Markt und Verantwortung: Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven [1 ed.] 9783428545681, 9783428145683

Es lässt sich nicht leugnen: In der Wahrnehmung vieler Menschen entziehen Märkte ausgerechnet den Ärmsten der Armen die

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Markt und Verantwortung: Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven [1 ed.]
 9783428545681, 9783428145683

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Volkswirtschaftliche Schriften Band 567

Markt und Verantwortung Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven

Herausgegeben von

Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski In Verbindung mit Karl Homann · Christian Kirchner † Michael Schramm · Jochen Schumann Viktor Vanberg · Josef Wieland

Duncker & Humblot · Berlin

DETLEF AUFDERHEIDE / MARTIN DABROWSKI (Hg.)

Markt und Verantwortung

Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann †

Band 567

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Detlef Aufderheide

Dr. Martin Dabrowski

Wirtschaftsethik und Strategisches Management SiB School of International Business Hochschule Bremen Werderstraße 73

Akademie Franz Hitze Haus Fachbereich Wirtschaft, Sozialethik, Umwelt Kardinal-von-Galen-Ring 50

D-28199 Bremen

D-48149 Münster

Professor Aufderheide war zuvor Gründungsinhaber des Dr. Jürgen Meyer Siftungsstuhls für Internationale Wirtschaftsethik an der HSBA Hamburg School of Business Administration. Die Tagungsreihe „Wirtschaftsethik und Moralökonomik. Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik“ wird in Kooperation zwischen der katholisch-sozialen Akademie FRANZ HITZE HAUS und der SiB School of International Business, Bremen durchgeführt.

Markt und Verantwortung Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven

Herausgegeben von

Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski In Verbindung mit Karl Homann · Christian Kirchner † Michael Schramm · Jochen Schumann Viktor Vanberg · Josef Wieland

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Die Fachtagung „Markt und Verantwortung“ wurde mit Mitteln der Dr. Jürgen Meyer Stiftung unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Meta Systems GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 978-3-428-14568-3 (Print) ISBN 978-3-428-54568-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84568-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Es lässt sich nicht leugnen: In der Wahrnehmung vieler Menschen sorgen Märkte mit ihren komplexen und zugleich scheinbar chaotischen dezentralen Abstimmungsmechanismen dafür, dass ausgerechnet den Ärmsten der Armen die Lebensgrundlage entzogen werde. Aktuelle Stichwortgeber sind, neben vielen anderen, Rohstoffbörsen und die energetische Verwendung von Lebensmitteln. Dieser schlimme Eindruck verschärft sich vor dem Hintergrund der anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise und der offenkundig vorhandenen Bereitschaft nicht weniger Banker und anderer marktmächtiger Akteure, Schäden in beliebigem Ausmaß bei Dritten in Kauf zu nehmen, wenn damit nur der eigene Profit erhöht werden kann. Nicht nur, aber auch die rücksichtslose Entschlossenheit einiger Krimineller bei der Manipulation von vermeintlich objektiven Zinssätzen an den Leitbörsen der Welt hat diesen Eindruck in einer Weise verschärft, die auch hartgesottene Beobachter erschüttert. Diese ohnehin brisante Konstellation auf einigen Märkten wirft zugleich ein hartes Schlaglicht auf ein eher grundlegendes Problem moderner, demokratisch verfasster Marktwirtschaften: In geradezu erstaunlichem Maße ist in Forschung und Praxis umstritten oder gar grundlegend unklar, in welcher Form und in welchem Umfang einzelne Akteure – nicht zuletzt gewinnorientierte Unternehmen – in ihrem Handeln eigentlich Verantwortung für Dritte übernehmen bzw. übernehmen sollen. Lernt man nicht bereits in den unteren Semestern des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums, dass es die einzige – gar die vornehme – Aufgabe eines Unternehmens sei, seine Gewinne zu maximieren? Vielleicht mit dem Zusatz „koste es, was es wolle“? Oder führt das ethisch begründete Leitmotiv, wonach die Wirtschaft den Menschen zu dienen habe und nicht umgekehrt, geradewegs zu der Schlussfolgerung, dass es eben nicht die Gewinne seien, die im Vordergrund marktwirtschaftlichen Handelns stehen oder stehen sollten? Und welche Rolle spielen staatliche Instanzen bei der angemessenen Verortung von Verantwortung? Nun ist es vergleichsweise leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, wenn man sich selbst in der komfortablen Position des guten, an Machenschaften und Verfehlungen jeglicher Art völlig unbeteiligten Menschen wähnt. Wie aber steht es eigentlich um das, was wir vorläufig als Konsumentenethik oder Konsumentenverantwortung umschreiben können?

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Vorwort

Vor diesem Hintergrund erweist es sich als außerordentlich fruchtbar, die spezielle Frage nach der Verantwortung von Marktakteuren für die Versorgung der Menschen mit Rohstoffen und Lebensmitteln zu verknüpfen mit den grundlegenden wirtschaftsethischen Fragen der Verantwortung von Staat und Wirtschaft sowie von Konsumentinnen und Konsumenten. Genau diesen Ansatz verfolgt der vorliegende Sammelband, der im Sinne der Qualitätssicherung wie immer jedem Hauptbeitrag zwei Korreferate an die Seite stellt: Möge diese Konzeption den Leser und die Leserin auch dieses Mal bei der Orientierung oder bei der fortgeschrittenen Beschäftigung mit verschiedenen Perspektiven und Facetten der jeweiligen Fragestellung unterstützen. Wie wir weiter berichten dürfen, setzt der nunmehr vorliegende Band eine Reihe fort, die unter der Flagge „Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik“ im Jahre 1996 Fahrt aufnahm und sich seither einer freundlichen Aufnahme bei allen angesprochenen Adressatenkreisen erfreut. Die bereits angesteuerten Ufer finden sich in den acht vorangegangenen Sammelbänden. Diese sind in den „Volkswirtschaftlichen Schriften“ (VWS) des Verlages Duncker & Humblot unter folgenden Titeln erschienen: „Wirtschaftsethik und Moralökonomik. Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik“ (VWS 478); „Internationaler Wettbewerb – nationale Sozialpolitik? Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Globalisierung“ (VWS 500); „Gesundheit – Ethik – Ökonomik. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven des Gesundheitswesens“ (VWS 524); „Corporate Governance und Korruption. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Bestechung und ihrer Bekämpfung“ (VWS 544); „Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven für den Pflegesektor“ (VWS 551); „Internetökonomie und Ethik. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven des Internets“ (VWS 556); „Effizienz und Gerechtigkeit bei der Nutzung natürlicher Ressourcen. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Rohstoff-, Energie- und Wasserwirtschaft“ (VWS 560); „Effizienz oder Glück? Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven der Kritik an ökonomischen Erfolgsfaktoren“ (VWS 562). Dem Verleger, Herrn Dr. Florian Simon, sind wir für die inzwischen langjährige und außerordentlich bewährte Zusammenarbeit sehr dankbar. Die Reihe gründet sich auf eine Kooperation zwischen der Katholischsozialen Akademie Franz Hitze Haus und der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster, die auf wissenschaftlicher Seite zwischenzeitlich von der HSBA Hamburg School of Business Administration übernommen wurde und inzwischen an der SiB School of International Business in Bremen (jeweils vertreten durch Detlef Aufderheide) verankert ist. Das vorrangige Ziel

