlichen und im Tal des Lebens den Bund mit den Irdischen vollziehend. Er weiß, daß alles in Gott ist, und grüßt die Boten wie vertraute Freunde. Ihn schreckt nicht das Vorher und Nachher, nicht das Oben und Unten, nicht das Diesseits und Jenseits. Er ist daheim und kann nie verstoßen werden.

Die Geschichten

Der Werwolf Als den alten Rabbi Elieser, den Vater des Kindes Israel, das Sterben überkam, gab er ohne Widerstreit dem Tod die Seele hin, die in vielen Erdenjahren der Wanderung und Drangsal müde geworden war und nach dem Feuerborn der Erneuerung verlangte. Aber seine trüben Augen suchten doch noch wieder und wieder das helle Haupt des Knaben; und als die lösende Stunde erschien, hob er ihn noch einmal auf seine Arme und hielt ihn mit inniger Kraft, das Licht seiner letzten Wege, das ihm und seinem alternden Weibe so spät noch aufgegangen war. Er sah ihn eindringlich an, als wolle er hinter der Stirn den noch schlafenden Geist aufrufen, und sprach: »Mein Kind, der Widersacher wird dir entgegentreten, am Anfang, an der Wende, an der Vollbringung; im Schatten des Traums und im lebendigen Fleisch. Er ist der Abgrund, den du überfliegen mußt. Es werden Zeiten sein, da du wie ein Blitz in seine letzte Verborgenheit niederfahren wirst, und er wird vor deiner Gewalt wie eine dünne Wolke zerstieben; und es werden Zeiten sein, da er dich mit Schwaden zäher Finsternis umringen wird, und du wirst einsam bestehen müssen. Aber jene und diese Zeiten werden schwinden, und du wirst Sieger sein in deiner Seele. Denn wisse, deine Seele ist ein Erz, das keiner zermalmen und nur Gott verschmelzen kann. Darum fürchte den Widersacher nicht.« Das Kind las von dem welken Mund die Worte mit staunenden Augen. Die Worte senkten sich ein und blieben. Als Rabbi Elieser verschieden war, nahmen die frommen Leute der Gemeinde die Sorge um den Knaben auf sich, um der Liebe willen, mit der sie den Vater geliebt hatten. Und als es an der Zeit war, taten sie ihn in die Schule. Er aber war der lärmenden Enge abhold; immer wieder entwich er in den Wald, wo er sich zwischen Bäumen und Tieren vergnügte und in dem grünen Geheg ohne Scheu vor Nacht und Wetter sich vertraut bewegte. Wenn sie ihn dann mit eifrigem Ermahnen zurückbrachten, hielt er wohl einige Tage unter dem einförmigen Sprechgesang des Lehrers still, dann aber entglitt er leis wie ein Kätzchen und warf sich in den Wald. Nach einer Weile fanden die Männer, die um ihn sorgten, sie hätten des Betreuens genug getan, zudem seien ihre Mühen um das verwilderte Geschöpf ganz vergeblich. So ließen sie ab, und er blieb ungefragt in der Wildnis und wuchs unter dem stummen Wesen der Kreaturen auf. Zwölfjährig verdingte er sich dem Lehrer als Helfer, die Knaben aus dem Hause zur Schule und wieder heimwärts zu führen. Da sahen die

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Leute in dem dumpfen Städtchen eine merkwürdige Verwandlung geschehen. Israel führte Tag für Tag einen singenden Kinderzug durch die Straßen zur Schule und führte ihn auf einem weiten Umweg über Wiese und Wald wieder nach Haus. Die Knaben senkten nicht mehr wie vordem die blassen, schweren Köpfe. Sie jubelten und trugen Blumen und grüne Zweige in den Händen. In ihren Herzen entbrannte die Andacht. So groß war die steigende Flamme, daß sie durch den Qualm des Elends und der Verwirrung, der sich um die Erde preßt, brach und in die Himmel loderte. Und sieh, oben erglänzte ein blühender Widerschein. Der Widersacher aber schwoll in Bangigkeit und Haß auf und stieg bis in die Himmel. Hier erhob er Klage über das, was unten sich zu ereignen begann und ihn um sein Werk betrügen wollte. Er begehrte, sich mit dem verfrühten Boten messen zu dürfen, und fand Gewährung. So ließ er sich nieder und mischte sich unter die Geschöpfe der Erde. Er bewegte sich unter ihnen, belauschte sie, prüfte und wog; aber lange war da keins, das zu seinem Unterfangen getaugt hätte. Zuletzt fand er in dem Wald, in dem Israel die Tage seiner Kindheit verlebt hatte, einen Köhler, einen scheuen Burschen, der den Menschen auswich. Zu Zeiten mußte er sich des Nachts in einen Werwolf verwandeln und strich von fern um die Höfe, fiel wohl ein Tier an und jagte einem späten Wanderer Furcht ein; doch hatte er keinem je Leids getan. Sein einfältiges Herz wand sich unter dem bitteren Zwang, zitternd und widerstrebend lag er im Gebüsch verkrochen, wenn die Sucht ihn ankam, und konnte sie nicht besiegen. So fand der Widersacher eines Nachts ihn schlafend, schon zuckend vor der nahen Verwandlung, und erachtete ihn geeignet zu seinem Werkzeug. Er griff ihm in die Brust und entnahm ihr das Herz, barg es in der Erde und senkte der Kreatur sein eignes ein, Kern aus dem Kerne der Finsternis. Als Israel um Sonnenaufgang die singenden Kinder im weiten Bogen über die Wiese rings um das Städtchen führte, brach der Werwolf aus dem noch nächtigen Wald und fuhr in seiner fahlen Ungestalt mit schaumtriefendem Mund unter die Schar. Die Kinder stoben nach allen Richtungen auseinander, einige fielen besinnungslos zur Erde, andre klammerten sich jammernd an ihren Führer. Das Tier entschwand indes, und kein Ungemach war geschehn. Israel sammelte und tröstete die Kleinen, doch brachte der Vorfall arge Verwirrung und Bangigkeit über die Stadt, zumal mehrere der Kinder vom Schrecken in ein heftiges Fieber verfielen, in angstvollen Träumen glühten und in die verdunkelten Stuben stöhnten. Keine Mutter entließ ihr Kind mehr auf die Gasse, und niemand wußte sich Rats.

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Die Legende des Baalschem (1955) · Die Geschichten

Da standen die Worte des sterbenden Vaters über dem jungen Israel auf und hatten jetzt erst ihren Sinn gewonnen. So zog er von Haus zu Haus und beschwor die verzagten Eltern, sie möchten ihm die kleinen wieder anvertrauen; denn er sei gewiß, er könne sie vor dem Unhold bewahren. Keiner vermochte ihm zu widerstehn. Er scharte die Kinder um sich und sprach zu ihnen wie zu den Großen, ja mächtiger noch, und ihre Seelen taten sich ihm weit auf. Er führte sie wiederum zu früher Stunde auf die Wiese, hieß sie da seiner warten und ging allein dem Walde zu. Da er herantrat, brach das Tier hervor, stand vor den Bäumen und wuchs vor seinem Auge in den Himmel, deckte den Wald mit seinem Leib und die Flur mit seinen Tatzen, und der blutige Geifer aus seinem Mund floß um die aufgehende Sonne. Israel wich nicht, denn das Wort des Vaters war mit ihm. Ihm geschah, als ginge er weiter und weiter und ginge in den Leib des Werwolfs ein. Da war kein Halt und Hindernis seinem Schritt, bis er vor das dunkel glühende Herz kam, von dessen düsterm Spiegelrund alles Wesen der Welt zurückgeworfen wurde, verfärbt von einem inbrünstigen Haß. Um standzuhalten, mußte Israel in die Tiefe der Gottesliebe flüchten. Und schon war es in seine Hand gegeben. Er umfing das Herz und schloß seine Finger fest darum. Da fühlte er es zucken, sah Tropfen niederrinnen und spürte das unendliche Leid, das von ureinst darin war. Er legte es sacht auf die Erde, die es alsogleich einschlang, fand sich allein am Waldesrand, atmete auf und kehrte zu den Kindern zurück. Unterwegs sahen sie den Köhler tot am Waldrand liegen. Die ihn antrafen, staunten über die Friedseligkeit in seinem Angesicht und verstanden die Furcht nicht mehr, die sie vor ihm getragen hatten; denn im Tod war er wie ein ungeschlachtes, großes Kind anzuschaun. Von dem Tag an vergaßen die Knaben ihr Singen und begannen ihren Vätern und den Vätern ihrer Väter zu gleichen. Als sie heranwuchsen und sie gingen über Land, beugten sie das Haupt zwischen den Schultern, wie jene getan hatten.

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Als Rabbi Adam, der Zauberkundige, in hohen Jahren stand, überfiel ihn die Sorge, wem er seine geheimen Bücher nach seinem Tode anheimgebe. In ihnen war der Weg zu der Gewalt aufgezeichnet, mit der er zuweilen in das Triebwerk der Geschicke gegriffen hatte. Wohl war ihm ein Sohn geboren, doch der war nur sein leiblicher Erbe. Das war dem Rabbi in vielen Jahren zur schmerzlichen Erkenntnis geworden, und zwiespältig dünkte ihn die Kunst seines Willens, der dies zu wenden versagt war. Einst, im Sommer seiner Kraft, hatte er allnachts die Fäuste gegen den Himmel geballt und mit dem Unnennbaren gehadert, der auf all sein verwegenes Spiel niedersah wie auf eines Knaben keckes Unterfangen. Später sänftigte sich sein Sinn, er hob sich Nacht um Nacht im Traum und tat die Frage: »Wem, o Herr, lasse ich die Quellen meiner Macht?« Lange hatte er vergebens gefragt, und das Dunkel seines Traums blieb wortlos. In einer Nacht aber kam die Antwort: »Dem Rabbi Israel, dem Sohn des Elieser, der in der Stadt Okop weilt, sollst du sie senden und zuteilen.« In den Tagen, die danach kamen, fühlte er das Nahen des leiblichen Endes. Er rief den Sohn in die Abgeschiedenheit seiner Kammer und öffnete die Lade, die die geheimnisvollen Blätter barg. Er wehrte dem Leid der vergangenen Tage, das sich, dieser Stunde unziemlich, erneuern wollte, und gab dem Sohn die Weisung: »Bringe sie dem Israel, ihm gehören sie zu. Achte es für eine hohe Gnade, wenn er sich bereit weist, mit dir zu lernen, und halte dich zu aller Zeit in Demut, weil du nur der Bote bist, erwählt, dem Helden das Schwert zuzutragen, das unterirdisch in langen Gezeiten verschwiegene Geister ihm geschmiedet haben.« Nach einer kleinen Frist verschied der Alte. Der Sohn, nachdem er des Vaters sterblichen Teil der Erde überliefert hatte, bestellte sein irdisches Gut und trat mit den Schriften des Toten die Reise nach Okop an. Unterwegs bedachte er unter manchem Zagen, wie er es wohl anstellen müsse, in Okop jenen Israel zu finden, der seines Vaters Erbe und sein eigner Hort zu werden bestimmt war. Als er die Stadt erreichte, begegneten ihm die Leute, da er sie wissen ließ, daß er des wundertätigen Mannes Sohn sei, mit Ehren, und er fand es leicht, unter ihnen offnen Auges zu leben, um den Erwählten zu suchen. Aber wie er sich auch umtat, bot sich kein anderer seinem forschenden Sinn als der Knabe Israel, der, erst vierzehnjährig, im Bethaus kleinen Dienst tat. Denn obwohl sich der Knabe so einfältig, als es seinem Alter anstand, unter den Augen aller bewegte, erriet der Suchende doch alsbald, daß dieser Unmündige eine heimliche Gnade vor der Neugier der Welt verberge. Er begab sich zum

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Vorsteher der Gemeinde und erbat sich von ihm einen stillen Raum im Bethaus, darin er der heiligen Weisheit in Frieden pflegen möchte, und daß man ihm den Knaben Israel zum Diener überlasse. Der Vorsteher und die andern waren es zufrieden und erachteten es als eine Ehre für den jungen Israel, dem Sohn des Gewaltigen gesellt zu sein. Der aber gab sich nunmehr den Anschein, als sei er in das Wesen der hohen Bücher versunken und achte seiner Umgebung nicht. Darüber war der Knabe froh, denn so konnte er sich nach seiner Gewohnheit in jeder Nacht, wenn man ihn im tiefen Schlafe wähnte, vom Lager erheben und sich der Lehre hingeben. Bald jedoch hatte der junge Rabbi dies erlauscht und war nur noch des rechten Augenblicks gewärtig, ihn zu prüfen. Eines Nachts, als der Jüngling sich auf sein Bett geworfen hatte und sogleich dem Schlaf verfallen war, stand der andere auf, nahm ein Blatt aus den Zauberschriften und legte es ihm auf die Brust. Sodann eilte er auf seine eigene Lagerstatt zurück und verhielt sich still. Nach einer Stunde etwa sah er, wie der Knabe erst unruhig sich wendete, hierauf noch schlummerbefangen nach dem Blatt griff und endlich, wie von starken Händen gehalten, beim Schein eines kleinen Öllichts sich in die Schrift vertiefte. Dem Beschauer war, als würde der Raum heller und größer, während der Knabe las. Endlich verbarg Israel das Blatt in seinem Gewand und taumelte wieder seinem Lager zu. Am Morgen rief der Rabbi den Knaben zu sich und eröffnete ihm die Sendung. »Ich gebe dir ein Ding, das wenige Male in vergänglichen Händen lag«, sprach er. »Jahrhunderte versank es, dann stieg es wieder auf, mit dem Urstrom der Kraft einen menschlichen Geist zu begaben. Mein Vater war der letzte jener kurzen Reihe, und nach seiner Bestimmung gehört es jetzt dir an. Laß, wenn du über den Schriften verweilst, meine Seele die Luft sein, die dein Wort aufsaugt.« Israel antwortete: »Es soll so sein, wie du sagst. Doch hüte das Schweigen, daß keiner um das Ding wisse als du und ich.« Der Rabbi stimmte ihm zu. Damit aber ihre Heimlichkeit gesichert sei, beschlossen sie, das Bethaus zu verlassen, und bezogen ein entlegenes Häuschen vor der Stadt. Die Juden von Okop achteten es für eine unvermutete Huld, daß der Sohn des Rabbi Adam den Israel in seinen Schutz genommen hatte und ihn der Lehre teilhaftig werden ließ, und da sie es nicht anders zu deuten wußten, schrieben sie es dem Verdienst seines Vaters Elieser zu. So begab es sich, daß die beiden in eine Einsamkeit eingingen, vor der die Stimmen der Erde verstummten. Der junge Israel gab sich lauter und ohne Rückhalt den wunderbaren Schriften hin und nahm ihren Sinn in sich auf. Der Sohn des Rabbi Adam aber hegte einen scharfen Verstand. Er begehrte die Kunde zu dre-

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hen und zu erwägen, die seltsam aus den alten Büchern aufstieg, und endlich die Macht zu schmecken, die in den Zauberformeln lag. In der Entbehrung dieser Dinge zog sich seine Seele zusammen und schaute ihm kümmerlich aus den trüben Augen. Der junge Israel wurde dessen inne und sagte: »Was heischen deine Blicke, mein Bruder? Was kannst du missen in diesen Tagen?« Da seufzte der Rabbi und gab ihm zurück: »Knabe, wäre meine Seele so unversehrt wie die deine! Aber was dir eingeht wie Honig und dein Gemüt stillt, frißt mir gleich Lauge an den Wunden. In mir gehen Zweifel hin und wider, die nimmer schweigen. Es ist nur einer, der mir Hilfe geben kann, und wenn du willst, der du nun des Wortes mächtig bist, laß ihn uns rufen, den Fürsten der Lehre.« Der Knabe Israel erschrak. »Durchbrich die gebotene Zeit unseres Harrens nicht!« rief er. »Noch ist die Stunde nicht gekommen.« Der Rabbi verschloß sich enttäuscht in sich. Sein Aussehn wurde scheel und gelb, so daß Israel erbarmend die eigene Scheu besiegte und den Rabbi sich rüsten hieß, auf daß sie gemeinsam zu dem Wagnis sich bereiteten. Um die Kawwana der Seele zu erlangen, deren es bedurfte, den Wächter der Lehre zu zwingen, war es geboten, von Sabbat abend zu Sabbat abend nicht Speise noch Trank zu genießen noch irgendeiner irdischen Botschaft Zutritt zu gewähren, vielmehr in völliger Abgeschiedenheit zu verweilen. So rüsteten sie denn das Haus und versperrten Tür und Fenster. Sie tauchten in das heilige Bad, hernach fasteten sie von Sabbat abend zu Sabbat abend, und endlich am Eingang der letzten Nacht sammelten sie ihre Seelen zur höchsten Inbrunst, und Israel rief erhobenen Arms den Bann in das Dunkel. Als er aber geendet hatte, stürzte er zur Erde und schrie: »Weh, mein Bruder! Du hast ein Irren in unsre Kawwana einfließen lassen. So ist ein Verhängnis eingegangen, und schon sehe ich ihn, des Wächters Nachbarn, den Fürsten des Feuers, wie er hervortritt und die Schwingen zum Niederflug spannt. Wenn unser Lid sich nächtlich senkt, verfallen wir ihm. Nur eine Rettung gibt es: daß wir ohne Unterlaß bis zum Morgen wachen und streiten.« Sie warfen sich nieder und riefen den Geist an, auf daß sie dem Schlaf nicht verfielen. Sanfte Glut umlagerte das Haus, und aus ihr stiegen Lockungen zur Ruhe auf. Gegen Morgen verließ den Rabbi die Kraft des Widerstands, und er lehnte sein Haupt gegen die Mauer. Der Knabe versuchte ihn aufzurütteln; aber der schon erstarrende Arm des Rabbis hob sich wider ihn, ein Stammeln dunkler Lästerung brach aus seinem Mund. Da stach ihn die Flamme ins Herz, und er sank zu Boden.

Die Offenbarung Am letzten Osthang der Karpaten stand eine dunkle, gebeugte Bauernschenke. Ihr schmaler Vorgarten mit den roten Beeten atmete der Macht der Berge zu, aber auf der Rückseite blinzelten die schiefen Dachluken zur weiten Ebene hinüber, die im Licht lag. Das kleine Wirtshaus war recht einsam. An den Markttagen kam wohl einiges Volk des Wegs, Landleute und jüdische Händler aus den Bergdörfern, die hier eine Stunde verbrachten und einander zu glücklichem Kauf oder Verkauf zutranken; sonst aber kehrte nur selten ein Jäger oder ein Wanderer ein. Wenn ein Gast kam, wurde er von einer schlanken, braunäugigen Frau begrüßt und zum Sitzen eingeladen. Dann trat die Frau vors Haus, hielt die Hand über den Mund gewölbt und rief mit heller Stimme zu den Felsen hinüber: »Israel!« Im vordersten Felsen, einen Steinwurf weit vom Haus, war eine Grotte. Viel Sonne lag vor der Tür und schweres Düster im Grunde. Nach den Seiten zogen sich abwärts Gänge in die Finsternis, in eines Menschen Höhe und Breite, als träte hier einer in Stunden der Nacht an das Reich der inneren Erde. Die Höhle war stumm und den Geräuschen verschlossen; kam aber der helle Ruf der Frau herüber, dann trug ihn die Luft als treue Dienerin zu dem, dem er galt. Wo immer er war und ob er dem Dunkel des Grundes nahe weilte oder dem Eingang, auf den Ruf machte er sich auf, schritt zum Hof und stand alsbald vor dem Gast, ihn zu bedienen. Dem Gast aber, dem er nahte, griff ein Schauer ans Herz; und noch die Bauern und Händler, die den Mann von manchem Jahr kannten, erfuhren jedesmal von neuem eine Ehrfurcht bei seinem Anblick, so sanft auch sein Gruß und seine sorgliche Gebärde war. Er war dreißig oder mehr: die Jahre waren ihm gekommen, mit Geheimnis schwer beladen, und waren vorübergezogen. Er sah ihnen nicht nach, er sah den kommenden nicht entgegen. Um ihn war das Warten: die Gipfel sahen auf ihn nieder und warteten, die Quellen sahen wartend zu ihm auf; er aber wartete nicht. Von diesen Jahren ist nichts erzählt, als daß er mit seinem Weibe, mit dem er lange im Elend gewandert war, am Osthang des Gebirges wohnte und den Gästen diente. Die Höhle im Berg ist noch unzerstört: da kannst du das Gewölb und die Gänge betrachten. Eines Morgens aber wurden dem Mann das Auge der Gipfel, das Auge der Quellen offenbar. Er erkannte, daß er in einem Warten stand. Die Erde seiner Höhle brannte, vom Eingang war die Stille, von den Wänden das Flüstern gewichen: die Stimmen riefen ihn. Aus der Wölbung don-

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nerte ein Befehl, in den Gängen hallte sein Echo, die Stimmen waren irgendwo in einer Stimme gebunden. Diesem Morgen folgte der Tag, und ihm viele Tage; der Befehl schwoll über dem Haupte des Mannes. Er hörte den Schritt der Stunde aus der Ferne nahen. Und wieder erschien ein Morgen, da hellte es sich ringsum auf, und das Wissen trat ihn leise an. Der Befehl verstummte, und der Baalschem blickte in die Welt. An diesem Morgen fuhr Rabbi Naftali der Ebene zu. Er hatte südlich des Gebirgs einen Freund besucht, und ob die Rückfahrt auch schon Tage währte, er war noch voll des Gesprächs, das er mit ihm gepflogen hatte. In seinen Gedanken wiederholten sich Rede und Widerrede, mächtiger, als sie gesprochen worden waren. Und Rabbi Naftali wußte nichts anderes als das Gespräch. So kam der Wagen zu der kleinen Bauernschenke am letzten Hang. Da verstummte das Wort in Rabbi Naftali. Er schaute erschrocken auf. Wie er nun das Haus mit dem hellen Vorgarten sah, verspürte er plötzlich Müdigkeit. Er stieg vom Wagen und trat ins Haus. Die Frau begrüßte ihn, hieß ihn sich setzen, rief, die Hand überm Mund, zu den Felsen hinüber: »Israel!«, und schon sah Rabbi Naftali den Wirt langen, festen Schritts herankommen und sich vor ihm lächelnd verneigen. Es war dem Mann anzumerken, daß er ein Jude war; aber er trug Bauerntracht, den kurzen Schafspelz mit dem dicken bunten Gurt und die erdfarbenen Schaftstiefel, und sein langes helles Haar wallte aus der Bauernmütze hervor. Das verdroß den Rabbi, und nicht gar freundlich sagte er ihm seinen Wunsch. Der Mann wahrte das Lächeln und die Demut der Haltung und diente dem Rabbi so fein, daß es fast seltsam schien, wie zart sich der große und offenbar starke Mensch bewegte. Als Rabbi Naftali eine Weile geruht hatte, rief er: »Israel, bereite mir den Wagen, denn ich will weiterfahren.« Der Wirt trat hinaus, um den Befehl zu vollziehn, aber im Gehen wendete er sich halb und sagte lächelnden Angesichts: »Sechs Tage führen vom Anfang zum Sabbat – warum solltet Ihr nicht noch sechs Tage bleiben und bei mir Sabbat halten?« Da fuhr ihn der Rabbi an und hieß ihn schweigen, denn leichtfertige Rede war ihm widerlich. Israel schwieg und bereitete den Wagen. Als Rabbi Naftali nun weiterfuhr, wollte es ihm nicht geraten, das Gespräch in seinem Geist wieder anzuheben. Da er sich jedoch mühte und nicht ablassen wollte, geschah es, daß sich seinem Auge alle Dinge verwirrten. Ein großer Wirbel umfing ihn, so daß er im Wirbel dahinfuhr, inmitten verwirrter und durcheinanderkreisender Dinge. Bislang aber hatte Rabbi Naftali niemals in seinem Leben die Dinge betrachtet, son-

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dern es war ihm genug gewesen, ihre Gegenwart zu ertragen. Nun zwang ihn der Wirbel, aufzuschauen, und er sah die Dinge der Welt, aber verjagt von ihren Orten und verloren im Wirrsal. Es war ihm, als bräche unter ihm eine Tiefe auf, gierig, Erde und Himmel einzuschlürfen. Der Rabbi fühlte im eigenen Herzen den Wirbel schwellen, und er erfuhr die Finsternis. Im gleichen Augenblick aber sah er einen riesenhaften Mann in Schafspelz und erdfarbnen Schaftstiefeln auf den Wagen zuschreiten. Der Mann ging leichten Fußes durch die Verwirrung und schob ihre jagenden Kreise sacht zur Seite wie ein Schwimmer die Wellen. Dann nahm er die Zügel und wendete mit einem starken Ruck die Pferde, die sogleich den Weg, den sie gekommen waren, mit verdreifachter Schnelligkeit zurückliefen, so daß sie nach kurzer Zeit wieder an der Bauernschenke standen. Dem Rabbi Naftali waren mitsamt der Verwirrung Angst und Qual im Nu verschwunden. Er verstand nicht, was ihm widerfahren war, aber er fragte nicht. Als er vom Wagen stieg und wieder in den Vorgarten trat, in dessen Mitte jetzt der zum Mahl gerüstete Tisch stand, begrüßte ihn wieder die schlanke Frau freundlichen und unbewegten Angesichts, wieder rief sie zu den Felsen hinüber, und wieder stand der bäurische Mann vor ihm und verneigte sich, nicht anders als bei seiner ersten Einkehr. Eine lange Zeit war der Bann des Unbegreiflichen auf der Seele des Rabbis. Als er jedoch Stunde für Stunde um sich die Dinge in der gewohnten Art und im geordneten Treiben aller Tage sah und den Wirt damit beschäftigt, die Wanderer zu bedienen und ihre Pferde zu füttern und zu tränken, wohl edleren Gebarens, aber sonst ganz so wie irgendein kleiner Schankpächter des Landes, begann er dem Geschehen nachzusinnen. Und wie stets vor diesem Tag, so waren ihm nun auch wieder seine Gedanken zu Willen, so daß er bald in sich die Einsicht geformt und gefestigt hatte, hier habe nichts als ein Trug seiner in der scharfen Luft der Berge ermatteten Augen gewaltet. So beschloß er, über Nacht in der Herberge zu bleiben und alle Müdigkeit auszuschlafen, am Morgen aber weiterzuziehen. Als der Rabbi am nächsten Tag wieder auf der Fahrt war, mußte er über die gestrige Torheit auflachen. Schön und stark geflochten lag der Kranz der Kreaturen um ihn her, jede an ihrem Orte wachsend und gesichert. Er meinte, er sehe sie nun zum erstenmal in ihrer Wahrheit, war dessen froh und verwunderte sich über sich selber. Wie glückselig war diese Freiheit und Zuversicht der Wesen im Raum! Aber während er staunte und sich freute, geschah es, daß er den Blick zum Hiinmel hob, und er entsetzte sich. Denn statt des leichten, vieltönig blauen oder von mannigfaltigem Grau durchzogenen Gewölbs, das ihm von gleichgülti-

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ger Gewohnheit des Sehens vertraut war, spannte sich eine erzene Schale hart, schwer, aller Fugen und Lücken bar, über der Erde. Als er erbebend niederblickte, merkte er, daß keins der Dinge in Freiheit und Zuversicht stand, sondern gefangen und siech wuchsen sie an ihren Plätzen, und die sich regten, schlichen wie in einem weiten, aber dumpfen Käfig umher. Und es erschien Rabbi Naftali, auch er selber sei in einen unentrinnbaren Kerker gebannt. Er verfiel einer Trauer, aus der ihn auch seine Gewißheit Gottes nicht emporzutrösten vermochte. Unversehens aber erwachte sein Blick. Als er aufsah, war am Firmament das Wandeln eines Mannes. In erdfarbenen Schaftstiefeln ging er am Himmelsrund hin und rührte hier und hier leis an die eherne Decke. Wo sein Finger sie traf, lockerte sie sich. Der Finger schlug Bresche um Bresche in die Feste, und das leichte Blau strömte herein. Zuletzt zerschmolz die ganze starre Wölbung, das flüssige Licht breitete sich wieder über dem Gesichtskreis, wie es sich den Menschenaugen an allen Tagen zeigt. Alle Kreaturen atmeten tief auf, und noch das verschlafene Gewürm regte sich, als würfe es Fesseln ab. Mit den andern allen atmete Rabbi Naftali auf und atmete die Freiheit ein. Er sah zum Himmel empor, den Wundermann zu suchen, aber der war verschwunden. Der Rabbi wendete den Wagen und trieb die Pferde, bis er wieder an der Bauernschenke stand. An der Schwelle trat ihm der, den er suchte, mit dem alten Gruß entgegen, ohne Frage in Wort und Gebärde; aber der Gruß dünkte den Rabbi liebreicher als am Tag zuvor. Er scheuchte alles Bedenken und sprach: »Israel, was ist dies für ein Ding mit dir, daß ich dir in solcher Weise auf meinen Wegen begegne?« Da hob der andere den Blick und lächelte. Das Lächeln war wie eines Sees, der zwischen Felsen ruht, nachsichtiges Lächeln aus seinem Grunde herauf, wenn die Abendsonne ihn streichelt und spricht: »Nun gebe ich dich dir zurück« – aber der See lächelt und antwortet: »Mir?« So lächelte der Mann und antwortete: »Mir?« Der Rabbi wollte nicht weichen, sondern weiterfragen; aber da fühlte er, daß sein Mund verschlossen war, denn das Lächeln des andern hatte ihn getroffen. So blieb er schweigsam und der Fragen voll. Von dannen konnte er nicht mehr, und das Bleiben brachte ihm Stunde um Stunde neuen Seelenstreit. Die Nacht kam und war wie der Tag, nur langsamer, und so, daß jedes Rätsel sich in ihr noch vertiefte. Am Morgen erst löste sich ihm die Seele im Schlummer, und sie empfing einen Traum. Der Traum aber, den der Rabbi träumte, war der Anbeginn der Schöpfung. Das Licht schied sich von der Finsternis, und das Firmament ward zwischen den Wassern. Und Rabbi Naftali erschien es, als sei das Wirrsal, aus dem geschaffen wurde, seine Seele, und als sei sie die gesichtslose Tiefe, aus der Himmel und Erde hervorsprangen. Und er spürte die knetende Hand des Geistes.

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Als er erwachte und vors Haus trat, war er der Ungewißheit frei. Alles schien ihm einfach und bestimmt, und er umfing die Welt mit den Augen. Er sprach zu sich: »Ich weiß es nun. Es gibt Zeiten, da der Wirbel über die Welt stürzt und ihre Fügung zerbricht, und Licht und Finsternis sind nicht mehr geschieden, und die Kreaturen haben ihren Ort verloren und schwirren im Raum umher. Und es gibt Zeiten, da der Himmel die Erde gefangenhält, und die Feste, die nur sondern sollte, bannt und bindet die Kreaturen. Aber ist all dies nicht eine Spiegelung und ein Spiel der Zeit? Denn nun sehe ich: Es ist ein Glück über den Dingen. Mitsammen leben die Dinge, ungestört von Wirbel und Bann, gehen aufrecht durch den Zorn der Gewalten und verharren. Jedes wirkt das Seine aus seinem Herzen in die Welt und hat in seinem Werk die Freude. Unüberwindlich in ihrem Glück ist die Schöpfung.« Während der Rabbi so zu sich selber sprach, schloß ihm das Glück die Augen. Als er sie aber öffnete, war das erste, was er sah, das Niedersinken eines ungeheuren Schleiers. Dann lag die Welt vor ihm wie ein Abgrund. Dem Abgrund entstieg die Sonnenscheibe in stummer Qual, und Bäume und Kräuter ohne Zahl brachen hervor in einem schmerzensreichen Entstehen, und viele Tiere liefen und flogen in einem sinnlosen Treiben. Jede Kreatur litt, daß sie tun mußte, was sie tat, kam nicht los und keuchte in ihrem Leid dahin. Es war aber so: Alle Dinge waren vom Abgrund umfangen, und doch war der ganze Abgrund zwischen jedem Ding und dem andern, und keins konnte zum andern hinüber, ja keins konnte das andre sehen, denn der Abgrund war zwischen ihnen. Diese Sicht raubte dem Rabbi mit einem Schlag, was er in der Stunde davor und in allen Stunden gewonnen hatte. Sein Herz schwankte, halb gedrängt, sich gegen Gott zu erheben, und halb, mit Gott zu leiden. Als aber Rabbi Naftali dies geschehen war, gewahrte er, daß ein Mann im Abgrund erschien, ihm vertraut von Gestalt und Angesicht. Der Mann war hier und überall, hatte Vielfalt des Seins und überspannende Gegenwart. Denn sein Arm umschlang den Leib der Bäume, das Getier schmiegte sich an seine Knie und die Vögel an seine Schultern. Sieh, da war der Trost in die Welt gekommen. Denn durch den Helfer waren die Dinge verbunden und sahen und kannten und faßten einander. Sie sahen einander durch sein Auge und berührten einander durch seine Hand. Und da die Dinge zueinander kamen, war kein Abgrund mehr, sondern ein lichter Raum des Schauens und Berührens, und alles darin. *

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Dies waren die drei ersten Tage. Ihnen folgten die drei andern, und an jedem weitete sich Rabbi Naftali der Weg. In dem Häuschen am Berghang aber blieb das Leben, wie es war, und der Wirt blieb der gleiche in Gang und Gebärde. So war dem Rabbi seine Welt wie ein Pendelschlag, immer wechselten ihm das Wunder der Ferne und das Wunder der Nähe. Er wagte keine Rede mehr, keinen fragenden Blick: er lebte und wartete. So kam der Sabbatabend heran. Mit schlichtem und demütigem Wort sprach der Wirt den Gruß an die heilige Braut und hielt das Mahl in Treuen nach frommer, ungelehrter Männer Art. Naftali sah von einer Weile zur andern zu ihm hin und erwartete, er wußte nicht was für ein Heil. Aber nichts geschah, und er wartete noch immer, als der Wirt schon den Tisch gesegnet hatte, und wartete noch, als er sich erhob, dem Gast die Hand entgegenstreckte und ihm den Frieden wünschte für diese Nacht und für alle Zukunft seines Lebens. In der Nacht fand der Rabbi keinen Schlaf. Es war ihm, als müßten hier und jetzt das Wunder der Ferne und das Wunder der Nähe zusammenfließen. Mitten in der Nacht kam der Befehl zu ihm, lautlos, ohne Erscheinung. Er stand auf und ging. Da war er auch schon in der andern Kammer und sah. Er sah: Die Kammer war bis zur Manneshöhe von Flammen erfüllt. Stumpf und düster stiegen die Flammen auf, als zehrten sie von einem Schweren, Verborgenen. Kein Rauch entstieg dem Brand, und alles Gerät blieb unversehrt. Mitten im Feuer aber stand der Meister mit erhobner Stirn und geschlossenen Augen. Und weiter sah der Rabbi: Eine Scheidung geschah in dem Feuer, und es gebar ein Licht, und das Licht war wie eine Decke über den Flammen. Zwiefach war das Licht. Unten war es bläulich und gehörte dem Feuer an, aber das obere Licht war weiß und unbewegt, und es breitete sich um das Haupt des Meisters bis an die Wände. Das bläuliche Licht war der Thron des weißen, das weiße ruhte auf ihm wie auf einem Thron. Das bläuliche Licht wandelte unablässig seine Farbe, zuweilen zu Schwarz und zuweilen zu einer roten Woge. Aber das weiße oben wandelte sich nie, es blieb immer weiß. Jetzt war das bläuliche Licht ganz Feuer, und das Zehren des Feuers war sein Zehren. Aber das weiße Licht, das auf ihm ruhte, verzehrte nicht und hatte keine Gemeinschaft mit der Flamme. Der Rabbi sah: Das Haupt des Meisters stand ganz im weißen Licht. Die Flammen schlugen am Körper des Meisters empor. Aber welche der Flammen emporschlug, wurde zu Licht, und von Weile zu Weile wurde mehr des Lichts. Der Rabbi sah: Alles Feuer war zu Licht geworden. Das blaue Licht

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begann ins weiße einzudringen, aber jede Welle, die eindrang, wurde selber weiß und wandellos. Der Rabbi sah, daß der Meister ganz in weißem Lichte stand. Aber über seinem Haupt ruhte oben ein verborgenes Licht, das war alles irdischen Anblicks bar und nur im Geheimnis offen dem Schauenden. Der Rabbi fiel nieder. Denn er erkannte den Menschen und das Ziel des sechsten Tages. * Als der Morgen kam, feierten sie den hohen Sabbat mitsammen.

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Als die Macht des Bilbul über die Stadt Pawlitsch kam und die Lüge im Triumph einherfuhr, flohen aus allen Orten der Gegend die Juden vor der drohenden Vernichtung in die Weite. Aber einige fromme alte Männer wollten sich nicht bewegen lassen, von dannen zu ziehn. Sie redeten zu ihren Seelen: »Wie eine lang eingedämmte Schleuse ist dieses fremde Volk. Es will uns schlagen, um seine Kraft zu schmecken. Aber wie lang sind wir selber wie eine eingedämmte Schleuse gewesen und konnten Gott nicht dienen nach unserem Sinn! Von Geburt auf war unser Leben ein gestörter und entweihter Gottesdienst. Denn hier haben wir keinen Raum, dem Herrn zu jubeln, und wir atmen eine Luft, die nicht des Herrn ist. Einst war die Mazza das Erzeugnis unsres Feldes, die Kraft unserer Hände lebte in unsrem Feld und diente Gott. Aber jetzt kommt die Mazza zu uns aus der Erde der Fremden, die unser Feind ist. Einst war der Etrog die Lust unsres Gartens, unser freudiger Herzschlag lebte in unserm Garten und diente Gott. Aber jetzt kommt der Etrog zu uns wie ein Gast aus dem fernen Land, das wir nicht schauen werden. In diesem fernen Land sind die Wurzeln unsres Gebets verblieben. Nun sprechen wir die Worte, aber wie könnten die wurzellosen zu Gott emporwachsen? Es ist uns nicht gegeben, dem Herrn mit unserm Leben zu dienen. So wollen wir ihm mit unserm Tod dienen und ausharren zur Heiligung seines Namens.« So redeten sie zu ihren Seelen, ließen sich in Gewahrsam nehmen und warteten freudig, daß sie getötet würden. Einer aber war nicht mit ihnen geblieben. Das war der Rabbi von Karitschow. In jungen Jahren hatte er ein Buch begonnen, in dem gesagt wurde, wie einer Gott dienen könne mit seinem Leben. Er hatte streng und hart gelebt und alle Kraft, alles Verlangen und alle Gedanken in das Buch getan. Wenn er irgend etwas träumte und wollte, nahm er seinen Traum und Willen wie einen Stein in die Hand und legte ihn auf die andern, daß sein Bau zu Gott emporsteige. So fügte sich ein Teil des Buches langsam zum andern. Es war aber alles darin so angeordnet, daß ein Aufstieg von niedern Stufen des Dienstes zu immer höhern waltete. Sooft der Rabbi daranging, von einer neuen Stufe zu reden, bereitete er sich in großer Glut der Seele und lebte in Sammlung, bis er in seine Kammer ging, um zu schreiben. Da saß er dann und tat sein Werk, und keiner durfte ihn rufen und zu Speise und Trank oder zum Schlaf mahnen, bis er vollendet hatte, von der Stufe zu reden. Auch sprach er zu keinem von seinem Buch.

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Als nun der Bilbul dahergezogen kam, unterredete sich der Rabbi mit seiner Seele. Viele Stunden währte das Zwiegespräch in der stillen Kammer. Das Buch, das bis zur höchsten Stufe gediehen war – von dieser aber war noch nicht begonnen zu reden –, lag auf dem Tisch, und er sah es nicht an. Zuletzt aber kam sein Blick und ruhte auf dem Buch. Er erhob sich, nahm das Buch und machte sich auf, nach der Wallachei zu fliehen. Als er auf seinem Wege nach Mesbiž, dem Sitz des Baalschem kam, hieß ihn dieser verweilen, bis er ihn entlassen würde. Der Baalschem sprach zu ihm: »Die Heiligen werden gerettet werden«, und wiederholte es Mal für Mal. Aber am Vorabend des Sabbats kam ein Brief zum Rabbi. Darin stand, wie sie mit allen Arten der Todespein gepeinigt worden waren und wie sie in Qualen und großer Freude dahingegangen waren zur Heiligung des Namens. Als der Baalschem den Brief gelesen hatte, ging er das Nachmittagsgebet sprechen und zitterte, und wer ihn ansah, mußte zittern. Und einer sprach zum andern: »Wenn erst die Stuude kommt, den Sabbat zu empfangen, wird die Freude gewiß zu ihm heimkehren. Denn was immer ihm je widerfuhr, noch nie hat er den Sabbat ohne Freude empfangen.« Aber die Stunde kam, und der Baalschem empfing den Sabbat in großem Zittern und hielt den Becher in einer zitternden Hand. Dann ging er in die Stube, in der er zu schlafen pflegte, und legte sich auf die Erde, das Gesicht zum Boden und die Arme von sich gestreckt, und lag so lange Zeit. Da nun das Hausgesind und die Gäste auf ihn warteten, kam sein Weib in die Stube und sprach: »Die Lichter werden schon ausgehn.« Er sprach: »Laß die Lichter ausgehn und schicke die Gäste heim.« So ging sie, er aber lag immer noch auf der Erde. Der Rabbi jedoch ertrug das Warten nicht länger. Er ging zu der Stube des Baalschem und lauschte. Es war sehr still in der Stube. Er ging an die Tür und sah durch einen Spalt ins Dunkel. So stand er bis zur Mitternacht. Da erhellte ein großer Lichtschein die Stube. Der Baalschem grüßte jeden der Märtyrer bei seinem Namen und rief: »Gesegnet sei, der da kommt!« Sodann sprach er zu ihnen: »Ich verhänge es über euch, daß ihr Rache nehmt an den Widersachern. An dem Senator, der euch foltern ließ. An den Knechten, deren Hand bereit war zu eurer Qual. An dem Volk, dessen Mund jauchzte über euer Leid.« Da tönte durch den Raum ein dunkler Chor und war doch wie eine Stimme, die sprach: »Wir bitten dich, laß dieses Wort nicht noch einmal über deine Lippe gehn.« Er aber wiederholte: »Ich verhänge es über euch.« Und wieder sprachen die Heiligen: »Wir haben unsern Tod gern gelitten.« Aber der Baalschem stand mitten im Licht und rief: »Für das Schlagen und Stechen, für das langsame Morden, für die Schändung durch ihre Hände, für den Stoß ihrer Füße, für das Ducken und Erniedrigen, für das Spotten und Spielen, für

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die Knechtschaft der Jahrhunderte, für die Not des Schlechtwerdens nehmet Rache.« Da war ein Beben in der Stimme des Chors, als sie sprach: »Wir bitten dich, daß das Geheiß nicht zum drittenmal von deinen Lippen gehe. Wisse, daß du an diesem Abend den Sabbat der Welten gestört hast. Eine große Bangigkeit war überall, und wir kannten ihren Ursprung nicht. Wir stiegen zu höhern Kreisen auf, auch da war die Bangigkeit, und wir wußten nicht sie zu deuten. Als wir zu einem sehr hohen Kreis kamen, wurde zu uns gesprochen: ›Steigt eilig nieder, trocknet die Tränen des Rabbi Israel Baalschem.‹ So wollen wir es dir denn erzählen. Als wir gepeinigt wurden, kam der böse Trieb über uns und wollte unsern Sinn beugen, und wir stießen ihn mit beiden Händen hinweg. Aber es gelang ihm, mit einer Fingerspitze einen Gedanken in uns zu berühren, und er machte ein Zeichen an dem Gedanken. Um dieses Dinges willen ward uns bestimmt, für einen Augenblick in die Schlucht Hinnom zu kommen und in ihr einen Augenblick lang die Not der Welt zu leiden. Alle Schmerzen, die wir gelitten hatten, erloschen und waren ein leichter Tand vor diesem Leid. Als wir dann in den Garten Eden kamen, sprachen wir: ›Wir wollen Rache nehmen für die Knechtschaft der Jahrhunderte, für die Not des Schlechtwerdens, die dem bösen Trieb Macht gegeben hat, unsern Gedanken zu berühren. Für den entweihten Gottesdienst unseres Lebens wollen wir Rache nehmen.‹ Da wurde uns geantwortet: ›Wollt ihr Rache nehmen, müßt ihr aufs neue in Körper eingehen, auf die Erde zurückkehren und ein Menschenleben zu Ende leben.‹ Wir aber besannen uns und sprachen: ›Wir loben den Herrn, gesegnet sei er, und danken ihm, daß wir bestanden haben zur Heiligung seines Namens, und daß wir einen Augenblick lang die Not der Welt in der Schlucht Hinnom gelitten haben. Kehrten wir aber auf die Welt zurück, wo wir keinen Raum haben, dem Herrn zu jubeln, und wo wir eine Luft atmen, die nicht des Herrn ist, so könnte es geschehen, daß wir schlechter würden und die Macht des Bösen erhöht würde. Wir wollen nicht zurückkehren.‹ So sprachen wir. Darum bitten wir dich, daß das Geheiß nicht zum drittenmal von deinen Lippen gehe.« Da schwieg der Baalschem. Der Lichtschein schwand aus der Stube, das Dunkel erfüllte sie wieder, er aber lag stumm auf der Erde. Der Rabbi von Karitschow hat sein Buch nicht vollendet. Ja es weiß kein Mensch, was daraus geworden ist.

Die Himmelswanderung Am Tage dient er den Kreaturen. Auf den Winden kommen Boten gefahren, Bittende steigen aus dem Boden auf. Zusammengeflutet aus dem Mund alles Lebendigen dringt die Stimme des Leidens zu ihm. Er empfängt den Ruf und teilt die Antwort aus. Unablässig gibt er seine Gabe, den starken Trost. Unter der Berührung seiner Finger heilen die Wunden der Welt. Am Tage dient er den Kreaturen. Aber am Abend enthebt sich seine Seele. Sie will nicht bei dem trägen Genossen ruhn. Sie streift Ort und Dauer wie zwei Handfesseln ab. Sie stößt das Land mit dem Fuß ab, sie prüft den Flug, und die Himmel nehmen die Freigelassene auf. In den Himmeln ist nicht Ort und Dauer, nur Weg und Ewigkeit. Jede Nacht führt die Seele weiter im Weg, tiefer in die Ewigkeit. Aber eine Nacht kommt, da steht eine Weltenwand vor der Seele auf und deckt ihr Bahn und Blick. Schrankenlos, wie der Flug war, ist die Hemmung. Der Weg entschwindet. Ein Finger hat das Licht aller Sterne und die Verheißung aller Himmel ausgelöscht. Wo der entschwundene Weg war, reckt sich eine dunkle Wand in die Nacht. Die Wand hat ein Gesicht, ungeheuer und schattenhaft. Die Seele erkennt es. Es ist das Angesicht des Lebens, das sie am Abend verlassen hat und in das sie am Morgen zurückkehren will wie in ein wartendes Bett. Aber jenseits der Wand erwacht ein Laut, eine große Stimme in der Finsternis. Die Stimme spricht: »Seele, verlangende Seele, die sich bewahren und sich verlieren will, die beides begehrt, Bestand und Unendlichkeit, Sinne und Geheimnis zugleich! Hier ist die Grenze. Hier ist der Altar der Welt. Hier geht keine Seele vorbei, sie opferte sich denn. Denn der Name dieses Ortes ist: Gottes Wahl. Bis hierher gilt Diesundjenes. Hier beginnt das Eine. Seele, die bis hierher gelangt ist, wähle! Scheide ab von der Erde, und ich öffne mich dir. Oder wende den Flug. Wer mich berührt hat, kehrt nicht wieder.« Die Stimme verstummt. Einen Augenblick steht die Seele, als horchte sie dem verklungenen Worte nach, dann spricht sie die Antwort: »Ich scheide ab von –« In diesem Augenblick hat sich auf der Erde eine Frau über ein Bett

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gebeugt, in dem der Körper eines Mannes liegt. Sie schaut, sie tastet über die erbleichende Schläfe des Liegenden hin. Dann schreit sie auf: »Israel!« In steilem Flug hebt sich der Ruf den Himmeln zu. Ehe die Weile sich schließt, steht er am Ende des Wegs, den die Seele in vielen Nächten vollbracht hat, und legt seine leichte Hand auf ihre Schulter. Die Seele hält im Wort inne und blickt hinter sich. Sie spricht nicht weiter. Sie legt den Arm um den Nacken des Boten und wendet den Flug. Dieses war die letzte Wanderung des Meisters in den Himmeln.

Jerusalem Es geschah zu Zeiten, daß den Baalschem des Nachts Stimmen aus der Tiefe aufriefen, und sein Ohr wurde hell und wach, obgleich der Schlaf noch seine Sinne umfing. Er unterschied alsdann mit großer Klarheit, wie aus der Ferne der Laut aus dem Mund vieler uralten Dinge auf der Wanderschaft zu ihm war und ein einiges Getön von unermeßlichem Weh sein Lager heimsuchte. Die Stimmen langten an sein Herz und weckten es auf. Aber sie kamen von allzuweit, und das Herz verstand die Bedeutung ihres Wortes nicht. Es konnte nur die große Not ahnen, die es anrührte, und war von dieser Zeit zu allen Tagen und Nächten im Gleichmaß seiner Schläge erschüttert. In einer Nacht jedoch waren die Stimmen ganz nah an des Meisters Ohr. Er erkannte sie und woher sie ihm kamen. Es war das alte Land, das zu ihm aus der Schande des Verfalls sprach. Es war der Weinberg, nun zur fahlen Steppe geworden, die begrabenen Mauern unter der Erde, das verschüttete Erz, das mitdröhnte unter der Last des Gerölls, der versteinerte Hang, der einst den leuchtenden Wald getragen hatte, und der verdorrte Wasserquell. Sie schrien aus der letzten Not, die fühlt, daß der Schlaf unversehens in den Tod übergehen will, jetzt und jetzt, von Atemzug zu Atemzug, wenn die Hand nicht kommt, die befreit. Die Stimmen redeten zum Baalschem: »Komm und säume nicht. Du bist der Erwartete. Der Bach wird rinnen, der Wald auferstehn, der Weinstock Früchte tragen, der Fels wird sich kleiden. Komm und lege deine Hand auf uns!« Von der Nacht an war die Seele des Baalschem in sich gewiß, daß er sich aufmachen und zu dem Lande gehen müsse. Er reckte sich empor und rief zu Gott: »Gib mir Urlaub, Herr, und Frist. Löse, womit du mich hier gebunden hältst, damit ich hingehe in dein Land, das mich ruft.« Aber Gott sprach nächtens zu ihm und antwortete: »Israel, es ist mein Spruch über dir, daß du weilest an deinem Ort und dich nicht aufmachest nach meinem Land.« Viele Nächte lag der Baalschem in der Qual. Die Stimmen waren vor seinem Ohr und das Wort des Herrn auf seinem Herzen. Aber der Jammer der Stimmen fuhr als Sturm in den Lüften, und es war eine Bewegung wie von großem Sterben, wie an dem Tag, an dem Jerusalem fiel. Da siegte der Anruf der sterbenden Erde über das Wort des Himmels, und der Meister machte sich auf, nach Jerusalem zu wandern. *

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Es war die erste Nacht, in der sie unter fremdem Dach sich zur Ruhe legten, der Baalschem und Rabbi Zwi der Schreiber, sein Schüler. In jener Nacht kehrten die Stimmen wieder an den Ort zurück, von dem sie ausgegangen waren. Da sie heimkehrten, empfing sie ein großes Raunen, die alte Erde erbebte unter ihrem Gruß und jegliches Ding erhob sich und lauschte. Die Stimmen riefen: »Steht auf, ihr Schlafenden, bereitet euch, denn euer Erlöser ist auf dem Weg!« In einem tiefen Atemzug schüttelte der Leib der Erde den uralten Schlaf ab. Jegliches Ding stieß den Lebensruf aus, und eine gewaltige Freude erbrauste in der Nacht. Das versunkene Gut blühte, Schwert und Opferschale, die versiegten Gewässer rauschten auf, neu kreiste der Saft des Korns und der Rebe. *

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Der Baalschem schritt unverdrossen vorwärts, aber Helle und Freudigkeit waren nicht mehr bei ihm. Er sann still in sich, und wenn Rabbi Zwi von dem wunderbaren Ziel ihrer Reise sprach, antwortete der Meister kaum anders, als mit einem verlorenen Seufzer. Denn ein Ding lastete sehr auf seinem Herzen und wurde schwerer mit dem Weg. Das war die Gottesstimme, die vor der Sehnsucht hatte verstummen müssen und nun schwieg, aber immerdar weilte und nicht von dem Herzen wich. Nachts war da manchesmal ganz inwendig ein KIageton ohne Wort, daß er erwachend in sich horchen und horchen mußte. Allein mit jedem Morgen trug er die wachsende Last weiter auf die Wanderschaft. So ließ er Stadt und Land hinter sich, Vertrautes und Fremdes. Der Mond hatte schon zu mehreren Malen über ihm gewechselt, als er nach eines Tags Irregehn des Abends an die Küste des Meeres kam, das ihn vom Ziel schied. Doch hier war nicht Haus noch Stätte, so weit das Auge sah, kein Segel am Wasser, nur Strand, schimmernd und grenzenlos, der Wasserschlag am Sand und eine laue Nacht mit mildem Himmelslicht. Da warfen sie sich beide nieder zur Erde, die noch des vergangenen Tags Glut ausatmete, zu ruhen und den Morgen zu erwarten, der sie zu Schiffern weisen würde. In der Mitte der Nacht fand der Meister sich mit dem Weggesellen auf hohem Meer in einem kleinen Schiff ohne Ruder, nur ein Segel über sich, flammend rot und gelb. Das Schifflein aber wurde vom Sturm hin und her geworfen, und ringsum war nicht Himmel noch Land zu sehen, nur Wasser in aller Weite, entfesselt und heulend. Der Baalschem suchte um sich, aber da war nichts als des Wassers tödliche Einsamkeit. Er suchte in

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sich, aber da war alles von ihm gewichen, Weisheit und Herrschaft. Er fand sich leer in seiner Seele. Ein großes Weinen überkam ihn. Dann warf er sich neben den Gefährten hin. Aber indem er lag, ein elend Ding, tat sich ganz sacht eine Stimme auf und hob zu reden an, erst leis und heimlich, doch allgemach schwoll die Gottesstimme an und schlang das Toben des Meers wie ein nichtiges Geräusch in ihren Schall. Im Zwielicht erhoben sich der Baalschem und Rabbi Zwi aus dem Sand, Haar, Antlitz und Gewand durchnäßt, wie bei solchen, die das Meer ans Ufer gespült hat. Sie sprachen nicht, mieden einer des andern Auge und wandten sich, und wortlos schritten sie einig den Weg zurück, den sie am Abend gekommen waren. Nach mehrstündiger Wanderung – die Sonne hatte ihnen die feuchten Kleider getrocknet – sah der Rabbi von ungefähr den Meister an und gewahrte das alte heilige Leuchten auf seinem Angesicht. * In der Nacht, da der Baalschem mit der Verlassenheit auf den Wassern und mit der Verlassenheit in seiner Seele kämpfte, lag das Land, das ihn gerufen hatte, in der Erwartung. Die Stimmen der Lebendigbegrabenen redeten aus der Erde hervor und fragten die Stimmen in der Luft: »Was hört ihr?« Da sprachen die Schwestern in der Luft: »Ein Sturm braust, und auf den empörten Wassern streitet, der uns erlösen soll.« Eine Zeit verging, dann fragten wieder die Stimmen der Erde: »Naht er dem Land?« Und die Antwort kam: »Das Wort ist über ihm.« Wieder schwand eine Zeit, und noch einmal stieg die Frage empor: »Was hört ihr?« Und wie das Rauschen todmatter Flügel klang es zurück: »Wir hören aus der Ferne den Schritt des Fortziehenden.« Da verhüllte die alte Erde ihr Angesicht und schloß die Augen. Jegliches Ding kehrte an den Ort seiner Ruhe zurück. Das Schweigen deckte alles Land. Über dem Schweigen ward ein Ruf lebendig, durchbrach und zerstreute es. Der Ruf redete zum Land: »Du wirst nicht sterben, meine Freundin. Erde des Herrn, du wirst erwachen und leben. Hadre nicht mit dem, den du gerufen hast. Er ist geboren als einer, der wiederkehren soll. Die Hand des Herrn ist über seinen Wurzeln, ihn wiederzubringen zu seiner Zeit, ihn wiederzubringen zu deiner Zeit, o meine Freundin.«

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Bald nachdem der Baalschem zurückgekehrt war von der unvollendeten Reise, begannen die Männer sich um ihn zu sammeln, von seiner segnenden Hand und von seinem ratenden Mund das Heil zu einpfangen. Sie saßen an seinem Tisch, und jedem erschien das allgemeine Wort des Meisters wie eine Heimlichkeit, die seinem Ohr bestimmt war und keinem. Jedoch geschah es mitunter, daß der Baalschem in seiner Rede stockte, für eine Zeit verstummte und ohne Anteil, das Auge blicklos ins Ungewisse gewendet, unter den Freunden verweilte. Dann pflegten auch die Getreuen schweigend auszuharren, bis der Sinn des Meisters ihnen heimkehrte. Wenn sich dieses nach einiger Frist erfüllte, erschien der Heilige ermattet, als ob eine unbekannte Kraft den Quell seiner Seele schier zu versiegen gezwungen hätte. Er fand wohl noch ein freundliches Zeichen für jeden seiner Gäste, aber bald pflegte er sich zu erheben und in sein Gemach zu gehn, in dem er sich dann für viele Stunden verschloß. Die Schüler redeten oftmals untereinander von dieser Begebenheit, doch fanden sie nimmer, wie sie auch forschten, dem fremden Geschehn die Deutung. Da fügte es sich einmal, daß Rabbi Wolf, der Fröhliche, der keiner Angst je Einlaß gab und immer getrost war in der Liebe des Meisters, um dieses Dinges willen ihn anging und Aufschluß empfing. Daher wissen wir, wie es sich zugetragen hat. Was aber später geschah, hat der Mann selber kundgegeben, von dem es den Ausgang nahm. In den Jahren des Baalschem lebte in der Stadt Kossow ein Rabbi, der ihn aus einem dunkeln, gewaltsamen Geist befehdete. Dieser Hader aber war uralt und hatte seinen Ursprung in den großen Tagen der Könige. Es wird berichtet, daß Israel, der Sohn des Elieser, den wir den Baalschem nennen, als ein Erbe und Unterpfand der Zeiten in seinem Blute die Seele trug, die einst David, den König, verlassen hatte, als seine Jugend zerbrach und die Gier ihn befiel. Dem Rabbi von Kossow aber hatte Sauls, des Traumfürsten, Seele sich einverleibt. Darum geschah es von einer Weile zur andern, daß er von einem Ingrimm heimgesucht wurde, den er tagelang in sich hegte. Von Zeit zu Zeit entsandte er dann seine rasende Seele, daß sie der des Baalschem sich nahte und ihr zuraunte, sie möge sich mit ihr messen. So wurde der Baalschem zuzeiten von seiner Seele verlassen, die zum Kampf auszog. Mal um Mal schlug sie aus dem Ringen als klare Flamme steil gegen den Himmel auf, indes die andre ohnmächtig verflackerte. Wohl sprach der Rabbi von Kossow niemals wider den Meister; er

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konnte jedoch die Schatten nicht bannen, die über sein Angesicht kamen, wenn von allen Zungen das lebendige Zeugnis für jenen erstand. Den Schülern, die ihm anhingen, blieb dies nicht verborgen. Sie litten, ihn so entstellt zu sehen, und drangen oftmals mit aufstachelnden Reden in ihn, um ihn zum offenen Widerstreit zu bewegen. »Sagt uns, Herr«, sprachen sie, »wie geht es zu, daß alle Leute zu diesem Mann ziehen und so wundersam, mit Verklärung im Ton und wie von einer Gnade Berührte sein Lob ausrufen? Ist es etwa deswegen, weil niemals noch einer kam, groß und geschmeidig genug im Geist, seine Künste zu überwinden? Begebt Euch hin, daß er sich mit Euch messe, dann werden wir und alle die Wahrheit schauen.« Lang weigerte sich der Rabbi, der stolz und ehrlich vor sich selbst und seines Feindes tief bewußt war, diesen Worten. Da aber die Schüler nicht abließen, in ihn zu dringen, gewannen sie Wirkung in seiner Seele. Eines Tags rüstete er sich mit den Seinen zur Fahrt und zog nach Mesbiž zum Baalschem. Als sie in dessen Haus traten, kam er ihnen entgegen und begrüßte den Rabbi. Jener verneigte sich und gab den Gruß zurück, und es war, als spendeten zwei Helden der alten Zeit einander den Willkomm. Sie schienen den Genossen entrückt und wurden selber keines anderen Dings mehr gewahr als einander. Die Schüler verblieben im Vorhof, die beiden aber traten in ein Gemach, und als die Tür hinter ihnen ins Schloß fiel, war es der harrenden Schar, als sei sie durch anderes als eine hölzerne Pforte von ihnen geschieden. Die beiden standen Aug in Auge, und zwischen ihnen war wieder wie in alter Zeit das zwiespältige Entflammen der Herzen. Aber bald lebte nur noch der Grimm im Rabbi, er erfand sich vielverschlungne Reden und führte sie mit schlauem Bedacht gegen den Baalschem, daß der sich in ihnen verfange und ihm erliege; doch sie fielen ohne Kraft und Griff zur Erde. Nachdem das Gespräch eine Weile zwischen den beiden hin und her gewandert war – der Baalschem aber ruhte wie ein Kind in seiner Gewißheit –, fragte der Rabbi: »Ist dem so, wie sie sagen, Israel, daß du jeden Gedanken der Menschensöhne erkennst?« Der Meister antwortete: »Dem ist so.« Darauf fragte jener wieder: »So ist dir bekannt, was meinen Gedanken füllt zu dieser Zeit?« – »Du weißt«, sagte der Baalschem, »daß die Gedanken der Menschen nicht zu ruhen pflegen, sondern in die Runde kreisen. Binde deinen Gedanken nunmehr an ein Ding, und ich will es dir nennen.« Das tat der Rabbi, und der Baalschem sprach: »Der urgeheime Name Gottes ist es, daran dein Gedanke hangt.« Da jener erkannte, daß der Heilige in seinen Geist geblickt hatte, ergriff ihn eine fiebernde Erbitterung, und er rief: »Dieses konntest du ohne Wunderschau wissen. Muß ich doch den Namen Gottes zu jeder Zeit

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vor mir tragen, und wenn du heischest, daß all mein Denken ein Ding umschlinge, was bleibt mir als dieses Letzte, Eine? Gering achte ich deine Kunst.« Der Baalschem aber verharrte in seiner Milde und sprach: »Hat Gott nicht viele Namen? Ich aber sage dir den einen, unaussprechlichen an.« Da er jedoch sah, wie die Blicke des Rabbis zuckten und sich wehrten, trat er vor ihn hin. Aus seinen Augen brach nun frei der Strom der Liebe. Er redete: »Dieses hast du gedacht, Nachman: ›Soll ich ewig gefangen bleiben in der Gewalt des Namens? Zwingt mich ewig das tyrannische Wort? Versunken sind die Zeiten und steigen wieder auf, und mich hält in Ketten der Geist. Wohin bist du geflogen, letzter der reinen Tage, da ich durch das Land Benjamin zog mit fröhlichen Schultern, Hauptes länger denn alles Volk? Tag der Sonne, Tag der Freiheit, nie bist du wiedergekehrt. Aber dein Bruder blieb, der dir gefolgt war, blieb bei mir mit dem Ölglas und dem Namen des Herrn. Er umspannt meinen Hals, wenn ich mich lege, er schließt sich um meine Knöchel, wenn ich vom Lager aufspringe. Er hat mich mit Zorn getränkt und mit Wahnsinn gefüttert. Er führt mein Schwert wider meinen Leib; täglich stürze ich darein und sterbe.‹ Dieses hast du gedacht, Nachman: ›Soll ich ewig gefangen bleiben in der Gewalt des Namens? Wie, wenn ich mich losmachte und wieder würde wie dazumal, ehe ich in die Stadt kam, in der der Mann des Herrn war!‹ Ich aber sage dir, Nachman, mein Freund, du Freund Gottes: Willst du dein Herz von deiner Brust losmachen? Sieh, du hast dich erkannt – bist du noch länger gefangen? Sieh, du hast dich erkannt – fühlst du nicht deinen Willen in Gottes Willen gewiegt? Nimm die Last der Zeiten in die Hände – ist sie nicht schon geschwunden? Grüße den Tag, der dich bannte – bist du nicht schon gelöst?« Der Rabbi sprach: »Du hast die Wahrheit geredet, Israel!« Dann neigte er sich, sprach das Wort des Friedens und ging zur Stunde hinweg mit gestillter Seele.

Das Gebetbuch An den zwei hohen Festen, welche die furchtbaren Tage genannt werden, das sind die Feier des neuen Jahres und der Versöhnungstag, pflegte der Rabbi von Dynow, wenn er vor die heilige Lade trat, um zu beten, das große Gebetbuch des Meisters Lurja zu öffnen und vor sich auf den Ständer zu legen. So lag es offen vor ihm alle Zeit seines Betens, aber er blickte nicht hinein und rührte es nicht an, sondern ließ es groß und offen daliegen im Angesicht der Lade und vor den Augen der Gemeinde, daß das starke, unverblaßte Schwarz der Lettern aus dem breiten gelblichen Grunde weithin schlug, und er stand hochgereckt in seiner Weihe davor wie der opfernde Hohepriester vor dem Altar. Aller Augen mußten immer wieder darauf blicken; aber keiner von den Chassidim wagte es, davon zu sprechen. Einmal jedoch erkühnten sich etliche von ihnen und fragten den Rabbi: »Wenn unser Herr und Lehrer aus dem Buch des Meisters Lurja betet, warum sieht er nicht hinein von Seite zu Seite nach der Ordnung seines Betens, und wenn er nicht daraus betet, warum öffnet er es und warum liegt es vor ihm?« Der Rabbi sprach zu ihnen: »Ich will euch erzählen, was sich in den Tagen des heiligen Baalschem, sein Andenken sei zum Segen, ereignet hat. In einem Dorf lebte ein Pächter mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn. Der Gutsherr war dem stillen Mann zugetan und gewährte ihm manche Vergünstigung. Dennoch kamen schlimme Jahre über ihn. Einer schlechten Ernte folgte im nächsten Sommer immer wieder eine schlechtere, und so schwoll die Not, bis sie in grauen Wogen über seinem Haupt zusammenschlug. Jeder Mühe und Entbehrung hatte er standgehalten; dem Elend konnte er nicht mehr ins Auge schauen. Er fühlte sein Leben schwach und schwächer werden, und als sein Herz zuletzt stillstand, war es wie das Ersterben eines Pendelschlags, dessen stetes Leiserwerden man nicht wahrgenommen hat und dessen Aufhören über einen nun wie etwas Plötzliches gerät. Und wie seine Frau mit ihm durch das holde und das arge Schicksal gegangen war, so ging sie auch mit ihm hinaus. Als sein Grab bereitet war, konnte sie sich nicht länger zwingen, sie sah ihren kleinen Sohn an und konnte sich doch nicht zwingen, und so legte sie sich hin und redete sich vor, sie gehe nicht zum Tod, bis sie zu ihm kam. Der kleine Nachum war drei Jahre alt, als die Eltern starben. Sie waren aus der Ferne gekommen, und man wußte von keinen Verwandten. So nahm ihn der Gutsherr zu sich, dem der Knabe mit dem schmalen, aus den goldroten Locken blütenweiß hervorschimmernden Gesicht gut gefiel. Bald gewann er des Kindes Art mehr und mehr lieb, und er zog es

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wie ein eigenes auf. So wuchs der Knabe heran und wurde in allem Wissen unterwiesen. Von seiner Eltern Glauben hatte er keine Kunde. Wohl verschwieg ihm der Gutsherr nicht, daß sein Vater und seine Mutter Juden gewesen waren; doch als er ihm davon sprach, fügte er hinzu: »Ich aber habe dich mir genommen, und nun bist du mein Sohn, und all das Meine ist dein.« Dies verstand Nachum wohl; das aber, was ihm von seinen Eltern gesagt worden war, das schien ihm jenen Geschichten zugehörig, die ihm die Mägde von Waldteufeln und Nixen erzählten; wunderbar war es ihm nur und unbegreiflich, daß er selbst mit solch einer Geschichte zu schaffen hatte. Eines Tags kam er unversehens in eine abgelegene Kammer des Hauses, in der allerlei Gerümpel übereinandergeschichtet lag, das seine Eltern einst hinterlassen hatten. Da waren seltsame Dinge, die er nicht kannte. Da war ein sonderbarer weißer Mantel mit langen schwarzen Streifen. Da war ein gesticktes Stirntuch von prächtiger Art. Da war ein mächtiger, vielarmiger Leuchter. Da war ein reich verästelter, in einer Krone zusammenwachsender Gewürzbehälter, um den noch ein dünner Luftnebel flatterte. Und da war ein großes, schweres Buch, in dunkelbraunen verschlissenen Samt gebunden, die Ecken silberbeschlagen, mit silbernen Klammern. Das waren die Dinge, die seine Eltern nicht hatten aufgeben können, auch beim Nahen des Elends nicht. Und nun stand der Knabe und sah darauf. Dann nahm er das Buch und trug es vorsichtig, beide Arme fest darum gelegt, in sein Zimmer. Da löste er die Klammern und öffnete es, und die breiten schwarzen Lettern wirbelten vor ihm dahin wie eine Schar kleiner Kameraden. Wie er sich nun in ihren Anblick verlor, schauten ihm zwei Augen entgegen, tränenlos, aber schmerzensvoll. Und Nachum wußte, daß dies das Buch war aus dem seine Mutter gebetet hatte. Seither hielt er es tagsüber verborgen, aber an jedem Abend holte er es aus dem Versteck, und beim Licht der Lampe, und lieber noch beim lebendigen Licht des Monds, sah er auf die fremden Lettern bis die Augen der Mutter hervortauchten. So kamen die Tage des Gerichtes heran, die furchtbaren und gnädigen Tage. Aus allen Dörfern zogen die Juden zur Stadt, um in der Volksgemeinde vor Gott zu stehen und die eigne Schuld mit der Schuld der Tausende in seinem Feuer aufgehen zu lassen. Nachum trat vor die Tür des Hauses und sah die Wagen vorübereilen, sah Männer und Frauen darin in Festgewändern. Ihm war, als seien all die Menschen Boten zu ihm, und als enteilten sie ihm nur deshalb, weil er sie nicht anrief. So rief er einen an und fragte ihn: »Wohin fahrt ihr, und was für eine Zeit ist dies euch?« Der Angeredete sprach: »Wir fahren, um in großer Schar Gott um Vergebung für unsern Fehl zu bitten.« Von dieser Stunde an erhellte sich

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dem Knaben seine Welt. So vergingen die zehn Tage der Buße, und der Vortag des Versöhnungsfestes war da. Wieder sah der Knabe die Juden aus den Dörfern die Straße zur Stadt fahren; stumm und regungslos saßen sie in ihren Wagen. Und wieder fragte Nachum einen von ihnen: »Was führt euch zur Stadt?« Jener sprach: »Dies ist der Tag, auf den wir harrten, der Tag der Versöhnung, da der Herr seine Kinder in die Heimat seiner Gnade aufnimmt.« Da eilte der Knabe in seine Stube, nahm das Buch mit den silberbeschlagenen Ecken in die Arme und lief aus dem Haus auf die Straße, lief, bis er in die Stadt kam. In der Stadt lenkte er seinen Schritt zum Bethaus und trat ein. Es war die Stunde, da das Kolnidre gesprochen wird, das Gebet der Lösung und der heiligen Freiheit. Er sah die Scharen in den langen weißen Sterbegewändern stehen, sich neigen und sich wieder erheben vor Gott. Er hörte sie aufschreien zu Gott aus allen verdeckten Tiefen zum Licht. Der Knabe stand unter ihnen, neigte sich und erhob sich wieder vor Gott. Und da er inneward, daß er nicht in der Sprache der andern beten konnte, nahm er das Buch der Mutter, legte es aufs Pult und rief: »Herr der Welt! Ich weiß nicht, was zu beten, ich weiß nicht, was zu sagen – da hast du, Herr der Welt, das ganze Gebetbuch.« Er legte den Kopf auf das offene Buch und unterredete sich weinend mit Gott. Es war aber an jenem Tag, daß die Gebete der Gemeinde wie flügellahme Vögel am Boden flatterten und sich nicht emporschwingen konnten. Trüb und verzagend war der Sinn der Beter. Da kam das Wort des Knaben, das nahm die Gebete aller auf seine Fittiche und trug sie in Gottes Schoß. Dem Baalschcm aber war dieses Geschehen offenbar, und er sprach das Gebet in hoher Freude. Als das Fest vorüber war, nahm er den Knaben zu sich und lehrte ihn die lautere und gesegnete Wahrheit.« So erzählte der Rabbi von Dynow seinen Frommen. Und er sprach: »Auch ich weiß nicht, was ich tun soll und wie ich die Absicht der frühen Beter, aus deren Mund die Gebete sind, erfüllen kann. Darum schlage ich das Buch des Meisters Lurja, des Ehrwürdigen, vor Gott auf und gebe es ihm mit allem Willen, der darin ist, und allem Sinn.«

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Einmal begab es sich – es war an dem vierten Tag der Woche und um jene erste Stunde des Abends, da die Sonne uns eben entschwunden ist –, daß der Baalschem sein Haus verließ, eine Reise zu tun. Keiner Seele, nicht Schüler und nicht Freund, hatte er von seiner Absicht gesprochen, so daß Ziel und Sinn der Fahrt für alle die Seinen im Dunkel lagen, selbst für jene, die ihn begleiteten. Auch diesmal fuhr er in einer knappen Stundenzahl eine große Strecke des Wegs, wie es ja allen bekannt ist, daß dem Willen des Meisters Ort und Zeit nicht Fessel bedeuteten wie einem unter uns. Um Mitternacht hielt der Baalschem in einem fremden Dorf vor dem Haus eines Zollpächters und Herbergvaters an, die Stunden der Nacht, die ihm verblieben waren, dort zu ruhen. Es wies sich, daß der Wirt weder den Baalschem noch einen unter den Seinen kannte, wohl aber begierig war, wie es unter Leuten dieses Gewerbes kein Seltenes ist, zu wissen, wes Standes sein Gast sei und zu welchem Ende er diese Reise unternehme. Indem er dem Meister und den andern einen späten Imbiß bot und ihnen zum Lager aufbreitete, gab sich Rede und Antwort. Der Baalschem tat dem Wirt auf dessen Anfrage zu wissen, er sei ein Prediger und habe vernommen, daß am Vortag des kommenden Sabbats ein reicher und angesehener Mann in Berlin Hochzeit halte, und zu der Zeit wolle er dort sein, um bei dem Fest seines Amtes zu walten. Als der Gastgeber das gehört hatte, hielt er ein Weilchen still und betreten an sich, ehe er sagte: »Herr, Ihr verhöhnt wohl meine Wißbegier! Wie wollt Ihr die Strecke in der Frist abtun, die Euch bleibt! Ja, wenn Ihr Pferd und Mann nicht schontet, Ihr würdet etwa vermögen, zum andern Sabbat dort zu sein, nimmermehr aber zu diesem.« Der Baalschem lächelte ein kleines und gab ihm Antwort: »Um deswillen sei unbekümmert, Freund, meiner Pferde bin ich sicher. Sie haben schon manch gutes Stücklein für mich getan.« Bald danach legte er sich mit den Seinen zur Ruhe nieder, der Wirt aber blieb die ganze Nacht auf seinem Bette wach, denn der fremde Mann und seine Sachen dünkten ihn allzu verwunderlich. Doch war auch für seinen Blick etwas an dem Mann, was ihn nicht glauben lassen mochte, er sei ein Spaßvogel oder gar ein Narr. Das Verlangen kam über ihn, das Ende dieses Dings zu sehen. Als er so um einen schicklichen Vorwand sann, dem fremden Prediger sein Geleit anzubieten, fiel ihm manches Geschäft ein, das er in Berlin mit einigem Vorteil abtun könnte. Er beschloß, des Morgens mit dem Gast darüber zu reden. Als der Meister mit seinen Leuten sich vom Lager erhoben hatte, trat der Wirt zu

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ihm und trug ihm seinen Wunsch vor, und der Baalschem war es zufrieden. Hingegen zeigte er nicht sonderliche Eile, wegzukommen, sah sich ruhig im Hause um, sprach mit den Seinen ein Gebet und hieß endlich den Wirt noch eine kräftige Mahlzeit bereiten. Die nahmen sie zu sich und verblieben dann noch im Gespräch, während der Wirt von Unrast und Neugier getrieben ab und zu lief. Als der Tag schon niederging, befahl der Meister, den Wagen zu bereiten und die Pferde anzuspannen. Sie zogen von hinnen, und bald kam die Nacht über sie. Der Baalschem mit den Seinen saß schweigend. Dem Wirt war es seltsam und fremd in seinem Sinn, und es dünkte ihn, dieses sei eine Fahrt, derengleichen er niemals noch eine getan. Nichts als das Dunkel war da. Zuweilen war es ihm, als rollten sie tief unter den Straßen der Menschen durch geheimnisreiche Gänge der Erde, und dann wieder schien ihm der Weg, den sie nahmen, so leicht und durchsichtig, als schwebten sie in den Lüften. Sie begegneten keinem Laut, keinem Menschen, keinem Tier, keinem Ort. Der Wirt vermochte seinen Gedanken nicht Halt zu gebieten, alles in ihm und um ihn schien sich in Flüchtigkeit aufgelöst zu haben. Plötzlich war es ihm, als würde die Luft um ihn dichter, die erste Helle brach an, er fühlte die Erschütterungen des Wagens auf dem Erdboden wieder unter sich, fernhin bellte ein Hund, ein Hahn krähte, eine Hütte lag seitab im Dämmer. Eine Weile fuhren sie so, der Morgen war klar, und als die letzten Dünste in der Sonne aufgingen, sah der Wirt vor sich eine große Stadt. Nicht der vierte Teil einer Stunde ging um, da langten sie in Berlin an. Der Meister wählte eine bescheidene Herberge, die am Ende der Stadt stand, in jener Gegend, wo noch niedere Häuser fast ländlich in ihren Gärtchen lagen. Da ließ er sich in einer Laube vor dem Haus mit seinen Schülern zum Morgenimbiß nieder. Als sie diesen eingenommen hatten, blieben sie im Gebet und in Gesprächen gelassen beisammen. Der fremde Wirt, der die Fahrt mit ihnen getan hatte, dachte der Worte des Predigers, daß er zur Hochzeit eines großen Mannes nach Berlin reise und daß heute der Tag des Festes sei, und er konnte nicht verstehn, wie der Baalschem so ruhig hier verweile, statt sich den Gästen im Hause des Bräutigams zu gesellen. Noch tief befangen in dem Geschehnis der Nacht und doch schon von der neuen Frage gestachelt, näherte er sich dem Meister. Aber wie er sich anschickte, den Mund aufzutun, hob der Baalschem das helle Angesicht, und der Wirt sah darin den heiteren Spott, mit dem jener über seine unruhige Seele in großer Güte lächelte. Da verging ihm der Mut zur Frage, und er nahm Urlaub, sich ein wenig in der fremden Stadt umzutun.