Vorwort

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der Kooperation liegt darin, dem Diskurs zwischen Ethik und Ökonomik, zwischen Ökonomen und Theologen bzw. Moralphilosophen sowie Vertretern anderer Disziplinen ein Forum zu bieten, um sich über aktuelle Forschungsergebnisse ebenso wie über die sich ergebenden Implikationen für die Praxis auszutauschen. Wie der Untertitel „Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven …“ jeweils anzeigt, werden dabei zwei besondere Perspektiven eingenommen. Es geht einerseits (Stichwort Wirtschaftsethik) nicht in erster Linie um allgemeine Fragen der Angewandten Ethik. Vielmehr erfolgt jeweils eine Engführung auf wirtschaftlich relevante Aspekte. Andererseits (Stichwort Moralökonomik) stellen sich die Autoren der vorliegenden Reihe immer wieder der Frage, wie mit den Methoden der Ökonomik auch und gerade moralische Probleme besser erklärt und vertiefend analysiert werden können: Moralökonomik kann in Langfassung auch verstanden werden als die Gesamtheit aller wissenschaftlichen Untersuchungen, die durch die Anwendung bewährter und neuerer ökonomischer Methoden zu einem besseren Verständnis moralisch relevanter Fragen und Probleme beitragen (können). Dabei ist uns bewusst, dass es „den“ ökonomischen Ansatz nicht gibt: Es geht auch innerhalb der Ökonomik um einen fruchtbaren Wettbewerb um die besten Analysemethoden. Wenn aber, diesen Fragen vorgelagert, die Ökonomik als Forschungsprogramm – und als solches vermeintlich fokussiert auf den Eigennutz und andere moralisch höchst ambivalente Phänomene – gezielt auf Fragen der Moral angesetzt wird, so führt dies immer noch zu Irritationen, und zwar bemerkenswerterweise nicht nur bei Fachfremden, sondern bisweilen immer noch unter Ökonomen. Die vorliegende Buchreihe möchte diesen Irritationen mit inhaltlicher Überzeugungsarbeit entgegentreten. Dass dabei auch die bestehenden Grenzen einer ökonomischen Analyse der Moral im Dialog auszuloten sind, versteht sich von selbst. Zum Gelingen des letztlich auf wechselseitiges Lernen angelegten Vorhabens bietet in unvergleichlicher Weise die Akademie Franz Hitze Haus in Münster alle wünschenswerten Voraussetzungen. Wir sind dem Leiter des Hauses, Herrn Prof. DDr. Thomas Sternberg, für die wieder außerordentlich harmonische Zusammenarbeit und großzügige Unterstützung bei der Durchführung der Tagung sehr dankbar. Nicht zuletzt wurden die Tagung und dieser Sammelband in der vorliegenden Form möglich durch die großzügige Unterstützung von Seiten der Dr. Jürgen Meyer Stiftung, der die Autoren sehr dankbar sind und der sich Detlef Aufderheide als Gründungsinhaber des Dr. Jürgen Meyer Stiftungslehrstuhls für Internationale Wirtschaftsethik an der HSBA Hamburg School of Business Administration in besonderer Weise weiterhin verbunden fühlt.

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Vorwort

In der inhaltlichen Vor- und Nachbereitung konnten wir – in projektbezogenen Einzelgesprächen, durch weitergehende Hinweise und auf vielfältige andere Weise – je nach fachbezogener Fragstellung immer wieder auf guten Rat aus unserem Beraterkreis zurückgreifen, in dem verschiedene akademische Disziplinen vertreten sind. Hier wird uns in Zukunft Prof. Dr. Dr. Christian Kirchner, LLM., schmerzlich fehlen, der in diesem Jahr viel zu früh verstarb und der uns als Wissenschaftler wie auch als Mensch zutiefst beeindruckt hat. Wie kein anderer vermochte er eine stets scharfsinnige ökonomische Analyse mit überragenden juristischen Kenntnissen zu verbinden und dabei stets ein warmherziger und äußerst aufmerksamer Gesprächspartner zu sein. Ihm und den Herren Prof. Dr. Dr. Karl Homann, Prof. Dr. Michael Schramm, Prof. Dr. Dr. h.c. Jochen Schumann, Prof. Dr. Viktor Vanberg und Prof. Dr. Josef Wieland sind wir für die inzwischen langjährige Unterstützung dankbar verbunden. Münster, im November 2014

Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski

Inhaltsverzeichnis Dirk Sauerland Marktverantwortung des Staates und der Politik ................................................

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Werner Lachmann Marktverantwortung des Staates in einer dynamischen Weltwirtschaft (Korreferat) .........................................................................................................

37

Rüdiger Wilhelmi Marktverantwortung im europäischen Kapitalmarktrecht (Korreferat) .........................................................................................................

47

Detlef Aufderheide Zur Debatte um die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen: Ist die CSR-Bewegung Teil der Lösung oder Teil des Problems? ......................

57

Thomas Hajduk Bei Friedman nichts Neues: Anmerkungen zu einem falsch verstandenen Klassiker der CSR-Diskussion (Korreferat) .........................................................................................................

89

Elmar Nass Unternehmensverantwortung in der Sozialen Marktwirtschaft (Korreferat) .........................................................................................................

99

Arnd Küppers und Peter Schallenberg Marktverantwortung von Konsumenten – grundsätzliche ethische Überlegungen ..................................................................................................... 107 Katharina Klein Von der Begründung zur Implementierung einer Ethik des Konsums (Korreferat) ......................................................................................................... 139 Eric Christian Meyer Marktverantwortung von Konsumenten – Eine ökonomische Einordnung (Korreferat) ......................................................................................................... 151 Matthias Kalkuhl Spekulation mit Nahrungsmitteln, Regulierung und Selbstregulierung .............. 159

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Inhaltsverzeichnis

Jörg Althammer und Maximilian Sommer Die Grenzen wissenschaftlich gestützter Handlungsempfehlungen. Das Beispiel Nahrungsmittelspekulation (Korreferat) ......................................................................................................... 187 Markus Henn Spekulation mit Nahrungsmitteln (Korreferat) ......................................................................................................... 197 Joachim Wiemeyer Tank oder Teller? Lebensmittel als Energielieferant für Industrieländer ............ 209 Anne Klatt und Almut Jering Drei Thesen zur „Food-First“-Maxime im Bioenergiediskurs (Korreferat) ......................................................................................................... 237 Anika Schroeder Nachhaltige Energieversorgung durch Bioenergie? (Korreferat) ......................................................................................................... 247 Autorenverzeichnis .................................................................................................. 253

Marktverantwortung des Staates und der Politik Von Dirk Sauerland

I. Vorbemerkungen „Mit Verantwortung wird der Umstand bezeichnet, dass jemand gegenüber einer Instanz für sein Handeln Rechenschaft abzulegen hat. Der Begriff Verantwortung entstammt ursprünglich dem Rechtsbereich und wurde dann im christlichen Sprachgebrauch auch als Rechenschaftspflicht des Menschen gegenüber Gott oder dem eigenen Gewissen ausgelegt.“1

Der Begriff Marktverantwortung kann sehr unterschiedlich interpretiert werden. Legt man die obige Definition zu Grunde, so geht es zunächst darum, dass ein Akteur gegenüber einem (oder mehreren) anderen Rechenschaft für sein Tun abzulegen hat. Im nachfolgenden Beitrag, der das Einleitungsreferat der diesjährigen Tagung darstellt, wird die Themenstellung so interpretiert, dass es um die Rechenschaftspflicht des Staates und der Politik (als „jemand“) gegenüber seinen Bürgern geht, und zwar nicht nur mit Blick auf die heutigen Bürger sondern auch den künftigen Generationen (als „Instanz“). Als „Handeln“ wird der Einsatz von Märkten innerhalb einer Wirtschaftsordnung behandelt. Es wird also darum gehen, welche Aufgaben der Staat bzw. die Politik im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung übernehmen sollte – zum Wohle seiner Bürger. Die Weite der Themenstellung lässt natürlich auch andere Interpretationen zu, wie sie etwa im Korreferat von Lachmann zu finden sind.2 Wenn es um die mit dem Einsatz von Märkten verbundene Rechenschaftspflicht bzw. staatlicher Aufgaben geht, stellt sich unmittelbar die Anschlussfrage, worauf sich diese bezieht. Innerhalb der Ordnungsökonomik werden mit Blick auf die Funktionsweise von Märkten typischerweise drei Ebenen unterschieden: die Ebene der Marktergebnisse, die Ebene des Marktprozesses sowie die Ebene der Chancen für die Beteiligung am Marktgeschehen (Startchancen). Eine Rechenschaftspflicht in diesen Bereichen kann sich zum einen darauf beziehen, wie es um den Ist-Zustand auf diesen drei Ebenen bestellt ist (positive Analyse), zum anderen kann der Staat gegenüber seinen Bürgern rechenschaftspflichtig darüber sein, welche Zustände auf den jeweiligen Ebenen er___________ 1 2

Gabler Wirtschaftslexikon. Vgl. dazu Lachmann (2014) in diesem Band.

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Dirk Sauerland

reicht werden sollen (normative Analyse) und wie das mit dem Einsatz von Märkten und den dazugehörigen staatlichen Aufgabenbereichen möglich ist. Im nachfolgenden Beitrag soll – theoretisch und empirisch – beleuchtet werden, welche Verantwortung der Staat (und die Politik) für die genannten Ebenen übernehmen sollen und wie er dieser Verantwortung gegenüber seinen Bürgern gerecht werden kann. Ein Gradmesser, der nicht nur zur Beurteilung von Marktergebnissen herangezogen wird, ist die Gerechtigkeit.3 Die Vorstellungen von Gerechtigkeit sind vielfach sehr individuell geprägt, jedoch zeigt die (empirische) Gerechtigkeitsforschung auch einige typische Gerechtigkeitsvorstellungen auf, die mit Blick auf die Funktionsweise von Märkten relevant sind.4 Welche Gerechtigkeitsvorstellungen und Erwartungen die Bürger in Deutschland in dieser Hinsicht haben, wird im Kapitel 3 genauer dargestellt. In der ökonomischen Terminologie stellen diese Vorstellungen der Bürger die Nachfrage an die politischen Akteure dar, Aufgaben zu übernehmen und Rechenschaft abzulegen. Diese Nachfrage wird in demokratisch verfassten Staaten typischerweise durch politische Akteure wie Parteien auf der Angebotsseite wahrgenommen und zum Teil auch befriedigt. Und auch diese Akteure haben Vorstellungen darüber, wie die Rolle des Staates innerhalb einer (Markt-) Wirtschaftsordnung aussehen soll. Die Verantwortungsbereiche aus der Perspektive der Politiker werden ebenfalls im Kapitel 3 thematisiert. Dies geschieht anhand von empirischen Untersuchungen, die auf Befragungen basieren und die Rolle des Staates in der Sozialen Marktwirtschaft thematisieren. Im nachfolgenden zweiten Kapitel soll es aber zunächst darum gehen, wie aus Sicht der Ordnungsökonomik die Verantwortungsbereiche von Staat und Politik mit Blick auf den Einsatz von Märkten in einer Wirtschaftsordnung theoretisch hergeleitet werden können. Konkreter formuliert geht es um die Aufgabenbereiche von Staat und Politik innerhalb der in Deutschland bestehenden Wirtschaftsordnung: der Sozialen Marktwirtschaft.

II. Marktverantwortung aus Sicht der Ordnungsökonomik: Theorie „Die Ordnung des Staates ist ebenso eine Aufgabe wie die Ordnung der Wirtschaft. Die ganze Gefahr eines totalitären Staates muß in gleicher Weise gesehen werden, wie die Notwendigkeit eines stabilen Staatsapparates, der genug Macht besitzt, um bestimmte, genau umschriebene Ordnungsaufgaben zu erfüllen“5

___________ 3

Vgl. dazu etwa Kersting (2012). Vgl. Wegener/Liebig (2010). 5 Eucken (1952/1990), S. 331. 4

Marktverantwortung des Staates und der Politik

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Die Ordnungsökonomik beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen privaten Akteuren und staatlichen Akteuren im Rahmen eines demokratisch verfassten politischen Systems mit einer wettbewerblich geprägten Wirtschaftsordnung. Während die positive Ordnungsökonomik die Wirkung unterschiedlicher, existierender Institutionensysteme analysiert, sucht die normative Ordnungsökonomik nach solchen Institutionensystemen, die im Verhältnis zum Status quo eine Pareto-Verbesserung für die Gesellschaft herbeiführen können.6 Solche Institutionensysteme beinhalten typischerweise bürgerliche Grundrechte, so genannte Gemeinwohlprinzipien politischen Handelns sowie Prinzipien der Trennung der Staatsgewalt sowohl auf der horizontalen als auch auf der vertikalen Ebene.7 Die moderne Verfassungsökonomik, als Teil der Ordnungsökonomik, analysierte die Spielregeln, die auf Ebene der Verfassung für die Akteure des politischen Systems festgelegt werden sollten, damit „Politik und Staat“ ihre Aufgaben zum Wohle der Bürger adäquat wahrnehmen können. Gradmesser für die Bestimmung solcher Spielregeln ist die Frage, ob alle Betroffenen diesen Spielregeln zustimmen können.8 Damit wird der Konsens zum Kriterium für die Güte von Spielregeln; implizit kann ein solcher Konsens auch die Gerechtigkeitsvorstellung der Betroffenen widerspiegeln. Grundlegend für ordnungsökonomische Analysen ist die Annahme, dass die Zuordnung von Zuständigkeiten innerhalb einer solchen demokratisch verfassten Marktwirtschaft zunächst bei den privaten Akteuren, das heißt den Individuen liegt. Diese Ausgangsüberlegung repräsentiert ein übergeordnetes Ideal, das der Ordnungsökonomik zugrunde liegt: die Freiheit der Individuen. Dieses Ideal von Freiheit und Eigenverantwortung entspricht auch der Logik des Subsidiaritätsprinzips.9 1. Das Subsidiaritätsprinzip als ordnungsökonomisches Gemeinwohlprinzip Das Subsidiaritätsprinzip gehört (neben dem Äquivalenzprinzip) zu den wesentlichen Gemeinwohlprinzipien, an denen sich das politische Handeln aus ordnungsökonomischer Sicht orientieren sollte.10 Während das Äquivalenz___________ 6

Vgl. dazu Erlei/Leschke/Sauerland (2007), S. 453. Vgl. ebenda. 8 Vgl. dazu etwa Aufderheide (1996). 9 Wissenschaftstheoretisch bildet der methodologische Individualismus, ein Kernelement der ökonomischen Theorie, die Idee ab, dass das Individuum im Mittelpunkt (auch der Wirtschaftsordnung) steht. 10 Vgl. dazu Erlei/Leschke/Sauerland (2007), S. 460 ff. 7

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Dirk Sauerland

prinzip eine Leitlinie für die Politik darstellt, wenn es um die Auswahl eines adäquaten Instruments zur Erreichung eines (wirtschafts-)politischen Ziels geht, hilft das Subsidiaritätsprinzip bei der Auswahl eines adäquaten Trägers, der für den Einsatz solcher Instrumente verantwortlich sein sollte. Die Kernidee des Subsidiaritätsprinzips, das auch aus der katholischen Soziallehre bekannt ist, besteht in der Anerkennung und Förderung der Eigenverantwortung der Menschen (Individuen). In der Enzyklika Quadragesimo anno heißt es dazu, auch mit Verweis auf Gerechtigkeitsüberlegungen: „[…] wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“11