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Er war noch nicht eine Stunde unterwegs, als er merkte, daß allenthalben die Menschen beisammenstanden, einander eine Neuigkeit mitzuteilen und sie zu besprechen. So trat er an einen heran und fragte, was da wohl geschehen sei, daß die Leute ihrer Geschäfte vergäßen. Er bekam den Bescheid, daß im Hause eines reichen Juden, der eben heute habe Hochzeit halten sollen, am Morgen die Braut plötzlich dahingeschieden sei, nachdem sie noch bis Mitternacht mit aller Freudigkeit ihren Staat gerüstet und die Vorbereitungen zum Fest geleitet, den Rest der Nacht aber in ruhigem Schlaf verbracht habe. Auch sei sie keineswegs krank oder schwächlich gewesen, sondern als ein schönes und starkes junges Geschöpf allen bekannt. Der Wirt ließ sich das Haus des Bräutigams zeigen. Dort eingetreten, fand er die Festgäste in Trübsal und Verwirrung die Tote umstehen, die blaß, aber unentstellt auf einem Bette lag. Die Ärzte schienen sich noch um sie bemüht zu haben und nahmen eben ihren Abschied von dem Herrn des Hauses, indem sie mit etlicher Verlegenheit äußerten, daß nun doch tot bleiben müsse, wer tot sei. Der Bräutigam stand reglos, sein Antlitz war von Kummer wie von einem grauen Schleier umsponnen. Der und jener unter den Gästen trat zu ihm und raunte ihm zu, was ihn trösten sollte, aber der Mann blieb stumm, als ob er nicht hörte. Da wagte es auch der Wirt, ging zu ihm hin und erzählte ihm, auf welch absonderliche Weise er heute nacht so weiten Weg mit dem fremden Prediger gekommen sei. Und er meinte, der Wundermann, der diese Fahrt vermochte, verstünde sich wohl auf mehr, was nicht gewöhnlich sei, und riet dem Herrn des Hauses, zu ihm zu gehen und ihm sein Leid zu vertrauen. Der Bräutigam griff nach seiner Hand, hielt sie fest und begehrte, zur Herberge des Baalschem geführt zu werden. Er trat vor den Meister, sagte ihm alles von der schweren Begebenheit und entbot ihn an das Bett der Toten. Der Baalschem ging unverweilt mit ihm zu der entseelten Braut und blickte lange auf ihr verschwiegnes Angesicht. Alle waren still geworden und warteten auf sein Wort. Er aber wandte sich von der Ruhenden und sprach zu den Frauen: »Bereitet eilig der Toten das Sterbegewand und tut ungesäumt eure Bräuche.« Zum Bräutigam sagte er: »Entbiete Männer, daß sie am Ort des Lebens, wo du die Toten deines Hauses zur Ruhe bringst, auch dieser eine Stätte bereiten.« Da sandte der Bräutigam hin und ließ ein Grab aufwerfen. Der Meister aber sprach weiter: »Ich gehe mit euch dieser Toten zum Geleit. Ihr aber nehmt die Hochzeitsgewänder und den Schmuck, den sie sich selbst zum heutigen Tage erlesen hat, und bringt ihn zum Grab.« Als alles bestellt war, legten sie die Leiche in einen offenen Schrein und trugen sie hinaus. Der Baal-

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schem ging als erster dem Sarge nach, und ihm folgten viele Leute mit verhaltenem Atem. Vor dem Grab befahl der Baalschem, die Tote im unbedeckten Sarg in die Grube zu legen, so daß ihr Angesicht frei gegen Himmel schaute und von allen gesehen werden konnte. Auch hieß er keine Erde auf sie werfen. Zwei Männern gab er Weisung, neben ihm zu stehn und seines Winks gewärtig zu sein. Dann trat er zum offenen Grab, lehnte sich auf seinen Stab und ließ seine Augen auf dem Antlitz der Toten ruhen. So stand er unbeweglich, und die ihn ansahen, bemerkten, daß er gleichsam ohne Leben war, als hätte er seinen Geist an einen andern Ort entsandt. Alle umstanden in weitem Kreis das Grab. Nach einer Weile winkte er den beiden Männern. Sie traten heran und sahen, daß das Antlitz der Verschiedenen sich mit dem Hauch des Lebens gerötet hatte und daß der Atem aus ihrem Munde kam und ging. Der Baalschem gebot, sie aus dem Grabe zu heben. Es geschah, sie stand aufrecht und blickte um sich. Da trat der Meister zurück und befahl dem Bräutigam, er möge unverzüglich und schweigend die Braut in ihre Schleier kleiden lassen, sie zum Baldachin führen und des Geschehenen mit keinem Wort gedenken. Der Bräutigam aber bat ihn, er möge es sein, der die Ehe segne. So führten sie die Verschleierte ins Haus unter den Baldachin. Als der Baalschem aber die Stimme erhob und den Ehesegen über das Paar sprach, riß die Braut sich die Schleier vom Gesicht, sah ihn an und rief: »Dieser ist der Mann, der mich losgesprochen hat.« Da fuhr der Baalschem sie an: »Schweig!« Die Braut verstummte. Ehe die Leute sich besannen, hatte der Meister das Haus verlassen. Später, als alle Hochzeitsgäste beim Mahl saßen und die Schatten der vergangenen Ereignisse zu weichen begannen, hob die Braut selbst an, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Bräutigam war bereits einmal vermählt gewesen, und als Witwer hatte er sie zur Frau begehrt. Das erste, verstorbene Weib aber war ihre Tante gewesen und hatte sie als kleine Waise bei sich aufgenommen und gehegt und neben sich im Hause groß werden lassen. Da geschah es, daß die Frau krank wurde und ihr nimmer zu helfen war, und sie selbst verstand wohl, daß ihrer Zeit nun das Ende kam. Da legte es sich ihr schwer in den Sinn, daß, wenn sie ein Weilchen tot wäre, ihr Mann, der noch nicht alt war, es wohl kaum werde lassen können, eine andre an ihre Stelle zu erheben. Und wie sie nachsann, begriff sie, daß es ihre junge Verwandte sein würde, die so gut Bescheid wie in heilen Tagen sie selbst in allen Geschäften des großen Hauses wußte und lieblich anzusehn ihm zu jeder Stunde des Tages vor Augen sein würde. Und weil sie selbst ihren Mann sehr geliebt hatte und bang um die kurze Frist war, die ihr an sei-

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ner Seite gegönnt gewesen, neidete sie das junge Geschöpf sehr. Als sie ihre letzte Stunde gekommen fühlte, rief sie die beiden an ihr Bett und nahm ihnen Versprechen und Handschlag ab, sich niemals mit einander zu vermählen. Den beiden, die um die Sterbende litten, erschien das nicht schwer, und gern gaben sie es hin. Dann aber trug man die Tote hinweg, und ihr Platz war leer, selbst ihr Schatten war aus den Räumen gewichen, und da waren nur noch die Lebenden, und alles war Leben um sie her, sie sahen sich ins Auge zu jeder Stunde und verstanden bald, daß sie einander dennoch nicht lassen konnten. Da brachen sie ihren Eid und gelobten sich einander an. Aber am Morgen der Hochzeit, als die Luft im Hause voller Freude war und keiner der dunklen Tage dachte, da eine nun Tote hier leidvoll gehaust hatte, kam der Wille der verstorbenen Frau zurück an seine Stätte, heischte sein gebrochenes Recht und begehrte das glückliche Weib zu töten. Als nun, der fremden Kraft zu Gebot, das Leben der Braut sich von ihrem Körper gelöst hatte und dieser starr dalag, rang ihre Seele gewaltig mit der Seele der Toten um den Bräutigam. Da man sie zu Grabe trug, kamen ihrer beider Seelen vor die Entscheidung. Es war eine Menschenstimme über ihnen, die das Recht sprach, und sie kämpften vor ihr um das Gericht. Die Stimme sprach das Urteil: »Du Tote, die du keinen Teil mehr an der Erde hast, laß ab von ihr. Denn sieh, bei den Lebenden ist das Recht. Es ist keine Schuld auf diesem Weib und dem Mann. Sie mußten tun, was sie nicht wollten, um die Not ihrer Seele zu stillen.« Und da die Tote nicht nachließ, die Braut zu bedrängen, schrie die Stimme sie an: »Laß ab von ihr! Siehst du nicht, daß sie zur Hochzeit gehen muß? Der Baldachin wartet!« Da erwachte die Braut zum Leben, ließ sich aus dem Grab tragen und in ihre Schleier kleiden, und noch leise betäubt folgte sie den Frauen zum Baldachin. »Aber«, sagte sie zum Bräutigam und zu den Gästen, da sie ihre Erzählung vollendet hatte, »als der Prediger den Segen über uns sprach, erkannte ich die Stimme, die über mich das Recht gesprochen hatte.«

Die vergessene Geschichte Als der Leib des Baalschem vom Feuer seiner Seele schon fast verzehrt war, rief er alle Schüler zu sich. Er hatte sich schon auf sein letztes Lager hingestreckt; sein Kopf war ein wenig erhoben, in die linke Hand gestützt, und sein Antlitz war während der ganzen Zeit, da er sprach, voll den Seinen zugewandt. Sein Blick ruhte fest auf dem, zu dem er sprach. Er sagte einem jeden aus der Schar, wie er sein künftiges Leben führen und welchem Geist er es anheimgeben solle. Unter seinen Schülern war einer, der ihm diente und stets um ihn war. Dessen Name war Rabbi Schimon. Ihn rief der Baalschem zuletzt und sprach zu ihm: »Freund, dir ist vorgesehn, in der Welt umherzufahren und alle Orte heimzusuchen, wo Juden wohnen. Da wirst du in die Häuser gehen und Geschichten erzählen, von mir reden und mit ehrlichen Worten darstellen,was du all dein Lebtag bei mir gesehen und von mir erfahren hast. Und was die Menschen zum Lohn für dein lebendiges Wort dir in die Hände legen, das soll dein Erwerb sein.« Dem Rabbi Schimon stieg ein Unmut im Herzen auf. Wohl liebte er es, wie nichts sonst auf der Welt, vom Meister zu reden und dessen Worte mit den eigenen Lippen nachzuformen; aber wie mochte es ihm frommen, bettlergleich umherzuziehn, keines Hauses, auch des geringsten nicht, Herr zu sein, ein ewiger Wanderer zu Gast am fremden Herd? So brachte er es nicht über sich zu schweigen, er mußte sein Tröpfchen Bitterkeit in des Herrn Sterben fließen lassen und sagte halblaut: »Was wird der Sinn davon sein, unstet und flüchtig soll ich werden und der ärmste Pilger hienieden.« Da tröstete ihn der Baalschem und redete ihm zu: »Dein Weg wird ein gutes Ziel finden, Freund.« Wie es dann alsbald geschah, daß der Meister in das Ewige einging, waren die Schüler in Liebe bedacht, zu erfüllen, was sein Wille über sie bestimmt hatte. Rabbi Schimon tat ein Wanderkleid an, zog von dannen und ging von Stadt zu Stadt, allen Juden die Geschichten vom heiligen Baalschem zu vermelden. Er gewann Ehre davon und hatte sein leichtes Auskommen. Und da er noch jung war und mit unbeschwertem Geist die Augen schweifen lassen konnte, gewann er die schönen Wege lieb, die über die bunnte Erde führen, und im Hin- und Wiederziehn fühlte er keine Bangigkeit mehr. So waren zwei Jahre und ein halbes hingegangen, da traf er einen alten Mann, der aus Jerusalem kam. Dieser tat ihm zu wissen, daß in Italien in einer Stadt, deren Namen er ihm nannte, ein reicher Jude angesessen sei, der in seinem Herzen eine erstaunliche Liebe zum heiligen Baalschem

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trage. Sein ganzer Sinn sei von ihm erfüllt, und all sein Trachten stehe darauf, vom Meister zu hören. Da meinte Rabbi Schimon bei sich, dieser Jude in Italien sei der rechte Mann, die wunderbaren Geschehnisse, von denen er zu sagen wußte, zu vernehmen. Waren doch seine Worte von dem Erhabenen über manches törichte Gemüt dahin- und an manchem leichtfertigen Ohr vorbeigezogen, so daß er wohl Lust spürte, vor einem wahren Lauscher, der ihm das Herz auftäte, zu erzählen. Er kaufte Pferd und Wagen und rüstete sich zur Reise. Sieben Monate währte es, bis er zur Stadt des reichen Mannes kam, denn er mußte an vielen Orten unterwegs verweilen, bis er sich durch sein Erzählen in den Häusern das Geld zur Zehrung für die Weiterfahrt erworben hatte. Sogleich nach seiner Ankunft in der Stadt ging er in das Haus eines Juden und fragte nach jenem Mann, der so große Ehrfurcht für den Baalschem hegen sollte. Da erzählten ihm die Leute, daß der Jude, den er nannte, vor etwa zehn Jahren als ein Fremder in die Stadt gekommen sei. Er habe schon damals großen Reichtum mit sich getragen. Wenige Monate habe er hier gelebt, da sei der Letzte eines fürstlichen Geschlechts gestorben; sein Palast und all sein umliegendes Gut sei an einen fernen Verwandten in Rom gefallen, der, da er sein angestammtes Haus nicht lassen wollte, den Wunsch aussprach, das geerbte Gut zu verkaufen. Da sei nun der fremde Jude hingegangen und habe in purem Golde den großen Kaufpreis erlegt. Und alle Juden des Landes seien es über alle Maßen zufrieden, daß der fremde Mann so prächtig unter ihnen hause; denn es sei ein frommer und gütiger Lebensgeist über ihm. Am Sabbat sei sein Palast jedem ehrbaren Juden offen; in weiten Sälen stünden die Sabbattafeln im Linnen- und Silberglanz, und seit dem Fall der heiligen Stadt sei der Tag des Herrn wohl nirgends strahlender erlebt worden als hier. Bei jeder der drei Mahlzeiten des Sabbats lasse der Mann je eine Geschichte vom heiligen Baalschem sich und seinen Gästen vortragen, und in Ehren werde jeder aufgenommen, der von dem Gnadenreichen zu sagen wisse. Auch sei der Lohn über alle Weise: am Tag nach dem Fest reiche ihn der große Jude selbst in wohlgeprägtem Gold dem Erzähler. Als Rabbi Schimon solches vernommen hatte, sandte er nach dem Palast und ließ da melden, ein Diener und Schüler des Heiligen sei in der Stadt angekommen. Sogleich holte der Haushofmeister ihn ab und führte ihn unter mancher Ehrenbezeigung nach dem Schloß, wo ihm mehrere schöne und bequeme Räume angewiesen wurden. Indessen hatte es sich in der Stadt selbst, ja im ganzen umliegenden Land unter den jüdischen Leuten verbreitet, daß ein Schüler des Baalschem gekommen sei. Am Sabbat drängten sich alle, die zu hören begierig waren, in so großer Menge wie noch nie zu den Tischen des gast-

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lichen Mannes. Als die Gesänge der ersten Sabbatmahlzeit unter den Säulen der Halle feierlich und innig erklungen waren, erhob der Hausherr das Antlitz und wandte es dem Rabbi Schimon zu, und der las darin eine Bitte und eine Erwartung. Mit leiser Stimme forderte ihn der Große auf, wenn er sein Haus dessen für würdig erachte, von dem hohen Meister zum Trost der Seelen zu reden. Rabbi Schimon richtete sich in seinem Stuhl auf, legte die Arme auf die geschnitzte Lehne und öffnete den Mund, um in ehrfürchtigen Worten das Bild des wundersamen Herrn aufsteigen zu lassen. Er war es gewohnt, daß die Berichte aus dem Leben des Baalschem wie von selbst von seinen Lippen kamen. Aber wie er nun dasaß, gewärtig, daß die Rede sich ihm im Munde gestalten würde, stieg ihm plötzlich von innen eine Eiseskälte auf, das Wort gefror ihm, er erstarrte und erbleichte. Wie hinter einem Schleier sah er viele Augen an seinem Mund hängen; er tat ihn auf, aber der Laut blieb totgeboren. Die stumme Forderung auf all den Gesichtern, die ihm unerbittlich zugewandt blieben, peinigte ihn. Er nahm alle seine Kraft zusammen, um das Bild des Meisters vor seine Seele zu stellen, er gedachte der Stadt Mesbiž, ihrer Häuser und Mauern und Gärten und all der kleinen Dinge, die ihm so vertraut waren, aber der Gedanke wandelte sich nicht zum Bild. Verwirrt und beschämt brach er in Tränen aus. Aufschauend sah er es allen an, daß sie ihn für einen Betrüger hielten, vom Geist der Lüge tückisch im Stich gelassen. Nur der Hausherr blickte ihn versonnen und voll gütigen Verstehens an und sagte: »Wir warten bis morgen. Vielleicht kehrt dir dein Erinnern zurück.« Rabbi Schimon lag die ganze Nacht in Tränen und wartete, daß das Bild des Baalschem ihn heimsuche. Aber sein Sinn war verödet. Als er bei der Sabbatmorgenmahlzeit erschien, sahen alle über ihn hinweg. Der Hausherr jedoch sprach ihn wiederum an: »Vielleicht kannst du uns jetzt eine Geschichte erzählen.« Da redete Rabbi Schimon zu ihm und beteuerte ihm, diese Nacht des Vergessens, in die sein Denken versunken war, könne kein leeres und zufälliges Ding sein, sondern sei sicherlich von einer oberen Gewalt zu sinnvollem Ziel über ihn verhängt worden. Der reiche Mann antwortete: »Laßt uns warten bis zur dritten Mahlzeit.« Und Rabbi Schimon wurde auf seinem Angesicht eines demütigen Lächelns gewahr. Aber er war von Schmerz und Scham allzusehr heimgesucht, als daß er sich dessen in sich bedacht hätte. Auch bei der dritten Mahlzeit kehrte ihm die Erinnerung nicht wieder, doch wappnete er sich mit Liebe und nahm alles mit getreuem Herzen entgegen, denn zuinnerst ahnte er nun, daß alles dies geschehn müsse, damit alte Verkettung sich löse. Der Sabbat verging jedoch, und nichts hatte sich verändert. Tags dar-

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auf nahm Rabbi Schimon Urlaub. Der reiche Mann entließ ihn mit traurig gesenktem Auge und reichte ihm ein ansehnliches Geschenk, das ihn für die weite Reise und die vielen Nöte entschädigen sollte. Auch gab er ihm einen bequemen Reisewagen und Diener mit, daß sie ihn bis an die Grenze des Landes brächten, von wo ab er sich wohl leichter allein behelfe. Der Gast stieg hinab und setzte sich in den Wagen. Alles war bereit, der Kutscher trieb eben die Pferde an, da war es Rabbi Schimon, als führe ihm urplötzlich ein Lichtstrahl durch den Leib. Als er sich auf sich selbst zu besinnen vermochte, war es eine große Geschichte von dem heiligen Baalschem, die urnah mit Bildklarheit ihm vor der Seele stand. Er gab sich eine Weile dem heftigen Entzücken hin, das ihn im Augenblick der Gnade überkommen hatte, dann hieß er den Kutscher den Wagen, der sich bereits einige Straßen von dem Palast entfernt hatte, wenden und kehrte zum Hause zurück, wo er einen Diener zum Herrn entsandte und ihm melden ließ, Rabbi Schimon sei zurückgekehrt, da er sich einer Geschichte von dem heiligen Meister entsonnen habe. Der Herr empfing ihn – Rabbi Schimon aber, der nichts als seine Geschichte sah und fühlte, entging die zitternde Erwartung in seinen Mienen – und sprach: »Ich bitte dich, daß du dich zu mir setzest und mir die Begebenheit vermeldest, deren du dich zu dieser Stunde entsonnen hast.« Rabbi Schimon erzählte ihm, was folgt: »Es begab sich einmal um die Zeit des ersten Frühjahrs, just vor den Tagen, in denen die Christen ihr Ostern feiern, daß der heilige Baalschem einen ganzen Sabbat in Betrübnis verbrachte. Tief versunken ging er in seinem Haus umher, bang, als ob seine Seele ihn zu einem gefahrreichen Kampf verlassen hätte und er ihrer Wiederkehr harrte. Nach der dritten Mahlzeit, die er schweigend eingenommen hatte, hieß er den Wagen bereiten und die Pferde einspannen. Seine Schwermut hatte wie eine drohend gefärbte Wetterwolke über dem Haus und den Seinen gelagert. Bei seinem Gebot, die Ausfahrt zu rüsten, zog ein Aufatmen durch den Raum, denn alle wußten, auf diesem Weg ins Land nach Sabbatausgang pflegte sich zu schlichten, was vorher sich zusammengeballt hatte. Diesesmal waren es drei von den Seinen, denen er gönnte, an der Fahrt teilzuhaben, und ich war einer unter ihnen. Wir fuhren die ganze Nacht, und wie oft schon, kannte keiner von uns das Ziel der Fahrt. Als das Morgenlicht zögernd aufstieg, kamen wir in einer großen Stadt an. Die Pferde mäßigten den rasenden Lauf und hielten plötzlich, wie von einer unsichtbaren Hand eingehalten, vor dem Tor eines düstern Hauses, dessen Seite in einer engen Gasse lag, während der Giebel einem breiten Platz zugekehrt schien. Das Tor war versperrt, die Fenster von den Läden bedeckt, die ganze Gasse lag öde und verschwiegen. Der Meister hieß

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mich absteigen und anpochen. Ich tat es eine geraume Zeit vergeblich, schließlich legte ich all mein Begehren nach Rast hinein, und die grauen, verschlossenen Häuser hallten von meinen Schlägen wider. Da wurde eine kleine Tür, die in einen der riesigen Seitenflügel des Tors eingelassen war, von innen geöffnet. Vor uns stand eine alte Frau mit verstörtem Gesicht, daraus die geröteten Augen uns anstarrten. Plötzlich schrie sie auf uns ein: ›Was treibt euch, daß ihr gerade heut hierherkommen mußtet! Ja, wißt ihr denn nicht, daß ihr auf dem Weg zur Schlachtbank seid?‹ Und da ich sie ohne Verständnis anblickte, denn mir schien, uns sei eine Tolle in den Weg geraten, zog sie uns in den Torweg und sprach: ›Nun sehe ich, daß ihr Fremde seid und mit dem Brauch unserer Stadt nicht vertraut. Der ist so: Sie haben seit etlichen Jahren hier einen Christenbischof, einen stolzen, unbeugsamen Mann, der den Juden blutfeind ist. Er hat nun geboten, daß sie alle Juden, die sie am Tag vor ihrem Osterfest auf der Straße finden, greifen und martern, um Rache für ihren Messias zu üben. Deshalb hüten wir uns an diesem Tage und bergen uns zuinnerst in den Häusern. Das wissen sie wohl, und nun wollen sie das Los werfen, wer von unserm Volk der Pein anheimfallen soll. Euch aber‹, schrie sie und drängte uns zum Wagen, ›euch, die ihr fremd hier seid, wird man nicht schonen! Ihr kennt nicht die Leute dieser Stadt, reißende Tiere sind sie, wenn ihr Blut entzündet wird. Eilt, sucht den nächsten Ort zu gewinnen und wartet dort das Ende dieses Unglückstags ab, ehe ihr hierherkommt, eure Geschäfte zu tun!‹ So schrie die Alte und hob die Hände gegen oben. Der Baalschem aber hatte ihrer nicht acht, schob sie beiseit, trat ein, hieß uns das Tor öffnen und Wagen und Pferde in den Ställen und unsern Bedarf, den wir mit uns führten, im Hause bergen. Er stand und schaute ruhig auf alles, was nach seinem Wort geschah. Dann hieß er uns wieder Tor und Tür schließen, und wir standen in dem großen dunklen Flur. Der Meister winkte uns und ging voran, die Treppe aus geschnitztem Holz um einige Stufen ersteigend. Er öffnete eine Tür, und wir traten in einen stattlichen Raum, der um ein weniges über die ebene Erde erhöht war. Ich stand eine Weile, ehe meine Augen das Zimmer übersahen, denn obwohl draußen inzwischen der helle Morgen heraufgestiegen war, lag das Gemach im Dunkel. Man hatte die Fensterläden geschlossen und überdies die schweren Vorhänge zusammengezogen. Nach einiger Umschau wurde ich gewahr, daß der Raum viele Menschen barg. Sie hatten sich lautlos, wie vor Angst der Besinnung ledig, in den Winkeln versteckt. Es mochte wohl der ganze Hausstand hier versammelt sein. Indessen war uns die Alte weinend vom Flur gefolgt und warf dem Baalschem jammernd vor, daß er durch sein Eindringen das Unglück über ihr Haus heraufbeschwöre. Er aber antwortete ihr nicht, son-

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dern durchmaß die Stube mit großen Schritten und hielt dann bei einem der Fenster, das von einem halbrunden Ausbau ins Freie ging. Er streckte gelassen die Hand aus und schob die Vorhänge zurück, hierauf öffnete er das Fenster und die hölzernen Läden dahinter und stand nun mit seiner ganzen Gestalt gegen den offenen Rahmen. Die Morgenhelle und eine klare Luft strömten hinein. Die Alte wagte nicht mehr laut zu reden, aber sie bedrängte den Meister mit verzweiflungsvollen Gebärden, daß er wieder schließen und sich zurückziehen möge. Da er jedoch nicht auf sie achtete, sank sie endlich schweigend neben den andern zu Boden. Das geöffnete Fenster, das uns nun den freien Ausblick gewährte, ging nicht in die enge Gasse, durch die wir angekommen waren, sondern auf jenen großen Platz, dem die Giebelseite des Hauses angehörte. Inmitten sah ich eine Kirche aus weißem Gestein, die zwei Türme emporsandte. Gerade unserm Fenster gegenüber, an der Außenseite des Gemäuers, war eine Kanzel angebracht. Etwa dreißig steinerne Stufen führten zu ihrer Höhe. Als der Meister aufgetan hatte, standen noch wenige Menschen auf dem Platz, aber sie mehrten sich von einer Minute zur andern, sammelten sich und umstanden jetzt schon in dichter Menge die Kanzel. Nun dröhnten die Stimmen vieler Glocken über uns hin. Draußen unter den Menschen wurde eine Bewegung bemerkbar, ein Schieben und Drängen, dann tat sich in der dunklen Menge eine breite, lichte Straße auf, und es erschien im prächtigen Aufzug mit Fahnen, Lichtern und Räucherwolken unter seinem silbernen Baldachin der Bischof. Alles war still geworden und wartete, er aber in seinem gleißenden brokatnen Gewand stieg die Stufen zur Kanzel hinan. Dort versank er in ein stilles Beten, sich zur Predigt zu bereiten, und die ganze Menge kniete lautlos. Der Meister stand unentwegt in dem offnen Fenster und sah hinaus. Dann sprach er mit heller Stimme in eben dieses Schweigen hinein: ›Schimon, geh hinaus und sag dem Bischof: ‚Israel, der Sohn Eliesers, ist hier und läßt dich rufen.‘‹ Als die Leute, die mit uns im Zimmer waren, diese Worte hörten, überfiel sie Bestürzung und ließ sie selbst die Angst vergessen, die sie vorher getrieben hatte, sich in den Ecken zu bergen. Sie fuhren auf, umringten den Baalschem und redeten auf ihn ein. Er aber stand, als rührten ihre Worte ihm nicht an Ohr und Verständnis, sah mich bedeutsam an und sprach: ›Geh, Schimon, geh schnell und fürchte dich nicht!‹ Und ich, der ich einen Gedanken lang gezögert hatte, erkannte nun meinen Herrn wie zuvor und ging durch die Menge zur Kanzel, und keiner hat auch nur ein Wort gesprochen oder einen Finger an mein Gewand getan. Ich schritt die Hälfte der Stufen hinan, dann hielt ich inne und redete den Bischof in hebräischer Sprache an: ›Israel, der Sohn Eliesers, ist in jenem Haus. Er läßt dich rufen, daß du zu ihm kom-

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men mögest.‹ Da gab mir der Bischof in der gleichen Sprache Erwiderung: ›Ich weiß von seiner Gegenwart. Sage deinem Herrn, daß ich sogleich nach der Predigt bei ihm erscheinen werde.‹ Ich wandte mich, ging durch die Menge über den Platz und trat in das Haus. Die Leute, bei denen wir weilten, hatten sich an die verschlossenen Fenster geschlichen, um durch die Spalten auf den Platz zu spähen und zu sehen, was mit mir sich begeben würde. Sie sahen, daß ich heil durch die Menge zur Kanzel kam, mit dem Bischof Zwiesprache hielt, wie mir geheißen ward, und ungefährdet wieder heimkehrte. Da erfaßten sie, daß es etwas Großes um unseren Meister sein müsse, und als ich in das Zimmer trat, gewahrte ich, wie sie meinen Herrn umringten und ihm Abbitte taten. Er aber hörte unbeirrt auf meine Botschaft, als seien er und ich allein im Haus. Als er mich vernommen hatte, lächelte er ein wenig und sprach zu mir: ›Kehr um, geh noch einmal zur Kanzel und sag dem Bischof: ‚Sei kein Narr und komm sogleich, denn es ruft und lädt dich der Mann Israel, der Sohn des Elieser.‘‹ Ich tat nach seinem Geheiß und schritt wieder zur Kanzel. Als ich auf den Platz trat, hatte der Bischof eben zu predigen begonnen. Ich stieg hinan und zog ihn ein wenig an seinem Mantel. Da hielt er inne und sah mich an, und ich wiederholte die Worte des Baalschem. Ich bemerkte, daß sich sein Angesicht bei meiner Rede verfärbte; dann wandte er sich zum Volk und sprach: ›Habt für eine kleine Weile Geduld. Ich werde zurückkehren.‹ Er folgte mir über den Platz durch die Menge in seinen gold- und blumengestickten Gewändern, die hohe goldene Mütze auf dem Haupt, und so trat er in das Haus und vor meinen Meister, den heiligen Baalschem. Sie gingen beide in ein besonderes Zimmer, verschlossen die Tür hinter sich und verharrten da an die zwei Stunden. Dann trat der Baalschem allein heraus. Er war hochaufgerichtet, in seinen Augen leuchtete die Herrlichkeit Gottes. Er befahl uns, Wagen und Pferde zu rüsten, und wir fuhren von dannen. Ich weiß nicht, was zwischen dem Bischof und unserm Meister sich ereignet hat. Auch den Namen der Stadt weiß ich bis heute nicht, denn der Baalschem hat ihn uns damals und später nicht kundgetan. Ich weiß nur, daß es ein Großes war, das der Heilige gewirkt hatte, als er aus jener verschlossenen Stube trat, denn er war anzusehn wie ein Cherub aus den Heerscharen. Nach seinem Tod habe ich versäumt, Nachfrage nach jener Begebenheit zu halten, denn ich hatte sie alsbald nach unserer Rückkehr völlig aus den Gedanken verloren, und heute erst, eben als ich dieses Haus verlassen hatte, entsann ich mich ihrer wieder.« Als Rabbi Schimon schwieg, stand der reiche Mann auf, streckte die Hände gegen oben und pries Gott. Dann sprach er zu Rabbi Schimon:

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»Mein Freund, gesegnet sei dein Kommen und gesegnet ein jedes deiner Worte. Ich weiß, daß die Wahrheit aus deinem Munde kam. Ich will dir kundtun, was von der Begebenheit dir dunkel bleiben mußte. Jener Bischof, den du gerufen hast, bin ich. Ich habe dich erkannt, sowie du mein Haus betratest. Einst war ich ein Jude, von der uralten Weisheit erfüllt, und eine geweihte Seele war mein eigen. Da gewann der fremde Geist Gewalt über mich, daß ich vom Glauben abfiel. Bald gewann ich hohes Ansehn unter den Anhängern meines neuen Bekenntnisses. Ich nahm die Weihen ihrer Kirche und stieg immer höher in den Würden, bis ich als Bischof alle Seelen des Landes beherrschte. Groß aber war mein Haß gegen mein einstiges Volk. Wohl kam in den Nächten, wenn meine Seele wehrlos war, die Scham des Abtrünnigen über mich. Tags jedoch, wenn ich gewappnet war, nahm ich Rache für die Unrast meiner Nächte und nährte alle Tücken in den Seelen meiner Gemeinde gegen die Kinder des Volkes, das ich verleugnet hatte. Es waren aber meine jüdischen Ahnen ein glaubensstolzes und ehrenhaftes Geschlecht gewesen, das ein großes Verdienst vor dem Herrn aufwies, und manch einer von ihnen hatte mit Blut den hohen Bund besiegelt. Der Frieden ihrer Ewigkeit war durch meine Missetat gestört. Sie suchten den Baalschem heim und baten ihn, daß er sich meiner verfallenen Seele erbarme. Da trat der Heilige in meine Träume und rang in ihnen mit dem bösen Geist, der mich besaß. Beide waren sie gewaltige Kämpfer, ich wurde zwischen ihnen hin und her gerissen wie ein armseliges Blatt im Sturm. An jenem Sabbat der Juden aber, der dem christlichen Osterfest voranging, war der Geist des Heiligen Tag und Nacht mir zur Seite. Schon hatte er meinen Willen gewonnen, und in der Nacht beschloß ich, am Morgen zu fliehen, alles zu lassen und zu dem Volk meiner Kindheit wiederzukehren. Aber mit dem Tag stieg der Zweifel in mir auf, und als die Glocken nach mir riefen, die Menge wartend die Kirche umgab und die Diener mir die goldenen Gewänder auf die Schultern legten, vermochte ich nicht mehr, all der Macht über den Menschensinn zu entsagen, und ich schritt hinan zur Kanzel. Da entsandte der Heilige dich, mich zu rufen. Ich aber wollte vorerst meine Predigt sprechen, denn an meinen eigenen Worten und am entflammten Gemüt derer, die mich umringten, gedachte ich meinen Willen zu stärken, um dann vor dem Meister in meinem Trotz bestehen zu können. Du riefst zum zweitenmal, da verließ mich aller Widerstand und ich folgte, wie ein Kind in der Dämmerung dem Ruf der Mutter nachgeht. Ich kam zum Meister, er rang um meine Seele und gewann sie. Er wies mir den Weg, wie ich von meiner Schuld erlöst werden könne, und ich wurde zum Büßer von dieser Stunde an. Vor dem König und vor allem

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Volk bekannte ich mein Verfehlen; dann zog ich aus dem Land. Ich kam hierher, verbrachte meine Jahre in der Läuterung meiner Seele und erwartete den göttlichen Losspruch. Denn wisse, der Erhabene hat mir verkündet: ›Wenn einst einer aus fernem Land vor dir erscheint und dir deine Geschichte erzählt, deute es als das Zeichen der Befreiung aus den Ketten deiner Taten.‹ Als du nun kamst und alles Geschehene deinem Gedanken entrückt war, verstand ich, daß dies um meinetwillen sei, weil ich das Meine noch nicht vollbracht hatte, und ich versenkte mich aufs neue in die Tiefe der Hingabe. Jetzt jedoch, da du dich entsonnen hast, weiß ich, daß mir geholfen ist. Du aber, mein Freund, wirst nun eine Stätte haben und nimmer flüchtig sein auf Erden; denn alles, was mein ist, will ich mit dir teilen, aus dessen Munde mir das Wort der Lösung kam.«

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Es war unter den vielen kinderlosen Ehefrauen, die mit Bitten um das Wunder zum Baalschem kamen, ein Weib, das regelmäßig in kurzen Zeitfristen wiederkehrte, um zu seinen Füßen zu weinen und ihm den Mangel ihres Lebens ans Herz zu binden. Sie erschien und verschwand ohne viele Worte, doch mit einem Brand in den Augen. Als der Baalschem sie zum erstenmal unter seinen Besuchern gesehen hatte, war sie ein liebliches, jugendfrisches Geschöpf gewesen. In den Jahren aber, da sie in ihrer eindringlich schweigsamen Art oftmals wiedergekehrt war, vergilbte ihr Antlitz und wurde so hager, als sei alles von dem großen Wunsch hinweggezehrt. Als sie einstmals wieder das schmale Haupt vor dem Meister beugte, die Augen von lautlos rieselnden Tränen benäßt, flehend mit dieser einzigen, ehrfürchtigen Gebärde, legte er seine Hand ihr über den Scheitel und hielt eine Weile nachsinnend inne. Dann atmete er tief auf, schaute auf sie nieder und sagte mild: »Geh heim, Weib, du wirst in Jahresfrist den Sohn gebären, auf den deine Seele hofft.« Während sieben Jahresläufe wurde sie nicht vom Meister gesehn. Danach fand er sie eines Tags wieder mit einem schönen Knaben an der Hand unter der Schar der Besucher. »Herr«, sprach sie, »sieh hier das Kind, das mir nach deinem Wort geboren wurde. Dir bringe ich es dar, denn wisse, ich zittre um sein Wesen, das nicht aus meinem geboren scheint, wie sein Leib aus meinem Leib.« Der Baalschem sah auf das Kind, und es war ihm, als hätte er niemals etwas so Anmutiges und Stolzes gesehen wie dieses kleine Wesen in seinem dürftigen Gewändchen. Auch der Knabe blickte auf, aber nicht scheu oder zutraulich nach Kinderart. Sehr ernst senkte er seine Augen in die des Meisters ein. Der Baalschem hob das Kind hoch auf seine Arme und fragte das Weib: »Wie kann dein Herz es verwinden, ihn von dir zu lassen, um den du all die Jahre deiner Jugend mit Gott gerungen hast?« Sie antwortete: »Herr, als der Knabe zum erstenmal seine Augen auftat und mich ansah, mit fremden Blicken wie von weither, zog mein armes Herz sich zusammen vor Verwunderung, als ob er nicht meines Blutes wäre. Mit seinem fernen Auge hat er alsdann, als er größer wurde, über unser kleines Haus hinweggesehn und ist mit uns gewesen wie ein Gast und nicht wie unser einer. Ob er auch still und gut war und mir wenig Nöte mit seines Leibes Bedürfen antat, Meister, so schuf er mir doch allzeit Sorge, denn es ist ein ewiges Zuwarten und Aufhorchen in seinem kleinen Gesicht. Da sank uns gar bald der Mut, dieses Kind aufzuziehn, denn uns dünkt, wer ihm

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Führer sein will, der muß weiter sehen als wir beiden armen Leute. Darum biete ich ihn dir.« Der Baalschem nickte schweigend und entließ die Frau, den Knaben aber nahm er unter sein Hausgesind auf und gewährte ihm, ihm nah heranzuwachsen. Der Knabe war so hoch im Stand der Gnade, daß er allen Staunen erregte, die ihn sahen. Als er herangewachsen war, hätten viele der Reichen ihn gern ihrem Haus zur Ehre geworben, indem sie ihn einer Tochter vermählten, und es schickte sich zuweilen, daß einer unter ihnen dem Meister davon redete. Der aber gab ihnen nur wenig Gehör und wehrte sie leichthin lächelnd ab. So gedieh in allen die Meinung, es sei dies darum, daß keine der Verbindungen ihm genug des Glanzes für den Pflegesohn verheiße. Daher gebot ihnen die Ehrfurcht vor dem Meister, ihren Wunsch zu vergessen. Eines Tags geschah, daß der Baalschem einen Vertrauten in eine entfernte Stadt gehen und dort einen Mann aufsuchen hieß, dessen Namen er ihm zu wissen tat. Diesem hieß er ihn ein Schreiben reichen, das er in seine Hände legte. Der Bote ging, wie ihm befohlen war, kam nach zweier Wochen Wanderschaft in den genannten Ort und forschte in den Häusern der Frommen nach dem Mann. Allein es zeigte sich, daß keine Seele den Namen kannte. Tag um Tag verging, und nichts wurde dem Suchenden kund, so daß sein Mut schon sank. Eines Abends begegnete er einem ältlichen, gebückten und ärmlichen Juden, der einen Korb frischer Gartenfrüchte feilbot. Als er ihn von ungefähr nach seinem Namen fragte, ergab es sich, daß er es sein mußte, dem das Schreiben des Baalschem bestimmt war. Da der Bote dies erkannt hatte, reichte er ihm den Brief, obgleich es ihm sonderbar erschien, daß der Heilige diesem geringen und töricht aussehenden Mann Wichtiges mitzuteilen hätte. Der Händler jedoch war des Lesens keineswegs kundig, und so öffnete der Bote den Brief und las ihn ihm vor. Da war geschrieben, daß der Meister für seinen Pflegesohn des armen Mannes drittgeborene Tochter zum Weibe heische – es war ihr Name und Alter genannt. Sodann erklärte der Baalschem, er sei willens, die Aussteuer und Hochzeit aus seinem Gute zu besorgen. Auch wolle er dem Vater fürder Beistand tun, falls es ihm in irgendeinem Belang mangle. »Bist du’s also zufrieden?« fragte der Bote den Alten. »Ach, Herr«, sagte der und lachte über sein ganzes vergrämtes Gesicht, »wie sollt’ ich es wohl zustande bringen, da unzufrieden zu sein? Hab’ ich nicht das Haus voller Töchter, die barfuß laufen und sich um den raren Bissen untereinander balgen? Dies Kind aber, das der Erhabene seinem Knaben zum Weibe begehrt, ist viel zu vornehm für meine Armut, geht und tut ihr Tagewerk, als ob sie im Traum wandle, und setzt ihre Rede, daß ich alter Einfältiger kaum weiß, was sie da sagt.«

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Des nächsten Tags brachen sie auf, zum Baalschem zu ziehen, der Bote und der alte Jude mit seinem Kind. Als sie im Haus des Meisters angelangt waren, nahm er den Vater mit seiner Tochter liebreich auf und tat ihnen viel Güte an, daß sie in Heiterkeit auferstanden wie die Pflanzen am Morgenlicht. Alsbald bereitete sich das Haus zur Hochzeit. Das Segensgeleit sprach der Baalschem selbst über die jungen Leute. Als das Mahl seinem Ende zuging und alle, die um die blanken Tafeln saßen, freudigen und feierlichen Herzens waren, begann der Heilige, fast wie achtlos, nur zum Nächsten gewendet, und erzählte mit leiser Stimme eine Geschichte. An seinen Mienen jedoch erriet ein jeder, daß dieses Ding, von dem er zu reden anhob, aus der Urquelle seines Schauens kam und an den Sinn dieses heiligen Tages rührte. So wurden sie aufhorchend stumm und unterließen jegliche Hantierung, Antlitz und Wesen dem Meister zugewandt. Das Brautpaar aber faßte sich an den Händen und lauschte. Die Geschichte lautete also: »Es herrschte einst ein weitgebietender König in einem fernen Land, der war viele Jahre sehr traurig, denn seine Gemahlin hatte ihm kein Kind geboren. Einst sprach er von dieser Verdüsterung seines Lebens mit einem Magier. Der hörte ihm wägend zu, lächelte geheimnisvoll und redete alsdann: ›Mein Herr, es liegt ein jegliches Ding daran, daß wir die Oberen zwingen mit heftigem Ansturm der wünschenden Seele. Es mag aber sein, daß deine Schwermut dich ermattet hat. So harre ein kleines, ich will dir Helfer schaffen im Rufen. Folge nur meinem Rat und lasse noch heut im Lande wissen, daß du es verhängst über das Volk der Juden, das unter deinem eingeborenen Volke haust, es möge so lange verurteilt sein, seines Glaubens und seiner Sitten nimmer zu pflegen, bis der Himmel dir den Sohn und Erben deiner glorreichen Herrschaft gewährt.‹ Obzwar der König nicht begriff, wie all dies mit einem Erben seines Blutes, den er gewinnen sollte, zusammenhing, willigte er in den Vorschlag und ließ die Kunde rings in allen seinen Landen verbreiten. Da erschrak jedes jüdische Herz. Weil die Juden aber ihrem Glauben ergeben waren, ließen sie nicht von ihm, sondern dienten ihm mit gleicher Treue wie ehedem, in dunklen Nächten und in heimlichen Verliesen. So kam es, daß die Seelen, die des Tags in den Krallen jenes bitterbösen Tiers, das Angst heißt, gefangen lagen, nächtens, wenn ihnen niemand ihren Gott wehrte, ihre vereinten Bitten emporsandten, der Herr möge dem König das Kind gewähren, das sie aus knechtischer Schande befreie. So inbrünstig war ihre Ausdauer, daß die Himmel von dem Andrang erregt wurden und die heiligen Seelen, die in der Freude Gottes bestehen, wieder miterzitterten in dem großen irdischen Jammerruf. Aber der Sinn des

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Höchsten blieb unberührt. Da wurde eine der verklärten Seelen so sehr vom Gefühl des Mitleidens ergriffen, daß sie vor dem Thron des Ewigen erschien und bat: ›Lasse mich wiederkehren zur Erde, von der du mich erhoben hast, auf daß ich, dem König zum Sohn geboren, das Judenvolk freimache.‹ Der Herr gewährte es. Dem König wurde der Sohn geboren. Allein in seinem Glück vergaß der König die Juden; er unterließ es, ihre Not seinem Wort gemäß zu beenden, und es war keiner im Land, der bei ihm Mittler geworden wäre. Das Kind aber war schön von Angesicht und liebreizend in seiner Seele und von frühen Jahren an dem sinnenden Ernst und der Weisheit zugeneigt. Es wies sich späterhin, als es zum Jüngling wurde, daß an seinem hellen Geist die Lehren seiner Erzieher wesenlos verblaßten. Der König war ratlos, wen er seinem Sohn zum Führer bestelle. In jener Zeit aber war in der Königsstadt viel Aufhebens um einen alten Fremdling, der vor kurzem erst hergekommen und von dessen Herkunft wohl viel des Vermutens, aber keine sichere Kunde war. Obzwar der greise Mann keinen suchte und Markt und Gassen mied, erzählte man sich doch vieles von seinem Wissen und der Macht seiner Seele, die ihn, wo die Not es heischte, zum Berater und Helfer werden ließen. Auch sprach man von den eigenartigen Gepflogenheiten seines Lebens. Das Volk wähnte ihn höheren Gewalten verbunden. Dem König wurde davon geredet, bis er den geheimnisreichen Mann vor sich rufen ließ und von ihm verlangte, daß er bei ihm wohne und den Königssohn erziehe. Der Weise stimmte zu, wenn ihm eine Bedingung erfüllt würde. ›Gebiete‹, sprach er, ›daß in mein Gemach, in Stunden, die ich allein zu verbringen begehre, keiner eindringe, weder mit Gewalt noch mit List!‹ Das gelobte der König und erlegte es allem Hausgesind wie dem eigenen Sohn auf, den Wunsch des Weisen zu achten. Der Königssohn gewann eine starke Liebe zu dem Alten und war ihm mehr zugetan als seinem Vater. Nur daß der Lehrer ihm zu Zeiten gebot, ihn zu verlassen, schmerzte ihn, und nach Art der Jugend setzte er dem Manne mit Schmeicheln und Bitten zu, er möge ihn in jenen geheimen Augenblicken um sich dulden, ohne daß ihm jemals Gewährung ward. Da verbarg er sich eines Tags in einem Winkel des Gemachs, hinter einer Tür, die auf einen Söller führte, und harrte mit pochenden Pulsen. Als der Meister den Raum verriegelt hatte und nach einer Weile alles still wurde, trat der Königssohn heraus und fand seinen Lehrer vor einem Pult stehend über einem alten Buch, bekleidet mit dem Gebetmantel und mit den Gebetriemen gekrönt. Der Alte sah ihm schweigend und bekümmert ins Angesicht. Da wurde dem Jüngling weh, und er sprach: ›Ich habe Euch mitnichten betrüben wollen, da ich Euch im Grunde mei-

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ner Seele getreu bin. Würdigt mich Eures Vertrauens und sagt mir, was dies seltsame Gebaren bedeutet, das ich an Euch wahrnehme.‹ Der Alte erzählte, daß er, von Geburt ein Jude, durch das Gebot des Königs seines Glaubens verwiesen und zur Heimlichkeit verurteilt sei. Der Jüngling wurde begierig, etwas von den Gesetzen und dem Wesen dieses Glaubens zu erfahren. Der Lehrer tat ihm den Willen. Alsbald gewann der Königssohn eine Neigung zu den heiligen Schriften, und jener unterwies ihn nun insgeheim Tag um Tag in großem Eifer. Das alte wundermächtige Leben, das aus den ehrwürdigen Zeichen aufstieg, überkam den Knaben, und er fühlte, daß er offen erwählen und bekennen müsse. Als er es seinem Lehrer aussprach, riet ihm der, er möge Stand und Ehren von sich werfen und mit ihm in ein fernes Land fliehen, wo sie unangefochten der Lehre leben wollten. So war es der Jüngling zufrieden. Sie kamen in ein Land, wo das Judenvolk in Frieden seines Glaubens pflegen konnte. Mehrere Jahre lebten sie hier in Abgeschiedenheit. Der Jüngling wurde ein Großer in der Erkenntnis. Darnach fügte es sich, daß ein Zaddik in jene Stadt kam, wo die Juden ihn mit Ehren empfingen. Auch der Königssohn und sein Lehrer eilten herbei, ihn zu grüßen. Der Jüngling gewann durch seine edle Führung das Wohlgefallen des Zaddiks so sehr, daß er ihm seine einzige Tochter zur Ehe anbot. Als der Königssohn die Hochzeit beging, sprach er zu dem jungen Weibe: ›Ich habe an diesem Tag eine Bitte an dich. Zuweilen geschieht in Augenblicken der Erhebung, daß mein Leib wie leblos darniederliegt und einem Toten gleichsieht. Dann, darum bitte ich, rufe nicht Zeugen herbei, daß sie mich etwa beleben, sondern erwarte gelassen die Zeit, da meine Seele freiwillig in den Bereich des körperlichen Lebens zurückkehrt.‹ Das Weib, das so holden als tapfern Gemütes war, versprach dies wohl zu achten und tat es auch hinfort, sowie die Umstände es geboten. Sie war dem Mann eine sanftmütige und glückliche Gesellin, und die beiden verweilten all ihre Zeit in liebreicher Gemeinschaft. Da ereignete es sich, daß der Gatte in eine ungewöhnlich tiefe Verzückung verfiel, in der sein Leib wahrlich totengleich verblieb. Die junge Frau ertrug den Anblick anfangs gefaßten Muts, alsdann aber, als die übliche Spanne Zeit verstrichen war, überkam sie eine betäubende Angst. Sie wollte Menschen herbeirufen, entsann sich aber sogleich des Verbots und sank still an der Seite des Leblosen nieder. Nach langen Stunden zeigten sich an dem Körper des Entrückten die ersten Spuren des wiederkehrenden Lebens. Er richtete sich auf und kam langsam zur völligen Besinnung. Die Frau wollte ihn freudig grüßen, allein er erwiderte wehmütig ihre Worte, und es war ihr, als ob sein Blick mit einem verhaltenen Mitleiden auf ihr ruhe. Den ganzen Tag blieb er in sich gekehrt und versonnen. Des Abends

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fragte ihn die Frau mit liebevollem Drängen, was ihm das Herz belaste, er möge ihr nichts verschweigen. Da antwortete er ihr: ›Wisse, mein Weib, daß mir heut, als ich in den ewigen Höhen weilte, eine schwere Kunde geworden ist. Um meiner Geburt willen und um der frühen Jahre meines Lebens, die ich in Gepränge und eitler Weltlichkeit am Königshof gehalten wurde, ist mir ein höherer Aufstieg der Seele verwehrt, es sei denn, daß ich den Tod ergreife und dann wiedergeboren werde von einem armen, reinen und demütigen Weib. Darum bitte ich dich, mein Liebling und mein Gemahl, daß du eines Sinnes mit mir seist und mir gewährest, ohne Verzug dahinzugehen.‹ Die Frau sprach: ›Ich bin es zufrieden, wenn du mich mit dir sterben läßt und wenn ich mit deiner Seele wiederum zur Erde kehren und in deinem verjüngten Leben aufs neue dir als Weib vereint werden darf.‹ Sie legten sich selbander zum Todesschlaf und gingen im gleichen Atemzug vereint dahin. Es verstrich hier unten ein Zeitmaß, indessen ihre Seelen in jenes Dunkel tauchten, da man die Dauer nimmer mißt, und dann kehrten sie wieder. Der Mann wurde von einer Demütigen geboren, und das Weib trat in einer dürftigen Hütte wieder ins irdische Licht. Beider Kindheit und die Jahre ihrer Jugend waren ein langes, ungewußtes Suchen nach dem Unbekannten, das ihnen im Grunde des Herzens schlief. Sie sahen über das Leben und ihre Nahen hinaus mit fremden Augen, jedes dem Gemahl seiner Seele entgegen. Und ihr, Freunde, ihr alle sollt wissen, daß sie einander gefunden haben und daß sie hier, Bräutigam und Braut, vereint unter euch sitzen.« Als der Baalschem schwieg, lag über allen Stirnen ein Leuchten.

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In einer Stadt unfern der Stadt des Baalschem lebte ein reicher Mann, der zu den seltenen Zeiten seiner Selbsteinkehr dem Dienste Gottes hold war, gemeinhin aber dem bunten Treiben der Welt sich ergab. Er hatte wohl oft von dem Heiligen gehört und wußte, daß alle Frommen ihn heimsuchten, doch mied er ihn, sei es, daß er eine Scheu vor ihm hegte, sei es, daß er, von der Last jeglichen Tags beladen, keinen Drang nach dem Frieden des Meisters verspürte. Der Baalschem aber wußte, wie um das Leben aller Kreatur, auch um das seine und liebte ihn heimlich aus der Ferne. Denn der sorglose Mann war im Grund seines lärmenden Wesens von einer triebhaften Güte. Bisweilen vom Begehren nach der Lustbarkeit überwuchert oder vom jäh aufwallenden Zorn verdunkelt, brach sie doch immer wieder kräftig hervor und gewährte vielen Armen und Bedrängten ein bescheidenes Genügen im Schatten seines breiten Daseins. An einem stillen Tag der Selbstbesinnung fand er, daß er etwas für die Ehre Gottes tun müsse, und beschloß, eine Tora schreiben zu lassen. Als die Ruhe aus seinem Herzen verflogen war, begann er die Ausführung auf seine Art mit vielem Prunk und Glanz. Ein berühmter Toraschreiber wurde berufen. Dann ließ der Reiche die auserlesensten Tiere schlachten, verteilte ihr Fleisch unter die Armen, hieß die Häute zu Pergament verarbeiten und auf sie die heiligen Bücher schreiben. Das Werk zog sich lange Zeit hin und war vollendet das Staunen und die Rede der Stadt. Der Besitzer hatte ihm eine kostbare Lade und eine Hülle aus edlem Stoff mit Zieraten aus Metall und Steinen machen lassen. Als alles fertig dastand, gab er der Stadt ein Fest. Weder die Armen noch die Mißgünstigen schloß er aus, sondern nahm alle zum Mahl auf. Es währte schon drei Tage, daß sein Haus sich zu jeder Stunde aufs neue mit Menschen füllte, die sich an die langen Tische setzten und aßen und tranken; seine Diener hatten all die Nächte sich des Schlafs erwehren müssen. Unter ihnen war einer, ein redlicher Mann, der Psalmensager zubenannt, weil die heiligen Gesänge nicht aus seinem Munde wichen; er gesellte sie aller Arbeit, die er tat, und sagte sie nicht wie ein Buch der Schrift, sondern wie die Klage eines Menschen, der leidet und Gottes Ohr an seinem Munde weiß. Der Reiche kam oft leis herbei und hörte ihm zu, und sein Herz sang mit dem Singenden. Es war ihm, als lebe in dem Lied des Mannes die Stille, die ihn selber so selten heimsuchte, und wie um ihr zu gehorchen ehrte er ihn und hielt ihn niemals zu harter Arbeit. In den Tagen des Festes hatte der Psalmensager gleich den andern Knechten unablässig bei Tische aufwarten und den Gästen dienen müssen, doch hatte

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ihn der Hausvater den Besuchern zugeteilt, die er vor allen wert hielt und in seiner eigenen Stube bewirtete. Da begab es sich am Abend des dritten Tags, daß die Gäste das Handwasser zum Segen der Waschung vor der Mahlzeit begehrten; sie riefen nach dem Diener, aber man vermochte ihn nirgends zu finden. Da ging der Herr selbst im Haus umher, ihn zu suchen, und betraf ihn nach einer Weile in einer der Bodenkammern in seinen Kleidern auf einem Bette schlummernd. Er rief ihn an, aber der andre war tief im Schlaf befangen und gab nicht Rede noch Antwort. Da stieg dem Herrn der Grimm auf, er zog den Liegenden an den Schultern hoch und schrie ihn an: »Geh zum schwarzen Jahr, du Psalmensager!« Der Diener sah dem reichen Mann mit strengen Augen ins Gesicht. Dann sprach er: »Herr, Ihr wähnet schlecht, wenn Ihr glaubt, es sei da keiner, dem armen Psalmensager sein Recht zu schaffen.« Der Herr aber achtete seiner Worte nicht und begab sich wieder zu seinen Gästen. Als er ein geringes später vom Saal auf den Flur des Hauses ging, um Neuangekommene zu begrüßen, trat eben ein fremder Mann zum Tor herein, wie ein Diener gewandet, der sprach ihn an und sagte: »Herr, mein Gebieter hat ein Ding mit Euch zu bereden, das ist von Wichtigkeit und darf keinen Aufschub leiden. Darum bittet er Euch, da ihn einiges abhält, zu Euch zu kommen, Ihr möget die kleine Mühe nicht scheuen, in den Wagen zu steigen, der vor Eurer Tür steht. Der Weg ist kurz und die Pferde schnell, Eurer Zeit wird geringe Einbuße geschehn.« Der reiche Mann wunderte sich ob des fremden Dieners und der sonderbaren Sache, aber etwas lähmte sein Bedenken, verbot ihm die Frage und drängte ihn vorwärts. Im leichten Hausgewand stieg er in den Wagen, und das Gefährt bewegte sich eilends von hinnen. Der Mond schob sich wächsern den Himmel herauf, groß wie noch nie erlebt. Nach einer Weile, die dem Mann nicht kurz noch lang schien, bemerkte er, daß der Hufschlag der Pferde verstummt war und der Wagen dennoch weiterraste. Es war kein Weg mehr, und Rechts und Links war nimmer, keine Luft um ihn, und nichts, dessen sein Erkennen sich hätte bemächtigen können. In ihm war alles in ein Staunen gelöst, ohne Erwartung oder Furcht. Er fühlte, er hatte den Schritt hinüber getan, und was gegolten hatte, galt nun nicht mehr. Da hielt der Wagen an. Er folgte einem Zwang, der so unfaßbar als bestimmt war, und stieg aus. Hinter sich blickend, gewahrte er, daß der Wagen, dessen Tritt sein Fuß noch eben berührt hatte, verschwunden war. Er stand in einem hochstämmigen Wald, dessen Bäume wie ragende Säulen aufschossen, schlank und glatt; die Kronen aber sah er nicht, weil sie zu hoch sich wölben mochten und weil ein milchweißer Nebel zwischen den Stämmen war, der ihm die Sicht benahm. Unter seinen Füßen

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war klirrender Frost. Ihn fror mit schneidendem Schmerz an allen Gliedern. Es zwang ihn vorwärts. Er ging und ging, und es schien ihm, als ob in dem milchigen Dunst, der statt einer Luft war, Gesichter auftauchten, ein Wallen und Bewegen von Gestalten, nicht dichter als dieser Nebel selbst und in ihn verschmolzen. Er wanderte durch all dies hin, und sein Gehen war ohne Maß und Vergleich wie vordem seine Fahrt, bis vor ihm in der Weite ein Licht aufstand, das, den Dunst durchstrahlend, ihn nach einem Ziel leitete. Dieses wies sich als ein Haus, verschleiert vom Nebel, und die Lichtquelle war die Tür, die offenstand und jene klare Helle ausströmen ließ. Er trat heran, ging hinein. Sowie er über die Schwelle schritt, klärte sich der Nebel zu einer kristallnen Luft. Er sah in eine Stube, deren Dekke aus starken Balken war und altersbraun, aber Wand und Boden waren frisch und schimmernd weiß. Die Stube war von einer süßheimlichen Wärme erfüllt. Sieben hohe Lichte brannten festlich in einem Ständer auf dem mächtigen Tisch und flammten starken Duft aus. An den Wänden standen Stühle mit aufstrebenden Lehnen, alte dunkle Stühle, aber umfangend und gebieterisch fast wie Throne. Sonst gewahrte der Eingetretene nichts als einen ungeheuren grünen schimmernden Ofen, der eine Ecke des Raums füllte. Bang und wie traumbefangen trat er näher, wagte nicht Tisch noch Stuhl zu berühren, sondern barg sich hinter dem Ofen, zu warten, wer da käme. So saß er, und die gläserne Luft sang seltsam in seinen Ohren. Alsdann traten drei in die Stube, je einer in kurzer Frist nach dem andern, und waren uralte Männer, gebeugt und dennoch so hoch, daß ihr Haupt an die Balken der Decke zu rühren schien. Haar und Bart wallten eisgrau, und es war, als habe die Zeit sich in ihren Wellen verflochten. Hinter dem Schatten der weißen Wimpern barg das Auge Sonne und Blitz. Das Gewand der drei war schlicht, Leinen und Fell. Sie grüßten einander mit großem, sanftem Grüßen mit der Erzväter Namen, ließen sich in die Stühle nieder und ruhten stumm wie nach langer Wanderung. Indes sie saßen, trat ein vierter ein, der war nicht so alt und nicht so groß, doch mit des Herrschers Gewand und Gebärden angetan. Er neigte sich, wie ein Enkel sich ehrfürchtig dem Ahnen neigt, und sie grüßten ihn mit Davids, des Königs, Namen. Nun erhob er seine Stimme, und die Lichte schienen versprühen zu wollen, als er sagte: »Einen Rechtsstreit, o Väter, habe ich wider den Mann, der hinter dem Ofen sitzt.« Dem Verborgnen rissen die Worte die Brust auf, und seines eignen Herzens Schläge empörten sich wider ihn. Die Väter aber hoben die Häupter, zu lauschen. Der König sprach: »Der sich hier verborgen hält, hat um Nichtiges mit der Verwünschung seines Mundes über einen wehrlosen Knecht die letz-

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ten Greuel geschleudert. Und dieweil dieser Knecht mein Diener ist und auf seinem Mund mein Lied nie erstirbt, bin ich zu seiner Hut aufgestanden und heische hier sein Recht und daß der es beugte des Todes sei um seines Frevels willen.« Dem Reichen in seinem Versteck war, als ob sein Blutkreis allbereits stocke über dem Königswort. Er hob das Auge, daß es ihm den letzten Blick gönne. Da sah er jenseits des Tisches einen Mann stehen und erkannte ihn als einen, dem er im Leben zuweilen begegnet war und den sie den Wundertäter und den Meister des Namens genannt hatten. Der Mann stand dem König aufs Haar gegenüber, er trug das Haupt hoch, und in seinen Augen war ein Feuer. Er fing des Königs letztes Wort auf, da es noch die Luft schnitt, erhob seine Stimme gegen ihn und sprach, indes die Väter mit stummem Haupteswenden groß und vertraut zu ihm hinüberschauten: »Bruder David, kommst von den Himmeln, und ist mir doch, als säßest du noch auf deinem Thron zu Jerusalem! Willst ein Böses mit Böserem tilgen, willst ein geringes Weh mit unleidlichem Weh stillen, willst ohnmächtige Rache reinigen mit zündender Rache?« Da antwortete ihm der König: »Du spotte mir nicht, Bruder! Ich bin nicht um Rache gierig, es ist um die Gerechtigkeit! Oder ist dies deine Meinung, daß der treue Knecht getreten werde und sein Peiniger stolz und straflos verharre?« Aber die Stimme des Baalschem erhob sich wie eines Erzengels Stimme, die die Ewigkeit geschmiedet hat. Er sprach: »Bruder und König, es ist ein Fremdling bei mir zu Gast, und hat des jungen Hirten weiß-rotes Angesicht und blanke Augen, und lasten gleichwohl Binde und Reif auf seiner Stirn, die ohne Schatten ist – König, eines Königs Seele ist in mir. Sie gesellte sich zu meinem eignen, als ich ins Leben eingetreten war. Und in Stunden der Nacht, wisse, redet sie, geschmiegt an meines Ohres Wurzel, und ist ganz scheu und ist mir ganz vertraut. Und redet aus Urtiefen: ›Ich bin bei ihm gestanden, als er zum Getreuen sprach: ‚Geh hinab zu deinem Haus‘, und habe vernommen, als er am andern Tag zu ihm sprach: ‚Warum bist du nicht zu deinem Haus hinabgegangen?‘, und war mit ihm am Tag, der nach diesem kam, als er den Brief schrieb: ‚Stellet ihn dem harten Kampf gegenüber und kehrt euch hinter ihm ab, daß er erschlagen werde und sterbe!‘‹ Zu dieser Stunde habe ich mich von ihm gehoben mit Blut und Schmerzen, und ich bin wund von der Stunde an.« Da hob David die Stirn unter dem Reif, Stirn und Krone glänzten, und er sprach, ein tiefer Strom lief unter seiner Stimme hin: »Ich bin in des Ungeheuers Rachen zutiefst getaucht und bin ans Licht gestiegen, meines Mantels Saum war schwarz und klebte von geronnenem Blut, und ich

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habe mein Lied mit mir heraufgetragen. Denn mein Lied ist mir geboren aus Sünde und Befleckung, und weckte mir eine neue Seele, und ist aufgestiegen, und Friede war zwischen Gott und mir.« Nach diesen Worten des Königs geschah es, daß das Antlitz des Baalschem sich wandelte. Heimlichkeiten und Klarheiten glitten darüber, und es war zu schauen, wie wenn das Firmament seine Landschaft mählich entschleiert und hinter den Wolken öffnet sich der leuchtende Plan. Alsdann redete der Baalschem, und auch seine Stimme war gewandelt: »Dein Lied ist die diamantene Brücke, die hinaufführt aus dem Kessel der Verworfenheit an Gottes Herz. Wenn es in einer Nacht aus der Brust des Unholds aufstöhnt, ist es ein Engel und trägt ihn über die Sphären und bettet ihn in Gottes Schoß. Als dein Lied mich an der Hand nahm, vergaß ich die Gerechtigkeit, und als es mir zulächelte, entschwand mir aller Gegensatz.« Da beugte der König sein Haupt vor dem Meister, und aus dem Zeitlosen rauschte eine große Bewegung empor, wie wenn ein Geheimnis sich erfüllt und untergeht. Dem Mann hinter dem Ofen fuhr ein weißer Strahl über die Augen. Er stand in seinem Haus und hielt die Klinke seiner Stubentür. Da waren die Gäste und wuschen ihre Hände vor der Abendmahlzeit.

Der verstörte Sabbat Wie in jeder Woche fuhr der Baalschem damals bei Sabbatausgang aus der Stadt, und mit ihm waren die drei seiner Schüler, die die drei Davide genannt wurden, nämlich Rabbi David von Mikolajew, Rabbi David Firkes und Rabbi David Leikes, und der Diener Aleksa, der die Pferde lenkte. Gemeiniglich war es so, daß der Meister Richtung und Schnelligkeit der Fahrt ohne alle Rede mit seinem Willen bestimmte, und der Diener Aleksa mochte den Pferden seinen Rücken zuwenden, sie brachten den Wagen zur gewünschten Zeit an die gewünschte Stelle. Diesmal aber fühlte der Baalschem, wie sein Wille ohnmächtig war dem starken Zug der Tiere gegenüber, und er sah, wie sie den Wagen einem unbekannten Ziel zuführten und keinen Befehl des erschrockenen Kutschers annahmen. Da wollte er umkehren, rief es laut und faßte selbst die Zügel, aber er hatte keine Macht über die Pferde, und sie liefen, dem Geheiß seiner Hand zuwider, in scharfem Trab weiter, wohin der unsichtbare Zwang sie trieb. So kamen sie an eine Wildnis, zogen den Wagen hinein, bis ringsum kein Pfad und kein Ausblick war, und irrten nun in knappem, gleichmäßigem Schritt in der Wildnis umher. Dies währte drei Tage, und der Baalschem trug es als eine Schickung, gegen die keine Menschenseele zu murren wagen kann, aber die Schüler saßen betäubt und elend da, und der Diener Aleksa gebärdete sich wie toll, als ob er noch nie mit seinem Herrn Wunderliches erfahren hätte. Nach den drei Tagen jedoch kam ein neuer Trieb in die Pferde, sie rannten aus der Wildnis in einen darangrenzenden Wald und zerrten den Wagen in das tiefe Dikkicht. Da blieben sie stehn und wieherten behaglich, als wären sie in den Stall zurückgekehrt und hätten das schönste Futter vor sich. Die im Wagen aber konnten nicht mehr zwischen Tag und Nacht scheiden. Sie nährten sich kümmerlich von den geringen Vorräten, die sie mitgenommen hatten, und kein Schlaf kam über sie, so überstark hielt die Bangigkeit ihre Herzen umfangen. Stunden vergingen und wieder Stunden. Aber eine kam, da erkannte der Baalschem an der siebenfachen Traurigkeit, die in seine Sinne drang, daß der Vortag des Sabbats herangebrochen war, und er wußte nicht, wie er mit seinen Schülern den hohen Tag empfangen und ehren könnte. In der tiefen Not spürte er eine trostlose Ermüdung sich über seine Glieder hinziehn und verfiel endlich in einen stumpfen Schlaf. Jetzt kam eine Hoffnung in die Seele der Schüler, denn sie wußten, wie ihm, was im Wachen düster und verworren erschien, sich klärte, wenn er mit geschloßnen Außensinnen lag. Doch der Baalschem erwachte in einer ruhelosen Weise, und die Starrheit, die

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auf ihm lag, war fast zur Lähmung gewachsen. Da aber reckte er sich auf, hob den Arm und deutete mit zitterndem Finger in die Ferne. Ein Lichtschein wies sich ihnen hinter dem dichten Gestrüpp. So ließen sie den Wagen und gingen mühevoll dem steigenden Licht zu. Bald stand die Sonne über ihren Häuptern, und sie sprachen: »Gesegnet sei der Herr, und gesegnet sei sein Name!« In der Ferne sahen sie ein kleines Haus, das lag wie ein matter, grauer Fleck inmitten der Waldlichtung. Sie gingen auf das Haus zu. Vor der Tür stand ein riesenhafter, stiernackiger Mann, gekleidet nach der Art jener Leichtfertigen, die die gute Sitte der Väter verachten, mit rotgelbem, struppigem Haar und ungeschlachten, bloßen Füßen; auch waren die gebotenen Schaufäden an seinem Gewand nicht zu sehn. Er stemmte die Fäuste in die Seiten, starrte die Herankommenden höhnisch an und schwieg. Sie verneigten sich vor ihm und fragten: »Ist es gewährt, daß wir den heiligen Sabbat in Eurem Hause feiern?« Da brüllte er sie an: »Ich will euch nicht und leide es nicht, daß ihr über meine Schwelle tretet. Kenne ich euch nicht? Euer Gesicht redet von euch. Chassidim seid ihr, tragt eure Frömmigkeit zu Markt und predigt auf den Gassen. Geht, mein Nacken ist Erz gegen eure eitlen Worte. Ich hasse euch, euch alle hasse ich von gestern und ehgestern und von je her. Mein Vater hat euch gehaßt und mein Großvater, meinem ganzen Haus seid ihr verhaßt. Darum geht eilend von hinnen, denn ich will euer Gesicht nicht mehr sehn.« Sie aber trugen seine Worte in Schweigen und baten nur: »So sagt uns, ob es in der Nähe andre Wohnstätten gibt, dahin wir uns wenden könnten, um den heiligen Sabbat zu feiern.« Der Mann lachte grimmig und rief: »Wieviel Zeit ihr gebraucht habt, um hierherzukommen, soviel Zeit und mehr braucht ihr, bis ihr an einen andern Menschenort kommt.« Als er dies gesagt hatte und in der gleichen Weise weiter und weiter lachte, als könne er nimmer aufhören, wollte ihnen der neue Mut wieder entschwinden. Aber Rabbi David Firkes, der jüngste der Davide, der sonst nie ein Wort sagte, sondern in der Schar der Schüler schweigsam und versonnen zu sitzen pflegte, trat hervor und sprach zu dem Mann, leis und friedfertig: »Es mag sein, daß dieses und jenes in deinem Sinn wider uns redet. Aber ist es wirklich so, daß du uns in die Wildnis hinausstoßen willst? Sieh, der Sabbat ist dein und unser Heiligtum, und wenn wir uns in ihm ergehen, müssen wir irgendwo und irgendwann auch deinen Schritten begegnen. Willst du den Sabbat der Zukunft verderben? Sieh, der Herr ist dein und unser Gott, und wenn du deinem Rasen gebietest, wirst du es verspüren, wie er in diesem Augenblick dich anschaut.« Da war der Mann still und sah von einem zum andern, ohne zu sprechen. Aber Rabbi David von Mikolajew, der älteste der Davide, der sich wohlbewandert vermeinte in

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dem Treiben des Menschengemüts und auf den Wegen der heimlichen Menschenabsicht, sprach: »Bedenke auch, daß wir kein Geschenk begehren. Vielmehr wollen wir dir zahlen, wieviel du auch fordern magst, und sei es das Zehnfache dessen, was allerorten üblich ist.« Der Mann sah mit verächtlichem Lächeln über ihn hinweg, wandte sich zu dem Jüngsten und sagte in unwirschem Ton: »So sei es. Aber glaubt nicht, daß ihr in mein Haus euren Sabbat bringen dürft. Hier herrscht mein Brauch und mein Gesetz allein. Daher merkt auf, was ich über euch verfüge. Fürs erste weiß ich wohl, ihr bringt viel Zeit damit zu, euch zum Gebet zu bereiten, achtet nicht, wie weit es im Tag ist, und wartet, daß die Gnade euch erfasse. Aber hier gilt das Dasitzen und Ausschauen nicht, ich bete ab, was zu beten ist, und dann gehe ich ans Essen, denn ich bedarf vieler Speise und muß oft und schnell meinem Hunger Genüge tun. Fürs zweite kenne ich eure Art, zu beten, wie ihr schreit und tobt und einer lauter als der andere zu Gott reden will. Aber hier ist kein Raum für den Lärm eurer Verzückungen, und ich werde mich von euch nicht belästigen lassen. Fürs dritte liebt ihr es, an dem Mahl zu mäkeln und wie rechte Narren des langen zu erwägen, ob dies und jenes für euch Chassidim rein sei; das soll euch hier nicht beifallen.« Solch Verkennen und Entstellen der heiligen Sitten und das Verbot, sie zu üben, waren dem Baalschem und den Seinen hart, aber sie hatten keinen Weg vor sich als diesen, und so versprachen sie, alles zu befolgen. Da hieß er sie eintreten. Sie kamen in eine enge und kahle Stube. Als sie sich eine Weile auf den Boden ausgestreckt und von der schwersten Müdigkeit erholt hatten, fragte der Baalschem, ob in der Nähe sich ein Bach oder ein Wasserbehälter befinde, wo sie zu Ehren des Sabbats ein Tauchbad nehmen könnten. Nun geriet jener von neuem in Wut und rief: »Habe ich es mir doch gleich gedacht, daß ihr ein elendes Diebsgesindel seid! Ihr wollt nur erspähen, wo ich mein Gut verwahre. Ich nehme eure Siebensachen und werfe sie hinaus und euch dazu!« Da mußten sie lange flehen und Versöhnung erbitten, bis er sich wieder geneigt zeigte, sie bei sich zu behalten. Der Baalschem und die Seinen saßen nun da, sahen dem Mann zu, der in der Stube aus- und einging, und verwunderten sich über ihn, denn sie hatten noch nie einen Menschen gesehen, der so plump, roh und unsauber war wie dieser. Auch in der Stube waren Boden und Wände besudelt, und weder Tisch noch Bank standen da, sondern vier Pfahle waren in die Diele eingerammt, und darauf lag ein ungehobeltes Brett. Bald bemerkten sie, daß dies der einzige Wohnraum war, denn wohl gab es andere Stuben im Haus, aber sie waren alle verschlossen, und die Türen waren grau vor Staub, als ob sie nie geöffnet würden. Auch war nirgends ein lebendiger Hausgenosse zu sehen, nicht einmal eine Katze oder ein Vo-

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gel. Der Abend war nah, und noch erblickten sie weder Geräte noch Speisen zu Ehren des Sabbats. Der riesige Mann ging müßig umher, schnitt sich zuweilen eine Scheibe von einer ungeheuren Wassermelone ab, die in einer Ecke lag, und steckte sie in den Mund, dann wieder summte er nach Art der Bauern vor sich hin. Die Gefährten befiel ein Schrecken, er könnte gar des Sabbats nicht achten und ihm die Weihe versagen, der alle Juden in der Welt mit Eifer dienen. Da nahm er aber ein Stück grober, ungebleichter Leinwand und breitete es auf seinem elenden Tisch aus. Darauf legte er einen kleinen Haufen Lehm, bohrte mit dem Finger ein Loch und tat eine armselige Wachskerze darein. Nun begann er die holden Worte, mit denen seit Urzeiten Woche für Woche in allen Ländern der Erde der Sabbat als die Braut unserer Seele empfangen wird, in leerer Eile herzusagen, wie die Toren tun, die die Laute schlingen und den Sinn des Wortes ersticken. In einem Augenblick hatte er das Gebet vollendet, und die Gäste mußten desgleichen tun, von ihrem Versprechen gebunden. Wie sehr sie auch sein Wesen peinigte, konnten sie doch in der Heiligkeit des Abends keinen Haß wider ihn hegen und riefen ihm zu: »Gut Sabbat!« Er aber schnaubte sie zur Antwort an: »Ein böses Jahr komme über euch!« Als sie den Sang anstimmen wollten: »Friede sei mit euch!«, fuhr er auf sie los und machte sie schweigen. Dann schickte er sich an, den Segen über den Wein zu sprechen. Sie baten ihn, er möge ihnen Wein geben, damit sie selbst den Segen tun könnten, aber er weigerte ihn und rief: »Wenn ihn alle segnen wollten, würde das Licht bald dahin sein. Laßt nur mich es für euch tun.« Und so nahm er den Becher zwischen zwei Finger und murmelte die Worte vor sich hin. Alsdann tat er den Mund weit auf und goß den Wein hinein, daß nur ein paar Tropfen auf dem Grunde des Bechers blieben. Die reichte er ihnen und sagte: »Da, ihr Saufbolde, aber trinkt nicht zuviel, daß ihr euch nicht berauschet.« Nun legte er ein hartes, schimmeliges Brot aus schwarzem Mehl und Roggenkleie auf den Tisch und brach für jeden ein Stück ab. Als einer von den Schülern nach dem Laib greifen wollte, um sich ein zweites Scheibchen abzuschneiden, stieß ihn der Hausherr zurück und sprach zu den Gästen: »Wagt es nicht, mit euren eklen Händen an mein Brot zu rühren.« Hierauf setzte er ihnen eine Schüssel mit dünnem Linsenbrei vor, legte vor jeden einen großen Löffel und hieß sie hineingreifen und essen, denn Teller und dergleichen Feinheiten mehr gebe es hier nicht. Dabei neigte er sich über die Schüssel, schöpfte sich einen Löffel voll Brei und aß mit gieriger Hast, daß ihm die Brühe aus den Mundwinkeln in die Schüssel zurückfloß und die Gefährten es nicht mehr über sich vermochten, eine Hand nach der Speise auszustrecken. Nach dem Mahl wollten sie die Sabbatlieder singen, aber

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auch das verbot er ihnen, haspelte schnell und allen Brauch vernachlässigend das Tischgebet herunter und erhob sich, um den Gästen auf dem Boden ein unwürdiges Lager zu bereiten. In der ersten Frühe erwachten sie und hörten ihren Gastwirt umhergehn und das Morgenlied, das mit den Worten anhebt: »Die Seele alles Lebendigen«, nach einer bäurischen Tanzweise absingen. Damit begann ihr Tag, und er wurde noch leidvoller, als der Abend gewesen war. Den Baalschem hatte alle Kraft des innern Blicks verlassen, die heilige Weisheit war von ihm gewichen, und so saß er, schlug die Hände ineinander und konnte nichts denken als nur: »Was ist dies, und warum ist dies, das mir Gott hier getan hat?« Endlich brach die Nacht heran, und der Schlaf kam sanft und gütig über ihn. Als er sich am Morgen erhob, fühlte er eine neue Kraft in sich keimen und betete mit Macht, denn er reiste nie von einem Ort ab, ohne mit Gott geredet zu haben. Sodann befahl er dem Diener Aleksa, die Pferde, die in den Stall gebracht worden waren, vor den Wagen zu spannen. Aber der Diener kehrte sogleich zurück und berichtete, die Haustür sei geschlossen. Da ging der Meister zum Hausherrn, bat ihn, die Tür zu öffnen, und fügte hinzu: »Nimm unsern Dank für alle Freundschaft, die du uns gezeigt hast, und weise uns nun den Weg, darauf wir am schnellsten nach unsrer Heimat zurückkehren können.« Jener aber gab zur Antwort: »Mit nichten, sondern ihr werdet noch meine Gäste bleiben.« Er ließ sich nicht erbitten und hielt sie gleichsam gefangen in seinem Haus bis zum vierten Tag. Am Morgen des vierten Tags kam er zu ihnen und sprach: »Heute werde ich die Tür öffnen.« Während er dies sagte, sah er sie in einer seltsamen Weise an und ging. Da kam ein Grauen über die Schüler, denn sie verstanden sein Gebaren nicht, und so schlich sich ihnen in den Sinn, ob er sie nicht ermorden wolle. Während sie aber solcher Furcht nachhingen, öffnete sich die Tür zu einem der verschlossenen Zimmer, eine schöne und edel gekleidete Frau trat hervor, verneigte sich vor dem Meister und sprach: »Rabbi, ich erbitte von Euch, Ihr möget mit Euren Schülern bei mir den heiligen Sabbat feiern.« Der Baalschem antwortete ihr: »Du nennst mich Rabbi. Wie konntest du da zulassen, daß mein Sabbat dergestalt verstört wurde?« Da fragte die Frau: »Rabbi, erkennt Ihr mich nicht?« Er sprach: »Nein, ich erkenne dich nicht.« Sie sprach: »Als ich fast noch ein Kind war, diente ich in Eurem Haus. Ich war eine Waise, und kein Mensch lebte mir in der Welt. Über meinen Händen aber waltete ein Ungeschick, so daß ich manches kostbare Gefäß, das ich trug, zu Boden fallen und zerschellen ließ. Darob ermahnte mich Eure Frau gar häufig. Einmal wurde der Sabbattisch bereitet, und Eure Frau wollte die Schüsseln auftragen. Ich aber mochte zeigen, daß ich gewandter gewor-

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den war, und bat, die Sabbatschüssel in meine Hände zu geben. Kaum jedoch hielt ich sie, kam ein Zittern in meine Finger, und ich ließ die Schüssel fallen. Eure Frau erzürnte sich über mich und gab mir einen leichten Streich ins Gesicht. Ihr aber saßet unfern, saht es und ließet es schweigend geschehen. Da wurde in den Himmeln das Urteil über Euch gesprochen, daß Ihr um Eures Schweigens willen verlieren solltet, was Euch in der kommenden Welt bestimmt war. Mir aber geschah später die Gnade, daß ich von diesem Mann, der ein heimlicher Zaddik ist und seine Heiligkeit in seinem Tun verbirgt, zur Frau genommen wurde. Er war es, der mir eröffnete, was über Euch verhängt worden war. Da begannen wir zu Gott zu beten, daß das Urteil gewandelt werde, unsre Bitte wurde uns gewährt, und es ward milder und immer milder, bis man aussprach, daß Euch ein Sabbat verstört werden müsse, denn der Sabbat ist ja die Quelle der kommenden Welt. Und uns wurde aufgegeben, Euch solches anzutun. Aber nur, wenn wir es ganz und gar vollendeten, so ward uns gesagt, würde unsre Tat das Verhängnis aufheben. So haben wir es denn mit wehem Herzen getan. Und nun ist Euer Teil zu Häupten des obersten Paradieses.« In diesem Augenblick kehrte die Weisheit zum Meister zurück, das innere Sehen lebte in ihm auf, er sah in die Tiefe der Geschicke und sah den heiligen und heimlichen Mann in seiner Wahrheit vor sich stehn. So gingen sie mitsammen in die geschmückten Räume, verblieben miteinander diesen und die nächsten Tage und feierten den Sabbat in hoher Freude.

Bekehrung Einer der eifrigsten unter denen, die sich gegen den Baalschem erhoben, war Rabbi Jaakob Jossef von Scharigrod. Keinem wohl strömte der kämpfende Wille aus so tiefen Quellen zu. Denn die ketzerischen Dinge, die ihn ergrimmen machten, lagen wie Ahnung und Keimschicht in seiner eigenen Seele, ganz unten, unter dem Bereich des Wortes, ja unterhalb des Raums, in dem sich der Gedanke gebiert. Drei Bräuche der Neuerer aber waren es vor allen, denen der Rabbi feind war: die Freude ihrer Feste, die den Zaun des heiligen Gesetzes niederbrach und hoch aufwallte in Tanz und Lied; die Regellosigkeit ihres Dienstes, da die Gemeinde nur lose die Betenden umschlang und in Wahrheit jeder für sich und auf seine Weise, oft auch mit wilder Gebärde zu Gott redete; mehr als alles aber die leise, von Geheimnis schwingende Predigt des Meisters nach der dritten Sabbatmahlzeit. Oft hatte der Rabbi von dieser Predigt gehört. Sie war nicht, wie die Sitte gebot, aus Deutungen der Schrift gebaut, auf denen sich kunstvoll Deutungen der Deutungen türmen. Sie sprach von den Dingen der Seele, als ob man von ihnen reden dürfte. Manchesmal waren es gar gewöhnliche Geschichtlein, wie das gemeine Volk sie sich in den Trinkstuben erzählt; aber sie wurden langsam und feierlich gesagt wie die Worte des Mysteriums der Keduscha, und die Leute lauschten ihnen, als setzten sie die Offenbarung am Sinai fort. Sooft auch dem Rabbi davon berichtet wurde, immer wieder überwältigte ihn der Zorn wie zum erstenmal. Geschichtlein am Sabbat! Was für einen Sinn können Geschichtlein haben? Und noch zorniger als vorher hieß er in sich die Stimme schweigen, die tief unten erwacht war und es zu wissen vorgab. Er mahnte seine Seele an den wahren Weg zur Vollendung, durch die Abkehr vom Lebendigen, durch Zucht und Kasteiung. Einstmals machte sich der Baalschem am Abend auf und fuhr nach Scharigrod. Er war ohne Gefährten und unterredete sich mit der Sommernacht wie mit einer Freundin. Als sie Abschied nahm und der Tag noch zögernd aufstieg, kam der Wagen in die kleine Stadt. Da lagen die Häuser mit geschlossenen Fensterläden im Zwielicht wie freudlos Schlummernde mit schweren Lidern. Den Baalschem kam das Erbarmen an mit ihnen allen, die hinter diesen Fenstern ihren dumpfen Frühschlaf hielten. Er ging mit steten Schritten unter der wachsenden Tageshelle auf und nieder, bis über eine Weile ein Mann des Weges zog; der trieb einige Tiere vor sich her, die er tagsüber vor der Stadt auf der Weide hatte. Zu dem begann der Meister zu reden und kam, indes der Mensch anfangs

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einfältig und scheu ihm antwortete, allmählich ins Erzählen einer Geschichte. Wie er so redete, trat ein zweiter herzu, alsbald ein dritter, dann immer mehr und mehr, meist Knechte und arme Leute, die den Tag früh beginnen. Sie alle blieben stehn, lauschten begierig und riefen noch andre aus den Häusern herbei. Während die Stunde vorrückte, kamen die Mägde mit den Wasserkrügen auf dem Weg zum Brunnen und hielten inne, die Kinder kamen aus den Stuben gesprungen, und die Hausväter selber ließen ihr Geschäft und ihren Gang, dem fremden Mann zuzuhören. Seine Erzählung aber war so lieblich verknotet, daß, wann immer einer ankam, es ihn wie ein Anfang dünkte und jeder, des Früheren unbegierig, ganz auf das Künftige gerichtet war und ihm entgegenharrte wie der Erfüllung seiner schönsten Hoffnungen. So hatten sie alle die eine große Geschichte, und darin jeder seine eigene kleine und allerwichtigste, und die kleinen kreuzten einander und verhakten sich, aber im Nu waren sie wieder gelöst und geordnet und liefen fein säuberlich nebeneinander her; war eine abgelaufen, dann ließ sie eine neue Verheißung zurück, die alsbald eine Genossin auszuführen sich anschickte. Über ein geringes war das ganze Städtchen auf dem Marktplatz, alle lauschten, und jeder hatte vergessen, was ihm sonst um diese Stunde zu tun oblag. Die Handwerker hielten ihre Geräte in der Hand und die Frauen ihre Kochlöffel. Ganz vorn aber stand mit einem großen Schlüsselbund der Synagogendiener, der just auf dem Wege zum Bethaus gewesen war, es zu öffnen. Über ihn war die Erzählung mit solcher Gewalt geraten, daß er sich bis dicht vor den Meister durchgedrängt hatte und nun stand und lauschte mit Ohr und Herz und dem ganzen Leib, seines Amtes so wenig eingedenk wie eines verschollenen Traums. Es war aber die Erzählung des Baalschem nicht wie eure Erzählungen, Kinder der Zeit, die krumm wie ein kleines Menschenschicksal oder kreisförmig wie ein kleiner Menschengedanke sind. Sondern der farbige Zauber des Meeres war darin und der weiße Zauber der Sterne und der unbegreiflichste von allen, das zarte Wunder der unendlichen Luft. Und doch war es keine Mär der Ferne, was die Erzählung sagte, sondern jedem erwachte unter der Berührung ihres Wortes die heimliche Melodie, die verschüttete, totgewähnte, und jeder empfing die Botschaft seines verlorenen Lebens, daß es noch da war und nach ihm verlangte. Zu jedem sprach sie, zu ihm allein, kein anderer war, alle waren er, er war die Erzählung. Da hob der Meister den Blick und sah lächelnd ins Weite, sah durch Häuser und Mauern, wie vor der Tür des Bethauses der Rabbi stand, der um diese Stunde sein Gebet zu verrichten kam; da war das Haus geschlossen, und der Diener fehlte, und sie alle fehlten, die Tag um Tag zu

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dieser Zeit versammelt waren und ihn erwarteten. Der Baalschem sah in den Geist des Rabbis, er sah den Grimm und die Bitterkeit in ihm wachsen und wie er seinen Unwillen bändigte und sich zur Geduld bezwang. Da beschloß der Meister, den Diener aus der Erzählung zu lösen. Augenblicklich kam es über den Mann wie ein Erwachen, und ohne sich zu besinnen lief er, so schnell er konnte, nach dem Bethaus. Als er an der Tür ankam, fand er den Rabbi, der mit gefalteter Stirn, die Augen zu Boden gesenkt, die Worte des Unmuts zurückdrängte und nur mit einer barschen Bewegung zu eiligem Öffnen aufforderte. Der Diener aber, noch erfüllt und umgeben von der Erzählung, ward weder der eigenen Unterlassung noch des Ärgers seines Herrn gewahr, sondern begann von dem fremden Mann zu melden, der auf dem Platz stehe und Geschichten sage, alles Volk um ihn geschart. Er beschrieb die Gestalt und das Aussehn des Fremden, und da wußte der Rabbi, wer gekommen war und mit ihm um die Seelen stritt, und ein zorniges Leuchten kam in seine Augen. Wortlos schob er den Diener beiseite, trat in das Haus und begann zu beten.

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* Nach einer Zeit geschah es, daß ein Mann von den Frommen des Baalschem und aus seiner Stadt seine Tochter einem Lieblingsschüler des Rabbis von Scharigrod verlobte. Die Hochzeit sollte in der Stadt des Baalschem vollzogen werden. Rabbi Jaakob Jossef hegte einen schweren Kummer ob dieses Verlöbnisses. Als er davon erfuhr, war es ihm wie die Kunde, sein Sohn sei unter schlimme Gesellen geraten. Wohl erwies sich, als der Schüler selbst vor ihm erschien und ihm alles berichtete, die Liebe stärker als der Zorn, und er mußte ihn segnen. Aber der Bitte des Schülers, zu seinem hohen Fest nach Mesbiž zu kommen, weigerte er sich und erklärte, nie und nimmer könne er die Stätte des Ketzers betreten. Der Jüngling jedoch lag ihm Tag für Tag mit inständigen Bitten an, bis dem Rabbi einmal das Wort entfuhr: »Wie soll ich mit dir ziehen – wird doch dich und deine Freunde der erste Gang in Mesbiž zu dem unheiligen Mann führen, der das Volk Israel verdirbt!« Da versprach jener, um einen günstigen Spruch seines Lehrers zu gewinnen, er wolle das Angesicht des Baalschem nicht schauen, und unter dieser Bedingung willigte der Rabbi ein, mit ihm zu fahren. Als sie aber unterwegs waren und unfern des Reiseziels in einer Herberge weilten, merkte er, wie der Schüler sich mit seinen Freunden heimlich unterredete, und er erkannte, daß sie darüber sprachen, wie sie es anstellen möchten, ohne das Wissen des Rabbis in das Haus des Baalschem zu kommen. Da trat er auf sie zu und sagte zum Bräutigam: »Ich

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habe unrecht daran getan, dir eine Bedingung aufzuerlegen, die du nicht zu erfüllen vermagst. Da es mir aber nicht ansteht, allein die Heimfahrt anzutreten, werde ich hier verbleiben, bis ihr von der Hochzeit heimfahrt, und sodann mit euch nach meiner Stadt zurückkehren.« Der Schüler versuchte stammelnd erneute Bitte und Versprechung, aber der Rabbi hörte ihm nicht zu, sondern wandte sich zum Wirt und bat ihn, ihm ein Zimmer anzuweisen, in dem er ungestört seinen Studien obliegen könnte. Eine Weile danach saß er in einer stillen Stube und hatte die Bücher aufgeschlagen vor sich liegen. Aber als er sich darüberbeugte und beginnen wollte zu lesen, sah er, daß die Lettern, statt wie immer in ihrem schönen Gefüge willig dazustehen – jede freudig erwartend, daß er an sie käme, stolz befriedigt, wenn er sie gelesen hatte –, sich in einem tollen Tanz schwangen und die Gliedmaßen in die Luft warfen, ja ein dickes, rundes Ding überkugelte sich in einem fort, ohne zu ermüden. Der Rabbi schloß die Augen, öffnete sie wieder, und als das Unwesen nicht aufhören wollte, schlug er mit heftiger Hand auf das Buch. Da war im Augenblick alles still und wohlgesittet, jedes saß an seinem Platz, als hätte es sich nie von dannen gerührt, und ein paar obenstehende Lettern hatten sogar schon die Haltung der freudigen Erwartung bereit. Als aber der Rabbi nun anheben wollte zu lesen, drang ihm aus dem Buch ein aus hundert dünnen Stimmen gemischter Lärm entgegen. Das waren die Wörter, die miteinander stritten. Es waren nicht etwa zwei Lager von Kämpfern, sondern jedes Wort widersprach allen andern, und jedes versicherte, es sei von Lügnern und Heuchlern umringt, die es lediglich darauf abgesehen hätten, ihm seinen eingeborenen Sinn zu rauben, aus tückischem Neid, weil sie selbst keinen Sinn und keine Seele hätten. Und als der Rabbi auch diesen Krieg beschwichtigt hatte, standen die Sätze auf und erklärten, sie wollten nicht länger einem unbekannten Zweck dienen, der über allen schwebt, sondern aus sich selber und für sich selber leben. Der Rabbi sah auf das Buch und lächelte. Dann schlug er es zu und lächelte wieder. Hatte er doch ein Buch in sich, ein großes und überreiches, das keiner ihm verwirren konnte. Aber als er den ersten Gedanken aufrufen wollte, brach sein Lächeln ab. Denn kein Gedanke stieg auf, nur ein dumpfes Vergessen lagerte wie über einer verlassenen Gräberstätte. Da erschrak der Rabbi, und dieses Erschrecken kam über ihn wie eine Todesnot. Nun verstand er, daß ihm befohlen war, nach Mesbiž zu gehen. Und alsbald lebten seine Gedanken in ihm auf, so sturzhaft, daß er fast zum zweitenmal erschrak. Es kam ihm nicht in den Sinn, einen Wagen zu mieten, er trat hinaus auf die Straße und ging. Als er nach Mesbiž kam, trug es ihn weiter, ohne

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daß er seine Augen oder seinen Willen befragte, bis vor ein großes, abgesondert stehendes Haus, aus dem das Licht vieler Kerzen und das Gespräch vieler Stimmen ihm entgegendrangen. Er verstand, daß es das Haus des Baalschem war. Urplötzlich wurde alles still. Dem Rabbi schien, das Licht werde dreifach heller, und aus dem Schweigen begann eine Stimme zu reden, die tönte so wunderbar, daß er näher treten und lauschen mußte. Und er hörte, was die Stimme sprach: »Ich will euch eine Geschichte erzählen. Es war einmal ein Rabbi, ein weiser und strenger Mann. Der saß in der Nacht des neunten Ab in seiner Kammer und trauerte über den Tempel und über Jerusalem. Und anders als in allen Jahren in dieser Nacht war diesmal seine Trauer. Denn in den anderen Jahren war ihm gewesen, als sei er hingestellt in die Zerstörung der Stadt und schaue mit seinen Augen den Brand und das Verderben. Aber in dieser Nacht war es ihm, er sei eine eherne Säule am Hause des Herrn, und er fühlte die Hand der Chaldäer auf sich, die ihn zerbrach, und wieder war es ihm, er sei das Erz einer zerbrochenen Säule, das nach Babel geführt wird. Und das Klagelied kam auf seinen Mund, aber nicht wie dessen, der sieht und trauert, sondern wie das Stöhnen der zerbrochenen Säule. Und nicht wie einer, der kommt und geht, sondern wie ein Ding, das in der Herrlichkeit gelebt hat und nun zerschlagen und in die letzte Schmach geschleppt wird, rief er zu Jerusalem: ›Stehe auf, schreie in der Nacht, am Anfang der Wachen schütte dein Herz aus vor dem Herrn wie Wasser!‹ Und es ward ihm, er sei Jerusalem die Stadt, der Brand und das Verderben gingen über ihn hin, und die tausendfache Verwüstung geschah an seinen Gliedern. Ein Schrei brach aus ihm, schüttelte ihn wie einen Sterbenden und warf ihn auf sein Bett. Da er so lag, war sein Leib an Leben arm wie der Leib eines, der im Vergehen liegt. Die Nachtstunden strichen hin und kamen auf ihn, der ohne Empfindung war, wie wenn die Zeit zu Sand würde und auf ihn niederrieselte ihn zu begraben. Um die Mitternacht aber fühlte er ein Bewegen in der Luft, und ein Hauch streifte seine Stirn, lebendiger Atem. Er öffnete die Augen, gewahrte über sich gebeugt die Gestalt eines Knaben und erkannte das Angesicht eines Schülers, dessen weiche Züge nun von einem Schrecken entstellt waren. Der Knabe berührte seine Hand und sprach mit schwankender Stimme: ›Rabbi, Ihr lagt wie einer, dessen Seele schon flüchtig ist, ihn zu verlassen. Ihr müßt ein wenig Speise zu Euch nehmen, um Euer Leben zu stärken.‹ Der Rabbi wandte das Haupt und flüsterte, und seine Zähne schlugen widereinander: ›Kind, was redest du? Ist doch heute der neunte Ab, ein Tag der Trauer und des Fastens!‹ Aber der Knabe umschlang seine Hand fester mit seinen beiden

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warmen Händen und bat: ›Rabbi, bedenkt, daß es verboten ist, sich mit Willen dem Tode anheimzugeben!‹ Er ging und kehrte wieder. Nun trug er, sie mit den Armen umfassend, eine große Schüssel voll herrlicher Früchte, kniete vor dem Rabbi nieder, sah ihn bittend an und neigte bittend den Kopf. Und der Rabbi, vom buntfreudigen Anblick und Wohlgeruch belebt, richtete sich auf und sprach den Segen über die Frucht des Baums, wie einer, der sich anschickt zu essen. Als aber das letzte Wort seinem Mund entwichen war, ergriff ihn ein jähes Entsetzen über sein Tun. Er hob die Hand gegen den Schüler und schrie ihn an: ›Hebe dich hinweg, Geist der Verführung, der du vertraute Gestalt borgst, mich zu betören.‹ Der Knabe entwich. Der Rabbi aber verfiel in einen tiefen Kummer. Vor ihm erschienen die Jahre seines Lebens mit all ihrem Opfer und Bann, mit der hohen Macht über sich selber, die wuchs und stieg von Jahr zu Jahr. Und dann erschien vor ihm ein kleiner mattäugiger Wunsch, der schleppte sich wie ein kranker Zwerg zu den Jahren hin und wischte sie mit seinem Finger weg, daß nichts mehr von ihnen da war. Immer tiefer wurde der Kummer des Rabbis, bis die Trauer des Tages und das Leid um Jerusalem in dem Kummer versanken. Der Kummer schlang sie ein und breitete sich über die Seele mit Geißel und Feuerbrand. Nun war in dem Rabbi nichts mehr von der Stunde, da er eine Säule gewesen war im Hause des Herrn und da er die Stadt gewesen war unter der Hand des Unheils, sondern er war dieser Mensch, hier liegend auf einem Lager in der Nacht, dieser Mensch, der gesammelt und gesammelt hatte, mit strenger und nicht ermüdender Hand, und dem nun ein kranker Zwerg alles raubte, mit dem Ruck eines dürren Fingers in der Finsternis. Über sich und ringsum fühlte er die Nacht, stockend und unwandelbar. Aber die Nacht stockte nicht, sondern zog über ihm hin. Ehe sie entwich, legte sie ihre Hand auf seine Augen und spendete ihm den Schlaf. Irgendwoher jedoch fiel ein Samen in den Schlaf, und der Traum keimte und wuchs. Der Traum führte den Rabbi unter den offenen Mittagshimmel, der durch die Baumkronen eines großen Fruchtgartens auf ihn herabschaute. Er ging durch die schmalen, vielverschlungenen Wege des Gartens, gestreift vom hohen Gras und den niederhangenden früchteschweren Zweigen. So kam er an das Ende des Gartens und sah über die niedrige Mauer hinaus, und was er sah, waren die Gäßchen der Stadt, in der er hauste. Ihm aber war in seinem Traum wohl bewußt, daß es einen Garten solcher Art in seinem Wohnort nicht gebe. Furchtsam zweifelnd wandte er den Fuß, ging zurück und suchte nach einem, der ihm Auskunft er-

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teilen könnte. Als er der Mitte des Gartens sich näherte, wo alle Wege sich kreuzend zusammenliefen, sah er einen Mann im Gärtnergewand stehen; der war tief zur Erde gebeugt, hob aber nun die Stirn ihm entgegen und blickte ihn funkelnd an. Der Rabbi fragte ihn: ›Wessen ist dieser Garten?‹ Der Mann erwiderte: ›Er gehört dem Rabbi dieser Stadt.‹ Der gab verwundert zurück: ›Ich bin der Rabbi dieser Stadt. Ich bin arm und kenne keinen Besitz. Woher käme mir dieser Garten?‹ Da sprach der Mann wieder, Blitze schossen aus seinen Augen, und ein Donner rollte in seiner Stimme: ›Aus Wunsches Pein, aus Schuld und Scham, aus einem eitlen Segensspruch hat dir die Hölle diesen Garten geschaffen.‹ Er stampfte mit dem Fuße auf, da spaltete sich die Erde bis zum feurigen Kern, und der Rabbi sah die Wurzeln der Bäume verschlungen in die Urtiefe sich senken und dort vereint sich aus der Flamme nähren. Er erwachte, aber der Schauer des Traums bedrängte ihn bis zum Abend, da der Trauertag endete. Nun reckte sich der Rabbi auf, riß sich aus der Umklammerung und verschloß dieTür. Er nahm die Bücher der Psalmen in die Hand, stand und sprach die Psalmen mit gewaltigem Ton. Das erste Buch hatte er gesprochen, da war fern in der Nacht draußen ein Laut, der redete: ›Genug, die Früchte sind schon abgefallen!‹ Aber der Rabbi erhob das Haupt und die Stimme und sprach das zweite Buch. Als er geendet hatte, tat sich wieder der Laut auf, und er klang näher und deutlicher: ›Genug, das Laub ist schon verwelkt!‹ Doch der Rabbi erneute seine Kraft und betete das dritte Buch. Nun war die Stimme ganz nah, von ihrem Hauch klirrten die Fenster, und sie rief: ›Genug, schon sind die Zweige verdorrt!‹ Der Rabbi spannte alles Vermögen seiner Seele an und las das vierte Buch. Da wankte der Boden seines Hauses, und die Stimme erscholl, als würde sie unter seinen Füßen aus der Erde gesandt: ›Genug, schon sind die Äste abgestorben!‹ Der Rabbi fühlte, wie das Ermatten sich an ihn heranschlich, aber er riß die innerste Macht aus sich auf, das letzte Buch erstand von seinem Mund und stieg hoch wie Opferrauch. Als er schwieg, sprang die verschlossene Tür des Gemachs weit auf, in ihr stand ein dunkler Bote, keuchend, wie nach einem wilden Lauf, und schrie: ›Genug, genug, du hast uns besiegt, schon sind die Stämme geborsten.‹ Die Gestalt erstarb mit ihrem letzten Ton. So hat es sich dazumal ereignet. Tage, Monde und Jahre sind darüber hingegangen. Aber die Wurzeln des Gartens sind in der Erde geblieben, und der Rabbi trachtet in vielen Nächten vergeblich, wie er sie ausrotten möchte.« So erzählte die Stimme drinnen im hellen Saal. Rabbi Jaakob Jossef stand im Schatten, die Stirn an die Mauer gepreßt, und die Worte fielen in sein Herz. Als die Rede drinnen verstummte, stürzte er durch die Tür

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in den Saal und zu den Füßen des Baalschem und rief: »Meister, lehre mich, was ich tun soll, die Wurzeln auszurotten!« Der Baalschem sprach: »Wisse, nicht aus jenem Wunsch ist dir der Garten geschaffen worden, sondern aus des Wunsches Pein, da du dich befleckt wähntest und um dich littest und den Gram auf dein Haupt streutest wie Asche. Da hast du dem leichten Bilde deines Wunsches Bestand gegeben und hast seine Wurzeln eingesenkt in das Reich der Körper, da es zuvor ein Schatten war. Aber als ich dies erzählt habe, ist der Körper Wort geworden und schwebender Atem und leichter, als das leichte Bild deines Wunsches gewesen war. Und da ich ein Froher zu Frohen redete, ist die Freude hingegangen und hat die Wurzeln ausgerissen.« Rabbi Jaakob Jossef aber ist danach der große Jünger geworden, der die Lehre des Meisters als Schrift bewahrte und den Geschlechtern überlieferte.