Das Subsidiaritätsprinzip dient beispielsweise als Kriterium zur Zuordnung von Kompetenzen im Föderalismus (vertikale Gewaltenteilung), der auch für die Bundesrepublik Deutschland prägend ist. So ist in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes festgelegt: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Das Subsidiaritätsprinzip findet sich beispielsweise explizit in Art. 23 GG, der festlegt, dass die Bundesrepublik bei der Entwicklung einer Europäischen Union mitwirken soll, die „dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist“. Implizit ist es auch in Art. 70 Abs. 1 GG enthalten, der die Gesetzgebungskompetenz primär den Ländern zuweist. Wie das Zitat aus der Enzyklika zeigt, kann das Subsidiaritätsprinzip aber auch herangezogen werden, um die hier zu thematisierende Verantwortung bzw. Zuständigkeit von privaten Akteuren und staatlichen Akteuren voneinander abzugrenzen. In diesem Sinne war es Richard Musgrave, der in seinen finanzwissenschaftlichen Analysen darauf hinwies, dass etwa bei einer systematischen Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse durch die einzelnen Bürger der Staat in der Verantwortung sei, diese Minderschätzung zu korrigieren. Diese Idee liegt dem Konzept der so genannten meritorischen Güter zu Grunde.12 Diese sollen, auch im Föderalismus13, durch den Staat bereitgestellt werden, um die Fehler, die „sich selbst überlassene“ Individuen machen würden, zum Wohle dieser „irrenden Individuen“ zu korrigieren. Musgrave selbst hat wiederholt darauf hingewiesen, dass der Begriff der Meritorik nur mit Vorsicht zu nutzen sei, da die Gefahr bestehe, dass dieses prinzipiell zum Wohle der Bürger ge___________ 11

Pius XI. (1931). Vgl. Musgrave (1957). 13 Vgl. dazu Musgrave (1971). 12

Marktverantwortung des Staates und der Politik

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dachte Konzept zu paternalistischen Eingriffen einlädt und so zur staatlichen Entmündigung der Bürger führen kann.14 Was bedeuten diese Überlegungen, die hinter dem Subsidiaritätsprinzip stecken, nun für den Markt und die Verantwortung der Politik und des Staates beim Einsatz dieses Instruments? 2. Die Grundlogik der Sozialen Marktwirtschaft Die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft wurden in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts von der so genannten Freiburger Schule um Walter Eucken entwickelt. Die Ordoliberalen sahen es als ihre Aufgabe – und die Aufgabe der gesamten Nationalökonomie – an, eine „menschenwürdige und funktionsfähige Ordnung der Wirtschaft“15 zu entwerfen, im Sinne der normativen Ordnungsökonomik. Dieser neue Ordnungsentwurf basierte auf einer genauen Analyse der bis dahin „erprobten“ Wirtschaftsordnungen (positive Ordnungsökonomik). Dies waren zum einen rein marktwirtschaftliche Ordnungen (Manchester Kapitalismus), zum anderen (national-)sozialistische, zentral geplante Ordnungen. Wesentlich für die Analyse dieser real existierenden Ordnungen ist zunächst die in der modernen Verfassungsökonomik wieder verstärkt aufgegriffene Unterscheidung zwischen Spielregeln und Spielzügen. Diese Unterscheidung betrifft zwei Gruppen von Akteuren: die privaten Akteure in der Wirtschaft – und den Staat bzw. die Politik. Während in den reinen Marktwirtschaften sowohl die Gestaltung der Spielzüge als auch die Spielregeln den privaten Akteuren überlassen waren, war es in den zentral geplanten Ordnungen genau umgekehrt. Hier bestimmt(e) der Staat Spielregeln und Spielzüge. Die Idee der Ordoliberalen/Freiburger Schule bestand in einer neuen Zuordnung von Verantwortungen im Rahmen der zu schaffenden menschenwürdigen und funktionsfähigen Wirtschaftsordnung: Der Staat sollte sich auf seine Aufgabe als Regelsetzer fokussieren und den Ordnungsrahmen für die Soziale Marktwirtschaft bereitstellen. Diese Wahl von Regeln (choice among rules) basiert auf der Analyse der Wirkung unterschiedlicher Institutionensysteme16. Wichtig ist dabei, dass die formalen Institutionen, die in der Wirtschaftsordnung fixiert werden, kompatibel sind zu den informellen Institutionen, insbesondere der Kultur im jeweiligen Geltungsbereich.17 ___________ 14

Vgl. Beck (2013). Eucken (1938), S. 67, Hervorhebung im Original. 16 Vgl. grundlegend Coase (1960). 17 Siehe dazu etwa Denzau/North (1994). 15

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Dirk Sauerland

Die Spielzüge unter dem staatlich gesetzten Ordnungsrahmen (choice within rules) sollten hingegen den privaten Akteuren überlassen bleiben. Diese Idee der Aufgabenteilung entspricht dem Subsidiaritätsprinzip: die Akteure in den wirtschaftlichen Koordinationsspielen handeln eigenverantwortlich und realisieren so, von „der unsichtbaren Hand“ des Marktes bzw. des Wettbewerbs gelenkt18, Kooperationsvorteile (win-win-Situationen) für alle Beteiligten. Zur Sicherstellung dieser ordoliberalen Wettbewerbsordnung formulierte Eucken19 eine Reihe von Spielregeln für die Politik, die er in den Kategorien „konstituierenden Prinzipien“ und „regulierende Prinzipien“ zusammenfasste.20 Grundsätzlich ist der Staat dafür verantwortlich, dass „die Herstellung eines funktionsfähigen Preissystems vollständiger Konkurrenz zum wesentlichen Kriterium jeder wirtschaftspolitischen Maßnahme gemacht“ wird.21 Die ordoliberalen Ordnungsprinzipien lauten wie folgt:22 – Wirtschaftsverfassungsrechtliches Grundprinzip  Herstellung eines funktionsfähigen Preissystems vollständiger Konkurrenz; – Konstituierende Prinzipien  Primat der Währungspolitik  Offene Märkte  Privateigentum  Vertragsfreiheit  Haftung  Konstanz der Wirtschaftspolitik  Die Zusammengehörigkeit der konstituierenden Prinzipien; – Regulierende Prinzipien  Das Monopolproblem in der Wettbewerbsordnung  Einkommenspolitik ___________ 18

Vgl. Smith (1776). Dazu grundlegend Eucken (1952/1990). 20 Vgl. dazu ausführlicher Sauerland (2002) sowie Erlei/Leschke/Sauerland (2007), S. 466 ff. 21 Vgl. Eucken (1952/1990), S. 254. 22 Es wird jedoch im nachfolgenden Text nicht darum gehen, diese ordoliberalen Prinzipien einzeln zu beschreiben. Die Übersicht soll lediglich einen Eindruck davon vermitteln, über welche Bereiche sich die Vertreter der Freiburger Schule bei der Gestaltung der Wirtschaftsordnung Gedanken gemacht haben. 19

Marktverantwortung des Staates und der Politik

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 Wirtschaftsrechnung  Anomales Verhalten des Angebotes. Nach gängiger ökonomischer Unterscheidung müssen in jeder Wirtschaftsordnung drei Problembereiche „menschenwürdig und funktionsfähig“ gelöst werden: Allokation, Distribution und Stabilisierung. Alle Bereiche erfordern adäquat gestaltete Rahmenregeln sowie private und zum Teil auch staatliche Aktivitäten auf der Ebene der Spielzüge. Die ordoliberalen konstituierenden und regulierenden Prinzipien beziehen sich im Wesentlichen auf die Herstellung einer funktionsfähigen Wettbewerbsordnung. Wird diese adäquat gestaltet, sind alle drei Problembereich zu lösen. In den beiden folgenden Abschnitten werden die Logik der Allokation und der Distribution der sozialen Marktwirtschaft genauer betrachtet.23 3. Die Logik der Allokation in der Sozialen Marktwirtschaft „Marktwirtschaftlicher Wettbewerb ist, maßvoll etabliert zur effizienten Bereitstellung qualitativ guter Waren und Dienstleistungen, an sich eine gute Sache: Er weckt die Leistungsbereitschaft der Wirtschaftsakteure und befördert damit den gesellschaftlichen Wohlstand.“24

Im Bereich der Allokation geht es – als Zielformulierung – darum, eine präferenzgemäße Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen sicherzustellen. Die (empirische) Analyse der bisher erprobten Wirtschaftsordnungen zeigt, dass Marktwirtschaften im Bereich der Allokation den zentral geplanten Ordnungen deutlich überlegen sind. Ein erprobtes Instrument, um das genannte Allokationsziel zu erreichen, sind Märkte. Sie dienen dazu, freiwillige Austauschbeziehungen zu organisieren. Anders formuliert: Märkte koordinieren wirtschaftliche Aktivitäten und generieren so Kooperationsvorteile für die am freiwilligen Tausch beteiligten Anbieter und Nachfrager. Es gibt also gute Gründe für den Staat bzw. die Politik, zum Wohle der Bürger das Koordinationsinstrument Markt adäquat zu nutzen. Die wohlfahrtssteigernden Kooperationsvorteile werden durch funktionsfähige Wettbewerbsprozesse ermöglicht, die insbesondere auf der Angebotsseite relevant sind. Dieser Wettbewerb der Anbieter zwingt sie dazu, sich bei der Produktion der Güter und Dienstleistungen an den Präferenzen der Nachfrager zu orientieren. Dies sind die im obigen Zitat von Ulrich angesprochenen Leistungsanreize. Der Wettbewerb ist auch ein effizientes Verfahren zur Entde___________ 23

Aus Gründen der Selbstbeschränkung wird der Bereich der Stabilisierung hier nicht explizit behandelt. Überlegungen zur Stabilisierungspolitik in der Sozialen Marktwirtschaft finden sich bei Erlei/Leschke/Sauerland (2007), S. 472 ff. 24 Ulrich (2013).

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Dirk Sauerland

ckung neuer Produkte und Produktionsverfahren,25 so dass das Allokationsziel auch in dynamischer Hinsicht erreicht werden kann. Da der wohlfahrtssteigernde Wettbewerbsdruck für die Anbieter aber auch anstrengend ist, können sie dazu neigen, sich dem Wettbewerbsdruck zu entziehen. Um dies zu vermeiden sollte der Staat die Regeln für den Wettbewerb so setzen, dass ein funktionsfähiger, wohlfahrtsfördernder Wettbewerb sichergestellt wird. Regeln, die dieses sicherstellen, beziehen sich etwa auf das Offenhalten von Märkten, d.h. den möglichst freien Marktzutritt, die Vermeidung von Marktabschottung, Monopolbildung oder Kartellbildung.26 Hinter diesen Bereichen der Marktverantwortung des Staates steht die Überlegung, dass das Marktergebnis von der Marktstruktur sowie dem Verhalten der Akteure in den jeweiligen Strukturen abhängig ist. In dieser Logik verringert eine große Zahl von Anbietern (Polypol) die Wahrscheinlichkeit, dass stabile Absprachen zu Lasten der Verbraucher zu Stande kommen. Hingegen ist es bei einer geringen Zahl von Anbietern (Oligopol) eher möglich, zu solchen Verabredungen zu gelangen. Die Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern besteht also darin, Spielregeln für einen funktionsfähigen Wettbewerb zu setzen. In Deutschland geschieht dies beispielsweise mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und dem Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb. Hinzu kommt die Implementierung einer Schiedsrichterfunktion: Für den Fall von (entdeckten) Regelverstößen, müssen entsprechende Sanktionen der Regelbrecher vorgesehen werden. Die Schiedsrichterfunktion in Deutschland hat das Bundeskartellamt, das in seiner Aufgabe durch entsprechende Regeln und Einrichtungen auf der europäischen Ebene – ebenfalls subsidiär – unterstützt wird. Die bisher beschriebenen Verantwortungen beziehen sich auf Märkte, in denen private Güter und Dienstleistungen gehandelt werden. Darüber hinaus kann der Staat aber auch dann Verantwortungen zugeschrieben bekommen, wenn es zu so genanntem Marktversagen kommt. Dieses Phänomen entsteht, wenn Märkte zwar als prinzipieller Koordinationsmechanismus genutzt werden sollen, aufgrund von verschiedenen Besonderheiten der gehandelten Güter und Dienstleistungen aber nicht ohne weiteres ein Ergebnis entsteht, das die bisher beschriebene wohlfahrtssteigernde Wirkung entfaltet. In der Literatur werden typischerweise vier Ursachen für Marktversagen unterschieden: die Existenz öffentlicher Güter, das Vorhandensein von externen Effekten, das Vorliegen von Informationsdefiziten sowie das Bestehen von ___________ 25

Vgl. Hayek (2003). Vgl. dazu auch die oben erwähnten konstituierenden und regulierenden Prinzipien der Ordoliberalen. 26

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natürlichen Monopolen.27 Die umfangreiche Literatur zu diesen Themen zeigt, dass zur Behebung der entstehenden Probleme nicht zwingend staatliche Eingriffe direkt in die Märkte notwendig sind. Vielmehr finden die privaten Akteure in den Märkten oftmals eigene Lösungen. Nur wenn das nicht er Fall ist sollte der Staat – subsidiär – die Problemlösung unterstützen, damit die betroffenen Märkte ihre positive Allokationswirkung entfalten können.28 Dazu zwei Beispiele: Betrachten wir zunächst die öffentlichen Güter. Diese unterscheiden sich von den bisher betrachteten privaten Gütern durch zwei Eigenschaften. Während bei privaten Gütern sowohl eine Rivalität im Konsum vorliegt als auch eine Exklusion zusätzlicher Nutzer auf Basis des Privatrechts möglich ist, ist dies bei öffentlichen Gütern genau nicht der Fall. Hier besteht keine Rivalität im Konsum29 und es ist keine Exklusion auf privatrechtlicher Basis möglich. Die letztgenannte Eigenschaft führt dazu, dass es für private Anbieter nicht attraktiv ist, solche Güter anzubieten: Da sie zusätzliche Nutzer nicht von der Nutzung ausschließen können, werden sie nicht in der Lage sein, entsprechende Einnahmen zu generieren, um die Güter wirtschaftlich anbieten zu können. In der Folge werden so definierte, öffentlichen Güter zwar von den Nachfragern gewünscht, im Wettbewerb privater Anbieter aber nicht produziert und auf keinem Markt angeboten. Damit versagt der Markt, denn die Koordination von Angebot und Nachfrage erfolgt nicht, und Kooperationsvorteile bleiben ungenutzt. Was aber kann der Staat nun tun, um dieses Problem zu beheben? Die scheinbar nahe liegende und schnelle Antwort lautet: Er soll solche Güter selbst produzieren und anbieten. Das Subsidiaritätsprinzip fordert hingegen dazu auf, zunächst nach weniger eingriffsintensiven Lösungen zu suchen, bei denen der Staat lediglich unterstützend eingreift, um den privaten Akteuren zu helfen. Aus diesem Grund unterscheidet die finanzwissenschaftliche Literatur zwischen der Produktion von Gütern und ihrer Bereitstellung:30 Die Bereitstellung umfasst neben der reinen Produktion auch die Sicherstellung der Finanzierung durch entsprechende Einnahmen. Diese Einnahmen können private Anbieter auf Basis des ihnen zur Verfügung stehenden Privatrechts bei öffentlichen Gütern nicht generieren – aufgrund der fehlenden Exkludierbarkeit. An dieser Stelle hat der Staat gegenüber privaten Anbietern einen Vorteil: Er kann nicht nur privates Recht anwenden, sondern auch öffentliches. Das öffentliche Recht versetzt ihn in die Lage (anders als private Anbieter) Zwangsabgaben erheben ___________ 27

So z.B. Fritsch (2011). Vgl. dazu grundlegend Coase (1960). 29 Vgl. dazu Samuelson (1954). 30 Vgl. z.B. Grossekettler (2007). 28