Die Wiederkehr Am Jahrtag des Todes des Ropschitzer Rabbis hatten sich viele Zaddikim in Ropschitz versammelt. Dort saßen sie wehmütig schweigend zusammen, als die Tür aufflog und ein grelläugiges Weib hereinstürzte, das sich auf die Erde warf und schrie: »Seid mir gnädig, ihr Meister, und hört, was für ein grausames Unglück über mich gekommen ist! Da habe ich vorige Woche einem Juden achthundert Silbergulden übergeben, damit er auf die Dörfer fahre, Flachs einzuhandeln. In den sichern Gewinn wollten wir uns teilen, halb und halb. Vergehen mir da etliche Tage, ich höre nichts von ihm, und mir wird unruhig ums Herz. Just heut am frühen Morgen kommt mir einer ins Haus, der hier in der Gegend heimisch ist, und ich hör’ von ihm, der Mann ist eines jähen Todes gestorben, und man hat weder Geld noch Kaufbriefe bei ihm gefunden. Nun frag’ ich und heisch’ ich, wo ist mein Geld geblieben? Rabbanim, schafft mir einen rechten Rat! Ihr sitzt hier beisammen wie die Erzengel des Herrn im Licht, über euern Häuptern steht der Himmel als eine offne Pforte!« Der Jammer des Weibes griff etlichen der Zaddikim an die Seele, so daß sie sprachen: »Werde still, wir wollen dazu tun, daß dein Geld gefunden werde.« Jetzt aber ist der Zaddik Rabbi Schalom von Kaminka aufgestanden und hat gerufen: »Hört, ihr alle, und auch du, Weib! Hier kann kein Versprechen bestehn. Das Geld muß verloren bleiben für alle Zeit. Wer vermöchte in die Kette zu greifen, die über das Rad aller Zeiten läuft! Es wird sich begeben haben, daß du in einem vergangenen Leben eine unerfüllte Schuld mit von hinnen genommen hast, und dieser Jude wurde geboren, um deine Schuld zu erfüllen, und da er es getan hat, ist er hingegangen. Du aber danke, daß der Mangel deiner Seele getilgt ist!« Als er dies gesagt hatte, wandte Rabbi Schalom sich zu den Zaddikim und redete: »Meine Lehrer, wenn es euch gefällt, hört auf mich, ich will euch eine Geschichte sagen vom heiligen Baalschem, dessen Verdienst uns stärke. In Rischa hat in den Tagen des Heiligen ein vornehmer Jude gelebt, ein reicher Mann, wohlbewandert in den Schriften. Obgleich er nicht zu den Chassidim zählte, vernahm er mit Begierde die Reden von den erstaunlichen Zeichen, die der Meister gewirkt hatte. So erwuchs ihm das Verlangen, ihn von Angesicht kennenzulernen. Eines Tags ließ er seinen Reisewagen rüsten, hieß den Kutscher und den Diener aufsitzen und fuhr stattlich wie ein Adliger nach Mesbiž, dem Wohnort des Baalschem. Dort betrat er dessen Haus und war recht bedacht, den Heiligen seine Gelehr-

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samkeit spüren zu lassen, denn so hoffte er es zu erlangen, daß er ihn wert erachte, mit ihm über die Auslegung der Schrift oder über die Geheimnisse der Kabbala zu reden. Dergleichen aber vermied der Baalschem und sprach einfach und beschaulich von allerlei Weltdingen. Den reichen Juden dünkte, daß der Zaddik ihm durch das Gespräch keine sonderliche Ehre erwiese. Doch wollte er sich würdig verabschieden, und so legte er ein Päckchen Rubel still vor sich hin auf den Tisch. Der Baalschem sah es, ein feines Lächeln huschte über sein Gesicht, und es war, als sinne er einem verflossenen Geschehnis nach. ›Nun, Freund‹, sagte er dann, ›müßt Ihr mir aber auch sagen, was Euch fehlt und wofür ich Euch den Mittler machen muß.‹ Darauf erwiderte der Reiche, und er legte in seine Worte eine stolze Zufriedenheit: ›Mir mangelt – der Name Gottes sei gesegnet – nichts. Mein Haus hat seinen Wohlstand, die Kinder sind mir aufgewachsen zur Freude meiner Seele, meine Töchter haben mir angesehene Eidame zugebracht, Enkelkinder werden mir im Hause groß … Nein, Meister, nichts fehlt mir!‹ Wohl, meinte der Baalschem, solch eine Spende sei ein rares Ding und nicht übel anzunehmen. Ihm sei es kaum je widerfahren, daß wer vor ihn getreten sei und ihm ein Opfer gereicht habe, ohne ihm gleich das Herz zu zerreißen und die Lauge seiner Leiden darüber auszugießen. Der eine bot ihm den Anblick einer qualvollen Wunde, für die er Heilung suchte, ein andrer weinte, daß sein unfruchtbares Weib ihm Kinder gebären möge, dem dritten drohte das Gefängnis, und er wollte ihm entrinnen. Hier aber war einer, der gab nur und begehrte nichts. ›Weshalb bist du denn zu mir gekommen?‹ fragte er. ›Nur sehen wollte ich Euch‹, gab der Mann zurück, ›denn Eure Wunder leben im Volk, und man nennt Euch einen heiligen Mann. Ich aber habe zu meiner Seele gesprochen: Ich will hingehen und ihn von Angesicht und Stimme kennen.‹ Darauf der Baalschem: ›Nun, Freund, ist dem so, daß du den weiten Weg getan hast, allein um vor mir zu stehen mit Aug und Ohr, so sieh mich auch gut an und hör mir zu – ich will dir eine Geschichte erzählen und sie dir mitgeben auf deinen Weg. Aber, Freund, gut hör mir zu! Meine Geschichte hat sich so ereignet: Es haben einst in einer Stadt zwei reiche Juden gewohnt, Nachbarsleute, die hatten jeder einen Sohn. Die jungen waren bei gleichen Jahren, sie ersannen ihre Spiele füreinander, lernten zusammen und liebten einander mit einer unbeirrbaren Liebe. Aber wie kurz sind die Tage unbeschwerter Jugend! Die beiden wuchsen heran, früh vermählte man sie. Der eine zog viele Meilen weit gegen Mittag fort, der andere noch weiter nach der andern Seite.

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Nun aber, Freund, hör mir gut zu. Die beiden jungen Leute waren in ihrer Liebe zueinander heimisch, die Welt war ihnen noch fremd, und so schrieben sie sich allwöchentlich lange Briefe, und darin war ihr Leben. Allmählich jedoch haftete ihr Blick an dem, was sie zunächst umgab und anging, und das sog sich fest in ihrem Geist; immerhin schrieben sie jeden Monat und verschwiegen einander nicht, was ihnen begegnet war. Dann aber schloß die Welt sie in ihre Arme und preßte ihren Seelen den freien Atem aus, und sie hatten Scham, einander in Briefen zu gestehen, daß aus ihren Herzen die Stille gewichen war, daraus das lebendige Wort der Liebe kommt. So schwiegen sie endlich gar, und nur das Gerücht aus fremdem Mund spann zwischen ihnen Fäden hin und wieder, und jeder hörte vom andern, daß er in Wohlstand hauste und groß in seiner Welt war. Nach vielen Jahren fügte es sich, daß einer von ihnen alles dessen verlustig ging, was ihn froh und sicher gemacht hatte, ja, daß er kein ehrbares Gewand mehr sein eigen nannte. Als er nun so dastand und wider das Elend stritt, dachte er des Jugendfreundes und sprach zu sich: Er, der mir einst die ganze Welt und viel schöner war, als sie selbst es später sein mochte, er wird mich wiederbeleben aus dieser Not, wenn ich nur zu ihm komme. Er borgte sich unter Demütigungen das Reisegeld, fuhr in die Stadt, in der der Freund hauste, und suchte ihn heim. Dort wurde er in Herzenswärme empfangen, das ganze Haus einte sich zum Fest. Als sie beim Mahl saßen, Seite an Seite, fragte der Freund: ‚Du Seele meiner Kindheit, sage mir, wie ergeht es dir in der Welt?‘ Sprach der andere: ‚Viel mag ich nicht reden, wisse nur, selbst die Kleider, in denen ich gehe, sind nicht mein.‘ Und wie er redete, fielen ihm die Schmerzenstränen aus den Augen und sickerten in das feine Linnen, das den Speisetisch deckte. Da hat der Gefährte nimmer gefragt, und das Mahl ist weitergegangen mit Scherz, Gesang und Spiel. Als es zu Ende war und Freund bei Freund saß, rief der Hausherr seinen Schreiber und hieß ihn eine Aufstellung seines ganzen Vermögens machen, und als das geschehen war, alles zu zwei gleichen Hälften teilen und die eine seinem Herzbruder übergeben. Der vor Tagen noch Arme fuhr reichgesegnet heim, traf alsbald Arbeit und Gelingen vereint, und in einigen Jahren stand sein Haus reicher da, als es je vordem gewesen war. In der nämlichen Zeit aber fügte es sich, daß bei dem andern Freunde das Unglück Gast wurde und sich als ein hartnäckiger Gesell erwies, der nicht wich, wie der Mann auch alle Kräfte antrieb, es zu verjagen. Auch traf er kein Herz auf seinem bittern Wege, das ihm geraten und geholfen hätte. Wie nun die Not wie eine große dürstende Spinne in ihr grauses Ge-

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spinst ihn einwob, und er fühlte es atemlos immer enger und dichter werden, fiel ihm der Freund seiner Kindheit ein. Er schrieb sogleich an ihn, von dem er vernommen hatte, daß sein Wohlstand weit über seinen ehemaligen Besitz hinausgewachsen war: Er gedenke zu ihm zu kommen in großer Bedrängnis, um aus seiner Hand ohne Scham sich Hilfe zu erbitten. Und er ließ ihn wissen, an welchem Tag und zu welcher Stunde er die Stadt verlassen wolle, um den Weg zu ihm zu nehmen. Dann, zur rechten Zeit, schon völlig wohlgemut, machte er sich zu Fuß auf den weiten Weg. Der großen Müdigkeit, die ihn schließlich befiel, achtete er kaum; hinter jeder Biegung der Straße, in jeder fernen Staubwolke hoffte er den Wagen des Freundes zu erblicken, der ihm entgegenfahren würde, denn er wußte ja den Tag seiner Wanderung. Er näherte sich schon der fremden Stadt – noch immer allein, zu Tode erschöpft. ‚Vielleicht ist mein Freund auf einem andern Weg mir entgegengefahren – es gibt wohl deren mehrere, die von seiner zu meiner Stadt führen‘, dachte der Wanderer. ‚Er wird, da er mich nicht angetroffen hat, umgekehrt sein.‘ Da er die Häuser und Gärten der Stadt in einem Schimmer von Weiß und Grün vor sich sah, schwand ihm die Schwere aus den Gliedern, und er schritt rascher aus. Leicht vermochte er den Weg zu seines Freundes Haus zu erfragen, es lag stattlich in einer reichen Straße. Er trat ein und fand den Saal, in den er trat, angefüllt mit wuchtigen, wertstrotzenden Geräten, aber von Menschen leer. ‚Seltsam‘, dachte er, ‚daß mein Freund auch hier mich nicht erwartet. Sollte mein Brief verloren, sollte der Bote trügerisch gewesen sein?‘ Er ließ sich nieder und wartete. Indessen saß sein Freund oben im letzten Stockwerk des hohen Hauses in seinem Gemach zwischen Büchern und Rechnungstafeln. Er hatte den Kopf in seine Hände vergraben. Seit Tagen stritt seine Seele einen schweren Kampf. Als er den Brief des Jugendfreundes erhalten hatte, stand jene Stunde vor ihm, da der andere all sein Hab und Gut mit ihm geteilt hatte, um der Liebe aus den Kindertagen willen, als sie wie Geschwister waren. Und er verstand, daß jetzt an ihm die Reihe war, ein gleiches zu tun. Nun aber hatte sein Wesen, einst rein und gütig den Händen Gottes entsprungen, sich in jenen Zeiten, da er aus plötzlicher Armut rasch wieder zu Reichtum gelangt war, getrübt. In ihm war zuerst die Angst vor einem erneuten Verarmen gewesen, später eine Liebe zum Besitz, die sich zu einem kalten Geiz steigerte. Und nun widerstrebte alles in ihm dem Gedanken, sich auch nur von einem Teil des Seinen zu trennen. Er beschloß endlich, jede Gabe zu verweigern. Da er aber bedachte, daß beim Anblick des Freundes alle Härte in ihm schmelzen könnte,

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überkam ihn Angst. Er befahl seinen Dienern, den Mann aus dem Haus zu weisen. Als nun einer aus der Schar der Knechte eintrat, der Wartende seinen Namen nannte und den Herrn begehrte, tat der Diener nach seinem Befehl und wies ihn fort. Der Arme ging von hinnen an einen Ort, wo er mit seiner Seele allein war. Da weinte er sich aus vor Gott. In seinem bitteren Weinen, erschöpft von der weiten Reise ohne Rast und Labung, ist er in jener Stunde gestorben. Wenige Tage später ist auch der Reiche dahingegangen. Zusammen haben sie vor dem Richter der Welt gestanden. Dem Armen hatten Leid und Güte ein Sein im hohen Glanz errungen, der Reiche aber sollte dahin versinken, wo Eis wie Feuer brennt und die harten Herzen ihren Ort haben. Als sein Gefährte den Richtspruch vernahm, schrie er unter Tränen: ›Herr, selbst das Licht, das von dir ausgeht, kann den finstern Kummer nicht erhellen, den ich in alle Ewigkeit fühlen muß, wenn dieser in das Reich der Qualen eingehen soll.‹ Die Stimme von oben redete zu ihm: ›Was begehrst du für euch beide?‹ Er antwortete: ›Gewähre uns, o Herr, noch einmal auf die Welt niederzusteigen. Ihn laß in Reichtum, mich in Armut geboren werden. In Bettlergestalt will ich bei ihm erscheinen und zurückerlangen, was er mir schuldet und verweigert hat in jenem vergangenen Leben. Ist sein Sinn aber karg wie einst, glühende Tränen will ich über sein Herz gießen, und ich will mit seiner starren Seele ringen, um das Gut von ihm zu erreichen, sei es Heller um Heller.‹ Da beschied die Stimme den beiden eine neue Wiederkehr. Der harte Mann lebte in reichem Haus ein üppiges Leben, der andre kam unter dürftige Leute in einem fernen Land. ›Nun, o Freund‹, mahnte der Baalschem, ›spanne deine Seele an und höre mir gut zu! Was vor diesem Leben mit ihnen beiden sich ereignet hatte, wußten sie nimmer. Es geschah, daß der Arme in seiner Not auf die Wanderschaft zog, um zu betteln, und so ist er in die Stadt gekommen, wo der andre seine Tage unter irdischen Freuden verbrachte. Der Arme irrte durch die Straßen und kam zum Haus des reichen Mannes. Hier hielt er ein und hob die Hand, mit dem Klopfer die Tür zu berühren. In dem Augenblick kam ein Mensch des Wegs, erblickte den Bettler an der Pforte und rief ihm zu: ‚Hier pochst du vergebens, aus diesem Haus ist noch keiner getröstet weggegangen.‘ Da wußte er, daß man ihm die Gabe weigern würde, und seine Hand fiel herab, aber etwas in seinem Herzen sagte ihm, daß er hier und nirgend anders das

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Almosen empfangen müsse. So pochte er, trat vor den Herrn des Hauses und bat um eine geringe Spende, damit er seinen wühlenden Hunger stillen könne. ‚Reicht Ihr mir nichts, so sterbe ich‘, sagte er. ‚Ihr haltet mein Leben in euren Händen.‘ Der Hausherr verzerrte sein Gesicht zu einem Lachen und höhnte: ‚Spar deine Zeit und red nicht lang! Jedes Kind auf der Straße weiß, ich gebe kein Almosen. Um dich breche ich nicht mit meinem Brauch.‘ Da fühlte der Arme eine seltsame Kraft in sich aufsteigen, es war ihm, als bäte er um mehr als um sein Leben. Fremde, mächtige Worte stiegen aus seinem Munde, er fand eindringliche Gebärden und rang mit aller Anstrengung um das verschlossene Herz. Als der Reiche eine solche Gewalt auf sich einstürmen fühlte, erfaßte ihn die Wut, und er schlug auf den Bettler los, daß der zu Boden sank. ›Nun, Freund‹, sagte der Baalschem, ›hast du mich zu Ende gehört. Fehlt dir wirklich noch immer gar nichts?‹ Da brach der Jude in Tränen vor dem Meister in die Knie: ›Rabbi, der Böse bin ich. Du hast den Schleier der Zeiten aufgetan, meine Augen haben über die Kette des Geschehens hingeschaut. Was soll ich tun, daß ich die Seele, die verdorben ist, mir reinige?‹ Der Baalschem antwortete: ›Geh und sieh in jedem Armen auf dem Weg einen Bruder des Bettlers, den du geschlagen hast, gib von deinem Gut und von deiner Hilfe soviel du vermagst, laß deine Seele die Gabe mit Liebe überströmen!‹« Dies hat Rabbi Schalom von Kaminka den Zaddikim erzählt, die zum Jahrtag in Ropschitz versammelt waren.

Von Macht zu Macht In den Tagen des Baalschem lebten zwei Freunde. Sie standen in jener schönsten Jugendzeit, da noch die letzte Morgenröte hold und unbestimmt am Himmel glüht: die Träume der Dämmerung zittern noch nach, aber bald naht die Sonne, die strenge Herrin, und ihr Reich der Gestalten wird sichtbar. Oft saßen die Freunde beisammen, an die kahle Wand ihres Stübchens gelehnt, und redeten von dem Sinn des Lebens. Dem einen war die Welt durch das Wort des Baalschem erschlossen. In jedem Ding empfing er eine Botschaft, und mit jeder Handlung gab er eine Antwort. Er warf sich auf das junge Feld hin, grüßte den Wind und das Wasser und die schönen vorüberhuschenden Tiere, und sein Gruß war ein Gebet. So war ihm der Sinn des Lebens im Schöpfer verbürgt. Sein Gefährte ereiferte sich gegen ihn und meinte, all dies sei eine Sünde wider den Geist der Wahrheit. Denn viele Flächen habe jedes Ding und viele Formen jedes Wesen, und wer seine Seele einem Glauben anheimgebe, sehe von allem nur eine Fläche noch und eine Form, armselig gesichert werde sein Weg, und erstorben sei in ihm das Suchen nach Wahrheit, der Sinn des Lebens. Darauf antwortete jener, in der Welt der Verklärung gebe es keine Flächen und Formen, sondern jedes Ding und Wesen stehe in seiner Reinheit. So stritten die Freunde oft miteinander. Da geschah es, daß eine schwere Krankheit jenen Jüngling, der dem Baalschem ergeben war, befiel. In der unerbittlichen Kraft der Schmerzen erkannte er die Boten einer Gewalt, die sein Erdenleben zu Ende führen mußte. So stemmte er sich nicht wider sie, sondern ergab sich dem mächtigen Element. Dennoch lagerte ein Grauen auf dem Weg zu dem, was sich ereignen sollte im Abgrund der Ewigkeit. Er ließ den Baalschem wissen, daß er sich zum Sterben bereite, und als der Meister an seinem Bette stand, sprach er: »Rabbi, wie und womit soll ich ziehen? Ein Grauen lagert vor mir und stört meinen Frieden.« Der Baalschem nahm die Hand des Kranken in seine Hände und redete zu ihm: »Kind, besinne dich! Bist du nicht allzeit von Macht zu Macht gegangen und von Tor zu Tor? So sollst du auch fürder gehen in den Gärten der Ewigkeit.« Er berührte die Stirn des Kranken und redete zu ihm: »Weil noch die Stunde der letzten Morgenröte über dir ist, und weil du wahrhaft in ihr gelebt und ihr Glück nicht gescheut hast, will ich mein Zeichen auf deine Stirn schreiben, daß niemand deinen Gang schrecke und deine Bahn hemme. So geh hin, Kind, wenn dich der Tod beruft.« Er neigte sich über ihn, legte Stirn an Stirn und segnete ihn.

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Als der Meister gegangen war, schlich sich der andere Jüngling ins Zimmer und kniete vor dem Bett nieder. Er küßte die Hand des Kranken und sprach: »Mein Liebling, sie wollen dich nehmen, und ich weiß, du wehrst dich nicht. Besinne dich, wie wir damals miteinander redeten, in den Birken am Sommerabend, und zuletzt sagtest du nur: ›Ja, es ist‹, und ich sagte: ›Nein, es ist nicht.‹ Nun ist mir sehr bang, denn du gehst fort von mir, gehst willig fort mit diesen deinen Augen. Mein Liebling, die Birken sind in deinen Augen und der Sommerabend. Und alles sagt: Ja, es ist. Ich fühle, daß es ist, ich selbst sage es ja, und weiß es auch, denn sonst wäre kein Sinn in allem, und du gehst fort von mir. Wohin gehst du?« Er schluchzte über der Hand des Freundes und küßte sie wieder und wieder. Der Sterbende sprach: »Lieber, ich gehe den Weg weiter. Wenn ich unterwegs bin, will ich dein und unserer Liebe gedenken. Ich will zu dir kommen, dir Kunde zu geben von meinem Weg. Reiche mir deine Hand.« Da schrie der andere auf: »Du sollst nicht gehen, ich halte dich, du sollst nicht gehen!« Aber der Sterbende sprach aus seinem Frieden: »Nicht doch, du kannst nichts wider den Herrn. Meine Hand sollst du halten, bis der Pulsschlag in mir aufhört, und dies ist mein Versprechen an dich, daß ich wiederkommen will, die schöne Erde und dich zu schauen.« Vor dem Zeichen auf seiner Stirn öffneten sich, als er aufstieg, die Pforten des Firmaments. Er wandelte von Tor zu Tor und von Heiligtum zu Heiligtum und empfing den Sinn des Lebens. Die Zeit schwieg, und es war kein Raum, nur der Weg des Werdens ohne Ort und Ablauf. Plötzlich war sein Schritt gehemmt, die Zeit rauschte in seinen Ohren, und der Raum stieß ihn mit kantigen Fäusten. Da stand er inmitten von stummen Wächtern. Er wies ihnen das Zeichen auf seiner Stirn. Aber jene starrten ihn an und schüttelten die Köpfe, und er wußte, daß seine Stirn kein Zeichen mehr trug. Die Verzweiflung des Menschen wollte ihn überkommen, er aber widerstand ihr. Da sah er einen alten Mann vor sich, der fragte: »Warum hältst du hier inne?« Er antwortete: »Ich kann nicht weiter.« Der Alte sprach: »Nicht gut ist das Ding. Denn verweilst du dich hier, dann verläßt dich das Leben des Geistes und du verbleibst hier als ein fühlloser Stein. Denn alles Leben der kommenden Welt ist: zu schreiten von Macht zu Macht, bis in den Ungrund der Ewigkeit.« Der Jüngling fragte ihn: »Was vermag ich zu tun?« Der Alte sprach: »Ich will in das Heiligtum gehen, zu erfahren, warum dies mit dir so ist.« Er ging, kehrte zurück und sprach: »Du hast deinem Freund versprochen, zu ihm zu kommen und ihm von deinem Weg zu künden. Du hast es vergessen und hast dein Versprechen gebrochen. Darum ist das Zeichen von deiner Stirn gewichen und es ist dir verwehrt, das Heiligtum der Wahrheit zu

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betreten.« Da schaute der Jüngling seinen Freund auf der Erde und trauerte ob seines Vergessens. Er fragte: »Was soll ich tun, um mich von meiner Schuld zu lösen?« Der Alte antwortete: »Steige in den nächtigen Traum deines Freundes nieder und künde ihm, was er zu wissen begehrt.« Der Jüngling stieg zur Erde nieder und trat in den Traum seines Freundes ein. Er strich dem Schlafenden über die Stirn und flüsterte in sein Ohr: »Lieber, ich bin gekommen, um dir von meinem Weg zu künden. Du aber zürne mir nicht, daß ich gesäumt habe. Denn wie kann man eines Menschen, und sei’s des liebsten, gedenken mitten im Schauer der Gotteswirbel, die alle Grenzen überfluten?« Jener aber warf sich im Schlaf empor, drückte die Hand an die Augen und stieß die Worte seines Unmuts aus aufeinandergepreßten Zähnen hervor: »Weiche von mir, Lügenbild, ich will mich nicht länger von dir narren lassen. Gewartet habe ich und gewartet, und der Verheißene kam nicht. Und nun ist mir über dem Warten mein Sinn verdorben, daß mich Nacht für Nacht dein Scheinbild heimsucht. Aber nun will ich mich nicht länger narren lassen. Ich befehle dir, zerfließe und erscheine mir nicht mehr!« Da warf sich der Jüngling zitternd über den Gefährten, schmiegte sich an ihn und sprach ihm zu: »Wahrlich, kein Trug, sondern dein Freund bin ich und gekommen zu dir aus der Welt der Wahrheit. Denk dran, wie wir unter den Birken am Sommerabend saßen. Denk dran, wie unsre rechten Hände sich umschlangen in der Stunde meines Sterbens.« Aber der Träumende schrie: »Das gleiche sagst du Nacht für Nacht, und fängst du mich und ich hebe mich zu dir, da gehst du hin in die Schatten. So laß nun ab von mir, und sieh, ich mache mich los!« Nochmals versuchte der Verstorbene den Kampf und rief: »Hast du nicht selbst gesprochen: ›Ja, es ist?‹« Jener jedoch lachte mit harter Stimme: »Wohl habe ich so gesprochen, und auch gewartet habe ich. Aber der Verheißene kam nicht, und nun weiß ich es: Ich war das Spiel in der Hand einer grausamen Stunde. Die hat mich geknechtet und geschändet und hat das Ja des Verrats auf meine Lippen gebracht. Aber ich schreie dir entgegen: Nein, es ist nicht!« Da wich der Jüngling und bog sich zum Entschwinden, aber noch kam ihm ein Letztes, und aus matter Ferne rief er dem Genossen zu: »So will ich am hellen Tag wiederkehren und dir ein Zeichen bringen.« In der oberen Welt eilte er zum Tempel der Begegnung, suchte den Alten und fragte ihn: »Hilf mir und sag, welches Zeichen kann ich meinem Freund bringen, daß ich in der Wahrheit bin?« Sprach der Alte: »Auch darin will ich dir raten, mein Sohn, und Gott sei mit dir. Am Mittag jedes Sabbats predigt der Baalschem in dem Lehrhaus, das in dem Himmel des heiligen Erkennens steht, von den Geheimnissen der Lehre.

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Und bei der dritten Sabbatmahlzeit, die Himmel und Erde eint, predigt er von diesen Geheimnissen vor den Ohren der Menschen, nachdem sein Wort die Weihe der obern Welt empfangen hat. So geh du am Mittag des Sabbats und höre die Rede deines Meisters im Himmel, sodann steige zu deinem Freund nieder und vermelde ihm die Rede. Dies aber soll ihm zum Zeichen dienen: Er komme zum heiligen Mahl in das Haus des Baalschem und vernehme die Worte aus dessen Mund.« Der Jüngling tat so, er nahm die Rede des Meisters auf, stieg nieder, trat in den Wachtraum seines Freundes und goß die Worte über ihn aus wie einen Balsam. Sodann beugte er sich über ihn und küßte ihn, Mund auf Mund, mit dem Kuß des Himmels. Dann entflog er. Jener aber erhob sich alsbald, und ihm war, er habe das Unerfahrbare erfahren. Er ging hinaus, da standen die Birken in der Mittagsonne. Lange saß er unter den Birken als ein Wissender. Als die Sonne sich neigte, ging er zum Haus des Baalschem, nicht aus dem Zweifel, sondern aus der Sehnsucht. Nun stand er in der Tür und hörte die Worte aus dem Munde des Baalschem. Er neigte sich zu den Füßen des Sprechers und sagte: »Rabbi, segne mich, weil ich sterben will. Denn was soll ich noch hier?« Aber der Meister sprach: »Nicht so. Zu den Birken tritt hinaus, die wieder im Sommerabend stehn, und rede zu ihnen in deiner Freude: ›Ja, es ist.‹ Und wohl segne ich dich, aber nicht zum Tod, sondern hier schon zu schreiten von Tor zu Tor, von Macht zu Macht, und so für und für.«

Das dreimalige Lachen An einem Freitagabend, als der Baalschem mit einigen seiner Schüler zu Tisch saß und eben den Segen über den Wein gesprochen hatte, begab es sich, daß sein Gesicht mit einemmal wie von innen heraus mit einem freudigen Schein erstrahlte, und er begann zu lachen und lachte sehr in einer innigen Weise. Die Schüler blickten einander an und sahen im Zimmer umher, aber da war kein Ding, das des Lachens Ursache hätte sein können. Nach einer kurzen Frist lachte der Baalschem zum andernmal und ganz auf dieselbe Art, mit der unvermuteten Fröhlichkeit und Helle eines Kindes. Dann ging eine kleine Weile hin, und sein Lachen erklang zum drittenmal. Die Schüler saßen schweigend um den Tisch. In ihren Augen war dieser Vorfall ein seltsames und unbegreifliches Ding. Denn sie kannten den Meister wohl und wußten, daß er sich nicht leichthin solcher Bewegung hingab. So vermuteten sie einen bedeutsamen Grund dieser Freudigkeit und hätten ihn gern gekannt, doch keiner fand den Mut, den Baalschem darum anzugehen. Darum richteten sie ihre Augen auf den Rabbi Wolf in ihrer Mitte, daß der vom Meister die Ursache des Lachens erfrage. Denn es war der Brauch, daß Rabbi Wolf am Sabbatausgang, wenn der Baalschem in seiner Stube rastete, zu ihm trat, um von ihm zu vernehmen, was im Lauf des Sabbats sich zugetragen haben mochte. So geschah es auch diesmal, daß dieser Schüler ihn um den Sinn des gestrigen Lachens fragte. Der Baalschem sprach: »Nun wohl, ihr mögt wissen, woher mir die Freude zuflog. Kommt mit mir, und ihr sollt hören.« Darauf hieß er den Knecht die Pferde einspannen, um, wie er pflegte, nach Ausgang des Sabbats eine Fahrt ins freie Land zu tun. Er bestieg mit seinen Schülern das Gefährt, und sie kehrten nicht wie sonst nach einigen Stunden in ihre Heimat zurück, sondern fuhren die ganze Nacht schweigend durch die Dunkelheit. Am Morgen langten sie in einem Ort an. Der Baalschem ließ bei dem Haus des Vorstehers den Wagen halten. Bald war seine Ankunft der ganzen Judenschaft bekannt geworden. Alle kamen und umringten das Haus, um ihn zu ehren. Er aber befahl dem Vorsteher, ihm Schabtai, den Buchbinder, rufen zu lassen. Jener erwiderte ein wenig unzufrieden: »Meister, was wollt Ihr von dem, der von niemand sonderlich beachtet in unserer Gemeinde lebt? Er ist ein redlicher Jude, aber nie habe ich ihn um der geringsten Wissenschaft willen rühmen hören. Was kann Euch der frommen?« – »Gleichwohl«, sprach der Meister, »ist es mein Wille, daß du ihn mir rufest.« Man schickte um ihn, und er kam, ein beschei-

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dener, grauhaariger Alter. Der Baalschem sah ihn an und sprach: »Auch deine Ehefrau möge kommen«, und auch sie war alsbald zur Stelle. »Nun«, sagte der Baalschem, »sollst du mir erzählen, was ihr in der letzten Sabbatnacht getan habt. Aber sage die schlichte Wahrheit, habe keine Scham und verbirg uns nichts.« »Herr«, erwiderte jener, »nichts will ich vor dir verhehlen, und habe ich gesündigt, so siehst du mich bereit, aus deinen Händen die Buße zu nehmen, als käme sie von Gott selber. Alle Tage, die mir der Himmel gegeben hat, konnte ich von meiner Arbeit leben, ja, ich vermochte mir beizeiten ein kleines Spargut beiseite zu legen. Von Anfang an aber war es meine Sitte, daß am Mittag des fünften Tages in der Woche mein Weib hinging, um mit aller Sorglichkeit das Nötige für den Sabbat einzukaufen, unser Bedürfen an Mehl, Fleisch, Fischen und Kerzen. Nach der zehnten Stunde des Sabbatvortags ließ ich meine Arbeit und ging ins Bethaus, um dort bis nach dem Abendgebet zu verbleiben. So habe ich es von Jugend an gehalten. Jetzt aber, da ich zu altern anhebe, hat sich mein Glücksrad gedreht, mein Besitz ist mir aus den Händen geflossen, und meine Arbeitskraft ist erlahmt. Nun lebe ich ein Sorgenleben, und oft gelingt es mir nicht, alles Bedürfen des Sabbats am fünften Tag einzuschaffen. Mein Trost ist – was auch über mich kommen mag, eins brauche ich nicht zu lassen: um die zehnte Stunde des Sabbatvortags meine Wochenarbeit zu enden, ins Bethaus zu gehn und beim Sprechen des Hohenlieds und der Festgesänge bis an den Abend zu verweilen. Es war die zehnte Stunde am Vortag dieses Sabbats, keine Münze war mir zur Hand, die Bedürfnisse des Festtags zu bestreiten, und mein armes Weib hatte kein Stäubchen Mehl mehr in der Truhe. Nun aber hatte ich alle Tage meines Lebens nie eines Menschen bedurft, so wollte ich auch diesen Tag ohne Almosen bestehen. So war bei mir beschlossen, diesen Sabbat zu fasten. Ich fürchtete aber, daß es meiner Frau allzusehr das Herz bedrücken würde, kein Licht auf dem Tisch brennen zu sehen, und daß sie eine Kerze und etwa ein Sabbatbrot oder ein wenig Fisch annehmen könnte, wenn ihr’s eine Nachbarin gutmeinend anböte. Darum verlangte ich ihr ab, von keinem Menschen Hilfe entgegenzunehmen, sei es auch, daß wer sie darum bedrängte. Denn, versteh, Meister, die Juden, unter denen wir leben, sind gut von Gemüt und möchten schwerlich besehn, daß uns der Tisch am Sabbat leer stünde. Meine Frau sagte es mir zu. Ehe ich ins Bethaus ging, sprach ich zu ihr: ›Heute werde ich säumen, bis der Tag sich neigt. Denn wenn ich mit den andern vom Bethaus heimginge, und sie sähen in meinem Hause kein Licht, würden sie mich um die Ursache fragen, und ich wüßte nicht, was ihnen antworten.

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Wenn ich aber dann komme, mein Weib, wollen wir in Liebe empfangen, was der Himmel uns bescheiden wird.‹ So sagte ich meiner alten Ehefrau zum Trost. Sie aber blieb und säuberte das Haus in allen Ecken und Winkeln. Da der Herd kalt war und sie keine Speise vorzubereiten hatte, blieb ihr viel Zeit, die sie nicht anders hinzubringen wußte, als daß sie einen alten Schrein öffnete und die vergilbten Kleider aus unserer Jugend herausnahm, um sie zu bürsten und reinlich wieder einzubreiten. Da fand sie unter all dem alten, vertragenen Zeug einen Ärmel, den wir vor Jahren einmal vermißt hatten und der seither nimmer aufzufinden gewesen war. Auf dem Gewandstück aber saßen etliche Knöpfe, wie Blümlein geformt, aus Gold- und Silberdraht, wie man dergleichen lieben Zierat auf altem Zeug wohl antrifft. Die schnitt mein Weib ab und trug sie dem Goldschmied hin, und der gab ihr so viel Münze, daß sie erstehen konnte, was an Speisen für den Sabbat not tat, auch zwei gute, starke Kerzen und sogar noch, wessen wir für den nächsten Tag bedurften. Am Abend, als alles Volk gegangen war, schritt ich langsam durch die Gäßchen unserem Hause zu und sah schon von weitem ein Licht brennen. Der Kerzenschimmer ließ sich festlich und traulich an. Ich aber dachte: Meine alte Frau hat nach Weiberart getan und konnte sich nicht enthalten, etwas anzunehmen. Ich trat ein und fand den Tisch wohl gedeckt und bereitet mit Sabbatbrot und Fischen, und auch den Wein fand ich vor, den Segen darüber zu sprechen. Aber ich verwehrte mir, mich zu erzürnen, weil ich den Sabbat nicht zerreißen wollte. So hielt ich mich zurück, sprach den Segen und aß vom Fisch. Danach sagte ich zu meiner Frau, aber ich tat es mit sanfter Rede, weil ich mich ihrer armen bekümmerten Seele erbarmte: ›Nun erweist sich, daß dein Herz nicht imstande ist, das Harte zu empfangen.‹ Sie aber ließ mich nicht zu Ende reden, sondern sprach mit heller Stimme: ›Mein Mann, entsinnst du dich noch des alten Zeugs mit den Silberknöpfen, das uns seit Jahren mangelt? Als ich heute die große Truhe ausfegte, habe ich es gefunden. Die Knöpfe gab ich dem Goldschmied, und für das Geld habe ich den Sabbat bestellt.‹ Meister, als ich das hörte, gingen mir die Augen über, so groß war meine Freude. Ich warf mich nieder und dankte dem Herrn, daß er meines Sabbats gedacht hatte. Ich sah mein Weib an und sah ihr gutes Gesicht von meinem Glück widerstrahlen. Da wurde mir warm, und ich vergaß der vielen kümmerlichen Tage. Ich faßte meine Frau und führte sie im Tanze rund in der Stube herum. Dann aß ich die Sabbatsuppe, und mir war immer leichter und dankbarer zumut; da tanzte ich in Freuden und Lachen ein zweites Mal, und als ich die Zukost verzehrt hatte, tat ich’s zum dritten. Sieh, Meister, so groß war mein Glück, daß diese

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Segensgabe am Sabbat mir von Gott allein und nicht von den Menschen gekommen war. Ich konnte mein Herz nicht verschließen in dieser großen Freude. Rabbi, wenn es aber, wiewohl es mir im Sinn lag, mich damit vor Gott zu neigen, unwürdige Torheit war, daß ich mit meinem Weibe getanzt habe, so gib mir eine gnädige Buße, und es soll an mir nicht fehlen, daß ich sie verrichte.« Hier schwieg Schabtai, der Buchbinder. Der Baalschem sprach zu seinen Schülern: »Wisset, alle Heerscharen des Himmels haben mit ihm gejubelt und mit ihm sich im Reigen gedreht. Und ich, der all dies sah, lachte darob zu den drei Malen.« Zu den beiden aber gewandt, sagte er: »Möge euch Kinderlosen ein Sohn eures Alters geboren werden, den nennet Israel nach meinem Namen.« So geschah es. Dieser Knabe ist der Maggid von Kosnitz, der große Beter geworden.

Die Vogelsprache Rabbi Arje, der Prediger von Polnoje, trug brennendes Begehren nach einer Weisheit, die unter den Irdischen so selten ist, daß in jedem Zeitalter nur ein einziger ihr Erbe und Hüter ist. In den Tagen, da Rabbi Arje auf Erden ging und um ihren Besitz rang, war es der Baalschem, der sie innehatte. Der Träger dieser Weisheit hatte Gehör für die Sprache aller Kreaturen. Es ging ihm ein, was die Tiere auf der Erde und in den Lüften von den Geheimnissen ihres Daseins einander vertrauten; ja selbst was Baum und Kraut einander zusprachen, war ihm kund. Wenn er sein Ohr an den schwarzen Erdboden oder an den nackten Fels legte, kam ihm das Raunen der Geschöpfe zu, die das Licht scheuen und in Spalten und Höhlen hausen. Nun war es Rabbi Arje wohl bewußt, welche Vermessenheit sich in seinem Wunsch barg. Doch dachte er, er dürfe ihn dennoch hegen, des hohen Strebens halber, aus dem er ihm geboren war. Er, der als Redner seine Hörer hinriß, glaubte, wenn die Sprache der Kreaturen in die seine einginge, würde er aus dem Geist der Erde und der Himmel predigen und aller Seelen dem Herrn der Kreatur zuführen. So beschloß er, zum Baalschem zu ziehen, dessen freundlicher Gesinnung er gewiß sein durfte, und ihn zu bitten, daß er ihn in die Wunderkunst einweihe. Er meinte, der Meister würde ihm um seines hohen Ziels willen die Gewährung nicht versagen. Wunsch und Hoffnung beschwingten seine Füße. So ging er des Wegs, eingesponnen in seinen Traum, ohne Mensch und Ding zu achten. Und so trat er in die Stube des Meisters. Das Gemach war voller Menschen, die hingegeben der Rede des Baalschem lauschten. Der Rabbi zog die Tür hinter sich zu und verneigte sich schweigend. Als er das Haupt erhob, tauchte sein von seiner rastlosen Begierde hart glänzender Blick in die mildleuchtenden Augen des Meisters. Der Baalschem stand ihm gegenüber, sprechend an die Wand gelehnt. Der Rabbi erkannte an seinem Blick, daß er ihn wohl gesehen hatte, obwohl der Heilige es durch kein Wort oder Zeichen kundtat; so blieb er an der Tür stehen. Er bemerkte, daß der Meister in einem Gleichnis redete, aber er war nicht imstand, der Rede zu folgen, denn es kränkte ihn tief im Herzen, daß ihm nicht einmal ein flüchtiger Gruß zugewendet worden war. Doch zügelte er seine ungeduldigen Gedanken und nahm sich vor, gelassen zu warten, bis der Meister geendet haben würde, denn sicherlich wollte er ihm alsdann Willkomm entbieten. Der Baalschem aber hatte gesprochen, und nun

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ließ er den und jenen aus der Hörer Mitte zur Äußerung kommen, denn noch erzählend hatte er aus den Mienen gelesen, was ein jeder unter ihnen empfand, Widerspruch, Frage und Zustimmung. Während Rede und Gegenrede gehört wurden, achteten weder Wirt noch Gäste auf den Angekommenen, und so stand dieser noch todtraurig an der Tür. Die Scham, sich so mißachtet zu sehen, dörrte ihm schier den Atem. Es war ihm, als müßte er leise hinwegschleichen, um irgendwo sich auszuweinen. Aber als seine Hand sich schon an die Klinke legen wollte, sie sacht niederzudrücken, gedachte er des Begehrens, das ihn hergebracht hatte, aufflammend beherrschte ihn sein ewiger Wunsch, und er meinte, keine Schmach sei so schlimm, daß er sie um dieses Ziels willen nicht ertrüge. Indessen wandten sich viele Gäste zum Gehen. Der Wirt geleitete sie zur Tür, den Friedensgruß spendend. Da, als sein Gewand den Rabbi streifte, kehrte er sein Haupt fast unmerklich ihm zu und gab ihm den Gruß, gleichsam über die Schulter hinweg, ohne Freude und Bewegung, mit gleichmütiger Stimme. Dem Prediger war nun der Mut gar krank geworden. Er empfand, als hätte man ihn des Bodens beraubt, darauf seine Füße standen. Doch wurde seine Sehnsucht wiederum wach und belebte ihn aufs neue, er raffte all seine Stärke und Geduld zusammen und wappnete sich so gegen die Unbill, die dieser Tag ihm brachte. Er sagte sich: Mag es ein grausamer Zufall sein, der mich so beschämt, oder eine Prüfung, die der Meister als gut zu meiner Läuterung erfand, ich bleibe und harre der gütigen Stunde. So brachte er den Tag bis zum späten Nachmittag in dem Haus des Baalschem unter den Freunden und Schülern zu. Gegen Abend ließ der Meister Wagen und Pferde zur Ausfahrt rüsten, denn er gedachte noch des selben Tages eine Reise anzutreten. Schon befiel den Rabbi Arje Verzweiflung, da er den Herrn sich ihm so entziehen sah, als der mit einer freundlichen Bewegung seiner Hand ihn zu sich rief und ihm gebot, sich einigen andern Männern seiner Begleitung auf dieser Reise zu gesellen. Da erbebte des Predigers Angesicht vor Freude, denn er wußte, der Heilige wählte mit Bedacht zu Genossen auf seinen Fahrten jene, denen er seinen Willen oder seine Erkenntnis in irgendeiner Weise mitzuteilen gedachte. Er fühlte, daß der Baalschem ihm die Gewährung seines Begehrens auf dem Wege zugedacht hatte. Schweigsam fuhren die Genossen in das schon dämmernde Land hinaus. Wie nun nach dem Sonnenniedergang alle Gerüche der Pflanzen und der Dunst der Erde herber und stärker die Luft würzten, stieg die Erwartung in den Seelen, denn auf diesen Reisen, die der Meister mit den Schülern unternahm, pflegte Bedeutsames zu geschehen. Weiße Nebel, sonderbar gestaltet, zogen aus den Ackergründen auf den Weg, war-

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fen sich dem Wagen entgegen, die Ahnungsschauer der Insassen vermehrend. Es wurde dunkel, die Pferde griffen eiliger aus, alles verschwamm. Rabbi Arje war nach dem ersten Entzücken in eine Erstarrung verfallen. Er hielt die Augen krampfhaft offen, denn jeden Augenblick, meinte er, konnte der Meister seinen Namen rufen, um mit ihm von dem zu reden, wonach es ihn verlangte. Doch der Baalschem verblieb in wortloser Versunkenheit. Um Mitternacht gebot er dem Wagen Halt. Es war eine Herberge in einem Städtchen am Weg, vor der sie hielten. Der Baalschem stieg sogleich die Treppe empor zum Obergemach, wo der Wirt ihm eine Ruhestätte bereitete. Die Jünger verblieben insgesamt in der großen Stube zu ebener Erde. Eine Magd richtete eilig mit einigen Polstern und Decken notdürftige Lager auf den Wandbänken her. Alle warfen sich ermattet nieder und schliefen ein. Rabbi Arje legte sich mit den andern hin, aber sowie sein Körper das Lager berührte, war die lähmende Müdigkeit, die ihn auf der Fahrt gepeinigt hatte, vergangen. Seine Gedanken flogen in einem Wirbel auf, und sein ewiger Wunsch kreiste in ihrer Mitte. Mit Anstrengung lauschte er auf jeden Laut im Hause. Würde der Meister jetzt, da alle schliefen, in der geheimnisreichsten Stunde der Nacht, ihn auf seine Kammer rufen, um ihm die Offenbarung zu bescheren? So lag er fieberglühend und harrte dem Morgen entgegen. Während die Schatten der Nacht aus dem tiefen Schwarz sich in ein fahles Grau verfärbten, vernahm er über sich ein Geräusch auf den Dielen und erkannte die Schritte des Meisters. Dann wurde eine Tür aufgetan, und eine Stille wie zuvor folgte. Der Prediger lag eine Weile und lauschte, dann bezwang ihn die Ungeduld, er schlich sich an den Schlafenden vorbei und eilte die Treppe hinauf, da er nun gewiß war, daß der Baalschem, der stets in einem kurzen Schlaf die Quellen seines Lebens erneute, sein Lager verlassen hatte. Und Rabbi Arje vermeinte, diese nachtgeborene Stunde des werdenden Tags sei seiner Bitte günstig. Auf der letzten Stufe der Treppe traf ihn ein so starkes Licht, daß er zurücktaumelte und mit geschlossenen Augen sich an das Geländer klammerte. Als er mühsam die Augen aufzuhalten imstande war, gewahrte er den Heiligen in der Öffnung seiner Kammertür, und das Angesicht des Baalschem war der Kern jenes feurigen Glanzes, der ihn vorher zurückgeworfen hatte. Aus seinen Augen schienen blaue Silberbäche hervorzubrechen. Der Anblick war von solcher Art, daß den Prediger eine zitternde Schwäche in allen Gliedern befiel. Er warf sich auf der letzten Stufe nieder. Als er den Blick wieder wagte, glich das Antlitz seines Herrn einem erbleichenden Gestirn, das der Tageshelle weicht. Nach einer Weile rief ihn der Baalschem mit Namen. Er erhob sich von den

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Knien und eilte gesenkten Gesichtes zu dem Meister, warf sich dort aufs neue zur Erde und brach in Tränen aus. »Freund, was begehrst du von mir um diese Stunde?« fragte der Baalschem. Der Prediger fand kein Wort zur Erwiderung. »Sei ohne Zagen, steh auf!« ermutigte ihn der Meister, doch als er zu reden versuchte, brach nur ein rauhes Stammeln über seine Lippen. Da erhob er sich verstört und beschämt und verließ den Herrn, ging leise zu den Genossen hinunter, die tief im Morgenschlaf befangen sein Kommen überhörten, und suchte wieder sein Lager auf. Er begab sich mit ihnen zum Frühmahl, saß verschlossen bei ihren Gesprächen und verriet mit keiner Silbe das Ereignis der Nacht. Der Baalschem aber war wie immer, ruhig und mitten im Leben. Als es zur Abfahrt ging, rief er den Prediger herbei und sagte zu ihm: »Freund, du sollst den Platz an meiner Seite einnehmen.« So fuhren sie in den lauten, geschäftigen Tag hinein. Als das Städtchen hinter ihnen lag, die Felder sich dehnten und fern ein Wald vor dem Blau des Himmels dunkelte, sah der Baalschem seinem Nachbarn mit einem Lächeln ein wenig vorgebeugt unter die Augen und begann so zu reden: »Der Grund deiner Ankunft und deines Weilens in meinem Haus ist mir bekannt. Du hofftest, daß ich dich in meine Erkenntnis einführe, damit sich dein Ohr wie meines der Sprache aller Kreatur öffne. Ich weiß, dies hat dich zu mir geführt.« Rabbi Arje ergriff die Hand des Meisters und legte sein glühendes Antlitz darauf, kein Ton der Antwort kam über seine Lippen. Der Baalschem aber sah hinaus auf die zartgrünen Saatfelder, und das Lächeln blieb auf seinen Mienen. Nach einer Frist redete er wieder: »Setze dich näher zu mir und neige dein Ohr zu meinem Mund: ich will dich nun meine Weisheit wohl lehren. Ehe ich dich aber in den Urgrund des Geheimnisses einführe, tut es not, daß ich ein Ding, das du kennst, vor dein Auge hebe. Bedenke jedoch, daß dieses, was ich dir nun sagen will, nur die Vorbereitung für die letzte der Offenbarungen ist. Du weißt von dem ewigen Wagen, der in der höchsten Sphäre der oberen Welt steht. An seinen vier Enden ist je das Haupt einer Kreatur, eines Menschen, eines Stiers, eines Löwen und eines Adlers. Diese vier Geschöpfe bergen in sich Wurzel und Ursprung alles dessen, was in den lebenden Wesen unserer Welt sich ereignet, Atem gewinnt und als Wort geboren wird. Von dem Menschenantlitz kommt uns der Geist der Sprache zu, die wir zu Menschen Geschaffenen hier unten tauschen. Aus dem Haupt des Stiers kommt den Tieren, die uns dienstbar und hilfreich wurden, der Sinn ihrer Laute; aus dem des Löwen die Bedeutung der Schreie, die das unbändige und wilde Getier in den Wäldern und Wüsten in die Dämmerung sendet, sich zu rufen und zu locken; der Kopf des Adlers

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aber erzeugt die Laute des Vogelvolks, mit denen es die Lüfte unter dem Himmel füllt. Und das wisse, Freund: Wer seine Seele so hoch zu spannen vermag, daß sie in jene Sphäre der oberen Welt eindringt, in der der Wagen steht, und wer dann so klar und tief schaut, daß er das Geheimnis der vier Kreaturen des Wagens erkennt, der hat den Sinn offen für alle Laute auf Erden. Er scheidet das falsche Wort von dem wahren und den trügerischen Ton vom herzgebornen. Er hört die Stimmen unter der Erde sich in den Nächten unterreden, wenn dem Menschengeschlecht die Stille vollkommen und jeder Laut abgestorben dünkt. Die Stimmen der Tiere auf der Erde und der Vögel in den Lüften tragen ihm jene Heimlichkeiten zu, für die die Sinne der Menschen sonst unempfindlich sind. So schweigt die Welt ihm nie, sie drängt sich an ihn mit allen Wundern, nichts ist ihm starr und versagend, denn er hat den Ursprung im oberen Wagen geschaut. Aber versteh wohl: Was ich dir nun sagen werde, ist der Kern der Offenbarung selber. Darum beuge dein Ohr tief zu meinem Mund und höre mit ganzer Seele mir zu. Verschließ dich in diesem Augenblick vor allem, was außer dir und meinen Worten weilt!« Und nun flüsterte er Rabbi Arje erhabene und nie vernommene Dinge zu, daß die Mysterien des Wagens und seiner Gestalten ihm erschlossen wurden. Es war ihm, als ob Tor um Tor vor ihm aufspringe, alle Schatten wichen, alles Trübe sich kläre. Wie er so, an den Meister gedrängt, das eine Ohr nah dem Mund des Heiligen, saß und im Lauschen aufging, fuhr der Wagen in einen Wald ein. Der Weg war knapp für das stattliche Gefährt, und dem Prediger streiften die Nadelzweige das eine Ohr. So wurde er ein kleines aufmerksam auf den Ort und bemerkte, daß allerhand Vögel gar anmutig ihren Frühgesang aufführten. Bald unterschied er wunderlich genug einzelne Worte und Partien. Das Ganze war eine große Unterredung, und alles hatte einen munteren, lieblichen Sinn. Da wurde es dem Prediger fröhlich und stolz ums Herz, er hörte emsig weiter zu und unterschied alsbald auch die Stimmen andrer Tiere und den Inhalt ihrer Reden mit innigem Behagen an seiner wunderbaren Fähigkeit. Über dem einen aber ließ er das andere mitnichten, sondern horchte mit dem zweiten Ohr nicht minder eifrig den Worten des Meisters, und so mit geteiltem Geist nahm er beides hin. Der Wald lichtete sich, und schon sah man die Stadt liegen, die das Ziel des Baalschem war. Der hatte seine Unterweisung beendet und blickte den Prediger forschend an. »Hast du gut inne, was du von mir vernommen hast?« fragte er nach einer Weile. Rabbi Arje sah ihn mit si-

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chern Augen strahlend an und sagte: »Ja, Meister, alles habe ich wohl verstanden.« Da fuhr ihm der Heilige mit der flachen Hand leicht über die Stirn. Nun hatte der Rabbi alles, alles vergessen, was der Baalschem an Offenbarung in seinen Geist gelegt hatte. Er saß da, trostlos leer und wie ausgebrannt, hörte die Vögel in den Ackerfurchen schreien und verstand davon so wenig als je vor diesem Tag – eines Getiers simpler, sinnloser Laut! Der Baalschem aber lächelte und sprach: »Wehe dir, Rabbi Arje, der du eine naschhafte Seele hast! Konntest du sie mir nicht ganz überlassen in dem Augenblick, da ich die Gnade in sie legen wollte? Weh dir, Freund, der du in Vielheit und Hast sie bereichern wolltest! Gottes Wunder sind derer, die sich in Einem sammeln und bescheiden können.« Schluchzend legte der Prediger sein Gesicht in die Hände.

Das Rufen Rabbi David Firkes, der Schweiger, der Schüler des Baalschem, wollte den Messias rufen. Er wollte aus seinem Willen einen Sturmwind machen, der sollte an der obern Pforte rütteln, sollte eindringen und rufen und fassen und auf die Erde ziehen. Er band sein Leben los von allen Wesen und Mächten, kasteite sich und lebte in der Gelöstheit viele Tage und Nächte. Aber bald wurde er inne, daß er allein war. Er sollte für die Zeit sprechen, aber er vermochte es nicht. Er sollte ihre Reife künden, aber er nahm sie nicht wahr. Fern von ihm breiteten sich die Lager der Menschen. Da fand Rabbi David, was ihm zu tun oblag. In jedem Jahr am Versöhnungstag wurde er berufen, das große Gebet vor der Gemeinde zu sprechen. Jetzt erst verstand er den Sinn davon. Er wußte, er würde auf den Flügeln seines Wortes das Beten aller tragen, das Gebet der Gemeinde und das Gebet ganz Israels – denn ist nicht das Bethaus des Baalschem der Mittelpunkt der geistigen Erde? Und er beschloß, sein Wort auf das Volk zu schleudern wie ein gewaltiges Netz, daß alle Inbrunst von ihren engen Eigenzielen weggehoben und dem Messias zugeführt werde. Binden wollte er die Seelen Israels zu einer ringenden Schar. Ja, er wollte für die Zeit sprechen. Alle Worte sollten in sein Wort fließen und in ihm emporströmen. Ja, er wollte die Reife der Zeit künden. Das Vielfache sollte zur Einheit verschmelzen, die keinen Mangel mehr kennt. Der Versöhnungstag war da, und die Gemeinde versammelte sich zum Frühgebet. Wie Tote standen sie in den Totenkleidern und bereiteten sich, in das Auge der Ewigkeit zu blicken. Nur der Meister fehlte. Der Baalschem war sonst der erste im Bethaus, wie ein Torhüter Gottes. Heute säumte er, und die Schar der Seinen harrte sein voller Bangigkeit, denn sie wußten, daß alles, was er tat, aus dem heimlichen Geschehen der Welt seinen Sinn nahm. Als der Morgen sich schon zum Tag aufhellte, trat der Baalschem leise und fast zögernd ein. Er ging an den Versammelten vorbei und sah keinen an, ging an seinen Ort, setzte sich und legte den Kopf auf das Betpult. Jene standen, sahen auf ihn und wagten nicht mit dem Beten zu beginnen. Er aber hob den Kopf nach einer Weile, und seine Augen blinzelten wie eines, der sich müht, in die Sonne zu sehen, dann senkte er ihn und hob ihn wieder, und das währte eine Zeit. Danach dehnte er sich wie ein Erwachender, der einen umklammernden Traum von den Gliedern abtun will, und winkte, man solle sich zum Frühgebet stellen. Aber als dieses gesprochen war und die Gemeinde sich geweihten Herzens zu dem großen Gebet rüstete, welches das Mussaf genannt wird,

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sah der Meister sich im Kreis um und sah sie stehen, eine große Schar, stumm, im Gewand des Tods, bereit zum Sterben wie zum Leben. Und leis, Wort von Wort gezogen, wie aus der Tiefe des Sterbens, sprach er zu denen, die um ihn standen: »Wer wird Mussaf vorbeten?« Und so fast unhörbar die Rede war, im gleichen Augenblick war ein Staunen entzündet in der Gemeinde und breitete sich still durch den stillen Raum. Denn alle wußten, dies war Rabbi Davids Amt, er war vom Meister seit manchem Jahr eingesetzt als Gottes Diener im lauten und tragenden Sprechen des hohen Mussaf am Tage der Versöhnung. Aus all den zitternden Herzen und von all den flüsternden Lippen sollte er die Wünsche und die Bitten emportragen, von der Scheu der Herzen und Lippen gelöst. Keiner jedoch wagte, dem Heiligen zu antworten. Er fragte wieder und wieder, bis einer leise und mit Zagen sprach: »Rabbi David ist doch der Beter!« Da richtete sich der Baalschem auf und wendete sich zur Lade, vor der Rabbi David unirdisch bleich und wie abgestorben stand, und redete zu ihm in gewaltigem Hohn: »Du, David, willst Mussaf vorbeten? Weißt nichts und willst Mussaf vorbeten am Jomhakippurim?« Da standen sie alle bestürzt, denn sie verstanden nicht, was sich ereignete, und jeder fragte sich, wie es möglich sei, daß der Meister dergestalt einen Menschen schmähe, und gar einen Zaddik, und gar am Tag der Versöhnung. Allein die Furcht war groß, und niemand sprach ein Wort. Rabbi David aber stand noch starr und aufgereckt vor der Lade, und ihm war, als trüge ihn ein Wirbelsturm durch die Nacht, Fäuste hoben sich aus dem Wirbel und schlugen ihn, und eisige Krallen rissen seine Seele hervor und warfen sie in die Nacht. So stand er verloren in leerem Raum und wurde keiner Zeit gewahr. Urplötzlich aber wich der Wirbel, er fand sich vor der Lade stehen und hörte ein Wort des Baalschem zu sich herübertönen. Der Baalschem redete mit leichter Stimme: »Ist keiner da, vorzubeten, nun, so geh schon du, Rabbi David!« Da stürzten Rabbi David die Tränen hervor, er weinte und weinte, und begann aus dem Weinen zu beten und betete in großem Weinen, und sein brechendes Herz sandte ihm Tränen und immer neue Tränen. Die Tränen nahmen in ihrem Strom seine Bereitschaft mit und seinen großen Willen, sie trugen mit sich davon die Kawwana seines Geistes, die Frucht der Tage und Nächte, die Spannung des Unendlichen. Nichts fühlte und wußte er mehr als das Leid seines Herzens, und aus seinem Herzeleid redete er zu Gott und betete und weinte. Und an seinem Leid entbrannte das Leid der Gemeinde und schlug empor. Wer eine Decke gebreitet hatte über die Fehle seines Lebens, der zog sie nun weg und wies Gott seine Wunden wie einem Arzt. Wer eine Mauer errichtet hatte zwischen sich und den Menschen, der riß sie nieder und litt den Schmerz der andern in seinem Schmerz mit. Und

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wem die Brust schwer war, weil er in ihr das Wort nicht finden konnte, das hindringt zum Kern der Geschicke, der fand es nun und atmete in Freiheit. Aber als das Fest sich geneigt hatte und die letzten Feiertöne der Neïla in den Abend verbraust waren, trat Rabbi David vor den Baalschem hin. Wie er so vor ihm stand, ohne ihn anblicken zu können, und das gütige Angesicht nahe dem seinen nicht sah, nur fühlte, vermochte er sich nicht länger zu halten, sondern sank davor nieder und lag eine Weile stumm und ringend da. Endlich erhob er den Blick und sprach mühevoll: »Rabbi, welche Schuld hast du an mir erschaut?« Hinter ihm hatte sich die Gemeinde geschart, und alle harrten der Worte des Meisters; mit Augen, die das Gebet geläutert und befriedet hatte, sahen sie auf seinen Mund. Der Baalschem sprach: »Keine Schuld finde ich an dir, Rabbi.« Er legte ihm die Hände auf die Schultern, neigte sich zu ihm wie ein Vater, der seinen Sohn segnet, und sprach zum andern Mal: »Keine Schuld finde ich an dir.« Und als des andern traurig wartender Blick zu ihm aufflog, sprach er weiter: »O Rabbi David, du hast dich bereitet und geheiligt und hast im Feuer der Kasteiung deinen Leib gebadet und hast deine Seele gespannt wie eine Bogensehne der Kawwana, um den Messias zu rufen.« Er hielt inne, jener beugte die Stirn, und der Baalschem sprach weiter: »O Rabbi David, du wolltest dein Wort wie ein Netz schleudern auf das Volk Israel und alle Willen dir dienstbar machen, um den Messias zu rufen.« Tiefer beugte jener die Stirn, und der Baalschem sprach weiter: »O Rabbi David, vermeinst du, deine Gewalt könne das Unfaßbare fassen? Und dränge sie auch vor bis zum innersten Himmel und umfinge den Thron des Messias, vermeinst du, du hieltest ihn, wie meine Hand deine Schulter greift? Über die Sonnen, über die Erden wandelt Messias in tausend und tausend Gestalten, und die Sonnen und die Erden reifen ihm entgegen. In seiner obern Form gesammelt, zerstreut in unsägliche Weite, hütet er allerorten das Wachsen der Seele, hebt er aus allen Tiefen die gefallenen Funken. Täglich stirbt er die stillen Tode, täglich keimt er in stillen Geburten, täglich steigt er empor und nieder. Wenn einst die Seele schlank und vollendet mit reinen Sohlen den reinen Boden tritt, dann wird seine Stunde in seinem Herzen aufpochen, dann wird er sich aus allen Erscheinungen ziehen und wird sitzen auf dem Thron, Herr der Himmelflammen, die aufgeloht sind aus den erlösten Funken, und wird niedersteigen und kommen und leben, und er wird der Seele sein Reich schenken.« Und weiter sprach der Baalschem: »Du aber, Rabbi David, was hast du getan! Du wolltest dich mit der Gemeinde Israels in die Nacht werfen um des Morgens willen. Aber kennst du den Herrn der Nacht? Wisse, immer ist einer, der die Zeit befragt, und einer, der aus

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der Zeit antwortet. Einer, der geben will, und einer, der die Annahme weigert. Dies ist der Herr der Nacht, dazu eingesetzt, den Mangel der Zeit zu künden. Als er sah, daß du dich bereitetest und heiligtest, wuchs eine große Freude in ihm auf, und er gedachte in deinem Gebet das Gebet Israels einzufangen und sich ein Spiel daraus zu machen. Er lauerte deinem Gebet auf dem Weg auf, es einzufangen. Ich stritt mit ihm an diesem Morgen, ihn zu verjagen, aber ich übermochte ihn nicht. Da schlug ich deine Seele mit Beschämung, daß sie ihren Willen aufgab und in Tränen verströmte. Dein Gebet stieg auf inmitten der Gebete Israels, frei empor zu Gott.« Da beugte sich die Stirn des Rabbi David völlig zu Boden. Aber der Baalschem hob ihn auf, zog ihn zu sich heran und sprach: »Als das Weinen über dich kam, ist an deinem Leide das Leid Israels entbrannt. Jeder stand im Läuterfeuer seines Herzeleids vor Gott, jeder wurde rein im Strom seiner Tränen. Wie viele gefallene Funken hast du da emporgehoben!«

Der Hirt lmmer, wenn das Licht seinen Boten sendet, sendet auch die Nacht ihren Boten. Das Licht hat nur seinen Blick, aber die Nacht hat tausend Arme. Der Bote des Lichts hat nur seine Tat, aber der Bote der Nacht hat tausend Gebärden. Damals hieß er Jakob Frank. Aller Kunst des Trugs kundig, fälschte er das Heiligste, durchzog mit zwölf Erwählten die Städte Polens und ließ sich als den Messias und Gottessohn verehren. Der farbige Bann der Lüge ging von ihm aus, sein weiches, glänzendes Auge berauschte das Land, und jedes schwankende Herz fiel ihm zu. An einem Morgen fühlte der Baalschem eine Hand auf seiner Schulter, und als er sich wandte, sah er den Engel des Kampfes mit bleicher Stirn und zürnenden Brauen. »Was begehrst du, o Herr?« fragte er mit unsicherem Mund. Jener aber sprach: »Du weißt es«, und ging. Seine Hand war von der Schulter des Baalschem gewichen, aber eine Last war geblieben und wollte nicht weichen. So rüstete der Baalschem sich. Und da er sah, daß der Kraft, die in ihm wohnte, nicht genug war zum Werk, beschloß er, alle Strahlen heimzurufen, die er je an irdische Wesen gespendet hatte. Er beschwor weithin die Strahlen, warf einen Ruf über die Erde und sprach: »Kehret heim, meine Kinder, denn ich bedarf euer zum Kampf.« Alsbald flogen die Strahlenkinder herbei und umlagerten ihn schweigend in weitem Kreis. Israel, Sohn des Elieser, der Baalschem, blickte weit hinaus, wo Sphäre der Seinen sich leuchtend um Sphäre schloß, wie die sinkende Sonne am Tagesrand ihr Bild anschaut, ausgegossen im Abendrot über alle Fernen. Sodann sprach er mit leisen und langsamen Lippen: »Einst habe ich euch entsendet und hingeschenkt, Trost oder Freude oder Lösung zu bringen. Aber nun rufe ich euch heim, daß ihr wieder mein seiet und mir in dem großen Streit wider den Boten der Nacht helfet. Ich hätte euch nicht gezogen von den Stätten der Welt, darin ihr wachset und Leben weckt, wenn es nicht um das Heil ginge und um die Geburt der Zukunft. Nun aber berufe ich euch.« Da war wieder das Schweigen über dem Land. Endlich sprach ein Fünklein: »Vergib, Meister, und ihr alle vergebet, daß ich geringes Ding vor euch rede. Aber es ist dies, daß ich dich bitten will, lieber Herr, du mögest mich wieder an meine Stätte lassen. Denn als du mich aus dir hingabst, hast du mich in das Herz eines Jünglings gesenkt, der blickte von seinem Fenster trübselig in eine Welt, die sich starr vor ihm verschloß. Seit ich aber bei ihm eingekehrt bin, hat sie sich ihm lebendig aufgetan, und der Hügel vor seinem Fenster ist ihm grün und

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gelb und rot und weiß, je nach dem Spiel der Jahreszeiten. Willst du ihm das rauben?« Der Baalschem schwieg und winkte dem Fünklein Gewährung zu. Aber sogleich hoben andere Stimmen an und erzählten von den Menschen, die sie aus Zweifel und Leere, aus Taumel und Bitterkeit, aus Blindheit und Not befreit hatten, und die, wenn sie von ihnen gingen, wieder in die Finsternis hinsinken müßten. Und bald klang es von tausend Mündern durch die Luft: »Willst du alle verderben, die du gelöst hast?« So ertönte tausendfältig die Frage. Lange saß der Baalschem und lauschte, da aller Ton verklungen war, in die nachzitternde Luft. Dann sprach er lächelnd: »«Wohl denn, meine Kinder, ich segne euch zum andern Mal. Kehret heim!« Er erhob sich und breitete seine Hände über die lichte Schar. Als er dann allein war und weit am Himmelsrand das letzte Strahlengold zurück in die Welt verfließen sah, sprach er zu seiner Seele: »Suche dir nun die Gefährtin, liebe Seele, die in ihr Werk gehüllt und geschlossen ist wie der ruhende Vogel in seine Schwingen. Lege auf ihre Schultern das Geheiß und lenke sie wider den Mann der tausend Gebärden, daß sie ihn besiege!« Der Baalschem schwang sich in die obere Welt und trat in den Prophetenhimmel ein. Da fand er Achija von Schilo, den Alten, den der göttliche Zorn einst wider die Könige Judas gesandt hatte. Der grüßte ihn: »Gesegnet, der da kommt: Israel, mein Sohn. Wie zur Zeit, da ich zu dir dem Knaben in den Nächten niederstieg, dich das Geheimnis des Eifers zu lehren, so hellauf, wie du mir damals entgegenlodertest, flammt dein Wunsch zu mir auf.« »Viel der Glut aus meinem Kern«, antwortete der Baalschem, »ist hingeopfert, und ich habe ihrer nicht mehr zur Genüge für die Tat. Der Wunsch, den du meinem Schritt entlauscht hast, ist, die Seele zu finden, die dem Seraph gleich in ihrem Feuer atmet. Ihre Glut soll den Boten der Nacht verzehren.« Achija sprach: »Unter den Seelen meines Bereichs ist nicht, die du suchst. Laß uns Elija fragen. Auf seinen Fahrten über die Erde mag er wohl erschaut haben, die du suchst.« Sie traten zu Elija, der eben mit flüchtiger Sohle durch die Halle des Prophetenhimmels ging, die Glieder noch gespannt vom Flug, im Herzen schon neuen Wegs gewärtig. Als sie ihm nahten, wandte er sich ihnen zu. Ehe noch die Frage sich von ihren Lippen gelöst hatte, redete er zum Baalschem: »Den du suchst, ist Mosche der Hirt. Er weidet die Schafe in den Bergen, die die Poloninen genannt werden.« Und schon neigte sich Elija wieder seiner Erde zu und bereitete sich zur neuen Fahrt. *

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Unter dem Atem des Sommers wogten die Matten. Der Baalschem schritt schweigend und verschlossen dahin. Er achtete der Tiere nicht, die mit traulichem Geäug aus dem Wald traten, als sie seinen Schritt vernahmen, und des Zweigs nicht, der seinen Arm liebkoste. Seine Füße verspürten den Weg nicht. So kam er an die große Bergwiese, die hinter einem breiten Graben anhebend in jähem Schwung sich bis zum Gipfel des Berges reckt. Auf der breiten Fläche waren Mosches Schafe wie ein Volk leichter weißer Wölkchen verstreut. Als der Baalschem die Weide erblickte, trat er hinter ein Gebüsch, um unbemerkt nach dem Hirten auszuschauen. Er sah einen Jüngling am Rande des Grabens stehen, die lichten Haare deckten ihm die Schultern, sein Auge war wie das eines Kindes groß geöffnet. Ein grobes Gewand kleidete seine starken Glieder. Der Jüngling tat den Mund auf und redete. Wiewohl keiner vor ihm war und keiner sichtbar weit und breit, hielt er Zwiesprache mit einem Wesen. Und so redete er: »Lieber Herr, unterweise mich, was ich für dich tun mag! Hättest du doch Schafe, die ich hüten könnte, ich wollte ihrer warten tags und nachts, ohne Lohns zu begehren. Weise mir, was ich tun soll!« Da geriet der Wassergraben in seinen Blick. Sogleich machte er sich auf und hob an, mit eingestemmten Armen, die Füße dicht aneinander, über den Graben zu springen. Der war breit, Schlamms und allerlei Gezüchts voll, und das Springen kostete dem Knaben den hellen Schweiß. Doch ließ er nicht ab und hielt sich nicht an einem Ufer auf, sondern sprang hinüber und herüber und sprach dazwischen: »Dir zur Liebe, Herr, und dir zum Gefallen!« Zuweilen nur unterbrach er sein Tun, um nach den Schafen auszusehn, die sich indessen allzusehr verstiegen hatten, und gab dem Vieh liebreiche Worte. Dann lief er wieder zum Graben. Lange sah der Baalschem darauf, und es war ihm, als sei dieser Dienst größer als aller, den er je aus gesammelter Seele Gott dargebracht hatte. Endlich kam er aus seinem Versteck, trat zu Mosche und sprach: »Ich habe ein Wort an dich.« Der Hirt antwortete: »Es ist mir nicht verstattet, denn mein Tag ist derer, die ihn gedungen haben.« Der Meister sagte: »Sehe ich dich doch springen ohne Maß der Zeit.« Der Hirt gab zurück: »Das tue ich um Gottes willen, und für ihn darf ich die Weile versäumen.« Aber der Baalschem legte ihm die gute Hand auf den Arm: »Freund, auch ich bin zu dir um Gottes willen gekommen.« Bald saßen sie Seite an Seite unter einem Baum, und der Heilige redete von seinem Anliegen, daß der neben ihm mit bebender Seele lauschte. Der Baalschem sprach von der Einsamkeit Gottes und von der Herrlichkeit, die ins Schicksal der fehlhaften Welt verbannt ist. Er erzählte, wie alle Kreatur an ihrer Trennung leidet und sich ihrer Wiedervereini-

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gung entgegenhebt. »Schon ist es«, sprach er, »als sei das Geheimnis der Ewigkeit nah daran, sich zu erfüllen. Aber die Andere Seite, die der Einung von Himmel und Erde widerstrebt, hat wieder einmal ihren Boten entsandt, es zu hindern. In lockender Finsternis zieht er durch die Menschenwelt und verführt sie in den falschen Schein der Erlösung.« Als der Baalschem von dem Boten redete, sprang der Hirt auf beide Füße und schrie: »Herr, wo ist dieser Mann, von dem du sagst? Denn es darf nicht sein, daß er den Augenblick überlebe, an dem ich ihn finde!« Doch der Meister hieß ihn schweigen und begann, ihn im Kampf zu belehren. Der Dämon Widersacher aber schwang unsichtbar in den Lüften und wurde des Bundes der beiden gewahr. Und da ihm gegeben war, die Geschehnisse zu durchschauen, verstand er, was das Zwiegespräch des Alten mit dem Jungen auf dieser Wiese am Wald ihm meinte. Er streckte sich über die Welt und sog sich mächtig an all dem Bösen, das in jenen Tagen gedieh. Darauf erstritt er sich den Weg in das obere Reich und begehrte in gellendem Wort sein Recht auf die Zeiten. Da kam aus der namenlosen Mitte der Einsamkeit eine Stimme, die war voll und übervoll der Trauer. Der Dämon stürzte im Schrecken nieder. Die Stimme aber sprach: »Der Augenblick ist dein, und immer nur der Augenblick, bis dich einst das Wissen bezwingt und du dich in mein Licht stürzest, weil du es nicht länger erträgst, der Herr des Augenblicks zu sein.« Die Stimme verstummte. Der Dämon aber schüttelte die Fesseln des Wissens ab, fuhr nieder, griff in die Wolken und ballte sie mit wütigen Fäusten. Er erweckte den Sturmwind, hieß den Donner grollen und entließ die Blitze zum Werk. Feuer fiel in die Stadt, und die Glocken stöhnten auf. Als Mosche, der Hirt, Schall und Getös vernahm, fuhr er über den heiligen Worten auf und gedachte seiner Tiere, die in der Unbill des Himmels schutzlos über den Berg verstreut geblieben waren. Er sprang auf und eilte mit eiligen Schritten hinan, die Verirrten mit Schmeichelworten zu locken, und hörte nicht auf den Heiligen und sein Warnen. Langsam, Haupt und Blick zur Erde gezogen, stieg der Baalschem nieder. Als er im Tal stand, fühlte er einen Arm um seinen Nacken. Da er sich wandte, sah er einen Engel mit leuchtender Stirn, der legte nun auch den andern Arm um seinen Nacken und küßte ihn. Er erkannte den Fürsten des Todes und der Wiedergeburt.

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Achija von Schilo: Die Legende macht diesen Propheten der Zeit Salomos und Jerobeams zum Lehrer des Baalschem; schon zum Jüngling steigt er aus dem Himmel nieder, um ihn in den Geheimnissen zu unterweisen. Achtzehn Segenssprüche: die Schmone Eßre (d. i. Achtzehn), auch Tefilla (Gebet) schlechthin genannt, einer der ältesten Bestandteile der Gebetsordnung, der in jedem einzelnen Gottesdienst, dem morgendlichen, dem nachmittäglichen und dem abendlichen, wiederkehrt; es wird von jedem Beter still gesprochen (nach dem Sohar, weil es nur die gebetempfangenden Engel, die »Ohren« heißen, hören dürfen, da Menschengehör es auffangen und am Aufstieg hindern würde) und darf durch kein profanes Wort unterbrochen werden, danach wiederholt es der Vorbeter (für die Gebetsunkundigen). Aggada: wörtlich »Meldung«, »Bericht«. Eine Gattungsbezeichnung für die erzählenden, deutenden und lehrhaften Partien des Talmud (s. d.), die aber auch für jedes einzelne Stück der gekennzeichneten Art gebraucht wird. Für die nicht-aggadischen Bestandteile des Talmud gilt in gleicher Weisung die Gattungsbezeichnung »Halacha«, d. i. wörtlich »Wandel«, dann »Anweisung zum Wandel«, »Gesetzesentscheidung«. Baldachin (Chuppa): Die Zeremonie der Trauung von Eheleuten wird unter einem auf Tragstützen ausgespannten Baldachin unter freiem Himmel vollzogen. »Chuppa« ist im Sprachgebrauch daher geradezu Synonym von Verheiratung geworden. Das große Bekenntnis: Dem Gebet der »Achtzehn Segenssprüche« (s. d.) schließt sich am Versöhnungstag das große Sündenbekenntnis an, das zunächst von den Betern still für sich, bei der lauten Wiederholung des Achtzehngebetes durch den Vorbeter aber in feierlicher Weise von Vorbeter und Gemeinde laut gesprochen wird. Bilbul: Verwirrung, daher falsche Beschuldigung, spezifisch RitualmordBeschuldigung. Bote des Bundes: s. Bote des Messias. Bote des Herrn (hebr. Malach Jhwh): Wie im griechischen Angelos, dessen sprachlicher Abkomme unser »Engel« ist, liegt im hebräischen Wort Malach noch durchaus die sinnliche, nicht spirituell-märchenhaft verflüchtigte Bedeutung »Bote«, für die das Wort auch im alltäglichen Sinne gebraucht ist. Bote des Messias (der Prophet Elija): Der in den Himmel entrückte Elias ist der jüdischen Sage nach, zu deren eigentümlichster Gestalt er geworden ist, der stete Bote Gottes an die Menschenwelt, gegenwärtig beim Eintritt jedes jüdischen Knaben in den Bund Israels mit Gott,

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gegenwärtig an jeder »Seder«-Tafel in der dem Gedächtnis der großen Bundestat, der Befreiung aus Ägypten geweihten Osternacht, wo für ihn ein Weinbecher kredenzt wird, hilfreich in Nöten, belehrend in Ungewißheiten, bestimmt, dereinst als Vorbote des Messias, als Wekker und Rufer die träge Menschheit dem Kommenden zu bereiten. Seiner sichtbaren Erscheinung und seines Wortes teilhaftig zu werden, bedeutet die eigentliche Einweihung des Einzelnen in das Geheimnis der Lehre. Buchstaben als Weltelemente: eine bereits im Talmud (»Bezalel verstand es, die Buchstaben zu reihen, mit denen Himmel und Erde erschaffen worden sind«, Berachot 55) angedeutete Lehre, die dann besonders im »Sefer Jezira« (Buch der Schöpfung), dem Grundwerk der jüdischen Zahlen- und Buchstabenmystik, dargestellt und von dort in die Kabbala (s. d.) übernommen worden ist. Chassid (Mehrzahl: Chassidim): etwa mit »ein Holdsinniger« wiederzugeben. Cheßed ist biblisch die »Huld«, die Gott seiner Welt, und der aufgeschloßne hingegebene »Holdsinn«, den die Menschen Gott und dem Mitmenschen – beides gehört zusammen – entgegenbringen. Chassid ist also nur in diesem umfassenden Sinn (nicht in einem spezifisch-religiösen) als »fromm« zu verstehen. Es gab im nachexilischen Judentum immer wieder Gemeinschaften, die den Namen Chassidim trugen. Ihnen allen ist es gemeinsam, daß sie mit ihrer Frömmigkeit, mit ihrer Beziehung zum Göttlichen, im irdischen Leben Ernst machen wollen; daß sie sich nicht mit gepredigter Gotteslehre und geübtem Gottesdienst begnügen, sondern das Miteinanderleben der Menschen auf der Grundlage der göttlichen Wahrheit aufzurichten versuchen. Besonders deutlich ist dies bei der vom Baalschem gestifteten »chassidischen« Gemeinschaft. Eitler Segensspruch: s. Segensspruch. Elohim: biblische Bezeichnung für den Einen Gott. In seiner grammatischen Form stellt das Wort den Plural eines Nomens dar, das auch im Singular schon »Gott« bedeutet; doch wird Elohim seiner grammatischen Form entgegen syntaktisch zumeist als Singular behandelt, wenn der Eine Gott gemeint ist. Diese pluralsingularische Benennung, deren Ursprung und religionsgeschichtliche Bedeutunng noch nicht geklärt sind, wird als bedeutungsschweres Geheimnis erfahren. Die »Namen« sind Gottes Erscheinungsmächte, seine »Maße« oder Eigenschaften (Middot). Von ihnen bezeichnet der Name Elohim die Eigenschaft der Gewalt und des Gerichts, der nicht auszusprechende, durch die Konsonanten Jhwh dargestellte Name die Eigenschaft der Gnade und des Erbarmens; jener bedeutet die Einschränkung Gottes

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zur »Natur«, des unendlichen Wunders zum Gesetz, des unfaßbaren Lichts zum faßbaren, dieser das der Kreatur Gegenwärtigwerden der Wesenheit selber, die eben nichts als Gnade ist, aber in die Beschränkung eingeht, weil vor der göttlichen Gnadenfülle alles Erschaffene verginge. Elohut (Göttlichkeit): s. unter »Schechina«. Etrog: die »Frucht des schönen Baums« (III M. 23,40), einer Hesperidenart, gewöhnlich Paradiesapfel genannt, über der zum achttägigen herbstlichen Sukkot (Laubhüttenfest) der Segen (s. Segensspruch) gesprochen wird. Jakob Frank (1726-1791): erklärte sich zum Messias und gewann hauptsächlich in Polen vorübergehend zahlreiche Anhänger. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit dem Judentum nahm Frank schließlich die Taufe, und zahlreiche Anhänger taten desgleichen. Sie bildeten auch noch nach Annahme des Christentums eine Sekte, die sich indessen nicht lange nach Franks Tod auflöste. Funken (Nizozot): nach alter Deutung (Bereschit Rabba zu Genesis I,5 und I,31) hat Gott viele Welten geschaffen und verworfen, ehe er diese erschuf; darauf beziehe sich das Wort »Da sah Gott alles, was er gemacht hatte: ja, es war sehr gut«. Aber erst die Kabbala (s. d.) gibt dieser Vorschöpfung einen größeren Sinn als den einer allmählichen Vervollkommnung. Im »Zerbrechen der Gefäße«, d. i. der wirren Vorwelten, die die göttliche Fülle nicht zu tragen vermochten, sind die »heiligen Funken« in die »Schalungen«, die trennenden, hindernden, dämonischen Umschließungen, die allein »das Böse« sind, gefallen, aber sie fielen, um gehoben zu werden: um des Wirkens des Menschen an der Erlösung willen sind jene Welten gewesen und vergangen. Furchtbare Tage (Jamim noraïm): auch Tage des Gerichts genannt; s. Neujahrstag. Gebetbuch (hebr. Seder hat-Tefillot, d. i. »Ordnung der Gebete« oder kurz Siddur = »Anordnung« genannt): Zusammenfassung der für das tägliche Leben vorgeschriebenen Gebete in der gebotenen Ordnung. Während die verschiedenen Buchausgaben im Gebettext nur geringfügige, im »Brauch« verschiedener Gegenden oder religiöser Gemeinschaften begründete Abweichungen aufweisen, entstehen erhebliche Unterschiede durch die Übung, dem Text Erklärungen und »Kawwanot«, d. h. Intentionsanweisungen beizugeben. Das »Gebetbuch des Rabbi Jizchak Lurja« (s. d.) (Siddur meha-Ari) enthält »Kawwanot« lurjanischer Prägung und genießt in chassidischen Kreisen höchstes Ansehen.