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zu können. In diesem Sinne kann er zwar auch nicht zusätzliche Nutzer von der Nutzung ausschließen (exkludieren), er kann aber potentielle Nutzer zwangsweise in die Gruppe der Zahler inkludieren. Die so eingenommenen Mittel für die öffentlichen Güter kann bzw. sollte der Staat dann nutzen, um diese Güter für seine Bürger von privaten Anbietern produzieren zu lassen. D.h., die Verantwortung des Staates bei der Existenz von öffentlichen Gütern liegt nicht darin, diese selbst zu produzieren, sondern ihre Finanzierung sicherzustellen. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die so genannten externen Effekte.31 Diese entstehen bekanntlich durch (wirtschaftliche) Aktivitäten, die – im oben genannten Sinne – für die direkt Beteiligten wohlfahrtssteigernden Kooperationseffekte generieren. Manche Markttransaktionen verursachen allerdings Effekte, die nicht bei den direkt beteiligten Anbietern und Nachfragern entstehen, sondern bei so genannten unbeteiligten Dritten. Ronald Coase hat in seinem bahnbrechenden Aufsatz „The problem of social cost“ eindrücklich aufgezeigt, dass die Probleme, die aus solchen externen Effekten entstehen, in ganz unterschiedlichen institutionellen Systemen gelöst werden können, ohne dass der Staat unmittelbar eingreifen muss. Coase hat allerdings auch darauf hingewiesen, dass eine Internalisierung durch private Verhandlungen dann nicht zu Stande kommt, wenn die Transaktionskosten für die Beteiligten zu hoch sind. Aus der Perspektive des Subsidiaritätsprinzips sollte der Staat in solchen Situationen zunächst unterstützend eingreifen. Das bedeutet, er sollte beispielsweise über adäquate institutionelle Arrangements (zum Beispiel durch das Ermöglichen von Sammelklagen) die Transaktionskosten für eine Verhandlungslösung senken. Falls das nicht möglich ist, kann er in einem „zweiten Eskalationsschritt“ stärkere Maßnahmen ergreifen, um externe Effekte zu internalisieren. Solche Internalisierungsinstrumente werden in der umweltpolitischen Literatur ausführlich beschrieben.32 Einige der bekanntesten sind die Erhebung von Umweltsteuern sowie die Emission von so genannten Umweltzertifikaten. Im Bereich der Allokation ist ein weiterer Aspekt wichtig: Märkte sind zwar oftmals ein gutes Instrument, um (wirtschaftliche) Aktivitäten so zu koordinieren, dass Kooperationsvorteile entstehen. Sie sind aber nicht das einzige Instrument, das diese Funktion erfüllen kann. In diesem Sinne liegt es in der Verantwortung des Staates, Märkte nicht als alleiniges Instrument im Bereich der Allokation der Sozialen Marktwirtschaft vorzuschreiben, sondern Spielräume für andere Kooperationsformen zu ermöglichen, und so einen institutionellen Wettbewerb als Entdeckungsverfahren im Hayekschen Sinne zu ermöglichen. ___________ 31 Die Internalisierung externer Effekte wird auch von Eucken (1952/1990) im Rahmen der regulierenden Prinzipien gefordert. 32 Vgl. etwa Endres (2013).

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Dies ist insbesondere in kleineren Kollektiven (zum Beispiel in föderalen Strukturen) möglich, wie etwa die Arbeiten von Elinor Ostrom zu den so genannten Gemeingütern (Commons) gezeigt haben.33 Wenn der Staat seine Verantwortung als ordnende Potenz34 für die Wirtschaft adäquat wahrnimmt, kann das Allokationsproblem in der Sozialen Marktwirtschaft in der beschriebenen Art und Weise gelöst werden. Die Bevölkerung wird mit Gütern und Dienstleistungen versorgt, die ihren Präferenzen entsprechen. Ob sie über genügend Einkommen, d.h. Finanzmittel, verfügen, um die Güter und Dienstleistung auch kaufen zu können, ist eine andere Frage. Betrachten wir daher nun den entsprechenden Problembereich der (Re-)Distribution. 4. Die Logik der (Re-)Distribution in der Sozialen Marktwirtschaft „In einer Marktwirtschaft ohne soziale Absicherung und damit Redistribution von Einkommen wären viele Individuen, die (temporär) von Arbeitslosigkeit betroffen sind, vor Armut ungeschützt.“35

Das gesellschaftliche Ziel im Bereich der (Re-)Distribution besteht darin, eine möglichst gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen herzustellen, ohne dabei die im obigen Zitat von Ulrich angesprochene Leistungsbereitschaft der Wirtschaftsakteure zu beeinträchtigen. So sollen die Menschen in die Lage versetzt werden, sich die Güter und Dienstleistungen kaufen zu können, die sie zum Leben benötigen. Innerhalb des Allokationsspiels entstehen bei der Produktion auch Einkommen. Die schlichte Lehrbuchlogik sagt aus, dass diese Einkommen leistungsgerecht seien. Die aktuelle Diskussion um die Gehälter von Managern in Deutschland zeigt, dass dieses theoretische Gerechtigkeitskriterium empirisch nicht unbedingt konsensfähig ist. Darüber hinaus ist der theoretische Zusammenhang von (Arbeits-)Input und (Einkommens-)Output in keiner Wirtschaft linear, denn für die Verteilung der Einkommen (und daraus resultierenden Vermögen) spielen auch Zufälle eine wichtige Rolle. Diese lassen sich in den gängigen Marktmodellen aber nur schlecht abbilden. Festzuhalten bleibt, dass sich in der Sozialen Marktwirtschaft aus dem durch Wettbewerbsprozesse geprägten Allokationsspiel zunächst eine so genannte Primärverteilung von Einkommen ergibt, die im Wesentlichen auf dem Leistungsprinzip basiert. ___________ 33

Vgl. dazu Ostrom (1990). Vgl. dazu Eucken (1952/1990), S. 324 ff. 35 Erlei/Leschke/Sauerland (2007) S. 474. 34

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Nun ist es aber in jeder Gesellschaft so, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger etwas im Allokationsspiel leisten können. Einige können auch nur (sehr) wenig leisten. Der für die Allokation positive Wettbewerb auf Märkten führt so zu Gewinnern und Verlierern innerhalb der marktwirtschaftlichen Primärverteilung. Mit anderen Worten kann die Wettbewerbsordnung zu Ergebnissen führen, die von den Betroffenen unerwünscht sind.36 Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft besteht nun darin, aus dieser „unerwünschten“ Primärverteilung eine Sekundärverteilung von Einkommen und Vermögen zu gestalten, die „gerechter“ ist, und der im Sinne der normativen Ordnungsökonomik alle Betroffen zustimmen können (Konsenskriterium).37 Diese Spielregeln der Umverteilung adäquat zu setzen, liegt wiederum in der Verantwortung des Staates.38 Werden die Spielregeln der Umverteilung adäquat gesetzt, so lässt sich die Herstellung der Sekundärverteilung als „Sozialpolitik für den Markt“39 interpretieren. Dies bedeutet, dass die Redistribution der Einkommen nicht als quasi soziale Reparaturabteilung der Marktwirtschaft gesehen wird, sondern als sehr sinnvolle Ergänzungen, um die Marktwirtschaft noch besser funktionieren zu lassen. Damit erhöht die Sozialpolitik für den Markt die Zustimmungsfähigkeit der Wettbewerbsordnung (Konsenskriterium). Im Sinne einer freiwilligen Solidarität, wie sie von Hayek beschrieben hat,40 sichern die potentiellen Gewinner die potentiellen Verlierer des Allokationsspiels innerhalb entsprechender Sicherungssysteme insbesondere gegen das Risiko der unverschuldeten Armut ab. Diese Absicherung erfolgt über Einkommensumverteilungen.41 Sie ist konsensfähig, da sie sowohl im wohlverstandenen, eigenen Interesse der potentiellen Gewinner wie auf der potentiellen Verlierer des Allokationsspiels ist. Für die Gewinner kann die Umverteilung als Zahlung einer „Stillhalteprämie“ interpretiert werden, um so den sozialen Frieden als wesentlichen Standortfaktor zu sichern. Hier wird die Idee der Sozialpolitik für den Markt besonders deut___________ 36

Vgl. dazu Sauerland (2013), S. 58. Eucken (1952/1990), S. 300 dazu: „Hier also bedarf die Verteilung, die sich in der Wettbewerbsordnung vollzieht, der Korrektur.“ 38 Die Spielregeln der Umverteilung können auch so konstruiert werden, dass alle Betroffenen einer solchen Umverteilung zustimmen können (vgl. Leschke/Sauerland 2000). 39 Vgl. dazu ausführlich Homann/Pies (1996). 40 Vgl. Hayek (1983), S. 361 ff. 41 Als Instrument zur Korrektur ungleicher Einkommensverteilung verweist Eucken (1952/1990), S. 301 im Rahmen des regulierenden Prinzips „Einkommenspolitik“ auf eine progressive Einkommensteuer. 37

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lich.42 Wie die Absicherung gegen Armutsrisiken konkreter geschehen kann, lässt sich wiederum mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip erläutern. Dem Prinzip der Eigenverantwortung folgend, sollte sich zunächst jeder selbst gegen unverschuldete Armutsrisiken absichern. Diese Absicherung erfolgte früher innerhalb des Familienverbundes und prägt bis heute den Begriff des Generationsvertrags. Mit der Auflösung des traditionellen Familienverbundes sind andere Absicherungsmechanismen entstanden, die im Wesentlichen für größere Kollektive gestaltet sind.43 Prinzipiell ist eine Risikovorsorge durch Sparen oder den Abschluss einer Versicherung möglich. Sparen hat an dieser Stelle den Nachteil, dass der Eintritt des „Schadensfalls“ unsicher ist, so dass gegebenenfalls nicht genügend Vorsorge getroffen werden kann. Daher ist der Abschluss einer entsprechenden Risikoversicherung in aller Regel sinnvoller. Entsprechende Versicherungen, insbesondere gegen die Risiken, die mit Krankheit oder Alter verbunden sind, werden von privaten Versicherungsgesellschaften – im Wettbewerb des Allokationsspiels – angeboten. Aufgrund mangelnder Einsicht in die Notwendigkeit solcher Absicherungen auf (die bereits angesprochene Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse) und/oder aufgrund mangelnder finanzieller Leistungsfähigkeit (mit Blick auf die zu zahlende Versicherungsprämie) bleibt aber eine freiwillige private Vorsorge gegen die genannten Risiken in der Regel unter dem erforderlichen Niveau. Hier zeigt sich nun ein Ansatzpunkt für einen meritorischen Eingriff des Staates. Die Verantwortung des Staates liegt, dem Subsidiaritätsprinzip folgend, darin, eine Absicherungspflicht für die relevanten Risiken gesetzlich festzulegen.44 In Deutschland tut der Staat dies etwa im Bereich der gesetzlich vorgeschriebenen Kfz-Haftpflichtversicherung. Hier ist neben der Versicherungspflicht auch eine Mindestabsicherung gesetzlich definiert. Die Idee der Absicherungspflicht ist kompatibel zur Logik des Allokationsspiels: Die Bürgerinnen und Bürger werden lediglich verpflichtet, eine entsprechende Absicherung vorzunehmen. Die privaten Anbieter der Absicherungsprodukte stehen im (wohl___________ 42 Zwei weitere Begründungen für die Zustimmung der potentiellen Allokationsgewinner zur Einrichtung von sozialen Absicherungsmechanismen sind zum einen die Idee der Absicherung gegen den möglichen Fall, dass die aktuellen Gewinner zu den zukünftigen Verlierern zählen sowie zum anderen die Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage durch Einkommensumverteilungen. Letztgenanntes Argument spricht wieder für die Idee der Sozialpolitik für den Markt. 43 Hier lässt sich auch eine umgekehrte Kausalität formulieren – und vermuten: Familienverbünde lösten sich auf, nachdem entsprechende kollektive Absicherungsmechanismen auf gesellschaftlicher Ebene eingerichtet wurden. 44 Vgl. dazu etwa Sauerland (2003), S. 299 ff.

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standsfördernden) Wettbewerb. Die individuellen (Wahl-)Freiheiten für diejenigen, die der Versicherungspflicht unterworfen sind, bleiben erhalten. Ergänzend zur Absicherungspflicht müssen entsprechende staatliche Transferzahlungen an diejenigen vorgesehen werden, die nicht in der Lage sind sich die gesetzlich definierte Mindestabsicherung zu leisten. 5. Die Bedeutung von Gerechtigkeit in der Sozialen Marktwirtschaft In den Vorbemerkungen hatten wir sehr früh darauf hingewiesen, dass die Ordnungsökonomik unterscheidet zwischen der Ebene der Marktergebnisse, des Marktprozesses sowie der Chancen für die Beteiligung am Marktgeschehen (Startchancen). Die bisherigen theoretischen Überlegungen bezogen sich auf die Verantwortung des Staates für die adäquate Gestaltung der Marktprozesse im Bereich der Allokation (über das Setzen von Rahmenregeln) sowie für die adäquate Veränderung der primären Einkommensverteilung (über das Implementieren der Pflicht zur Absicherung). Letzteres bezieht sich auf die Marktergebnisse. Nun gilt es noch die Frage zu klären, ob und welche Verantwortung der Staat aus Sicht der Ordnungsökonomik für die Startchancen der Bürgerinnen und Bürger im Allokationsspiel hat. Damit kommt der Begriff Gerechtigkeit wieder ins Spiel.45 Gerechtigkeit, insbesondere die soziale Gerechtigkeit, ist aus ordnungsökonomischer Sicht ein umstrittener Begriff.46 Vanberg weist darauf hin, dass Gerechtigkeit als Konzept nicht auf das Ergebnis des Allokationsspiels angewendet werden kann, sondern allenfalls auf das Verfahren des Wettbewerbs, der für die Soziale Marktwirtschaft konstitutiv ist.47 Daher sollten die Spielregeln des Wettbewerbs verfahrensgerecht ausgestaltet werden, d.h. insbesondere diskriminierungsfrei. Solche gerechten Spielregeln sorgen dafür, dass das Ergebnis des Allokationsspiels fair zustande kommt. D.h. aber nicht, dass ein konkretes Ergebnis für einzelne Individuen vorhergesehen werden kann. Verfahrensgerechtigkeit ist in diesem Sinne nicht identisch mit Ergebnisgerechtigkeit.48 Diese ordnungsökonomischen Überlegungen wurden von Kersting aufgegriffen. Er stellt dabei heraus, dass Eingriffe in die Marktwirtschaft, die zur Erreichung einer sozialen Gerechtigkeit dienen sollen, die „normativen freiheits___________ 45

Vgl. zum Folgenden ausführlich Sauerland (2013), S. 72 ff. Vgl. dazu grundlegend Hayek (1977). 47 Vgl. Vanberg (2005). 48 Wie eine solche Ergebnisgerechtigkeit mit Blick auf das Wettbewerbsergebnis Einkommen anvisiert werden kann, hatten wir im Abschnitt II.4. diskutiert. 46