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Gebetmantel (Tallit): viereckiger, togaartiger Gebetsüberhang oder Gebetmantel (ursprünglich ein orientalisches Obergewand), an dem die Schaufäden, Zizit (IV M. 15,37 ff.), angebracht sind, und in den die Männer (mit Ausnahme der Unvermählten) sich beim Beten hüllen. Gebetriemen (Tefillin): Phylakterien; Kapseln, die vier Toratexte auf Pergamentstreifen enthalten und zum Zeichen des Bundes mit Gott an den Wochentagen (an Sabbaten und Festtagen tut solche Beurkundung nicht not) mit Riemen an den linken Arm und an die Stirn – nach dem Geheiß V M. 11,18 – geknüpft werden. Heilige Lade (Aron hak-Kodesch): der im Bethaus und Synagoge an der Ostwand untergebrachte, mit Vorhang versehene Schrein, in dem die zur wöchentlichen Verlesung benützten Tora-Rollen (s. d.) aufbewahrt werden. Der Schrein vertritt in symbolischem Sinn den im jerusalemischen Heiligtum Mittelpunkt der Heiligkeit bildenden biblischen »Schrein des Bundes«, so wie das Gemeindegebet den Opferdienst vertritt. Der Vorbeter (hebr. Schliach Zibbur, wörtlich Sendling der Gemeinde) tritt zum Gebet an ein Pult, das vor oder neben dem Schrein steht. Besonders geheiligte Gebete werden bei geöffnetem Schrein gesprochen. Heiligung des Namens: Kiddusch ha-Schem, Heiligung des Gottesnamens, wird jede Opfertat des Menschen genannt, die zur Errichtung des Gottesreichs auf Erden beiträgt (vgl. von neueren Darstellungen dieses führenden Begriffs des jüdischen religiösen Ethos: Martin Schreiner, Die jüngsten Urteile über das Judentum S. 169 ff., Felix Perles, Jüdische Skizzen 2. Aufl. S. 100 ff. und insbesondere Hugo Bergmann im Sammelbuch »Vom Judentum«, 1913, S. 32 ff., wiederabgedruckt in seinem Buch »Jawne und Jerusalem« [1919] 86 ff.). Hinnom: Gej Hinnom, die »Schlucht Hinnoms« bei Jerusalem, war nach II Könige 23,10 die Stätte, wo der fälschlich so genannte Molochkult begangen wurde; später wurde der Ortsname zu einer Bezeichnung der »Hölle« (griech. Geenna). Isaak Lurja (Rabbi Jizchak Aschkenasi, in Umkehrung der Anfangsbuchstaben seines Titels und Namens »Ari«, d. i. der Löwe genannt): der sagenumwobene Hauptmeister der späteren Kabbala (s. d.). Er ist 1534 in Jerusalem geboren worden und 1572 in Safed, wo er seine letzten Jahre verbrachte, gestorben. (S. auch unter »Gebetbuch«.) Kabbala: wörtlich das durch Überlieferung Empfangene; im prägnanten Sinn die nur von Mund zu Ohr übertragbare Lehre; Bezeichnung für die jüdische Geheimlehre besonders in ihren mittelalterlichen Formen. Aus alten mystischen Überlieferungen hervorgegangen, aus gnostischen Quellen genährt, hat sich die Kabbala schließlich in ihrer

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Berührung mit mittelalterlicher Philosophie zur mystischen Theologie des Judentums entfaltet und die Geschlossenheit eines die Welt von der Überwelt her deutenden Systems angestrebt. Vom 16. bis zum 18. Jahrh. behauptete sie sich als die beherrschende Theologie des Judentums und lieferte als solche dem Chassidismus weitgehend die theoretische Grundlage, besonders in ihrer, nach dem Meister Isaak Lurja (s. d.) benannten lurjanischen Spätform. Keduscha: wörtlich »Heiligkeit«, dann »Heiligspruch« als Bezeichnung für den an die Visionen himmlischer Wesen in Jesaias und Ezechiel anknüpfenden (»Heiligen wollen wir deinen Namen in der Welt, gleichwie sie ihn heiligen in dem hohen Himmel«) Wechselgesang zwischen Vorbeter und Gemeinde, der im Gemeindegebet, bei der Wiederholung der »Achtzehn Segenssprüche« (s. d.) durch den Vorbeter, vor dem dritten Segensspruch eingeschaltet wird. Die Hauptbestandteile der Keduscha sind Jes. 6,3b (Trishagion) und Ez. 3,12b; dazu treten noch Stücke aus den Psalmen und aus dem Pentateuch. Sie wird nie vom einzelnen Beter gesprochen, sondern nur in der Gemeinde. Sie ist ein besonders geheiligter Mittelpunkt des synagogalen Gemeindegebets, wird mit lauter Stimme und »mit Schauer und mit Furcht« gesprochen. Kleider der Toten: Die Sterbegewänder, ein einfacher weißer Leinenkittel, schlechthin der »Kittel« genannt, und eine dazugehörige weiße Mütze, werden dem jungen jüdischen Mann zu seiner Hochzeit angefertigt. In vielen Gegenden ist es Brauch, daß er sich zur TrauungsZeremonie zum erstenmal damit bekleidet. Sie werden dann vom verheirateten Mann bei bestimmten Anlässen angelegt, besonders zum Gottesdienst am Neujahrs- und Versöhnungstag (s. d.). Der Tote wird mit ihnen angetan und in seinen Gebetmantel (s. d.) gehüllt ins Grab gelegt. Kol Nidre: die mit diesen Worten (»alle Gelübde«) beginnende, am Vorabend des Versöhnungstags gesprochene feierliche Formel der Lösung von den nicht erfüllten oder nicht erfüllbaren Gelübden. Kommende Welt (hebr. Olam habba): die mit dem Komrnen des Messias (s. d.) anbrechende Welt. Maggid: Prediger. Mahlzeit: »heilige Mahlzeit«, »drittes Mahl«, »Mahl der Lehre«; die dritte der am Sabbat traditionellen Mahlzeiten (s. unter »Sabbatfeier«). Mann des Herrn: Samuel; vgl. I Sam. 9,6 ff. Mazza: das ungesäuerte Brot, das während der ins Frühjahr fallenden Festwoche des Peßach (Fest des Gedenkens an den Auszug aus Ägyp-

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ten, das jüdische Osterfest) zu essen geboten ist. Seine Zubereitung soll mit besonderer Weihe und Sorgfalt geschehen. Meister des Talmud: die an der Überlieferung und Ausgestaltung des Talmud (s. d.) beteiligten palästinensischen und babylonischen Meister des 1.-6. Jahrh. n. Chr. (hebräisch Rabbanan: unsere Meister, oder Chachamim: »die Weisen«, schlechthin genannt). Mesbiž: heißt in der jiddischen Aussprache das wolhynische Städtchen Miedzyborz, in dem der Baalschem nach Beendigung seiner Wanderjahre seinen Wohnsitz hatte. Messias (griechische Form des hebräischen Wortes Maschiach): Gesalbter; der von Gott durch Salbung zum König der Endzeit eingesetzte Mann, der die Verbannung Israels aufhebt und die erfüllte Königsherrschaft Gottes über die ganze Welt verwaltet. Mincha: ursprünglich eine Opferart (III M. 2), sodann das an Stelle des Nachmittagsopfers (Esra 9,4) getretene Nachmittagsgebet. Mussafgebet: »Zusatz«; ursprünglich das besondere, an Sabbaten und Festtagen hinzukommende Opfer, später die an seine Stelle getretene Gebetfolge, die an diesen Tagen nach dem allgemeinen Morgengebet gesprochen wird. Nachmittagsgebet: s. Mincha. Neïla: »Schließung«; das Schlußgebet des Versöhnungstags, das »beim Sinken der Sonne in die Baumwipfel« gesprochen wird, »während die Himmelspforte des Gerichts und der Gnade sich schließt«. Neujahrstag (hebr. Rosch-ha-Schana; wörtlich Haupt des Jahres): das in die Zeit zwischen der ersten September- und der ersten Oktoberwoche fallende zweitägige Neujahrsfest, das zugleich das Fest der ewigen Erneuerung der – an diesem Tage erschaffenen – Welt durch Gott und das der Erneuerung der Menschenseele in einem Vorgang der Selbstbesinnung und Umkehr, des Gerichts und der Gnade ist, der mit diesem Tage beginnt und mit dem zehnten danach (die »zehn Tage der Buße«), dem Versöhnungsfest endet; zusammen heißen beide Feste die furchtbaren Tage; in der Schule des großen Maggids nannte man Roschha-Schana das Haupt des Jahrs als den Moment des schöpferischen Gedankens, Jomkippur das Herz des Jahrs als den der elementaren Erfüllung. Für diese Zeit pflegte jeder eifrige Chassid in die Stadt seines Zaddiks zu fahren, um ihm in den höchsten Stunden nahe zu sein. Neunter Ab: der zwischen Mitte Juli und Mitte August fallende Gedenktag der Zerstörung des ersten Tempels durch Nebukadnezar und des zweiten durch Titus, Tag des Fastens und der Trauer: im Gottesdienst werden die Jeremias zugeschriebenen Klagelieder vorgetragen; die

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Betenden sitzen im unerleuchteten Raum (nur für den Vorbeter ist ein Licht entzündet) unbeschuht am Boden, gleich den um einen Toten Trauernden, wie man schon das karge Letztmahl vor Beginn des Fastens auf der Erde sitzend und schweigend einnimmt. Ort des Lebens (hebr. Bet ha-Chajjim, d. i. wörtlich: »Haus des Lebens«): eine im jüdischen Sprachgebrauch häufige Bezeichnung für den Friedhof. Rabbanim: Mehrzahl zu Raw (Herr, Meister) und Rabbi (wörtlich: mein Herr, mein Meister). Beide Bezeichnungen, Raw sowohl als Rabbi, sind Titel für religiöse Lehrer, wobei Raw den religiösen Richter der Gemeinde bezeichnet, während der Titel Rabbi dem religiösen Führer zukommt, was schon in der persönlicheren Sprachform der Benennung zu Tage tritt. Allerdings können die Funktionen des »Raw« mit denen des »Rabbi« in einer Person zusammenfallen. Rabbi: s. unter »Rabbanim«. Sabbatempfang: s. Sabbatfeier. Sabbatfeier: Die Feier des Sabbats erstreckt sich von der Stunde des Sonnenuntergangs am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Sonnabend. Schon Stunden vor Eintritt des eigentlichen Feiertags legen viele Fromme ihre Arbeit nieder und bereiten sich nach einem Tauchbad (s. d.) auf den Empfang des als »Braut« oder »Königin« verstandenen Sabbats in festlichem Gewand und stiller Sammlung vor. Bei Einbruch der Dunkelheit vereinigt sich die Gemeinde zum »Empfang des Sabbat« (Kabbalat Schabbat) im Abendgebet. Die Brautsymbolik kommt in dem (von Heine fälschlich dem Dichter Jehuda Hallewi zugeschriebenen) Gesang mit dem Refrain »Komm, mein Freund, der Braut entgegen, des Sabbats Antlitz laß uns empfangen« zum Ausdruck. Dem Abendgottesdienst folgt unmittelbar das erste der traditionellen drei Sabbatmahle. Es wird durch den Segensspruch über Wein, Brot und den Sabbat (Kiddusch, eig. Heiligung) eingeleitet. Nach dem Morgengottesdienst mit der Verlesung des Wochenabschnittes aus Tora (s. d.) und Propheten und dem Mussafgebet (s. d.) wird das zweite Sabbatmahl eingenommen. Die »dritte Mahlzeit«, die dem Nachmittagsgebet (s. »Mincha«) folgt, ist von den Chassidim in besonderer Weise ausgestaltet worden. Sie nehmen sie gemeinschaftlich an der Tafel des Zaddik (s. d.) ein; so wird sie zum immer wieder erneuernd wirkenden Kristallisationspunkt chassidischen Gemeinschaftslebens. Seinen Höhepunkt erreicht das »dritte Mahl« in der mit Verzückung aufgenommenen Unterweisung (»Tora-Sagen«) durch den Zaddik. Den Sabbat beschließt die Zeremonie der »Scheidung« (Hawdala), bei der man – gleichsam an den

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Empfindungen eines Sinns nach dem andern die Schiedlichkeit erprobend – zuerst den Segen über den Wein, dann den über die Gewürze, an denen man, sie in der »Beßamim-Büchse« (dem Gewürzbehälter, s. S. 397) herumreichend, riecht, sodann, nachdem man beim Kerzenlicht die Fingernägel betrachtet hat, den über die Flamme; endlich preist man Gott, »der zwischen Heiligem und Profanem scheidet«. Darauf folgt bei den Chassidim noch das »Geleitmahl der Königin« mit Sang und Tanz. Am Sabbat ist jegliche Arbeitsverrichtung verboten; dabei ist der Begriff »Arbeit« so weit gefaßt, daß auch mühelose Verrichtungen, wie die Bedienung oder Benutzung von Feuer, die Benutzung eines Gefährts und selbst das Gehen über eine bestimmte Entfernung vom Wohnort (den Tchum-Schabbat, die »Sabbatgrenze«) hinaus untersagt ist. Schaufäden: s. Gebetmantel. Schechina: »Einwohnung«; die »Herrlichkeit« Gottes, die welteinwohnende Gottheit. Das der Welt nicht einwohnende, ganz in sich ruhende Gottwesen heißt Elohut (»Göttlichkeit«, nämlich die »göttliche«, dem Menschen in keiner Weise faßbare Seite Gottes). Die Schechina, der der Welt einwohnende, ist auch der die Welt erleidende Gott. Sie erleidet unmittelbar den Abfall der Welt, des Menschen, des Volkes Israel, und sie folgt der Kreatur in den dunkeln Bezirk, den die abgefallene betritt, ins Exil. Zugleich mit Israel erleidet auch sie die Verbannung. Der Mensch, der in sich selber zwischen dem Reich des Gedankens und dem Reich der Tat Einung stiftet, wirkt ein auf die Einung zwischen dem Reich des Gedankens und dem Reich der Tat, das ist zwischen Gott und seiner Schöpfung, der er seine Schechina, seine Herrlichkeit, einwohnen läßt. Es würde aber eine Entstellung der Lehre bedeuten, diese Einung als »in« Gott sich vollziehend zu verstehen. Daß die Schechina sich der Schöpfung gesellt, darf nicht als eine Scheidung in Gott aufgefaßt werden, keine noch so unbedingte lmmanenz kann eine Minderung der Vollkommenheit seiner Transzendenz bedeuten. Schofar: das Widderhorn, das zum Gedächtnis der Offenbarung (II M. 19,16) und zur Vorahnung des Endgerichts (Zefanja 1,16), zur Erweckung der Seelen und zum Ruf an Gott in der Synagoge, vornehmlich am Rosch-ha-Schana geblasen wird. Auch die Erwartung des Messias ist mit der Vorstellung verbunden, daß bei seinem Kommen der »große Schofar« die »Verbanntenschaften von den vier Zipfeln der Erde« erwecken und zusammenrufen werde, daher der neunte der im täglichen Gebet gesprochenen »Achtzehn Segenssprüche« (s. d.) so lautet: »Stoße in den großen Schofar zu unsrer Befreiung,

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erhebe eine Bannerstange, zuhauf zu holen unsre Verbanntenschaften, und hole uns zuhauf, in eins, von den vier Zipfeln der Erde. Gesegnet du, Jhwh, der zuhauf holt die Verstoßnen seines Volkes Jisrael« (vgl. Jes. 11,11-12). Segensspruch (hebr. Beracha): Für viele Anlässe und Verrichtungen des täglichen Lebens, besonders auch vor dem Genuß von Speisen oder Getränken, sind Benediktionen vorgeschrieben, deren erster Teil feststehend ist: »Gesegnet du Jhwh (unser Gott, König der Welt)« – während der zweite Teil dem Anlaß angepaßt ist. Ein Segensspruch, der ohne seinen vorgeschriebenen Anlaß gesprochen wird, oder, ohne daß die Verrichtung, für die er geboten ist, folgt, ist ein »eitler Segensspruch« (hebr. Beracha lewatala) und gilt als gegen das Verbot des Dekalogs (II M. 20,7) verstoßend. Über die »Achtzehn Segenssprüche s. d. Seite der Gnade – Seite des Gerichts (S. 365): s. unter »Elohim«. Simon ben Jochai: ein von der Legende verklärter Meister des 2. Jahrhunderts, der von der Kabbala zu ihrem zentralen Heros erhoben und dem die Autorschaft des kabbalistischen Hauptwerks, des Buchs Sohar, zugeschrieben wurde. Nachdem er, von den Römern seines kritischen Freimuts wegen zum Tod verurteilt, mit seinem Sohn viele Jahre sich in einer Höhle geborgen hatte, ließ er sich in dem einsamen galiläischen Gebirgsort Meron (unweit von Safed) nieder, wo er lehrte und starb; dort wird sein Grab gezeigt und sein Todestag in einem großen, volkstümlich herzhaften Fest begangen, zu dem noch heute aus dem ganzen Land die Scharen herbeiwallen. Tage der Buße: s. unter »Neujahrstag«. Tage des Gerichtes, Tage der Gnade: die »Furchtbaren Tage«, s. unter »Neujahrstag«. Talmud (Lernen, Lehre): das in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten entstandene und in zwei Fassungen (s. u.) überlieferte kanonische Kompendium der »mündlichen Lehre«. Das Judentum glaubt, daß neben der in der Schrift enthaltenen »schriftlichen Lehre« auch noch eine mündliche Lehre offenbart worden sei, die sich durch mündliche Tradition von Moses aus immer weiteren Geschlechtern vererbt habe, aber durch ständige Kontrolle am Wortlaut der »Schrift« (für deren Ausdeutung im Sinne der mündlichen Lehre bestimmte Methoden ausgebildet worden sind) in der Zeit jeweils neu zu gewinnen sei. Der erste, frühere Hauptteil ist die »Mischna«, wörtlich Repetition, sodann der Unterricht überhaupt; er ist vom letzten Viertel des 1. bis zum Ende des 2. Jahrh. n. Chr. entstanden und in hebräischer Sprache abgefaßt. Der zweite und weitaus umfangreichere Teil des Tal-

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mud wird nach dem späteren, ihm selbst fremden Sprachgebrauch »Gemara«, wörtlich Vollendung (der Lehre), das Fertiggelernte genannt; er erörtert und kommentiert die Mischna. Zwei Fassungen sind überliefert: die Gemara des jerusalemischen und die des ihn an Umfang mehrfach übersteigenden babylonischen Talmuds, entstanden in der Zeit bis zum 6. Jahrh. n. Chr., die eine im westaramäischen, die andre im ostaramäischen Idiom. Tauchbad: Zur Wiedererlangung der »Reinheit« ist für viele Fälle ein Tauchbad in fließendem Wasser vorgeschrieben (III M. 15,5 f.; IV M. 19,19; V M. 23,12); auch dem Hohenpriester war vor jeder seiner Verrichtungen am Versöhnungstag (s. d.) ein solches Bad geboten (III M. 16,4). Bei den Chassidim ist das Tauchbad als urzeitliches Symbol der Wiedergeburt (die wahrhaft nur ist, wenn sie Tod und Auferstehung umschließt) wiederhergestellt. In dieser Bedeutung aus alten Überlieferungen, insbesondere der Essäer und der »Morgentäufer«, in die kabbalistische Praxis aufgenommen, wird es von den Zaddikim mit einer hohen und freudigen Leidenschaft geübt, die nicht asketischer Art ist. Der Sinn dieser Inbrunst wird an dem Wort eines Chassids offenbar, »man könne das Tauchbad durch einen geistigen Akt, den der Abstreifung der Leiblichkeit ersetzen«. Tora: »Weisung«, Lehre, Gesetz (das »durch die Schrift« und das »durch den Mund« erhaltene); als Buch der Pentateuch. Für die über die Sabbate des Jahres verteilte öffentliche Vorlesung werden in der »Heiligen Lade« (s. d.) auf Pergament handgeschriebene Exemplare des Pentateuchs verwahrt, die so beschaffen sind, daß der viele Meter lange, zusammengelegte Pergamentstreifen mit seinen beiden Schmalseiten an Wickelstäben befestigt ist, um die das beschriebene Pergament gerollt wird; daher die Bezeichnung »Tora-Rolle«. Versöhnungstag (hebr. Jom-Kippur oder Jom-hak-Kippurim): einst der Tag der Aussendung des Sündenbocks (III M. 16) und des großen Opferdienstes des Hohenpriesters im Allerheiligsten; im talmudischen Schrifttum oft auch nur »der Tag« genannt, da in ihm der Vorgang der Seelenwende und Seelenerneuerung, der mit dem Rosch-ha-Schana (s. d.), dem Neujahrsfest, begonnen hat, seine Höhe und Vollendung gewinnt. Es ist der Tag des Sündenbekenntnisses und der Läuterung, der Tag des strengen Fastens von einem Abend bis zum andern. Der Gottesdienst währt vom Morgen bis zum Abend, die Beter stehen unbeschuht in weißen Kitteln, die den Totengewändern gleichen. Vor dem Fest sollen alle einander vergeben, da der Tag nur die Sünden gegen Gott, nicht die gegen die Mitmenschen sühnt.

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Wagen (Merkaba): Im Anschluß an die Gotteserscheinung in Ez. Kap. I wird schon seit talmudischer Zeit (im Talmud heißt die geheimzuhaltende Lehre vom Throne Gottes Maaße Merkaba, »Wagenwerk«) das Geheimnis der göttlichen Thronwelt im mystischen Bild des Wagens symbolisiert. Wiederkehr der Seelen (Gilgul, d. i. »Kreislauf«): die unter orientalischen Einflüssen in der Kabbala (s. d.) ausgebildete, hauptsächlich von Isaak Lurja (s. d.) in ein System gebrachte und vom Chassidismus von daher übernommene Lehre von der Wanderung der Seelen, derzufolge die durch den Tod vom Körper getrennten Seelen in neue, nicht nur menschliche, sondern auch tierische, pflanzliche oder mineralische Körper eingehen. Daneben gibt es noch das Eingehen einer Sele in einen bereits beseelten Körper (Ibbur, wörtlich Schwängerung; Überseelung), manchmal nur, um eine bestimmte Handlung zu vollziehen und in heilsamer Weise, häufig aber in dämonischer Weise, als Dibbuk (Anhaftung), so »Besessenheit« erzeugend. Zaddik (Bewährter, Vollkommener): In der Bibel bezeichnet das Wort den vollkommenen Frommen; in der Kabbala wird der Zaddik in Auslegung von Spr. 10,25 (»Der Bewährte ist der Grund der Welt«) zum Mittler zwischen Gott und Mensch erhoben. Für den Chassidismus, der im Baalschem und dann in seinen Nachfolgern, den Zaddik erfährt, ist er der Mensch, in dessen Leben und Sein die Tora sich verkörpert. »Der Zaddik ist nicht ein Priester oder Mönch, der ein einst vollzogenes Heilswerk in sich erneut oder seinem Geschlecht übermittelt, sondern der Mensch, der der allmenschlichen, allzeitlichen Heilsaufgabe gesammelter als die andern zugewandt ist, dessen Kräfte geläutert und geeinigt sich auf das eine Obliegende richten. Er ist seiner Idee nach der Mensch, in dem die metaphysische Verantwortung aus einem Bewußtseinsvorgang zur organischen Existenz wird. Er ist der zu seiner Wahrheit vollendete Mensch. In ihm verwirklicht der ›untere‹, irdische Mensch sein Urbild, den kosmischen Urmenschen, der die Sphären umfaßt. In ihm kehrt die Welt zu ihrem Ursprung um. Er trägt den untern Segen empor und den obern herab; er zieht den heiligen Geist auf die Menschen nieder. Das Sein des Zaddiks wirkt in die oberen Bereiche.« Aber der ist nicht wahrhaft Zaddik, der sich am einsamen Dienst genügen läßt. Die Gottverbundenheit des Menschen bewährt und erfüllt sich an der Menschenwelt. Der Zaddik gibt sich hin an die Schüler, von denen er etliche in seine häusliche Gemeinschaft aufzunehmen pflegt, in der Übergabe der Lehre, an die Gemeinde im gemeinsamen Gebet, in der gemeinsamen Unterweisung und als Führer ihres Lebens, und schließlich als Trö-

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ster, Berater und Mittler der Vielen, die von weit und breit zu ihm »gefahren« kommen, teils um – zumal an den hohen Festen – einige Tage in seiner Nähe, »im Schatten seiner Heiligkeit« zu weilen, teils um von ihm für ihre Leibes- und Seelennöte Hilfe zu erlangen.

Kommentar

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Editorische Notiz

Editorische Notiz Der vorliegende Band folgt den neuen, in Band 9 der MBW (»Schriften zum Christentum«) erstmals vorgestellten Editionskriterien. Die Gesamteinleitung, die der Textsammlung vorausgeht, enthält allgemeine Hinweise zur Entstehungsgeschichte der Texte, ordnet sie in Bubers Gesamtwerk ein und erläutert ihre zeitgenössische Rezeption. Die hier gebotenen Fassungen von Bubers Texten sind auf Grundlage der Erstdrucke erstellt und folgen ihnen in Orthographie und Interpunktion. Die Texthervorhebungen der Originaltexte mit gesperrter und kursiver Schrift sowie Kapitälchen werden beibehalten. Die Reihenfolge der Texte Bubers im vorliegenden Band folgt einer möglichst chronologischen Ordnung. Berichtigende Eingriffe in Texte, denen Drucke zugrundelagen, werden nur im Fall von offenkundigen Druckfehlern und angesichts von Korrekturen Bubers in späteren Drucken vorgenommen. Diese Eingriffe sind im Variantenapparat des Kommentarteils zum jeweiligen Text verzeichnet. * Im Kommentarteil des Bandes wird zu jedem Text zunächst eine individuelle Einleitung geboten, die auf die Textentstehung eingeht, die Quellen analysiert und die Rezeptionsgeschichte umreißt. Anschließend werden die in den Variantenapparaten berücksichtigten, mit Siglen versehenen Textzeugen aufgelistet und, falls erforderlich, kurz charakterisiert. Darunter befinden sich ggf. Handschriften und Typoskripte aus dem MBA und die zu Bubers Lebzeiten erschienenen, d. h. die von ihm autorisierten Drucke. Der Bestimmung der Druckvorlage folgen ggf. die bibliographischen Angaben zu den Übersetzungen des Textes. Darauf folgend, wird ein Variantenapparat geboten, der inhaltliche, den Sinn des Textes verändernde Abweichungen der vorhandenen Textfassungen von der Druckvorlage verzeichnet. Einträge des Herausgebers sowie herausgeberbezogene Zeichen werden kursiv, der edierte Text recte formatiert. Der Kommentarteil zu dem jeweiligen Text wird durch Wort- und Sacherläuterungen vervollständigt. Den Abschluss des Bandes bilden umfangreiche Register zu der verwendeten Literatur, den Bibelstellen und den Personen. Da im vorliegenden Band überwiegend literarische Texte enthalten sind, wurde auf ein Sachregister verzichtet.

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Diakritische Zeichen

Diakritische Zeichen Ko r r e k t u re n v o n B u b e r s Ha n d : [Text] Texttilgung hTexti Texteinfügung ! Korrektur zu folgender Variante Herausgeberbezogene Zeichen: x, xx, xxx … Unentzifferte(s) Zeichen X Unentzifferte Zeichenfolge ? unsichere Lesung des davor stehenden Wortes [Textverlust] eindeutig fehlende, nicht ergänzbare Textlücken wegen Schreibabbruch, Textzeugenbeschädigung etc. {Text} Variante aus einem Textzeugen, eingeblendet innerhalb einer Variante aus einem anderen Textzeugen / Zeilenumbruch Te x t z e u g e n - S i g l e n : D1, D2… Drucke d1, d2… Teilabdrucke, Druckfahnen und Korrekturbögen H1, H2… Handschriften 1 2 h,h… Teilhandschriften TS1, TS2… Typoskripte TS1.1, TS1.2… Schichten innerhalb eines Textzeugen

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Einzelkommentare

Einzelkommentare Die Geschichte der fahrenden Prinzessin Diese ins Märchenhafte spielende Geschichte ist die erste Publikation chassidischer Erzählungen Bubers, in denen er Motive aus chassidischen Quellen aufgriff und für ein zeitgenössisches Publikum literarisierte. Sie erschien 1905 in dem von Adolf Cronbach und Hanns Heinz Ewers (1871-1943) herausgegebenen Sammelband Heim der Jugend. Mit diesem »Jahrbuch für Kinder und Eltern«, wie es im Untertitel heißt, beabsichtigten die Herausgeber, eine reichhaltig ausgestatte und abwechslungsreiche, dabei literarisch und künstlerisch so ambitionierte wie pädagogisch wertvolle Sammlung zu erstellen, die sich an die ganze Familie richtete, also auch die Kinder als anspruchsvolle Adressaten voraussetzte. Neben Texten zahlreicher bekannter Schriftsteller wie Arno Holz (1863-1929), Théophile Gautier (1811-1872), Erich Mühsam (1871-1934), Paul Scheerbart (1863-1915), Christian Morgenstern (1871-1914) und selbst Oscar Wilde, enthielt der Band, der sich in seiner ästhetischen Gestaltung am Jugendstil orientierte, viele Illustrationen bekannter zeitgenössischer Künstler, u. a. von Heinrich Vogeler (1872-1942). Textzeuge: D: Heim der Jugend. Ein Jahrbuch für Kinder und Eltern, hrsg. von Adolf Cronbach und Hans Heinz Ewers, Berlin: Verlag Siegfried Cronbach 1905, S. 230-235 (in MBB nicht verzeichnet). Druckvorlage: D

Die Geschichten des Rabbi Nachman Zu Entstehung und Rezeption der 1906 erschienen Sammlung vgl. die Einleitung in diesem Band, S. 16-30. Bubers Die Geschichten des Rabbi Nachman erfuhr zahlreiche Auflagen, wobei auffällig ist, dass zwischen den ersten beiden Auflagen von 1906 und 1909 und den späteren seit 1916 eine nicht unerhebliche Zeitdistanz besteht und seit 1916 in kurzen Abständen mehrere Auflagen erfolgten. Obgleich der Erstveröffentlichung überwiegend positive, gar euphorische Raktionen beschieden waren, wurden mithin innerhalb der ersten zehn Jahre nach Publikation

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lediglich dreitausend Bände verkauft, während innerhalb von sechs Jahren zwischen 1916 und 1922 ca. zehntausend weitere Exemplare abgesetzt werden konnten und die sechste Auflage von 1922 allein sechstausend umfasste. Dennoch sprach Buber bereits angesichts der Erstausgabe von einem Erfolg. So teilt er Paula Buber in einem Brief vom Dezember 1906 – beide befinden sich in der intensiven Erarbeitung von Die Legende des Baalschem – mit: »Besprechungen sind, so viel ich weiß, bisher noch nicht erschienen. Aber buchhändlerisch scheint das Buch ›glänzend‹ zu gehen.« (B I, S. 252.) Buber nahm in diesen Neuauflagen lediglich geringfügige Veränderungen vornehmlich stilistischer Natur vor. So bemühte er sich, den teils prätentiösen Ton des neoromantischen Kunstmärchens zurückzunehmen, indem allgemein »e« Suffixe des Dativs (wie etwa »dem Wege«) getilgt wurden. Satzteile, die zuvor durch ein Semikolon getrennt worden waren, wurden nun zu eigenen Sätzen abgetrennt und Zwillingsformeln (Hendiadyoin) reduziert. Diese Änderungen bleiben im Variantenapparat weitgehend unberücksichtigt. Die Geschichten des Rabbi Nachman wurden in der Neuausgabe von 1955, die wiederum mehrere Auflagen von erheblichem Umfang erfuhr, zahlreichen Umarbeitungen unterzogen. Die neuerliche Revision des Textes näherte die Erzählweise, die ursprünglichen Literarisierungen vielerorts zurücknehmend, tendenziell der sachlichen an, die für Bubers spätes Schaffen zum Chassidismus, wie in Die Erzählungen der Chassidim, charakteristisch ist. Der Abschnitt »Die jüdische Mystik« wurde, da in diesem Fall eine relativ selbständige Publikationsgeschichte gegeben ist, gesondert in MBW 2.1 abgedruckt (S. 114-123) und dort ausführlich kommentiert und mit einem Variantenapparat versehen (S. 322-340). Daher wird in diesem Band von einer Wiederholung des Letzteren abgesehen und nur ein rudimentärer Kommentar gegeben. Textzeugen: h: unvollständige Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 29); 98 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit wenigen Korrekturen versehen. Die einzelnen Geschichten sind je für sich paginiert. Der Handschrift fehlen die Abschnitte die »Worte des Rabbi Nachman«, »Die Geschichte von dem Stier und dem Widder« und »Die Geschichte von dem Rabbi und dem Sohne«. d1: Der Rabbi und sein Sohn. Eine Legende, dem Rabbi Nachman von Bratzlaw nacherzählt, Ost und West, 5. Jg., Heft 7/8, Juli/August 1905, Spalten 493-498 (MBB 71).

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Einzelkommentare

d2: Das Märchen von dem Stier und dem Widder, Allgemeine Zeitung des Judentums, 69. Jg., Heft 28 vom 14. Juli 1905, S. 333-335 (in MBB nicht verzeichnet). d3: Worte des Rabbi Nachman von Bratzlaw, 1772-1810, dem Hebräischen nachgebildet, Ost und West, 5. Jg., Heft 10/11, Oktober/November 1905, Spalten 731-734 (MBB 73). Enthält mehr Sentenzen als später in D6 aufgenommen wurden. 4 d : Die jüdische Mystik, Die Zukunft, Bd. 55, 23. Juni 1906, S. 439-448 (in MBB nicht verzeichnet). d5: Die jüdische Mystik, Die Welt, 10. Jg., Nr. 30 vom 27. Juli 1906, S. 14-16 u. Nr. 31 vom 3. August 1906, S. 16-17 (MBB 79). D6: Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1906, 154 S. (MBB 74). d7: Worte des Rabbi Nachman, Die Welt, 10. Jg., Nr. 49 vom 7. Dezember 1906, S. 11-12 (MBB 88). D8: Frankfurt a. M.: Rütten & Loening [1909], 154 S., Drittes Tausend (MBB 74). d9: Die jüdische Mystik u. Rabbi Nachman von Bratzlaw, in: Vom Geist des Judentums. Reden und Geleitworte, Leipzig u. München: Kurt Wolff Verlag 1916, 2. Aufl. 1919, 3. Aufl. 1921, S. 96-136 (MBB 159). D10: Frankfurt a. M.: Rütten & Loening [1916], 154 S., Viertes und Fünftes Tausend (MBB 74). D11: Frankfurt a. M.: Rütten & Loening [1918], 154 S., Sechstes bis Achtes Tausend (MBB 74). D12: Frankfurt a. M.: Rütten & Loening [1920], 154 S., Neuntes bis Dreizehntes Tausend (MBB 74). D13: Frankfurt a. M.: Rütten & Loening [1922], 154 S., Vierzehntes bis Neunzehntes Tausend (MBB 74). D14: in: Die chassidischen Bücher, Hellerau: Jakob Hegner 1928, S. [1]123 (MBB 365). d15: Teilabdruck von Auszügen (in diesem Band: 66,25-40; 67,33-38; 68,5-9; 68,20-23; 68,24-69,2); in: Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur, Band 5, hrsg. von Julius Höxter, Frankfurt a. M. 1930, S. 96-98 (in MBB nicht verzeichnet). D16: in: Die chassidischen Bücher, Berlin: Schocken 1932, S. [1]-123 (MBB 446) [Deckauflage von D14]. 17 D : Fischer Verlag: Frankfurt a. M. 1955, 179 S. (MBB 985). [Weitere Auflagen: 1956, 1957 u. 1958.] d18: »Die jüdische Mystik« und »Rabbi Nachmann von Bratzlaw«, in: Werke III, S. 9-18 u. S. 895-912 (MBB 1219). Druckvorlage: D6

[Widmung und Einleitungstext]

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Übersetzungen: Englisch: The Tales of Rabbi Nachman, übers. von Maurice Friedman, New York: Horizon Press [1956], S. [1]-176 (MBB 1019); Bloomington: Indiana University Press [1962] (MBB 1195); New York: Avon 1970 (MBB 1348); London: Souvenir Press 1974 (in MBB nicht verzeichnet). Französisch: Les contes de Rabbi Nachman, übers. von Félix Levy u. Léa Marcou, [Paris]: Stock 1981 (in MBB nicht verzeichnet). Hebräisch: nur »Die Geschichte von dem Königssohn und dem Sohn der Magd«: »Ben ha-melekh u-ben ha-schifcha«, übers. von Noah Pines, Moledet 8 (1920), Heft 1, S. 47-58 (MBB 245). Niederländisch: De vertellingen van Rabbi Nachman, hrsg., übers. und eingel. von Jef Last, Graveland: De Driehoek 1946, 135 S. (MBB 744). Ungarisch: nur »Die Geschichte von dem Stier und dem Widder«: Rabbi Nachman meséiböl. A bika és a kos történet, in: A Föld, sz. 11, 1926, S. 35-38 (MBB 327).

[Widmung und Einleitungstext] Variantenapparat: 59,2-9 MEINEM GROSSVATER […] UND LIEBE.] DEM GEDÄCHTNIS / MEINES GROßVATERS / SALOMON BUBER / DES LETZTEN MEISTERS / DER ALTEN HASKALA / BRINGE ICH / IN TREUEN / DIES WERK / DER CHASSIDUT / DAR D8, D10, D11, D12, D13 fehlt D14, D17 60,2-3 nacherzählt. Ich habe […] philologischer ist.] nacherzählt, in aller Freiheit, aber aus seinem Geiste, wie er mir gewärtig ist. Absatzwechsel D10, D11, D12, D13, D14, D17 60,8-10 und den Grundton […] zu wahren] fehlt D10, D11, D12, D13, D14, D17 60,15-18 S. Dubnow […] Anregungen danken.] fehlt D17 Wort- und Sacherläuterungen: 60,15 S. Dubnow] Simon Dubnow (1860-1941): jüd. Historiker, aus Weißrussland stammend; 1888-1893 erschienen seine ersten Studien über den Chassidismus in der russ.-jüd. Zeitschrift Voskhod. Der Ertrag seiner jahrzehntelangen Forschungen zum Chassidismus schlug sich schließlich in der zweibändigen Geschichte des Chassidismus nieder (1931).

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Einzelkommentare

60,16-17 M. J. Berdyczewski] Micha Josef Berdyczewski (auch: Micha bin Gorion, 1865-1921): jüd. Schriftsteller, der aus einer Familie chassidischer Rabbiner stammte. Neben seinen umfangreichen Anthologien jüdischer Sagen schrieb er Geschichten und Essays auf Hebräisch und Jiddisch, sowie einige auf Deutsch. 1900 erschien von ihm Sefer Chassidim, dessen Eingangsessay den Titel Nischmat haChassidut (»Seele des Chassidismus«) trug. Von seinen neochassidischen Ideen distanzierte er sich später. Im Berlin um 1900 scharte er einen Kreis osteuropäisch-jüdischer Studenten um sich, die er mit seinen stark von Nietzsche beeinflussten Ideen begeisterte.

Die jüdische Mystik Variantenapparat: »Die jüdische Mystik« ist bereits in MBW 2.1 mit Varianten gedruckt worden, (S. 326-335), weshalb an dieser Stelle auf einen Wiederabdruck des kritischen Apparats verzichtet wird. Wort- und Sacherläuterungen: 61,2 Die jüdische Mystik] »Die jüdische Mystik« ist bereits in MBW 2.1 gedruckt und kommentiert worden (vgl. MBW 2.1, S. 114-123 und S. 322-340), weswegen hier der Kommentar im Wesentlichen auf Zitatnachweise und kurze Erklärungen beschränkt wurde. 61,3 Bratzlaw] Die kleine Stadt liegt heute in der Oblast Winnyzja in der Ukraine. 61,12 Kabbala] Vgl. auch Bubers Erklärung in der Neuauflage von Die Legende des Baalschem von 1955, in diesem Band, S. 471 f. 61,20 Eckhart] Meister Eckhart (1260-1328): dt. Theologe und Mystiker. Um 1900 erfreuten sich seine Schriften und Predigten wachsender Popularität, und wurden teilweise von Gustav Landauer ins Hochdeutsche übertragen und herausgegeben. 61,20 Plotinos] (204-270): griech. Philosoph; wichtigster Vertreter des Neuplatonismus. 61,20 Laotse] (6. Jh. v. Chr.): legendärer chin. Philosoph. 61,21 Upanishads] Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus, entstanden zwischen 700 und 200 v. Chr. 61,36-37 die Gottesvision Elijahus] Vgl. I Kön 19,1-18, besonders die Verse 11-13. 62,9-10 Spinoza] Baruch de Spinoza (1632-1677): niederl.-jüd. Philosoph.

Die jüdische Mystik

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62,38 Philons] Philo von Alexandrien (15/10 v. Chr.-40/50 n. Chr.): jüd. hellenistischer Philosoph. 62,39 Sohar] oder Sefer Sohar: »Buch des Glanzes«. Hauptwerk der mittelalterlichen Kabbala aus dem 13. Jh. 63,25-28 »Komm und schau!« […] nicht von ihm.«] Sohar I, 246b. 63,29 Simeon ben Jochais] Simeon ben Jochais (2. Jh.): Gelehrter der Mischna und der Legende nach Verfasser des Sohar. 63,31-32 »Nichts fällt ins Leere […] seine Bestimmung«] Sohar II, 100b. 63,34-38 »O Greis […] ohne Boden.«] Sohar II, 100b. 63,39 Talmuds] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von Die Legende des Baalschem von 1955, in diesem Band, S. 476 f. 63,40 Meister in Künsten und kundig des Flüsterns] bChag 13a (BT, Bd. IV, S. 275), nach Jes 3,3. 63,41 von den Essäern wissen wir aus Josephus] Flavius Josephus, Geschichte des jüdischen Krieges, 2. Buch, 8. Kapitel. Essäer oder Essener sind eine asketisch in klosterartiger Gemeinschaft lebende und endzeitlich orientierte Gruppe im Judentum um die Zeitenwende. Zumeist werden sie mit der Gemeinschaft von Qumran identifiziert. 64,4 Buch der Schöpfung] hebr.: Sefer Jetzira, ein bedeutendes, kosmologisches Werk der Kabbala, das spätestens aus dem 10. Jh. stammt. 64,20 Aristoteles] (384-322): griech. Philosoph. 64,38 Isaak Lurja] (1534-1572): Zentralfigur der späteren Kabbala, die zumeist nach ihm benannt wird. 64,39 Locke] John Locke (1632-1704): engl. Philosoph des Liberalismus und Empirismus. 65,5-6 Schon im Talmud […] eingetreten sein würden.] Vgl. bJev 62a (BT, Bd. IV, S. 529). 65,11 Metempsychose] griech. für »Seelenwanderung«. 65,12 Gilgul] gilgul neschamot, hebr.: wörtliche Bedeutung: »Rollen der Seelen«. 65,13 Ibbur] hebr. für »Schwangerschaft«. 66,36 Neschama] hebr.: »Seele«. 65,40 messianischen Bewegung, die den Namen Sabbatai Zewis] Sabbatai Zvi (1626-1676): Pseudomessias, dessen große Anhängerschar nach seinem Zwangsübertritt zum Islam 1666 sich zumeist von ihm abwandte. 66,14 Zug der Fünfzehnhundert] unter der Führung von Jehuda HeChassid (ca. 1660-1700) wanderten am Ende des 17. Jhd. etwa 1500 Juden aus Europa aus; 1700 erreichten ca. Tausend Jerusalem. 67,7-8 seit den kosakischen Judenmetzeleien unter Chmielnicki] Unter dem Anführer Bogdan Chmielnicki (um 1595-1657) kam es ab 1648

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Einzelkommentare

zu einem Aufstand der Ukrainer gegen Litauen-Polen, in dem mehr als 10 000 Juden Opfer von Pogromen wurden. 67,23 was ihn wie ein allzu volles Gefäß überquellen machte] Nicht nachgewiesen. 67,26-28 Herr, dir ist bewußt […] kundtun könnte] Nicht nachgewiesen. 67,31 Hier ist nicht […] gesagt hätte] Pinchas Schapiro, Midrasch Pinchas he-chadasch, Warschau 1910, S. 9. 68,6-7 je größer ein Mensch, desto größer ist sein Trieb] bSuk 52a (BT, Bd. III, S. 400). 68,10-16 Er soll den Stolz […] geistigen Seligkeit] Vgl. die anonym herausgegebene Sammlung Liqqutim jeqarim, Lemberg 1875, Bl. 20a. 68,26-28 »Er erhebe sich eilend […] Welten erzeugt.«] Israel ben Elieser, Tzawa’at ha-Ribasch, Warschau 1913, S. 5. 68,32-35 Wie von brennenden Hölzern […] zerfallen zu Asche] Nicht nachgewiesen. 68,37-41 Es ist eine große […] um der Kawwana willen] Israel ben Elieser, Tzawa’at ha-Ribasch, S. 10. 70,1 Zaddikim] Pl. von »Zaddik«. Vgl. auch Bubers Erklärung in der Neuauflage von Die Legende des Baalschem von 1955, in diesem Band, S. 478 f.

Rabbi Nachman von Bratzlaw Variantenapparat: 71,2-18 Von der tiefsten […] sondern erlösen.] fehlt d18 71,2 der tiefsten] einer tiefen d9, D10, D11, D12, D13, D14, D17 71,4 sie vermögen es nicht] es nicht vermögen D17 71,4-8 Von denen […] gab es auch solche] Neben denen, die abseits vom Zaddikismus den reinen Gedanken der Lehre wiederherzustellen versuchten, aber nicht so volkstümlich wurden, daß sie der Zersetzung entgegengewirkt hätten, gab es auch solche d9 71,5 Zaddikismus] Zaddikglauben D10, D11, D12, D13, D14, D17 71,9 in Wahrheit] [auf einen weiten Kreis hin] ! in Wahrheit h 71,13 leeren und verlogenen] selbstgewissen D14 71,13 in der Hingabe] [im Absoluten] ! in der Hingabe h 71,18-20 Unter ihnen der Größte, […] genannt wird] Rabbi Nachman ben Ssimcha (1772-1810) wird nach dem Hauptort seines Wirkens Rabbi Nachman ben Bratzlaw genannt d18 71,18 der Größte, der Reinste, der Tragischste] der Größte und Tragischste D17

Rabbi Nachman von Bratzlaw

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71,18-19 R a b b i N a c h m a n b e n S s i m c h a ] nicht hervorgehoben D10, D11, D12, D13, D14, D17 71,20 R a b b i N a c h m a n v o n B r a t z l a w ] nicht hervorgehoben D10, D11, D12, D13, D14, D17 71,26 Frommen] Chassidim d18 71,30 seiner willen verlor er seine liebsten Menschen. Durch ihn] Um seinetwillen D17, d18 71,34-35 dem letzten] diesem späten d18 71,35 wahrhafte] [wortgetreue] ! wahrhafte h 71,36 und offenbar entstellenden] fehlt D14, D17, d18 71,36 entstellenden Berichten] entstellenden [, X brutal missverständlichen] Berichten h 71,37 mit geringem Verständnis] hmit geringem Verständnisi h fehlt D14, D17, d18 72,1-2 recht unvollständiges] unvollständiges D14, D17, d18 72,5-6 achtete des Gebotes nicht, in Freude zu dienen] hachtete des Gebotes nicht, in Freude zu dieneni h 72,9-10 , von den Geschäften der Stunde bestimmten] fehlt D14 72,11 Offenbarung] Linderung D17, d18 72,12-14 Durch das wohl […] Angesichte Gottes.] fehlt D17, d18 72,13 hebräische Ritual der Chassidim] Ritual D14 72,14-15 an irgend einen menschenleeren Ort] [in den Wald, warf sich nieder] ! an irgend einen menschenleeren Ort h 72,29 e i n e n ] nicht hervorgehoben d9, D10, D11, D12, D13, D14, D17, d18 72,31 mußte] hervorgehoben D17, d18 73,4-5 wie jener […] da Todi,] fehlt D17, d18 73,12 e i n e ] nicht hervorgehoben D10, D11, D12, D13, D14, D17, d18 73,18 Den Juden] [Den Juden, den eine tausend Jahre lange Vererbung der Naturfremdheit in Banden hält, erfasst, wenn einmal die Mauern seines Seelenghettos niederstürzen] ! Den Juden h 73,21 tausend Jahre lange] tausendjährige d18 73,22-23 des graugelben Tones] der fahlgelben Mauern D17, d18 73,23 Waldgrün und Waldblüte umgibt] [Himmelblau und Waldgrün umgeben] ! Waldgrün und Waldblüte umgibt h 73,25 dieses Erleben] [dieser Einfluss] ! dieses Erleben h 73,33-35 In allen Berghängen […] zu kommen] [Der Dienst in der Natur wurde zu einer seiner Grundlehren und er] ! In allen Berghängen […] zu kommen h 73,38 Gesänge] [Lieder] ! Gesänge h 73,39-40 ohne alles fremde Wollen und Denken] fehlt D17, d18

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Einzelkommentare

74,9-10 abhaut vor seiner Zeit, ist es, als ob man eine Seele gemordet hätte] vor seiner Zeit abhaut, ist es, als hätte man eine Seele gemordet D17, d18 74,11-12 den einen und den anderen] etwelche d18 74,15 Niedergang] [Tiefstand] ! Niedergang h 74,17 müßigen] lässigen D14, D17, d18 74,17 Fingern erloschen] Fingern erloschen [, der Baum, den der Baalschem gepflanzt hatte, trug keine Frucht mehr] h 74,21 Reich] Bereich D14, D17, d18 74,22 erweiternd] erweiternd [und vollendend] h 74,27 und in ihnen] fehlt d18 74,38 des Schicksalslandes,] fehlt D17, d18 74,39-40 Simeon […] Lurjas] der Meister in der geheimen Lehre d18 75,8 eine Geldsumme] einen Geldbetrag D14 75,11-23 Einer seiner […] Tone erzählt.] fehlt D17, d18 75,23 Von dieser Reise] [Palästina hat auf Nachman tief eingewirkt und ist für ihn ein Quell der Kraft geworden.] ! Von dieser Reise h 75,34 die wildesten] wildeste D14 wilde D17, d18 76,1-2 muß jeden Tag […] Tode abgeben] geht Schritt für Schritt seinem Tode entgegen und muss ihm jeden Tag ein Stück von sich geben h 76,6 Einmal standen Spielleute da] [Musikanten spielen und zu den Klängen tanzt eine fröhliche Schar, da kommt ein Tauber heran, der nie Musik gehört] ! Einmal standen Spielleute da h 76,10 Menschen] Leute d18 76,12 ihren Zorn und ihr Wüten] ihr Wüten D17, d18 76,18 ein gewöhnlicher Vorgang] eine gewöhnliche Funktion h 76,29-30 als die organische […] Erlebens,] fehlt D17, d18 76,30 ein hohes Ding] [der Gegenstand seiner Verehrung] ! ein hohes Ding h 76,30 in seiner wirkenden Lebendigkeit] [in seiner Lebendigkeit höher als alle Schrift] ! in seiner wirkenden Lebendigkeit h 76,34 Erlebnis] Ereignis D17, d18 76,36 Bangigkeit] [Angst und] Bangigkeit h 76,38 scheint es ihm] ist ihm D14 ist es ihm D17, d18 77,17 Letzte und Absolute] Letzte D17, d18 77,18 erweckt und berufen] berufen D17, d18 77,22-23 So ist […] Maieutik.] fehlt D17, d18 77,27-29 war nie […] für ihn gewesen] war ihm nie […] gewesen D17, d18 77,28 und überhaupt kein erhebliches Ereignis] hund überhaupt kein erhebliches Ereignisi h fehlt d9 77,29 das Gottwissen,] fehlt h 77,30 umfaßt] umfängt D17, d18

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77,31 wie Gott allein] wie er D17, d18 77,32 neuen] [höheren und vollkommeneren] ! neuen h 77,36 nach dem Sterben und] fehlt d9, d18 77,38-39 , »denn ich kann […] bleiben.«] »denn ich kann nicht auf einer Stufe stehen bleiben.« h fehlt d18 77,39 der Tod] [die Gewalt des Zieles] ! der Tod h 78,4 zugefallen war] gewonnen hatten h 78,5 Stadtmauer geworfen] Stadtmauer [zum Frass der Hunde und Schweine] geworfen h 78,6 Lurja] der späten Kabbala d18 78,19 besser daran getan hätte] besser gewesen wäre h 78,19-20 zu entfernen und abzuwerfen] abzuwerfen D17, d18 78,26 seiner Wahl gelassen] seiner eigenen Wahl überlassen D17, d18 78,27-29 daß das Ding […] tue nach seiner Wahl] fehlt D17, d18 78,35 In den letzten Tagen] Solche Gedanken kamen zuweilen über ihn; aber er überwand sie und wurde, wenn er seine Schüler sah, des Wenigen froh, das er gewirkt hatte. »Ich werde? unter euch bleiben und ihr werdet auf mein Grab kommen zu meiner Freude«, sprach er zu ihnen und als er ihren Schmerz um sein Scheiden sah, redete er ihnen Trost zu: »Ich gehe nun von einer Stube in eine andere, – glaubt ihr, ich werde euch da nicht hören, wenn ihr rufet?« In den letzten Tagen h 78,36 und lebte schon im Absoluten] fehlt D17, d18 78,36 Absoluten] Unbedingten D14 78,40 umherging] umherwandelte d18 79,4-6 Er war ohne […] getragen.] fehlt d9, D10, D11, D12, D13, D14, D17, d18 Wort- und Sacherläuterungen: 71,6 Schneor Salman] von Ljadi (1745-1812): Schüler des Dow Bär, des großen Maggid (1704-1772), und Gründer des Chabad-Chassidismus der Lubawitscher Chassidim. 71,21 »der Krone den alten Glanz wiederzugeben«] bJom 69b (BT, Bd. III, S. 192). 71,22-25 »Dem bösen Geiste,« […] Zaddik dorthin.«] Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Lemberg 1874, Bd. II, Bl. 19b. 71,25-26 »ein Führer sein wie die Führer, […] warum sie fahren«] Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Bd. II, Bl. 9a. 72,15 Volkssprache] d. i. Jiddisch. 72,17-19 »man achte seiner nicht, […] ganz und gar nicht«] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Lemberg 1901, Bl. 3a.

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72,21-22 Er selbst erzählte einmal in späten Jahren von einem solchen Erlebnis.] Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Bd. II, Bl. 1a. 72,24 Tauchbad] oder »Ritualbad«; hebr. Mikwe. Seit der Tempelzerstörung ist es nur noch Frauen verbindlich vorgeschrieben, die Mikwe sieben Tage nach Ende der Menstruation aufzusuchen. Die Chassidim haben vielfach den Brauch etabliert, dass die Männer vor Sabbat und Feiertagen die Mikwe aufsuchen. Vgl. auch Bubers Erklärung unter »Tauchbad« in der Neuauflage von Die Legende des Baalschem von 1955, in diesem Band, S. 477. 73,4 giullare di Dio] ital.: »Gottes Narr«. 73,5 Jacopone da Todi] (1230/1236-1306): lebte in Armut als Art religiöser Narr und später als franziskanischer Bettelmönch; bedeutender religiöser Dichter in der ital. Volkssprache. 73,37-74,5 »Wenn der Mensch gewürdigt wird,« […] in deinen Augen.«] Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 60a. 74,9-10 Denn wenn man […] gemordet hätte] Nachman von Bratzlaw, Hanhagot jescharot, [Lemberg, 1860], Kap. Banim § 23, Bl. [11b]. 74,19 »ein Ding zu machen, das ewigen Bestand hat«.] Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Lemberg 1874, Bd. II, Bl. 11a. 74,24-25 »die Wildnis der Herzen in eine Wohnstätte Gottes wandelnd«.] Nicht nachgewiesen. 74,29-35 »Im Anfange,« […] ich aber nicht.«] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Lemberg 1901, Bl. 64b. 74,37-38 wollte er den Segen des heiligen Landes empfangen] Mit der Palästinareise des Nachman beschäftigt sich Buber im Kapitel »Ein Zaddik kommt ins Land« in Israel und Palästina, Zürich: Artemis Verlag 1950, S. 115-139 (jetzt in: MBW 20, S. 250-267). Eine wissenschaftliche Darstellung der Reise bei Martin Cunz, Die Fahrt des Rabbi Nachman von Brazlaw ins Land Israel (1798-1799). Geschichte, Hermeneutik, Texte, Tübingen 1997. 74,39-40 die Gräber Simeon ben Jochais und Isaak Lurjas] Das Grab Simon ben Jochais in Meron ist eine bedeutende Pilgerstätte, nach der Klagemauer die meistbesuchte in Israel. An seinem Todestag strömen Hunderttausende in den kleinen Ort. Traditionell werden dann den dreijährigen Jungen zum ersten Mal die Haare geschnitten (Chalaka). 75,10 »Mein größerer Teil ist schon dort.«] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Lemberg 1901, Bl. 7b. 75,14 Stambul] Istanbul. 75,21 Höhle des Propheten Elijah] Am Karmel-Berg, heute in der Stadt Haifa.

Rabbi Nachman von Bratzlaw

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75,24-25 »Alles, was ich vor Erez Israel […] ist gar nichts,«] Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Bd. I, Bl. 9a. 75,27-28 »mein Ort,« […] Erez Israel.«] Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Bd. I, Bl. 23a. 75,29-30 »Ich lebe nur noch davon, daß ich in Erez Israel war.«] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 18b. 75,37-39 »Wie sollen sie nicht wider uns streiten?« […] nicht ertragen.«] Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Bd. II, Bl. 9b. 75,39-76,2 »Die ganze Welt ist voll des Streites, […] verbringen können?«] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 39a. 76,4-5 »Bin ich es denn,« […] wider ihn.«] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 63a. 76,9-11 »Wie närrisch sind doch […] hin und her.«] Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Bd. I, Bl. 23a, nach: Israel ben Elieser (Bescht), Sefer Ba’al schem tov, Lodz 1938, Bd. II, S. 59 f. 76,13-15 »Alle Worte des Lästerns […] aus ihnen sein Haus.«] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 45a. 76,22-24 »Das Wort bewegt eine Luft […] erweckt] Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan, Ostraha 1816, Bl. 52b. 76,25-28 »die sogleich kundgeben, […] was sie sehen«.] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 37a. 76,32-33 »in Tränen gewaschen«] Nachman von Bratzlaw, Schivche haRan im sichot ha-Ran, Bl. 50a. 76,34-36 »ich habe in mir,« […] einkleiden.«] Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Bd. II, Bl. 10b. 76,39-77,4 »Zuweilen gehen meine Worte […] in Vollkommenheit«.] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Lemberg 1901, Bl. 67b. 77,7-13 »Wenn einer zu seinem Gefährten redet […] erweckt wird.«] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Lemberg 1901, Bl. 46a. 77,20-22 »Wenn ich mit einem zu reden beginne […] hören] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 63a. 77,23 zur sokratischen Maieutik] abgeleitet vom griech. μαιευτική, »Hebammenkunst«. Gemeint ist das dialogische Verfahren des griech. Philosophen Sokrates (469-399 v. Chr.), durch geschicktes Fragen seine Gesprächspartner zu eigenen Erkenntnissen zu bringen. 77,29-31 »Wer das wahre Wissen erlangt, […] wie Gott allein.«] Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan, Bl. 40a. 77,36-39 »Ich möchte schon gern […] stehen zu bleiben.«] Nachman von Bratzlaw, Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 62b.

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Einzelkommentare

78,36-38 »Siehe,« […] geht der Berg zu uns?«] Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Bd. I, Bl. 30b. 78,39-41 »Das Angesicht des Toten […] und dachte.«] Eliezer Schlomo Bratzlawer, Jeme Maharnat, Lemberg 1903, Bl. 39a.

Worte des Rabbi Nachman Variantenapparat: Vorbemerkung: In d3 werden die Worte ohne Zwischenüberschriften wiedergegeben, anders angeordnet und um einige weitere ergänzt: Es ist nicht möglich, anders in das Heilige Land zu gelangen, als durch Leiden. * Die Schrift ist nur ein Werk der Seele, aber das Wort ist die Seele selbst. * Die Augen sind ein sehr erhabenes und hohes Ding, und sie schauen unablässig grosses und furchtbares Wesen, Gesichte und Erscheinungen, und wäre der Mensch reiner Augen würdig, dann würde er Grosses fassen durch seine Augen, denn sie sehen unablässig, allein er weiss nicht, was sie sehen. * Wenn der Mensch gewürdigt wäre, die Lieder und Lobgesänge der Kräuter zu vernehmen, wie jedes Kraut ein Lied zu Gott spricht ohne alles fremde Wollen und Denken, wie schön und süss wäre es, ihr Singen zu hören. Und daher ist es gar gut, in ihrer Mitte Gott zu dienen in einsamem Wandeln über das Feld hin zwischen den Gewächsen der Erde und seine Rede auszuschütten vor Gott in Wahrhaftigkeit. Alle Rede des Feldes geht dann in seine ein und steigert ihre Kraft. Er trinkt mit jedem Atemzuge die Lüfte des Paradieses, und kehrt er heim, ist die Welt erneuert in seinen Augen. 80,1 Nachman] Nachman von Bratzlaw (1772-1810). Zusätzlicher Untertitel Dem Hebräischen nachgebildet von Martin Buber d3

Worte des Rabbi Nachman

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80,11 WELTSCHAUEN] zusätzliche Anmerkung Im Namen des Baalschem. d18 80,28 sehr seligem] seligem d18 81,8 großer Gefahr] großer Gefahr, wenn er alles mit der Seele weiß d3 81,26 erlangt im Gange der Zeiten] im Gange der Zeiten erlangt D14, D17, d18 82,3 Der Sieg] Das Obsiegen D17, d18 82,5 Sieg] Obsiegen D17, d18 82,5 Sieges von dannen] Obsiegen hinweg D17, d18 82,13-14 achten und schauen] achten D17, d18 83,4 fasse] halte D17, d18 83,24 HEMMUNG] Hindernis D14, D17, d18 83,25 keine Hemmung, die] kein Hindernis, das D14, D17, d18 83,25-26 Hemmungen] Hindernisse D14, D17, d18 84,25 großes und mächtiges] großes D14, D17, d18 84,26 haben Söhne] haben gezeugt D14 haben gezeugt und gewirkt D17, d18 84,28 Und es gibt noch] Es gibt D14, D17, d18 85,6 Straßen] Gassen D17, d18 Wort- und Sacherläuterungen: 80,2 DIE WELT] Quelle: Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 29a. 80,11 WELTSCHAUEN] Quelle: Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan, Ostraha 1816, Bl. 80b-81a. 80,18 GOTT UND MENSCH] Quelle: Schivche ha-Ran im sichot haRan, Lemberg 1901, Bl. 52b. 80,24 GLAUBE] Quelle: Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 27b. 81,1 DAS GEBET] Quelle: Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Lemberg Bl. 48b. 81,10 ZWEI SPRACHEN] Quelle: Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan, Bl. 15a. 81,17 INNEN UND AUSSEN] Quelle: Schivche ha-Ran im sichot haRan, Bl. 40b. 81,24 ZWEIERLEI MENSCHENGEIST] Quelle: Nachman von Bratzlaw, Sippure Ma’asijjot, Ostraha 1815, Bl. 114a. 81,31 DENKEN UND SPRECHEN] Quelle: Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan, Bl. 147b. 82,2 WAHRHEIT UND DIALEKTIK] Quelle: Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan, Bl. 77b. 82,8 ZWECK DER WELT] Quelle: Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan, Ostraha 1816, Bl. 6b.

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Einzelkommentare

82,17 FREUDE] Quelle: Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan tinjana, Ostraha 1818, Bl. 28b. 82,21VOLLENDUNG] Quellen: Teil 1) Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan, Bl. 83a; Teil 2) Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 32b. 83,1 DER TRIEB] Quellen: Teil 1) Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 22b; Teil 2) Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan tinjana, Bl. 40a; Teil 3: Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan, Bl. 114b. 83,16 AUFSTIEG] Quelle: Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 7a. 83,20 SICH SELBST RICHTEN] Quelle: Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan, Bl. 27a. 83,24 WILLE UND HEMMUNG] Quelle: Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Bd. II, Bl. 18a, vgl. auch Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan tinjana, Bl. 39a. 84,1 ZWISCHEN MENSCHEN] Quelle: Schivche ha-Ran im sichot haRan, Bl. 30a. 84,8 IM VERBORGENEN] Quelle: Nachman von Bratzlaw, Liqqute Moharan, Bl. 113a. 84,12 DAS REICH GOTTES] Quelle: Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 71a. 84,17 DIE WANDERUNG DER SEELEN] Quellen: Teil 1) Schivche haRan im sichot ha-Ran, Bl. 33b; Teil 2) Schivche ha-Ran im sichot haRan, Bl. 43b; Teil 3) Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 66a; Teil 4) Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Bl. 78b; Teil 5) Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Bd. I, Bl. 28b.

Die Erzählungen Variantenapparat: 86,1 Die Erzählungen] Der Erzähler D14 86,5 Einmal berichtete] davor Absatzwechsel h 86,31 ein Märchen] [eben eine Geschichte] ! ein Märchen h 86,34-35 fand eine […] Volksmärchen vor] fand eine Tradition jüdischer Volksmärchen vor und knüpfte an sie D10, D11, D12, D13, D14, D17, d18 86,35-36 Märchendichter] [Märchenerzähler] ! Märchendichter h 86,36 unter den Juden] unter den Juden. Alles Frühere war anonyme Schöpfung; hier zum erstenmal ist Person, persönliche Intention und persönliche Gestaltung D10, D11, D12, D13, D14, D17, d18 86,39-87,2 , die meisten […] fragmentarischer Weise] fehlt d18 86,39 die meisten] und zwar von vielen nur [wenige] ! ein Teil, von diesen wieder die meisten h

Die Geschichte von dem Stier und dem Widder

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87,2 allerdings] zwar D14, D17, d18 87,4 , bevor er nach Hause ging] und erst dann nach Hause zu gehen D17, d18 87,4-5 niederzuschreiben] niederzuschreiben, damit er sie nicht vergesse h 87,7 auch geradezu] gar D14, D17, d18 87,7-8 Bei den Lehrworten […] aufgezeichnet wurden] [Die einzelnen Lehrworte des Meisters pflegte er wohl gleich aufzuschreiben] ! Bei den Lehrworten […] aufgezeichnet wurden h 87,10 hingegen sind alle offenbar entstellt] kann das nicht gelten d18 87,14-15 Geschichtsschreiber des Chassidismus] [Historiker] ! Geschichtsschreiber des Chassidismus h 87,17-18 dem an, was sie selbst dachten] ihrem eigenen Gedanken an D17, d18 87,20 gesammelt und in dem jüdischen] in dem jiddischen D17, d18 87,20 Von diesen […] mitgeteilt.] fehlt d18 87,21 mitgeteilt] [mitgeteilt. Ich habe mich bei der Auswahl davon bestimmen lassen, welche die eigentümlichsten und bedeutendsten, aber auch davon, welche die am reinsten erhaltenen waren.] ! mitgeteilt, die mir als die eigentümlichsten und bedeutendsten erschienen sind h Wort- und Sacherläuterungen: 86,26 seine Lehren »keine Kleider haben«] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 76,34-36. 86,38 Nathan von Niemirow] Vgl. die Einleitung zu diesem Band, S. 21. 87,15-16 »Sie schrieben Dinge, die er nie gesagt hatte,«] Nicht nachgewiesen. Der Baalschem soll eine Niederschrift seiner Lehren ähnlich abgewertet haben: »Hier ist nicht ein Wort von mir.« Grözinger, Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht, Hebräisch, Nr. 181. 87,17-18 »Sie glichen […] selbst dachten.«] Nicht nachgewiesen.

Die Geschichte von dem Stier und dem Widder Quelle: Nachman von Bratzlaw, Sippure Ma’asijjot, Bl. 20b-23b. Variantenapparat: 88,1-92,36 Die Geschichte […] tragen durften.«] fehlt D14 88,1 Die Geschichte] Das Märchen d2

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Einzelkommentare

88,17 ihnen jedoch] diesen d2 88,29-30 ließ jedem seinen Spruch […] zuteil werden] fällte jedem seinen Spruch […] D17 88,37 erstarb die Seele des Königs in Bitterkeit] erbitterte sich die Seele des Königs D17 89,4 Bangigkeit] Furcht D17 89,6 schimmernden Himmelszeichen] Himmelszeichen D17 89,9 er] sein Geschlecht D17 89,17-18 Stier oder Widder] weder Stier noch Widder d2 89,19-20 Zorn- und Rachegedanken] Rachegedanken D17 89,28 bauen] gießen D17 89,29 gießen] strahlen D17 89,37 geheimnisvoll] fehlt D17 89,38 auf rätselhafte Weise] fehlt D17 90,1 verriet] offenbarte D17 90,16 Rache] Vergeltung D17 90,19 Ehrenbezeugungen] Ehren D17 90,24 als die von Männern] las er solche d2 90,39 schwarzen sammetnen Luft] schwarzen Luft D17 90,39-40 unendlicher] unermeßlicher D17 91,2 blau blitzend schienen ihre Strahlen] ihre Strahlen schienen gerade D17 91,3 Er sammelte […] da begannen] Als er seine Blicke auf sie richtete, begannen D17 91,5-6 Von Wahnwitz […] zusammen.] fehlt D17 91,17-18 die Pein der Furcht] die Angst D17 91,24 willigte mit Freuden ein] willigte ein D17 91,32-33 eine mächtige Flamme war] als eine mächtige Flamme funkelte D17 91,34-35 Mit einem Feuerzucken hub er] Er hob D17 91,34 Feuerzucken] Feuerzauber d2 91,37 gerade und wohltätig] gerade D17 92,2 Ahnende Bangnis überkam] ahnungsvolle Bangnis erfasste D17 92,4 erinnerte sich, daß es einen Weg gibt, der] entsann sich, daß einer der Wege D17 92,6 versengt] verzehrt D17 92,7 züngelnd] fehlt D17 92,12 voller Entsetzen] fehlt D17 92,18 hatte an seinem Orte verharrt] war an seinem Ort verblieben D17 92,21-23 erzählte er […] beschieden war] sammelte sich alles Volk um ihn D17

Die Geschichte von dem Rabbi und seinem Sohne

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92,32-33 , von meinem Fluche […] Verderbens gewiß] fehlt D17 92,35 ohne Harm und Hader leben konnten] ohne Harm leben D17 Wort- und Sacherläuterungen: 92,11 Gebetmäntel] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von Die Legende des Baalschem von 1955, in diesem Band, S. 471.

Die Geschichte von dem Rabbi und seinem Sohne Quelle: Nachman von Bratzlaw, Sippure Ma’asijjot, Ostraha 1815, Bl. 30a-31b. Variantenapparat: 93,1 Die Geschichte von dem Rabbi und seinem Sohne] Der Rabbi und sein Sohn / Eine Legende, dem Rabbi Nachman von Bratzlaw nacherzählt von Martin Buber d1 93,2 dargebracht] geweiht D17 93,9 schauen] achten D17 93,9 mit strengen Gedanken] fehlt D17 93,10-11 des Gesetzes letzter und kleinster Forderung] der Forderung des Gesetzes D17 93,11-15 bitter Feind […] walten darf] jenen Schwärmern feind sei, die es wagen, ihre schweifenden Träume an die urewige Macht der Thora zu knüpfen D17 93,11 bitter Feind] feind D14, D17 93,12-13 die die erhabenen Worte […] die es wagen] die es wagen D14, D17 93,14 urewige ernste Macht] urewige Macht D14, D17 93,14-15 und das unstete Herz […] walten darf] fehlt D17 93,14 unstete Herz] Herz D14 93,15 stählerne Gedanke] Gedanke D14 93,17 zuweilen und] fehlt D14, D17 93,20-21 kleinen starren Lettern] starren Lettern D14, D17 93,21-23 glitt […] glitt] flog […] flog D14, D17 93,29 innig und heiß] fehlt D17 93,29-32 über wunderbare Saaten […] hinüberblauten] wie in eine unbekannte und geheimnisvolle Landschaft D17 93,31-32 wuchs das Lernen […] Erkennen] erstarkte er im Erkennen der Lehre D17 93,32 Worte] Zeichen D17

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Einzelkommentare

93,33 aus ihm selbst] als käme sie aus ihm selbst D14, D17 93,33-34 , von seltsamer Wärme […] Gezweige] fehlt D14, D17 93,35 schrankenlose Kraft] namenlose Kraft d1 Kraft D14, D17 93,39 vermählen sich zu jener tiefen und] vereinen sich zu der D17 94,1 Seele] Menschenseele D17 94,2-3 ; dieses war die Stufe […] zu ahnen] fehlt D17 94,4 unwissend wähnt, dieweil] unkundig wähnt, obgleich D17 94,5 so glaube er] meinte der Sohn des Rabbis D17 94,6 und ihrer dumpfen Stimme lauschen] fehlt D14, D17 94,7-8 , wiewohl ihm […] Arbeit leuchtete] fehlt D14, D17 94,9-10 war ihm, […] Grenzenlosen] fühlte er sich in einer grenzenlosen Leere verlassen D17 94,11 von der Rede des toten Mundes] fehlt D14 94,11-19 von der Rede des toten Mundes […] keinen Namen hatte] immer wieder in die Welt seiner inneren Geschichte ein. Aber auch in ihnen fand er das Genügen nicht. D17 94,14-17 , und ihre selige Pein […] zusammenklingen] fehlt D14 94,20-22 Er wagte nicht, […] Seele geschah] Er vermochte nicht, davon zu sprechen, denn wenn er es versuchte, sagten seine Worte schon anderes, als was ihm seinen Sinn erfüllte D17 94,23 Schwärmern und Phantasten] Schwärmern D14, D17 94,25 wild und unbändig] unbändig D14, D17 94,25 lebendig sein mochte] lebte D14, D17 94,27 den Verkehr] den Umgang mit jenen D17 94,30-31 ihn ein Mangel quäle […] Unnennbaren] er nach einem Unnennbaren verschmachte D17 94,33 Kraft] Macht D17 94,33-35 Er geht […] allen hin] Wenn er durch die Reihen der Menschen geht, ergießt sich aus seinen Augen der göttliche Segen über sie D17 94,36 wie aus einem schweren Traume] fehlt D14, D17 94,40 liegt dem Lernen nicht ob und redet] er redet D17 95,1-2 , und ganz gewiß […] Tat nennt] fehlt D17 95,6 Und ganz gewiß ist die Erlösung sein Reich.] fehlt D17 95,7-8 Tat und Erlösung sich einen zur höchsten Begnadung] eben diese Begnadung D17 95,9 von vielen Zeiten zu vielen Zeiten] zu urseltenen Zeiten D17 95,10-11 zu strahlen und hinüberzuleben] hinüberzustrahlen D17 95,11-12 ob des seltsamen Ungestüms] über das Ungestüm D14, D17 95,12 wie sie solches] das sie sonst D17 95,12-13 Er aber stand […] widerfahre.] fehlt D17

Die Geschichte von dem Klugen und dem Einfältigen

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95,14 Von dieser Stunde an aber] Von da an D17 95,15-16 und von ihm […] empfangen] fehlt D17 95,16 ging zu seinem Vater und sagte ihm] teilte seinem Vater sein Vorhaben mit D17 95, 17-18 , wenn er anders […] einbüße] fehlt D17 95,19-20 aufsuchen wolle] aufzusuchen begehre D14, D17 95,21-22 beharrte […] gab ihm] auf seinem Anliegen beharrte, gab er ihm D17 95,22-23 guten und strenggläubigen] strenggläubigen D14, D17 95,24-25 , aber der Jüngling […] immer dringender] fehlt D17 95,25 kehrte immer wieder und wiederholte] wiederholte D17 95,27-28 und wie eine schier […] flackerte] fehlt D17 95,30 Liebe und Erbarmen] Erbarmen D14, D17 95,33-34 Klugheit und Erfahrung] Klugheit D14, D17 95,38 uns aber ein Ding widerfahren] sich aber etwas begeben D14, D17 96,9 verwirrt und geängstigt] geängstigt D14 96,9-11 da er das Geschehene […] deuten mochte] fehlt D14 96,22-23 wohlbewandert und unterwiesen] wohlbewandert D14 96,23-24 er gar schicklich und gewandt] gewandt er D14 96,24 Und so geschah’s daß] Bald war D14, D17 96,36 leichtfertigen und höhnischen] höhnischen D17 97,3 Einfalt] Aufrichtigkeit D17 97,6 Uferlos] Grenzenlos D17 97,8 schrecklich […] Säule des Zornes] zornflammend und schrecklich D17 97,10 Da erwiderte dieser] Die Erscheinung erwiderte D17 97,12 Erscheinung] Begebenheit D17 97,19 eingekehrt war] verweilt hatte D17 97,37 wich er unmerklich] entwich er D14 97,37-38 wich er unmerklich […] und war verschwunden] wich er von dannen D17

Die Geschichte von dem Klugen und dem Einfältigen Quelle: Nachman von Bratzlaw, Sippure Ma’asijjot, Bl. 31b-43b. Variantenapparat: 98,9 erfaßt] [ergründet] ! erfasst h 98,25 es Kaufleute aus Warschau seien, die] der Kaufmann aus Warschau war und D8, D10, D11, D12, D13, D14, D17

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Einzelkommentare

99,12-13 Ort und Gelegenheit] die Gelegenheit D17 99,24 dieses Tun] das neue Tun D8, D10, D11, D12, D13, D14, D17 99,32 , und alles gering […] wurde] fehlt D17 100,6 zuweilen] [manchmal] ! zuweilen h 100,23 ruppigen Schafspelz] [Pelz] ! ruppigen Schafspelz h 101,34 schleunig] fehlt D17 101,38-39 Stuben] Räume h 102,5 kunstvoll und wunderbar] kunstvoll D14, D17 102,11 groben und schreienden] groben D14, D17 102,21 schwoll in tiefer Bitterkeit] war unwillig D17 102,41 bis aufs Kleinste] genau D17 103,9 grimmig] arg D14, D17 103,13 Ungemach und Nöten] Ungemach D14, D17 103,14 friedsam und fröhlich] fröhlich D14, D17 103,20 überkäme] anwandelte D17 103,23 seinen reichen Genossen] [den reichen Weisen] ! seinen reichen Genossen h 103,36 als Boten für den] zur Botschaft an D8, D10, D11, D12, D13, D14, D17 103,38 Statthalter jener Provinz meines Reiches] [Gouverneur der Stadt] ! Statthalter jener Provinz meines Reiches h 103,38 jener Provinz meines Reiches] fehlt D14, D17 103,39 die Boten auf angemessene Art] auf schickliche Art die Boten D14, D17 103,40 Dann möge man ihnen auch nicht sagen] Auch sage man ihnen nicht D14, D17 104,3 einer] ein Tropf h 104,5 sauer geworden] sauer h 104,12 Statthalter] [Gouverneur] ! Statthalter h 104,13-14 verwunderte sich und sagte] hverwunderte sich undi sagte h 104,15 weiser, reicher] weiser D17 104,27 der Schrift] dieser Worte h 104,33 welch ein Glück,] fehlt D14, D17 104,34-37 Wagen. Als ihm jedoch […] König treten] Wagen und brach vollends in Jubel aus, als ihm die köstlichen Kleider gereicht wurden h 104,38 Residenz] [Königsstadt] ! Residenz h 104,40-41 Ränke und Hinterlist] Hinterlist D14, D17 105,18-24 , und er gab […] gewesen war,] fehlt D14 105,18-22 , und er gab […] seine Weisheit] fehlt D17 105,22 Dennoch aber] Als Statthalter D17 105,24 Leben selbst ohne Ränke verbracht hatte] [sein Lebtag ohne Ränke geblieben war] ! Leben selbst ohne Ränke verbracht hatte h

Die Geschichte von dem Klugen und dem Einfältigen

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105,26 Ratgeber] Helfer D14, D17 105,27-28 nichts mehr sehnlicher] fehlt D14 nichts sehnlicher D17 105,29 Weisheit] Verstand D17 105,30-31 köstlichen Palast] Palast D14, D17 105,35 überdenken und beratschlagen] überdenken hund beratschlageni h 105,35-36 Und sogleich […] Witz glänzen.] fehlt D14, D17 105,39-41 Was gilt […] eines Herrschers?] Was gilt mein unbedeutender Verstand gegen die glorreiche Weisheit eines Herrschers? D14 fehlt D17 105,41 edlen] [urprächtigen] ! edlen h 106,1-2 kleinen und unwürdigen Mann] fehlt D17 106,7 Oder hast du etwa das Schreiben] [Oder kannst Du Dich rühmen, ihn je von Angesicht gesehen zu haben?] ! Oder hast du etwa [den Brief] ! das Schreiben h 106,20 Merke wohl auf] [Hör auf mich] ! Merke wohl auf h 106,39 kein Handwerk höher denn das meine] keinen Beruf mehr als den meinen D14, D17 107,1 Da sprach der Weise] [Und er ging seines Wegs.] Da sprach der Weise h Der Kluge sprach D14, D17 107,4-5 ließ sich der Bote […] überzeugen] [Da ward der Bote ganz einer Meinung mit seinem Genossen] ! ließ sich der Bote […] überzeugen h 107,9-10 vermochten sie […] Irrtum] [offenbarte sich ihnen nichts anderes als Verblendung, Irrtum und die Torheit] ! vermochten sie nichts anderes zu sehen als Wahn, Verblendung und Irrtum h 107,10 Verblendung und Irrtum] Verblendung D14, D17 107,13 aller Herren Länder durchzogen] [dahinwanderten] ! aller Herren Länder durchzogen h 107,13 durchzogen] durchwanderten D17 107,14 Fehl und Mangel] Fehl D14, D17 107,16 erfahren] [empfinden] ! erfahren h 107,18 aller schicklichen Ausrüstung bar und] fehlt D14, D17 107,33-34 wunderbare] tröstliche D14 große D17 107,36-37 weder gelehrt, noch […] kundig sei] nicht gelehrt sei D17 108,11 ergrimmte] zürnte D17 108,12 prügelten] [schlugen] ! prügelten h 108,13 flohen erbittert von hinnen und eilten] flohen D14 flohen von hinnen und eilten D17 108,14 Schutz und Recht] Schutz D14, D17 108,15 mißhandelt] [gezüchtigt] ! misshandelt h

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Einzelkommentare

108,16-17 auf sie los […] endlich hinaus] sie streng an und hieß sie gehen D14, D17 108,20 angesehen und verehrt] verehrt D17 108,28 stattlich und weise] stattlich D14 108,32 tröstete ihn] [versprach ihm sein] ! tröstete ihn h 108,34 schickliche Gewänder] [angemessene Kleider] ! schickliche Gewänder h 108,37 Freundes] [einstigen] Freundes h 108,39 rief] [sagte] ! rief h 108,41-109,1 so Ungeheuerliches vorbringen] [dergleichen sagen] ! so Ungeheuerliches vorbringen h 109,6 Da sprach] Aergerlich sprach h 109,2 Wer sagt dir] Woher weißt du D17 109,7-8 und tötest jegliche Freude] fehlt D14, D17 109,7-11 Sieh, du sagtest […] Gaben empfangen] Du meintest einst, eher noch könntest du in meine Einfalt verfallen als ich zu deiner Klugheit aufsteigen. Nein, niemals wirst du die Gnade der Einfalt empfangen D17

Die Geschichte von dem Königssohn und dem Sohn der Magd Quelle: Nachman von Bratzlaw, Sippure Ma’asijjot, Bl. 57b-69a. Variantenapparat: 110,5 hold und geneigt] hold D14, D17 110,6 und diente ihrer Frau im Hause des Königs] fehlt D17 110,8 solches auch der Magd widerfahren] es auch der Magd geschehen D17 110,11 goldene Sonnenlicht] Licht D14, D17 110,25 der Lärmenden Genoß] Genosse der Lärmenden D14, D17 110,26 fremd und kalt] kalt D17 110,26-27 blanken Schimmer] Schimmer D17 110,28 und des Himmels Farbe hineinscheint] fehlt D17 110,31 einem Hüttlein. Sie war gar grau und trug] einer Hütte. Sie trug D17 110,32 Da bedrückte sie […] zu verschweigen] In seinem Anhauch bedrückte sie das Geheimnis, daß sie des Königs Sohn mit dem Sohne der Magd vertauscht hatte, und es schuf ihr doch Pein, es in ewiger Weile zu verschweigen D17 110,36 redete] flüsterte D17 111,13 ging er] schwoll ihm das Herz in Bitterkeit an und er ging h

Die Geschichte von dem Königssohn und dem Sohn der Magd

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111,18 alt ward und starb] starb D17 111,27-28 fand keinen Rat bei sich] wußte sich keinen Rat D17 111,28-30 verfolgte ihn […] zu fliehen] ließ nicht ab, ihn mit Unbill aller Art zu verfolgen, so daß er endlich willens wurde zu fliehen D17 111,31 reiche Gewänder] gute Gewänder D17 111,34 gleißenden Tänzerinnen] Tänzerinnen D14, D17 112,3-4 Dies legte sich schwer auf seinen Sinn] Dies verstörte ihn D14 Gewissensnot verstörte ihn D17 112,5-6 im Palaste weilte […] und er tat] in den Palast eingekehrt war, wies er die Sorge von sich, und tat D17 112,10 weisen] anbieten D17 112,15 arg] schwer D14 endlich D17 112,15-17 In einer Nacht […] geheißen ist.«] Eines Nachts im Traum hörte er die Stimme sagen: »Erbarme dich deiner und tue, wie dir befohlen ist.« D17 112,17 geheißen] befohlen D8, D10, D11, D12, D13, D14 112,19-20 was er noch an Gold und kostbaren Kleidern besaß] was an Gut geblieben war D17 112,23 Ort wieder, den er im Traum gesehen hatte] Traumort wieder D17 112,28-30 Und es erschien […] einherzulaufen. Der Kaufmann ritt] Er ritt D14, D17 112,36 und drohte ihn zu töten] , als wolle er ihn töten D17 112,37-38 verschwanden] entzogen D17 112,40 großen und fremden Wildnis] Wildnis D14, D17 113,1 Getiers] Raubgetiers D17 113,2 starken und dichten Gezweige] starken Gezweig eines Baumes D17 113,6 blieben sie in einer Lichtung stehen] verweilten sie in einer Lichtung D14 113,7 wieder] fliehend D17 113,21-22 für alle Zeiten, […] zurückkämen] fehlt D14, D17 113,28 Ich habe jetzt keine Furcht mehr, denn ich bin] Ich bin D17 113,32 nie, solange die Welt besteht, ist] nie wird D17 114,4-5 fast nach Menschenart, jedoch] fehlt D17 114,7 grüne Augen wie große Malachitkugeln] grosse grüne Augen h 114,16 tat ihm nichts Böses an und fragte] fragte D14, D17 114,22 und begann ihn anzuflehen] und bat D17 114,25-26 bat und drängte weiter] bedrängte ihn D17 114,35-37 Der antwortete […] ihnen sein Haus] Der zeigte schweigend auf ein Haus D17 114,39 unangefochten] unbeschädigt D14, D17 114,41-115,1 zu seinem Unterhalt gebraucht] gebraucht D17

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Einzelkommentare

115,1 gute Dinge] reichlich gute Dinge h 115,2 im Überfluß] fehlt h 115,7 was für einer Größe] welchen Standes D17 115,9 mächtiger König] König D17 115,10 geraunt hätten] raunten h 115,11 entfernt] vertauscht D17 115,20 von sich warf] verließ D17 115,21-22 ; und er verstand, wer sein Genosse war] fehlt D17 115,37 Gewirr] Wirrsal D17 115,38-39 erhabene Weise […] Glück der Erde] Weise eines Liedes, von solcher Art, daß alles Glück der Erde sie D14 115,38-40 war, also, daß ihnen […] Gesanges] war. Alles Glück der Erde dünkte sie eitel gegen die Wonne dieses Gesanges D17 116,7 seltsam] unbegreiflich D17 116,8 daß ich einen wundersamen Stab besitze] wenn ihr meinen wunderwirkenden Stab seht D8, D10, D11, D12, D13, D14, D17 116,31-32 unterfange] erkühnte D14, D17 116,33 trat] wich D17 116,34 sprach ihm zu] riet ihm D17 116,38-39 blickte den Jüngling […] als sei er] schaute den Jüngling an, dem unter dem Blick wunderlich zumute wurde, als sei er D17 117,1 Spiel und Schabernack] Spiel D17 117,3 Du Tor!] fehlt D17 117,11-12 waren in großen Nöten und wußten] wußten D17 117,22-23 wundersamer und furchtbarer Garten] Garten D17 117,23 gepflanzt]gegründet D17 117,24-25 silbernes Kriegsgerät und goldenes Kriegsgerät] Kriegsgerät von Silber und Gold D17 117,27-28 , das ihn gepflanzt hat,] fehlt D17 117,28-29 von unsichtbaren […] Garten flieht] in die Flucht gejagt D17 117,33-34 sehen, und im weiten […] Lebendiges] erblicken D14, D17 117,35 Menschen] Mannes D17 117,38 Worte] Worte zu lesen D14, D17 118,2-3 in der Mitte des Gartens auf] dessen Mitte auf D17 118,5 Garten in Frieden] befriedeten Garten D17 118,9 Thronsessel] Stuhl h 118,13 auf dem Tische steht] darauf D17 118,14 Thronsessel] Stuhle h 118,18 dem auf dem Stuhle die Augen] dem, der auf dem Stuhle sitzt, die Augen h

Die Geschichte vom Meister des Gebets

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118,26-27 niemand ist, der verstünde, wie all dies gekommen sei] niemand hat bislang den Ursprung dieser Dinge ergründet D17 118,28 ein Weiser seist] so weise bist D17 118,28 wiederherzustellen imstande wärest] wiederherstellen kannst h 118,28-29 wiederherzustellen imstande […] gewesen ist] wiederherzustellen vermagst D17 118,30 wußte] erkannte D17 118,31 wunderbare Stab] Stab D17 118,31-33 ging hinzu […] Kraft verloren habe] betrachtete ihn, um zu erforschen, wodurch er seine Kraft verloren habe D17 118,34 ein winziges geschnitztes Röslein] eine geschnitzte Rose D17 118,38 Stuhl] Thron D17 118,40 begriff] erkannte D17 119,1 Weise] Mann D17 119,5 an sich herankommen] ungefährdet an sich herankommen D17 119,6-7 wunderbare] große D14, D17

Die Geschichte vom Meister des Gebets Quelle: Nachman von Bratzlaw, Sippure Ma’asijjot, Bl. 69a-94a. Variantenapparat: 120,3-4 Lobpreisung und Gesängen] Lobpreisung D14, D17 120,4 Kraft und Vollkommenheit] Kraft D14, D17 120,5 auf Erden] fehlt D14, D17 120,5 Erschaffenen] Menschen D17 120,6 Menschen] Irdischen D17 120,7-9 geschah es, daß er […] heimsuchte] aber er machte sich auf, verließ die Stätte seiner Sammlung und suchte die Welt der irdischen Geschlechter heim D14 120,8-9 irdischen Geschlechter] Irdischen D17 120,10 begann zu ihm zu reden und] wechselte mit ihnen Rede und Widerrede D17 120,11 die Dinge der Erde] die armseligen Dinge der Erde h die alltäglichen Dinge D17 120,12 emporsteigend] aufsteigend D17 120,12-13 letzten Sinne] Sinn D17 120,14 seine Rede] sein Wort D17 120,15 Lebens] Weltlebens D14, D17 120,16 gleich einem hemmenden Gewande] fehlt D17

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Einzelkommentare

120,18 in seinem wissenden Herzen] fehlt D17 120,19 zu heiligem Fluge den Trieb] [zum seligen Fluge den starken Trieb] ! zu heiligem Fluge den Trieb h 120,20 dürftig und entbehrend] dürftig D17 120,21-22 warf er […] seiner Seele] gewährte er reichliches Genügen D17 120,23 schwoll] erhob sich D17 120,25-27 denn ihm war […] erdenken konnte] fehlt D14, D17 120,27 Unberührt] Ungehindert D17 120,30 geheißen] genannt D17 120,31 suchten und sahen] sahen D17 120,36 Schätzung] Wertschätzung h 120,37 oder ein kahles Vogelwesen und so, Tier oder Vogel,] und so D17 120,38-39 wurde in der Würde erhoben] nahm eine höhere Würde ein D17 121,3-6 Alljährlich war […] Tiere ein Mensch.] hAlljährlich aber war […] Tiere ein Mensch.i h 121,9 wuchs und schwoll] wuchs D17 121,11 innerhalb der Grenzen der Welt,] fehlt D17 121,12 Menschen] Lebewesen D17 121,13 auch äußerlich] fehlt D17 121,15 Höhen] [verschiedenen] Höhen h 121,18-19 Ärmsten und Besitzlosen] Armen D17 121,22 Raub und Mord] Raub hund Mordi h 121,23 und hilfreiche Darbietung] fehlt D17 121,29 ein abgründiges] das abgründigste h 121,31 So machte er sich auf und] So begab er sich hin, D14, D17 121,31-32 zu, so recht aus dem Quell seines gütigen Herzens] aus dem Quell seines gütigen Herzens zu D14, D17 121,34-35 bitter arm und würdelos […] war ihnen die Lehre] arm und würdelos war ihnen doch die Lehre D17 121,36 tief und sehnsüchtig] tief D14, D17 121,36-37 heimisch] eingewachsen D14, D17 121,39-40 Gewalt] Kraft D17 122,3 ihre Bewohner lebten] lebten h 122,8 untertan] untertänig h 122,17-18 Daher hielt das Volk einen großen Rat] Ein großer Volksrat wurde einberufen D17 122,28-29 Da brach er in ein Gelächter aus und] Lachend D14, D17 122,36 Leute] Volk h 123,1 Ältesten] Machthaber D17 123,3 begehrten nun von ihm zu wissen] befragten ihn D17

Die Geschichte vom Meister des Gebets

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123,6-9 ihn. Weiter aber […] fragten sie ihn] ihn.« Sie fragten D17 123,7-8 dem Untergange nahe ist […] euch ihm nähert] euer Verderben birgt D8, D10, D11, D12, D13, D14 123,9-10 stammt die solche Wissenschaft] kennst du ihn D17 123,13-14 was in Zeit und Ewigkeit geschieht] was irgend je geschah und geschehen wird D14, D17 123,16 in fernen Zeiten] fehlt D17 123,16-19 Und die Wege […] aufgestiegen sind.] fehlt D17 123,20 wie es heute ist und wie es sein wird dereinst] wie es seither war und wie es heute ist D17 123,22 vom Finger des Herrn berührt] [von der Hand] ! vom Finger des Herrn [getroffen] ! berührt h 123,23-26 Und er auch […] die ihm nahen.] fehlt D14, D17 123,35 sich verweilen mag] verweilt D17 123,37 sprach] hub an und sprach h 124,3 ermattete] [schwach ward] ! ermattete h 124,6 allen Sinn zu ergreifen und alles Herz] alle Herzen D17 124,8 in sich zurück klingt] hin sich zurücki klingt h 124,8 und in dem das Blut aller Wesen rauscht] fehlt D17 124,11 Born des Feuers] [Feuerborn] ! Born des Feuers h 124,13 Eroberer] Eroberer und Held h 124,16 ihm den Weg versperrt] [sich ihm in den Weg stellt] ! ihm den Weg versperrt h 124,21 auf daß sie Rat hielten] daß sie berieten D17 124,27 jeglicher Rede innersten Sinn] den innern Sinn jeglicher Rede D14, D17 124,37 Flügel] [unheimlichen] Flügel h 125,7 unendlicher] großer D14, D17 125,7 besprachen sich untereinander] berieten sich untereinander D8, D10, D11, D12, D13 berieten sich seinetwegen D14, D17 125,8 bei sich zu behalten] nicht aus der Stadt zu lassen D8, D10, D11, D12, D13, D14, D17 125,20 hub der Soldat eine Erzählung an und berichtete] berichtete der Soldat D14, D17 125,24 bedachten] erwogen D14, D17 125,24 Lenkers] [Führers] ! Lenkers h 125,26-27 Zwecke […] wahre Zweck] Sinn […] wahre Sinn D17 125,29 keinem Frieden] [keiner Einigung] ! keinem Frieden h 125,34-35 führe; das Wort sei] [führe. Dann gab es eine Schaar, die erklärte, dies sei] ! führe; das Wort sei h 125,36-37 oder gehe zu anderem] fehlt D17

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125,39 , der allezeit sich erneuernden Blüte der Welt] fehlt D17 126,10 könne nicht vernichtet werden] widerstehe der Vernichtung D17 126,11 als Bild] fehlt h 126,11 ihres Lebens] ihrer Besinnung D17 126,13 Zweck des Seins] Sinn des Daseins D17 126,15 kein Band und keine Brücke] keine Brücke D17 126,17 König] Fürsten D14, D17 126,24 wie sie allein es uns wert macht, da zu sein,] fehlt D17 126,26 und sie zur Herrin […] zu erheben] fehlt D17 126,28 lebendige Kreatur] Kreatur D14, D17 126,29-30 in ruhevollen Worten] fehlt D14, D17 126,30 Und da wir uns] Als wir uns dessen D14, D17 126,31 ungeheures Schwert] Schwert D14, D17 126,32 zur Erde] zur Erde, wie der Windstoss die Gräser h 126,35 Zweck der Welt] Sinn des Lebens D17 127,1-2 sie erkannten einer den andern und umfaßten einander] erkannten sich und umfassten einander [mit zitternden Herzen] h sie erkannten und umfingen einander D17 127,3-4 Und der Held […] und sprach] Der Held redete also von seinem Schicksal D17 127,17 Gezweige] [Rauschen] ! Gezweige h 127,21-22 steinige Hügelspitze die Gestalt] [Hügel] ! steinige Hügelspitze [das Bild] ! die Gestalt h 127,25-26 hohe Klage […] erzene Glocke] mächtige und einsame Klage zu mir D17 128,1 Und später kam ich] [Und eines andern Tages sah ich in einem Waldtal auf grauem Moose ein schmales Büschel sonnenblonder Haare liegen und es war ein Licht in ihnen, als hätten sie die Sonne in sich getrunken. Und rings um mich zwischen den Büschen war ein sanftes Schreiten von [Kindersohlen] ! nackten Kinderfüssen und das Gras neigte sich zu beiden Seiten des Schreitens, aber es war keine Gestalt dazwischen. / ] Und später kam ich h 128,5 die Tafel] etliche Linien von der Tafel D17 128,6-7 gewaltiger tonloser Stimme, […] hervorbrechend] tonloser Stimme D17 128,8 gelangte ich] [kam ich zwischen Felsen zu einem Quell, der hatte] ! gelangte ich h 128,10 Klingen schwebte […] Harfe] klagender Ton schwebte darin D17 128,12-13 , und war wie eines Herzens […] der Klage] fehlt D17 128,16 Dann kam ich an eine Wiese] [Dann kam ich an ein [ein Tor] ! eine uralte Mauer, die grau und ungeheuer [X] sich [X X] dehnte,

Die Geschichte vom Meister des Gebets

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Weg und Blick verschliessend. Aber in die Mauer war eine Bresche geschlagen von einem riesenhaften Schwerte und man sah] ! Dann kam ich an eine Wiese h 128,17 stand] aufwuchs D17 128,22-23 als hätten sie […] getrunken] fehlt D17 128,32 mit mir genommen] zu mir gesteckt h 128,40 klagte] vertraute D17 129,2-3 er heil werden] [er gerettet werden] ! [ihm die Hilfe kommen] ! er heil werden h 129,3 im Wissen] [in der Weisheit] ! im Wissen h 129,6 haben] nicht hervorgehoben h, D17 129,6 da reißt er] [und in dem nichtigsten aller Dinge, dem baren Golde, sein Haus bauen will] ! da reisst er h 129,12 den Weg des Ortes] [zu dem Wege] ! den Weg des Ortes h 129,14 Da mußten sie beide wieder denken] Sie dachten nun beide wieder D17 129,16 verschüttet] verweht D17 129,19 mächtiger] [stärker] ! mächtiger h stärker D17 129,26-31 mehrere von denen […] gelagert erblickten] fehlt D17 129,35 zogen] zogen auf Fahrzeugen D17 129,41-130,1 ihrer eigenen Götter und die jenes Landes, das sie suchten] ihrer Götter D14, D17 130,10 den Königsschatz] [die Schätze] ! den Königsschatz h 130,11 auf silbernen Tischen] fehlt D8, D10, D11, D12, D13, D14, D17 130,12 Da redeten die Boten zueinander] Als die Boten sie sahen, sprachen sie D17 130,14-15 Als sie solche Bitte vor ihn brachten] Sie brachten die Bitte vor ihn D17 130,17-18 , die der Schmuck […] Lebens sind,] fehlt D17 130,20 Schönheit] Schmuck des Lebens D17 130,21 vor den gierigen Augen] [in der gierigen Hand] ! vor den gierigen Augen h 130,22 unendlichem Staunen] Staunen D14, D17 130,23 den Sinn der Worte] die Worte in ihrer Bedeutung D17 130,23 nahmen sie die Schätze] beluden sie sich mit den Schätzen D17 130,26-27 , und wenn sich […] zurecht zu legen] fehlt D17 130,28 rauschender Freude] rauschendem Jubel D14, D17 130,29-30 geborgen und sicher] geborgen D17 130,41 jene einzige Befreiung] den einzigen Befreiungsweg D14, D17 131,5 weiten verschollenen Wegen] verschollenen Pfaden D17 131,5 dämmerndem] [tiefem dunklem] ! dämmernden h

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131,6 seine Kraft und sein Geheimnis] seine geheimnisvolle Kraft D17 131,8-9 in großer Macht […] beschlossen ist] fehlt D17 131,9-10 erbaten von ihren] [bestimmten, dass ihre] ! erbaten von ihren h 131,11-12 seinen Willen und seine Absicht] seine Absicht D17 131,14 entboten sie Kunde] sandten sie Botschaft D14 131,15 umfaßte den Genossen in lichter] begrüßte den neugefundenen Genossen in {lichter D14 heller D17} D14, D17 131,18 gehen] wandern D17 131,20 Wandertage] Reisetag D17 131,28-29 Weisen und Wissenden] Weisen D17 131,33-34 , seinem Gedanken […] des Hirten] fehlt D17 131,34 das Leben] [den Weg] ! das Leben h 131,36 Erneuerung] Verwandlung D14, D17 132,6 beschlossen und umfriedet] beschlossen D17 132,7 sah er auf zu uns und sprach] sah er auf [und sah zu uns und wir fühlten seinen Blick, als ob einen Augenblick lang unsere Herzen in seinem wohnten] ! uns und sprach h 132,9 Und sie ist die See, die niemand verschlingen kann] fehlt D14 132,10-11 Da sah er uns wieder an, und dann ging er] Er ging D14 132,36 schönen und erfreulichen] ersprießlichen und schönen D17 132,37-38 Kraft und Glut] Glut D17 132,38 Haben] Habenwollen D17 132,41 Botschaft] Nachricht D14, D17 133,3-4 verdrießen. Ich weiß] [verdriessen, dass ihr Schlaf noch dauert.] ! verdriessen. [Und wenn ihr Sinn in seinem tiefen Schlafe liegt] ! Ich weiss h 133,6 also in den Weiten suchen können] suchen können D17 133,16 begegneten] begegneten, nach dessen Namen h 133,17 um den Sinn des Lebens] fehlt D17 133,30-31 Wogen brennender Wahrheit zeugen] die Wahrheit in ihnen entflammen D17 133,33 starr und lahm geworden] erstorben D17 133,37 rauschten] [sangen] ! rauschten h 133,38 erlosch] verstummte D17 133,41 Verstummen] Erschweigen D17 134,7 König] Fürst D14, D17 134,10 Freuden] grosser Freude h 134,16-17 durchziehen] durchwandern D17 134,20-21 und der Wohlklang […] zerrissen,] fehlt D17 134,24 in silbergrauem Gewande] fehlt D14, D17

Die Geschichte vom Meister des Gebets

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134,25 und ihr Angesicht war weiß und regungslos] mit einem weissen, wunderbaren und regungslosen Angesicht h 134,27-28 über ihr war, […] Schmerzes schien] auf ihr lag h 134,27-29 also daß sie ganz und gar […] weiterblühte] ohne ihre Schönheit zu zerstören D17 134,32-34 Haupt, mehr ihrem Schmerze […] Ferne] Haupt. Und wiewohl sie unverändert ihrem Schmerz verhaftet blieb, wurde sie uns huldvolle Gebieterin D17 134,35-36 und wie einen […] der Getreuen] hund wie einen […] der Getreueni h 134,35-36 und wie einen wundersamen Trost […] Getreuen. Und auch sie] und auch sie D17 134,37-39 über aller Absicht […] Verlorenen mächtig] wuchs Hoffnung und Achtung D17 135,3 die Gewalt des Endes] seine Gewalt D17 135,3-4 sagten wir uns […] des Todes zu suchen] lösten wir uns von ihnen und zogen aus, seinen Statthalter auf Erden zu suchen D17 135,5-13 Denn wie von uns selbst […] zu empfangen.] fehlt D17 135,12 aller Seele] aller Seele [und allem Leibe] h 135,15 in den Händen] im Bann D17 135,15-16 Auch schien […] Todes atmet.] fehlt D17 135,17-20 auf das Gras […] war verzehrt] auf den kahlen Boden, dem sie alles Leben, Halm und Keim vernichtet hatte D17 135,31-32 rein und gerade […] künftiger Zeiten] reinen und geraden Sinnes auf dem Recht beharre D17 135,33 und der Priester unseres Gottes] fehlt D17 135,34-35 , denn jedes Pfeiles […] Gegenwart] fehlt D17 135,36 führten] leiteten D17 135,37-38 leuchtete im Glanze […] unsichtbaren Krone] war von einem heimlichen Schein umglänzt D17 135,37 im Glanze] [in hohem] ! im Glanze h 135,38-40 war hoch über den Dingen […] Schweigen] drang in künftige Sphären. Schweigend huldigte ihm alles ringsum D17 135,40-136,1 Der Wind ehrte […] ihres Mundes.] fehlt D17 136,2 So ehrten wir […] und erhoben] Zur Erde gebeugt ehrten wir den Boden zu seinen Füßen und wir D17 136,5 Starrheit] Starrheit [und aller Zweifel löste sich] h 136,6 verließ sie] schwand ihnen D17 136,7-8 , und über der Flamme […] der Trauer] fehlt D17 136,9 vollendet] wandelt D17 136,11 dahin, festen Fußes und geraden Blickes,] fehlt D17

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Einzelkommentare

136,15-16 Frohen der Frohen] Freudigsten D17 136,17-18 auf dem eine Seele einherfuhr […] Bitterkeit offen] in dem eine Seele weste, jedes war bitter und brüchig D17 136,17 brüchig und der Bitterkeit offen] hbrüchig undi der Bitterkeit offen h 136,20 mit strahlenden Locken] seine strahlenden Locken umflatterten D17 136,21-22 blickte all die stummen Dinge […] Kieselsteine] lachte Steine, Bäume und Tiere an D17 136,23-24 , und lachte sie an […] heimlicher Kunde] fehlt D17 136,32-33 kam das Kind selbst einhergelaufen, […] Könige entgegen] kam das Kind lachend auf sie zugelaufen und breitete allen seine Arme entgegen D17 137,2 zum Herzen der Männer] zu den Männern D14, D17 137,4 in den starren Herzen Wurzel zu fassen] in die tauben Herzen einzudringen D17 137,8 starren Herzen] tauben Herzen D17 137,10-11 Und sie entsetzten sich, und eine Angst] Eine große Angst D14, D17 137,12 und es erschien ihnen toll und ohne Sinn] plötzlich erschien es ihnen toll und ohne Sinn D14 plötzlich erschien es ihnen ohne Sinn D17 137,17 Scham] [Schmach] ! Scham h 137,23 entbrannte] [brannte auf] ! entbrannte h 137,26 kein Geld hatten] kein Geld hatten; denn heute wussten sie schon, dass gerade das Geld die wahre Schande ist h Wort- und Sacherläuterungen: 121,26-27 Wiederkehr ins Dasein] Im Chassidismus gibt es den Glauben an die Wiedergeburt. Vgl. auch Bubers Erklärung unter »Wiederkehr der Seelen« in der Neuauflage von Die Legende des Baalschem von 1955, in diesem Band, S. 478. 123,17-18 der Weg Henochs und der Weg Mosches und der Weg Elijahus] Statt eines natürlichen Todes sollen diese biblischen Gestalten entrückt worden sein (Henoch: Gen 5,24; Moses: jüdisches Sagengut; Elijahu: II Kön 2).

Die Geschichte von den sieben Bettlern

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Die Geschichte von den sieben Bettlern Quelle: Nachman von Bratzlaw, Sippure Ma’asijjot, Bl. 94a-111b. Variantenapparat: 138,2-3 überfallen] heimgesucht D17 138,4 vom Rücken her] rücklings h 138,6 getrieben] gehetzt D17 138,10 mit Moos] [harmlos] mit Moos h 138,26 von neuem] wieder h 138,26 klagen] weinen D17 138,28 gebeten hatten] gebeten hatten [und auch dieser reichte ihnen zu essen] h 138,30 gewahrte] merkte D14, D17 138,40-139,41 mit lahmen Händen […] mit lahmen Füßen] [ohne Hände] ! mit lahmen Händen […] [ohne Füsse] ! mit lahmen Füssen h 139,7-8 einander nimmer zu verlassen und zuzweit] sich nimmer zu trennen und selbander h 139,8-9 , und sie nähten sich […] aufzunehmen] fehlt D17 139,13 zart] [lieblich] ! zart h 139,24-25 stets beisammen geblieben waren] sich nie getrennt hatten h 139,36-37 , und alle waren voller Freude] fehlt D17 140,7 so langes Leben] Leben D17 140,9-10 also ist es, […] aufsteigen] es ist so, daß alle irdische Zeit mich nicht anrührt D17 140,18 geboten] gezeigt D17 140,19 Turm] [wehrhaften] Turm h 140,20 Gestalten] Wesen D14, D17 140,21 Lebens dient] Lebens dient [, Speise und X Gewänder] h 140,25 deren er sich entsinne] [seines Lebens] ! deren er sich entsinne h 140,28 aus der Ferne] von weit her h 140,31 der Zeit] [des Tages] ! der Zeit h 141,1-2 die Jüngsten […] hatten und das Kind] hdie Jüngsten […] hatten undi das Kind h 141,14-15 , und der Flügelschlag […] in ihm nach] fehlt D17 141,15-16 der Anhauch des großen Nichts] [nah seiner Stirne fühlt er noch immer das Wesen hdes Nachthauchs?i des grossen Nichts] ! der Anhauch des großen Nichts h 141,17 wie auf heimatlichem Boden] [wie auf heimatlichem Boden] h 141,18-20 Höret auf, arm zu sein […] sind zerschlagen] Zerschlagen sind D17

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Einzelkommentare

141,22-23 kam aus den Wolken] fehlt D17 141,31 vor der Berührung des Wunders] fehlt D17 141,36 gefühlt] gemerkt D8, D10, D11, D12, D13, D14 bemerkt D17 141,39 Ich bin nicht taub] Dem ist nicht so h 141,40 vermag nur] [bietet mir keinen Eingang] ! vermag nur h 141,40-41 vermag nur dem großen Schrei der Not, […] zu bieten] ist nur dem großen Schrei der Not verschlossen, der aus der Welt aufsteigt D17 142,8-9 Euer Leben […] dem meinen] Nimmer würdet ihr euch eures Lebens freuen, wenn ihr wüsstet um wie viel besser das meine ist h 142,9 meine graue Tracht] [mein grauer Kittel] ! meine graue Tracht h 142,20 blinden] geilen D17 142,23 und in Freuden leben] fehlt D17 142,23 Freuden] [Wohlstand] ! Freuden h 142,27-28 beschloß er, die Reinheit […] zerstören, und] hbeschloss er, die Reinheit […] zerstören, undi h 142,32-33 verdunkelten] [trübten] ! verdunkelten h 142,35-36 Gestank] [Geschmack] ! Gestank h 142,40 mit mir] mit [dem tauben Bettler] ! mir h 143,3 all euer gutes Leben diesen nicht zu helfen vermag] [eure Schätze nicht auslangen] ! all euer gutes Leben diesen nicht zu helfen vermag [, je näher ihr ihm kommt, desto tiefer werden sie euch in ihr Verderben ziehen] h 143,9 früheres] [verirrtes] ! früheres h 143,11 verlorene] verschwundene D17 143,18 strahlender Freude] [Rufen der Freude] ! strahlender Freude h 143,23 zu rufen und] zu [unserem Glücke] ! rufen und h 143,23-24 wunderbar, als käme er aus dem Herzen der Erde] als wäre er dem Herzen der Erde entstiegen D17 143,24-25 mit klarer und lauter Stimme] hmit klarer und lauter Stimmei h 143,28 Laute] [Worte] ! Laute h 143,28-29 Gottessinn und Gottesweihe] Gottesweihe D17 143,32 Sänger] [heiligen] Sänger h 143,33 reinsten Glocke] reinsten [aller Glocken] ! Glocke h 143,34 Und in dem Liede] [Und dass solche meine Macht über allen Mächten der Erde und der Sterne ist, das ist mir] ! Und in dem Liede h 143,35 Welt] [Erde] ! Welt h 143,37 über die Erde] [umher] ! über die Erde h 143,40 ein Ding] etwas D17 143,41 Tun] [Werk] ! Tun h 144,7 Ende] Rande D17

Die Geschichte von den sieben Bettlern

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144,9 Fülle] Weite D17 144,9 und über alle Dinge hin, die im Raume sind] fehlt D17 144,10 Bangigkeit, zu ihm zu kommen] [Bangigkeit. Und so bang auch der Quell nach dem Herzen] ! Bangigkeit, zu ihm zu kommen h 144,10 , zu ihm zu kommen] fehlt D17 144,11 Und das Herz schreit […]. Ist es aber gar ermattet und will] Will es aber D17 144,14-15 , aber auch in der Ruhe […] ihm entgegen] fehlt D17 144,16-18 entgegenregt, […] Quell entgegenzuschauen] entgegenbewegt, entschwindet der Berg seinem Blick D17 144,18 entgegenzuschauen] [entgegenzusinnen und seine Bangigkeit hebt an zu erstarren] ! entgegenzuschauen h 144,18 Schauen] [Sinnen] ! Schauen h 144,19 enden] [X und seine Bangigkeit hebt an zu erstarren] ! enden h 144,20 ruht in dem Quell und in der Bangigkeit nach ihm] hangt an dem Quell D17 144,22 ruht in ihm] hangt an ihm D17 144,22-25 Aber wie es den Hang […] seinen Ort] Aber sowie ihm der Anblick des Berges entschwindet, überwächst das Begehren, den Quell zu schauen, den Drang, zu ihm zu kommen, und es kehrt zurück an seinen Ort D17 144,32-33 , und das Lied […] steigt auf] fehlt D17 144,33-34 großer Bangnis vor dem Tode] großem Bangen D14, D17 144,38-39 schenkt […] schenkt] [gibt] ! schenkt […] [gibt] ! schenkt h 144,41 Erde] [Welt] ! Erde h 145,2 Manne] [wahren] Manne h 145,8 Schweigend] [Hell, und selig verging den Beglückten der dritte Tag] ! [Still und demütig vor dem neuen] ! Schweigend h 145,9 vor dem neuen Glücke] fehlt D17 145,9-10 Bettlers, und still, aber […] dritte Tag] Bettlers. Der dritte Tag verging ihnen still, aber im Innern seligen Liedes voll D14, D17 145,10 im Herzen] [zuinnerst] ! im Herzen h 145,15 in reiner Erfüllung] fehlt D17 145,18 immerdar] fehlt D17 145,18 Angesicht] [Blick] ! Angesicht h 145,19 Menschen] [Welt] ! Menschen h 145,21 Welt, die nicht Rede und Wortgebärde] Kreatur, die nicht Sprache D17 145,21 Rede] [Menschenlaut] ! Rede h 145,24-25 Denn es gibt ein Land, da sind sie […] und die Weisen] Es gibt ein Land, wo die Weisen D17

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Einzelkommentare

145,27 wundersamer Gesang] Gesang D17 145,27 Und jeder fühlt] Und [in jenem Lande fühlt] ! Jeder fühlt h 145,27-29 Und jeder fühlt […] freizumachen.] fehlt D17 145,30-34 die in ihnen lebten […] ihr redeten] die aus ihnen ins Leben begehrten D17 145,33 Viola] Geige D17 145,34 redeten] [sprachen] ! redeten h 145,35-36 faßt all der euren […] denn sie] aber D17 145,38-39 sie zur reinen Stimme zu bringen, und] fehlt D17 145,39 in ihrem Herzen zu innerst] stumm in ihrem Herzen D17 145,40 meine Macht schauen und eure] euch D17 146,1-3 ist den Menschen […] wandeln umher mit müden Händen] finden die Menschen jener Reiche keinen Schlaf, sondern sie wandeln umher mit müden Händen D17 146,2 Gesicht] [Haupt] ! Gesicht h 146,4-6 Klage, alle, […] gar traurig] Klage. Jedes Geschöpf seufzt D17 146,5-6 und die Wasser rauschen gar traurig] hund die Wasser rauschen gar traurigi h 146,6 starre Wehklage] hstarrei Wehklage h 146,7-8 die klagende Stimme mit euren Stimmen] die Klage der Stimme D17 146,8 begehrten sie] [baten sie mich] ! begehrten sie h 146,9 führte sie und brachte] brachte D17 146,10-11 da begannen sie alle […] Stimme einte sich] einten sich ihre Stimme D17 146,16-17 und sie sind […] in der Welt] die sind das einzige Paar ihrer Art D17 146,17-18 voneinander kamen und einander] trennten und sich h 146,20 ermattet] erschöpft D17 146,21 nimmer hofften] [verzweifelten] ! nimmer hofften h 146,29-30 , und sucht sich Frieden im Troste] fehlt D17 146,32 ganz und gar] fehlt D14, D17 146,33 ertönt, ist sie gar laut und weithin hallend] ertönt weithin hallend D17 146,34-35 greift von Mund […] Stimmen, und] fehlt D17 146,37 Dinges] Wesens D17 146,37-38 heimlicher Schmerz] [Schmerz und Geheimnis] ! heimlicher Schmerz h 146,38 hat sich an einem Erbarmen entzündet] ist in sie eingegangen D17 146,38 stehen] leben D17 146,41 Dinge] Wesen D17

Die Geschichte von den sieben Bettlern

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147,1 verkündet] vertraut D17 147,2 voll] kundig D17 147,2-4 Und also, dieweil […] gesammelt zur Tat.‹] fehlt D17 147,3 zu einer Beute der Klage macht] [untüchtig macht] ! zu einer Beute der Klage macht h 147,4 kundig] kundig [und weiss, woran sie kranken] h 147,7-8 zu werfen vermag […] auch sein mag] an dem Ort erschallen lassen kann, den ich wähle D17 147,9 schuf] [formte] ! schuf h 147,13 nicht regen] eine Weile nicht regen D17 147,14 flogen mit steter Gewalt] fehlt D17 147,14 steter] [wilder] ! steter h 147,16 gelöst] gestillt D17 147,24-25 Schein und eitel Trugwerk] Schein D17 147,30 Weisen] Weisen [und Starken] h 147,37-38 und alle laute […] Rede] fehlt D17 148,1 Widersacher und Herren der bösen Sprache] Widersacher D17 148,2 und erbosen sich gar sehr] fehlt D17 148,4 Da schüttelten sie] [Und es fasst und zwingt sie mein Schweigen] ! Da schüttelten sie h 148,6 und alle ihre Wirbel] fehlt D17 148,11 bin über ihm] bin ihm überlegen D17 148,12 , denn ich trage […] Lasten der Welt] fehlt h 148,27 zugeteilt] bestimmt D17 148,34 sie zu erwerben] [bis sie ihnen geschenkt wurde] ! sie zu erwerben h 148,37 Und ich ging mit ihnen.] hUnd ich ging mit ihnen.i h 148,38-39 Da schauten sie und sahen, – siehe] Sie schauten D14, D17 149,4-6 ist seine Herrschaft zu Ende] hist seine Herrschaft zu Endei h 149,6-7 tat also und brachte sie dahin] tat es D14, D17 149,12 mit den lahmen Händen] ohne Hände h 149,16 Dinge] Werk D17 149,19 Starken] [Männer] ! Stärke h 149,20 Pfeile mit ihrem Fluge greifen] [mit meinen Händen] ! Pfeile in ihrem Fluge [fassen] ! greifen h 149,22 greifen] [fassen] ! greifen h 149,25 diese und diese] solche und solche D17 149,31-32 diese und diese] solche und solche D17 149,34-35 Denn nur […], wandelt frei.] hDenn nur […], wandelt frei.i h 149,34 volle] die ganze D8, D10, D11, D12, D13, D14, D17 149,36 geben] spenden D17

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Einzelkommentare

149,39 diese und diese] solche und solche D17 150,1 spendet] schenkt h 150,1 das Verborgene.‹] Abbruch von h wegen fehlender Blätter 150,5 seine Weise] sein Lied D14, D17 150,6 diesen und diesen] solchen und solchen D17 150,8 Weisen] Lieder D14, D17 150,9 Weisen] Lieder D14, D17 150,19 stellte] wandte D17 150,29 lassen] verlieren D14, D17 150,40 da war kein Weg] nirgends war ein Weg D14, D17 151,5 zurückzukehren] die Rückkehr D17 151,16 Befehl ergehen] Befehl D14, D17 Wort- und Sacherläuterungen: 139,34 Baldachin] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von Die Legende des Baalschem von 1955, in diesem Band, S. 468.

[Berichtigung] In seiner in Die Welt erschienen Richtigstellung reagierte Buber auf ein Missverständnis, das Nachum Sokolow (1859-1936) unterlaufen war. In einem Essay zur Gegenwartsliteratur zum Chassidismus (in: Die Welt, Nr. 51 vom 21. Dezember 1906), der sich mit neueren Arbeiten von Simon Dubnow bis zu Leib Perez (1852-1915) beschäftigte, kam Sokolow schließlich auch auf Bubers Die Geschichten des Rabbi Nachman zu sprechen. Die Schwierigkeiten einer angemessenen Darstellung der eigentümlichen Gefühlswelt des Chassidismus reflektierend, attestiert Sokolow Buber, zwar eine bedeutende Arbeit geleistet, das Problem aber noch nicht gänzlich gelöst zu haben (vgl. Die Welt, S. 13). Jedoch: »Inwiefern es überhaupt möglich ist in einer europäischen Sprache, literarisch, für eine fremde Welt das stimmungsvolle Thorageflüster zu reproduzieren, – hat es Martin Buber zustande gebracht.« (Ebd., S. 13.) In seinen Ausführungen verwechselte Sokolow allerdings Bubers Rabbi Nachman mit dem Rabbi Nachman von Kossow (gest. 1746). Textzeuge: D: Die Welt, X/52, 28. Dezember 1906, S. 14-15 (MBB 76). Druckvorlage: D

Die Legende der Chassidim

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Die Legende der Chassidim Der Einleitungstext und die sechs Geschichten von »Die Legende der Chassidim« erschienen als Fortsetzungsfolge vom 10. August bis 2. November 1906 in Die Welt, dem Zentralorgan der Zionistischen Bewegung. Angekündigt worden war ihre Publikation zusammen mit dem Abdruck von »Die jüdische Mystik« in Die Welt am 3. August: »In den nächsten Nummern lassen wir einige von Martin Buber bearbeitete chassidische Legenden folgen.« Im Veröffentlichungszeitraum war Buber offenkundig mit der Fertigstellung von Die Legende des Baalschem beschäftigt, vgl. den einleitenden Kommentar in diesem Band, S. 30 f. Die Nummerierung der Geschichten deutet darauf hin, dass sie als Einheit konzipiert sind. Außer der Geschichte »Der Zukunftsbrief«, die hier gesondert zum Abdruck kommt, wurden sie von Buber in Die Legende des Baalschem aufgenommen. Textzeuge: D: »Die Legende der Chassidim«, erschienen 1906 in Fortsetzungen in: Die Welt: 1. Die Heiligen des Herrn und die Rache, Die Welt, 10. Jg., Nr. 32 vom 10. August 1906, S. 17-18 (MBB 80); 2. Der Zukunftsbrief, Die Welt, 10. Jg., Nr. 33 vom 17. August 1906, S. 15-16 (MBB 81); 3. Die Predigt des neuen Jahres, Die Welt, 10. Jg., Nr. 34 vom 24. August 1906, S. 13-14 (MBB 82); 4. Das dreimalige Lachen, Die Welt, 10. Jg., Nr. 36 vom 7. September 1906, S. 13-15 (MBB 83) 5. Der schlimme Sabbat, Die Welt, 10. Jg., Nr. 38 vom 19. September 1906, S. 15-16 u. Nr. 39 vom 28. September 1906; 6. Die vergessene Geschichte, Die Welt, 10. Jg., Nr. 43 vom 26. Oktober 1906, S. 11-13 u. Nr. 44 vom 2. November 1906, S. 16-17 (MBB 85). Druckvorlage: D Wort- und Sacherläuterungen: 153,13-14 Franziskuslegende] Die Fioretti di San Francesco sind eine anonyme, im 14. Jh. entstandene Legendensammlung, in der das Leben des Heiligen Franziskus (gest. 1226) verherrlicht wird. Sie war im 19. und 20. Jh. als Andachtsbuch weit verbreitet und trug zu dem romantisch verklärten Bild des Heiligen bei.

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Der Zukunftsbrief Quelle: Ahron ben Jesaia Natan Walden, Qehal chassidim, Warschau [1870], Bl. 8b-9a. Variantenapparat: 155,8 sodann] berichtigt aus sodanu

Die Neidgeborenen Diese kurze Erzählung ist zuerst im Dezember 1906 in der Beilage »Der Zeitgeist« zum Berliner Tageblatt erschienen. Als Druckvorlage für diesen Band musste indes auf die wenig später erfolgende Veröffentlichung in Die Welt zurückgegriffen werden, da nur ein beschädigter Textzeuge von D1 beschafft werden konnte. Textzeugen: D1: Der Zeitgeist (Beiblatt zum Berliner Tageblatt), Nr. 51, 17. Dezember 1906 (MBB 86). d1.1: unvollständiges Autorenexemplar im MBA mit Korrekturen von Bubers Hand. 2 D : Die Welt, 11. Jg., Nr. 11 vom 15. März 1907, S. 9-11 (MBB 92). D3: Erzählungen von Engeln Geistern und Dämonen, Berlin: Schocken Verlag 1934, S. 37-47 (MBB 489). Druckvorlage: D2 Übersetzungen: Englisch: »Born of Envy«, in: Tales of Angels, Spirits and Demons, übers. von David Antin und Jerome Rothenberg, New York: Hawk’s Well Press 1959 (MBB 1092); auch in Chelsea Review, 1, 1958, S. 9-14 (MBB 1096). Polnisch: in: Opowieści o aniołach, duchach i demonach, übers. von Ryszard Wojnakowski, Warszawa: Cyklady 2004 (in MBB nicht verzeichnet). Ungarisch: in: Angyal-, szellem- és démontörténetek, übers. von Miklós Tamás, Budapest: Atlantisz 2002 (in MBB nicht verzeichnet). Quelle: Ahron Walden, Qehal chassidim, Bl. 55b.

Die Neidgeborenen

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Variantenapparat: 159,4 und befreundet] freund D1 fehlt D3 159,8 sehr wohlgefälliges] wohlgefälliges D3 159,9 recht geliebt] geliebt D3 159,13 und übermächtig fühlten] fehlt D3 159,16 bezaubernd] berückend D3 159,19 Mysterium] Geheimnis D3 159,22 Geheimen] Verborgenen D3 159,23 seine Seele] er D3 159,24 nahe, ja in ihm aufgelöst war] nahe war D3 159,25 zarte,] fehlt D3 159,28-29 bedeutendsten und angesehensten] angesehensten D3 159,29 eine herzhafte Zuneigung] ein herzliches Wohlwollen D3 159,33 Wert an Schönheit und Seelenreiz] Schönheit D3 160,9 neu und in sich beschlossen] fehlt D3 160,10 zuneigte] zuwandte D3 160,11-12 besitzen und gewinnen] besitzen D3 160,18 , schmerzhafter] fehlt D3 160,31 Schreiten] berichtigt aus Schreine nach D3 160,32 unlieblich] fehlt D3 160,35 mit düsterem Beharren] fehlt D3 161,5 machte] tat D3 161,8 tat […] recht von Herzen erfreut] äußerte […] seine Freude D3 161,11 sehr wohlgerühmter] wohlgerühmter D3 162,1 Es war in dem Walde] kein Absatzwechsel D3 162,7 standen] waren D3 162,34-35 berauschende] fehlt D3 163,4-5 Der Vater […] den Brautschatz] fehlt D3 Wort- und Sacherläuterungen: 159,5 des Rabbis von Lublin] Jaakob Jitzchak Horowitz von Lublin, genannt der »Seher« von Lublin bzw. von Polen (1745-1815), auf den sich viele Zaddikim der vierten Generation in Polen und Galizien als ihren Lehrer beriefen. Er ist einer der Hauptfiguren in Bubers Roman Gog und Magog (1943 hebr., 1949 dt.; jetzt in: MBW 9). 159,32 Eidam] Veraltet für »Schwiegersohn«.

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Der Sseder des Unwissenden Die Geschichte erschien dem Thema entsprechend in der Pessach-Ausgabe von Die Welt. Hugo Herrmann (1887-1914), der Mitglied des Prager jüdischen Studentenverbands Bar Kochba war, nahm die Erzählung in den schön gestalteten Band Chad Gadja auf, der neben einer deutschen Übersetzung der Haggada weitere belletristische Texte enthält, z. B. von S. J. Agnon und Chaim Nachman Bialik (1873-1934). In Die Erzählungen der Chassidim, S. 351-353 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [394]) ist diese Geschichte unter demselben Titel in einer gekürzten Version von Buber aufgenommen worden. Vgl. auch Ran HaCohen, Einleitung zu MBW 18, S. 25-28. Textzeugen: H: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 35); 5 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte; mit Korrekturen versehen. D1: Die Welt, XI/13, 29. März 1907, S. 5-6 (MBB 94). D2: Chad Gadja. Das Peßachbuch, hrsg. von Hugo Herrmann, Berlin: Jüdischer Verlag 1914, S. 152-158 (in MBB nicht verzeichnet). Druckvorlage: D1 Quelle: Maʾ asijjot we-sichot tzaddiqim, S. [68]. Vgl. MBW 18, S. 365, 978 f. Variantenapparat: 165,2 Eine chassidische Legende] fehlt H 165,3 Meiner Schwester Nelly] fehlt H, D2 165,6 Inbrunst und Andacht] [Kawwana] ! Inbrunst der Kawana H 165,10 wunderwirkenden] [gesegneten und] wunderwirkenden H 165,18 Seele] Rede H 165,28 wahrlich] [fürwahr] wahrlich H 166,1 ihrer Sehnsucht] [ihres Geistes] ! ihrer Sehnsucht H 166,2 genährt] [gestillt] ! genährt H 166,5 Tische] Tische von den Mysterium deiner Gnade H 166,6 kroch] [kam die Verzweiflung, das Unheil] ! kroch das Unheil H 166,9 Da wurde das Wort] [Und er lag am Boden und atmete nicht und horchte auf den Grund seines Lebens.] ! Da wurde das Wort H 166,28-29 also daß sie nur ihrem Herrn] [dass nur ihr Herr bei ihnen weilen kann] ! also dass sie nur ihrem Herrn H

Die Legende des Baalschem

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166,35 wohnt er, in dem nicht auch ich wohnte] [ist ein Haus, das nicht auch mein Haus wäre] ! wohnt er, in dem nicht auch ich wohnte H 167,11-12 worauf ging Euer Gedanke] [welche Kawwana hattet ihr] ! worauf ging Euer Gedanke H Wort- und Sacherläuterungen: 165,1 Sseder] häusliche Feier und Festmahl am ersten (und außerhalb Israels auch am zweiten Abend) des Pesachfestes. Man liest aus der Haggada vor, die den Auszug aus Ägypten darstellt. 165,3 Schwester Nelly] (1886-1972): aus Carl Bubers zweiter Ehe. 1909 heiratete sie den Zionisten und Pädagogen Markus Braude (18691949). 1940 emigrierten sie nach Palästina. 165,4 Rabbi Levi Jizchak von Berditschew] (ca. 1740-1809): bedeutender und sehr volkstümlicher Zaddik; Schüler des Dow Baer Friedman von Mesritsch, genannt »der große Maggid«. 165,12 Mizrajim] hebr. für »Ägypten«.

Die Legende des Baalschem Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Die Geschichten des Rabbi Nachman begann Buber mit der intensiven Arbeit an einer weiteren Sammlung, die 1908 unter dem Titel Die Legende des Baalschem ebenfalls im Verlag Rütten & Loening erschienen ist. Näheres zu Entstehung und Rezeption findet sich in der Einleitung zu diesem Band, S. 30-49. Anhand der Handschriften, die zu der Legende »Saul und David« vorliegen, kann – hypothetisch, da es sich um einen Einzelbefund handelt – auf die Arbeitsweise geschlossen werden. Buber hat in diesem Fall offenkundig eine Rohübersetzung aus der hebräischen Quelle (vgl. Grözinger, Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht, Hebräisch Nr. 252) angefertigt (vgl. in diesem Kommentar, S. 534), worauf der nüchterne Duktus, gänzlich fehlende literarisierende Ausschmückungen, allgemeine Sprachformeln und nicht zuletzt die auf das Wesentliche konzentrierte Kürze der Handschrift schließen lassen. Diese Rohübersetzung hat Paula Buber als Grundlage für die eigentliche Ausarbeitung gedient, welche wiederum Buber einer Endkorrektur unterzog. Dieses Verfahren scheint auch bei anderen Geschichten von Buber angewandt worden zu sein, wie aus dem Brief von Anfang Dezember 1906 an Paula hervorgeht: »Ob Du noch daraus etwas machen kannst, aufhellen, eröhen, Deine eigene Natur über das engherzige Zeug ergießen, das lasse ich Dir zu entscheiden.« (B I, S. 250.)

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Zudem bestand offensichtlich ein erheblicher Termindruck bei der Ausarbeitung der Legenden. So schreibt Buber am 1. Dezember 1906 an Paula, dass es »nötig« sei, »die Legenden recht schnell fertig zu machen. Ich will das Manuskript spätestens am 10. abschicken. Ich selbst arbeite in einem fort. Aber auch Dich möchte ich sehr bitten, in den nächsten Tagen noch ein paar zu machen.« (B I, S. 249.) Paula Buber übernahm dabei nicht allein Hilfsarbeiten, auch ihr literarisches Urteil war für Martin Buber bedeutsam, wie aus dem gleichen Brief ersichtlich wird: »Ich bin sehr neugierig, wie Dir diese Geschichten von mir gefallen werden; oft bestimmt mir der Gedanke an Dein Urteil das Wählen und Verwerfen eines Motivs, einer Wendung.« (Ebd., S. 250.) Bereits die zweite Auflage der Legende des Baalschem wie auch alle weiteren Auflagen hat Buber einer teils erheblichen Umarbeitung unterzogen. Die letzte Fassung von 1955, die einen radikal geänderten Textbestand aufweist – zudem ist die Geschichte »Die Predigt des neuen Jahres« entfallen –, kommt gesondert am Ende des Haupttextteils in diesem Band zum Abdruck (S. 341-479). Alle im Kommentar angegebenen Quellen zu Die Legende des Baalschem folgen: Urban, Aesthetics of Renewal, S. 167 f. Textzeugen: h1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 10 lose, unpaginierte Blätter; einseitig beschrieben mit blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen; enthält den Abschnitt »Aboda«. h2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 9 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen; enthält den Abschnitt »Kawwana«. h3: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 16 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen; mit Bleistift nummeriert von 10 bis 27; es fehlen die Seiten 12 und 15 sowie die zweite Hälfte von S. 16; enthält den Abschnitt »Shiflut«. h4: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 5 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen; enthält den Abschnitt »Der Werwolf«. h5: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 26 los, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte, mit Korrekturen versehen; enthält den Abschnitt »Der Fürst des Feuers«. Die Handschrift ist zweischichtig. h5.1: Grundschicht: Handschrift Paula Bubers, enthält ein anderes Ende (vgl. den Variantenapparat in diesem Band, S. 568-570).

Die Legende des Baalschem

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h5.2: Überarbeitungsschicht: Korrekturen Martin Bubers. Die Schlussabschnitte in Paula Bubers Handschrift werden auf eigenen Blättern ersetzt. h6: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 12 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen; enthält den Abschnitt »Die Offenbarung«. h7: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 3 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; mit Korrekturen versehen; enthält den Abschnitt »Die Himmelwanderung«. h8: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 15 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in Bleistift; Handschrift Paula Bubers; mit einigen Korrekturen von gleicher Hand versehen; enthält einen ersten Entwurf des Abschnitts »Jerusalem«. h9: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 4 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen; enthält den Beginn des Abschnitts »Jerusalem«. Umgearbeitete, unvollständige Reinschrift des Entwurfs von Paula Buber. h10: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 11 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in schwarzer Tinte; Handschrift Paula Bubers; mit Korrekturen versehen; enthält den Abschnitt »Saul und David«. h11: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 7 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen; enthält den Abschnitt »Saul und David«. Umgearbeitete Reinschrift des Entwurfs von Paula Buber. Enthält als zusätzliches Blatt Martin Bubers Übersetzung der ursprünglichen Legende aus dem Hebräischen. Dieser Text, der vermutlich als Grundlage der Bearbeitung diente, wird im Anschluss vor dem Variantenapparat abgedruckt. 12 h : Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 6 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen; enthält den Abschnitt »Das Gebetbuch«. h13: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 16 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; enthält den Abschnitt »Das Gericht«. Die Handschrift ist zweischichtig: h13.1: Grundschicht: Handschrift Paula Bubers. h13.2: Überarbeitungsschicht: Korrekturen von Martin Bubers Hand. Einige Stellen in h13.1 sind durch Streichungen in h13.2 nicht mehr zu entziffern.

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Einzelkommentare

h14: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 32 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; enthält den Abschnitt »Die vergessene Geschichte«. Die Handschrift ist zweischichtig: h14.1: Grundschicht: Handschrift Paula Bubers. h14.2: Überarbeitungsschicht: Korrekturen von Martin Bubers Hand. h15: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 31 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; einige Blätter liegen nur als Bruchstücke vor, auf Blatt 18 ist auch die Rückseite beschrieben; enthält den Abschnitt »Die niedergestiegene Seele«. Die Handschrift ist zweischichtig: h15.1: Grundschicht: Handschrift Paula Bubers. h15.2: Überarbeitungsschicht: Korrekturen von Martin Bubers Hand. h16: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 21 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben, teils in Tinte, teils in Bleistift, Handschrift Paula Bubers; mit Korrekturen versehen, die der Handschrift nach von Paula Buber selbst stammen. Die 3. Seite fehlt. Enthält den Abschnitt »Der Psalmensager«. h17: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 6 lose Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen. Umgearbeitete Reinschrift des Entwurfs zu »Der Psalmensager« von Paula Buber. h18: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 4 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in Bleistift; Handschrift von Paula Buber. Der Textzeuge umfasst, obwohl das erste Blatt die Paginierung mit »1« beginnt, lediglich Teilstücke hinterer Textabschnitte zu »Der Widersacher«. Die Blätter sind nummeriert von 1-8, erhalten geblieben sind allein die Seiten 1, 2, 3 und 8. h19: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 16 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen. Die Seiten liegen teils nur als Bruchstücke vor, die dennoch den geschlossenen Textkörper wiedergeben. Zusätzliche Seiten, die den definitiven Schlussteil enthalten und den des ersten Entwurfes ersetzen, sind mit Buchstaben gezählt. Enthält den Abschnitt »Der Widersacher«. h20: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 6 lose, unpaginierte Seiten, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen; enthält den Abschnitt »Die Predigt des neuen Jahres«. h21: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 7 lose, paginierte Seiten; einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin

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Bubers; mit Korrekturen versehen; einzelne Seiten liegen nur als Bruchstücke vor; enthält den Abschnitt »Von Heer zu Heer«. h22: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 25 lose, paginierte Blätter; einseitig beschrieben in blauer Tinte; enthält den Abschnitt »Die Vogelsprache«. Die Handschrift ist zweischichtig: 22.1 h : Grundschicht: Handschrift Paula Bubers. h22.2: Überarbeitungsschicht: Korrekturen von Martin Bubers Hand. h23: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 4 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen; die letzten Seiten fehlen. Enthält den Abschnitt »Das Rufen«. h24: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 9 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Paula Bubers; mit Korrekturen versehen; enthält den Abschnitt »Der Hirt«. Der erste Textteil, (»Immer, wenn das Licht […] zur neuen Fahrt.«; in diesem Band, S. 319-321) ist im Textzeugen nicht enthalten, obgleich die Paginierung mit »1« beginnt. h25: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 5 lose, unpaginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Handschrift Martin Bubers; mit Korrekturen versehen. Enthält den ersten Teil des Abschnitts »Der Hirt« (»Immer, wenn das Licht […] zur neuen Fahrt.« In diesem Band, S. 319-321.) 26 h : Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 16); 8 lose, paginierte Blätter, einseitig beschrieben in blauer Tinte; Reinschrift von h25 in der Handschrift Martin Bubers; mit wenigen Korrekturen versehen. Enthält neben h25 den vollständigen Text zum Abschnitt »Der Hirt«. d1: »Die Legende der Chassidim«, erschienen 1906 in Fortsetzungen in: Die Welt: 1. Die Heiligen des Herrn und die Rache, Die Welt, 10. Jg., Nr. 32 vom 10. August 1906, S. 17-18 (MBB 80); 2. Der Zukunftsbrief, Die Welt, 10. Jg., Nr. 33 vom 17. August 1906, S. 15-16 (MBB 81); 3. Die Predigt des neuen Jahres, Die Welt, 10. Jg., Nr. 34 vom 24. August 1906, S. 13-14 (MBB 82); 4. Das dreimalige Lachen, Die Welt, 10. Jg., Nr. 36 vom 7. September 1906, S. 13-15 (MBB 83) 5. Der schlimme Sabbat, Die Welt, 10. Jg., Nr. 38 vom 19. September 1906, S. 15-16 u. Nr. 39 vom 28. September 1906; 6. Die vergessene Geschichte, Die Welt, 10. Jg., Nr. 43 vom 26. Oktober 1906, S. 11-13 u. Nr. 44 vom 2. November 1906, S. 16-17 (MBB 85). Vgl. zum Textzeugen in diesem Band, S. 153-158, sowie den Kommentar, S. 523. d2: Kawwana. Die Welterlösung im Chassidismus, aus einer grösseren Arbeit, Die Welt, 11. Jg., Nr. 23 vom 7. Juni 1907, S. 23-25.

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Einzelkommentare

d3: Schifluth. Von der Demut und der Liebe im Chassidismus, aus einer grösseren Arbeit, Die Welt, 11. Jg., Nr. 48 vom 29. November 1907, S. 9-11 (MBB 93). d4: Von Heer zu Heer. Eine chassidische Legende, Die Zukunft vom 28. Dezember 1907, S. 451-455 (MBB 95). 5 D : Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1908, 258 S. (MBB 96). d6: Der Sinn des Chassidismus u. Drei Legenden vom Baalschem (Die Himmelwanderung, Der Widersacher, Das Rufen), Neue Blätter, Folge 3, H1/2: Buberheft, 1913, S. [46]-60 u. [67]-89 (MBB 127). d7: Das Leben der Chassidim (enthält die Abschnitte »Hitlahabut: Von der Inbrunst«, »Aboda: von dem Dienst«, »Kawwana: Von Intention unter dem Titel«, »Schiflut: Von der Demut«), in: Vom Geist des Judentums. Reden und Geleitworte, Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1916, S. 137-192 (MBB 159). D8: Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1916, 237 S. Überarbeitete Neuausgabe (MBB 158). D9: Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1918, 237 S. Überarbeitete Neuausgabe (MBB 158). D10: Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1920, 237 S. Überarbeitete Neuausgabe (MBB 158). d11: Der Psalmsager, in: Die Entfaltung. Novellen an die Zeit, hrsg. von Max Krell, Berlin: Ernst Rowohlt Verlag 1921, S. 161-167 (in MBB nicht verzeichnet). D12: Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1922, 237 S. (MBB 158). Überarbeitete Neuausgabe. d13: Aus der »Legende des Baalschem«, Der Lesezirkel, 15. Jg., 7. Heft vom Juni 1928, S. 69-70. D14: in: Die chassidischen Bücher, Hellerau: Jakob Hegner 1928, S. 124330; vermehrt um »Nachträge«, die später in Die Erzählungen der Chassidim aufgenommen wurden (vgl. hierzu MBW 18.1, S. 91) (MBB 365). 15 D : in: Die chassidischen Bücher, Berlin: Schocken 1932, S. 124-330; vermehrt um »Nachträge«, die später in Die Erzählungen der Chassidim aufgenommen wurden (vgl. hierzu MBW 18.1, S. 91) (MBB 446) [Deckauflage von D14]. 16 D : Berlin: Schocken 1932, 276 S. (MBB 448). Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe. d17: Die Offenbarung, Allgemeine Zeitung der Juden in Deutschland, 6. Jg., vom 25. Januar 1952, S. 10 (MBB 905).

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D18: Zürich: Manesse 1955, 326 S. (MBB 987). Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe. (Vollständig abgedruckt in diesem Band, S. 341-479.) d19: Vom Leben der Chassidim (enthält die Abschnitte »Hitlahabut: Von der Inbrunst«, »Aboda: Von dem Dienst«, »Kawwana: Von der Intention« und »Schiflut: Von der Demut«), in: Werke III, S. [19]-45 (MBB 1270). Druckvorlage: D5 Übersetzungen: Englisch: The Legend of the Baal-Shem, übers. und eingel. von Maurice Friedman, New York: Harper & Brothers 1955, 222 S. (MBB 986); sowie London: East and West Library 1956, 1978 (MBB 1017); New York: Schocken Books 1969, 1972, 1987 (MBB 1329); Edinburgh: T. & T. Clark 1985; Princeton, N.J.: Princeton University Press 1995; als Hörbuch: Berkeley, Calif.: Audio Literature 1992; nur der Abschnitt »Das Leben der Chassidim«: »The life of Hasidim« in: Hasidism and Modern Man, hrsg. und übers. von Maurice Friedman, New York: Horizon Press 1958, S. 74-125 (MBB 1085). Französisch: La legende du Baal-Shem, übers. von Hans Hildenbrand, Monaco: Editions du Rocher 1993. Hebräisch: nur »Der zerstörte Sabbat«: Jom schabbat sche-nischbat, Moledet 7 (1919), Heft 5, S. 232-236 (MBB 231); nur »Von Heer zu Heer«: »me-chel el chel«, übers. von Hirsch David Nomberg, Hed ha-zman, Ausgabe 7 vom 21. Januar 1908 (MBB 97); nur »Das dreimalige Lachen«: »Ha-tzechok ha-meschulasch«, übers. von Samuel Löb Zitron, Hed ha-zman, Ausgabe 186 vom 4. September 1908 (MBB 98). Italienisch: La leggenda del Baal-Scem, übers. von Dante Lattes u. Mosé Beilinson, Firenze: Casa Editrice »Israel« 1925 (MBB 303); Assisi: B. Carucci, [1978]. Niederländisch: De legende van den Baalsjém, übers. von R. Colaço Osorio-Swaab, Zutphen: Thieme 1927, 225 S. (MBB 340); De Legende von den Baalsjém, übers. von Reine Colaço Osorio-Swaab, Deventer: Kluwer 1946, 225 S.; 2. Aufl. 1950 (MBB 740). Potugiesisch: A lenda do Baal Schem, übers. von Fany Kon u. J. Guinsburg, São Paulo: Editora Perspectiva 2003. Schwedisch: Israel Baalschems Legenden, met inledning om den judiska mystiken, übers. von Anna Troili-Petersson, Judiska litteratursamfundets skriftserie, 3, Stockholm: P. A. Norstedt & söners 1922, 194 S. (MBB 268).

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Einzelkommentare

Spanisch: El Rabi de la Buena fama (El Baaschem Tov), übers. von Aaron Spivak, Biblioteca de la Ed. Israel, 1., Buenos Aires: Israel 1938, 189 S. (MBB 573). Abdruck der Übersetzungsgrundlage in h11 zu »Saul und David«:

Text zu: Saul und David Rabbi Nachman von Kosów war ein Gegner des Baalschem. Und der Baalschem war von der Seele Davids des Königs, über ihm der Friede, und Rabbi Nachman von Kosów war von der Seele Sauls des Königs, über ihm der Friede. Einmal sagte der Baalschem: der Rabbi Nachman verfolgt mich h(läuft mir nach)i, mich zu töten, (hAnmerkung der Legende:i wie es bekannt ist, dass einer eine Kawwana – d. h. eine magische Intention – in der Seele haben kann, den Feind zu töten), aber er wird mich in dieser Welt nicht erreichen. Einmal drängten die Schüler ihren Meister, den Rabbi Nachman, und sprachen zu ihm: »Was ist dies, dass alle Leute zu dem Baalschem ziehen und sich wundersam in seinem Lobe ergehen? Warum kommet Ihr nicht in das Tal der Gleichung (d. h. offenbar sich mit ihm zu messen), an seinem Kruge zu riechen, und wir werden wissen, mit wem die Wahrheit ist. Warum soll dieser uns zur Schlinge (oder: zum Hindernis) sein?« Und er gab ihren Worten Platz (d. h. fügte sich ihnen) und zog nach Miedzyborz zum Baalschem. Und er empfing ihn mit grosser Ehre. Sie gingen beide in seine Stube und entfernten alle von ihrem Angesichte. Aber ein Mann versteckte sich an einem Orte. Sprach Rabbi Nachman: »Israel, ist es wahr, dass du die Gedanken der Menschensöhne weisst?« Sprach er: »Ja.« Sprach jener: »Weisst du, was mein Gedanke zur Zeit ist?« Antwortete er: »Es ist bekannt, dass der Gedanke nicht ruht, sondern um viele Dinge umherschweift. Wenn du deinen Gedanken an ein Ding bindest, werde ich es wissen.« Und R. N. tat so. Und der B. sprach: »Der geheimnisvolle Name Gottes ist in deinem Gedanken.« Sprach jener: »Das kannst du von selbst verstehen; denn diesen Gedanken muss ich doch fortwährend denken, wie es gesagt ist: Ich habe mir Gott beständig gegenübergestellt; und gar wenn ich alle Gedanken lasse und mein Denken auf ein Ding zusammenziehe, muss der Name Gottes vor meinen Augen sein.« Sprach der Baalschem: »Es gibt doch so viele heilige Namen, und du kannst das Denken richten auf welchen du willst.« Da bekannte R. N., dass es nach seiner X sei, und danach sprachen sie von Geheimnissen der Lehre.

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Einführung

Variantenapparat: Anmerkung: Abweichungen in D18 werden nicht gesondert berücksichtigt, da dieser Textzeuge als letzte Fassung in diesem Band zum Abdruck kommt.

Einführung Variantenapparat: 170,12 zum Absoluten] zu Gott D14, D15, D16 170,13 dachten] meinten D14, D15, D16 170,18 die die Sprache] welche die Sprache D16 170,Anm] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 171,4-5 »Gerechte«] »Bewährte« D16 171,22-26 Die persönliche […] Macht über sie. ] fehlt D14, D15, D16 171,36-37 der Menschenkreis geboren, der den grossen Nazarener trägt] heimlich der Menschenkreis geboren, der den Nazarener trägt D16 171,Anm] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 172,14 dessen Dasein] sein Dasein D16 172,Anm] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 Wort- und Sacherläuterungen: 170, Anm. S. Dubnow […] S. A. Horodezky […] M. J. Berdyczewski] Zu Dubnow und Berdyczewski vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 60,15 und 60,16-17. Zu Samuel Horodezky vgl. die Einleitung zu diesem Band, S. 31. 171,4 »Stübels«] Stübel: ein kleinerer chassidischer Gebetsraum. 171,Anm J. L. Perez] Jizchok Leib Peretz (1852-1915): einer der Begründer der modernen jiddischen Literatur. Seine warm gezeichneten Gestalten entlehnt er oft dem chassidischen Milieu. 171,12 Pluralsingular Elohim] Die hebr. Bezeichnung Elohim kann sowohl als »Gott« (Singular) wie auch als Plural »Götter« genutzt werden. Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage 1955, in diesem Band, S. 469 f. 171,13 Kampfe Jakobs mit dem Elohim.] Vgl. Gen 32,23-33. 171,35 Essäer] Vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 63,41. 171,38 Meister des Talmuds] Vgl. Bubers Erklärungen in der Neuauflage 1955, in diesem Band, S. 473. 172,5 Agada] Im Talmud Bezeichnung für die Texte, die nicht der Gesetzesauslegung dienen, also insbesondere die erzählerischen Texte. Vgl. Bubers Erklärungen in der Neuauflage 1955, in diesem Band, S. 468.

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Einzelkommentare

Das Leben der Chassidim Variantenapparat 175,1 Hitlahabut] allgemein Hitlahawut in D14, D15, D16 175,2-3 Sie ist der Becher […] Schlüssel.] fehlt d19 175,5 leichter Finger] Lodern d19 175,35 durchläutern] entsühnen D14, D15, D16 176,13 Die Engel ruhen] davor kein Absatzwechsel d19 176,15 Darob] Darum D14, D15, D16 177,2 offenbar] vernehmbar d19 177,3 weiss gar viel] weiss viel D14, D15, D16, d19 177,7-8 hat nichts mit dem Gefühl zu tun] ist nicht jener Zustand D14, D15, D16, d19 177,15 Einzeldinge] Dinge d19 177,22-23 das sie weiht und mit heiliger Bedeutung füllt] weiht es und füllt es mit heiliger Bedeutung d19 177,25-26 aus tausend Fluten […] auftauchen lässt,] fehlt d19 177,28-29 der nicht zu sich heimgekehrt wäre] in dem sich nicht die heilige Umkehr vollzog D14, D15, D16, d19 177,29 heimgekehrt] umgekehrt d7 177,38-39 Aber das eigentliche […] Menschen] Zuweilen treibt es den so Gebundenen von den Menschen hinweg d7 177,40 Fremder] Gastsasse D14, D15, D16 178,3 kann ihn besitzen] kann er besitzen D14, D15, D16 178,7 Gärten und Hainen] Gärten d19 178,12 dahinzustreichen] dahinzustreifen D14, D15, D16 178,17 Glorie und Herrlichkeit] »einwohnende« Gegenwart d19 178,18 »Herrn«] »Eigner« d19 178,20-21 wohnend in den stummen Fernen des Gottes-Exils] in den stummen Fernen des Gottes-Exils weilend d19 179,1 und sich mit Gott vermählt] fehlt D14, D15, D16, d19 179,3-5 , das im Aufblühen […] Weltenbaumes] fehlt D14, D15, D16, d19 179,6 zum Nichts] zu Nichts D14, D15, D16 179,11 ins Nichts] in Nichts D14, D15, D16 180,1 Aboda] allgemein Awoda in D14, D15, D16, d19 180,8 vor dir darbringen] dir darbringen D14, D15, D16, d19 180,9-14 Alles ist Gott. […] ihrer Taten.] fehlt d19 180,9 Zweiheit] [Spaltung] ! Zweiheit h1 180,15-16 Hitlahabut […] aus Gottsuchen.] hHitlahabut […] aus Gottsuchen.i h1 180,19 Und als] Als D14, D15, D16, d19

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180,20 erscheinen vor dem Könige] vor dem König erscheinen D16, d19 180,20 dem Könige] dem [Angesicht des Königs] ! Könige h1 180,23 Ende stand] Ziel erstand D14, D15, D16, d19 180,24-25 sah: eine Spiegelung war all die Irre] sah, daß {alle Irre D8, D9, D10, D14, D15 all die Irre D16 all der Irrbau d19} eine Spiegelung war D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d19 180,31-38 Der Enkel […] »So spricht Gott auch«.] fehlt D14, D15, D16, d19 180,32 Und er] Er D8, D9, D10, D12 180,33 viele Zeit] [eine lange Zeit] ! viele Zeit h1 180,39 neues Feuer heranbringt] [die Flamme erneuert] ! neues Feuer heranbringt h1 180,40 Gott selbst] [die Schechina] ! Gott selbst h1 181,1 Gott waltet […] im Chaos waltete] [Gott ist im Menschen wie er im Chaos ist] ! Gott waltet […] im Chaos waltete h1 181,8 Vielheit] Vielfältigkeit D14, D15, D16, d19 181,12 ein Dienst,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d19 181,15 getragen] eingehegt d19 181,17 eingekleidet] gewandet d19 181,22 In allem Tun […] Allsonne] [Durchstrahlt von der Welle des Alls] ! In allem Tun […] Allsonne h1 181,24 zu ihm auserwählt] [auserwählt, die Aboda zu tragen] ! zu ihm auserwählt h1 181,24 Arten diene.] Arten diene. [Nichts ist der Weihe verschlossen. / »Wenn einer in das Schweigen gegangen ist, kann er sich mit seinem Gefährten von den Dingen der Welt unterreden: er betet und wird empfangen.«] h1 181,26-27 Schauenden] Zuschauenden D14, D15, D16 Zuschauer d19 181,27-28 dieweil diese Liebe beschlossen ist nur an einer […] Stätte] da diese Liebe sich nur an einer […] Stätte vollenden kann D14, D15, D16, d19 181,31 und ihr geziemt es] der geziemt es D14, D15, D16, d19 181,36 Wer gäbe dich mir zum] Wer gibt sich mir als d19 181,37-39 Mutter sog, ich würde […] verachten] sog! Fände ich dich auf der Gasse, ich küßte dich, und sie dürfen mein doch nicht spotten d19 181,40 dergestalt] solcherart D14, D15, D16, d19 182,1-2 Weihe und der Macht] Weihe hund der Machti h1 182,4 aufgepflanzt auf der Erde] gestellt auf die Erde D14, D15, D16, d19 182,5 reicht in den Himmel] an den Himmel rührend D14, D15, D16 rührt an den Himmel d19 182,8 jenes Mysterium] das Geheimnis D14, D15, D16, d19

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Einzelkommentare

182,9-10 wohl nicht klärt, aber verklärt] erleuchtet D14, D15, D16, d19 182,11 Welt und ihre Tat] Welt hund ihre Tati h1 182,11 der Gott] Gottes Sein d19 182,13 Gottesglorie] Gottespräsenz d19 182,13-14 wandernd, irrend, verstreut] hwanderndi, irrend, verstreut [, wie aufgelöst] h1 182,19-20 Geissel] [Pein] ! Geissel h1 182,22 herabzuzerren] [niederzuzerren] ! herabzuzerren h1 182,27 durch ihn] durch [seine Menschenhand] ! ihn h1 182,27 Einung] [Vereinigung] ! Einung h1 182,28 Glorie] Herrlichkeit D14, D15, D16 Schechina d19 182,32 verwüstet, Trennung zu schaffen] zerhaut und Trennung schafft D14, D15, D16, d19 182,33 Gottesglorie] [Schechina] ! Gottesglorie h1 Herrlichkeit D14, D15, D16 Schechina d19 182,34-35 befriedet aus der Befriedung seiner] wird gestillt werden aus der Stillung der D14, D15, D16, d19 182,36 die Schechina.] die Schechina. [Das ist, was in den Veden geschrieben steht: »Prajâpati schuf zu seinem Abbild das was das Opfer ist. Darum sagt man, das Opfer ist Prajâpati.«] h1 182,38 selbst] selber D14, D15, D16, d19 182,40 regiert] beherrscht d19 183,4 geblieben und habe] geblieben, habe D14, D15, D16, d19 183,5 ein] hinein D14, D15, D16, d19 183,5-6 Ist doch […] voll des Gebetes.] Das Haus ist {ja D16, d19} randvoll von Lehre und Gebet D14, D15, D16, d19 183,8-11 »Wenn die Worte […] dickem Wirrsal.«] »Die Worte, die hier von den Leuten tagsüber ohne die wahre Andacht, ohne Liebe und Barmherzigkeit gesprochen werden, haben keine Flügel. Sie bleiben zwischen den Mauern, sie hocken am Boden, sie breiten sich Schicht auf Schicht wie moderndes Laub, bis der Mulm das Haus vollgepfropft hat und für mich darin kein Platz mehr ist.« D14, D15, D16, d19 183,12 vermag] [kann] ! vermag h1 183,16 Inbrunst] [Hitlahabut] ! Inbrunst h1 183,17 Inbrunst] [Hitlahabut] ! Inbrunst h1 183,34 Hier gibt es] [Auch die Ekstase kennt ein Gebet: der Tod umschleicht es, und der Wahn lauert darin. Noch auf der Höhe fürchtet mancher Zaddik, er sei im Bösen, »auf der anderen Seite.«] ! Hier gibt es h1 183,35-36 Seelen in ihrer Vereinigung erschlossen] [Menschen eröffnet] ! Seelen in ihrer [Einheit] ! Vereinigung erschlossen h1

Das Leben der Chassidim

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183,39 den Wanderern] [Jenseits] ! den Wanderern h1 183,41 eine Absicht] ein Wille h1 183,41 , eine »Kawwana«] fehlt d19 183,41-184,1 sich aneinander zu grösserer] [sich zu höherer] ! sich aneinander zu grösserer h1 184,5 Und er sah] Er sah D14, D15, D16, d19 184,5-6 wesenhafter] [wesentlicher] ! wesenhafter h1 184,6 Aber die] Die d19 184,6 Anblick] Vogel d19 184,9 Vermögen] Können h1 184,10-11 zu finden. Doch aus […] den Rat] da. Weil aber sein Bangen so übermächtig war, fand seine Seele sich den Rat d19 184,17 verlassen] verlassen [und wäre davongegangen] h1 184,18 Tempel] [Himmelstempel] ! Tempel h1 184,23 Beten] fehlt D14, D15, D16, d19 184,24 weiss] [vermag] ! weiss h1 184,25 Nacht] Dämmerung d19 184,27 die Gunst] [diese Macht] ! die Gunst h1 184,28 Ungeschiedenen] [Unzerspaltenen] ! Ungeschiedenen h1 184,29 mitgeteilt] [erzählt] ! gebracht h1 184,33 Und der Vater] Der Vater D14, D15, D16, d19 184,34 dieweil] weil D14, D15, D16, d19 184,35 Aber] Doch D14, D15, D16, d19 184,37 seines Wissens und Verstehens] an Wissen d19 184,37-38 Und der Knabe] Der Knabe D14, D15, D16, d19 184,39 weiden] [hüten] ! weiden h1 184,39-40 Und er nahm es […] sah es nicht] Das hatte er nun in der Tasche seines Kleides mitgenommen, ohne daß sein Vater es {wußte D14, D15, D16 merkte d19} D14, D15, D16, d19 184,40 sah es nicht] [wusste nichts davon] ! sah es nicht h1 184,40 Und der Knabe] Der Knabe D14, D15, D16, d19 184,41 in den heiligen Stunden im Bethause und wusste nichts zu sagen] Stunde um Stunde im Bethaus und wusste kein Wort zu sprechen d19 185,1 aber das Mussafgebet angehoben wurde] als man aber das Mussafgebet anhob d19 185,2-5 Da war sein Vater […] in sich bewahren] Bestürzt fuhr der Vater ihn an, und der Knabe bezwangs d19 185,3 und sprach] fehlt D14, D15, D16 185,3-4 und hüte deine Seele] fehlt D14, D15, D16 185,5 kam, sprach] begann, sagte d19

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Einzelkommentare

185,6 mein Pfeifchen zu nehmen] [zu pfeifen auf meinem Pfeifchen] ! mein Pfeifchen zu nehmen h1 185,6 Und als] Wie D14, D15, D16 185,6-7 Und als der Vater […] war er zornig] Der Vater wurde zornig d19 185,6-7 sein Verlangen sah und dass] sah, dass D14, D15, D16 185,8 An welchem Orte] Wo D14, D15, D16, d19 185,10 Und das] Aber das D14, D15, D16, d19 185,10-19 begann, und die Lichter […] verwirrt da] begann. Da riß der Knabe das Pfeifchen aus der Tasche und pfiff einen gewaltigen Pfiff d19 185,11 brannten wie die Lichter] brannten hwie die Lichteri h1 185,12-13 noch einmal müde und aufrecht] noch einmal hmüde und aufrechti h1 185,14 und lag vor der Lade] [und schluchzte mit der letzten, ungebeugten Stimme] und lag vor der Lade h1 185,16-17 konnte der Knabe […] riss] [riss der Knabe] ! konnte der Knabe […] riss h1 185,17 halten und riss mit vieler Kraft] niederhalten – er riss D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 185,18 gar mächtig] mächtig D14, D15, D16 185,18 Und alle] Alle D14, D15, D16 185,19 verwirrt da. Aber der] verwirrt. Doch der D14, D15, D16 185,19-20 Aber der Baalschem […] der Erde.«] Der Baalschem jedoch sprach das Gebet weiter, nur schneller, leichter als gewöhnlich. Hernach sagte er: »Der Knabe hat’s mir leicht gemacht.« d19 185,20 durchbrochen] [zerstreut] ! durchbrochen h1 185,20-21 zerstreut vom Angesichte der] [weggezogen von] ! zerstreut vom Angesichte der h1 185,22 jeder] [aller] ! jeder h1 185,22 schlichten oder geschlichteten] [zwiespaltlosen und geschlichteten] ! zwiespaltlosen oder geschlichteten h1 185,23-24 vollkommen. Noch aber ist ein höherer] [vollkommen und jede Handlung kann rein] ! Noch aber ist ein höherer h1 185,24 aufgestiegen ist und seinen] aufgestiegen ist, seinen D14, D15, D16 185,34 dergestalt] so D14, D15, D16, d19 185,40 der Sohn] das Kind d19 185,40 sicher] selig h1 185,41-186,2, und steht […] Wanderschaften münden] fehlt d19 186,4 Gottesglorie] [Schechina] ! Gottesglorie h1 Gottesherrlichkeit D14, D15, D16 186,5 umströmt] [umfliesst] ! umströmt h1 187,1 Intention] Ausrichtung D14, D15, D16

Das Leben der Chassidim

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187,3 sinnt nicht darauf, […] zu versetzen] [will nicht […] einsetzen] ! sinnt nicht darauf […] zu versetzen h2 187,12 Pferde] [Kräfte] ! Pferde h2 187,20-21 , dass die Schechina aus der Verbannung heimkehre] h, dass die Schechina aus der Verbannung heimkehrei h2 187,21 Gottesglorie] Gottesherrlichkeit D14, D15, D16 Schechina d19 187,22 ihrem Eigner] [mit ihrem Herrn] ! ihrem Eigner h2 187,26-27 wie wenn es in seinem Blute geschähe] [als drängte es durch sein Blut] ! wie wenn es in seinem Blute geschähe h2 187,27 geschähe] wäre D14, D15, D16, d19 187,38 mit Sehnsucht der Augen] fehlt d19 188,1 Andere aber] davor kein Absatzwechsel d19 188,1 kundig] [bewusst] ! kundig h2 188,1 Masse und sehen] Maß, sehen D14, D15, D16 188,2 wissen die Ferne des Kommenden] [sie kennen die künftige Ferne] ! wissen die Ferne des Kommenden h2 188,4 und der Atem […] Bitterkeit zu] fehlt d19 188,8 Und keiner] Keiner D14, D15, D16, d19 188,9 Und es war] Da war D14, D15, D16 188,9-10 Und es war ein Gerücht] Da hieß es im Volk d19 188,10 dies] das Gerücht d19 188,14-15 der Urseele entsprossen […] gesunken und hinausgestreut] hder Urseele entsprossen […] gesunken undi hinausgestreut h2 188,15-16 Kreaturen] [Wesen] ! Kreaturen h2 Geschöpfe D16, d19 188,16 beschliessen] [vollenden] ! beschliessen h2 188,17 Mahl] [Fest] ! Mahl h2 188,18 der letzte der Gäste eingezogen ist] [alle Gäste eingezogen sind] ! der letzte der Gäste eingezogen ist h2 188,19 Alle Menschen sind] [Überall hausen Seelen, die in der »Welt des Wirrsals«] ! Alle Menschen sind h2 188,25 Dieser] Ihrer d7 188,25 kein Ding leer] kein Ding leer [, kein Geschehnis] h2 188,25 was ist] was ist [und sich ereignet] h2 188,25-26 Jede Form ist ihr Kerker] Jede Form [, jede Bewegung] ist ihr [Gefängnis] ! Kerker h2 188,30 Nicht bloss] davor kein Absatzwechsel d19 188,39 der Wonne] den Wonnen h2 189,1-2 eine weit […] zugeteilt ist] [einen Kreis in Raum und Zeit, der ihm untertan ist] ! eine weit […] zugeteilt ist h2 189,3 und in ihrer Seele gefesselt] fehlt d19 189,14 Trieb] [Schauen] ! Trieb h2 Antrieb d19

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Einzelkommentare

189,14 die Stummen unter den Gebannten] die hStummen unter deni Gebannten h2 189,15 müden Leibes] niedern Leibes h2 189,17 ein ungeheures Wagen] [eine ungeheure wagende Spannung] ! ein ungeheures Wagen h2 189,19-20 den Abgrund] die Schlucht d19 189,22 Artung] [Stufe] ! Artung h2 189,28 heimzusenden] [heimzutragen] ! heimzusenden h2 189,29 hängen in den Dingen] [X verriegelten Kammern, ducken sich] ! hängen in den Dingen h2 189,31 , sie atmen […], sie warten;] h, sie atmen […], sie warten;i h2 189,31 sie atmen Bangigkeit aus und Dunkel ein,] fehlt d19 189,31 Bangigkeit aus und Dunkel ein] Dunkel ein und Bangigkeit aus D14, D15, D16 189,33 schauend] [lauernd] ! schauend h2 189,38 Und wer] Wer D14, D15, D16, d19 190,2 sonderbares] [seltsames] ! sonderbares h2 sonderliches D16, d19 190,5 Tat] Handlung d19 190,5 Gottesglorie] Gottesherrlichkeit D14, D15, D16 Schechina d19 190,7 Weihung] [Heiligkeit] ! Weihung h2 190,9 gewonnene] [entdeckte] ! gewonnene h2 190,10 eben diese Stetigkeit des lebendigen Stromes] fehlt d19 190,10 Stetigkeit] [Einheit] ! Stetigkeit h2 190,11 wird, in der Weihe vollzogen, zum Erlösen] [ist das Erlösen] ! wird, in der Weihe vollzogen, zum Erlösen h2 190,12 gebotenen] [geweihten] ! gebotenen h2 190,14 erlöst und erneuert] erlöst und erneuert [, und es ist als schüfe er Himmel und Erde und alle Welten von Neuem] h2 190,15-16 – in die weite Sphäre […] eingebaut –] h– in die weite Sphäre […] eingebaut –i h2 190,16 die vor allem zu befreien] [die »der Wurzel seiner Seele zugehören« und die er freimachen] ! die von allem zu befreien h2 190,17-18 Wesen und Gegenstände […] des Einzelnen] hWesen undi Gegenstände, [deren Gesamtheit] ! die der Besitz [eines Menschen] ! des Einzelnen h2 190,18-19 seine Tiere […] seine Speise] hseine Tiere […] seine Speisei h2 190,19-20 sie in Heiligkeit hegt und geniesst] [sich ihrer bedient] ! sie in Heiligkeit hegt und geniesst h2 190,22 Aber auch in der Seele] [Aber auch im Menschen kommen die lösungsbedürftigen Wesen] ! Aber auch in der Seele h2 190,24 Niederung] [Niedrigkeit] ! Niederung h2

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190,25 oft den Betenden] [den Menschen oft] ! oft den Betenden h2 190,35 dem Unsichtbaren] [den Lüften] ! dem Unsichtbaren h2 190,39 , sie schenkt sich der Unendlichkeit] fehlt d19 190,40 des Wunderbaren] der Wunderhandlung D14, D15, D16 190,40-41 Auch sie bedarf […] des Schaffens] [Ihre vornehmste Tat ist das Wort] ! Auch sie bedarf […] des Schaffens h2 191,1-2 Mystik […] Gegenstand] [Geheimlehre stets ein Gegenstand] ! Mystik […] Gegenstand h2 191,1 seltsamer] geheimnisvoller d19 191,4 dem Innern der Wirklichkeit] [der tiefsten und innerlichsten Wirklichkeit] ! dem Innern der Wirklichkeit h2 191,7-8 Wer des heimlichen Liedes […] Aussen trägt] [Und wer der Weise kund] ! Wer des heimlichen Liedes […] Aussen trägt h2 191,8-9 der tiefen, dunklen […] Laute reiht,] fehlt D14, D15, D16, d19 191,10 zum Gesang der Fernen verschmilzt] zum Gesang der [Erde erschafft] ! Fernen verschmilzt h2 191,13 Seelenbefreier] [Erlösende] ! Seelenbefreier h2 191,14 Zeichen] [Laut] ! [Buchstaben] ! Zeichen h2 191,15 Welten und Seelen und Göttliches, und sie] die Drei: Welt, Seele und Gottheit. Sie D14, D15, D16, d19 191,15 Göttliches] [Gottheit] ! Göttliches h2 191,15 binden] verbinden D14, D15, D16 191,16 vereinigen […] vereinigen] vereinen […] vereinen D14, D15, D16 191,18 geworfen] eingefaßt D14, D15, D16 191,25 Gleichnis] Gleichnis [aller Dinge] h2 191,36 versiegt] trocknet d19 191,36 aufhört] versiegt d19 192,2-3 Nachman von Bratzlaw.] Nachman von Bratzlaw [»Und wenn eine Seele wiederkehrt, wird dein anderer Geist ihr Genosse.«] h3 192,6-7 jegliches gewandelt] [mit Anderheit bekleidet, genährt aus Anderheit, Anderheit atmend, fühlend, lebend] ! jegliches gewandelt h3 192,7 Würfe] [Züge] ! Würfe h3 192,8 Feuer und Wasser, die] Wasser und Feuer, welche D14, D15, D16, d19 192,12 nicht wiederbringen] [ein Gewesenes wiederbringen] ! nicht wiederbringen h3 192,14 Die Einmaligkeit] [Ist die Wiederkehr eine Ewigkeit des Einzelnen, so ist auch die Einmaligkeit] ! Die Einmaligkeit h3 davor kein Absatzwechsel d19 192,16-17 anders Beschaffene] anders Beschaffene. [Wiederkehr und Einmaligkeit sind die beiden Gesichter des Seins, das ohne Rest und Rückhalt ewig ist.] h3

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192,22-23 reine Einzigkeit […] eines, und] hreine Einzigkeit […] eines, undi h3 192,36 Beschaffenheit] [Art] ! Beschaffenheit h3 192,40 Ungeheures] [Wunder] ! Ungeheures h3 193,6 Schenkende] [Gebende] ! Schenkende h3 193,10-33 Der Einzige […] ›Du bist nicht Messias‹.«] Textverlust wegen fehlender Seite h3 193,26 gegenüberstellen] an andern messen d19 193,29-30 gegenüber fühlt] überlegen dünkt d19 194,4 und es strahlte] es strahlte D14, D15, D16 194,4-6 , und seine Finger […] Gesalbten] fehlt d19 194,6 Und also] [Und immer mehr wurde er in das] ! Und also h3 194,7 stärker trieb sich] [grösser wurde] ! stärker trieb sich h3 194,8-9 Taten spielten, und dünkte sich ganz von Gott besessen] [Taten. Und da es ihm selbst offenbar wurde, dass keine Wirkung um ihn war, löste er sich noch völliger ab und dünkte sich nun ganz von Gott erfüllt] ! Taten spielten, und dünkte sich ganz von Gott besessen h3 194,9 Da kam es einst, dass er] [Als er nun aber wieder sich] ! Da kam es einst, dass er h3 194,11 gewahrte, und da] [erschaute, schlich er sich] ! gewahrte, und da h3 gewahrte: da D14, D15, D16 194,17 lassen] gießen D14, D15, D16, d19 194,23 zwiespaltbar] [einfach und] zwiespaltbar h3 194,25-195,2 Rabbi Jakob Jizchak von Lublin […] Wahrheit reden?«] fehlt D14, D15, D16, d19 194,26 Gelehrtem] [Rabbinen] ! Gelehrten h3 194,28 zu ihm] zu [dem Heiligen] ! [dem Erhabenen] ! ihm h3 194,29 Zaddik] [Rabbi] ! Zaddik h3 194,30 Rabbi Jakob Jizchak] [der Zaddik] ! Rabbi Jakob Jizchak h3 194,32 gebet] [tuet] ! gebet h3 194,33 Erhabenen] [Erwählten] ! [Heiligen] ! Erhabenen h3 194,33 Dies zu tun, war der Zaddik erbötig] [Sogleich erklärte sich der Zaddik den Willen zu tun] ! Dies zu tun, war der Zaddik erbötig h3 194,39 der Auserwählten] [Heiligen] ! Auserwählten h3 194,40 Antwortete der Meister] Der Meister antwortete D8, D9, D10, D12 195,5 da] da, wie schon in der Frühzeit des Talmuds gelehrt worden ist, d19 195,6 Nicht fliessen ihm] [Jeder steht vor ihm in] ! Nicht fliessen ihm h3 195,7-196,11 sondern jede Seele […] ein Weib.« ] Textverlust wegen fehlender Seiten h3

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195,11-15 Rabbi Wolf von Zbaraz […] zu stellen?«] fehlt D14, D15, D16, d19 195,12 Zaddik] gerecht D8, D9, D10, D12 195,14 gar gleich] gleich D8, D9, D10, D12 195,14 Zaddikim] Gerechte D8, D9, D10, D12 195,16 schaut] blickt d19 195,16 anderer] Zaddik D14, D15, D16 195,20-22 Der Baalschem sagte […] Herzens.«] fehlt D14, D15, D16, d19 195,25-38 So wird uns […] erwachte zu Gott.] fehlt D14, D15, D16, d19 195,39-196,11 Ein Rabbi hiess […] einmal ein Weib.«] fehlt D14, D15, D16, d19 196,17 ohne alle] [über] ! sonder aller h3 196,21 dieses Meinen] diese Anschauung d7 196,27-28 , und die Schläge […] Lohn empfing] fehlt D14, D15, D16, d19 196,39 Sieh, es steht] Es steht D14, D15, D16, d19 196,40-41 Und du sollst lieben den Andern wie dich selbst] Liebe deinen Nächsten wie dich selbst D12, D13, D14, D12 Liebe deinen Genossen dir gleich D14, D15, D16 Sei liebend zu deinem Genossen, dir gleich d19 197,4 von Gott entfernt] [gegen Gott vergeht] ! von Gott entfernt h3 197,8 graben] [bohren] ! graben h3 197,10-13 , die sich in unterirdischer Historie […] sterben] fehlt D14, D15, D16, d19 197,20 Gottesglorie] Gottesherrlichkeit D14, D15, D16 197,25 Stimme] Liebe h3 197,34 so schaut] so erst schaut D14, D15, D16 so erst erkennt d19 197,38 aus sich selbst] von sich selbst aus d19 197,38-39 dem Andern nicht Liebe predigt] [den andern nicht bedrängt, sondern ihn] ! dem Andern nicht Liebe predigt h3 197,41 aus sich selbst] von sich selbst aus d19 197,41-198,1 im Gedanken der Hilfe] him Gedanken der Hilfei h3 198,4 aus sich selbst] von sich selbst aus d19 198,8-27 Es gibt aber […] alles sehe.«] fehlt D14, D15, D16, d19 198,8 Es gibt aber noch eine andere Hilfe, eine […] Blut genährt] [Die grosse Hilfe aber, die […] Blut genährt, ist das Wirken an der Erlösung] ! Es gibt aber noch eine andere Hilfe, eine […] Blut genährt h3 198,9-10 Wer der ringenden Ewigkeit hilft] [Wer Gott hilft, hilft der Ewigkeit] ! Wer der ringenden Ewigkeit hilft h3 198,10-11 stilles Gleichnis] stilles [und sehr schönes] Gleichnis h3 198,16 stumpf] [immer wieder eine lange Zeit] stumpf h3 198,24 keiner Grenze] keinem Ende d7 198,28-30 Es ist aber all dies […] einfache Einanderhelfen] Das Einanderhelfen ist D14, D15, D16, d19

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198,30 keine Aufgabe] [kein Gebot und] keine Aufgabe h3 198,32 und über der sich die höheren Gestalten der Hilfe aufbauen] fehlt D14, D15, D16, d19 198,32 Gestalten] [Formen] ! Gestalten h3 198,32-33 Die Hilfe ist keine Tugend] [Es gibt kein Gebot, zu helfen: geholfen wird in der chassidischen Gemeinschaft wie gelebt wird und ist keine Tugend] ! Die Hilfe ist keine Tugend h3 198,33 Ader des Daseins] Notwendigkeit h3 198,34-35 Nur eines wird geboten und gefordert] Geboten wird D14, D15, D16, d19 198,38-199,3 So pflegte Rabbi Mosche […] nur du allein.«] fehlt D14, D15, D16, d19 198,39-40 Es gibt keine […] Erhebung.] hEs gibt keine […] Erhebung.i h3 199,4 wird geboten und gefordert] fehlt D14, D15, D16, d19 199,4 dieses eine] dieses D14, D15, D16, d19 199,7 sondern aus Liebe] [einem Schmerze, dem des Liebenden] ! sondern aus Liebe h3 199,8 das Leid des Leidenden] [den Schmerz des andern] ! das Leid des Leidenden h3 199,9-10 und mit dem Traum der Wurzeln] [von Wurzel zu Wipfel] ! und mit dem Traum der Wurzeln h3 199,12 allem Glück] [aller Lust] ! allem Glück h3 199,15 äusserlichster Geberde] [äusserlichstem Bilde] ! äusserlichster Geberde h3 199,16 Urschmerz] [Schmerz] ! Urschmerz h3 199,18 Augen der Seele] Augen Gottes D14, D15, D16, d19 199,21-22 in das Leben […] versenkte] [das Leben […] schaute] ! in das Leben […] versenkte h3 199,24-33 Lieben heisst: […] ihr Leid.«] fehlt D14, D15, D16, d19 199,31-32 vermochte kein Wort zu sagen] [wusste kein Wort] ! vermochte kein Wort zu sagen h3 199,36 Seele des Urmenschen] Urseele D14, D15, D16, d19 199,36 in ihnen allen] in ihnen allen [und über jeder ist ein Strahl der Gottesglorie, und sie ist ganz über ihnen allen] h3 199,36-200,5 Und weil er die […] mehren wollen?«] fehlt D14, D15, D16, d19 200,6 So lebt der Demütige] [So ist der Demütige, der in den Wesen lebt, zugleich der Liebende] ! So lebt der Demütige h3 200,10 quellenden Lebens] Lebens D14, D15, D16, d19 200,14 zu Hause] daheim d19 200,14-16 Die Erde kann nicht […] zu sein.] fehlt d19

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200,14-15 werden. Die Erde kann nicht umhin] werden. [ / »Fromm ist mir lieber als klug«, sagte Rabbi Rafael, »aber lieber als fromm und klug ist mir: gut.« Der Demütige ist gut hund so ist nichts ihm X Xi und so muss die Erde seine Wiege und der Himmel sein Spiegel und sein Echo werden und so kann die Erde nicht umhin] ! Die Erde kann nicht umhin h3 Wort- und Sacherläuterungen: 175,10-14 »Wenn ein Mensch […] Paradieses nicht.«] Als Ausspruch des Rabbi Schlomo von Karlin in: Ahron ben Ascher von Karlin, Bet Aharon, Piotrków [Petrikau] 1914, S. 292. Vgl. auch »Ohne die Wonne«, in: Die Erzählungen der Chassidim, S. 427 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [523]). 175,19-23 »Er vermag eitle Worte […] von der Welt.«] Eine ähnliche Gedankenführung findet sich bei Dow Baer ben Abraham von Mesritsch, Or ha-emet imre tzaddiqim, Schytomyr 1900, S. 134. 175,24-26 »Wenn der Mensch […] obere Wurzel.«] Israel ben Elieser (Bescht), Keter schem tov, Korez 1797, Bl. 25a. Vgl. auch Buber, Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott, Hellerau: Jakob Hegner 1927, S. 72 (jetzt in: MBW 17, S. 99-128, hier S. 116). 175,30 Zaddik] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 478 f. 175,32-35 »Aber auch ich meine: […] zu durchläutern«.] Dem Rabbi Israel von Rižin zugeschrieben. Vgl. Natan Neta Diener, Menorat zahav, Warschau 1904, S. 97. Vgl. auch »Das Wort«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 375 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [433]). 175,37-38 »Vor einer kleinen Stunde […] den Tag herauf!«] Dem Rabbi Ahron von Zhytomyr zugeschrieben. Vgl. Israel Dow Baer ben Jossef von Wilednik, Sche’erit Jisra’el, Lemberg 1864, Teil III, Bl. 4b. 175,39-175,2 »Jeder Geschaffene soll […] jedem Augenblick.«] Scheʾ erit Jisraʾ el, III, Bl. 4b. 176,14-15 »Der Engel ist ein Stehender […] über dem Engel.«] Dieses Motiv kommt oft vor, z. B. in zwei Schriften des Israel ben Schalom Schachna Friedman von Rižin, Irin qaddischin, Warschau 1885, S. 56 und Peʾ er li-jescharim, Jerusalem 1921, Bl. 43a. 176,19-24 »Wenn der Mensch […] darüber steht.«] Menachem Mendel ben Mosche von Witebsk, Peri Ha-aretz, Kopust [Kopys] 1814, Bl. 5a. 176,25 »Über der Natur und über der Zeit und über dem Denken«] Nicht nachgewiesen. 176,27 »Süsse Leiden, ich empfange euch in Liebe«,] Baruch Meir Klein, Gedullat Mordekhaj, Siget 1895, S. 42.

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Einzelkommentare

176,29-30 »Wie grob ist Sussjes Körper […] Feuer fürchtet«.] Diener, Menorat zahav, S. 107. Vgl. auch »Sussja, das Feuer und die Erde«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 391 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [465]). 176,33 das heilige Mahl der Lehre] Vgl. Bubers Erklärung unter »Mahlzeit« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 472. 176,34-36 »Wir sind nicht […] zu weichen«.] Dem Rabbi Mordechai von Neshiž zugeschrieben. Vgl. Jizchak ben Leib Landa, Zikkaron tov, Piotrków [Petrikau], 1892, S. 10. Vgl. auch »Bei Tagesanbruch«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 276 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [283]). 177,10-12 Von einem Meister wird erzählt […] zu erhalten] Dem Rabbi Elimelech von Lisensk zugeschrieben. Vgl. Abraham Chajim Simcha Bunam Michelson, Ohel Elimelekh, Przemysl 1910, S. 9. Vgl. auch »Die Uhr«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 396 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [474]). 177,14-15 »denn sonst sah er alle Einzeldinge der Welt als eines«.] Nicht nachgewiesen. 177,19-20 »Es gibt ein sehr hohes Heiligtum […] entbrennen«.] Dem Rabbi Schalom Schachna zugeschrieben. Vgl. Menachem Mendel Bodek, Mif ’alot ha-tzaddiqim, Lemberg 1897, S. 26 f. Vgl. auch »Auf der höchsten Stufe«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 488 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [624]). 177,27-30 »Sein Fuss war leicht […] in einem.«] Dem Rabbi Arje Leib von Spola zugeschrieben bei Ahron ben Jesaia Natan Walden, Qehal chassidim, Warschau [1870], Bl. 48b; Sifte qedoschim (1875), S. [29 f.]. Vgl. auch »Der Tanz des ›Großvaters‹«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 286 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [299]). 177,33 in den »furchtbaren Tagen«] Vgl. Bubers Erklärung unter »Neujahrstag« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 473. 177,34-37 »Wunder der Wunder, […] Welt gebunden«.] Dem Rabbi Schmelke von Nikolsburg zugeschrieben. Vgl. Michelson, Ohel Elimelekh, S. 64. Vgl. auch »Die neuen Melodien«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 303 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [323]). 177,40-41 Ein Fremder bin ich im Lande] Ps 119,19. 177,41-177,4 »Wie ein Mann, der aus der Ferne kam […] muss heim.«] Quelle konnte nicht gefunden werden. 178,6-7 »dass man schier von ihm gesagt hat, er sei nicht bei Verstand«] Quelle konnte nicht gefunden werden. 178,9-13 »und als sie ihre Kinder […] die Wasserfläche] Dem Rabbi Schalom Schachna von Probischtsch zugeschrieben. Vgl. Levi Jizchak

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ben Jossef Manson, Bekha jevarekh Jisra’el, Przemysl 1905, Bl. 59b; Dow Baer ben Mosche Schmuel Ehrman, Devarim arevim, Munkatsch 1903, II, Bl. 46a. Vgl. auch »Die Henne und die Entlein«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 485 f., sowie »Einleitung«, ebd. S. 69 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [618] u. S. 163). 178,15-16 Die werden »unstät und flüchtig«. […] Schechina zu tragen«.] Wie von einem gewissen Rabbi Mosche von Preschiwetzki erzählt wird bei Menachem Mendel Bodek, Mifʿ alot ha-tzaddiqim, S. 27; »unstät und flüchtig« ist ein Zitat aus Gen 4,12. 178,16 Schechina] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 457. 178,23-24 »wie ein Fremdling […] auf Erden wegen«.] Dem Rabbi Baruch von Mesbiž zugeschrieben. Vgl. Baruch ben Jechiel Michal von Mesbiž, Butzina denehora ha-schalem, Lwów [Lemberg] 1930, S. 65 f. Vgl. auch »Die beiden Fremdlinge«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 181 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [101]). 178,27-28 »in der Gestalt einer Frau […] weint und klagt«] Dem Rabbi Pinchas von Korez zugeschrieben. Vgl. Israel ben Jizchak Simcha Berger, Eser orot, Piotrków [Petrikau] 1907, S. 36. Vgl. auch »Die Trauer«, eine andere Bearbeitung derselben Quelle durch Buber in: Die Erzählungen der Chassidim, S. 242 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [224]). 178,33-40 »Wer eine Frau sehr begehrt […] von Gott getrennt.«] Nicht nachgewiesen. 179,7-13 »Die Schöpfung des Himmels […] das erste«] Dem Maggid von Mesritsch zugeschrieben. Vgl. Meschulam Feibusch von Zbaraż Heller, Joscher divre emet, Munkács [Munkatsch] 1905, Bl. 14b. Vgl. auch »Das letzte Wunder«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 201 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [139]). 179,13 »Grösser ist das letzte Wunder als das erste«] bTaan 25a (BT, Bd. III, S. 723). 180,1 Aboda] Hebr. »Dienst«, ursprünglich die Bezeichnung für den Tempeldienst. 180,7-8 »Was bin ich […] dir darbringen will?«] Anscheinend kein Zitat, sondern eine Formulierung Bubers. 180,17-25 Der Baalschem erzählte […] vor seinem Angesicht.] Die Parabel kommt in vielen Versionen in der chassidischen Literatur vor, zum ersten Mal in: Jaakob Jossef von Polnoe, Ben Porat Jossef, Korez 1781, Bl. 55a. Vgl. auch das in Or ha-ganuz, dem hebr. Pendant zu Die Erzählungen der Chassidim, veröffentlichte Gleichnis »Täuschung«, S. 90 f. (jetzt in: MBW 18.1, S. 728).

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180,27-28 Wiederkehr der […] Seele] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von Die Legende des Baalschem von 1955, in diesem Band, S. 475. 180,31-38 Der Enkel Rabbi Baruchs […] Gott auch«.] Baruch ben Jechiel Michal von Mesbiž, Butzina de-nehora ha-schalem, S. 33 f. Vgl. auch »Das Versteckspiel«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 191 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [120]). 181,2-7 »Und wie als die Welt […] er spricht: Genug!«] Elimelech ben Chajim Me’ir Jechiel von Grodzisk, Imre Elimelekh, Warschau 1876, S. 165. 181,11-13 »Bei ihm ist Lehre und Gebet […] Wurzel erheben.«] Dem Rabbi Jaakob Jizchak von Lublin zugeschrieben. Vgl. Jizchak ben Leib Landa, Zikkaron tov, S. 13 f. Vgl. auch »Das Besondere«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 279 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [291]). 181,15-17 »In alle Taten des Menschen […] eingekleidet.«] Quelle konnte nicht gefunden werden. 181,25-39 »Es gibt zwei Arten von Liebe […] mich darob verachten.«] Die anonyme Schrift, Kitve qodesch, Warschau 1884, S. 33. 181,36-39 Wer gäbe […] darob verachten.] Hhld 8,1. 182,4-6 »Der Mensch ist eine Leiter, […] oberen Welt.«] Israel ben Elieser (Bescht), Keter schem tov, Bl. 16b-17a. Vgl. auch Buber, Des BaalSchem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott, S. 26 (jetzt in: MBW 17, S. 105 f.). 182,25-28 »Durch seine Not […] mit seiner Glorie geschehe«.] Israel ben Elieser (Bescht), Keter schem tov, Bl. 36a. Vgl. auch Buber, Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott, S. 57 (jetzt in: MBW 17, S. 113). 182,29 »eines von ihren Gliedern«] bezieht sich verm. auf die hebr. Wortverbindung evar me-evareha. 182,30-36 »Er sinne […] ist eine Einheit.«] Jaakob Jossef ben Zwi Hirsch von Polnoj, Toldot Ja’aqov Jossef, Korez 1780, Bl. 133b-134a. Vgl. auch Buber, Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott (jetzt in: MBW 17, S. 113). 182,36 »Ich bin das Gebet«,] Ps 109,4. 182,37-38 »Die Menschen meinen […] ist Gottheit.«] Dem Rabbi Pinchas von Korez zugeschrieben, (anscheinend nach Jehoschua Abraham ben Israel von Zhytomyr, Ge’ulat Jisra’el, II, Bl. 15a; Pinchas Schapiro, Midrasch Pinchas II, S. 6). Vgl. auch »Er ist dein Psalm«, in Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 227 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [189]).

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182,39-182,2 »Wer in Leid betet […] ist nur leere Freude.«] Liqqutim jeqarim, Bl. 4a. 183,5-6 »Da kann ich nicht ein. […] voll des Gebetes.«] Jaakob Schalom Diener, Derekh ha-emuna uma’ase rav, Warschau 1899, S. 22; Jizchak Dow Baer ben Zwi Hirsch, Qehal chassidim he-chadasch, Lemberg 1902, S. 13 f. (Siman 22); Mosche Eliakum Beria ben Israel Hofstein, Be’er Mosche, Józefów 1883, I, S. 11. 183,20-21 »gleichwie der Stamm Dan […] sammelte] Vgl. Num 10,25 u. Raschi zur Stelle. Dem Rabbi Jechiel Michal von Zloczow zugeschrieben. Vgl. Jizchak ben Leib Landa, Zikkaron tov, S. 23. Vgl. auch »Der Beter«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 259 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [251]). 183,24-27 »Ich binde mich […] gehoben werden.«] Heller, Joscher divre emet, Bl. 23b; Jizchak ben Leib Landa, Zikkaron tov, S. 25; Kleinman, Mazkeret schem ha-gedolim, Piotrków [Petrikau] 1908, S. 14 f. Vgl. auch »Der Beter«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 259 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [251]). 184,3-19 Der Baalschem sagte ein Gleichnis: […] Vogelnest genannt.«] Uri Feiwel ben Ahron, Or ha-chokhma, II, Łaszczów 1815, Bl. 44b. Vgl. auch »Das Vogelnest«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 136 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [38]). 184,30-185,21 Ein Dorfmann, der Jahr […] vom Angesichte der Erde.«] Jaakob ben Meschulam Natan Margaliot, Qevutzat Ja’aqov, Przemysl 1897, Bl. 54b-55a; Jizchak Dow Baer ben Zwi Hirsch, Qehal chassidim he-chadasch, S. 11 f. (Siman 18). Vgl. auch »Das Pfeifchen«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 155 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [62]). 184,36 Versöhnungstag] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 477. 185,1-10 Mussafgebet […] Mincha-Gebet […] Neïla-Gebet] Vgl. Bubers jeweilige Erklärungen in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 473. 185,13 achtzehn Segensprüche] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 468. 185,13-14 das grosse Bekenntnis] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 468. 185,14 Lade des Herrn] Vgl. Bubers Erklärung unter »Heilige Lade« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 471. 185,26-33 Jeder Zaddik hat seine besondere Art […] befehlen wird.«] Elimelech ben Chajim Me’ir Jechiel von Grodzisk, Imre Elimelekh, S. 12. 185,29 »Ich stehe vor Gott wie ein Botenknabe«.] Dem Maggid von Kosnitz zugeschrieben. Vgl. Elimelech ben Chajim Me’ir Jechiel von

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Grodzisk, Imre Elimelekh, S. 12. Vgl. auch »Ein anderes Gebet«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 443 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [552]). 186,2-6 »Er macht seinen Körper […] und frohlockt.«] Israel ben Elieser (Bescht), Keter schem tov, Bl. 23b. Vgl. auch Buber, Des Baal-SchemTow Unterweisung im Umgang mit Gott, S. 44 (jetzt in: MBW 17, S. 110). 187,21-22 »Dass alle Schalen […] in vollkommener Einung.«] Israel ben Elieser, Tzawa’at ha-Ribasch, S. 7. 187,31-40 Von einem Zaddik wird erzählt, […] Augenblick wecken.] Dem Rabbi Mosche Teitelbaum zugeschrieben. Vgl. Menachem Mendel Bodek, Seder ha-dorot mi-talmide ha-Bescht, Lemberg 1865, S. [60]. Vgl. auch »Der Harrende«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 669 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [925]). 187,35-40 »Denn also sehr […] gekommen ist] Bodek, Seder ha-dorot mi-talmide ha-Bescht, Lemberg 1865, S. [60]. 188,7-12 Als der grosse Zaddik Rabbi Menachem […] keine Erneuerung.«] Elimelech ben Chajim Me’ir Jechiel von Grodzisk, Divre Elimelekh, S. 353. Vgl. auch »Am Fenster«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 669 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [317]). 188,8-9 Schofarposaune] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 475 f. 188,13 Seelenfunken] Vgl. Bubers Erklärung unter »Funken« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 470. 188,38-40 »Die Freunde sind hingegangen […] nicht vergessen.«] Dem Rabbi Mosche Teitelbaum zugeschrieben. Vgl. Mosche ben Zwi Hirsch Teitelbaum, Jismach Mosche, Budapest 1934, S. 21. (Ausgabe New York, I, S. 32). Vgl. auch »Der Harrende«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 670 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [925]). 189,6-8 »Warum wolltest du nicht […] mich zu erlösen.«] Dem Rabbi Ssimcha Bunam von Pžysha zugeschrieben. Vgl. Schmuel von Schinova, Ramatajim tzofim, Warschau 1908, I, S. 116 f.; Jizchak Dow Baer ben Zwi Hirsch, Qehal chassidim he-chadasch, S. 77 (Siman 144). Vgl. auch »Der unerlöste Ort«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 754 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [1087]). 189,19-24 »Wer eine Seele hat, […] in die Tiefe fallen.«] anscheinend nach Heller, Joscher divre emet, Bl. 17a. 189,35-41 »Der Funke in einem Gestein […] Vater bringt.«] Dem Bescht zugeschrieben. Vgl. Jaakob Jossef von Polnoe, Ben Porat Jossef, Korez 1781, Bl. 274b.

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190,4-6 »Mit jeder Tat kann der Mensch […] Verborgenen trete.«] Nicht nachgewiesen. 190,20-21 »Daher soll der Mensch […] erbarmen.«] Israel ben Elieser (Bescht), Keter schem tov, Bl. 27b. Vgl. auch Buber, Des Baal-SchemTow Unterweisung im Umgang mit Gott, S. 32 (jetzt in: MBW 17, S. 107). 190,25-30 »Wenn der Mensch […] die er erlösen soll.«] In dieser Formulierung nicht nachgewiesen; ähnliche Gedanken in: Israel ben Elieser (Bescht), Keter schem tov, passim, und in: Mosche ben David Schoham, Divre Mosche, [Polonoje] 1801, Bl. 9a. Vgl. auch Buber, Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott, S. 81 (jetzt in: MBW 17, S. 118). 191,2-3 Theorie der Buchstaben als der Weltelemente] Vgl. Bubers Erklärung unter »Buchstaben als Weltelemente«, in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 469. 191,5-7 »Man soll die Worte sprechen […] in das Wort ein.«] Nicht nachgewiesen. 191,11-12 »und es ist, als schüfe […] von neuem«.] Nachman von Brazlaw, Liqqute ʿ etzot, Zolkiew 1850, Bl. 15a, Bl. [52a]. 191,14-19 »Denn in jedem Zeichen […] Wonne wird geboren.« ] Israel ben Elieser, Tzawa’at ha-Ribasch, S. 13 f. Vgl. auch Buber, Des BaalSchem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott, S. 65 (jetzt in: MBW 17, S. 114). 191,28-36 »Gestalt des Dazwischen« […] der nicht aufhört.«] Dem Maggid von Mesritsch zugeschrieben. Vgl. Heller, Joscher divre emet, Bl. 15a; Majim rabbim, S. 41; Var. Or ha-emet imre tzaddiqim, S. 58. Vgl. auch MBW 18.1, S. 254 f.) 192,26-31 »Jedermann soll wissen […] Kommen des Messias.«] Ahron ben Ascher von Karlin, Bet Aharon, S. 224. 192,33-37 »Wer die Stufe des Gefährten […] Beschaffenheit sahen.«] Israel ben Elieser (Bescht), Keter schem tov, Bl. 1a. 192,34-35 Viele taten wie Rabbi Simeon ben Jochai und es geriet nicht in ihrer Hand] bBer 35b (BT, Bd. I, S. 160). 193,6-9 »der Schenkende ist von Seiten […] die Grenze] Liqqutim jeqarim, Bl. 18b. 193,15-17 »Der Mensch hat ein Licht […] Zeugung genannt.«] Dem Rabbi Pinchas von Korez zugeschrieben. Vgl. Pinchas von Dynowitz Lerner, Sifte tzaddiqim, Warschau 1893, S. 90; Berger, Eser orot, S. 41 (vgl. auch MBW 18.1, S. 277). Vgl. auch »Die Belebung«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 229 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [197]).

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193,20-22 »sich übersehr erniedrigt […] herabzubringen vermag«.] Nicht nachgewiesen. 193,23-24 »Das grösste Böse ist […] Königssohn bist] Dem Rabbi Schlomo von Karlin zugeschrieben. Vgl. Ahron ben Ascher von Karlin, Bet Aharon, S. 292; Mosche Kleinman, Mazkeret schem ha-gedolim, S. 58; Meir ben Mordechai Bornstein, Imre tzaddiqim, Warschau 1896, S. 18. Vgl. auch »Das Schlimmste«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 434 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [538]). 193,32-33 »Wenn heute Messias […] nicht Messias‹.«] Dem Rabbi Berisch von Uschpitzin zugeschrieben. Vgl. Jizchak ben Nachman Zwi Zinger, Seva’ ratzon, Podgorza 1900, S. 20 (in der Vorlage: »und sagt, ich sei ein ehrlicher Jude«). 193,39-40 »Wer seiner voll ist, in dem hat Gott keinen Raum.«] Nicht nachgewiesen. 194,6 der »andern Seite«] Eine der Bezeichnungen des Bösen. 194,15 die »ziehende Kraft«] hebr. koach ha-moschekh. 194,26 »der eiserne Kopf«] d. i. Asriel Hurwitz (gest. 1818). 194,28-195,2 Einmal sagte er zu ihm […] wider die Wahrheit reden?«] Schmuel von Schinova, Ramatajim tzofim, II, S. 110; Israel ben Jizchak Simcha Berger, Simchat Jisra’el, Piotrków [Petrikau] 1910, S. 125; Jehuda Arje Frenkel-Teomim, Ohole Schem, Biłgoraj 1911, S. 51; Mosche Walden, Nifleʾ ot ha-rabbi, Warschau 1911, S. 13; Eser orot, S. 93. Vgl. auch »Der Lubliner und der eiserne Kopf«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S.471 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [597]). 195,6 »kein Mensch ist, der nicht seine Stunde hätte«] mAv IV,3 (BT, Bd. IX, S. 675). 195,8-10 »In jedem Menschen ist Köstliches […] der Gefährten.«] Dem Rabbi Pinchas von Korez zugeschrieben. Schapiro, Midrasch Pinchas, Bl. 36b; Friedman, Peʾ er li-jescharim, Bl. 8a. Vgl. auch »In jedem«, in: Or ha-ganuz, S. 134 (jetzt in: MBW 18.1, S. 729). 195,11 Rabbi Wolf von Zbaraz] Seew Wolf von Zbaraž (gest. 1822): Sohn des Zaddiks Jechiel Michal von Zloczow (1726-1781) und Schüler des Jaakob Jitzchaks, des »Sehers von Lublin«. 195,13-15 »Bei mir sind sie beide […] zu stellen?«] (Vgl. MBW 18.1, S. 309) Bodek, Seder ha-dorot mi-talmide ha-Bescht, S. [47]; Walden, Qehal chassidim, Bl. 30a. Vgl. auch »Die Streitenden«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 272 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [275]). 195,16-17 »Gott schaut nicht auf den bösen Teil,« sagte ein anderer, »wie dürfte ich es tun?«] Nicht nachgewiesen. 195,19-20 »Wer über einen Menschen das Urteil spricht, hat es über sich gesprochen.«] Nicht nachgewiesen.

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195,21-22 »Du hast noch nie den Sinn der Sünde […] gebrochenen Herzens.«] Die Worte sind an Rabbi Jechiel Michal von Zloczow gerichtet. Bodek, Mifʿ alot ha-tzaddiqim, S. 33. Vgl. auch »Die schwere Buße«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 249 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [234]). 195,31-34 »Sussje, Sussje, du Arger […] wohin nun mit dir?«] Jaakob Kidner, Sippurim nora’im, Munkatsch 1912, Bl. 19b-20a; Mosche Kleinman, Mazkeret schem ha-gedolim, S. 64; Var. Diener, Menorat zahav, S. 131. Vgl. auch »Sussja und der Sündige«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 381 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [443]). 195,41-196,11 Vor den kam einmal ein Weib […] ein Weib.«] Dem Rabbi Abraham Jehoschua Heschel von Apta zugeschrieben. Vgl. Walden, Qehal chassidim, Bl. 57b; Menachem Mendel Bodek, Ma’ase tzaddiqim, Lublin 1899, S. 40 f. Vgl. auch »Die Wende«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 567 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [741]). 196,15-16 »Die im Paradies […] in dieser Welt.«] Elimelech von Lisensk, Noʿ am Elimelekh, Lwow [Lemberg] 1788, Bl. 27a. 196,18-21 »Wie könnt ihr von mir sagen, […] Menschensöhnen?«] Schelomo ben Dow Zwi Rabinowitz von Radomsk, Tif ’eret Schelomo, Warschau 1867, I, Bl. 102a. 196,24-27 von Rabbi Sussje, der […] Lohn empfing.] Kidner, Sippurim nora’im, Bl. 22a; Mosche Kleinman, Mazkeret schem ha-gedolim, S. 65; Meschulam Sissel ben Elieser Lipman von Hanipol, Butzina qaddischa, Piotrków [Petrikau] 1912, S. 24 f. Vgl. auch »Sussja und die Vögel«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 386 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [452]). 196,30-32 »Dir ist kein Ding […] ist das Leben Gottes.«] Nicht nachgewiesen 196,35-197,3 »Du weisst, dass nicht zwei Kräfte […] vor zu besitzen.«] dem Rabbi Berisch von Uschpitzin zugeschrieben, Zinger, Seva’ ratzon, S. 15. 197,5-6 Als ein Vater […] »Ihn mehr lieben«.] Friedman, Peʾ er li-jescharim, Bl. 6a; Schapiro, Midrasch Pinchas, Bl. 34a. Vgl. auch »Mehr lieben«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 233 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [206]). 197,18-22 »Wenn ein Mensch sieht […] zu zwingen.«] Friedman, Peʾ er li-jescharim, Bl. 6a; Schapiro, Midrasch Pinchas, Bl. 34a. Vgl. auch »Mehr lieben«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 233 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [206]). 197,20 Wagen der Gottesglorie] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 478.

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197,23-26 Dieser Rabbi Rafael […] uns weit sein.«] Schapiro, Midrasch Pinchas, Bl. 27a. Vgl. auch »Mehr lieben«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 233 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [206]). 198,4-7 »Wenn ein Mensch singt […] der Verbindung.«] Dem Rabbi Pinchas von Korez zugeschrieben, Schapiro, Midrasch Pinchas, Bl. 13a. Vgl. auch »Singen zu zweien«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 229 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [194]). 198,11-27 Drei Männer sassen einst […] er alles sehe.«] Dem Rabbi Ssimcha Bunam von Pžysha zugeschrieben. Schelomo Gabriel Rosental, Hitgallut ha-tzaddiqim, Warschau 1901, S. 67 f.; Berger, Simchat Jisraʾ el, S. 54. Vgl. auch »Die drei Gefangenen«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 742 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [1052]). 198,39-199,3 »Es gibt keine Eigenschaft, […] nur du allein.«] Walden, Qehal chassidim, Bl. 53a; Mosche Kleinman, Or jescharim, Warschau 1924, S. 208; Israel Berger, Eser tzachtzachot, Piotrków [Petrikau] 1909, S. 52 f. Vgl. auch »Die gute Gottesleugnung«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 538 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [705]). 199,26-33 Rabbi Mosche Leib erzählte: […] tragen ihr Leid.«] Walden, Qehal chassidim, Bl. 53a; Bodek, Maase tzaddiqim, S. 35; Berger, Eser tzachtzachot, S. 52. Vgl. auch »Wie der Sasower die Liebe lernte«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 533 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [696]). 200,1-5 »Wenn ein Mensch […] mehren wollen?«] dem Rabbi Schmelke von Nikolsburg zugeschrieben. Abraham Chajim ben Gedalia von Złoczów, Orach la-chajjim, o. O. [Berdytschiw?] 1817, III, Bl. 7a; Schmuel Hurwitz, Schemen ha-tov, Piotrków [Petrikau] 1905, S. 18. Vgl. auch »Das Gebot der Liebe«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 313 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [334]).

Der Werwolf Quelle: (alle Quellenangaben zu Die Legende des Baalschem folgen: Urban, Aesthetics of Renewal, S. 167 f.) Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht (Grözinger), Hebr. Nr. 7, 8, 9 / Jiddisch Nr. 6, 7, 8. Variantenapparat: 202,2-3 Als Rabbi Elieser, […] das Sterben überkam […] dem Tod willig] Als über den alten Rabbi Elieser, […] das Sterben kam, gab er ohne Widerstreit dem Tod D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

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202,4 des Drangsals] der Drangsal D14, D15, D16 202,6 alten] trüben D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,6 vollendeten] [letzten] ! abendlichen h4 202,6-7 , die mit der Begier […] gewärtig waren] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,7-8 schmale Köpfchen] Haupt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,8 wie ein Ruf aller Tiefen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,13 der Dunkle] der Widersacher D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,14 an der Vollbringung, an jeder Wende] an der Wende, an der Vollbringung D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,14-15 im Gesichte des Schattens und im Gesichte des Lebendigen] im Schatten des Traums und im lebendigen Fleisch D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,15-16 Er ist die Schale, die du zerbrechen sollst.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,15 zerbrechen] zerschlagen D8, D9, D10, D12 202,19 aufgehen] zerstieben D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,19 deinen Gewalten] deiner Gewalt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,20-21 umringen wird mit Fluten weichen Düsters] umringen wird mit zäher Finsternis D8, D9, D10, D12, D14, D15 mit zäher Finsternis umringen wird D16 202,20-21 weichen Düsters] [wüsterer Flamme] ! weichen Düsters h4 202,23 ein Sieger] Sieger D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,23-24 Und dieses wisse, dass deine Seele ein Erz ist] Denn wisse, deine Seele ist ein Erz D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,24 zersplittern] zermalmen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,25 Dunkeln] Widersacher D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,27-29 und es war […] bestimmt ist] mit offenen staunenden Augen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,33 lauten Enge sehr abhold] lärmenden Enge abhold D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,35 grossen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,36-37 so sicher vertraut bewegte, als wäre es das Haus seiner Geburt] vertraut bewegte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,37 alsdann unter] dann mit D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 202,39 Sprechgesang] singenden Rhythmen h4 203,1 erfanden] fanden D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,2 den Wilden] [das wilde Kind] ! den Wilden h4 das verwilderte Geschöpf D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,2 ganz und gar vergeblich] ganz vergeblich D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

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Einzelkommentare

203,3 ungeschaut und ungefragt und lebte mit] ungefragt in der Wildnis und wuchs unter D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,5 Als er zwölf Jahre hatte] Mit zwölf Jahren D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,7 etwas Wundersames] eine merkwürdige Verwandlung D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,8-9 Ihre Knaben […] verwandelten sich.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,9 müden Schritt] müden Schritt, alle Glieder müde von dem schweren Hocken in der Schule h4 203,10 singenden und jubelnden Zug] Zug strahlender, lebendiger Gotteskinder singend und jubelnd h4 203,10 und jubelnden Zug] Kinderzug D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,12-13 Die Kinder […] Köpfe] Sie senkten nicht mehr die armen, kleinen, von den dunstigen Wolken der Wortweisheit umdrohten Köpfe h4 203,12 Kinder] Knaben D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,12 die kleinen] wie vordem die blassen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,13-14 Blumen und grüne Zweige […] regierten die Welt.] Sie jubelten und trugen Blumen und grüne Zweige in den Händen. D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,15 Da entbrannte in ihnen die Andacht] Da war die selige Andacht in den Kindern entzündet h4 Die Andacht entbrannte in ihren Herzen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,17 wie ein enger Panzer] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,17 durchbrach] brach D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,18 ewiger] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,20-21 war wie die rosenglühende Dämmerung eines kommenden Reiches] wie die morgenrote Dämmerung eines kommenden Reiches war D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,22 dunkle Geist] Widersacher D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,22 Bangen] Bangigkeit D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,22-23 stieg, nächtig und schwer,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,23-40 bis in die Himmel […] Höhle des Tieres] bis in die Himmel. Da erhob er Klage über das, was unten sich zu ereignen begann und ihn um sein Werk betrügen wollte. Er begehrte {entfesselt niederzusteigen D8, D9, D10, D12 niedersteigen zu dürfen D14, D15, D16}, dass er sich messe mit dem allzufrühen Boten, und fand Gewährung. / So liess er sich nieder und mischte sich unter die Geschöpfe der Erde. Er bewegte sich unter ihnen, belauschte sie, prüfte und wog, aber lange war da keines, das zu seinem Unterfangen bestanden hätte. / Zuletzt

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fand er in dem Walde, in dem Israel die Tage seiner Kindheit verlebt hatte, einen Köhler, einen scheuen Gesellen, der Gut nicht von Böse schied und den Menschen auswich. Er musste sich zu Zeiten des Nachts in einen Werwolf verwandeln und strich auf entlegener Strasse von ferne um die Höfe, fiel wohl ein Tier an und jagte einem späten Wanderer Furcht ein, doch hatte er keinem je Leids getan. Sein einfältiges Herz wand sich unter dem bittern Zwang, zitternd und widerstrebend lag er im Gebüsch verkrochen, wenn die Sucht ihn ankam, und konnte ihr nicht entfliehen. So fand der Widersacher eines Nachts ihn schlafend, schon dumpf und zuckend vor der nahen Verwandlung, und erachtete ihn geeignet und gerecht zu seinem Werkzeug. Er griff ihm in die Brust und entnahm ihr das Herz, barg es in der Erde und legte der Kreatur sein eignes in den Busen, Kern aus dem Kerne der Finsternis D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 203,24 harter Bewegung] [wilder und] harter Bewegung h4 203,25-26 um sein Werk] [vor dem Ende seiner Zeit] um sein Werk h4 203,37 ein hohles Ungeheuer] [den Werwolf] ! ein hohles Ungeheuer h4 203,41 Als Israel […] Wiesen führte] Als Israel um Sonnenaufgang die singenden Kinder im weiten Bogen über die Wiesen rings um das Städtchen führte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 204,1-2 aus dem Walde […] und mit schaumtriefendem Munde] aus dem noch nächtigen Wald und fuhr in seiner fahlen Ungestalt mit schaumtriefendem Mund D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 204,2-205,3 Einige Knaben […] Herz gesehen hatten] Die Kinder {flohen D8, D9, D10, D12 stoben D14, D15, D16} nach allen Richtungen auseinander, einige fielen besinnungslos zur Erde, andre klammerten sich jammernd an ihren Führer. Das Tier entschwand indes und kein Ungemach geschah. Israel sammelte und tröstete die Kleinen, doch brachte der Vorfall grosse Verwirrung und Bangigkeit über die Stadt, zumal mehrere der Kinder vom Schrecken in ein heftiges Fieber verfielen, in angstvollen Träumen glühten und in die verdunkelten Stuben stöhnten. Keine Mutter entliess ihr Kind mehr auf die Gasse und niemand wusste sich Rates. / Da kamen die Worte des sterbenden Vaters über den jungen Israel und gewannen jetzt erst ihren Sinn in seinem Herzen. So zog er von Haus zu Haus und beschwor die verzagten Eltern, sie möchten ihm die Kleinen wieder anvertrauen, denn er sei gewiss, sie vor dem Unhold zu bewahren. {Und es war eine so hohe Kraft in seiner Rede D8, D9, D10, D12 In seiner Rede war eine so hohe Kraft D14, D15, D16} und ein so heller Schein der Treue auf seiner Stirn, dass keiner ihm widerstreben konnte. / Nun scharte er die Kin-

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der um sich und sprach zu ihnen wie zu den Grossen, und mächtiger noch, und die scheuen Seelen gingen ihm weit auf. Er führte sie wiederum zu früher Stunde auf die Wiese, hiess sie da {verharren und seiner warten D8, D9, D10, D12 seiner warten D14, D15, D16} und ging allein dem starren Walde zu. Und eben da er herantrat, brach das Tier hervor, stand vor den Bäumen und wuchs riesenhaft vor seinem Auge, wuchs in den Himmel, deckte den Wald mit seinem Leib und die Flur mit seinen Tatzen, und der blutige Geifer aus seinem Munde floß um die aufgehende Sonne. Israel aber wich nicht, denn das Wort der Todesstunde war mit ihm. Und ihm geschah, als gehe er weiter und weiter und dringe in den Leib des Werwolfs ein, denn da war kein Halt und Hindernis seinem Schritt, bis er vor das dunkle und glühende Herz kam. Es war rund und brennend vor ihm, in seinem düstern Spiegelrund war alles Wesen der Welt aufgesogen und alles Wesen der Welt wurde von ihm zurückgeworfen, gefärbt von einem so inbrünstigen Hass, dass dem Knaben Israel nur die Tiefe der Gottesliebe in den Sinn kam, als er nach einem Gleichnis suchte, um von dem Übermass nicht bezwungen zu werden. Und da war es in seine Hand gegeben. Er stand und hielt das Herz in seinen Händen und schloss seine Finger fest darum. Da aber fühlte er es zucken, sah Tropfen niederrinnen und spürte das unendliche Leid, das darin war, von je und für immer. Jetzt gab er es frei, legte es sacht auf die Erde, die es sogleich einschlang, fand sich ganz allein am Waldesrand, atmete auf und kehrte zu den Kindern zurück. / {Untertags D8, D9, D10, D12 Unterwegs D14, D15, D16} fand man den einsamen Köhler tot am Waldesrand liegen. Die ihn antrafen, staunten über die Friedseligkeit in seinem Angesicht und verstanden die Scheu nicht mehr, die sie vor ihm getragen hatten, denn im Tode war er wie ein grosses ungeschlachtes Kind anzusehen. / Die Knaben aber vergassen ihr Singen von dem Tage an und begannen ihren Vätern und den Vätern ihrer Väter sehr zu gleichen, als sie heranwuchsen, und gingen sie über Land, so beugten sie das Haupt zwischen den Schultern, wie jene getan hatten D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 204,2-3 brennender] [fiebernder] ! brennender h4 204,7 versperrt] [verschlossen] ! versperrt h4 204,8 In Israel aber erwachten] [Da erwachten in Israel] ! In Israel aber erwachten h4 204,16 hinauszog] [zur Wiese zog] ! hinauszog h4 204,18 Seelen] [Herzen] ! Seelen h4 204,32 umpresste es mit seinen Fingern] legte seine Finger fest darum h4

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Der Fürst des Feuers

Der Fürst des Feuers Quelle: Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht (Grözinger), Hebr. Nr. 15, 16, 17 / Jiddisch Nr. 15, 16. Variantenapparat: 206,3 nahen Tode] Tod D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,4 ihnen] diesen Büchern h5.1 206,4 unaussprechlichen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,5 das Triebwerk […] befohlen hatte] den Gang dieser Welt gegriffen und ihre Räder nach seinem Sinne hatte gehen lassen h5.1 206,6-7 Wohl war] Nun hatte Rabbi Adams Weib h5.1 206,8 und Blüte] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,8 Blüte] Blüte geworden, aber der Geist des Vaters war ihm nicht auferstanden h5.1 206,9 und bitter] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,9-10 ihm an vielen Tagen seines Willens hohe Kunst] ihm an vielen Tagen die hohe Kunst seines Willens D8, D9, D10, D12 die hohe Kunst seines Willens D14, D15, D16 206,10 in Ewigkeit] fehlt D14, D15, D16 206,11-12 im hohen Sommer der schwellenden Seelenkraft] im Sommer seiner Kraft D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,11 hohen Sommer] hohen, glühenden Sommerstand h5.2 206,13 darob] fehlt D14, D15, D16 206,13 dem Unnennbaren] dem da oben h5.1 206,13 Weltenspiel] Spiel D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,14 mit einem Lächeln] mit bewegtem Lächeln h5.1 mit [bewegtem] ! [stillem] ! einem Lächeln h5.2 fehlt D14, D15, D16 206,14-15 kleines, keckes] keckes D14, D15, D16 206,15 Unterfangen] [Spiel] ! Unterfangen h5.1 206,16 schwer und widerspenstig] widerspenstig D14, D15, D16 206,17 bleiern und lastend der tiefen Schlucht des Schlafes] lastendem Schlaf D8, D9, D10, D12 dem Schlaf D14, D15, D16 206,18 Und damals wurde sein Sinn milde] Damals wurde sein Sinn {besänftigt D14, D15 gesänftigt D16} D14, D15, D16 206,19-20 , die über den Welten leuchten] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,20-21 aus Herzblut geborene] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,21-22 meiner Gewissheit und meiner Mächte] meiner Mächte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,22 Und oftmals] Oftmals D14, D15, D16

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Einzelkommentare

206,23-24 kam die Antwort und war über ihm] wurde ihm geantwortet h5.1 206,24 und war über ihm] fehlt D14, D15, D16 206,26 alsbald] danach D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,26 fühlte er] fühlte er mit stillem Verstehen h5.1, h5.2 206,27 sacht] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,28-29 geheimnisreichen] geheimnisvollen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,29-30 , darauf jedes Zeichen […] konnte] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,29-30 Vorbestimmten ein Schlüssel] Vorbestimmten der Macht ein Zeichen h5.1 206,30 Gewalten] überirdischen Gewalten h5.1 206,31 begann] anhub h5.1 206,31 ferne Schmerz vergangener Tage] Schmerz der vergangenen Tage D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,32-33 und drückte ihm […] ihr entrissen] fehlt D14, D15, D16 206,33 entrissen] entrangen h5.1 206,34 das Leid] ihn h5.1 206,34-35 und sprach] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,35-36, denn die Wurzel seiner Seele ist ihm eingeboren] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,37 bereit sich weist] sich bereit weist D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 206,40 geschmiedet] wunderbar geschmiedet h5.1 207,1-3 Darnach, als eine kleine Frist […] der Welt] Nach einer kleinen Frist verschied der Alte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,2 Dauer] Zeit h5.1 207,2-3 sacht von den dürftigen] sanft von den alten, dürftigen h5.1, h5.2 207,4 abgestorbenen Teil] leiblichem Teil h5.1 Totes h5.2 207,4 mit heiligen Ehren] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,5 wiederum anheimgegeben] anheimgegeben D8, D9, D10, D12 überliefert D14, D15, D16 207,5 trug in Treuen das letzte Geheiss] entsann sich in Treuen des letzten Geheisses h5.1 207,5 in Treuen] getreulich D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,7 willig und fügsam] fügsames D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,8 machtreichen] heiligen h5.1 [heiligen] ! [mächtigen] ! machtreichen h5.2 fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,8 fast] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,9 der väterlichen überlassen] an die des Vaters [gekettet] ! [hingegeben] ! überlassen h5.1

Der Fürst des Feuers

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207,12 wandte er es unterwegs im Bedenken] bedachte er unterwegs D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,12 im Bedenken] überlegend hin und wieder im Bedenken h5.1 207,13 bestelle] anstellen müsse D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,13 zu finden] zu finden und zu erwerben? h5.1 207,15-16 Wundertätigen] großen Zaddik h5.1 [großen Zaddik] ! Wundertätigen h5.2 207,16 in vielen Ehren] mit nichten karg in Ehren und Ansehen, jedes Haus tat sich ihm auf h5.1 mit Ehren D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,17 Erwählten der Macht] Erwählten des Vaters h5.1 Erwählten der [geheimen] Macht h5.2 Erwählten D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,20-23 wiewohl dieser sich […] geborgen wurde] obwohl sich der Knabe {in harmloser Art und D8, D9, D10, D12} so einfältig als ob es seinem Alter anstand unter den Augen aller bewegte, erriet der Forschende doch alsbald, daß dieser Unmündige {eine heimliche Gnade D8, D9, D10, D12} in seinem kindischen {eine heimliche Gnade D14, D15, D16} vor der Neugier der Welt verberge D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,22 Gnade] Tiefe h5.1 207,22 in Einfalt] wunderbar bewußt h5.1 207,23 seines Herzens] seiner Seele h5.1 207,23-24 im Rate seines Herzens, dem Kinde nahe zu kommen] sich dem Kinde zu nähern D8, D9, D10, D12 sich ihm zu nähern D14, D15, D16 207,24 Dieses Sinnes begab er] Er begab D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,26 , dem lauten Tag enthoben,] fehlt h5.1, D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,27 möchte] möge, denn das Haus, das ihn bislang X, liegt allzusehr dem Lärm des Tages bloß h5.1 207,27 möchte. Desgleichen heischte er, dass] möchte, und dass D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,28 damit er ihm zur Hand sei in all seinem Bedürfen] damit er ihm zu Hand sei D8, D9, D10, D12 fehlt D14, D15, D16 207,29 Gemeindevorsteher] Vorsteher D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,29-30 wohl zufrieden […] reiche Ehre] zufrieden und erachteten es als eine Ehre für den jungen Israel D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,30 als eine gar reiche Ehre] keine X Ehre h5.1 207,30-31 Gewaltigen gesellt zu sein] gewaltigen Zaddik gesellt zu sein, zum Frommen seiner Seele h5.1 207,32 Der aber] Der Sohn des Rabbi Adam aber h5.1, h5.2 207,32 das Gebaren] das Gebahren und den Schein h5.1 den Anschein D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,32 zutiefst] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

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Einzelkommentare

207,32-33 das Wesen] ein heiliges Wesen h5.1 207,33-34 alles Ereignis […] Sonnentanz] seiner Umgebung nicht D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,33 Ereignis] Geschehen h5.1 207,34-35 Dessen war der Knabe sehr froh] Darüber war der Knabe von Herzen froh D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,35-41 und liess nicht […] Gewissheit gewärtig] denn so konnte er sich nach seiner Gewohnheit in jeder Nacht, wenn man ihn im tiefen Schlafe wähnte, von seinem Lager erheben und sich {in die Lehre versenken D8, D9, D10, D12 der Lehre ergeben D14, D15, D16}. Bald jedoch hatte der junge Rabbi dies {sein heimliches Wesen D8, D9, D10, D12} erlauscht und war nun nur noch des rechten Augenblicks gewärtig, ihn zu prüfen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 207,35-36 , die also war, dass er] fehlt h5.1 207,36-37 erheben pflegte, um der Weisheit anzugehören] erheben und viele Stunden voll tiefen Ernstes sich der heiligen Weisheit hinzugeben h5.1 207,38 Gehabe] Gehabe und Schmerzen h5.1, h5.2 207,38-39 , das sich […] erheben mochte] fehlt h5.1 207,41 gewärtig] gar nahe h5.1 207,41-208,1 erschöpft von der […] seines Geistes] fehlt D14, D15, D16 208,1 sehnsüchtigen] fehlt D8, D9, D10, D12 208,1-2 warf und seinem Alter gemäss einem tiefen Schlaf verfiel] geworfen hatte und sogleich dem Schlaf verfallen war D14, D15, D16 208,3 zauberreichen Schriften] geheimnisreichen Schriften h5.1 Zauberschriften D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,3-4 auf des Schläfers Brust] ihm auf die Brust D14, D15, D16 208,4 Ruhebett] Bett D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,5 lauschend] fehlt D14, D15, D16 208,5 des schweigsamen Harrens] etwa D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,6 unruhvoll] unruhig D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,7 geheimnismächtigen] mächtigen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,8 Bann des Schlafes aufriss] Schlaf erhob D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,9 , das des Nachts in der Kammer glomm,] fehlt h5.1, D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,10 versenkte] vertiefte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,10 Und dem Beschauer] Dem Beschauer D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,11 indem] während D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,11-14 , und das Kind selbst […] sprengen schien] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

Der Fürst des Feuers

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208,15 Israel barg] Endlich barg Israel D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,15-16 wie beladen von einer urgeheimen Last] wie von einer Last beladen D8, D9, D10, D12 fehlt D14, D15, D16 208,16 urgeheimen Last, taumelte] gewaltigen, urheimlichen Last, wankte h5.1 208,16 er dem Lager aufs neue] er seinem Lager D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,16-17 , der unduldsam heischenden Natur […] gehorchend] und gewährte der unduldsam heischenden Natur seines Körpers aufs Neue einen kurzen Schlaf h5.1 fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,17 Der Rabbi] davor Absatzwechsel D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,17-18 aber erlahmte] versäumte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,18-21 zu allen Stunden […] toten Meisters] und als er die Gewißheit erlangt hatte, zögerte er {nimmer D8, D9, D10, D12 nicht länger D14, D15, D16}, rief den Knaben zu sich und eröffnete ihm die Sendung D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,19-20 war er der Wahrheit] war er in seinem Herzen der Gewißheit h5.1 208,20 Knaben] jungen Israel h5.1 208,21 Meisters] Zaddiks und legte die Schriften in seine Hände h5.1 208,22 unseres Sternes] der Welt h5.1 [der Welt] ! [der Erde] ! unseres Sternes h5.2 208,22 vergänglichen] sterblichen h5.1, h5.2 208,23-25 Siehe, nur wenige […] unvergessen –, hatten es] Wenige nur hatten es D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,23-24 mit ihrem Geist] [hoch in die obern Welten] ! mit ihrem Geist h5.1 208,25-26 gleich einem verschwundenen Königsschatz] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,26-27 Urstrom […] menschlichen Geist] dem Urwort der Wahrheit und Gewalt eine menschliche Seele h5.1 208,27 der Schauung und der Kraft] der Kraft D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,28 Wisse, mein Vater] Mein Vater D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,28-29 einer Bestimmung, deren Ursprung mir verborgen ist] geheimer Bestimmung D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,29 Ursprung] Ursprung und Quell h5.1 208,30-31 um dessen willen, […] zu bieten,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,34-36 , denn du und ich […] als bislang] als du und ich D14, D15, D16 208,36 stimmte ihm bei] war X einverstanden h5.1, h5.2

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Einzelkommentare

208,37 mehr sichere Hut werde] gesichert sei D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,38 still entlegenes] entlegenes D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,39 völlig unvermutete Huld] wunderbare Gnade h5.1 unvermutete Huld D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,40 den Schutz eines Geistes] seinen Schutz D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,41-209,4 da sie den Knaben […] gefunden habe] da sie es nicht anders zu deuten wußten, schrieben sie es dem Verdienst seines Vaters Elieser zu {dass der gelehrte Mann an ihm Wohlgefallen gefunden habe D8, D9, D10, D12} D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 208,41-209,1 denn des Heiles unbedacht] denn unbedacht und unbekümmert um die heiligen Dinge h5.1 209,5 Dermassen] So D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,5-7 in der die Stimme […] Gestalt gewann] vor der die Stimmen der Erde verstummten D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,6 die Stimme der Erde] [Menschenlaut] ! die Stimme der Erde h5.1 209,7 Denn aus] Aus D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,7-8 stieg ein Glanz auf] stieg ihnen ein Glanz tiefer Welten auf D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,8 ein berauschender Atem] eine berauschende Würde h5.1, h5.2 209,8-11 ein berauschender Atem […] festhalte] eine nie verspürte Süßigkeit des Geistes, an der sie sich sättigten, so dass sie von irdischer Speise nur so viel sich gönnten, als der Leib bedurfte, um die flüchtige Seele an sich zu bannen D8, D9, D10, D12 eine nie verspürte Süßigkeit des Geistes D14, D15, D16 209,11 festhalte] festhalte in der Wonne ihrer neuen Erkenntnisse h5.1 209,12 Es war der junge Israel] Der junge Israel D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,12-16 , der voll lauterer Fröhlichkeit, […] die Sonnenglut] gab sich lauter und ohne Hinterhalt den wunderbaren Schriften hin und nahm ihr Wesen auf, wie ein Schwamm im Wasser sich vollsaugt oder ein Stein sich an der Sonnenglut erhitzt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,14 Schriften] heiligen Schriften h5.1 209,16-17 Also warf er sich […] Urlaub.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,17 Gier] Wollen h5.1 209,19-21 Desgleichen […] keineswegs auf die Dauer] Es gefiel ihm auf die Dauer nicht D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,21 ewiglich] etwa D8, D9, D10, D12 fehlt D14, D15, D16 209,21 Entzückung] tiefen Entzückung des Geistes allein h5.1

Der Fürst des Feuers

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209,22-23 verharren, da die Worte […] er begehrte] verharren. Er begehrte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,23-25 Dinge […] im Kopfe zu erwägen […] seltsam genug […] aufstiegen] Kunde […] zu erwägen […] seltsam […] aufstieg D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,26-27 , die ihm nottaten und wohlgefielen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,27-28 war eng und beklemmt und] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,28 schaute] blickte h5.1 209,28 kümmerlich und zag] kümmerlich D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,29-30 sagte eines Tages: »Bruder, […] deine Blicke?«] sagte: »Was heischen deine Blicke, mein Bruder?« D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,31 aus dem Grunde] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,32 also vom Zweifel und Wägen] so D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,32-34 deine, also jung und heil […] Aber siehe,] deine! Aber D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,33 heil] heil und glatt h5.1 209,33 wiegen] baden h5.1 209,34 Wonne] Wonne und deiner Seeligkeit teilhaftig sein h5.1 209,34 deinen Sinn] deiner Seele h5.1 209,35 zur Paradiesesruhe] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,35 nagt und frisst] frisst D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,35 einer beissenden] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,36-37 sind viele Gedanken […] in mir] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,37 hin und wieder] hin und her D14, D15, D16 209,38 stille schweigen] schweigen D14, D15, D16 209,38 Und in den Reichen ist] Es ist D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,38 in den Reichen] unter allen h5.1 209,39 heischenden] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 209,41-210,1 Da erschrak der Knabe Israel […] reinen Wesen] Der Knabe Israel erschrak D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,1 empörte sich aus seinem reinen Wesen] stand auf aus dem reinen Grunde seines Wesens h5.1 210,2 rief er aus] rief er D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,2-3 Noch blendet mich […] Stunde nicht, sie] Noch ist die Stunde nicht, die Waffen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,4 Da versank der Rabbi schweigend und] Der Rabbi versank davor kein Absatzwechsel D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,5-7 sich heftig erbarmte […] eigene Scheu] im heftigen Erbarmen die eigene Scheu besiegte D14, D15, D16

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Einzelkommentare

210,7 hiess den Rabbi sich rüsten] den Rabbi sich rüsten hieß D14, D15, D16 210,8 gefahrenreichen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,8-9 Um die Kawwana] davor Absatzwechsel D14, D15, D16 210,10 niederzuzwingen] zu zwingen D14, D15, D16 210,11-12 einem Gedanken oder] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,13-14 verharren, die Seele gänzlich gelöst von jeglichen Banden] verharren D8, D9, D10, D12 verweilen D14, D15, D16 210,15-16 Fenster, dass kein Menschenblick […]. Alsdann tauchten sie] Fenster. Alsdann tauchten sie D8, D9, D10, D12 Fenster. Sie tauchten D14, D15, D16 210,17-19 alles Unreine […] durch Speise] hernach fasteten sie von Sabbat Abend zu Sabbat Abend D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,20 letzten Inbrunst] gewaltigen letzten Inbrunst h5.1 210,21-22 und zuckenden Mundes […] starre Dunkel] {die zwingende Formel D8, D9, D10, D12 den Bann D14, D15, D16} in das Dunkel D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,21 der Angst] ungeheurer Angst h5.1 210,23 zur Erde und schrie] zur Erde, sich schmerzlichst in immerzu schreckenvollen Gesichten und schrie h5.1 210,23-24 Wehe, wehe] Wehe D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,24-211,4 So ist ob der fehlbelasteten […] starr zu Boden] Die gedruckte Fassung liegt in Bubers Handschrift auf zwei gesonderten Seiten vor. Die ursprüngliche Fassung in Paula Bubers Handschrift, mit Streichungen und Ergänzungen Bubers versehen: Wehe, ich sehe hihn, des Wächters Bruder und Nachbarn,i den Fürsten des Feuers, der zürnt und sich erhebt, niederzusteigen, damit er Verwirrung und sehrenden Brand [in die Geister] ergieße! Eile Du Bruder, eile zur Stadt! [Auf Dich werden sie hören, die in X X X X.] Wecke sie, damit sie wehrhafter Seele, vereint nicht zaudern, wider den Verderber zu streiten.« Und siehe, als der Rabbi fliegenden Fußes zur Stadt kam, traf er auf eine große Verstörung unter den Seelen allenthalben. [Viele standen ratlos in den Straßen, man hörte] ! In den Strassen standen und liefen die Erfassten in greller Verwirrung und aus den nächtlichen Häusern hhörte mani Schreie, die der Alpdruck bangen Schläfern erpreßte. Alle insgesamt hatte eine schwere, [rätselhafte, unerklärliche] ! rätselvolle Angst überfallen, selbst die kleinsten Kinder wimmerten verglasten Auges in ihren Wiegen schreckhaft vor sich hin. Über allem lag ein rostfarbener glühender Himmel, die Steine auf den Straßen schienen sengende Trockenheit auszuhauchen, obgleich man früh im Jahr war und die Menschen vor einigen Stunden friedlich in einer friedlichen Abendluft sich zur Ruhe gelegt.

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[Und nun waren sie es zufrieden, daß der Rabbi] ! Gern liessen sie sich von dem Rabbi aus ihren einsamen Nachtwachen und Beklemmungen hinweg zum Bethause führen. Dort vereinten sich alle [die zaghaften, X Herzen] zu einer stürmischen Wehr, den fernzuhalten, der in dieser trostlosen Nacht die Stadt mit seinen dunkelglühenden Schwingen bedeckte. Gegen Morgen erst wich die Pein von ihnen, und als sie hinaustraten, spannte sich der gleichmütige Himmel wie immer über ihnen. / Der Rabbi achtete sie hinfür rätselvoller Dinge fähig. Sein Herz aber war mit Finsternis geschlagen mehr denn zuvor. Er lag dem jungen Israel mit deutlichen Bitten härter an, [er möge noch einmal die Beschwörung versuchen. Er selbst würde die Kawanna rein erhalten, die X geläuterte Seele mit unerhörter Inbrunst entheben?] ! die Beschwörung noch einmal wagen, bis Jener sich zum andern Male in den Wunsch des Genossen ergab. Wieder bereiteten sie sich und das Haus. In der bestimmten Nacht standen sie Beide, der eine von Wunsches-Glut und Entbehrung fast verzehrt, der Knabe aufgelöst in ein Beben heiliger Scheu. Die Worte, den erhabenen Geist niederzubannen, stiegen wiederum auf. Alsbald jedoch, da er sie kaum dem zitternden Munde enthaucht hatte, fühlte Israel ein bitteres Brennen in der Seele, das der schaurigen Erkenntnis voranging, daß auch dieses Mal die Kawanna fehlbelastet den Ruf nicht hatte zum Ziel getragen und seine Inbrunst des Bösen Beute geworden war. »Freund«, sagte er in Thränen, »faß all Dein Besinnen zusammen, es ist aus dem Munde des Zürners und der Galle ein Verhängnis ausgegangen und schon fühl ich es die Luft in unseren Kammern zum Ersticken anfüllen. Wisse, wir sind in Todes Hand gegeben, wenn unser Lid sich senkt, verfallen wir der hfeurigeni Tiefe [ohne Ende]. Und es gibt nur eine Rettung, daß wir wachen, wachen und streiten ohne Unterlaß bis zum Morgen«. Sie warfen sich nieder und sammelten starke Worte in ihrer Seele und riefen den Geist zum Sturm auf, also daß das Herz in der Brust ihnen flatterte vor Ungestüm, und sie beschworen mutige Bilder vor ihr Auge, auf daß sie dem Träumen nicht verfielen. Süße Lockungen der Ruhe stiegen aus der Luft auf und wurden stärker und sanft bezwingend wie Sommermittagsmüde als die Morgendämmerung näher kam, ein X Frost schüttelte ihre müden Glieder. Da konnte der Rabbi nimmer standhalten, lehnte das Haupt gegen die Mauer und schlief ein. Der Knabe [selbst, im Kampfe schier bezwungen,] bemerkte es, sprang auf, rüttelte den Schläfer, rief und bat, allein der Rabbi hlag mit geschlossenen Augeni entfiel seinen Armen und schlug steif und starr zu Boden. Da rannte Israel zur Stadt, rief die Leute auf, vorgebend den Rabbi habe

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Einzelkommentare

eine Ohnmacht befallen. Aber die da kamen, fanden einen, der ohne Widerruf dahingegangen war. / Der junge Israel weilte nur ein kleines noch [an dem Orte]. Alsdann zog er nach einem andern Orte, wo er die Kinder lehrte und von beiden geliebt und wohlgelitten war. h5.1 210,25 ob der fehlbelasteten] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,26-27 fühl ich es […] Ich sehe ihn] sehe ich ihn D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,28 dunkelglühenden] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,29-30 , damit er sehrenden Brand […] uns ergiesse] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,30 Wisse, wir sind in] Wir sind in des D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,33-34 sammelten starke Worte in ihrer Seele und] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,34-36 also dass das Herz […] nicht verfielen] auf daß sie dem Schlaf nicht verfielen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,36-37 Eine weiche Glut] Glut D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,39 Müdigkeit] Müde h5.2 210,38-211,4 der Ruhe auf […] starr zu Boden] der Ruhe auf. Gegen Morgen verliess den Rabbi die Kraft des Widerstands und er lehnte sein Haupt gegen die Mauer. Der Knabe rief ihn an, {da hob sich schwer der schon versagende Arm des Rabbis wider Israel, während ein Stammeln dunkler Lästerung aus seinem Munde brach. Da frass die Flamme sein Herz, und der Rabbi sank zu Boden D8, D9, D10, D12 aber der schon versagende Arm des Rabbis hob sich wider Israel, ein Stammeln dunkler Lästerung brach aus seinem Mund. Da zuckte ihm die Flamme ins Herz und er sank zu Boden D14, D15, D16} D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 210,40-41 umzuckte ihn ein tanzender Blitz] [stürzte ein Blitz X in ihn] ! umzuckte ihn ein tanzender Blitz h5.2 211,1 Stammeln dunkler Lästerung] [dunkles Stammeln des Fluchs] ! Stammeln dunkler Lästerung h5.2 211,Anm] fehlt h5.1, h5.2 D14, D15, D16 Wort- und Sacherläuterungen: 206,1 Der Fürst des Feuers] Vgl. Bubers Bearbeitung des Stoffs in »Die Beschwörungen«, in: Die Erzählungen der Chassidim, S. 114-116 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [7]). 206,2 Rabbi Adam] Eine legendäre Figur. Bereits in Prag und Amsterdam erschien im 17. Jh. ein jiddisches Büchlein über diesen Wundertäter, das stark an die Faustlegende erinnert. Vgl. Grözinger, Einführung, in: Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov, Teil I, S. XXI.

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Die Offenbarung

Die Offenbarung Quelle: Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht (Grözinger), Hebr. Nr. 28 / Jiddisch Nr. 31. Variantenapparat: 212,9 ein Stündlein] eine Stunde D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 212,11 verirrter Wanderer] Wanderer D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 212,11-12 schlanken Frau] schlanken braunäugigen Frau D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 212,12 mit braunen und heimlichen Augen in einer stillen Weise] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 212,14-15 einer Stimme, die so hell war […] dem Garten] heller Stimme D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 212,17 Felsen] [Felsvorsprung] ! Felsen h6 212,17 Raum] [seltsamer] Raum h6 Gewölbe D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 212,18 Er war wie eine Stube mit vieler Sonne] Viel Sonne lag D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 212,19 einem schweren Düster] schweres Düster D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 212,19-21 und wölbte sich wild […] emporgeschlagen] fehlt D8, D9, D10, d17, D12, D14, D15, D16 212,21 gesenkte] [dünne] ! gesenkte h6 212,25 wehrte] verschloß sich D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 212,29-30 dem er nahte] [der ihn schaute] ! dem er nahte h6 212,30 , wiewohl nicht unhold,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 212,32-33 Furcht und ein Ehren […] Denn so sanft] Ehrfurcht bei seinem Anblick, so sanft auch D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 212,33 seine dienende] [so still] seine dienende h6 212,33-35 , er erschien ihnen […] grosse Erinnerung] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 212,36-213,5 Er war dreissig […] Gänge lesen.] fehlt d17 212,36-38 flogen zu ihm herbei […] flogen vorüber] waren ihm gekommen, schwer beladen mit Geheimnis, und waren vorübergezogen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 212,40 sahen] schauten D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 212,40 blickten] [guckten] ! blickten h6 213,9 genommen] [geschwunden] ! genommen h6 213,13 wuchs] [wich nicht] ! [schwoll] ! wuchs h6 213,14 Er fühlte] [Widerstrebend und ohnmächtig fühlte] ! Er fühlte h6

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Einzelkommentare

213,15 in der Ferne] in der Ferne [, er erschaute sie in der Luft wie ein Glockentönen vor dem ersten Schlagen] h6 213,15-17 Er sah hinter sich […] ohne Ziel.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 213,18 ringsum auf] berichtigt aus ringsum nach D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 213,19-21 , wie ein Kind […] zu pressen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 213,21 Da schwieg der Befehl, das Schweigen erglühte] Der Befehl verstummte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16, d17 213,22 löste die Stirn aus den umschlingenden Händen und] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 213,25-219,30 An diesem Morgen […] Sabbat mitsammen.] fehlt d17 213,27 des Gespräches] des Gespräches, das er mit ihm gepflogen hatte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 213,29-30 , und fügten sich zueinander […] der Rede] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 213,30 Geschlechtern der Rede] Geschlechtern der Rede [, und erhöhten sich mehr und mehr zu Reinheit und Macht] h6 213,35-36 Da sah er das Haus […] plötzlich an] Wie er nun das Haus mit dem hellen Vorgarten sah, überkam es ihn plötzlich D16 213,36 kam es ihn plötzlich an] überkam es ihn plötzlich D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 213,38 Frau] [schlanke] Frau h6 214,2 langen, festen] [breiten] ! langen, festen h6 214,2-3 mit einem gütigen Lächeln] hmit einem gütigen Lächelni h6 214,6 lichtbraunes] helles D14, D15, D16 214,8-9 dem Rabbi so fein und leise] [ihm in einem fort stiller Weise] ! dem Rabbi so fein und leise h6 214,9 fein und leise] fein D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 214,9 zart] [lautlos] ! zart h6 214,13-14 lächelnden Angesichts] [leichthin, doch mit gehobenem Blick und ruhigen Mundes] ! lächelnden Angesichts h6 214,16-17 leichtfertiges Sagen] leichtfertiges [und sinnloses] Sagen h6 leichtfertige Rede D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 214,21-22 Und er verwunderte und betrübte sich.] fehlt D14, D15, D16 214,22 Und da er sich dennoch] Als er sich jedoch D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 214,25-26 Es hatte aber […] niemals] Bislang aber hatte Rabbi Naftali niemals in seinem Leben D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

Die Offenbarung

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214,30 von unten eine wilde Tiefe herein,] unter ihm eine wilde Tiefe auf, gierig D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 214,31-32 Und über den Rabbi […] spürte er] Der Rabbi fühlte im eigenen Herzen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 214,36 jagenden Kreise] [kreisenden Abgründe] ! jagenden Kreise h6 214,36 der Zerstörung] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 214,37 friedsame Wellen] die Wellen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 215,2 war in seinem Sinne] löste sich aus seinem Sinne D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 215,7 wenn er ihn zum erstenmal sähe] bei seiner ersten Einkehr D16 215,8 die Weihe des Unbegreiflichen über der Seele] der Bann des Unbegreiflichen auf der Seele D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 215,13 begann er den Geschehnissen nachzusinnen] [rief er die Gedanken auf] ! begann er den Geschehnissen nachzusinnen h6 215,17-18 oder seines […] überwältigten Sinnes] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 215,21-22 musste er […] auflachen] [lachte er eine Weile] ! musste er […] auflachen h6 215,22 hell auflachen] auflachen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 215,24 fühlte] meinte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 215,25 hatte einen jungen Mut in seinem Schauen und] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 215,27 dergestalt] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 215,32 Fugen] [Risse] ! Fugen h6 215,33 erbebend] [erschauern] ! erbebend h6 215,36 Und es erschien] [War sein Blick vordem falsch gewesen, oder war] ! Und es erschien h6 215,40-41 da er aufsah, da war] als er aufsah, war D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 216,3 , und es war wie ein Schmelzen und ein Aufgehen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 216,5 zerfloss] zerschmolz D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 216,5-6 weiche Lichtgewebe] flüssige Licht D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 216,7 Kreaturen] [Geschöpfe] ! Kreaturen h6 216,16 zwang] scheuchte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 216,27 neue Ungewissheit und] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 216,29 vertiefte] vertiefte [und verfinsterte] h6 216,30-31 Und der Traum] Der Traum aber D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 216,34 gesichtlose] [wesenlose] ! gesichtlose h6 216,37-217,1 Als er erwachte […] »Ich weiss] Textverlust h6 216,39 wie mit Armen der Seele] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

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Einzelkommentare

216,40 aus ihnen heraus] von ihnen aus D14, D15, D16 217,2 Zeiten] [Stunden] ! Zeiten h6 217,13 Wesen] [Kreaturen] ! Wesen h6 217,15 Als der Rabbi also] Während der Rabbi so D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 217,16-19 ; und eine stille Weile […] die Augen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 217,19 Und das erste, was er sah, war] Als er sie aber öffnete, war das erste, was er sah D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 217,20-24 Und in dem Abgrund […] sinnloses Jagen und Suchen] Aus dem Abgrund stieg die Sonnenscheibe in stummer, langsamer Qual, und viele Bäume und Kräuter brachen aus ihm hervor in einem ewigen, schmerzensvollen Gebären, und viele Tiere liefen und flogen in einem sinnlosen Jagen und Suchen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 217,22 Qual, und das Wachsen vieler Bäume] Qual [und das Rot des Morgenhimmels wie ein]. Und darunter [standen viele Bäume] ! war das Wachsen vieler Bäume h6 217,24 Jagen und Suchen] [Mühen und Hasten] ! Jagen und Suchen h6 217,26 standen in dem Abgrund] waren in dem Abgrund beschlossen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 217,27 ohne Schranke] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 217,36-37 gewonnen hatte in der Stunde davor und in allen Stunden] in der Stunde davor und in allen Stunden gewonnen hatte D16 218,7-9 Und die Sonne litt […] wen es suchte.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 218,10 und sahen] , sie sahen D14, D15, D16 218,13-14 und eine tiefe Welle aus Sinn und Ziel] und alles darin D14, D15, D16 218,17 der Weg] [die Welt] ! [der Blick] ! der Weg h6 218,17-18 , und er erkannte die Schöpfung] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 218,23 schlichtem] [stillem] ! [treuen] ! schlichten h6 218,27 Geheimnis und Heil] [ein Ding] ! Geheimnis und Heil h6 Heil D14, D15, D16 218,28 gesegnet hatte] gesegnet [hatte und das letzte Gebet gesprochen] hatte h6 218,29-30 den Frieden wünschte] [den Wunsch des Friedens zurief] ! den Frieden wünschte h6 218,32 seinem Haupte] [seiner Seele] ! seinem Haupte h6 218,38 Und sah: die Kammer […] Flammen erfüllt] [Die Kammer stand in den Wogen eines dunklen Feuers] ! Und sah: Die Kammer [stand

Die Heiligen und die Rache

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schier in halber Manneshöhe in Flammen] ! war bis zur halben Manneshöhe von Flammen erfüllt h6 219,6 bläulich] [dunkel] ! bläulich h6 219,17 am Körper des Meisters] ham Körper des Meistersi h6 219,19 mehr des Lichtes] [das Licht Herr über das] ! mehr des Lichtes h6 219,28 letzten Tages] sechsten Tages D14, D15, D16 219,30 feierten] [begingen] ! feierten h6 Wort- und Sacherläuterungen: 212,1 Die Offenbarung] Vgl. Bubers Bearbeitung des Stoffs in »Der Baalschem offenbart sich«, in: Die Erzählungen der Chassidim, S. 125-128 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [18]). 213,25 Rabbi Naftali] In der Quelle ein namenloser Diener des Abraham Gerschon von Kutów (gest. ca. 1760), des Schwagers des Baalschem.

Die Heiligen und die Rache Quelle: Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht (Grözinger), Hebr. Nr. 157 / Jiddisch Nr. 167. Variantenapparat: 220,1 Die Heiligen und die Rache] Die Heiligen des Herrn und die Rache d1 220,40-221,1 es war ein tiefes Zwiegespräch] ein tiefes Zwiegespräch war D14, D15, D16 221,13 Mincha beten] das Nachmittagsgebet sprechen D14, D15, D16 221,26 Aber der Rabbi konnte] Der Rabbi jedoch konnte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 221,29 und schaute] fehlt D14, D15, D16 221,29 und stand] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 221,41-222,1 , und sein Wort war wie das Rauschen gewaltiger Flügel] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 222,9 Siehe, es ward] Es ward D14, D15, D16 222,11 gar hohen] sehr hohen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 222,12 machet still] trocknet D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 222,21 das Tal] die Schlucht D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 222,31-32 Wir aber sprachen] Wir aber besannen uns und sprachen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 222,34 im Tale] in der Schlucht D14, D15, D16 222,40-41 und sprach kein Wort] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

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Einzelkommentare

223,1 erfüllte sie] erfüllte sie wieder D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 223,5-13 BILBUL […] Ruhme Gottes.] fehlt D14, D15, D16 223,13 Zur Heiligung […] Ruhme Gottes.] fehlt D8, D9, D10, D12 Wort- und Sacherläuterungen: 220,1 Die Heiligen und die Rache] Die Erzählung in der Quelle beruht vermutlich auf den Ereignissen um den Zhitomirer Ritualmordprozess von 1753, in dem zwölf Juden zum Tod verurteilt wurden. Vgl. Grözinger, Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov, Teil I, S. 261 (Anmerkung 569). 220,2 Bilbul] Vgl. Bubers Erklärung am Ende der Geschichte. 220,14 Mazo] Vgl. Bubers Erklärung am Ende der Geschichte, sowie unter »Mazza« in der Neuauflage von1955, in diesem Band, S. 472 f. 220,23 Heiligung seines Namens] Vgl. Bubers Erklärung am Ende der Geschichte und in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 471. 220,15 Esrog] Vgl. Bubers Erklärung am Ende der Geschichte, sowie unter »Etrog« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 470. 221,15 den Sabbat zu empfangen] »Empfang des Sabbats« (hebr.: Kabbalat Schabbat) ist die Bezeichnung für den Gottesdienst bei Eintritt des Sabbats am Freitagabend. Vgl. Bubers Erklärung unter »Sabbatfeier« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 474. 222,21 Tal Hinom] Bubers Erklärung unter »Hinnom« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 471. 221,31 Rabbi Akiba] Buber denkt hier an den talmudischen Gelehrten und Märtyrer Rabbi Akiba, vgl. S. 223. Laut Grözinger ist in der Quelle einer der im Prozess Angeklagten gemeint. Vgl. Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov, Teil I, S. 261 (Anmerkung 571). 223,11 Miedzyborz] Jiddisch ist der Name dieses Städtchens Mesbiž.

Die Himmelwanderung Quelle: Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht (Grözinger), Hebr. Nr. 23 / Jiddisch Nr. 144, 145. Variantenapparat: 224,17 Der Weg stirbt. Ein dunkler Finger hat] [Es ist, als stürbe der Weg, als sei aller Weg vernichtet] ! [Der Weg stirb, ist tot.] ! Der Weg stirbt. Ein dunkler [Mund hat] ! Finger hat h7 224,18 ausgelöscht] [begraben] ! [verschluckt] ! ausgelöscht h7 224,25 und redete.] und redete. [Und die Wand zitterte.] h7

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Jerusalem

224,29 Bestand] [Leben] ! Bestand h7 224,29 Wollen und Wissen,] fehlt D14, D15, D16 224,32 vorbei, es opferte sich denn] [opferlos vorbei] ! vorbei, es opferte sich denn h7 224,32-33 Gottes Wahl.] Gottes Wahl. [Hier ist die Schöpfung besiegelt worden.] h7 224,35 wähle!] wähle. D14, D15, D16 225,4 eine Frau] [in einer schmalen Kammer] eine Frau h7 225,5 tastet über] tastet [mit der zitternden Hand] über h7 225,6 Liegenden hin.] Liegenden hin. [Sie ist bleich und kalt.] h7

Jerusalem Quelle: Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht (Grözinger), Hebr. Nr. 23 / Jiddisch Nr. 144, 145. Variantenapparat: 226,5 Munde] Herzen h8 [Herzen] ! Munde h9 226,6-7 ungeheurem Weh sein Lager umgab. Er fühlte] [großem] ungeheurem Weh und erstickender allerletzter Bedrängnis war in solchen Stunden um sein Lager und er fühlte h8 226,7-8 Er fühlte, […] verflochten hatte.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 226,8 verflochten] verschmolzen h8 [verschmolzen] ! verflochten h9 226,9-11 verstand den Sinn […] anrührte] verstand nicht und fühlte nicht den Sinn ihrer Worte. Nur die große, ferne Not, die es anrührte, konnte es ahnen h8 226,12 Aber in einer Nacht] In einer Nacht jedoch D14, D15, D16 226,14-15 und er erkannte […] Stunde] und siehe, indem sie sprachen, erkannte er ein anderes Ding, das ihm fremd geblieben war bis zu dem Tag: die Heimat h8 226,15-16 Denn es war] Es war D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 226,16 Land] Land seines Volkes h9 226,16 nie erlösten Schande] [tiefsten Schmach] ! nie erlösten Schande h8 Schande D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 226,17 Verfalles] Verfalles und der Lähmung seiner Vergessehnheit h8 226,18 mit verhassten Hufen] [verwüsteten] ! mit verhassten Hufen h8 226,20 Schuttes] Gerölls D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 226,21 einmal] einst D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 226,21 leuchtenden] [stolzesten ragenden] ! schimmernden h8 schimmernden h9

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Einzelkommentare

226,23-24 jetzt und jetzt, von Atemzug zu Atemzug,] hjetzt und jetzt, von Atemzug zu Atemzug,i h8 226,25-26 und die Seele befreit […] alten Landes] mit zwingender Nötigung, die die Seele hemmt, die alte müde schmerzversehrte Seele des geschlagenen Landes h8 226,25 müde] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 226,28 der Erwartete, dessen Atem das Gestein] der Erwartete, der Löser, der Befreier, dessen Atem den Schutt h8 226,28 das Gestein] der Schutt h9 226,30 Dein Wort wird die Kräfte entfesseln.] fehlt D14, D15, D16 226,32 Hand auf uns!] Hand auf uns, die Totenstarre wird entweichen h8 226,34 zum Lande] zum Lande der Väter h8 226,37 Gott] der Herr h8 226,40 viele Nächte in der Qual] in der Qual des Zwiespalts viele Nächte gar hart gebettet h8 227,1 das Wort des Herrn auf] Gottes Verbot war in h8 227,1-2 Und der Jammer] Und die Stimmen bangten in großer Not h8 227,2-3 eine Bewegung] ein Aufruhr h8, h9 227,4 Da siegte die Sehnsucht] Da stritt der Baalschem in sich in grausamem Kampfe und es siegte die Sehnsucht h8 227,5 das Wort des Himmels] Gottes Wort h8 227,5-6 da tat sich […] gegen Jerusalem] der Meister machte sich auf, nach Jerusalem zu wandern D14, D15, D16 227,16 bereitet euch, denn euer Erlöser ist auf dem Wege] bereitet Euch ihr Verstümmelten, ihr Mißachteten steht auf, er ist auf dem Wege zu Euch, der Erlöser h8 227,17 Atemzug] Atemzug wie zu einem befreienden Schluchzen h8 227,17-18 hob sich […] Aufatmen schüttelte sie] erbebte der Leib der Erde, in einem ungeheuren Atemzug schüttelte sie D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 227,18 Schlaf ab.] Schlaf ab und tat den X X Mund auf und rief: Gesegnet der Tag, da er seinen Fuß auf mich setzen wird, gesegnet der Beginn meines neuen Lebens! h8 227,19 und war] und taten sich alle zusammen und war h8 227,19-20 war ein gewaltiges Rauschen der Freude] ein gewaltiges Brausen der Freude war D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 227,21-22 das versunkene Gut blühte] blühte das [Erz in der Tiefe] ! versunkene Gut im Grund des Schoßes h8 227,23 und es kreiste […] der Rebe] der Saft des Kornes und der Rebe kreiste neu D14, D15, D16 227,24 blauen Nacht] Nacht D14, D15, D16

Jerusalem

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227,27-28 schritt unverdrossen […] nicht bei ihm] und seine Schüler schritten vorwärts unverdroßen aber der Meister nur ohne seine Helle und Freudigkeit h8 227,32 Sehnsucht] Sehnsucht nach dem Lande h8 227,33 gar stille schwieg] schwieg D14, D15, D16 227,36 Klagegetön] Klageton D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 227,36-37 leidensvoll] schmerzensreich h8 227,37 horchen und horchen musste] lauschte h8 228,1-2 weiter auf die Wanderschaft] [und strebte vorwärts, wanderte weiter] ! weiter auf die Wanderschaft h8 228,4 Irregehen] Irregehen und großer Müdigkeit, Mangel an Zehrung und X Mut h8 228,5 Stätte] Niederlassung h8 228,6 weit] grenzenlos D16 228,10 weisen würde] weisen würde. Zermattet, wie sie Beide waren, befiel sie augenblicks ein tiefer Schlaf h8 228,13-14 Das Schifflein aber […] und ringsum] Das Schiff neigte sich und wiegte sich immer stärker auf dem Meere, das in zunehmender Bewegung flutete. Es erhob sich ein Sturmwind und zerfetzte das Segel und Wasserschluchten taten sich auf und Berge erhoben sich. Das Schifflein stürzte hin die brodelnden Xi hinunter und wurde auf die schäumenden Wogengipfel geschleudert und war h8 228,15 aller] ungeheurer h8 228,15-16 entfesselt und heulend. Der Baalschem] in grundloser und ungeheurer [Aufruhr tobte] ! Entfesselung tobend. Die Genossen knieten erstarrt und der Baalschem h8 228,17 aber siehe, da war] aber da war D14, D15, D16 228,18 alle Weisheit und alle Herrschaft] all sein Wissen und Vermögen, all seine Kraft und war kein Weg, der ihn zu sich brachte und keiner zu Gott h8 228,19 Meeresnot] Meeresnot. Da erst spürte er die letzte ungeheure Todesangst h8 228,19 leer und bar] leer D14, D15, D16 228,20 ohne Saft und Süsse] ohne Saft und Süsse und Kern h8 fehlt D14, D15, D16 228,21-22 , und sein Beben […] des Sturmes] fehlt D14, D15, D16 228,22 Dann warf er sich […] Vergehen] Dann kam die stumme Verzweiflung und umklammerte ihn mit eiskalten Armen. Er wartete auf das Vergehen und kannte keine Hoffnung mehr h8 228,24-25 zu reden an, erst leise […] schwoll sie an] zu reden an. Mit den ersten Worten aber schwoll die Stimme an h8

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Einzelkommentare

228,25 ward grossmächtig und schlang] schlang D14, D15, D16 228,26 Meeres] stürmenden Meeres h8 228,26-27 Und der Meister trank den Laut der Gottesstimme] Und da, in seiner Seele Todesnot kannte der Meister dem Laut der Gottesstimme und wurde seiner wieder gewiß. 228,29 nassen Sand] Sand D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 228,35 gewahrte] fand h8 228,35-36 geliebten Angesicht] Angesicht D14, D15, D16 228,39-229,1 ihn gerufen hatte] seiner wartete h8 229,2-21 die Stimmen […] meine Freundin.«] Textverlust wegen fehlenden Blattes h9 229,3 höret ihr] vernehmet ihr, gebt uns Antwort h8

Saul und David Quelle: Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht (Grözinger), Hebr. Nr. 252, 254. Variantenapparat: 230,2-8 Dies war, […] und keinem.] fehlt h10 230,2-231,13 Dies war, […] in aufrechtem] Textverlust wegen fehlender Blätter h11 230,4-5 Und diese Ersten […] Gemeinschaft.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 230,5 Denn sie sassen] Sie sassen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 230,6 gemein] gleich D8, D9, D10, D12 auch D14, D15, D16 230,7 und doch erschien Jeglichem] so erschien doch jedem D14, D15, D16 230,10 Gespräches] Gespräches im Kreise der Seinen h10 230,10 erbleichte und dann] sich jäh unterbrach, erbleichte h10 erbleichte, D14, D15, D16 230,11 verstummte […] gewendet] schweigend und teilnahmslos, den Blick ziel und blicklos ins Ungewisse gerichtet h10 230,13 erschweigen] schweigen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 230,13 in einem bänglichen Warten] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 230,13 einem bänglichen] stillem, angstvollen h10 230,15 sehr ermattet] ein jegliches Mal sehr erschöpft und ermattet h10 230,15 irgend eine verhehlte] irgend eine verhohlene D8, D9, D10, D12 eine verhohlene D14, D15, D16 230,15-16 verhehlte Kraft] dunkle, geheimnisvolle Kraft in solchen Augenblicken h10

Saul und David

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230,16 zum Versiegen] zu versiegen D14, D15, D16 230,17 mildes Zeichen] geistiges Wort oder freundliches Zeichen h10 230,19 verschloss] eingeschlossen hielt h10 230,20 diesem Ereignis] diesen rätselvollen Stunden ihres Meister h10 230,22-25 Rabbi Wolf, […] Aufschluss empfing] Einer unter ihnen, der vom Meister sehr geliebt war, ihn selbst, um dieses Dinges willen anging und der Meister gab ihm Widerrede und Aufschluss h10 230,23 immerdar] immer D14, D15, D16 230,24 und Widerrede] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 230,25-29 wissen […] Erhabenen bekriegte] um den Sinn dieser seltsamen Ereignisse wissen. / Zur nämlichen Zeit, da der Baalschem sein Leben auf dieser Erde erfüllte, lebte zu Kosów ein Zaddik, Rabbi Nachman in seinem dunklen und gewaltsamen Geiste dem Meister ein innerlicher und feuriger Gegner h10 230,26 das haben die Lippen des Mannes] hat der Mann D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 230,27 der an den Wurzeln des Geheimnisses wohnte] von dem es den Ausgang nahm D14, D15, D16 230,29 bekriegte] befehdete D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 230,30 Hader] Hader und Zwiespalt h10 230,30 Grundes] Ursprungs h10 230,30 seinen Keim] seine Wurzel h10 seinen Ursprung D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 230,31 berichtet und dargetan] dargetan D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 230,31-37 dargetan, dass Israel […] einverleibt] dargethan von Männern, deren Mund ein lauterer Born der Wahrheit ist, daß der heilige Baalschem der Erbe von König Davids Seele war. In dem Rabbi Nachman von Kosow aber hat Sauls, des Herrschers über Israel Seele in jenen Tagen sich verkörpert h10 230,35-37 , dessen Name […] Nachman war] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 230,38 von einer Weile […] Ingrimm] zuweilen, daß das Herz des Rabbi Nachman von Kosow von einem bitteren, schmerzhaften Ingrimm h10 230,39 aller Martern kundig] martervoll h10 230,40-231,1 seiner Adern] seines Blutes h11 231,1 , bis das Ding […] übermannte] fehlt D14, D15, D16 231,1 mächtig war] mächtig und lebendig wurde h10 231,2 Dann riss er sich] Endlich riss er sich D14, D15, D16 231,2 mit den letzten Kräften] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 231,2 und entsandte] auf und er, der runderneuerbarer, geheimnisvoller Kräfte mächtig war, entsandte h10

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Einzelkommentare

231,2 rasende] bebende, rasende h10 231,3-7 gespenstischer Vogel […] herausschrie] schäumender Riese und sie mit ungestümen, dröhnenden Worten herausschrie, daß sie sich maßen in ihren Gewalten in Kampf und Ringen h10 231,4 in düsteren Lauten] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 231,5 das Tuch übers Haupt schlang und schwieg] schwieg D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 231,6-7 in Worten […] herausschrie] schrie in Worten eines dröhnenden Hohnes die Verborgene heraus D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 231,8-9 ereignete es sich, dass […] verlassen wurde] wurde […] verlassen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 231,9-19 aber, wenn die Blicke […] heimkehrten] entschied es sich nach glühendem Ringen, daß die Seele des Baalschem, die dem König David innegewohnt hatte, Herrscherin und Siegerin blieb in ihrem ruhevollen, klaren Königstum über die Andere, die Saul einst angehört mit ihrem schmerzensdüsteren, zweifelsüchtigen Feuer. Dennoch ließ der Rabbi Nachman nicht von seinem Hoffen, daß er in einem jener unirdischen Kämpfe die Seele des Feindes ertöten und so seines Lebens Recht gewinnen möchte h10 231,10-19 , wenn die Blicke […] Fehde heimkehrten] schlug sie aus dem ringenden Umschlingen als klare Flamme steil gegen den Himmel auf, indes die andre ohnmächtig verflackerte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 231,17 Leiber oder eine mahnende Stimme] [Körper oder Stimme] ! Leiber oder eine mahnende Stimme h11 231,20-22 Nun aber […] den Meister] Wohl sprach der Rabbi von Kossow niemals wider den Meister D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 231,20-24 tat der Rabbi […] jenen erstand] war es so, daß der Rabbi von Kosow zwar niemals zu einem Menschen von diesem Geschehen Erwähnung that oder im Lauten Mißgünstiges oder Feindseliges von dem Meister sprach, dennoch aber die Schatten des Neides nicht zu bergen vermochte, wenn von allen Zungen das lebendige Zeugnis der Größe und Heiligkeit des Baalschem geredet wurde h10 231,22 verjagen] bannen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 231,22-23 die sein Angesicht überkamen] die über sein Angesicht kamen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 231,24-29 Dies gewahrten die Schüler […] zu bewegen] Den Schülern, die ihm anhingen, konnte dies nicht verborgen bleiben; sie litten, seine Seele so entstellt zu sehen, und drangen oftmals mit aufstachelnden Reden in den Rabbi, um ihn zum offenen Widerstreit zu bewegen und so sein Herz von der zehrenden Heimlichkeit zu erlösen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

Saul und David

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231,25-26 es war ihnen weh […] erregte sich] ihn – wie er es in Wahrheit war – als einen großen Zaddik ehrten. Es schmerzte sie, alsdann seine Seele sich in Schwermut ergehen zu sehen, auch erwachte h10 231,28 stacheligen] aufreizenden Worten und stacheligen h10 231,31-32 , mit Verklärung […] ausrufen?] in seinem Lobe ergehen! h10 231,32 derwegen, dass] deswegen, weil D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 231,33-34 Ränke und Künste] Künste D14, D15, D16 231,34 zerbrechen] durchschauen h10 231,34-36 Soll er die Ursache […] Aufflug hemmt?] fehlt D14, D15, D16 231,35 sterbe] totgeschwiegen wird h10 231,37 und alle mit der Augen Innerstem die Wahrheit schauen] mit eigenen Augen sehen und die letzte Wahrheit wissen h10 231,38-39 vor sich selbst […] diesen Worten] im Herzen vor sich selbst war und seinen Feind groß achtete, gleichwohl er unter seiner Größe litt, diesen Reden h10 231,40-41 Wirkung und Macht] Wirkung D14, D15, D16 231,40-41 Wirkung und Macht in seiner Seele] dennoch Gewalt über ihn h10 232,1 , bezwang die Scham] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,1 Scham] gerechte Scham in seinem Inneren h10 232,2 Heilige] Meister D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,2-3 schlank erhoben, […] mit hohen Worten gab er] und mit hohen Worten gab er D8, D9, D10, D12 und gab er D14, D15, D16 232,2-3 schlank erhoben] aufrecht h10 232,3 mit hohen Worten] mit wunderbaren Gebärden und starken, hohen Worten h10 232,5 grosse Helden] Helden D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,6 urfern und entrückt] entrückt D14, D15, D16 232,6-7 wurden selber […] denn einander] schienen nichts mehr zu gewahren und zu achten, denn sich selbst h10 232,8 scheu im Vorhof] im Vorhof D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,8 selbander] denn D8, D9, D10, D12 als D14, D15, D16 232,9-10 der harrenden Schar] den Zurückgebliebenen h10 232,10 einen Wall der Zeiten] Zeiten und Welten h10 [Zeiten und Welten] ! einen Wall der Zeiten h11 232,10 einen Wall der Zeiten von den Meistern] anderes als eine hölzerne Pforte von ihnen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,12-13 die alte Liebe […] der alte Hass] zwischen ihnen war wieder die Leidenschaft, die in der alten Zeit ihre Herzen versponnen hatte, Liebe, Wirrnis und Haß D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,13-14 Wie ein Feld […] verschollenen Jahre.] fehlt h10

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Einzelkommentare

232,15 vielverschlungene, maschenreiche] scharfe, pfeilspitze h10 [pfeilscharfe] ! vielverschlungene, maschenreiche h11 vielverschlungene fehlt D14, D15, D16 232,17 ; doch sie fielen ohne Kraft und Griff zur Erde] fehlt h10 232,19 lächelndes Kind] Kind D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,19-20 friedseligen Gewissheit] Gewissheit D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,21 jeglichen] jeden D14, D15, D16 232,22-23 zum Neuen] wiederum D8, D9, D10, D12 wieder D14, D15, D16 232,23 was meinen Gedanken füllt zu dieser Zeit] welches mein Gedanke zu dieser Zeit ist h10 232,25 gemeiniglich] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,27 Also tat] Das tat D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,28 vierfach urgeheime] geheimnisvolle h10 urgeheime D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,30 geblickt] geschaut h10 [geschaut] ! geblickt h11 232,31 Wunder und Erschauen] Wunderschau D14, D15, D16 232,33 mein Denken ein Ding umschlinge] meine Gedanken ein Ding umkreisen h10 232,34 , fürwahr] fehlt D14, D15, D16 232,35 harrte aus] verharrte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,35-233,20 »Hat Gott nicht […] der Freiheit.«] »Gibt es nicht viele Namen Gottes? Ich aber sagte dir, es war der eine, unaussprechliche, der geheimnisvolle Name, in dem deine Gedanken ruhten!« Und er trat vor den Rabbi und aus seinen Augen brach nun entfesselt ein so starker, ewiger Strom der Güte, daß er das Wesen des eifernden Feindes erfaßte und alles Dunkle und Unreine hinwegschmolz. h10 232,40 den vier Buchstaben] der Gewalt des Namens D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 232,41 enttauchen wieder] steigen wieder auf D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 233,8 mein Schwert wider meinen Leib] [meinen Spiess wider meine Freunde und] mein Schwert wider [mein eigenes Herz] ! meinen Leib h11 233,10 den vier Buchstaben] der Gewalt des Namens D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 233,19 Zeit] [Stunde] ! Zeit h11 233,19-20 Zeit […] der Freiheit] Zeit der Freiheit dir wieder D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 233,23 mit gestillter Seele] aus dem Hause des Heiligen. Aber das Wüten und der Brand in seiner Seele waren von der Zeit an gestillt für immer und niemals mehr rief er die Seele des Baalschem zum Streit auf. h10

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Das Gebetbuch

Wort- und Sacherläuterungen: 230,1 Saul und David] Vgl. Bubers Rohübersetzung h11, in diesem Band, S. 534. 230,28-29 lebte in der Stadt Kossow ein Rabbi] Rabbi Nachman von Kossow, vgl. die Einleitung zu [Berichtigung], in diesem Band, S. 522, gehörte zu einer Gruppe, die ebenfalls als »Chassidim« bezeichnet wurde und ähnliche religiöse Lehren wie die des Baalschem vertrat. Zunächst bezweifelte Nachman die spirituellen Qualitäten des Baalschem, aber auch nachdem er sie anerkannte, blieb er von ihm geistig unabhängig. 231,38-39 der Rabbi von einem Ingrimm befallen wurde] Möglicherweise spielt Buber auf eine weitere Erzählung in Schivche ha-Bescht an. Vgl. Grözinger, Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht, Hebräisch Nr. 232.

Das Gebetbuch Quelle: Ehrman, Devarim arevim, Bl. 9a-9b. Variantenapparat: 235,4 Bundeslade] heilige Lade D16 235,10 hochgestreckt] [aufrecht] ! hochgestreckt h12 235,24 Wogen] Wogen [des Elends] h12 235,39 blütenweiss hervorschimmernden] [bleich hervorleuchtenden] ! blütenweiss hervorschimmernden h12 236,2 Licht und Freude] [Glanz und Behagen] ! Licht und Freude h12 236,2 und in allen Künsten] fehlt D14, D15, D16 236,3 wusste er nichts] hatte er keine Kunde D14, D15, D16 236,8 jenen Geschichten] [dunkel und ohne rechten Sinn und] jenen Geschichten h12 236,9 Mädchen] Mägde D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 236,12-15 , das ein Grauen […] rätselvoll blieb] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 236,20 prächtiger] wundersamer, prächtiger h12 236,22 Glanzes] Glanzes [, aber wie von einer heiligen Seele durchströmt] h12 236,25 Sammet] [Brokat] ! [Leder] ! Sammet h12 236,25 silberbeschlagen] [metallbeschlagen] ! silberbeschlagen h12 236,33 blickten zu ihm empor wie ein Reigen lieber feiner Gesellen,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

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Einzelkommentare

236,35 siehe,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 236,36 Augen] schwarze Augen h12 236,36-37 eines ewigen Schmerzes voll] voller Schmerz, voll eines ewigen Schmerzes h12 236,38 verborgen] [verschlossen] ! verborgen h12 237,1 zum See] endlich zum See D14, D15, D16 237,21 , still im Lärm […] stillen Vogels] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 237,23-24 , und das Grauen […] in der Sonne] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 237,24 wandelten] gingen h12 237,38 sich erheben] [niederwerfen] ! sich erheben h12 238,2 Gott] Gott aus der Sehnsucht seiner Seele h12 238,4 auf den Ständer] aufs Pult D14, D15, D16 238,11 Haus] [Bethaus] ! Haus h12 238,14 Baalschem] [heilige] ! Baalschem h12 238,14 diese Dinge] diese Dinge [aus der Ferne] h12 238,16-17 den Sinn des Lebens […] Weisheit] die lautere und gesegnete Wahrheit D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 238,18 Frommen] [Chassidim] ! Frommen h12 238,19 , und ich weiss nicht, wie viel,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 Wort- und Sacherläuterungen: 235,4 Bundeslade] Vgl. Bubers Erklärung unter »Heilige Lade« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 471. 235,4 Rabbi von Dynow] Rabbi Zwi Elimelech von Dynow (1783-1841): Schüler des Jaakob Jizchak von Lublin. 235,4-5 das grosse Gebetbuch des Meisters Lurja] Vgl. Bubers Erklärung unter »Gebetbuch« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 470. 236,19-20 weisser Mantel mit langen schwarzen Streifen] Wohl der Gebetsmantel des Vaters. 236,23 Gewürzbehälter] Wohl die Gewürzdose, die für die Havdala, die Ausgangszeremonie am Ende von Sabbat, benötigt wird. 237,36 Kolnidre] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 472. 237,37-38 langen weissen Sterbegewändern] Vgl. Bubers Erklärung unter »Kleider der Toten« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 472.

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Das Gericht

Das Gericht Quelle: Walden, Qehal chassidim, Bl. 7a-b. Variantenapparat: 239,2 , sagen sie,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 239,5 so Schüler nicht als Freund, heisst es,] nicht Schüler und nicht Freund D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 239,7-8 Und auch dazumal] Auch diesmal D14, D15, D16 239,12 nicht] weder D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 239,13-14 Zollpächters und Herbergsvaters] Herbergsvaters h13.1 239,18 Reise] Fahrt h13.1 239,20-21 Antwort, also dass der Baalschem […] zu wissen tat] Antwort: der Baalschem tat […] zu wissen D14, D15, D16 239,23 grosser] angesehener D14, D15, D16 239,26 Kenne] Weiß D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 239,30 zum andern Sabbat […] an diesem] zum Sabbat dort zu sein h13.1 239,36 wunderlich] verwunderlich D14, D15, D16 239,36-37 verstand er, dass […] an dem Manne war] war auch für seinen Blick […] an dem Manne D14, D15, D16 239, 39-40 schicklichen und ehrbaren] schicklichen D14, D15, D16 240,3 zu guter Zeit] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 240,5 gern zufrieden] gern zufrieden und hieß ihn mitkommen h13.1, h13.2 zufrieden D14, D15, D16 240,6 auf mancherlei Weise geruhig] ruhig D14, D15, D16 240,7 eine gute Weile] fehlt D14, D15, D16 240,9 in mannigfaltigem Gespräch] im Gespräch D14, D15, D16 240,10-12 ging und sich […] Wesen wusste] lief D14, D15, D16 240,13 wiederum] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 240,16 seltsam] schwer h13.1 240,21-22 über allen Dünsten] fehlt D14, D15, D16 240,22 begegneten keinem] trafen keinen h13.1 240,23-24 keinem Gedanken Halt] seinem Gedanken nicht Halt D14, D15, D16 241,1-2 Noch tief befangen […] Frage, lief er] Er lief h13.1 241,2-3 lief er ab und zu […] näherte und] näherte er sich dem Meister. Aber wie er D14, D15, D16 241,3 Meister näherte] Meister näherte, der unter seinen Schülern saß h13.1 241,3-4 Mund aufzuthun] Mund von seiner Frage aufzuthun h13.1

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Einzelkommentare

241,5 heiteren Spott] heiteren gütigen Spott h13.1 241,5 jener] der Prediger h13.1 241,14-15 dahingeschieden] entschlafen h13.1 241,16-17 , den Rest der Nacht […] verbracht] fehlt h13.1 241,17 friedvollem,] fehlt D14, D15, D16 241,19 Der Wirt liess] davor Absatzwechsel D14, D15, D16 241,20 weisen] zeigen D14, D15, D16 241,21 bleich] blass D14, D15, D16 241,24 schonend vermeinten] äußerten D14, D15, D16 241,25 tot sei] tot sei und sie keine Hilfe wüßten h13.1 241,25-26 stand und schwieg, und sein] stand reglos, sein D14, D15, D16 241,31 gekommen sei, mit dem fremden Prediger] mit dem fremden Prediger gekommen sei D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 241,31-32 , der zu seiner […] gewollt habe] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 241,35-36 Da wiess es sich, […] denn er griff] Der Trauernde griff D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 241,39 trat an die entseelte] zu der entseelten D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 242,1 Ruhenden] Toten h13.1 242,1-2 achtete keines und sprach mit unbewegter Stimme] sprach D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 242,3 tut eure Bräuche gar schnell und ungesäumt] tut ungesäumt eure Bräuche D14, D15, D16 242,4 rasch] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 242,11 als erster] mit dem Bräutigam h13.1 242,12 zitternden Herzen und] fehlt D14, D15, D16 242,15-16 sie werfen] zu legen h13.1, h13.2 242,21-22 Alle umstanden […] verging] So stand er den vierten Teil einer Stunde h13.1 242,22-23 Der vierte Teil […] er winkte] Nach einer Weile winkte er D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 242,24 Antlitz] Angesicht h13.1 242,26 und so geschah es] es geschah D14, D15, D16 242,34 losgesprochen] vom Tode errettet h13.1 242,35 auf und schrie] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 242,36 verstummte und der Baalschem verliess das Haus] verstummte. Ehe die Leute sich besannen, hatte der Meister das Haus verlassen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 242,37 Schatten] Befangenheit h13.1 243,4 legte es sich ihr] kam es ihr h13.1

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Die vergessene Geschichte

243,6 jung] nicht alt D16 243,16 einander niemals zu nehmen] sich niemals einander zu vermählen D14, D15, D16 243,17 dünkte] erschien D14, D15, D16 243,23 gelobten] legten ihre Hände ineinander und gelobten h13.1 243,25 schien] war D14, D15, D16 243,28-30 Als nun […] unbewegt] Und als sie starr und tot lag h13.1 243,29-30 starr und unbewegt lag] starr dalag D14, D15, D16 243,32 die Entscheidung] ein Gericht h13.1 243,33 das Gericht] das Gericht und redeten Beide h13.1, h13.2 243,39-40 Siehst du nicht, […] wartet!] sie muß augenblicks zur Hochzeit gehen. h13.1 243,40 erwachte die Braut zum Leben] wachte die Braut auf h13.1 244,3-4 zum Bräutigam […] vollendet hatte] selbst h13.1 244,4 den Segen] die Stimme erhob und den Segen h13.1 244,5 Stimme, die über mich] Stimme, und wußte, daß sie im Grabe im Augenblick des Gerichtes über mich h13.1 Wort- und Sacherläuterungen: 242,29 Baldachin] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 468.

Die vergessene Geschichte Quelle: Walden, Qehal chassidim, Bl. 9b-10a. Varianenapparat: 245,2 immerwährenden Feuer] Feuer D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 245,3-4 irdisch Kleid abzuwerfen] irdisches Kleid abzustreifen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 245,4 Er war] Er war schon D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 245,5 , das er nimmer lassen sollte] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 245,7-8 schon gänzlich bleich und gleichsam entrückt] bleich und entrückt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 245,10 zu führen habe,] führen und D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 245,10-15 , und achtete es […] fallen liesse] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 245,12 beschieden] gegönnt h14.1, h14.2 245,17 Simeon] in gesamter Geschichte Jakob h14.1, h14.2 245,24 Unmut] arger Unmut h14.1, h14.2

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Einzelkommentare

245,25-26 dessen Worte mit den eigenen Lippen nachzuformen] seinen Worten den eigenen Atem nachzuhauchen h14.1 245,28 Herr zu sein, ein ewiger Wanderer zu Gast] Herr ein ewiger Gast h14.1 245,30 Bitterkeit und Kümmernis] Bitterkeit D14, D15, D16 245,31 halblaut] laut h14.1, h14.2 245,32 hiernieden] auf Erden h14.1, h14.2 245,33 lichtes] heiteres h14.1 245,35 sacht] fehlt D14, D15, D16 245,36 in das Ewige einging] ohne Erdenschwere selig entrückt wurde h14.1 245,37 der Wille des Baalschem] sein Wille D14, D15, D16 245,39 vom heiligen Baalschem] vom Leben des heiligen Baalschem h14.1, h14.2 246,2 sehr lieb] lieb D14, D15, D16 246,4 So waren zwei Jahre] davor Absatzwechsel D14, D15, D16 246,7 mit grossem Besitz] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 246,8 trage zum heiligen Baalschem] zum heiligen Baalschem trage D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 246,9 Meister] seligen Meister h14.1 246,11 zu sagen wusste] erfüllt war h14.1 246,15 zu erzählen] sich vernehmen zu lassen h14.1 246,19 einen neuen Teil seiner Fahrt] ein Endchen seiner Fahrt h14.1 die Weiterfahrt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 246,24 unerhörten] großen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 246,24 getragen] getragen [, denn alsbald habe er den schönsten Palast am Orte] h14.1 246,25-26 grossen, schier königlichen] fürstlichen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 246,27 alsbald] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 246,27-28 , da er […] lassen wollte] fehlt h14.1 246, 28-29 für all das hier möchte ein Käufer sich finden] das geerbte Gut zu verkaufen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 246,32 fürstengleich] prächtig D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 246,33-34 dem Boden seines Besitzes] seinem Boden h14.1 246,34-35 errichtet. Da trage seine Seele, die] errichtet, sein eigener Geiste, der h14.1 246,35 niegesehenen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 246,38-39 Linnen- und Silberglanz] und Silberglanz h14.1 246,40 nirgend und nimmer so strahlend und herrlich] nirgends so strahlend D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

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246,41 Reiche] Mann D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 247,2 in Ehren] beglückt h14.1, h14.2 247,2 Gnadenreichen] Heiligen h14.1 247,6-7 stärkte sich seine Seele in grosser Freude. Er entsandte] sandte er D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 247,11 zu seiner Wohnung] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 247,13 als seltene Kunde] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 247,14 Baalschem] Heiligen h14.1 247,20 leiser und demütiger] leiser D14, D15, D16 247,21 hohen Meister] großen Heiligen h14.1 247,24 wundersamen Herrn] heiligen Meister h14.1 247,25-26 Worte und Gleichnisse] Berichte D14, D15, D16 247,26 Baalschem wie] Meisters gleichsam h14.1 247,27 kamen] hervorstiegen h14.1, h14.2 247,27 war wie ein volles Salbgefäss] wie ein volles Saalbgefäss war D14, D15, D16 247,29 Rede sich […] gestalten] Worte sich […] formen h14.1 247,31 erstarrte und erbleichte] erstarrte h14.1 247,33 glutroten Schleier] Schleier D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 247,34-35 er tat die Lippen […] totgeboren blieb] er öffnete die Lippen, aber der Laut blieb totgeboren D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 247,34 seinen eigenen Laut] sein Wort h14.1 247,35-38 Es peinigte ihn […] darüber hinschwirren] Die stumme Forderung auf all den Gesichtern, die ihm unerbittlich zugewandt blieben, peinigte ihn D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 247,38 Da nahm er] Er nahm D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 247,40 blieb in ewigem Schatten] fehlt h14.1 247,40 , aber es blieb […] nicht aufsteigen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 247,40-41 Nun gedachte er] Er gedachte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,2-5 Und nichts, […] Sinne trüge.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,5 Tief verwirrt] Verwirrt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,8 mochten wohl glauben, er sei ein] hielten ihn wohl für einen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,9 ein Falscher] für einen Falschen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,11 voll gütigen Verstehens und versonnen] versonnen und voll gütigen Verstehens D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,15 heimsuchen würde] heimsuche D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,15 Aber er blieb verlassen, und sein] Aber sein D14, D15, D16 248,15 verlassen] vom Geiste verlassen h14.1 248,18-19 , und er spürte […] geworden war] fehlt D14, D15, D16

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Einzelkommentare

248,22 leer und zufällig] eitel und zufällig h14.1 leeres und zufälliges D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,23 überirdisch] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,26-27 stillen, demütigen und ergebenen Lächelns] demütigen und ergebenen Lächelns D8, D9, D10, D12 ergebenen Lächelns D14, D15, D16 248,32-34 Sie sagten ihm […] schimpflichen Worten.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,35 getreuem und unverzagtem Herzen] getreuem Herzen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,36 fühlte] ahnte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 248,37-249,20 Aber sein irdischer Verstand […] Willen sein mochte.] fehlt D14, D15, D16 248,37 Aber] Allein D8, D9, D10, D12 248,37-38 wie sehr auch sein hohes Erkennen in sich ruhte. Er quälte] sondern quälte D8, D9, D10, D12 248,38 quälte] quälte und plagte h14.1, h14.2 248,38-39 seine Seele] sein Herz h14.1 248,39-40 So meinte er zuweilen] Zuweilen meinte er D8, D9, D10, D12 248,41-249,1 der Ursache] einer anderen Ursache D8, D9, D10, D12 249,1-2 , dass sein Sinnengrund […] erglüht sei] fehlt D8, D9, D10, D12 249,1 Sinnengrund] Herz h14.1 249,2-6 Und noch viel […] entgegenschauen möchte.] fehlt D8, D9, D10, D12 249,5-6 versank ins Gebet, […] entgegenschauen möchte] [suchte sein letztes Heil] ! versank ins Beten ohne Aufbäumen h14.1 249,8-10 den hohen Sinn […] Sehnsucht] nicht die inbrünstige Begierde h14.1 249,14 verweile] verzögere h14.1 249,16-17 nach Hause zurückkehren] heimkehren D8, D9, D10, D12 249,21-22 Die Zeit aber […] Urlaub] Aber der Sabbat verging, und nichts hatte sich verändert. Tags darauf nahm Rabbi Schimon Urlaub D14, D15, D16 249,23 reichte] gab D14, D15, D16 249,23 eine ansehnliche Gabe] ein ansehnliches Geschenk D16 249,27 mit seinem Pferde] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 249,30-31 Schmerz und Seligkeit […] gemengt.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 249,32 plötzlich] fehlt D14, D15, D16 249,34-35 überkommen hatte] befiel h14.1 249,39 heiligen Meister entsonnen habe] großen Heiligen entsinne h14.1, h14.2

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249,40 , der nichts als […] fühlte,] fehlt h14.1 250,6 unsäglicher Betrübnis] Betrübnis D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 250,8-9 , verhängnisschweren Kampfe] Kampfe D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 250,12-13 drohend gefärbte Wetterwolke] Wetterwolke h14.1 250,15 aber zog ein freies Aufatmen erlösend] zog ein freies Aufatmen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 250,17 schlichten] lösen h14.1 250,17 und zu befreien] fehlt D14, D15, D16 250,17-18 Bösem und Gefahrvollem] Bösem D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 250,19 den Segen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 250,25 grossen düsteren Hauses] düsteren Hauses D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 250,28 Meister] Heilige h14.1 250,32 einem der riesigen Seitenflügel] einem Seitenflügel h14.1 250,34 trübe und verzweifelt] fehlt D14, D15, D16 250,35 eine Weile] eine Weile mit bitterem Weinen h14.1, h14.2 251,2-4 alle Juden, […] zu üben] daß sie zu ihrem Osterfest einen Juden greifen und martervoll, X um ihrem Messias ein großes Racheopfer zu feiern. X X X nahmen sie den ersten, den sie auf der Straße fanden h14.1 251,6 der Pein anheimfallen] ihrem Heiland sterben h14.1 251,6 Wehe ihm] Wehe, dies Jahr ist das Los auf unseren Rabbi gefallen. Wehe ihm h14.1 251,6-7 Wehe ihm, […] ihren Händen!] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 251,12-13 goss ihren Schmerz über uns aus und hob die Hände und ballte sie] hob die Hände D14, D15, D16 251,17 Er aber stand] Er stand D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 251,22 grossen, stattlichen Raum] stattlichen Raum D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 251,28-29 der Besinnung ledig] bewußtslos h14.1 251,29 Ecken und Winkeln] Winkeln D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 251,30-31 vom Hausflur hereingefolgt] vom Flur gefolgt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 252,7 gegen oben sandte] emporsandte D14, D15, D16 252,14 Und alsdann dröhnten] Nun dröhnten D14, D15, D16 252,20 Nun war alles] Alles war D14, D15, D16 252,25 Plötzlich] Dann D14, D15, D16 252,26-27 Israel, der Sohn […] dich rufen] daß er schnell zu mir hierher kommen möge h14.1 252,28 wilde] entsetzliche h14.1

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Einzelkommentare

252,32 Verruchter] du Narr h14.1 252,34 Bitterkeit ihrer gefolterten Seelen] Folterqual ihrer Seelen D14, D15, D16 252,37 gestanden] gezögert D12, D13, D14, D12, D14, D15, D16 252,40 einen Finger an mein Gewand getan] an mein Gewand gerührt h14.1 253,7 in der Beängstigung ihrer Sinne] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 253,12-13 der dem Geist der Blutgier gebot,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 253,17 weniges] weniges, bedachte sich h14.1 253,19-20 , denn es ruft […] Elieser] fehlt h14.1 253,21-22 eben begonnen, zu predigen] eben zu predigen begonnen D20 253,23 , dass er meiner gewahr werde] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 253,28 goldene Mütze] Krone h14.1 253,34 die Herrlichkeit Gottes] der Sieg h14.1 253,36 Meister] heiligen Meister h14.1 254,5-6 sank wortlos in die Knie,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 254,5 wortlos] bewußtlos h14.1 254,7 Augen nieder] Augen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 254,10 lautere Wahrheit] Wahrheit D14, D15, D16 254,11 Ich will] Höre auf mich, Freund, ich will h14.1 254,11-12 dir dunkel blieb.] danach Absatzwechsel D14, D15, D16 254,12-13 Wisse, dass ich […] erkannt habe] Jener Bischof, den du gerufen hast, bin ich. Ich habe dich erkannt D14, D15, D16 254,14 Ich war einst] Und nun merke auf! Ich war einst h14.1 kein Absatzwechsel D14, D15, D16 254,14 wahren, wunderbaren Weisheit] wahren Weisheit D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 254,15 und eine geheiligte] war gerecht und eine geheiligte h14.1 254,17 fruchtbar] gewaltig h14.1 254,23 wisse: in den Nächten] in den Nächten D14, D15, D16 254,24-25 und vom bösen Geiste […] preisgegeben] fehlt D14, D15, D16 254,26-27 mit dem Schilde des Versuchers] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 254,30 grausame Racheostern feiern] alle Ostern einen jüdischen Mann blutig ihrem Heiland opfern h14.1 254,32 glaubensstolzes] großes h14.1 254,35 hohen Bund] ewigen Bund h14.1 254,35-36 den Frieden […] versammelten sie sich] ihnen Unrast in den Frieden ihrer Ewigkeit getragen und aufgestört von dem Schmerz, dem X Feuer verfallen X, sammelten sich ihre Geister h14.1

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Die niedergestiegene Seele

254,37 heiligen Baalschem] Baalschem D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 254,38 Lösung] Bekehrung h14.1 254,38 der Geist] die Seele h14.1 254,38-39 Geist des Heiligen in nächtlichen Träumen] Heilige in meinen Träumen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 255,9 nicht, all dem Glanz auf Erden] nicht mehr D14, D15, D16 255,9 Menschensinn] Geist h14.1 255,10-11 dich der Heilige] der Heilige dich D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 255,12 Gemüt derer] Geiste der Menschen h14.1 255,14-15 zum zweiten, und siehe] zum zweitenmal D14, D15, D16 255,22 göttlichen Losspruch] Freispruch von meiner Schuld, der mir das Ende meiner Buße künden sollte h14.1 255,23 verkündet] gesagt h14.1 255,25 Taten] Verbrechen h14.1 255,25 Und als du] Als du nun D14, D15, D16 255,27-32 Und ich versenkte […] Lösung kam.«] Textverlust wegen fehlender Seite h14.1, h14.2 255,28 Nun aber] Jetzt jedoch D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 255,29 entsannest] entsonnen hast D14, D15, D16

Die niedergestiegene Seele Quelle: Ehrman, Devarim arevim, Bl. 4a-b. Variantenapparat: 256,3 um das Wunder] fehlt h15.1 256,4 bestimmten, kurzen] kurzen D14, D15, D16 256,5 still ans Herz zu fesseln] ans Herz zu binden D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 256,8-9 einer stummen, stählernen […] hartnäckigen Brand] einem Brand D14, D15, D16 256,13 ihre Gestalt] fehlt D14, D15, D16 256,14 Wanderwegen] Wegen D14, D15, D16 256,15 weit] fern D14, D15, D16 256,16 Das war dem Heiligen […] ans Herz.] fehlt D14, D15, D16 256,17 schmale, stille Haupt] schmale Haupt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 256,21 Ferne] Zeit D14, D15, D16 256,22 vergangener] entschwundener D14, D15, D16 256,25 ersehn] gesehn D12, D13, D14, D12, D14, D15, D16

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256,31-32 Und ich bin bange, […] verführen möchte.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 256,34 ersehen] gesehen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 256,35 das zarte Wesen] der Knabe D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 256,36 vielmehr] sondern sehr D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 256,36 ernst und schwer] ernst D14, D15, D16 256,40 lassen, um] lassen, dieses begnadete, gesegnete Kleinod, ihn h15.1 257,1 Da antwortete das Weib] Das Weib antwortete D14, D15, D16 257,1 der Knabe] das Kind h15.1 257,3 in Staunen und Scheu] vor Verwunderung D14, D15, D16 257,6 gleich als ein Gast und nicht als] wie ein Gast und nicht wie D14, D15, D16 257,8 Meister,] Meister, so schuf er mir doch allzeit Sorge, denn D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,10 zu leiten und aufzuziehen] aufzuziehen D14, D15, D16 257,13-15 Der Baalschem […] Seele mit] Textverlust h15.1, h15.2 257,14-15 heranzuwachsen, seinem Herzen allzeit nahe] seinem Herzen allzeit nahe heranzuwachsen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,16 grossen, heiligen Feuer] heiligen Feuer D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,16-17 Er liebte ihn […] Kind hält.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,19 ehrfürchtig] hingebend D14, D15, D16 257,19-20 dem Heiligen] ihm D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,20 still geduldet] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,21 Und derart war das Kind im Stand der hohen Gnade] Das Kind war so hoch im Stand der Gnade D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,22-23 es allen Staunen […] gewann] er allen, die ihn sahen, ein Wunder und Staunen war. Und er gewann Liebe und Gefallen in aller Herzen h15.1 257,22 allen Staunen schuf, die es sahen] berichtigt aus allen Staunen schuf, die ihn sahen nach D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,22 schuf] erregte D16 257,23-25 Es waren viele […] davon redeten] Viele der Reichen hätten den Knaben gern ihrem Haus zur Ehre gewonnen, indem sie ihn einer Tochter vermählten, und es schickte sich zuweilen, daß einer unter ihnen dem Meister davon redete D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,26 geringes] wenig D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,29 Glanzes] Glanzes und Glückes h15.1 257,29 So gebot] Daher gebot D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,30 zu vergessen] zu vergessen und seiner nimmer acht zu haben h15.1

Die niedergestiegene Seele

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257,31 Vertrauten] Mann h15.1 257,32 beschied und ihn] beschied, der ihm seit langem wohl ergeben war und in vielen Gunsten und Botenwegen als getreu sich erwiesen hatte und ihn h15.1 257,32 alldort] dort D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 257,34 Hände legte.] Hände legte. Und wenn der Mann ihm seine Gegenrede böte, so möge er sie unentstellt dem Meister wiederbringen h15.1 257,36-37 Ort und forschte […] dem Manne] Ort. Er suchte alsbald die Häuser der frommen Chassidim auf und ging von Thür zu Thür immerfort nach dem Manne forschend, den der Meister ihm zu suchen geboten h15.1 257,37 Namen kannte] Namen kannte, und ein jeder nach mancherlei Besinnen, X X X ihm zur Antwort gab: »Es ist wahrlich keiner dieses Namens in der Gemeinde, es muß wohl ein Irrtum sein, der dich herführt.« Der Bote aber sprach: »Wie kann mein Herr sich irren!« und zog getrost zum Nächsten h15.1 257,38 So ging Tag um Tag] Tag um Tag ging D14, D15, D16 257,39-40 befiel, als er eines Abends einem […] armseligen Juden begegnete] befiel. Eines Abends kam er zu einem willigen Manne, dessen Haus er bislang noch nicht aufgesucht hatte und trug dem Hauswirt, der ihn X anhörte seine Lage vor. Da sprach, als er geendet hatte, der Gastgeber: »X wenn mir recht däucht, hast du zum Kummer keine Ursache. Ich kenne einen Mann dieses Namens, freilich wissen wenige, wie er sich nennt, denn er ist ein gar armer Mensch, der mit Früchten handelnd und den jeder wohl vom Aussehn kennt. Er wohnt vor der Stadt in einem elenden Häusschen und hat eine große Schar Kinder mit Brot zu versorgen. Wenn du aber Geduld hast, noch ein Weilchen an meinem Tisch zu sitzen, so wirst du ihn hier treffen und kannst den unwirtlichen Weg nach seiner Hütte sparen, denn er pflegt täglich um diese Zeit mit seiner Waare bei meinem Weibe vorzusprechen. Bald erschien in der That ein ältlicher, gebückter und armseliger Jude h15.1 befiel. Eines Abends begegnete er einem […] ärmlichen Juden D14, D15, D16 258,5-6 Allein alsbald […] kundig war] Der Händler war des Lesens keineswegs kundig D16 258,7 Meister] Heilige h15.1 258,9 genannt –, und ferner] genannt. Sodann erklärte der Baalschem D16 258,11 Dinge] Belang D14, D15, D16 258,12 sagte der] da der alte Jude h15.1, h15.2

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Einzelkommentare

258,15 gehen] laufen D14, D15, D16 258,16 Und gar dies Kind] Dies Kind aber D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 258,16 Erhabene seinem Knaben] Heilige seinem Pflegesohn h15.1 258,17 begehrt? Sie ist] begehrt ist D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 258,22 gab er dem Vertrauten […] Dank und Lohn] nahm er D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 258,23 aber nahm er] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 258,24 Freude und Heiterkeit] Heiterkeit D14, D15, D16 258,32 Wissens] Schauens D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 258,34 Hantierung] Hantierung des Speisens h15.1 258,34 das Antlitz und das Wesen] Antlitz und Wesen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 258,34 das Wesen] die Seele h15.1 258,35-36 , wie in die eigene Seele hinein horchend, vom Geheimnis umfangen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 258,36 vom Geheimnis umfangen] tief versonnen h15.1 258,39 sein Gemahl] seine Gemahlin D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 258,41-259,3 Und da er nach […] nimmer froh.] fehlt D14, D15, D16 259,1 seines eigenen Blutes Sprossen] einem Sprossen seines eigenen Blutes D8, D9, D10, D12 259,3-5 Also sprach er […] Magier jener Tage.] Einst sprach er mit einem Magier D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,5 grossen] vielgekannten h15.1 259,6 lächelte böse und vielsagend und redete alsdann] sprach alsdann h15.1 259,6 böse und vielsagend] geheimnisvoll D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,8-9 und mit nimmermattem […] nachzugeben] fehlt D14, D15, D16 259,9-10 ermüdet bist ob deiner Schwermut] durch deine Schwermut ermattet bist D14, D15, D16 259,10 Schwermut] Sehnsucht h15.1 259,10-11 Rufen und im Streit] Rufen D14, D15, D16 259,11 Rat ohne Beginnen] Rat D14, D15, D16 259,11 Beginnen] Besinnen h15.1, h15.2 259,13 unter deinem] im Schutze Deiner Länder unter deinem h15.1 259,17 mit nichten] nicht D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,20 verbreiten rings in allen seinen Landen] rings in allen seinen Landen verbreiten D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,21-22 jeglich jüdische Herz in seiner schmerzlichsten Tiefe] jedes jüdische Herz D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,24 wohl unter Zagen, aber in] mit D14, D15, D16 259,25-26 geheimnisvoller] fehlt D14, D15, D16

Die niedergestiegene Seele

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259,27-28 stumm und verschlossen waren, des nächtens] gefangenlagen, nächtens D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,29 aufstöhnten in hellem und loderndem Wehe, und] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,30 stiegen ihre vereinten Bitten auf] ihre vereinten Bitten emporsandten D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,31 senden] gewähren D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,31 Schande und Bitterkeit] Schande D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,32 Und so schaurig war ihr Schrei und so inbrünstig] So inbrünstig war D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,32 schaurig] gewaltig h15.1 259,33 der Unruhe und dem Andrang] dem Andrang D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,35 irdisches Leid mitzufühlen begannen und] fehlt D14, D15, D16 259,36 Allerhöchsten] Höchsten D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,36-37 also ruhevoll, […] seligen Lüfte] unbewegt D8, D9, D10, D12 unberührt D14, D15, D16 259,36 ruhevoll] unbewegt h15.1 259,38 gar wunderbar] sehr D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,38-39 süssesten und brennendsten Mitleidens] Mitleidens D14, D15, D16 259,39 Scham] sanfte Scham h15.1 259,40 herrlich glühend] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 259,41 nicht nenne] vor tiefer Ehrfurcht nicht nenne h15.1 260,2-3 , das in seinem […] verdunkelt] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 260,5 Beglückung] Beglückung seines Wesens h15.1 260,7 Fürsprech] Mittler D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 260,10 Es wies sich […] Jüngling wurde,] Es schien h15.1 260,11 lauterklaren] schimmernden, lauterklaren h15.1 260,18-19 unerhörten Wissen und einer seltenen Macht] Wissen und Macht D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 260,19 da und dort] fehlt D14, D15, D16 260,24 oder gar verschwistert] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 260,26 soweit, dass dieser] dahin, dass er D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 260,29 Der weise Mann] [Der Alte aber schien nicht sogleich geneigt, ein X] ! Der weise Mann h15.1 260,30 ein Bedingen, das] eine Bedingung, die D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 260,32-36 da meine Seele […] Tod anheim] da ich allem Leben fern sein will D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 260,32-33 verwaist] verläßt h15.1

600

Einzelkommentare

260,36 Darum willst du, dass] Darum, soll D14, D15, D16 260,39 mit seiner Rechten] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 261,4 , mit Schmeicheln und Bitten,] h, mit Schmeicheln und Bitten,i h15.1 261,5 geheimen] geheimnisvollen h15.1 261,6 Gewähr] Gewährung D14, D15, D16 261,8 den Raum] das Gemach h15.1 261,9 er] der Königssohn D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 261,9-10 an einem Tisch sitzend] vor einem Pult stehend D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 261,10 Buch, bekleidet] Buche, Gebete flüsternd, bekleidet h15.1 261,11 gekrönt] angetan h15.1 261,11-12 voll Kummer und Schrecken schweigend] bekümmert und schweigend D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 261,20 , da er ihm im Gemüte hold war] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 261,22-23 und Geheimnis] in Heimlichkeit h15.1 261,35-36 unter der Leitung […] Bestrebung] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 261,37 heiliger Zaddik] Zaddik D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 261,41 seine edle Führung] sein edles Gebaren h15.1, h15.2 261,41 Lauterkeit] Lauterkeit und Erhebung h15.1, h15.2 262,1 Zaddiks] ehrwürdigen Mannes h15.1, h15.2 262,2 zur Ehe] zum Weibe h15.1, h15.2 262,2 die Hochzeit] seine Hochzeit mit der Tochter des Zaddiks h15.1, h15.2 262,5 Dann] Dann, darum bitte ich, D16 262,6 mit nichten dich] dich nicht D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 262,7 gleichmütig und in Frieden] gelassen D16 262,8 Bezirk] Bereich D14, D15, D16 262,8-9 Bezirk des körperlichen Lebens] Kerker des Körperlichen h15.1, h15.2 262,11 hinfürder] hinfort D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 262,18-19 des Verbotes und sank alsdann] sogleich des Verbotes und sank D14, D15, D16 262,21 der wiederkehrenden Belebung] des wiederkehrenden Lebens D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 262,23 fröhlichen Worte] Worte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 262,24 zagenden, zarten Mitleiden] zagenden Mitleiden D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 262,25 Auch blieb er den ganzen Tag] Den ganzen Tag blieb er D14, D15, D16 262,28 Geliebte] mein Weib D14, D15, D16 262,28 bittere] schwere D14, D15, D16

601

Der Psalmensager

262,30 Gepränge] sündhaftem Gepränge h15.1 262,31 ein höherer Aufstieg der Seele] der höchste Aufstieg der Seele und die letzte Vollkommenheit h15.1, h15.2 262,35 , der voll Sehnsucht ist,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 262,35-36 Es sprach […] Liebe] Die Frau sprach D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 262,36 die Frau in leuchtender] das Weib in strahlender h15.1 262,38 alsdann] fehlt D14, D15, D16 263,7-8 dem Gemahl ihrer] jedes dem Gemahl seiner D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 263,8-9 , seit sie […] aufgestiegen waren,] fehlt h15.1 263,11-12 auf dem neu […] Jugend] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 263,15-16 aller Wandelgänge der Ewigkeit] der ewigen Wandelgänge D14, D15, D16 Wort- und Sacherläuterungen: 261,10-11 Gebetmantel […] Gebetriemen] Vgl. Bubers Erklärungen in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 471.

Der Psalmensager Quelle: Ehrman, Devarim arevim, Bl. 11b-12a. Variantenapparat: 264,2 In einer Stadt unfern der Stadt des Baalschem] Es lebte in der Stadt des Baalschem h16 264,3 stillen seltenen Zeiten] seltenen Zeiten d11, D14, D15, D16 264,3-4 dem Dienste Gottes] dem Gesetze und dem Dienste Gottes h16 264,4 gar hold] hold d11 264,4 hold war] hold war in seinem Herzen h16 264,4-5 und einer herzhaften Geselligkeit] dem Wohlleben und einer herzhaften, lauten Geselligkeit h16 264,5 hingegeben] ergeben D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 264,7 von jeher] fehlt D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 264,7-8 doch mied er […] vor ihm trug] er selbst aber hatte ihn gemieden, sei es, daß er in seiner ungestümen, ungeschlachten Art eine Scheu vor der geistigen Lauterkeit des Heiligen trug h16 264,9-10 keinen Drang […] Meisters verspürte] und von den Früchten heiteren Genusses gespeist keinen Drang nach dem Trost und dem stillen Frieden des Meisters je verspürt hatte h16

602

Einzelkommentare

264,11 aller Kreatur, und liebte] einer jeglichen Kreatur, und gleich ob der Mann ihn nicht groß achtete mit seinen Bräuchen, liebte er ihn h16 264,13 grossen Güte] Güte D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 264,13-14 Begehren nach der] Drang zur h16 264,16-17 breiten, reichlichen Daseins] breiten Daseins D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 264,18 Als er einmal wiederum] Und darum liebte der Meister ihn und liebte ihn mit Bangen, wegen der bösen Elemente die in ihm die Guten bedrohten. / Einmal als der reiche Mann wiederum in sich schaute h16 264,19 gesammelt und voll Demut,] fehlt D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 264,20-33 Als die Stille […] entzünde.] Textverlust wegen fehlender Seite h16 264,23 und sehr kunstreicher] fehlt D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 264,27 die Rede und das Staunen] das Staunen und die Rede D14, D15, D16 264,37-265,5 ein schlichter […] ehrte er ihn] der Psalmensager genannt, den der Herr in seinem Dienst hielt, weil er die heiligen Gesänge auf eine schöne und erhebende Weise zu sagen wußte und er gab ihm den Vorzug h16 264,40 seltsame] gerade D14, D15, D16 265,5 ehrte er ihn] ehrte er ihn nach seiner Art h16 265,6 aber hatte] hatte D14, D15, D16 265,8-9 Doch hatte ihn […] wert hielt] Um seiner [wohlgefälligen Manier] ! edleren Art willen, hatte ihn der Hausvater geheißen, der Gäste zu achten, die von ihm besonders wert gehalten und geliebt wurden h16 265,9 bewirtete] empfing und bewirtete h16 265,11-12 und es wies sich, dass er nirgends zu finden war] aber sie vermochten ihn nirgends zu finden D14, D15, D16 265,12 Da ging der Herr] Da führten sie dem Herrn Klage und der ging h16 265,13 einiger Weile] einer Weile D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 265,15-16 nicht Rede und Antwort] nicht Rede noch Antwort D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 265,16-18 Grimm auf, […] Psalmensager!«] Grimm heiß auf, wegen der Beschämung vor seinen Gästen und zudem reizte ihn die Hartnäkkigkeit des Schlafes, in dem der Diener ruhte. Er riß den Mann mit Heftigkeit an den Schultern hoch, goß scheltend eine Flut böser Worte über ihn aus und schrie ihm zu: Geh an deine Arbeit und laß mir die Leute nicht länger warten, fauler Knecht, der zu nichts nütze ist als zum Psalmensagen. h16 265,18 sah] erblaßte und sah h16

Der Psalmensager

603

265,21 gering] nicht D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 265,37 lang schien,] lang schien, [zu dem jegliches Maß abhanden gekommen war] h16 266,1 Erwartung] Zagen, Erwartung h16 266,4-5 Im selben Augenblick gewahrte er, hinter sich blickend] Hinter sich blickend gewahrte er D14, D15, D16 266,8 hoch sich wölben mochten] hoch [waren] ! sich wölben mochten h16 266,9 ein milchweisser Nebel] eine Luft wie ein milchweisser Nebel h16 [eine Luft wie] ein milchweisser Nebel h17 266,10-11 mit schneidendem Schmerz] schneidend schmerzhaft h16 266,11-14 Das zwang ihn […] geboren wurde] Es zwang ihn vorwärts D14, D15, D16 266,12-14 , dem zumute war […] geboren wurde] fehlt D8, D9, D10, d11, D12 266,20 vom Nebel] von jener undurchdringlichen Luft h16 von jenem undurchdringlichen Nebel h17 266,21-22 ausströmen liess] ausströmen ließ. [Er trat ohne Besinnen, denn es schien ihm die Fahrt und Wanderschaft seien nur gewesen, damit er dieses Haus finden] h16 266,23 Er ging heran, und da] Siehe, da h16 266,23 ging heran, und da er auf der Schwelle stand] trat heran, ging hinein. Sowie er über die Schwelle schritt D14, D15, D16 266,23 Nebel] milchweiße Nebel h16 266,24 Luft, die unbeweglich stand. Er trat] Luft. Er sah D14, D15, D16 266,24 unbeweglich stand] unbeweglich stand [, erfüllt von einer süßfestlichen Wärme und viele Lichter brannten hoch und flammten X aus ihrer Leuchte] h16 266,25 ganz altersbraun] altersbraun D14, D15, D16 266,27 Sieben hohe] [und viele] ! Sieben hohe h16 266,29 ihrer Leuchte] fehlt D14, D15, D16 266,34 allda käme. Da sass] da käme. So sass D14, D15, D16 266,41-267,3 , allein ihr Wesen […] zu Recht bestanden] fehlt D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 267,5 sassen, trat] saßen und der Verborgene von tiefster Verwirrung wie von einem kreisenden Wirbel erfaßt war h16 sassen [und der Verborgene von tiefster Verwirrung wie von einem kreisenden] ! , trat h17 267,8-9 Und er erhob] Nun erhob er D14, D15, D16 267,14 Grauen] Grauen ohne Entrinnen h16 267,21 vor allen] fehlt D14, D15, D16 267,23 Frevels willen] Frevels willen, der ihm allzubereit auf der eiligen Zunge saß h16

604

Einzelkommentare

267,25-26 ; und grösser als alle […] Not] war seine Not über aller erdgeborenen Angst h16 fehlt D14, D15, D16 267,29 und den Meister des Namens] fehlt h16 268,34 Haupteswenden gross und vertraut] [Wenden] ! Haupteswenden groß und vertraut h16 268,1 Strafe und Gerechtigkeit] Gerechtigkeit D14, D15, D16 268,1-2 Gerechtigkeit! Oder ist dies […] verharre?«] Gerechtigkeit, daß ich den Mund aufthue! h16 268,1 getreue] treue D14, D15, D16 268,6 siehe,] fehlt D14, D15, D16 268,12-13 redet aus Urtiefen, aus Schmerzesabgrund: ›Ich habe] redet haus Urtiefen, aus Schmerzesabgrundi: Ich hab Einem geklagt, der König war und bin von ihm gegangen. Das macht: ich hab h16 268,13 habe] bin D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 268,15-16 gangen zu deinem Hause] zu deinem Hause hinabgegangen D14, D15, D16 268,17 vor den Streit, da er am härtesten ist, und wendet] dem harten {Streit D14, D15 Kampf D16} gegenüber und kehrt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 268,22 tiefer Strom lief unter] Rauschen war in h16 [Rauschen war in] ! tiefer Strom lief unter h17 268,23 getaucht und bin ans Licht gestiegen] [hinabgestiegen und bin heraufgestiegen] ! hinabgetaucht und bin ans Licht gestiegen h16 268,26-27 ist aufgestiegen, und war Friede zwischen Ihm und mir] ist aufgestiegen h16 weckte mir eine neue Seele, und ist aufgestiegen, und war Friede zwischen {dem Herrn D8, D9, D10, d11, D12 Gott D14, D15, D16} und mir D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 268,28-30 Nach diesen Worten […] Blick wandelte] Da wuchs das Schweigen und wob zwischen den Beiden. Indes wandelte h16 268,28-31 das Schweigen vom Boden […] Antlitz des Baalschem] das Antlitz des Baalschem sich wandelte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 268,31 Geheimnisse] Heimlichkeiten D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 268,33 krystallene] leuchtende D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 268,34-35 gewandelt] eine andere h16 gewandelt, und er redete wie aus einem tiefen Sinnen h17 268,36-37 Und wenn es […] an Gottes Hand.] fehlt D14, D15, D16 268,36-37 Und wenn es […] Sündigsten erklingt] Siehe und wenn [der letzte es auf seinem Munde trägt] ! es im Ohre des Verworfenen erklingt h16 268,38-39 ist es ein Engel und trägt] siehe so trägt h16 trägt h17

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Der zerstörte Sabbat

268,39-41 Gottes Schoss. […] Gegenüber.«] [Gottes Schoß, wo immer der Gerechte ruht. Es ist der Sinn deines Liedes, daß es Versöhnung schafft zwischen uns und Ihm, weil es geboren wurde aus so tiefer Schuld!«] ! Gottes Schoß. h16 268,41 alles Gegenüber] aller Gegensatz D8, D9, D10, d11, D12, D14, D15, D16 269,1-2 Da beugte […] untergeht] Der König beugte tief sein Haupt vor dem Meister. [Indes der verborgene Mann in seinem Versteck lauschte] ! [und war als ob ein Himmelskörper] ! eine große Bewegung im Zeitlosen wie wenn zwei Sterne sich zu einander neigten h16 269,5 seinem Haus] seinem Haus und noch zitterten ihm [das Herz] ! Seele und Sinne h16 Wort- und Sacherläuterungen: 264,19-20 eine Thora schreiben zu lassen] Vgl. Bubers Erklärung unter »Tora« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 477.

Der zerstörte Sabbat Quelle: Bodek, Mif ’alot ha-tzaddiqim, S. 44-48. Variantenapparat: 270,1 Der zerstörte Sabbat] Der schlimme Sabbat d1 270,8 seinen Rücken den Pferden] den Pferden seinen Rücken D14, D15, D16 270,15 entgegen] zuwider D14, D15, D16 270,22 Wundersames und Furchtbares] Wundersames D14, D15, D16 270,30-31 So vergingen Stunden] Stunden vergingen D14, D15, D16 270,39 Da kam eine] Jetzt kam eine D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 271,1 um den Schlummer] überm Schlummer D14, D15, D16 271,6-7 dumpfen und ruhelosen Weise] ruhelosen Weise D14, D15, D16 271,8-10 Dies war der Augenblick […] ansieht.] fehlt D14, D15, D16 271,9 der Mauer] dem Erdboden D8, D9, D10, D12 271,10-12 Schon züngelte sie […] da reckte er] Da aber reckte er D14, D15, D16 271,13 Siehe, da war ein Licht] Ein Licht war D8, D9, D10, D12 271,20 Sie gingen] davor Absatzwechsel D14, D15, D16 271,23 baren Füßen] bloßen Füßen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 271,23-24 die Schaufäden des Gesetzes] die gebotenen Schaufäden D16 271,31 nichtigen] eitlen D14, D15, D16 272,5 gar leise] leis D14, D15, D16

606

Einzelkommentare

272,16 glaubte] vermeinte D14, D15, D16 272,36-37 dass sie nicht geübt werden sollten] sie zu üben D14, D15, D16 272,38-39 stimmten sie zu und versprachen] versprachen sie D14, D15, D16 273,14 unbehobeltes] ungehobeltes D14, D15, D16 273,23-24 Mund. Dann ging er […] der Bauern] Mund, dann wieder summte er nach Art der Bauern vor sich hin D14, D15, D16 273,32 eitler] leerer D14, D15, D16 274,24 Morgenfrühe] Frühe D14, D15, D16 274,27 bitterer und leidvoller] leidvoller D14, D15, D16 274,39 sprach] fügte hinzu D14, D15, D16 275,6 sie] die Schüler D14, D15, D16 275,10 neigte] verneigte D14, D15, D16 275,20 Da wurde einmal] Einmal wurde D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 275,24 Da erzürnte sich Eure Frau] Eure Frau erzürnte sich D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 275,27 laut] fehlt D14, D15, D16 Wort- und Sacherläuterungen: 270,4 Rabbi David von Nikolajew] Nicht nachgewiesen. 270,4-5 Rabbi David Pirkes] mehrfach in den Schivche ha-Besaht erwähnter Prediger in Mesbiž und Schüler des Baalschem. 270,5 David Leikes] (gest. 1799): Schüler des Baalschem. 271,23 Schaufäden] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 475. 274,25-26 »Die Seele alles Lebendigen«] Hebr.: Nischmat kol chai, aus dem Gebet für den Sabbatmorgen. 275,30 ein heimlicher Zaddik] Ein besonders im osteuropäischen Judentum verbreiteter Glaube, dass die Welt nur bestehen kann, wenn 36 Gerechte darin leben, die aber nicht als solche erkannt werden. Vgl. Gershom Scholem, »Die 36 verborgenen Gerechten in der jüdischen Tradition«, in: Judaica I, Frankfurt 1986, S. 216-225.

Der Widersacher Quelle: Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht (Grözinger), Hebr. Nr. 64, 65 / Jiddisch Nr. 47, 100. Variantenapparat: 277,11 im trunkenen Lied] Lied D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 277,16 in der Dämmerung] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

Der Widersacher

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277,19-20 , als ob man […] reden dürfte] h, als ob man […] reden dürftei h19 277,21-22 langsam und feierlich] [still und langsam] ! langsam und feierlich h19 277,24 So oft auch dem Rabbi davon] [Immer wieder entrüstete sich] ! So oft auch dem Rabbi davon h19 277,37 geschlossenen Lidern] Lidern D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 278,1-2 unter der wachsenden Tageshelle] hunter der wachsenden Tageshellei h19 278,2 Gesell] Mann D14, D15, D16 278,7 kam ein anderer] trat ein zweiter D14, D15, D16 278,9 riefen gar] riefen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 278,16 Kommende] Künftige D14, D15, D16 278,17 liebsten] schönsten D14, D15, D16 278,21 war aber] war D14, D15, D16 278,22-23 zu erfüllen] auszuführen D14, D15, D16 278,24 Um ein geringes stand] Über ein geringes war D14, D15, D16 278,26 obliegen mochte] oblag D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 278,38 unendlichen] unendlichen [, zitternden] h19 278,40 der Berührung] [dem Tasten] ! der Berührung h19 278,41 Botschaft] [Kunde] ! Botschaft h19 279,3 Erzählung] [Geschichte] ! Erzählung h19 279,10 band] bändigte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 279,12 lösen, und augenblicklich] lösen. Augenblicklich D14, D15, D16 279,12-13 Erwachen] [Wachen und ein Taumel] ! Erwachen h19 279,16-17 drängte] aufforderte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 279,18 Verfehlung] Unterlassung D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 279,26 Nach einer Zeit] unmittelbarer Anschluss zum vorherigen Absatz D14, D15, D16 279,26 Frommen] [Vertrauten] ! Frommen h19 279,31-32 sei unter schlimme Gesellen geraten] [hätte Mörder wider ihn gedungen] ! sei unter schlimme Gesellen geraten h19 279,34 Aber als er ihn bat] Aber die Bitte des Schülers D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 279,35 es ihm] sich D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 279,36 Schüler] Jüngling D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 279,39 unheiligen Mann] [Verruchten] ! unheiligen Mann h19 280,1 der Jüngling] jener D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 280,1-2 einen günstigen Spruch seines Lehrer zu gewinnen] [die Gegenwart seines Meisters] ! einen günstigen Spruch seines Meisters zu [erwerben] ! gewinnen h19

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Einzelkommentare

280,13-14 versuchte] [war bestürzt und] versuchte h19 280,15 ersuchte] bat D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 280,17 stillen Stube] stillen [, von den andern entfernten] Stube h19 280,22 einherschwangen] schwangen D14, D15, D16 280,23 rundes Ding] rundes Ding, Samech genannt h19 280,28 das Lächeln] die Haltung D14, D15, D16 280,30 hundert] [tausend] ! hundert h19 280,34-35 und zu erschlagen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 281,12 Gespräch] [Klang] ! Gespräch h19 281,27 gen Babel] nach Babel D16 281,32-33 Stehe auf, […] Herrn] Stehe des Nachts auf und schrei; schütte dein Herz aus in der ersten Wache gegen den Herrn wie Wasser! h19 281,33 da ward es] es ward D14, D15, D16 281,38-284,28 Und da er also lag, […] zu Frohen redete] ursprünglicher Abschnitt, der durch eine Neufassung auf beigelegten Blättern mit alphabetischer Nummerierung ersetzt wurde Und als er also lag, zum Tode ermattet, stand ein Knabe vor ihm, sein Schüler, der ihm lieb war, und sprach ihm zu und sagte: »Rabbi, Ihr müsset etwas kosten, um eure Seele zu erquicken. Denn Euer Angesicht ist, als wolltet Ihr sterben.« Aber der Rabbi schüttelte [nur] den Kopf und flüsterte: »Was redest du? Ist doch heute der neunte Ab, ein Tag der Trauer und des grossen Fastens!« Aber der Knabe liess nicht ab und [sprach] ! bedrängte ihn und sprach: »Wisst Ihr nicht, dass es verboten ist, sich [zu vernichten] ! [aufzugeben] ! [mit Wissen] ! dem Tode auszuliefern?« Und er stellte eine Schüssel der köstlichsten Früchte vor ihn hin. Und der Rabbi sprach den Segen darüber wie einer, der sich anschickt zu essen [, aber er wusste nicht]. Aber als er den Segen gesprochen hatte, kam es ihm in den Sinn, was er getan habe, und er entsetzte sich vor seinem Tun. Und da es ihm offenbar wurde, rief er die Gestalt, die seinem Schüler glich, an und sprach: »Gehe aus, du Unreiner, von meinem Hause!« Und alsbald hob sich die Gestalt hinweg und war nicht mehr. / Den Rabbi überkam [aus der Erschöpfung der Kümmernis und der Erschöpfung der Schlaf,] ! ein tiefer Kummer und er lag in der Bande des Kummers viele Stunden, bis der Schlaf ihn anrührte, und er sah einen Traum. Er lustwandelte in einem [Garten] ! grossen Fruchtgarten, und rings um den Garten erkannte er die Gassen seiner Stadt; aber er wusste, dass er den Garten nie gesehen hatte. Da suchte er den Wächter und ging nach allen Richtungen, ihn zu suchen, bis er ihn in der Mitte des Gartens fand. Da fragte er ihn: »Was ist dies für ein Garten und wem gehört er?« Und der Wächter antwortete: »Er gehört dem Rabbi dieser Stadt.«

Der Widersacher

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Und wieder sprach er: »Ich bin der Rabbi dieser Stadt, und ich bin ein armer Mann und ohne Besitz. Woher käme mir dieses?« Und der Wächter antwortete: »Aus einem Segensspruch hat die Hölle diesen Garten geboren.« Da erwachte der Rabbi. / Den ganzen Tag ging er in den Banden des Kummers einher. Aber als der Abend kam und der Trauertag endete, schüttelte der Rabbi den Kummer ab und ging in seine Stube. Und er nahm die Bücher der Psalmen in die Hand und stand und sprach die Psalmen mit gewaltiger Stimme. Und als er das erste Buch gesprochen hatte, erzitterte die Erde und ein Bote stand vor ihm und rief: Genug! denn die Früchte sind schon abgefallen.« Aber der Rabbi erhob das Haupt und die Stimme und sprach das zweite Buch. Und als es zu Ende war, kam [eine Flamme aus] ! der zweite Bote und rief: »Genug! denn das Laub ist schon verwelkt.« Aber der Rabbi erneute die Kraft in sich und sprach das dritte Buch. Da kam wieder ein Bote und rief: »Genug! denn die Zweige sind schon verdorrt.« Und er sprach das vierte, und der Bote kam und rief: »Genug! denn die Aeste sind schon zerschlagen.« Und der sprach das fünfte Buch, und die Stimme des Boten sprach: »Du hast uns besiegt, denn die Stämme sind schon abgehauen.« / hDieses ist dazumal geschehen.i Aber die Wurzeln sind noch in der Erde geblieben. Und in vielen Nächten liegt der Rabbi ohne Schlaf und sinnt, wie er die Wurzeln ausreissen könnte. Aber er kann es nicht ersinnen.« / So erzählte die Stimme. Aber als Rabbi Josef die Worte gehört hatte, lief er zur Tür und öffnete sie und lief in die Stube und fiel vor dem Baalschem nieder und sprach: »Meister, lehre mich, was ich tun soll, um die Wurzeln auszureissen!« / Und der Baalschem sprach: »Wisse, nicht aus dem Wunsche ist dir der Garten geboren worden, sondern aus dem Kummer über den Wunsch. [Mache dich aufs Letzte los von deinem Kummer und du hast die Wurzeln] ! Und siehe, da ich all dies erzählt habe, ein Froher zu Frohen, ist die Freude hingegangen und hat die Wurzeln ausgerissen.« / Rabbi Jakob Josef aber ist danach der geworden, den sie den grossen Jünger nannten. h19 281,38 Und da er] Beginn des Teilstücks von h18 281,38 Und da er also lag] Und wie er nun lag war seine Seele [in ihrem Fühlen] ausgepreßt wie eine weggeworfene Frucht, die Zunge lag ihm ausgedorrt am harten Gaumen, die Augen fielen in ihren Höhlen zurück, da h18 281,38 so bar des Lebens] an Leben arm D14, D15, D16 282,1 glitt an] strich seine h18 [wehte] ! glitt an h19 282,4 weichen Züge, […] entstellt] weichen noch kindlichen Züge von Schreck und Bangigkeit entstellt h18

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Einzelkommentare

282,6-8 »Rabbi, […] zu stärken.«] Rabbi, Rabbi, ihr müßt etwas genießen, euren Geist zu stärken. Ihr laget wie einer, dessen Seele schon flüchtig ist, ihn zu verlassen h18 282,11 bat] legte schmeichelnd sein [Haupt] ! Gesicht darauf und flehte h18 282,13 Und er ging und kehrte wieder und trug] Er ging und kehrte wieder. Nun trug er D14, D15, D16 282,14 Früchte] Früchte, thaufrisch und wohlduftend im Hauch ihrer Reife h18 282,15 den Kopf] den Kopf, hob die Schüssel hoch, dicht unter die Augen seines Lehrers h18 282,17 Frucht des Baumes] Gottesgabe h18 282,19 ergriff] lähmte h18 282,21 betören] [verführen] ! betören h19 282,21-22 Knabe erzitterte […] wich bangend] Jüngling aber erzitterte und wich h18 282,23 aber fiel […] Abgrund] sank in sich zusammen und fiel in einen abgrundtiefen Kummer, und war viele Stunden seine Beute bis mit der entweichenden Macht der Schlaf ihn anrührte und sein Geist in den Traum einging Abbruch des ersten Teilstucks von h18 282,30 Und der Kummer des Rabbis wurde immer tiefer] Immer tiefer wurde der Kummer des Rabbis D14, D15, D16 282,33 Und in dem Rabbi war] Nun war in dem Rabbi D14, D15, D16 283,11-12 ein Garten […] nicht stünde] es einen Garten […] nicht gebe D16 283,12 und wunderlich furchtsam] furchtsam D14, D15, D16 283,13 ging in den Garten zurück] ging zurück D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 283,14 Rede stehen] Auskunft erteilen D16 283,19-20 Der gab verwundert zurück] Er gab [zornig zurück] ! verwundert [und zornig] zurück h19 283,20 Stadt und bin arm] Stadt. Ich bin arm D14, D15, D16 283,22 auf dem Grund] [in der Tiefe] ! auf dem Grund h19 283,28-29 bis zum Abend, da der Trauertag endete] [mit dem Abend der Trauertag zu Ende ging] ! bis zum Abend, da der Trauertag endete h19 283,33 ein Laut, der] [eine Stimme, die] ! ein Laut, der h19 283,41 die Stimme] [der Laut] ! die Stimme h19 284,2 das Ermatten] vom Rücken das Ermatten h19 284,3 letzte Macht] innerste Macht D14, D15, D16 284,7-8 war wie verflackernd] Beginn des zweiten Teilstücks von h18

Die Predigt des neuen Jahres

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284,18 Baalschem und] Baalschem drückte er das Angesicht auf die Erde Abbruch des zweiten Teilstücks von h18 284,21 dem Wunsche] jenem Wunsch D14, D15, D16 284,30-31 geworden, den sie den grossen Jünger nannten] große Jünger geworden, der die {Worte D8, D9, D10, D12 Lehre D14, D15, D16} des Meisters als Schrift bewahrte und den Geschlechtern überlieferte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 Wort- und Sacherläuterungen: 277,1 Der Widersacher] Vgl. auch »Der Geschichtenerzähler« in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 170 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [41]). 277,3 Rabbi Jakob Josef von Szarygrod] oder Rabbi Jaakob Jossef von Polnoe (gest. 1782): seit ungefähr 1741 stand er unter dem Einfluss des Baalschem. Seine Werke Toldot Jaʿ aqov Josef (1780), Ben Porat Josef (1781) und Zafnat Paʿ aneach (1782) sind die wichtigste Quelle für die Aussprüche des Baalschem. 281,20 Nacht des neunten Ab] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 473. 283,24 aus einem eitlen Segensspruch] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage 1955 unter »Segensspruch«, in diesem Band, S. 476.

Die Predigt des neuen Jahres Quelle: Qevutzat Ja’aqov, Bl. 52a-b. Vgl. auch »Blase in die große Posaune«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 168 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [84]). Variantenapparat: 286,5 glühenden] glühweissen h20 286,19 Es ist zu sagen, dass die Stimme] Die Stimme D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 286,20 gemeiniglich war] war gemeiniglich D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 286,25 Losgemachte] [Befreite] ! Losgemachte h20 286,27-28 des neuen Jahres] der Erneuerung D16 286,29 zum Herrn] zu Gott D16 286,32 Siehe, der Brand] Der Brand D14, D15, D16 286,32 der Brand der Wüste hat ihr Mark verzehrt] [die Glut der Wüste hat an ihrem Marke X] ! der Brand der Wüste hat ihr Mark verzehrt h20

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Einzelkommentare

286,37-38 auf festem Boden wankten] [zum Tode ermattet] auf festem Boden wankten h20 286,39 krankes Laub] [kranke [Früchte] ! Blätter] ! krankes Laub h20 286,39 Bote] [Engel] ! Bote h20 287,3 Engel] Bote D14, D15, D16 287,6 Und der Engel sprach] Nun aber sprach der Bote D16 287,6 »Schaue!«, und die Finsternis] »Sieh!« Die Finsternis D14, D15, D16 287,9 schloss sich] lag ein h20 287,11 Und ich sah, siehe] Ich sah: D14, D15, D16 287,11-12 , wie ein Blinder] h, wie ein Blinderi h20 287,16 Grates] [Kreises] ! Grates h20 287,18-19 Und der Mensch blickte plötzlich] Plötzlich blickte der Mensch D14, D15, D16 287,19 blickte plötzlich […], und er] hblickte plötzlich […], und eri h20 287,21-22 rief und schrie] schrie D14, D15, D16 287,22 Erhebe] Hebe D14, D15, D16 287,22 Und siehe, da erhob] Da erhob D14, D15, D16 287,23-24 , und keine […] an ihm,] , und keine […] an ihm, h20 287,28 Sehet] Merkt D14, D15, D16 287,30 fällt] [kommt] ! fällt h20 287,34-35 Schofarim] Schofarot D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 287,38 Seele, die aus unseren Seelen geboren wurde und] [Seele unserer Seelen, welche] ! Seele, die aus unseren Seelen geboren wurde und h20 288,1 und siehe, da] und da D14, D15, D16 288,4 Die Stimme […] bis er schwieg] [Und der Baalschem schwieg] ! Die Stimme […] bis er schwieg h20 288,5 seine Kammer] sein Zimmer h20 288,11 lebte] war h20 288,12 Kammer] Stube h20 288,14 langen Tische] langen uralten [weissüberhangenen] Tische h20 288,18 goldbraunes] [erdbraunes] ! goldbraunes h20 288,22 rotblaues Licht] Licht D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 288,30 lang sehend] [am Abgrund] ! sehend h20 288,35 Eile] Eile [wie ein Bote des Herrn] h20 288,38-39 lebte vor ihm und] fehlt D14, D15, D16 288,39-40 Da zwang er] Er zwang D14, D15, D16 288,40 mühte sich] mühte sich im Kampfe h20 289,13 Elimelech] Ruben h20 Mendel D14, D15, D16 289,16 Elimelech] Ruben h20 Mendel D14, D15, D16 289,17 Und abermals] Wieder D14, D15, D16

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Die Wiederkehr

289,19 Jehuda] Mosche h20 Meïr D14, D15, D16 289,22 Jehuda] Mosche h20 Meïr D14, D15, D16 289,23 Jehuda] Mosche h20 Meïr D14, D15, D16 289,31 rotblaue Licht] Licht D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 289,38 wich es] [wich der Bann] ! wich es h20 290,3-5 SCHOFAR […] Messias.] fehlt D14, D15, D16 Wort- und Sacherläuterungen: 286,24-26 Tekia […] Schewarim […] Terua] Die drei Töne oder Tonfolgen, die auf dem Schofar nach der Ordnung für den Gottesdienst am Neujahr geblasen werden. 286,28 Stosse in den grossen Schofar zu unserer Befreiung!] Aus dem Mussafgebet für das Neujahrsfest.

Die Wiederkehr Quelle: Menahem Mendel Bodek, Pe’er mi-qedoschim, Lvov (Lemberg) 1865, S. 3-7. Variantenapparat: 291,3-4 und harrten] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 291,4-6 ob die Seele […] ausgiessen würde,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 291,7 aus unbeschwichtigten Schmerzen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 291,8 heiligen Meister] Meister D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 291,9 dahergefahren] gekommen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 291,16 Jud] Mann D14, D15, D16 291,40 Lehrer und Meister, so es euch] Lehrer, wenn es euch D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 292,9 Gestalt, Angesicht und Rede] Angesicht D14, D15, D16 292,9-10 Da liess er eines Tages] Eines Tages ließ er D14, D15, D16 292,17 gar füglich] füglich D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 292,19 Dennoch] Doch D14, D15, D16 292,22-23 strahlendes Lächeln in seine Augen] Lächeln über sein Gesicht D14, D15, D16 292,27 heischen] fordern D16 292,28 Gnade und Erfüllung] Erfüllung D14, D15, D16 292,41 noch nie] kaum je D14, D15, D16 293,2-3 wie eine ätzende Flut] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

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Einzelkommentare

293,17 Kraft der Seele] Kraft D14, D15, D16 293,17-18 ist so geschehen] hat sich so ereignet D14, D15, D16 293,19 einmal] einst D14, D15, D16 293,25 gleichsam zu früh] früh D14, D15, D16 293,33 Allmählich jedoch] kein Absatzwechsel D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 293,35 aber jeden Monat schrieben sie einander] immerhin schrieben sie jeden Monat D14, D15, D16 293,36 mit nichten] nicht D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 293,39-40 , und waren sich […] zu bieten] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 294,1-2 sie hörten voneinander] jeder hörte vom andern D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 294,3 ihrer Welt waren] seiner Welt war D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 294,7 Wie er nun] Als er nun so D14, D15, D16 294,11 Und er ging unter den Leuten umher und] Er D14, D15, D16 294,12 und Leiden] fehlt D14, D15, D16 294,30 nimmer von hinnen] nicht D14, D15, D16 295,2 war, dass er zu ihm zu kommen gedächte] war: er gedenke zu ihm zu kommen D14, D15, D16 295,5 zu verlassen gedachte] verlassen wolle D14, D15, D16 295,36-37 übertriebene Liebe] Liebe D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 296,3 eine würgende Angst] Angst D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 296,5-6 schreckliche Worte, scharfe und seelenlose] scharfe und seelenlose Worte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 296,12-13 der mein einziger Hort […] meiner Seele Bruder] fehlt D14, D15, D16 296,18 hohen Richter] Richter D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 296,20 in Verwirrung und Trostlosigkeit] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 296,27 hohe Stimme] Stimme D14, D15, D16 296,30-31 , mit einer reinen Hülle der irdischen Wirklichkeit] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 296,36 wie flüssiges Silber] fehlt D14, D15, D16 297,2 , ein Armer in Wahrheit] fehlt D14, D15, D16 297,31 Gewalt] Kraft D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 297,39 behüte und reinige] reinige D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 297,40 Es antwortete der Baalschem] Der Baalschem antwortete D14, D15, D16 Wort- und Sacherläuterungen: 291,2 des heiligen Ropczycer Rabbis] Naftali Zvi von Ropschitz (17601827): Schüler des Jaakob Jizchak von Lublin und bedeutender Zad-

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Von Heer zu Heer

dik, dessen Dynastie in Polen viele Anhänger hatte. Ropczyce, der Wirkungsort des Naftali Zvi, liegt in Südostpolen. 291,18 Rabbanim] Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 474. 291,26 Rabbi Schalom von Kaminka] Schalom Rosenfeld von Kaminka (1800-1852): Schüler des Rabbi Naftali Zvi von Ropschitz.

Von Heer zu Heer Quelle: Ehrman, Devarim arevim, Bl. 10a-b. Variantenapparat: 299,4-5 zittern noch nach] [sind verflossen, die von fernen] ! zittern noch nach h21 299,6 schwere und selige] hschwere undi selige h21 299,7 Tag] [Dasein] ! Tag h21 299,16-17 ereiferte sich gegen ihn] [zürnte ihm] ! ereiferte sich gegen ihn h21 299,39 stand, sprach er] [stand und seine Hand in die Hände nahm] ! stand, sprach er h21 300,4 Ewigkeit] Ewigkeit [, in den grossen Stufengarten der kommenden Welten] h21 300,9-11 So gehe hin […] Wahrheit] [Und mein Segen ist mit dir, mein Sohn, auf deinem] ! So gehe hin, Kind, wenn dich der Tod beruft, [in meinem Segen und im Segen deiner Wahrheit] ! und trage meinen Segen vor dir und deine Wahrheit h21 300,14 kniete] [warf sich] ! kniete h21 300,34 Atmen] [Leben] ! Atmen h21 300,38 Scheiden] Scheiden [und mählich erlosch das Leben] h21 300,41 Heiligtum] [Tempel] ! Heiligtum h21 301,1 das Unerfahrbare] [Geheimnis] ! das Unerfahrbare h21 301,8-9 War ein Starren] Aber ein Starren war D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 301,12 fasste seine Finger […] sich los] wollte ihn umschlingen. Er aber widerstand ihr D14, D15, D16 301,12-13 wandte sich, und da] [plötzlich war alles verschwunden] ! wandte sich, und da h21 301,14 Antwortete er] Er antwortete D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 301,15 Sprach der Alte] Der Alte sprach D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 301,15 verweilst] [bleibst] ! verweilst h21

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Einzelkommentare

301,19 Fragte ihn der Jüngling] Der Jüngling fragte ihn D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 301,20 Sprach wieder der Alte] Da sprach wieder der Alte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 301,21 gehen und hören] gehen D14, D15, D16 301,24 Darob] Darum D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 301,25 gewischt] [genommen] ! gewischt h21 301,28-29 Antwortete der Alte] Der Alte antwortete D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 301,32-33 trat in den Traum seines Freundes ein] [erschien seinem Freunde] ! trat in den Traum seines Freundes ein h21 301,33 flüsterte] [sprach] ! flüsterte h21 301,36 auch] sei’s D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 301,39 schier ineinander] aufeinander D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 301,39 Zähnen] [Lippen] ! Zähnen h21 302,13 fängst du mich] [lasse ich mich fangen] ! fängst du mich h21 302,23 bog] [wiegte] ! bog h21 302,25 Am hellen Tage] [Morgen um diese Stunde] ! Am hellen Tage h21 302,34 des heiligen Erkennens] [der heiligen Weisheit] ! des heiligen Erkennens h21 302,35-36 welche genannt wird […] Königin] die vor dem Scheiden der Königin Himmel und Erde eint D16 302,36 predigt] [spricht] ! predigt h21 303,2 Mahl der Königin] heiliges Mahl D16 303,3 seinem Munde] dessen Mund D14, D15, D16 303,4-22 Und der Jüngling […] für und für.«] Textverlust wegen fehlender Blätter h21 303,14 Und er stand] Nun stand er D14, D15, D16

Das dreimalige Lachen Quelle: Walden, Qehal chassidim, Bl. 15b-16a; Michael Levi Rodkinson (Frumkin), Toledot ba’aley schem tov (Or yisra’el), Königsberg 1876, S. 106-110. Variantenapparat: 304,2 Einmal an einem] An einem D14, D15, D16 304,5 hellen freudigen Schein] freudigen Schein D14, D15, D16 304,18 Meister] Baalschem D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

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Die Vogelsprache

304,24 zum Meister] zu ihm D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 304,25 fragte] bat D16 304,27 Da sprach der Baalschem] Der Baalschem sprach D14, D15, D16 304,30-31 es der Baalschem] er es D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 304,37 Judenheit] Judenschaft D14, D15, D16 305,8 heischte] sagte D14, D15, D16 305,14 Siehe, alle Tage] Alle Tage D14, D15, D16 305,14 kam] floß D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 305,15-16 ich war tätig und vermochte] ich vermochte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 305,26 gar gering] gering D14, D15, D16 305,27 bitteres Sorgenleben] Sorgenleben D14, D15, D16 305,27 gegeben] gewährt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 305,31 ins Bethaus zu gehen und so das Meine zu tun] meine Wochenarbeit zu enden, ins Bethaus zu gehen und beim Sprechen des Hohelieds und der Festgesänge bis an den Abend zu verweilen D14, D15, D16 305,34 erstehen] bestreiten D14, D15, D16 306,14 blieb und kehrte] blieb D14, D15, D16 306,17 , verblichenen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 306,21 Kleidungsstücke] Gewandstück D14, D15, D16 306,24 gar eilig] fehlt D14, D15, D16 306,26 Lichter] Kerzen D14, D15, D16 306,30 gar festlich] festlich D14, D15, D16 306,31 Siehe, meine] Meine D14, D15, D16 306,39 bereit und stark] bereit D14, D15, D16 307,15 So konnte ich] Ich konnte D14, D15, D16 307,24 den drei Malen.«] ergänzt Zu den beiden aber gewandt sagte er: »Möge euch Kinderlosen ein Sohn eures Alters geboren werden, den nennet Israel nach meinem Namen.« Und so geschah es. Dieser Knabe ist der Maggid von Kosnitz, der große Beter, geworden. D14, D15, D16

Die Vogelsprache Quelle: Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht (Grözinger), Hebr. Nr. 261 / Jiddisch Nr. 194 Variantenapparat: 308,4 einer, ein Einziger] ein Einziger D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 308,6 und sich härmte] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

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Einzelkommentare

308,6-8 , als Beute, die […] geweitet hatte.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 308,9 Gehör] ein Ohr h22.1 308,10 Es ging ihm ein] Er wurde inne h22.1, h22.2 308,11-12 zueinander redeten und sich vertrauten] einander vertrauten D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 308,17 war Rabbi Arje in sich wohl klar] war es Rabbi Arje wohl bewußt D16 308,21 furchtbar] hinreißend D16 308,22 verstünde] inne hätte h22.1, h22.2 308,23 seine Rede mächtiger denn je] fehlt h22.1 308,24-25 predigen aus […] seiner Gemeinde] aus dem Geist der Erde und der Himmel predigen und so die Herzen seiner Gemeinde regieren D16 308,26 feinen, ungreifbaren] ungreifbaren D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 308,26-27 herrlicher und begehrenswerter] begehrenswerter D14, D15, D16 308,28 zum Baalschem zu ziehen,] zum Baalschem zu ziehen, der ihn seit langem in Freundschaft hielt D14, D15, D16 308,30 dem seligen Munde] seinem Mund D14, D15, D16 308,34 nimmer versagen] nicht versagen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 308,36-37 ganz eingesponnen in seinen Wundertraum] eingesponnen in seinen Traum D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 308,37 Meisters] seligen Meister h22.1, h22.2 308,37-38 Das Gemach] Der Raum h22.1 308,39 redete gerade] redete D14, D15, D16 309,1 Haupt gegen die Erde nieder, und als] Haupt. Als D14, D15, D16 309,2-3 hartglänzend und unstet] hartglänzend D14, D15, D16 309,3 just in die milden blauleuchtenden] in die mildleuchtenden D14, D15, D16 309,4 , die wie zwei […] Raume waren] fehlt D14, D15, D16 309,4 sanfte,] fehlt D8, D9, D10, D12 309,11 doch war er] aber er war D14, D15, D16 309,14 zuzuwinken] zu entbieten h22.1, h22.2 309,16 Meister] Zaddik h22.1 309,19 Rede] Äußerung D14, D15, D16 308,19 noch erzählend] schon sprechend h22.1 309,22-23 fort und fort tottraurig und verwundet] noch tottraurig D14, D15, D16 309,24 heiss und trocken] heiss D8, D9, D10, D12 fehlt D14, D15, D16 309,25-26 Und dennoch wusste […] Freundschaft gehalten.] fehlt D14, D15, D16

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309,27-28 ; als könnte er […] froh werden] fehlt D14, D15, D16 309,31 Demütigung sei so elend, keine] fehlt D14, D15, D16 309,36 wandte] kehrte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 309,39 krank und siech] krank D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 309,40 geworden. Er empfand] geworden, ihm war h22.1 309,41 ganz allmählich tiefer und tiefer] allmählich D14, D15, D16 310,1 wirbelnde Finsternis] Finsternis D14, D15, D16 310,5-9 , oder eine Prüfung […] Beachtung.] Textverlust wegen fehlender Seite h22.1, h22.2 310,8-9 und empfing […] Beachtung] fehlt D14, D15, D16 310,11-12 nach Kaminka und Jampol] fehlt D14, D15, D16 310,12-13 kalt und bitter eine allerletzte Verzweiflung] Verzweiflung D14, D15, D16 310,13 so seinem Wunsche] ihm so D14, D15, D16 310,14 Meister] fehlt D14, D15, D16 310,17 tiefer Freude] Freude D14, D15, D16 310,18-19 sich oder seinen Willen] seinen Willen D14, D15, D16 310,20-22 Nunmehr eilte das Schiff […] Wunsches hinaus.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 310,20 Hoffnung] Sehnsucht h22.1 310,22 Denn er fühlte] Er fühlte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 310,24 Bangen fuhren die Genossen] Erwarten fuhren die Genossen des Heiligen h22.1 310,25 Und wie] Wie nun D14, D15, D16 310,26 stärker] [schärfer] ! stärker h22.1 310,29 ernste und wunderbare] ernste D14, D15, D16 310,29 Weisse Nebel] [Sie gingen unter den Wassern] ! Weiße Nebel h22.1 310,31 den Pferden] dem Wagen D14, D15, D16 310,31-32 stiegen knapp neben […] Erde auf,] fehlt D14, D15, D16 310,33-24 in der Finsternis] fehlt D14, D15, D16 310,35 jubelnden Entzücken] Entzücken D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 310,36 müde Erstarrung] Erstarrung D14, D15, D16 310,37-38 von den wechselnden Gefühlen des Tages] von dem Wechsel der Gefühle des heutigen Tages h22.1 310,39 wie er meinte, jeden Augenblick] jeden Augenblick, meinte er D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 311,3 Jünger] Genossen h22.1, h22.2 311,8 alle] fehlt D14, D15, D16 311,10 in ihrer Mitte] in seinem Gehirne h22.1 311,11 seiner Seele] seinem Innern h22.1 311,14 Offenbarung] wunderbarste Offenbarung h22.1

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Einzelkommentare

311,14-16 Wie er lag […] auffahren liess.] fehlt D14, D15, D16 311,16 Dann lag er] So lag er D14, D15, D16 311,21-22 und lauschte] [lauschend] ! aufhorchend h22.1, h22.2 311,23 hinaus] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 311,26 nachtgeborene] neue h22.1 311,26 kommenden] werdenden D14, D15, D16 311,29 getroffen] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 311,30 dem Geländer festhielt] das Geländer klammerte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 311,32 das Angesicht] den Leib h22.1 311,35-36 in Furcht und Schönheit von solcher Art] zugleich so schön und so furchtbar h22.1 311,37 befiel] befiel, daß die Thränen ihm niederrannen h22.1 311,38 Erhabene] Zaddik h22.1 311,40-41 den zwei Welten] [Tod und Leben] ! den zwei Welten h22.1 311,41 es wagte, den Blick wieder zu erheben] den Blick wieder wagte D14, D15, D16 312,2 der Wirklichkeit] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 312,5 scheue Stunde] Stunde D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 312,6 ehrfürchtigen] fehlt h22.1 312,10 Herrn] Meister h22.1 312,11 aufs neue] wieder D14, D15, D16 312,12 erhob] begab D14, D15, D16 312,13 Erlebnis] Ereignis D14, D15, D16 312,26 Siehe, ich weiss] Ich weiss D14, D15, D16 312,29 Baalschem] Meister h22.1 312,31 meinem Munde] mir h22.1 312,32-34 Sei nur ohne Sorge […] die Genossen.] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 312,34 Lärm von Huf und Rad verschlingt] und Huf und Räder überrasseln h22.1 312,36 ein Ding, das du weisst, vor dein Auge hebe] dich mit einem Dinge bekannt mache h22.1 312,36 das du weisst] das du kennst D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 312,36 wisse] bedenk D14, D15, D16 312,38 Du weisst von] davor Absatzwechsel D14, D15, D16 312,38-39 Du weisst […] Welt steht] In einer der Sphären der oberen Welt steht ein gewaltiger Wagen h22.1 312,38 gewaltigen] urewigen D16 312,41 Quell] Wurzel D16 313,1 ereignet und sich erfüllt] ereignet D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16

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313,2 Siehe. von] Von D14, D15, D16 313,6 von dem] aus dem D14, D15, D16 313,9 erzeugt] gebiert h22.1 313,9 in seinem Gehirne die Laute der Vogelwelt] die Laute des Vogelvolks D14, D15, D16 313,13-14 Geheimnis] Mysterium h22.1 313,15 Sinnbild der Geschöpfe unserer Welt sind] Symbol unerer Welt und ihrer Geschöpfe darstellen h22.1 313,15 , Freund,] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 313,17 wahren] wahren, das aus des Menschen Munde kommt h22.1, h22.2 313,21 Heimlichkeiten] Geheimnisse h22.1, h22.2 313,21 der Natur und des Lebens] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 313,22 taub und unempfindlich] unempfindlich D14, D15, D16 313,23 Siehe, und so] So D14, D15, D16 313,24-25 die Wurzel, aus der alles kommt] den Ursprung D14, D15, D16 313,31 letzten Tiefe] Tiefe D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 313,32 Und der Meister] Der Baalschem D14, D15, D16 313,38 knapp und eng] knapp D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 314,5 recht innigem] innigem D14, D15, D16 314,10 ging zu Ende, und ganz nah] lichtete sich, und schon D14, D15, D16 314,11 Der Meister hatte] Der hatte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 314,12 stillschweigend und forschend] forschend D14, D15, D16 314,14 frohen Augen] Augen D14, D15, D16 314,17 Siehe, nun hatte] Nun hatte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 314,17 der Baalschem] der Zaddik h22.1 314,18 seinen Geist] seiner Seele h22.1 314,20 und empfand dabei] davon D14, D15, D16 314,22 O wehe] Wehe D14, D15, D16 314,23 unstete, gierige] fehlt D14, D15, D16 314,24 aller Gnaden] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 314,25 O wehe dir] Weh dir D14, D15, D16 314,28-29 sank der Prediger […] bitterlich] legte der Prediger schluchzend sein Gesicht in die Hände D16 314,28-29 in sich zusammen […] bitterlich] schluchzend in sich zusammen D14, D15 Wort- und Sacherläuterungen: 308,2 Rabbi Arje, der Prediger von Polana] Arje Leib von Polnoje, genannt der Mokhiach (Mahnprediger) (gest. 1770): gilt als einer der ersten Schüler des Baalschem, fuhr über die Dörfer, um die chassidische Lehre zu verbreiten. 1798 erschien eine Sammlung seiner Pre-

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digten und Dicta unter dem Titel Kol Arye, die auch einige sonst unbekannte Sentenzen des Baalschem enthält.

Das Rufen Quelle: Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht (Grözinger), Hebr. Nr. 58 / Jiddisch Nr. 44; Toledot ba’aley schem tov (Or yisra’el), Königsberg 1876, S. 99-102. Variantenapparat: 315,2 Rabbi David Pirkes] davor gestrichenes Textstück, dessen Anfang verloren ist [wächst er auf, und sein Schweigen blüht wie eine glanzlose Blume. Vater und Mutter schämen sich seiner vor den verächtlichen Menschen. Dann kommt eines Tages ein Kosake auf einem Pferd, legt die Flinte an, schiesst den Knaben durchs Stubenfenster ins Herz und verschwindet. Aber ein fremdes, nie gesehenes Mädchen springt von einem Apfelbaume zum Knaben hinab, spielt mit ihm, [windet mit ihm] ! lehrt ihn einen Kranz aus Gänseblumen und Laub winden, reicht ihm einen Tollkirschenzweig, sieht zu wie er Beeren kostet, und ist nicht mehr da. / Immer ist Einer, der die Zeit befragt, und Einer, der für die Zeit antwortet, Einer, der geben will, und einer, der nicht annehmen kann. Das Zwiegespräch dieser Beiden, die abgelehnte Gabe heisst Messias. / Wer wagt es, sein Haupt zwischen die hohen Berge zu stecken? Sie rücken aneinander und er wird zerdrückt. Wer wagt es, zum innersten Himmel vorzudringen und den Messias zu rufen, dass er komme und lebe? Wer will für die Zeit anders antworten als der dessen Amt es ist, das Fehle der Zeit zu künden und zu vollziehen? Wer will das Heil nehmen aus den Händen des Gebenden und es nicht mehr entlassen? hWer kann das Vielfache einfangen und zur Einheit ballen?i Wer wirft seine Seele in die Nacht um des Morgens willen? h23 315,4 einziehen] eindringen D14, D15, D16 315,5-6 Und er versammelte […] und band] Er band D14, D15, D16 315,7-8 Mächten. Und als seines Leibes […], kasteite er sich] Mächten, kasteite er sich D14, D15, D16 315,8-9 brachte sich dahin, […] entraten kann, und] fehlt D14, D15, D16 315,10 Einheit und Gelöstheit] Gelöstheit D14, D15, D16 315,12 sprechen] [antworten] ! sprechen h23 315,19 ganz Israels] [aller Gemeinden] ! ganz Israels h23 315,21 schleudern] [werfen] ! schleudern h23

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Der Hirt

315,24 sprechen] antworten h23 315,25 in ihm emporströmen] [aller Blut in sein Blut] ! in ihm emporströmen h23 315,39 das Betpult] [den Ständer] ! das Betpult h23 316,6 geweihten Herzens] hgeweihten Herzensi h23 316,12 Staunen] [bleiches] Staunen h23 316,15 und tragenden Sprechen] hund tragendeni Sprechen h23 316,22 unirdisch bleich] [sterbensfahl] ! unirdisch bleich h23 316,23-24 , Wort von […] Tiefe der Hölle] fehlt D14, D15, D16 316,32-35 dünne, spitzige Finger […] Glieder, und] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 317,3-318,34 Bereitschaft […] Messias in dir.«] Textverlust wegen fehlender Seiten h23 317,8-9 wie Bergesfeuer] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 317,29 im Schweigen] schweigend D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 318,34 Fürwahr, Rabbi, als du weintest, da] Als du weintest, Rabbi, D16

Der Hirt Quelle: Ehrman, Devarim arevim, Bl. 7a-b. Variantenapparat: 319,2-321,24 Immer, wenn […] zur neuen Fahrt.] fehlt h24 319,9 ging] [schlug] ! ging h25 319,9 sein weicher glänzender] [der weiche schwarze glänzende] ! sein weicher glänzender h25 319,13-14 unsicherem Munde] [unsicheren Lippen] ! unsicherem Munde h25 319,14-15 Aber jener sah […] ansieht, und] Jener aber D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 319,17 langen] fünfundsiebzigjährigen h25 319,17-18 an ihrer Statt […] gekommen] eine Last war geblieben D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 319,23 bedarf euer zum Kampfe] bedarf euer [und habe der Kraft nicht mehr genug] zum Kampfe h25 319,23-24 Und flogen alsbald herbei] Und alsbald flogen herbei D8, D9, D10, D12 Alsbald flogen D14, D15, D16 319,24 urweitem Kreise] weitem Kreise D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 319,30-31 , Trost zu bringen […] Lösung.] h, Trost zu bringen […] Lösung.i h25

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Einzelkommentare

319,31 oder Tat] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 319,32 wieder mein seiet und] hwieder mein seiet undi h25 319,34 , darin ihr wachset und Leben wecket,] h, darin ihr wachset und Leben wecket,i h25 319,36 lag über dem Lande] war über [der Weite] ! dem Lande h25 war über dem Lande h26 319,38 sprach eines] sprach eines, und seine Stimme läutete, als sei aus einem zarten, flüchtigen Funken ein feines Glöcklein geworden h25 320,2 Jünglings entsandt, der sehr] armen Mädchens entsandt, das h25 320,2 Er sah] Es sah h25 320,4 der Jüngling] das Mädchen h25 320,6 er von seinem] sie von ihrem h25 320,8 süssen Spieles] süssen Spieles [und die Sträucher schlingen sich ineinander und sind wie ein seliges Schicksal] h25 320,16 Frage hin] Frage hin [, sanft bittend von den Lippen der Frauenstrahlen, zornig fordernd in die Stimme der Männerflammen, hell und offenbarend aus der Kehle der Sterne, die in den Seelen der Heiligen wohnen] h25 320,17 der erschütterten Luft] der [von tausend Klängen] erschütterten Luft h25 320,20 zum andern Male] zum andern Male. [Und er erhob sich und breitete Hände über die leuchtenden Schaaren, und es war wie ein Segen der letzten Stunde] h25 320,33 Zornes] Fluches h25, h26 321,3 hingegeben] hingeopfert D16 321,5-6 du entlauscht hast meinem Schritte] meinem Schritt entlauscht hast D16 321,6 zu finden die Seele] die Seele zu finden D16 321,8 aufschlürfe und zu nichte] zu nichte D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 321,8-10 Da sprach Achija […] schenken kann] Achija sprach: »Ich kann die die Kunde nicht schenken, mein Sohn D14, D15, D16 321,9 Des ist mir wehe] Weh ist es mir h25 321,13-14 Denn nicht dringt […] Geheimnis sind.] fehlt D14, D15, D16 321,13 das Geheimnis] die Lehre vom Geheimnis D8, D9, D10, D12 321,15 die Erden mag er] die Erden, da er den Kämpfenden beisteht, mag er h25 321,18 Als sie an ihn traten] Und als sie zu ihm sprachen h25 321,18 an ihn traten, neigte] ihm nahten, wandte D14, D15, D16 321,20-21 Und ehe […] gelöst hatte] Und als er ihre Frage vernommen hatte h25

Der Hirt

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321,22-23 genannt werden die Poloninen] die Poloninen genannt werden D16 321,23 das Wort ihn verlassen] sich das Wort von ihm gelöst h25 321,24 zur neuen Fahrt.] zur neuen Fahrt. / Der Baalschem aber trat hernieder und wandte sich zu den Bergen, die ihm gewiesen [waren. Er ging über die jungen Matten] ! waren, und suchte Mosche den Hirten und fand ihn, eine grosse Schafherde weidend. Die Tiere waren Textverlust aufgrund fehlender Seiten h25 321,26-324,16 Die milden Matten […] tröstete ihn] abweichende Textfassung bei Paula Buber Der Baalschem zog hinaus in die Berge, den Hirten Mosche aufzusuchen. Und er ging seines Weges und nichts rührte an ihn und nichts suchte seine Seele heim, denn sein Wille war über ihr und hielt sie allem und jeglichem Ding verschlossen, sie die in seinem langen Leben an ein jegliches sich dahingegeben hatte im strömenden Mitdasein. Und er achtete des Gevögels und Getieres nicht, das aus dem Walde trat mit traulichem Geäuge, da es seinen Schritt vernahm und er liebkoste mit nichten den vollen Zweig, der ihm den Arm zärtlich streichelte. Ganz in sich zurückgezogen, einem bange Träumenden gleich ging er durch die schwere, sonnenüppige, stolze Pracht der Gelände hin. Seine alten Füße spürten keine Müdigkeiten und trugen ihn unentwegt. So kam er an die hgroßei Bergwiese, die jäh ansteigend hinter einem breiten Graben beginnend bis zum Gipfel des Berges reichte. Auf der mächtig hinan sich dehnenden Fläche mit ihren hohen Gräsern und würzigen Bergblumen waren Mosches Schafe verstreut wie [lose] ! ein leichtes hweißesi Wölkchenvölkchen?. Als der Baalschem die Weide gewahr wurde, hielt er inne, fuhr sich schwer über die Augen, wie um ein Bild zu verscheuchen und trat alsdann hinter ein Gebüsch, um unbemerkt nach dem Hirten auszuschauen, damit er seines Ansehns und Gebarens gewahr [werde] ehe dieser selbst ihn noch ersehn. / Und er erblickte einen Mann, der stand am Rande des Grabens und war stark von Gestalt. Seine lichten Haare deckten ihm die Schultern und sein Auge war wie eines Kindes Auge in seiner Bläue groß geöffnet, zutraulich und ohne Arg. Sein Gewand aber war über die Maßen grob und dürftig. Und der Mann that den Mund auf und hub zu reden an und obgleich keiner da war, weit und breit, hielt er Zwiesprach mit einem Wesen und gab viele inbrünstige und glühende Worte aus. Alsbald wurde der Baalschem gewahr, daß er Gott anrief in seiner einfältigen Weise. Und er hörte wie der Hirt sprach: »Herr ach so unterweise mich Thoren, was ich für Dich thun mag! Siehst Du denn nicht wie Dein ärmster Knecht darnach vergeht, einen Weg

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Einzelkommentare

zu dir zu finden? Mein Herz ist nicht geschickt, Dich mit Worten heimzusuchen, denn allzu unwissend bin ich und allzu ungeschlacht ist mein armer Sinn. hAch Herr, daß Du mein Gebieter wärst und ich hütete Deine Schafe, wahrhaftig, ich wollte ihrer warten Tag und Nacht, ohne Lohnes zu begehren!i Unterweise mich Herr!« Nun schwieg der Hirte und sah eine Weile still vor sich nieder. Da fiel sein Blick in den breiten Wassergraben, der den Weg von der Wiese trennte und sein Auge leuchtete auf und er sprach: Lieber Herr, nimm das, was ich nunmehr thun werde ganz so auf, daß es zu Deiner allergrößten Ehre und in Deinem heiligen Dienste gethan sei, denn siehe ein ander Ding erfindet mein enger Geist nimmer. Da hub [er] an über den Graben zu springen, mit eingestemmten Armen, die Füße dicht aneinander. Der Graben war breit, voll Schlamm und allerlei Gezücht und Getier wie es darin vorkommt und das Springen machte ihm viele Mühe und kostete ihm den lichten Schweiß. Dennoch sprang er unverdroßen hinüber und herüber und unterbrach sich nur zuweilen um nach seinen Schäflein auszusehen, die sich inzwischen allzusehr verstiegen hatten und gab dem Vieh gar liebreiche und gute Wörtlein und wendete viel freundliche Sorge um die Kreaturen an. Dann aber rannte er eilends zum Graben und hub mit dem Springen aufs Neue an. / Der Baalschem hatte lange gestanden und geschaut und ob der großen Gottesliebe und um des schlichten Dienstes des Hirten Willen standen ihm die Thränen in den Augen auf. / Er kam aus seinem Versteck hervor, trat zu Mosche und sprach: »Ich habe mit Dir zu reden!« Antwortete der Hirt: Herr, es ist mir nicht verstattet mich mit Euch im Gespräch zu verhalten, denn sehet mein ganzer Tag ist derer, so mich gedungen haben. Da redete der Baalschem: Sehe ich Dich doch seit Stundenfrist hier springen und hast Zeit dafür. Gab der Hirt zurück: »Thu’s um Gottes willen und wegen seiner darf ich die Weide verpassen.« Und er wollte sich anschicken auf ’s Neue hin und wieder über den Graben zu springen, aber der Meister legte ihm die gute Hand sanft auf den Arm: »Freund, ich bin Dir auch um Gottes willen gekommen!« Da ließen die Beiden sich Seit an Seite unter einem Baume nieder und der Heilige redete von Gott und göttlichem Ding also klar und sanft, daß der rauhe Mensch neben ihm zuhörte und das Herz bebte in ihm voll Liebe und Gottesverlangen indem er der seligen Weisheit lauschte. Und der Baalschem fühlte wie die Andacht zum Himmel stieg und ein Sturmwind gegen die hohen Pforten stieß und sie aufschloß. Der Meister frage, ob sie wohl einen Quell finden möchten darein zu tauchen nach dem Gebote. Da vergaß der Hirte alles andere vor der Begier, den heiligen

Der Hirt

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Dienst zu thun und ungestüm rannte er in wenigen Sprüngen den Berg hinunter, wo eine klare Quelle ins Thal floß. Dort tauchten sie und der Heilige redete weiter und sprach nur vom [heiligen] ! gewaltigen Tempel des Herrn zu Jerusalem, der nun eine Stätte der Trümmer sei, und von der Gottesherrlichkeit, die wie eine zarte, verstoßene Jungfrau in der Wildnis weine und auf den Befreier warte. Und wie der Tag nun da sei – doch der Streiter noch nicht gekommen, wohl aber der Feinde viele und unter ihnen vor allen Einer der groß im Bösen und gewaltig im Hasse sei und wie das Natterngift der falschen Lehre von seinem Munde fließe unter Gottes Volk. Da sprang der Hirte auf beide Füße, der Zorn ließ seinen großen Körper erbeben und er schrie: »Herr, machet, daß ich Gottes Kämpfer werden mag, meine Seele ist entbrannt für solchen Krieg!« Da hieß ihn der Baalschem stille und duldsam sein und [hieß] ! gebot ihn X feiner und langsamer Dinge Acht haben auf daß er geschickt werde Gottes Kriegsmann zu heißen. Er begann ihn zu unterweisen in der Lehre [und zeigte ihm die Schrift] ! lehrte ihn den Sinn der Buchstaben zu erfassen und fand ihn voll glühenden Eifers und unbewegter Hingabe. / Der Dämon des Widersachers aber schwang in den Lüften und wurde des Bundes der Seelen gewahr, wie die reife, sicherführende des Heiligen sich der sturmstarken, wehenden des jungen Gottsuchers zu ihrem Werke bedienen wollte. Da schwoll er an in giftiger, schnaubender Wut und zog sich mächtig und stark an all dem Bösen, das in jenen Tagen auf Erden gedieh und erstritt sich den Weg in die oberen Welten und begehrte in starken und gellenden Wort sein Recht auf die Zeiten, da seine Übermacht groß war. / Aber der Herr dämpfte sein Heischen und gab ihn anheim nicht mehr, denn das erste Viertel der nächsten Stunde. Mit geblähter Bosheit fuhr der Dämon nieder in die Wolken und ballte sie mit wütigen Fäusten zu wirbelschwarzen Ungetümen, ein plötzlicher Sturm zog am feierlichen Himmel, die Finger des Bösen ließen schrille Blitze niederzingeln und den X dröhnend X. Er entsandte die klamme Angst aus seinem Gefolge und sie ergriff die Herzen mit Würgehänden. Feuer fiel in die Stadt nieder, die Glocken stöhnten auf. / Da fuhr Mosche, der Hirt, als er Schall und Getön vernahm, über den heiligen Worten auf, und gedachte seiner Tiere, die in der Unbill des Himmels schutzlos in den Bergen geblieben waren. Er sprang auf und eilte mit langen eiligen Schritten hinauf, den Berg hinan, die Verirrten mit kindlichen Schmeichelworten zu locken und hörte nimmer auf den Heiligen und sein Warnen und Aufhalten. / Da wurde der Baalschem still und Todestrauer fiel auf seine Stirn. Er erkannte den Sieg des Versuchers und beugte sich. Und die Stunde war

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Einzelkommentare

vernichtet da seine Seele mit der des Hirten vereint allmächtig die Gewalt des Bösen hätten zertrümmern sollen. h24 321,26 neigten] bogen D14, D15, D16 321,30-31 in strömendem Mitdasein] fehlt D16 321,31-32 aus dem Walde traten mit traulichem Geäuge] mit traulichem Geäug aus dem Walde traten D16 321,37-38 mächtigen] breiten D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 322,3 kein Wort in sich] das Wort nicht in sich D14, D15, D16 322,9 gab viele inbrünstige Worte aus] sprach inbrünstige Worte zu ihm D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 322,12 Sage] Weise D16 322,13 Da] Sogleich D14, D15, D16 322,16 lichten] hellen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 322,17 keines Augenblickes Dauer an einem Ufer] nicht an einem Ufer auf D14, D15, D16 322,20 Schafen] [Schäflein] ! Schafen h26 322,23 war es ihm] berichtigt aus war ihm nach D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 322,26 Antwortete der Hirt] Der Hirt antwortete D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 322,29 Tu’s] Das tu ich D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 322,33 mächtigem] [starkem] ! mächtigem h26 322,34 aus einer] mit einer D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 322,34-35 und sie in das Beben […] darin trug] fehlt D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 322,37 Herzen] Herzen der Welt h26 322,39-40 vom Dunkel gekrönt schaut er in den […] Abgrund der Dinge] in den […] Abgrund der Dinge schaut er D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 322,39-40 Abgrund der Dinge und wartet] Abgrund der [Sterne] ! Dinge und wartet h26 322,40-41 die Schechina] [seine Glorie] ! die Schechina h26 323,1 bangt] [trauert] ! bangt h26 323,1-2 ihre Bangigkeit] ihr Bangen D8, D9, D10, D12, D14, D15, D16 323,2-3 Gottesspende und brennen empor] Gottesspende [in ihnen und werden wie Kelche X X X] ! und brennen empor h26 323,5 Herrlichkeit] [Gottesherrlichkeit] ! Herrlichkeit h26 323,6-7 alle Seelen heimkehren und Gottes Verbannung lösen] alle [Dinge heilig werden und in der Heimkehr der Seelen das Geheimnis der Ewigkeit erfüllen] ! Seelen heimkehren und Gottes Verbannung lösen h26 323,8 ihrer Höhle] [der Höhle des Widersachers] ! ihrer Höhle h26

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Das Hohe Lied

323,10 ihren Boten.] ihren Boten. [Dieser ist eine Seele, die von aller Zeit der Glorie widerstanden und sich der Finsternis angelobt hat; in jeder neuen Wiederkehr auf die Erde] h26 323,18 unterweisen] belehren D16 323,33 In welchen Zeiten] [Hier gilt kein Hin und Her.] In welchen Zeiten h26 323,36 Und siehe, du weisst es.] hUnd siehe, du weisst es.i h26 324,14-15 Und Israel ben Elieser erkannte] So erkannte Israel ben Elieser D14, D15, D16 Wort- und Sacherläuterungen: 319,1 Der Hirt] Die Quelle hat Buber auch für »Das dritte Mißlingen« in Die Erzählungen der Chassidim, S. 170 f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [83]) als Vorlage genutzt. 319,6 Jakob Frank] (1726-1791): vom Sabbatianismus beeinflusster falscher Messias, der 1759 zum Katholizismus übertrat. Vgl. Bubers Erklärung in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 470. 320,32-33 Achija von Schilo] Vgl. Bubers Erklärung in Die Legende des Baalschem von 1955, in diesem Band, S. 468. 321,14 Elija] Vgl. Bubers Erklärung zu »Bote des Messias« in der Neuauflage von 1955, in diesem Band, S. 468 f. 324,13-14 Und der Engel legte […] und küsste ihn.] Moses soll »wie durch einen Kuss« Gottes gestorben sein und nicht durch den Todesengel. Vgl. bBB 17a (BT, Bd. VIII, S. 67).

Das Hohe Lied Diese Geschichte, die Buber in keine seiner späteren Sammlungen chassidischer Erzählungen aufgenommen hat, ist im April 1909 anlässlich des Pessach-Festes in Die Welt erschienen. Das Hohelied wird nach aschkenasischem Brauch in der Synagoge am Sabbat des Pessach-Festes gelesen. Textzeugen: h1: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var 350 dalet 33); 9 paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte, undatiert; mit mehreren Korrekturen versehen; trägt einen handschriftlichen Vermerk: »Korrektur an Dr. Martin Buber, Berlin-Zehlendorf«. h2: Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var 350 dalet 33); 5 paginierte Blätter, mit Korrekturen versehen. Der Textzeuge stellt eine Umarbeitung und Erweiterung von D dar und konstituiert eine Textfassung, die

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Einzelkommentare

unveröffentlicht geblieben ist. Der Textzeuge ist in einer Art Collage zusammengesetzt aus Handschrift und Druck: zwei handschriftliche Blätter mit D erweiterndem Textteil sind ausgeschnittenen und auf separate Blätter geklebten Textstücken aus D vorangestellt. Letztere enthalten zahlreiche Korrekturen von Bubers Hand. D: Die Welt, XIII, 14/15, 2. April 1909, S. 306-315 (MBB 100). Druckvorlage: D Quelle: Baruch ben Jechiel Michal von Mesbiž, Bukina de-nehora haschalen, S. 26-28. Variantenapparat: 325,5 Angesicht sah, dem sah] [Angesicht] ! Antlitz schaute, dem schaute h2 325,5-14 Der Weg des Menschen […] bewußt und offenbar] Vom blauen Licht des Blitzes erhellt, lag – dem Urdunkel für die Dauer eines Herzschlages entrissen – der Weg des Menschen vor ihm. Er sah eine Wanderung von dem Augenblick an, da der Funke seines Wesens aus der Umarmung der Welten gelöst und auf seine Bahn hinausgeschleudert worden war, sah sie durch den Wandel der Gebilde bis zu diesem Leben und von ihm weiter bis zur letzten Frist, da der Funke geklärt und erlöst in die Umschlingung zurücksinkt h2 325,15 Streng] Eiskalt und gläsern klar h1 325,15 Zaddiks] [Rabbi] ! Zaddiks h1 325,15 kalt und klar] fehlt h2 325,16 In strenger Führung] Und zwischen krystallenen Wänden h2 325,18-36 Von allen Schülern […] in der Ferne] Rabbi Zewi, jung und heftig bewegten Geistes, war unter allen Schülern dem Herzen des Zaddiks der Nächste. In der Zeit, da er im Schatten der Heiligkeit lebte, war er still geworden, – wie ein Wildbach zwischen blauen Eiswänden zum Bergsee wird, still liegt wie ein Auge, und nur spiegelt, aber tief unten lagern Sturm und Unrast, und wartet ihres Tages. So lagerte in seiner Seele die suchende Angst. / Einmal fügte es sich, dass ein wandernder Jude im Hause des Rabbi Zewi für eine Nacht Herberge nahm. Um Mitternacht sah der Hauswirt den Gast sich erheben und hörte, wie er die Klage um Jerusalem sprach. Da versehrte die Inbrunst des Fremden dem Rabbi Zewi den Eishauch seines klaren Hauses und entfachte die heimlichen Brände. Am Morgen sprach er zu seinem Gast: »Ich habe heute Nacht die Klage aus deinem Munde gehört. Wer bist du?« der Fremde sagte: »Ich bin Nichts. Ich

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bin ein armes kleines Licht, entzündet an einem Born des Feuers. Dich berührt meine dürftige Rede – dass du doch gewürdigt würdest, meinen Meister zu hören, Rabbi Baruch von Miedzyborz, der Enkel des Baalschem!« / Von dem Tag an stand der Sinn des Schülers in Zwiespalt und Widerspruch h2 326,1-38 Nach mancher Zeit […] vermochte] Nach einer Weile fügte es sich, dass es der Wunsch des [Zaddiks] ! Rabbis von Lublin war, Aug in Aug den Rabbi von Miedzyborz zu erkennen. Denn wenn er von einem Menschen Seltsames und Unfassbares hörte, verlangte es ihn danach, Mann zu Mann vor ihm zu stehen und ihn zu erschauen. Und wie es von jeher seine Gepflogenheit war, einen Boten voranzusenden und Gastfreiheit zu erbitten, beschloss er auch diesmal zu tun, – und Rabbi Zewi war es, der von ihm betraut wurde, nach Miedzyborz zu ziehen, um den Meister zu melden. / So kam Rabbi Zewi an den Ort, wo seine Sehnsucht längst schon ihre Zelte aufgeschlagen hatte. Er sass am Tische des Rabbi Baruch, im Lichtkreis seiner flammenblauen Augen und im Liebesbann seines weissen Angesichts, das still und bewegt in und über allem Geschehen dieses Hauses war. Und seine Seele lag zu den Füssen des Heiligen. / In Augenblicken nachdenklichen Alleinseins aber stieg das Bild seines alten Lehrers vor ihm auf und sah ihn an, klar und unabwendbar. Da zieh er sich des Verrats und die Qual schüttelte sein Herz wie Sturm den jungen Baum. Und er beschloss sich dem zu ergeben, der vor seiner Seele Sieger bliebe. Aber sein Herz war ungewiss und wollte die Entscheidung nicht tragen. Da sprach er zu sich: »Ich will Rabbi Baruch sehen, wie er er wahr und wirklich ist, nicht Mensch unter Menschen, ich will ihn sehen, wie er [nackt und allein steht] ! zwischen Himmel und Erde nackt und allein steht vor seinem Gott. So wird mein Herz den Namen seines Meisters lernen.« / Als der Freitag herangekommen war, und Rabbi Baruch, wie in jeder Woche, vom Tauchbade in seine Kammer ging, um allein im Angesicht der obern Welt das hohe Lied zu sprechen, hatte sich Rabbi Zewi in der Kammer verborgen. h2 326,14 starken] starken [, liebenden] h1 326,20 war eitel vor der hellen Macht] [konnte vor der klaren Macht nicht bestehn] ! war eitel vor der hellen Macht h1 326,25 wohl] [scheinbar] ! wohl h1 326,32 irdischen Zeugen] hirdischeni Zeugen h1 327,1-4 Die Kammer war […] Glut wie vordem] Die Kammer lag [im Dämmer] ! in der Dämmerung. Rabbi Baruch trat ein und sein weisses Angesicht strahlte wie ein mildes Himmelslicht in den Raum.

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Einzelkommentare

Nur seine Lippen bebten leise, aber seine Augen waren voll der Liebe, wie zu aller Zeit h2 327,10-11 Stirn, und seine Gestalt wuchs königlich empor] [Stirn. Und in diesem Augenblick flogen die Sonnenstrahlen zusammen und waren X Gold und fügten sich zum Reif um Rabbi Baruchs Stirn] ! Stirn, und seine Gestalt wuchs königlich empor h1 327,13 Gemächer] [Kammern] ! Gemächer h1 327,13-14 mit zypressenem Getäfel] hmit zypressenem Getäfeli h1 327,15 Zedernpfeiler] [Marmorsäule] ! Zedernpfeiler h1 327,24 Zwi Hirsch] Zwi h2 327,29 faßte die innere Kraft seines Herzens] [faßte die innere Kraft seines Herzens] ! ergriff sein Herz h2 327,36 fühlte das Wunderbare] fühlte hdas Wunderbarei h1 327,41 neue und alte] [heurige und fernige?] ! neue und alte h1 328,1-2 dem strengen Angesicht seines Lehrers] seinem Lehrer h2 328,2 strengen] [X, ganz in Schauen gesammeltem] ! strengen h1 328,9 wie ein Walten] [wie ein Walten] h2 328,12-13 in Rabbi Zwi Hirsch […] sagte leise] [in Rabbi Zwi Hirsch […] sagte leise] ! Rabbi Zwi sagte bebend h2 328,15 erzitterte] [erzitterte] ! erschauerte h2 328,19 Jaakob Jizchak] [Jaakob] Jizchak h2 328,20 sagte ihm […] nicht alles aus der Ewigkeit] [sagte ihm […] nicht alles aus der Ewigkeit] ! tauche […] nicht in die Ewigkeit h2 328,26-27 in der Stille] hin der Stillei h1 328,28 Jaakob Jizchak] [Jaakob] Jizchak h2 328,28 Macht] [ungeheure] Macht h1 328,30 Blachfeld] [Blachfeld] ! Feld h2 328,32 gütigen Blicke] gütigen [und tiefen] Blicke h1 328,36 blasses] [schwaches] ! blasses h1 328,37-38 Jaakob Jizchak] [Jaakob] Jizchak h2 328,39 Weinberge] [heiligen] Weinberge h1 328,39-40 Er rinnt über die Gräber […] der Könige.] hEr rinnt über die Gräber […] der Könige.i h1 328,41 dunkle Wasser] hdunklei Wasser h1 329,1-2 Jaakob Jizchak] [Jaakob] Jizchak h2 329,3 Gottesherrlichkeit] [Schechina] ! Gottesherrlichkeit h1 329,6 Jaakob Jizchak] [Jaakob] Jizchak h2 329,9 Jaakob Jizchak] [Jaakob] Jizchak h2 329,12 erschauerte] [erschrak] ! erschauerte h2 329,15 wie vordem] wie vordem [und drang in die Ferne der Zeiten] h1 329,15-16 Jaakob Jizchak] [Jaakob] Jizchak h2

Das Hohe Lied

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329,20 Sterne] [Sterne] ! Welten h2 329,24-25 Er hörte es […] seine Wege.] [Er hörte es […] seine Wege.] h2 329,39 Jaakob Jizchak] [Jaakob] Jizchak h2 330,1 Zwi Hirsch] Zwi [Hirsch] h2 330,9-10 Stimme] [gebieterische] Stimme h1 330,23 Zwi Hirsch] Zwi [Hirsch] h2 330,25 Jaakob Jizchak] [Jaakob] Jizchak h2 330,26 lebte] [blieb] ! lebte h1 330,26 heilige] [heilige] ! verborgene h2 Wort- und Sacherläuterungen: 325,3 Rabbi Jaakob Jizchak] Vgl. Wort und Sacherläuterungen zu 159,5. 325,5 Wem er ins Angesicht sah, dem sah er in die Wurzel der Seele.] Vgl. auch »Von seinem Schauen«, in: Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 461f. (jetzt in MBW 18.1, Nr. [582]). 325,8 Adam Kadmon] hebr. etwa »der Urmensch«, bei Isaak Luria ist damit die eigentlich intendierte Struktur des Universums gemeint, die noch vor allen Emanationen existiert. 325,18-19 Zwi Hirsch von Zydaczów] (1763-1831): Schüler des Jaakob Jizchak von Lublin. 325,25-27 zur Mitternacht aufstand […] Art der Chassidim] Ein von der lurianischen Kabbala initiierter Ritus, der nächtlich begangen wird, um über die sich im Exil befindliche Schechina zu klagen und für ihre Erlösung zu beten. 325,29-30 Rabbi Baruch von Miedzyborz] Baruch von Mesbiž (ca. 17561811): beanspruchte aufgrund seiner Abkunft vom Baalschem eine Führungsposition unter den Zaddikim. In der »Einleitung« zu Die Erzählungen der Chassidim, S. 59 hebt Buber Baruchs innige Beziehung zum Hohelied hervor (jetzt in: MBW 18.1, S. 157). 327,9 »Das Lied der Lieder Salomos.«] Hhld 1,1. 327,12-13 »Es führte mich der König in seine Gemächer«] Hhld 1,4. 327,16 »Ich bin eine Blume zu Saron.«] Hhld 2,1. 327,18-20 »Sein Panier ist über mir […] krank in Liebe bin ich.«] Hhld 1,4b-5. 327,27 »Meines Freundes bin ich und nach mir ist sein Verlangen,«] Hhld 7,11. 327,32-34 »Ich übergebe Gott meine Seele […] Herrn zu tun.«] Nicht nachgewiesen. 327,39-41 »Die Mandragoren gaben […] neue und alte, bewahrt.«] Hhld 7,14.

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Einzelkommentare

328,24-329,5 Als aber am Vortage des Sabbats […] tauchten miteinander.] Vgl. auch »Die Landschaft«, in: Die Erzählungen der Chassidim, S. 463 (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [584]).

Die Wanderschaft des Kinderlosen Diese kurze Erzählung ist zuerst in der Zeitschrift Blau-Weiss-Blätter, der »Monatsschrift für jüdisches Jugendwandern« im August 1917 erschienen. Die Blau-Weiss-Blätter waren das Publikationsorgan der zionistischen Jugendbewegung, die sich aufgrund antisemitischer Vorfälle von dem deutschen »Wandervogel« abgespalten hatte. Textzeugen: D1: Blau-Weiss-Blätter, V/2, August 1917, S. 43-50. (MBB 195). D2: Drei Legenden. Schriften des Ausschusses für jüdische Kulturarbeit, Jüdische Jugendbücher, 1, Berlin: Jüdischer Verlag 1920, S. 5-9 (MBB 240). D3: Erzählungen von Engeln Geistern und Dämonen, Berlin: Schocken Verlag 1934, S. 48-61 (MBB 489). Druckvorlage: D1 Übersetzungen: Englisch: »The Wanderings of the Childless«, in: Tales of Angels, Spirits and Demons, übers. von David Antin und Jerome Rothenberg, New York: Hawk’s Well Press 1959 (MBB 1092). Polnisch: in: Opowieści o aniołach, duchach i demonach, übers. von Ryszard Wojnakowski, Warszawa: Cyklady 2004 (in MBB nicht verzeichnet). Ungarisch: in: Angyal-, szellem- és démontörténetek, übers. von Miklós Tamás, Budapest: Atlantisz 2002 (in MBB nicht verzeichnet). Quelle: Walden, Qehal chassidim, Bl. 54a-b Wort- und Sacherläuterungen: 331,2 Maggid von Kosnitz] Israel von Kosnitz (1733/37-1814): Schüler des großen Maggids Dow Bär; zusammen mit Jaakob Jizchak von Lublin verbreitete er den Chassidismus in Zentralpolen. 331,3 mit jedem Mondwechsel] Die jüdischen Monate beginnen mit dem Erscheinen des neuen Mondes und gelten als Halbfeiertage.

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Der Totlebendige

Der Totlebendige Diese Erzählung ist erst 1934 in Bubers kleiner Sammlung jüdischen Sagenstoffes, den Erzählungen von Engeln Geistern und Dämonen erschienen. Doch stammt die Geschichte, wie Buber selbst in seiner »Nachbemerkung« ausführt, aus der »gleichen Zeit, in der ich an meinen ersten chaßidischen Büchern arbeitete« (Martin Buber, Nachbemerkung, in: Erzählungen von Engeln Geistern und Dämonen, Berlin: Schocken Verlag 1934, S. 69). Neben den in diesem Band versammelten Erzählungen »Die Neidgeborenen«, »Die Wanderschaft des Kinderlosen« und »Der Totlebendige«, enthält die Sammlung drei weitere sagenhafte Geschichten, die in MBW 2.1 abgedruckt und kommentiert worden sind: »Der Engel und die Weltherrschaft« (jetzt in: MBW 2.1, S. 185 f.), »Die Geschichte von der Kräutertruhe und dem goldenen Kalb« (ebd. unter dem Titel »Die Geschichte von der Kräutertruhe und dem Kaiser zu Rom«, S. 124-132) und »Das Haus der Dämonen« (ebd., S. 133-140). Textzeugen: h1: unvollständige Handschrift im MBA (Arc. Ms. Var. 350 04 22a); 10 lose paginierte Blätter, einseitig beschrieben mit blauer Tinte. Der Text der ersten drei Abschnitte 338,2-33 fehlt. Die Handschrift ist zweischichtig: h1.1: Grundschicht in der Schrift Paula Bubers. h1.2: Überarbeitungsschicht: Korrekturen von Martin Bubers Hand. Beigelegt ist ein zusätzliches Blatt in der Handschrift Martin Bubers, das mit »1a« paginiert ist und den zweiten und dritten Abschnitt enthält (338,25-33). D: Erzählungen von Engeln Geistern und Dämonen, Berlin: Schocken Verlag 1934, S. 62-68 (MBB 489). Druckvorlage: D Übersetzungen: Englisch: »The living dead«, in: Tales of Angels, Spirits and Demons, übers. von David Antin und Jerome Rothenberg, New York: Hawk’s Well Press 1959 (MBB 1092). Polnisch: in: Opowieści o aniołach, duchach i demonach, übers. von Ryszard Wojnakowski, Warszawa: Cyklady 2004 (in MBB nicht verzeichnet).

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Einzelkommentare

Ungarisch: in: Angyal-, szellem- és démontörténetek, übers. von Miklós Tamás, Budapest: Atlantisz 2002 (in MBB nicht verzeichnet). Quelle: Rodkinson, Sifte qedoschim, S. 7; Margulies, Gevurat ha-Ari, S. 12 f.; Variante Bodek, Seder ha-dorot mi-talmide ha-Bescht, S. [30]. Vgl. auch »Auf dem Markt«, in Buber, Die Erzählungen der Chassidim, S. 283f. (jetzt in: MBW 18.1, Nr. [296]). Variantenapparat: 338,2-24 Dunkel und verborgen […] geschützt.] fehlt h1.1, h1.2 338,25 Er selbst blieb […] Feilscher mengte.] fehlt h1.1 338,35 Berufung] Bestimmung h1.1 338,37 schwankenden Welt] hschwankendeni Welt h1.2 338,39 nie] nimmer h1.1 339,2 was ihn triebe] was ihn, der dem gemeinen Getriebe also abgeneigt sei, triebe h1.1 339,3 Meister] Herr h1.1 339,6 überkam sie wohl] überkam sie wohl ein oder das andre Mal h1.1 339,8 Rabbi] Meister h1.1 339,10 befragt] bedrängt h1.1 339,13 Gestalt] Gestalt, schattengleich und farblosen Antlitzes, h1.1 339,37 hinweg] von hinnen h1.1, h1.2 340,1 erkannte] sah h1.1 340,2 Schreiend schalt er] Er schrie laut und schalt h1.1 340,4 sich häufe] dränge und das drängende Geschäft ihren Lohn X h1.1 340,9 kamen herbei] eilten herzu h1.1 340,14 in heftigen Reden ergoß] iin heftigen Redeni ergoß h1.1 340,15 Schar] Menge h1.1, h1.2 340,16 merkten] gewahrten h1.1 340,18 nicht mehr] nunmehr nimmer h1.1 340,19 Die Jünglinge hielten] Da faßte die Jünglinge ein Schauder, der ihr Blut gerinnen ließ, sie faßten h1.1 340,19 zogen] schritten h1.1, h1.2 340,20 Wanderer] seltsamen Menschen h1.1 340,21 sagen] in Wahrheit künden h1.1 340,22-23 wunderlich gewandelt, so wunderlich sich gebare] wunderlich sich gebare und so seltsam gewandet erschiene h1.1 340,24 vom Boden] von der Erde h1.1 340,25 Leiden] Leiden und Mühsalen h1.1 340,26-27 Sand berührt, voll Begier] Boden berührt, beschwingt und voll Begier h1.1

Die Legende des Baalschem [1955]

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340,27 seit langer Zeit, lief] und ging allso h1.1 340,31 nichtiges Tun] Mühsal und nichtiges Thun h1.1 340,31 Kenntnis] Kunde h1.1 340,32 sinnlos kreuzte ich] sinnlos ging ich einher, kreuzte unstet und fliehend h1.1 340,33 weckte mich zur Besinnung] er sagte ein meinem Ohre die Worte, die mich zur Besinnung weckten h1.1 340,34 gekündet. Nun gehe ich, mich zu betten] gekündet und ich gehe hin in die kühle Rast h1.1 340,36-37 Händen. Sie wußten nun, […] wandte] Händen und wandten sich, den Meister zu suchen. Als er des Abends fern vom Gewühl des Marktes in einer Textverlust wegen fehlender Blätter h1.1 Wort- und Sacherläuterungen: 338,2-3 des Rabbi Leib, des Sohnes der Sara] Rabbi Leib Sohn der Sara (1730-1791): dieser sehr volkstümlichen Figur wurden allerlei wundersame Fähigkeiten nachgesagt. Er könne »Verborgene Gerechte« aufspüren, sich unsichtbar machen und von Ort zu Ort gleichsam wie mit Siebenmeilenstiefeln »springen«. Auffallend ist, dass er mit den Namen seiner Mutter benannt wird. 338,4-5 das Buch […] Engels Rasiel geht] ein magisch-kabbalistisches Werk, das in dieser Form zum ersten Mal im 13. Jh. in Spanien kompiliert wurde und möglicherweise auf ältere Texte zurückgeht. Rasiel ist in der jüdischen Mythologie der Name eines Engels, der Adam und später Abraham belehrt haben soll. Der Name des Engels enthält das hebr. Wort für »Geheimnis« (raz). 338,15-16 die Sechsunddreißig] Die Zahl der »Verborgenen Gerechten«, vgl. Wort- und Sacherläuterungen zu 275,30.

Die Legende des Baalschem [1955] Zu diesem Text vergleiche die Einleitung zu diesem Band sowie den Kommentar zur Erstausgabe von 1908, in diesem Band, S. 527 f. Textzeuge: D: Zürich: Manesse 1955, 326 S. (MBB 987). Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe. Druckvorlage: D

Abkürzungsverzeichnis B I-III

BT

MBA MBB

MBW

Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, 3 Bde., hrsg. und eingel. von Grete Schaeder, Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1972-75. Bd. I: 1897-1918 (1972); Bd. II: 1918-1938 (1973) Lazarus Goldschmidt, Der Babylonische Talmud. Nach der ersten zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgaben und handschriftlichen Materials neu übertragen, Berlin 1929-1936. Martin Buber-Archiv der National Library of Israel. Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn und Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität und München/New York et al.: K. G. Saur 1980. Martin Buber Werkausgabe: Bd. 1 Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1981-1919, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Martin Treml, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001. Bd. 2.1 Mythos und Mystik. Frühe religionswissenschaftliche Schriften, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von David Groiser, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2013. Bd. 3 Frühe jüdische Schriften 1900-1922, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Barbara Schäfer, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007. Bd. 4 Schriften über das dialogische Prinzip, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Paul Mendes-Flohr und Andreas Losch, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Bd. 7 Schriften zu Literatur, Theater und Kunst. Lyrik, Autobiographie und Drama, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Emily D. Bilski, Heike Breitenbach, Freddie Rokem u. Bernd Witte, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2016. Bd. 9 Schriften zum Christentum, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Karl-Josef Kuschel, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011. Bd. 13 Schriften zur biblischen Religion, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Heike Breitenbach, Michael Fishbane, Andreas Losch u. Christian Wiese, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Bd. 15 Schriften zum Messianismus, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Samuel Hayim Brody, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014. Bd. 17 Chassidismus II. Theoretische Schriften, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Susanne Talabardon, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015.

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Abkürzungsverzeichnis

Werke III

Bd. 18 Chassidismus III. Die Erzählungen der Chassidim, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Ran HaCohen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015. Bd. 19 Gog und Magog, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Ran HaCohen, Gütersloher Verlagshaus 2009. Bd. 20 Schriften zum Judentum, bearbeitet, eingeleitet und kommentiert von Michael Fishbane u. Paul Mendes-Flohr. Martin Buber, Werke, 3 Bde., München: Kösel Verlag, und Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1962-64. Dritter Band: Schriften zum Chassidismus (1963).

Hebräische Bibel Gen Ex Lev Num Dtn I Sam I Kön II Kön Jes Ez Zeph Ps Spr Hhld Esr

Genesis (1. Mose) Exodus (2. Mose) Leviticus (3. Mose) Numeri (4. Mose) Deuteronomium (5. Mose) 1. Samuel 1. Könige 2. Könige Jesaja Ezechiel Zephanja Psalm(en) Sprüche Solomons Hohelied Esra

Rabbinische Literatur mAv bBB bBer bChag bJev bJom bSuk bTaan

Mischna, Traktat Avot Talmud Bavli, Traktat Bava Batra Talmud Bavli, Traktat Berakhot Talmud Bavli, Traktat Chagiga Talmud Bavli, Traktat Jevamot Talmud Bavli, Traktat Joma Talmud Bavli, Traktat Sukkot Talmud Bavli, Traktat Ta’anit

Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Quellenverzeichnis 2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographien 2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers 2.3 Verwendete Werke Martin Bubers 2.4 Verwendete Literatur 1. Quellenverzeichnis Aus dem Martin Buber Archiv (MBA) der National Library of Israel sind folgende unveröffentlichte Quellen verwendet worden:

1.1 Handschriften Rezensionen zu Die Geschichten des Rabbi Nachman Die Geschichten des Rabbi Nachman (Handschrift) Der Sseder des Unwissenden (Handschrift) Die Legende des Baalschem (Handschriften) Das Hohe Lied (Handschriften) Der Totlebendige (Handschrift)

Arc. Ms. Var. 350 13 49 Arc. Ms. Var. 350 04 29 Arc. Ms. Var. 350 04 35 Arc. Ms. Var. 350 04 16 Arc. Ms. Var 350 04 33 Arc. Ms. Var. 350 04 22a

2. Literaturverzeichnis 2.1 Bibliographie Martin Buber. Eine Bibliographie seiner Schriften, 1897-1978, zusammengestellt von Margot Cohn u. Rafael Buber, Jerusalem: Magnes Press, Hebräische Universität Jerusalem u. München [u. a.]: K. G. Saur 1980.

2.2 In den Band aufgenommene Schriften Martin Bubers [Berichtigung], Die Welt, X/52, 28. Dezember 1906, S. 14-15. Die Geschichte der fahrenden Prinzessin, in: Heim der Jugend. Ein Jahrbuch für Kinder und Eltern, hrsg. von Adolf Cronbach und Hans Heinz Ewers, Berlin: Verlag Siegfried Cronbach 1905, S. 230-235.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Die Geschichten des Rabbi Nachman, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1906, 154 S. Das Hohe Lied, Die Welt, XIII, Nr. 14/15, 2. April 1909, S. 306-315. Die Legende des Baalschem, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1908, 258 S. Die Legende des Baalschem, erweiterte und überarbeitete Neuausgabe, Zürich: Manesse Verlag 1955, 326 S. Die Neidgeborenen, Die Welt, 11. Jg., Nr. 11 vom 15. März 1907, S. 9-11. Der Sseder des Unwissenden, Die Welt, 11. Jg., Nr. 13, 29. März 1907, S. 5-6. Der Totlebendige, in: Erzählungen von Engeln Geistern und Dämonen, SchockenVerlag 1934, S. 62-68. Die Wanderschaft des Kinderlosen, Blau-Weiss-Blätter, V/2, August 1917, S. 43-50. Der Zukunftsbrief, Die Welt, 10. Jg., Nr. 33 vom 17. August 1906, S. 15-16.

2.3 Verwendete Werke Martin Bubers Des Baal-Schem-Tow Unterweisung im Umgang mit Gott, Hellerau: Jakob Hegner 1927; jetzt in: MBW 17, S. 99-128. Begegnung. Autobiographische Fragmente, Stuttgart: Kohlhammer 1960; jetzt in: MBW 7, S. 274-309. Bekenntnis des Schriftstellers [Gedicht], Neue Schweizer Rundschau, Neue Folge, 20. Jg., Heft 3, Juli 1952, S. 144; jetzt in: MBW 7, S. 98. Der Chassidismus und der abendländische Mensch, Merkur, 10. Jg., Nr. 10, Oktober 1956, S. 933-943; jetzt in: MBW 17, S. 304-314. Die Erzählungen der Chassidim, Zürich: Manesse Verlag 1949; jetzt in: MBW 18.1, S. 122-725. Mein Weg zum Chassidismus. Erinnerungen von Martin Buber, Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1918; jetzt in: MBW 17, S. 41-52. Der Mythos der Juden, in: Vom Judentum. Ein Sammelbuch, hrsg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag, Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1913, S. 2131; jetzt in: MBW 2.1, S. 171-179. Vorbemerkung, in: ders., Die chassidischen Bücher, Hellerau: Jakob Hegner 1928, S. [IX]-X; jetzt in: MBW 18.1, S. 88-89. Weißt du es noch …? [Gedicht], in: ders., Nachlese, Heidelberg: Lambert Schneider 1965, S. 26; jetzt in: MBW 7, S. 100. Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte, Die Kunst im Leben. Organ der Kunstwissenschaftlichen Abteilung der Berliner Finkenschaft, 1. Jg., Heft 2, Dez. 1900, S. 13; jetzt in: MBW 1, S. 149-151.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

2.4 Verwendete Literatur 2.4.1. Von Buber herangezogene hebräische und jiddische Quellen anonym, Kitve qodesch, Warschau 1884. anonym, Liqqutim jeqarim, Lemberg 1875. Abraham Chajim ben Gedalia von Złoczów, Orach la-chajjim, o. O. [Berdytschiw?] 1817 Ahron ben Ascher von Karlin, Bet Aharon, Piotrków [Petrikau] 1914. Baruch ben Jechiel Michal von Mesbiž, Butzina denehora ha-schalem, Lwów [Lemberg] 1930. Berger, Israel ben Jizchak Simcha Eser orot, Piotrków [Petrikau] 1907. Ders., Eser tzachtzachot, Piotrków [Petrikau] 1909. Ders., Simchat Jisraʾ el, Piotrków [Petrikau] 1910. Bodek, Menachem Mendel, Maʿ ase tzaddiqim, Lublin 1899. Ders., Mifʿ alot ha-tzaddiqim, Lemberg 1897. Ders., Peʾ er mi-qedoschim, Lvov [Lemberg] 1865. Ders., Seder ha-dorot mi-talmide ha-Bescht, Lemberg 1865. Bornstein, Meir ben Mordechai, Imre tzaddiqim, Warschau 1896. Bratzlawer, Eliezer Schlomo, Jeme Maharnat, Lemberg 1903. Diener, Jaakob Schalom, Derekh ha-emuna umaʿ ase rav, Warschau 1899. Diener, Natan Neta, Menorat zahav, Warschau 1904. Dow Baer ben Abraham von Mesritsch, Or ha-emet imre tzaddiqim, Schytomyr 1900. Ehrman, Dow Baer ben Mosche Schmuel, Devarim arevim, Munkatsch 1903. Elimelech ben Chajim Meʾ ir Jechiel von Grodzisk, Divre Elimelekh, Warschau 1891. Ders., Imre Elimelekh, Warschau 1876. Elimelech von Lisensk, Noʿ am Elimelekh, Lwow [Lemberg] 1788. Frenkel-Teomim, Jehuda Arje, Ohole Schem, Biłgoraj 1911. Friedman, Israel ben Schalom Schachna von Rižin, Irin qaddischin, Warschau 1885. Ders., Peʾ er li-jescharim, Jerusalem 1921. Heller, Meschulam Feibusch von Zbaraż, Joscher divre emet, Munkács [Munkatsch] 1905. Hofstein, Mosche Eliakum Beria ben Israel, Beʾ er Mosche, Józefów 1883. Hurwitz, Schmuel Schmelke ben Zwi Hirsch von Nikolsburg, Schemen ha-tov, Piotrków [Petrikau] 1905. Israel ben Elieser (Bescht), Keter schem tov, Korez 1797. Ders., Sefer Baʿ al schem tov, Lodz 1938. Ders., Tzawaʾ at ha-Ribasch, Warschau 1913. Itinga, Abraham ben Jona, Imre tzaddiqim, Lwow [Lemberg] [o.J]. Jaakob Jossef ben Zwi Hirsch von Polnoj, Toldot Jaʿ aqov Jossef, Korez 1780. Jehoschua Abraham ben Israel von Zhytomyr, Geʾ ulat Jisraʾ el, Amsterdam [eigentl. Ostraha] 1821.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Jizchak Dow Baer ben Zwi Hirsch, Qehal chassidim he-chadasch, Lemberg 1902. Kidner, Jaakob, Sippurim noraʾ im, Munkatsch 1912. Klein, Baruch Meir, Gedullat Mordekhaj, Siget 1895. Kleinman, Mosche Chajim ben Abraham Jossef, Mazkeret schem ha-gedolim, Piotrków [Petrikau] 1908. Ders., Or jescharim, Warschau 1924. Landa, Jizchak ben Leib, Zikkaron tov, Piotrków [Petrikau] 1892. Lerner, Pinchas von Dynowitz, Sifte tzaddiqim, Warschau 1893. Lipman, Meschulam Sissel ben Elieser von Hanipol, Butzina qaddischa, Piotrków [Petrikau] 1912. Manson, Levi Jizchak ben Jossef, Bekha jevarekh Jisraʾ el, Przemysl 1905. Margaliot, Jaakob ben Meschulam Natan, Qevutzat Jaʿ aqov, Przemysl 1897. Margulies, Reʾ uven, Gevurat ha-Ari, Lwow [Lemberg], 1931. Menachem Mendel ben Mosche von Witebsk, Peri Ha-aretz, Kopust [Kopys] 1814. Michelson, Abraham Chajim Simcha Bunam, Ohel Elimelekh, Przemysl 1910. Nachman von Bratzlaw, Chajje Moharan, Lemberg 1874, 2 Bde. Ders., Hanhagot jescharot [Lemberg, 1860]. Ders., Liqqute ʿ etzot, Zolkiew 1850. Ders., Liqqute Moharan, Ostraha 1816. Ders., Liqqute Moharan tinjana, Ostraha 1818. Ders., Schivche ha-Ran im sichot ha-Ran, Lemberg 1901. Ders., Sippure Maʾ asijjot, Ostraha 1815. Rabinowitz, Schelomo ben Dow Zwi von Radomsk, Tifʾ eret Schelomo, Warschau 1867. Rodkinson (Frumkin), Michael Levi, Sifte qedoschim, Lemberg 1875. Ders., Toledot baʿ aley schem tov (Or yisraʾ el), Königsberg 1876. Rosental, Schelomo Gabriel, Hitgallut ha-tzaddiqim, Warschau 1901. Schapiro, Pinchas ben Abraham Abba von Korez, Midrasch Pinchas, Lemberg 1874. Ders., Midrasch Pinchas he-chadasch, Warschau 1910. Schmuel von Schinova, Ramatajim tzofim, Warschau 1908. Schoham, Mosche ben Dan, Divre Mosche, [Polonoje] 1801. Siss, Israel David ben Abraham Nissan, Maʿ asijjot we-sichot tzaddiqim, Lemberg 1895. Teitelbaum, Mosche ben Zwi Hirsch, Jismach Mosche, Budapest 1934. Uri Feiwel ben Ahron, Or ha-chokhma, T. II, Łaszczów 1815. Walden, Ahron ben Jesaia Natan, Qehal chassidim, Warschau [1870]. Walden, Mosche Menachem ben Ahron, Nifleʾ ot ha-rabbi, Warschau 1911. Zinger, Jizchak ben Nachman Zwi, Sevaʿ ratzon, Podgorza 1900

644

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2.4.2. Allgemeine Literatur Acher, Mathias [d. i. Nathan Birnbaum], Die Geschichten des Rabbi Nachman [Rez.], Jüdische Zeitung 1. Jg. Nr. 15., 25. Oktober 1907, S. 1-4. (Wieder abgedruckt in: Nathan Birnbaum, Ausgewählte Schriften zur jüdischen Frage, Bd. II, Czernowitz 1910, S. 301-306.) Badiou, Bertrand u. a. (Hrsg.), Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel, Frankfurt a. M. 2008. Bertram, Ernst, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918. Etkes, Immanuel, The Besht. Magician, Mystic, and Leader, Waltham 2005. Faass, Martin (Hrsg.), Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik, Berlin 2009. Faass, Martin u. Mund, Henrike, Sturm der Entrüstung. Kunstkritik, Presse und öffentliche Diskussion, in: Der Jesus-Skandal. Ein Liebermann-Bild im Kreuzfeuer der Kritik, hrsg. von Martin Faass, Berlin 2009, S. 59-78. Geiger, Ludwig, Jüdische Erzählungsliteratur, Allgemeine Zeitung des Judentums, 71. Jg., 15. Februar 1907, S. 78-82. George, Stefan, Der Siebente Ring, in: Gesamtausgabe VI/VII, Berlin 1931. Grözinger, Karl E., Der Baʾ al Schem Tov – Legende oder Wirklichkeit, in: ders., (Hrsg.), Die Geschichten vom Baʾ al Schem Tov. Schivche ha-Bescht, Teil I, Wiesbaden 1997, S. IX-XXXIV. Ders., Die Geschichten vom Baʾ al Schem Tov. Schivche ha-Bescht, hrsg., übersetzt u. komm. von Karl E. Grözinger, Wiesbaden 1997; Teil I: Hebräisch mit deutscher Übersetzung; Teil 2: Jiddisch mit deutscher Übersetzung. Gundelfinger, Friedrich, Martin Buber. Die Legende des Baalschem [Rezension], in: Preußische Jahrbücher, Bd. 133, Berlin, Juli 1908, S. 149-151. Heimann, Moritz, Prosaische Schriften, Berlin 1918, Bd. 2, S. 280-286. Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 6, Darmstadt 1956. Kellner, Leon, Der chassidische Ossian [Rezension], Ost und West, 7. Jg., 1907, Sp. 111-114. Kirchhoff, Markus, Häuser des Buches. Bilder jüdischer Bibliotheken, Leipzig 2002. Kohn, Hans, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Versuch über Religion und Politik, Hellerau 1930. Landauer, Gustav, Die Legende des Baalschem [Rezension], Das literarische Echo, 13. Jg., Heft 2 vom 1. Oktober 1910, S. 148 f. Loewe, Heinrich, Geschichten des Rabbi Nachman [Rezension], Literaturblatt der Jüdischen Rundschau, Jg. III, Nr. 1 vom 11. Januar 1907, S. [1]-3. Lukács, Georg, Briefwechsel 1902-1917, hrsg. von Eva Karádi und Eva Fekete, Stuttgart 1982. Mendes-Flohr, Paul, Zarathustra’s Apostle. Martin Buber and the Jewish Renaissance, in: Jacob Golomb (Hrsg.), Nietzsche and Jewish Culture, London u. New York 1997, S. 233-243.

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645

Michel, Ernst, Martin Buber. Sein Gang in die Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1925. Müller, Ernst, »Die Legende des Baalschem« [Rezension], Die Welt, 13. Jg., No. 44. vom 29. Oktober 1909, S. 960 f. Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw. Zum erstenmal aus dem Jiddischen und Hebräischen übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Michael Brocke, München 1985. Rabbi Nachman’s Stories. (Sippurey Maʾ asioth), translated with notes based on Breslover works by Rabbi Aryeh Kaplan, Jerusalem 1983. Nietzsche, Friedrich, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, III. Abt., Bd. 1, Berlin u. New York 1972. Nossig, Alfred, Messianismus und Kabbalistik, in: Berliner Lokal Anzeiger vom 28. Juni 1908. Pourshirazi, Katja, Martin Bubers literarisches Werk zum Chassidismus. Eine textlinguistische Analyse, Frankfurt a. M. 2008. Rosman, Moshe, Founder of Hasidism. A Quest for the Historical Baʾ al Shem Tov, Berkeley 1996. Schaeder, Grete, Martin Buber. Ein biographischer Abriß, in: B I, S. 19-141. Scholem, Gershom, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957. Ders., Von Berlin nach Jerusalem. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1997. Urban, Martina, Aesthetics of Renewal. Martin Buber’s Early Representation of Hasidism as Kulturkritik, Chicago 2008. Witte, Bernd, Jüdische Tradition und literarische Moderne, München 2007. Ders., Statt eines Vorworts: der Zionist Leon Kellner, in: Sascha Kirchner u. a. (Hrsg.), Walter Benjamin und das Wiener Judentum zwischen 1900 und 1938, Würzburg 2009, S. 9-14. Zweig, Arnold, Über jüdische Legenden, Mitteilungen des Vorstandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands vom 1. Januar 1914, S. 14-17.

Glossar 1 Chassidismus: durch Rabbi Israel ben Eliezer, gen. Baal Schem Tov gegr. volkstümliche mystische Bewegung des Judentums; von Osteuropa ausgehend, verbreitete sie sich in der Diaspora ebenso wie im Staat Israel. Chassidut: hebr. ! Chassidismus, als Gesinnung der Lebensfrömmigkeit verstanden. Drittes Sabbatmahl: Das nach dem Nachmittagsgebet eingenommene Hauptmahl des Sabbats, bei dem die Tischgemeinde singt und der ! Zaddik eine Lehrrede spricht. Funken (hebr. Nitzotzot): Nach spätkabbalistischer Lehre, die vom Chassidismus ethisch ausgestaltet worden ist, sind in einer Katastrophe der Urschöpfung Funken der göttlichen Lichtsubstanz in die unteren Welten gesunken und haben die »Schalen« der Dinge und Wesen gefüllt. Galut(h): hebr. »Verbannung«; Bezeichnung des Exils, der Diaspora, des Aufenthaltes der Juden in Ländern außerhalb Palästinas seit der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahr 70; häufig mit negativem Beiklang. Gebetszeiten: das jüdische Gebet ist in einem teilweise sehr engen Zeitfenster zu verrichten, welches sich an den Zeiten orientiert, an denen im Tempel die vorgeschriebenen Opfer dargebracht wurden. Gemara: aram. »Abschluss [der Lehre]«; der spätere und weitaus größere Teil des ! Talmuds, der die ! Mischna erläutert und erörtert. Haskala: hebr. »Erkenntnis«; Bezeichnung der jüdischen Aufklärung in Mittel- und Osteuropa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Jom Kippur: hebr. »Versöhnungstag«; der Tag des Sündenbekenntnisses und der Läuterung, an dem von einem Abend bis zum andern streng gefastet wird. Der ganztägige Gottesdienst enthält als zentrales Element das Sündenbekenntnis. Vor dem Fest sollen alle einander vergeben, da der Tag nur die Sünden gegen Gott, nicht auch die gegen die Mitmenschen sühnt, solange sie von diesen nicht vergeben sind. Kabbala: hebr. »Überlieferung«; Bezeichnung der jüd. Mystik des Mittelalters und der frühen Neuzeit, die sich durch theurgische Praktiken sowie Spekulationen über das innere Wesen Gottes und die Schöpfung der Welt auszeichnet. Buchstabendeutungen, -permutationen und Zahlenkombinationen stellen ihre wichtigsten hermeneutischen Techniken dar, die aus jedem Zeichen den verborgenen Sinn freilegen sollen. Für den Chassidismus ist besonders die Phase der lurianischen Kabbala, die sich im 16. Jh. in Palästina entwickelte, bedeutsam. Kawwana (Plural Kawwanot): hebr. »Ausrichtung«; die auf Gott gerichtete Intention bei der Ausführung einer (insbesondre kultischen) Handlung. Die Kawanna 1.

Sofern der Begriff in den Schriften Bubers vorkommt, wird dessen Schreibweise übernommen. Alle anderen im Glossar angeführten hebräischen Begriffe folgen der für die MBW festgelegten Umschrift.

Glossar

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gewinnt eine zentrale Funktion in der jüd. Mystik: in der Kabbala liegen ihr bestimmte Variationsakte an den Lauten der im Gebet vorkommenden Gottesnamen zugrunde; sie zielen auf die Einung der getrennten göttlichen Wesenheiten ab. Klaus: Betraum einer geschlossenen, im Allgemeinen chassidischen, lokalen Gruppe. Kol Nidre: hebr. »alle Gelübde«; der Anfang einer Formel, die am Vorabend des ! Jomkippur zur Lösung von unerfüllten und unerfüllbaren Gelübden gesprochen wird. Diese Gelübde beziehen sich nur auf Eide, die der Mensch Gott versprochen hat. Laubhüttenfest ! Sukkot Mincha: hebr. »Gabe«; ursprünglich das für den Nachmittag vorgeschriebene Opfer, später zu dessen Ersatz das Nachmittagsgebet. Mischna: erste autoritative Sammlung des jüdischen Religionsgesetzes; redigiert um 200 n.Chr.; wird in der sog. ! Gemara kommentiert, mit der zusammen sie den ! Talmud bildet. Neu Jahr (hebr. Rosch Haschana): Zweitägiges Fest zu Beginn des jüdischen Neuen Jahrs, welches Gott als Schöpfer, König und Richter der Welt hervorhebt. Rabbi: hebr. »mein Lehrer«, »mein Meister«; Anrede verehrter jüd. Lehrer, Gelehrter; seit talmud. Zeit der Titel des ordinierten jüd. Rechtsgelehrten, der die Tora verbindlich auslegen kann und Auskunft in relig. Fragen erteilt; Führer einer chassidischen Gemeinde. Raw ! Rabbi. Rosch Haschana ! Neu Jahr. Sabbat (hebr. Schabbat): der siebte Tag der Woche; ein Freuden- und Feiertag, Ruhetag Gottes, der die Erschaffung der Welt abschließt; die halachisch begründeten Einschränkungen sollen sicherstellen, dass der Mensch an diesem Tag von Arbeit befreit ist und die Heiligkeit des Sabbat gewahrt bleibt. Schechina: hebr. »Einwohnung« [Gottes]; in der rabbinischen Literatur die Gegenwart Gottes im Volke Israel, insbesondere im Heiligtum; oftmals als weiblicher Aspekt Gottes aufgefasst; wird in der ! Kabbala zum zentralen Symbol der Exilssituation. Schofar: hebr. »Widderhorn«; das in der Synagoge, vornehmlich am Fest des ! Neuen Jahres, geblasene Widderhorn. Der Überlieferung nach wird dessen Ruf das Kommen des Messias ankündigen. Seder: häusliche Feier und Festmahl mit liturgischem Charakter am ersten und zweiten Abend des ! Passah. Sohar: hebr. »Glanz«; das vom Ende des 13. Jahrhunderts stammende Hauptwerk der frühen Kabbala. Sukkot: hebr. »Laubhüttenfest«; achttätiges Fest im Herbst, das ein Erntedankfest ist, und daran erinnert, dass die Israeliten während der Wüstenwanderung in Hütten lebten. Man soll in dieser Zeit, soweit klimatisch möglich, in einer Hütte (hebr. »Sukka«) wohnen.

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Glossar

Talmud: Bezeichnung von ! Mischna und ! Gemara, Hauptwerk der jüdischen Lehre und des Religionsgesetzes. Der maßgebliche babylonische Talmud wurde gegen Ende des 5. Jahrhunderts redigiert, der Jerusalemer Talmud ungefähr hundert Jahre zuvor. Tefillin: hebr. »Gebetsriemen«; Phylakterien, Lederkästchen, die Schrifttexte auf Pergament enthalten und beim wochentäglichen Morgen-Gottesdienst zum Zeichen des Bundes mit Gott (vgl. Deuteronomium 11,18) mit Riemen an die Stirn und den linken Arm gebunden werden. T(h)ora: wörtl. »Lehre«; Grundbegriff des Judentums; bezeichnet im engeren Sinn den Pentateuch (die fünf Bücher Moses), im weiteren Sinne die jüdische Glaubenslehre insgesamt. Von Buber oftmals mit »Lehre« übersetzt. Versöhnungstag ! Jom Kippur. Zaddik (Plural Zaddikim): hebr. »Gerechter«; durch charismatische Eigenschaften oder durch dynastische Abfolge legitimierte höchste relig. Autorität einer Gemeinde von ! Chassidim. Zionismus: im weiteren Sinn die relig.-politische Orientierung am Land Israel, als politische Bewegung 1897 von Theodor Herzl gegr., um den Erwerb eines Territoriums für das jüd. Volk, nach Möglichkeit in Palästina, zu erreichen.

Stellenregister Bibelstellen Hebräische Bibel Gen 4,12 5,24 21,8 32,23-33 37,3

549 516 38, 39 535 39

Ex 19,6 19,16 20,7

36 475 476

Lev 2 15,5f. 16 23,40

473 477 477 470

Num 10,25 15,37 ff. 19,19

550 471 477

Dtn 11,18 23,12

471 477

I Sam 9,6ff.

472

I Kön 19,1-18 19,11-13 II Kön 2 23,10

488 488

Jes 3,3 6,3b 11,12 31 31,1

Babylonischer Talmud 489 472 476 24 24

629

bBer 35b

553

Ez 1 3,12b

478 472

bChag 13a

489

Zeph 1,16

475

bJev 62a

489

Ps 109,4 119,19

550 548

bJom 69b

493 490 39 549

Hi 1,6-12

41

bSuk 52a 56b

Spr 10,25

478

bTaan 25a

Hhld 1,1 1,4 14b-5 2,1 7,11 7,14 8,1

633 633 633 633 633 633 550

Andere Literatur

Esr 9,4

473

Raschi zu Num 10,25 550

Rabbinische Literatur Mischna

516 471

bBB 17a

mAv IV,3

554

Antike Werke Josephus Geschichte des jüd. Krieges II, Kap 8 489

Sohar I, 182b I, 246b II, 100b

39 489 489 (2 �)

Personenregister 1. Zaddikim Abraham Gerschon von Kutow (gest. ca. 1760): Schwager des ! Israel ben Elieser; um 1747 Einwanderung nach Palästina. 575 Abraham Jehoschua Heschel von Apta (1748-1825): Schüler des ! Elimelech von Lisensk und führender Zaddik der dritten Generation. 555 Ahron von Zhytomyr (gest. ca. 1815): Schüler des ! Dow Bär. 547 Arje Leib von Polnoje (gest. 1770): Wanderprediger; einer der ersten Schüler des ! Israel ben Elieser. 308-314, 452-457, 621-622 Arje Leib von Spola, gen. der Spoler Sejde (jidd. für. »Großvater«) (1725-1812): Schüler des ! Pinchas von Korez; starke Konflikte mit ! Nachman von Bratzlaw, weil er dessen Anspruch auf eine unter den Zaddikim herausgehobene Position bestritt. 548 Baal Schem tov ! Israel ben Elieser. Baruch von Mesbiž (ca. 1756-1811): Enkel des ! Israel ben Elieser; beanspruchte eine Führungsposition unter den Zaddikim. 180, 325-330, 549, 633 Bescht ! Israel ben Elieser. David Leikes (gest. 1799): Schüler des ! Israel ben Elieser. 270-272, 424-426, 606 David von Nikolajew. Nicht ermittelt. 270-272, 424-426, 606 David Pirkes, auch David Purkes, Firkes (Lebensdaten nicht ermittelt): Prediger in Mesbiž und Schüler des ! Israel ben Elieser. 270-272, 315-318, 424-426, 458-461, 606 Dow Baer [Friedman] von Mesritsch (1704-1772): genannt »der große Maggid« oder »der Maggid von Mesritsch«; gemäß der chassidischen Geschichtsschreibung Schüler und Nachfolger des ! Israel ben Elieser; fast alle Zaddikim der nachfolgenden Generation waren seine Schüler, die er in unterschiedliche Teile Osteuropas schickte, um die Ausbreitung des Chassidismus zu fördern; seine mystischen Konzepte unterscheiden sich von denen des Baalschem. 17, 473, 493, 527, 549, 553, 634 Elimelech von Lisensk (1717-1786/87): bedeutendster Schüler des ! Dow Bär von Mesritsch, Bruder des ! Sussja von Hanipol; die wichtigsten Vertreter der nachfolgenden Zaddikim-Generation in Polen waren seine Schüler. In seinem Werk No‘am Elimelekh wird die Rolle des Zaddiks als Mittler zwischen Gott und den einfachen Chassidim herausgestellt. 548 Große Maggid, Der ! Dow Baer Friedman von Mesritsch. Israel ben Elieser (1700-1760): genannt Baalschem bzw. Baal Schem Tow oder als Akronym davon Bescht, hebr. für »Meister des guten Namens«; Begründer des Chassidismus; seine Lehren sind nur durch Schriften seiner Schüler bekannt. 17, 23, 33, 34, 37-44, 67-69, 72, 73, 74-75, 153, 154-157, 169-324, 372-479, 492, 497, 499, 534, 552, 585, 611, 622

Personenregister

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Israel von Kosnitz, d. i. Israel Hapstein/Hopsztajn (1733/7-1814): genannt »der Maggid von Kosnitz«; Schüler des ! Dow Bär von Mesritsch und des ! Elimelech von Lisensk. 331,332, 333, 451, 551, 617, 634 Israel [Friedman] von Rižin (1796-1850): Sohn von ! Schalom Schachna von Probischtsch und Urenkel des ! Dow Bär, des »Großen Maggid«; erhob den Anspruch auf die Führungsrolle in der chassidischen Bewegung; populärster und einflussreichster Zaddik des 19. Jh. 547 Jaakob Jizchak von Lublin (1745-1815): genannt der »Seher«, Schüler des ! Elimelech von Lisensk; sehr volkstümliche Gestalt; die meisten der folgenden polnischen Zaddikim betrachteten sich als seine Schüler; kümmerte sich vor allem um die »materiellen« Bedürfnisse seiner Anhänger, wie Lebensunterhalt, Hilfe bei Unfruchtbarkeit usw. 159, 194-195, 325-330, 332-337, 525, 550, 554, 586, 614, 634 Jaakob Jossef ben Zwi Hirsch von Polnoe (starb 1782): Schüler des ! Israel ben Elieser, unter dessen Einfluss er seit ca. 1741 stand; bekleidete mehrere Rabbinatsstellen, unter anderem in Szarygrod, zuletzt seit 1770 in Polnoe; tradierte die Lehren des ! Israel ben Elieser. 43-44, 277-284, 430-437, 611 Jechiel Michal von Zloczow, (1726-1781): Prediger, Gelehrter und (praktischer) Kabbalist; seine fünf Söhne amtierten als Zaddikim. 551, 555 Leib Sohn der Sara (1730-1791): Schüler des Maggid von Mesritsch und Rabbi Elimelechs; galt als einer der 36 verborgenen Zaddikim, dem große Wundertaten nachgesagt wurden. 338-340, 637 Levi Jizchak von Berditschew (1740-1809): Schüler des ! Dow Bär von Mesritsch; sehr volkstümliche Figur. 165-168, 527 Maggid von Mesritsch ! Dow Baer von Mesritsch. Menachem Mendel von Witebsk (1730-1788): Schüler des ! Dow Bär von Mesritsch; 1777 Übersiedlung nach Palästina und Gründer der chassidischen Gemeinschaften von Safed und Tiberias. 188, 360 Mordechai von Neshiž (1742-1800): Schüler des ! Jechiel Michal von Zloczow; berühmt als Wundertäter. 547 Mosche Leib von Sasow (um 1745 bis 1807): Schüler des ! Schmelke von Nikolsburg und Lehrer des ! Jaakob Jizchak von Pžysha; für seine aufopferungsvolle Menschenliebe gerühmt. 196, 198, 199, 367 Mosche Teitelbaum (1758-1841): seit 1808 Rabbiner in Ujhely (Ungarn); brachte den Chassidismus nach Ungarn. 552 Nachman ben S(s)imcha von Bratzlaw (1772-1810): Urenkel des ! Israel ben Elieser; 1798/99 Reise durch Palästina; wurde von den meisten anderen Zaddikim seiner Zeit angefeindet. 18-27, 42, 43, 51, 59-60, 61, 71-79, 80-85, 86-87, 152, 192, 230, 364, 494, 522, 543 Nachman von Kossow (gest. 1746): gehörte zu einer Gruppe in Kossow, die man ebenfalls als »Chassidim« bezeichnete und ähnliche Ideen wie die Bewegung des Baalschem verfolgte, aber von diesem unabhängig entstand. 42, 152, 230-233, 393-395, 522, 534, 585

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Personenregister

Naftali Zvi von Ropschitz (1760-1827): Schüler des ! Jaakob Jizchak von Lublin. 291, 298, 614-615 Nathan ben Naftali [Steinhartz] von Nemirów, genannt Rabbi Nosen (17801844): seit 1802 Schüler und Begleiter des Rabbi ! Nachman von Bratzlaw; gab dessen Schriften heraus. 21, 86-87, 499 Pinchas von Korez, d. i. Pinchas von Korzec (1726-1791): gilt in der chassidischen Geschichtsschreibung als Schüler des ! Israel ben Elieser, ist aber ein eigenständiger chassidischer Denker, der einen kabbalistischen Zirkel leitete. 549, 550, 553, 554, 556 Rafael von Berschad (um 1751-1816 oder 1827): Schüler des ! Pinchas von Korez. 197, 367-368, 547 Schalom Rosenfeld von Kaminka (1800-1852): Schüler des ! Naftali Zvi von Ropschitz. 291, 291-292, 298, 438, 443, 615 Schalom Schachna von Probischtsch (1769-1802): Enkel des ! Dow Bär von Mesritsch und Vater des ! Israel von Rižin. 548 Schlomo von Karlin (1738-1792): Schüler und Nachfolger des Ahron von Karlin; dem Ahnherrn der Dynastie von Karlin/Stolyn; die Schule von Karlin etablierte eine spezifische ekstatische Form des Gebets. 547, 554 Schmelke [Horowitz] von Nikolsburg (1726-1787): Schüler des ! Dow Bär von Mesritsch, an den er viele Schüler weiterleitete; seit 1773 amtierte er als Oberrabbiner in Nikolsburg (heute Mikulov), wo seine chassidischen Lehren wenig Widerhall fanden. 548, 556 Schneor Salman von Ljadi (1745-1812): Schüler des ! Dow Bär, des großen Maggid, und Gründer des Chabad-Chassidismus der Lubawitscher Chassidim. 71, 79, 493 Seew Wolf von Zbaraž (gest. 1822): Sohn des Zaddiks ! Jechiel Michal von Zloczow. 195, 196, 367, 554 Seher, der ! Jaakob Jizchak von Lublin. S(s)imcha Bunam von Pžysha d. i. Simcḥa Bunem von Przysucha (1765-1827): Schüler des Jaakob Jizchak von Pžysha und sein Nachfolger; wurde von den anderen Zaddikim seiner Zeit teils erheblich angefeindet. 552, 556 Sus(s)ja von Hanipol, (gest. 1800): Schüler des ! Dow Bär von Mesritsch, Bruder des ! Elimelech von Lisensk; als eine Art »weiser Narr« eine beliebte Gestalt in der jüd. Folklore. 176, 178, 195, 196, 548, 555 Zwi Elimelech von Dynow (1783-1841) Schüler des ! Jaakob Jizchak von Lublin. 235, 238, 396, 398, 586 Zwi Hirsch von Zydaczow (1763-1831): Schüler des ! Jaakob Jizchak von Lublin. 325-330, 633

Personenregister

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2. Personen, biblische und mythologische Gestalten Abraham: bibl. Gestalt; der erste der Stammväter Israels. 38, 637 Achad Haam, hebr. »Einer aus dem Volke«, eig. Ascher Ginzberg (1856-1927): hebr. Schriftsteller und zionistischer Theoretiker aus Russland; Verfechter des sog. Kulturzionismus; Gegner ! Theodor Herzls. 16 Acher, Mathias ! Nathan Birnbaum. Achija von Schilo / Ahia von Silo (10. Jh. v. Chr.): bibl. Prophet, der im Chassidismus als »Lehrer« des Baalschem gilt. 320, 321, 463, 468, 629 Adam (Rabbi): legendärer Lehrer des Baalschem. 206-211 375-377, 570 Agnon, Samuel Josef, eig. Sh. J. Czaczkes (1888-1970): hebr. Schriftsteller galizischer Herkunft; 1907-13 in Palästina, 1913-24 in Berlin; ab 1924 in Palästina; plante mit Martin Buber die Herausgabe eines Corpus Chassidicum; 1966 gemeinsam mit Nelly Sachs Nobelpreis für Literatur. 35, 526 Akiba ben Josef (ca. 50-135): führender jüdischer Lehrer des 2. Jahrhunderts; starb als Märtyrer während der Religionsverfolgung unter Kaiser Hadrian (76-138). 221, 223, 576 Aristoteles (384-322 v.Chr.): griech. Philosoph. 64, 489 Bachmann, Ingeborg (1926-1973): öster. Lyrikerin und Prosaschriftstellerin; erhielt 1964 den Georg-Büchner-Preis. 30 Benjamin, Walter (1892-1940): dt.-jüd. Philosoph, Literaturkritiker und Übersetzer; ab 1933 Exil in Paris, stand Buber kritisch gegenüber; beging nach der gescheiterten Flucht an der span. Grenze Selbstmord, um der Auslieferung an die Nazis zu entgehen. 14 Berdyczewski, Micha Josef, Pseud. Micha bin Gorion (1865-1921): hebr. und jidd. Dichter und Literat; geb. in Russland; chassidisch erzogen; gab Anthologien jüdischer Sagen heraus; lebte ab 1890 in Deutschland; mit Buber befreundet. 45, 60, 170, 488 Bialik, Chaim Nachman (1873-1934): russ.-jüd. Schriftsteller, Schöpfer moderner hebr. Lyrik und Prosa; gehörte zum Kreis um ! Achad Haam in Odessa; 1921 Übersiedlung nach Berlin; ab 1924 lebte er bis zu seinem Tod in Tel Aviv. 526 Birnbaum, Nathan, Pseud. Mathias Acher und Pantarhei (1864-1937): öster. Schriftsteller und bereits seit 1882 zionistischer Aktivist; dem Kulturzionismus ! Achad Haams zugeneigt; später Vertreter eines jüd. Diaspora-Nationalismus; 1919 Generalsekretär der orthodoxen Vereinigung Agudat Israel; 1933 Emigration in die Niederlande. 28-29 Buber, Adele (1830-1911): Großmutter Martin Bubers. 17 Buber, Carl (1848-1935): Vater Martin Bubers; Unternehmer in Wien, später in Galizien. 45, 527 Buber, Nelly (1886-1972): Halbschwester Bubers. 165, 527

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Personenregister

Buber, Salomon (1827-1906): Großvater Martin Bubers; Unternehmer in Galizien; jüd. Gelehrter und wiss. Herausgeber von Midraschim, die in seiner Bearbeitung teilweise noch bis heute in Gebrauch sind. 31, 59, 487 Buber-(Winkler), Paula (1877-1958): Ehefrau Martin Bubers; unter dem Pseud. Georg Munk schriftstellerisch tätig. 9-10, 13, 15, 16, 17, 30, 31, 32, 46, 485, 527, 528 Buddha, eig. Siddharta Gautama (um 560-480 v. Chr.): indischer Adeliger; Stifter des Buddhismus. 36, 153, 170, 342 Celan, Paul (1920-1970): dt.-sprachiger jüd. Lyriker aus Czernowitz; von 19421944 Zwangsarbeit; seit 1948 in Paris; empfing 1960 den Georg-Büchner-Preis. 30 Chmielnicki, Bogdan (1595-1657): ukrain.-kosakischer Feldherr; verantwortlich für die judenfeindlichen Pogrome von 1648 in der damaligen Ukraine. 67, 489490 Cohen, Hermann (1842-1918): dt.-jüd. Philosoph; Hauptvertreter des Marburger Neokantianismus; einer der wichtigsten Vertreter der jüdischen Philosophie des 20. Jh.; von 1876-1912 Prof. der Philosophie an der Univ. Marburg; ab 1912 Lehrtätigkeit an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. 34 David, König von Israel (10. Jh. v. Chr.): 177, 230, 267, 268, 393, 421 Dubnow, Simon (1860-1941): russ.-jüd. Historiker, Publizist, polit. Philosoph; 1922-1933 in Berlin; ab 1933 in Riga; 1941 in Riga ermordet. 60, 170, 487, 522 Eckhart von Hochheim (um 1260-1328): dt. Theologe und Mystiker; als Häretiker angeklagt; sein Werk wurde um die Jahrhundertwende von Repräsentanten der wilhelminischen Gegenkultur wie ! Gustav Landauer wiederentdeckt. 61, 488 Elijahu/Elija (8. Jh.): biblischer Prophet. 61, 75, 123, 321, 463, 468, 488, 494, 516 Ewers, Hanns Heinz (1871-1943): dt. Schriftsteller. 484 Feiwel, Berthold (1875-1937): öster.-jüd. Schriftsteller und zionistischer Politiker; Mitglied der Demokratischen Fraktion; gründete mit Buber u.a. den Jüdischen Verlag Berlin; ab 1933 in Palästina; zu Beginn des Jahrhunderts eng mit Buber befreundet. 16 Frank, Jakob (1726-1791): poln.-jüd. Begründer des Frankismus, einer messianistischen Sekte nach Art des Sabbatianismus; vertrat einen extremen Antinomismus und konvertierte schließlich zum Katholizismus. 319, 462, 470, 629 Franziskus von Assisi (ca. 1181-1226): ital. Ordensgründer der Franziskaner und kath. Heiliger. 36, 153, 170, 342, 523 Gautier, Théophile (1811-1872): franz. Schriftsteller. 484 Geiger, Ludwig (1848-1919): dt. Literaturhistoriker; Sohn des Reformrabbiners Abraham Geiger und selbst Vertreter eines stark assimilatorischen Reformjudentums; seit 1880-1913 Begründer und Herausgeber des Goethe-Jahrbuchs. 28 George, Stefan (1868-1933): bedeutender dt. Lyriker, zunächst des Symbolismus und Ästhetizismus, mit elitärer Geisteshaltung; seit 1907 Mittelpunkt eines Jüngerkreises; der George-Kult erfasste nach dem Ersten Weltkrieg weite Kreise der konservativ-bürgerlichen Intellektuellen. 18, 32

Personenregister

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Gundolf, Friedrich, eigentlich F. Leopold Gundelfinger (1880-1931): dt.-jüd. Germanist; Lehrstuhl seit 1920 in Heidelberg; lange Zeit dem Kreis um Stefan George zugehörig. 45, 45-46 Gurlitt, Hildebrandt (1895-1956): dt. Kunsthistoriker und Kunsthändler. 40 Heimann, Moritz (1868-1925): dt.-jüd. Schriftsteller; 1896 Lektor bei S. Fischer; Förderer der modernen dt. Literatur; Haupt der Donnerstagsgesellschaft; mit Buber befreundet. 29 Henoch: biblische Gestalt der Urzeit, wichtige Figur in der apokalyptischen Literatur und der Kabbala. 123, 516 Herrmann, Hugo (1887-1940): zionistischer Autor; Mitbegründer des Vereins Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; ab 1934 in Jerusalem. 526 Herzl, Theodor (1860-1904): öster.-jüd. Schriftsteller u. Journalist; Begründer des modernen Zionismus und Gründer der Zionistischen Organisation; Schriftsteller und Journalist; bis zu seinem Tod Feuilletonredakteur der Wiener Neuen Freien Presse.15-16, 29 Hofmannsthal, Hugo von (1874-1929): öster. Schriftsteller des Fin de siècle und der Wiener Moderne; mit Buber lebenslang befreundet. 13, 17, 18, 26, 27 Holz, Arno (1863-1929): dt. Dramatiker und Lyriker des Naturalismus und Impressionismus. 484 Horodezky, Samuel Abba (1871-1957): hebr. Schrifsteller und Gelehrter der jüd. Mystik und des Chassidismus; in Malin (Ukraine) geboren, lebte er 1908-1938 in der Schweiz und Deutschland, danach in Tel Aviv; veröffentlichte Studien zur Geschichte der poln. Juden und Biografien mittelalterlicher Rabbiner; half Buber bei der Sammlung chassidischer Quellen. 31, 35, 170, 535 Hurwitz, Asriel (gest. 1818): genannt »der Eiserne Kopf«; Rabbiner in Lublin; Gegner des Chassidismus, insbesondere des ! Jaakob Jizchak von Lublin. 194, 554 Jacopone da Todi, eigentlich Jacobus de Benedictis (1230/1236-1306): lebte lange als büßender Armer und hatte den Ruf eines »heiligen Narren«, später Franziskaner; wegen seiner radikalen Armutsforderung 1298-1303 exkommuniziert. 73, 494 Jakob: bibl. Gestalt, einer der Stammväter. 171 Jehuda He-Chassid (ca. 1660-1700): jüd. Prediger; führte ab 1697 eine Büßerschar nach Jerusalem. 489 Jesaja (8. Jh. v. Chr.): biblischer Prophet. 24, 26 Jesus von Nazareth (ca. 0-ca. 30 n. Chr.): zentrale Gründergestalt des Christentums. 35, 36, 37, 39-40, 62, 171, 343 Josephus, Flavius, auch Joseph ben Mathitjahu (ca. 38-ca. 100): jüd. Historiker; einer der wichtigsten Vertreter der jüd.-hell. Literatur. 63, 489 Kant, Immanuel (1724-1804): dt. Philosoph; Begründer der klassischen dt. Philosophie. 34 Kellner, Leon (1859-1928): öster. Anglist und Zionist; vor 1914 Prof. in Czernowitz; Herausgeber der Schriften ! Theodor Herzls. 29

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Kellner, Viktor (1887-1970): öster. Altphilologe und Pädagoge; Mitglied im Verein Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag; vor dem Ersten Weltkrieg Lehrer am Herzl-Gymnasium in Jaffa; 1919-1938 Direktor des Wiener zionistischen ChajesGymnasiums; Ende 1938 Flucht nach Palästina. 30 Kohn, Hans (1891-1971): aus Prag stammender Historiker und Politikwissenschaftler; Freund Martin Bubers; Mitglied im Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba; lebte in den 1920er Jahren in London u. Jerusalem, danach in den USA; 1930 erschien seine grundlegende Darstellung zu Bubers Leben und Werk Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. 14 Landauer, Gustav (1870-1919): belletristischer und politischer Schriftsteller und Anarchist; Erforscher der dt. Mystik; seit 1900 eng mit Buber befreundet; radikaler Kriegsgegner; ab Herbst 1918 in der Münchener Revolution aktiv; 1919 Ermordung durch gegenrevolutionäre Milizionäre; besorgte den dreizehnten Band »Die Revolution« (1907) in der von Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft. 17, 44-45, 46-47, 488 Laotse (nach der Tradition 6. Jh. v.Chr.): legendärer chin. Philosoph; gilt als Begründer des Taoismus. 61, 488 Liebermann, Max (1847-1935): dt.-jüd. Maler und Grafiker; 1898 Mitbegründer der Berliner Sezession; bedeutender Vertreter des dt. Impressionismus. 39-40 Lilien, Ephraim Moses (1874-1925): jüd. Buchillustrator, Grafiker und Fotograf; dem Jugendstil zugehörig; geb. in Galizien, lebte u.a. in Wien und Berlin; Mitglied der Demokratischen Fraktion; Mitbegründer des Jüdischen Verlages u. 1905 der Bezalel Kunstschule in Jerusalem. 16 Locke, John (1632-1704): engl. Philosoph; wichtiger Wegbereiter der Aufklärung und des politischen Liberalismus. 64, 489 Loewe, Heinrich (1869-1951): dt. Zionist und Schriftsteller; lebte lange in Berlin; 1892 gründete er dort Jung Israel, die erste zionist. Gruppe im dt. Zionismus; ab 1899 Bibliothekar an der Univ. Berlin; 1902-08 Hrsg. der Jüdischen Rundschau; 1933 Emigration nach Palästina; Bibliotheksdirektor in Tel Aviv. 27-28 Lukács, Georg (1885-1971): ungar. Philosoph und Literaturtheoretiker jüd. Herkunft. 47-48 Luria, Jitzchak [Isaak] (1534-1572): jüd. Mystiker aus Safed (heute Israel) gab der Kabbala ihre letzte, rezipierte Form; Aufzeichnung seiner Lehre durch den Schüler Chajim Vital. 64, 65, 74, 78, 235, 238, 396, 398, 470, 471, 472, 478, 489, 633 Mendelssohn, Moses (1729-1786): dt.-jüd. Philosoph und Wegbereiter der Haskala, der jüd. Aufklärung. 34 Mombert, Alfred (1872-1942): dt.-jüd. Dichter mit mystisch-visionären Inhalten; 1934 Verbot seiner Schriften; 1940 nach Gurs/Südfrankreich deportiert; 1941 freigelassen und in der Schweiz an den Folgen der Lagerhaft gestorben. 27 Morgenstern, Christian (1871-1914): dt. Dichter und Übersetzer, bekannt für seine humoristische Lyrik. 484 Mose/Mosche: bibl. Führer des israelitischen Volkes. 62, 123, 476, 516, 629

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Mühsam, Erich (1878-1934): dt.-jüd. Schriftsteller und anarchistischer Aktivist; an der Ausrufung der Müchner Räterepublik (1919) beteiligt; 1934 im KZ Oranienburg ermordet. 484 Müller, Ernst (1880-1954): zionistischer österr. Bibliothekar und Übersetzer; 1939 Emigration nach London; mit Buber seit 1900 bekannt. 46 Nietzsche, Friedrich (1844-1900): dt. Philosoph; beeinflusste die Lebensphilosophie und den Ästhetizismus der Jahrhundertwende; Stichwortgeber für den Faschismus und die Ideologie der Nationalsozialisten. 15, 32-33, 488 Nordau, Max (1849-1923): ungar-jüd. Arzt, polit. Zionist und Schriftsteller; Freund ! Theodor Herzls und Gegner ! Achad Haams; hatte führende Positionen in der Zionistischen Bewegung inne. 39 Nossig, Alfred (1864-1943): poln.-jüd., zionistischer Schriftsteller und Bildhauer; Mitarbeiter der Zeitschrift Ost und West; als Mitglied des Warschauer »Judenrates« unter dem Vorwurf der Kollaboration von jüd. Widerstandskämpfern im Warschauer Ghetto hingerichtet. 46 Paulus (ca. 10-ca. 65 n. Chr.): christl. Apostel, der vom Verfolger zum eifrigen Verbreiter der neuen Lehre wurde; formulierte erste Grundlehren des entstehenden Christentums. 62 Perez, Jizchok Leib (1852-1915): jidd. und hebr. Schriftsteller; einer der Begründer der modernen jiddischen Literatur; Darstellungen des chassid. Milieus 22, 171, 522, 535 Philo(n) von Alexandrien (ca. 15/10 v.Chr.-40/50 n.Chr.): jüd. hellenistischer Philosoph; versuchte die jüdische Religion und die griechische Philosophie in Einklang zu bringen. 62, 489 Plotin (ca. 204-270): griech. Philosoph; bedeutendster Vertreter des Neuplatonismus. 61, 488 Sabbatai Zvi (1626-1676): Pseudomessias und zentrale Figur des Sabbatianismus; dieser war die größte und (nahezu weltweit) einflussreichste jüd.-mess. Bewegung der Neuzeit; 1665 Proklamation als Messias; 1666 erzwungene Konversion zum Islam. 20, 65-66, 489 Salomo (10. Jh. v. Chr.): nach der Bibel König von Israel, gilt als Autor mehrerer biblischer Bücher, darunter des Hohelieds. 327 Saul (ca. 10. Jh.): laut Bibel erster König Israels; soll seinen Schwiegersohn und späteren Thronfolger, König ! David, aus Eifersucht verfolgt haben. 230, 393 Schaeder, Grete (1903-1990): dt. Kulturwissenschaftlerin; Privatgelehrte; Buberforscherin und Herausgeberin einer dreibändigen Ausgabe des Buberschen Briefwechsels; seit 1961 in engem Kontakt zu Martin Buber. 13, 31 Scheerbart, Paul (1863-1915): dt. Schriftsteller und Dichter; Verfasser fantastischer Erzählungen. 484 Schocken, Salman (1877-1959): dt.-jüd. Kaufhausbesitzer, Verleger und Zionist, mit Buber befreundet und dessen Verleger v. a. während der dreißiger Jahre. 30 Scholem, Gershom (1897-1982): dt.-jüd. Religionshistoriker; Begründer der wissenschaftlichen Erforschung der jüd. Mystik; 1923 Emigration nach Palästina;

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1925 Dozent für Judaistik, ab 1933 Prof. für Jüdische Mystik an der Hebräischen Universität Jerusalem; in seiner Jugend von Buber beeinflusst; nahm später eine kritische Distanz zu ihm ein. 27 Sim(e)on ben Jochai (2. Jh.): Tannait und Schüler Akibas; überlebte das Scheitern des Aufstandes Bar Kochbas gegen die Römer; gilt traditionell als Verfasser des Sohar; starb der Tradition nach an Lag ba-Omer; sein Grab befindet sich in Meron in Galiläa und wird jährlich an Lag ba-Omer zum Wallfahrtsort für orthodoxe Juden. 63, 74, 192, 364, 476, 489, 494 Simmel, Georg (1858-1918): dt. Philosoph und Soziologe; verband in seinem Denken Neukantianismus und Lebensphilosophie; 1909 Prof. für Philosophie und Soziologie an der Univ. Berlin, 1913 an der Univ. Straßburg; Lehrer und Förderer Bubers; besorgte den zweiten Band »Die Religion« in der von Buber herausgegebenen Reihe Die Gesellschaft. 18, 27 Sokolow, Nachum (1859-1936): vielsprachiger polnisch-jüd. Journalist und Pionier der neuhebr. Sprache; hatte seit 1905 führende Positionen in der zionistischen Bewegung inne. 152, 522 Sokrates (469-399 v.Chr.): griech. Philosoph. 495 Spinoza, Baruch, auch Benedikt de (1632-1677): niederl.-jüd. Philosoph des Rationalismus; beeinflusste pantheistische und materialistische Vorstellungen der Aufklärung; wurde wegen seiner Religionskritik 1656 von der sephardisch-jüd. Gemeinde Amsterdams mit dem großen Bannfluch belegt. 62, 488 Vogeler, Heinrich (1872-1942): dt. Künstler; schuf in Worpswede den Barkenhof, einen Treffpunkt für Künstler; gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurde er Sozialist und lebte später in Moskau. 484 Wagner, Richard (1813-1883): dt. Komponist; schuf unter dem von ihm postulierten Prinzip des Gesamtkunstwerks Monumentalopern (Der Ring des Nibelungen), die eine deutschnationale Mythologie begründen sollten; verfasste die antisemitische Schrift Das Judenthum in der Musik (1850). 20, 39 Weiß, Emil Rudolf (1875-1942): dt. Maler und Gebrauchsgrafiker; stattete Bücher für die Verlage Eugen Diederichs und Ernst Rowohlts aus; entwarf die Gestaltung für Bubers Die Geschichten des Rabbi Nachman (1906); mit Buber befreundet. 18 Weizmann, Chaim (1874-1952): jüd. Chemiker u. zionist. Politiker; 1920-1931 und 1935-1946 Präsident der Zionistischen Weltorganisation; 1949 erster israelischer Staatspräsident. 16, 29 Wilde, Oscar (1854-1900): irisch-engl. Schriftsteller. 26, 484 Zweig, Arnold (1887-1968), dt.-jüd. Schriftsteller; zionistisch orientiert; 1933 Emigration nach Palästina; 1948 Rückkehr nach Deutschland, wo er in der DDR lebte. 48