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rechtlichen Grundlagen von Markt und Demokratie“ aushöhlen.49 Anders als Vanberg weist Kersting darauf hin, dass Gerechtigkeit in der Sozialen Marktwirtschaft sich nicht allein auf die Spielregeln des Allokationsspiels beziehen kann und sollte. Vielmehr geht es auch darum, die Möglichkeit zum Mitspielen im Allokationsspiel gerecht zu gestalten. Das bedeutet Chancengerechtigkeit zur aktiven Teilnahme. Diese Chancengerechtigkeit kann insbesondere durch eine adäquat gestaltete Bildungspolitik realisiert werden.50 Eine gesetzlich festgelegte Schulpflicht gehört – im Sinne eines meritorischen Eingriffs – zu den wesentlichen Elementen der Bildungspolitik in Deutschland. Aber allein die Pflicht, eine Schule zu besuchen führt nicht dazu, dass Bildungsergebnisse realisiert werden, die angemessene Startchancen ermöglichen. Daher liegt die Verantwortung des Staates an dieser Stelle nicht alleine in der Festlegung solcher Spielregeln auf der Nachfrageseite. Vielmehr sollte er auch eine adäquate Bildungsinfrastruktur bereitstellen. Dies müsste (wie im Abschnitt II.3. erläutert) nicht durch staatliche Schulen geschehen. Vielmehr könnte die Finanzierung einer adäquaten Infrastruktur für Bildung – im Sinne der oben beschriebenen Bereitstellung – auch durch entsprechende (Privat-/Ersatz-)Schulfinanzierungsgesetze, wie es sie auf Länderebene in Deutschland bereits gibt, gewährleistet werden. Neben dieser Chancengerechtigkeit spielt der Begriff der Generationengerechtigkeit eine immer wichtigere Rolle in der ökonomischen und politischen Diskussion. Damit rücken die – in den Vorbemerkungen bereits angesprochenen – nachfolgenden Generationen als Adressaten der Rechenschaftspflicht des Staates und der Politik in den Fokus des Interesses. Hier geht es neben den Aspekten der Nachhaltigkeit in der Ressourcennutzung insbesondere auch um die Frage der generationengerechten Finanzierung staatlicher Aufgaben. Die bisher hergeleiteten Verantwortungsbereiche des Staates und der Politik sind nahezu regelmäßig auch mit Ausgaben der Umsetzung verbunden. Staatliches Handeln muss finanziert werden. Geht man davon aus, dass dem Staat mit Steuern und Krediten grundsätzlich zwei große Instrumente auf der Einnahmenseite zur Verfügung stehen, fordert das Prinzip der Generationengerechtigkeit eine Finanzierung nach dem pay as you use-Prinzip. Dies entspricht der Logik einer intertemporalen fiskalischen Äquivalenz: die Gruppen der Nutzer einer Maßnahme sollten auch über die Nutzungsdauer dieser Maßnahme (beispielsweise einer Investitionen in öffentliche Güter) hinweg den Gruppen der Zahler entsprechen. Diese Logik fordert vom Staat und der Politik, die Lasten der Finanzierung (auch von sozialen Sicherungssystemen) nicht zu Gunsten der jetzigen Generation auf die nachfolgenden Generationen zu verschieben, selbst ___________ 49 50

Vgl. Kersting (2012), S. 212. Vgl. dazu ähnlich – allerdings sehr knapp – Eucken (1952/1990), S. 368.

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wenn das aus Sicht eines politischen Entscheidungsträgers, angesichts einer recht kurzen Legislaturperiode in Deutschland, durchaus attraktiv erscheinen kann. 6. Zwischenergebnis: Marktverantwortung in der Sozialen Marktwirtschaft Fasst man die Ergebnisse der bisherigen theoretischen Analysen zusammen, so ergibt sich folgendes Bild der Markverantwortung von Politik und Staat in der Sozialen Marktwirtschaft: Im Bereich der Allokation bleibt es für die privaten Güter und Dienstleistungen, bei denen keine Marktversagenstatbestände vorliegen, bei der Grundlogik der Ordnungsökonomik. Der Staat soll dem Rahmen für einen funktionsfähigen Wettbewerb auf diesen Märkten herstellen. Konkret bedeutet dies, Gesetze zum Schutz des Wettbewerbs zu erlassen und eine Wettbewerbsaufsicht zu installieren, die Verstöße gegen die Spielregeln ahnden kann. Das Spiel selbst, also der Wettbewerb auf den funktionsfähigen Märkten bleibt den privaten Anbietern (und Nachfragen überlassen). In den Bereichen, in denen Marktversagen festgestellt werden kann, ergibt sich ein anderes Bild. Bei öffentlichen Gütern soll der Staat die Finanzierung sicherstellen. D.h., er soll Gebühren oder andere Zwangsabgaben erheben, um das Exklusionsproblem zu lösen. Die Produktion der öffentlichen Güter bleibt prinzipiell privaten Anbietern überlassen. Rechtsregeln, die auch zu den öffentlichen Gütern zählen, werden – im Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols und der geltenden Verfassung – vom Staat selbst „produziert“. Die Internalisierung externer Effekte sollte über adäquat gewählte Institutionensysteme gewährleistet werden, sofern die Transaktionskosten für Verhandlungslösungen (im Sinne von Coase) zu hoch sind, um zu rein privaten Lösungen zu kommen. Die Erhebung von Umweltsteuern ist dabei nicht zwingend notwendig. Anders sieht es aus im Bereich der natürlichen Monopole. Hier ist eine adäquate Regulierung durch staatliche Instanzen (ähnlich wie bei der Wettbewerbsaufsicht) zwingend notwendig. Ähnlich wie bei den externen Effekten sind jedoch beim Vorliegen von Informationsasymmetrien staatliche Eingriffe nicht zwingend notwendig. Falls sich keine private/wettbewerbliche Lösung für die Bereitstellung von Informationen zum Abbau von Informationsdefiziten auf der Seite der Nachfrager ergeben, kann der Staat (subsidiär) unterstützend eingreifen indem er beispielsweise Veröffentlichungspflichten verankert. Damit gilt in allen Bereichen, die die Allokation betreffen, dass die Produktion der betreffenden Güter und Dienstleistungen in aller Regel privat erfolgen

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kann (und soll) die Bereitstellung aber zum Teil durch staatliche Maßnahmen unterstützt wird. Nimmt der Staat seine Verantwortung in diesen Bereichen wahr, so ist eine funktionsfähige (Markt-)Wirtschaftsordnung gewährleistet. Im Bereich der Re-Distribution soll der Staat adäquate (soziale) Sicherungssysteme bereitstellen, um die Absicherung der Bürger gegen Risiken etwa des Alters, der Arbeitslosigkeit und der Krankheit zu gewährleisten. Auch hier ergibt sich eine ähnliche Arbeitsteilung wie bei der Allokation. Grundsätzlich kann und sollte die Produktion bzw. das Angebot entsprechender Absicherungsleistungen privaten Anbietern überlassen bleiben. Aus der bereits angesprochenen „Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse“ ergibt sich aber die Notwendigkeit für einen meritorischen staatlichen Eingriff. Um eine zu geringe Nachfrage nach solchen Absicherungsprodukten zu vermeiden, sollte der Staat entsprechende Absicherungspflichten festlegen. Sofern ein privates Angebot für diese Absicherungsprodukte zustande kommt, können ergänzend Mindeststandards festgelegt werden, die dann den Bürgern eine freie Auswahl zwischen den verschiedenen Produkten und Anbietern ermöglichen. Darüber hinaus gilt es im Sinne der oben genannten Allokationslogik, die Rahmenbedingungen für den Wettbewerb der Absicherungsanbieter adäquat auszugestalten. Auch hier liegt eine Verantwortung des Staates. Schließlich zeigt sich mit Blick auf Gerechtigkeitsüberlegungen, dass die Verantwortung des Staates zum einen darin besteht, die Teilhabe am Allokationsspiel zu ermöglichen. Eine so verstandene Chancen Gerechtigkeit lässt sich etwa durch eine verantwortungsvolle Bildungspolitik herstellen. Die Verankerung einer gesetzlichen Schulpflicht (als meritorischer Eingriff) reicht dazu aber nicht aus. Zum anderen ist der Staat bzw. die Politik dafür verantwortlich, das Prinzip der Generationengerechtigkeit zu befolgen, denn der Staat ist auch den nachfolgenden Generationen gegenüber rechenschaftspflichtig. Dies gilt nicht nur mit Blick auf die Nutzung natürlicher Ressourcen (wie sie bei der Internalisierung externer Effekte eine Rolle spielen), sondern auch für die Frage der generationengerechten Finanzierung staatlicher Aktivitäten (z.B. im Bereich der sozialen Sicherung). Nachdem nun die Marktverantwortung von Politik und Staat aus ordnungsökonomischer Sicht, d.h. eher theoretisch betrachtet wurde, soll im folgenden Abschnitt der Frage nachgegangen werden, ob es empirische Anhaltspunkte dafür gibt, dass diese theoretische Sicht auch mit der tatsächlichen Sicht der Bürger (als faktischen Adressaten der Rechenschaftspflicht) und Politiker (als Rechenschaftspflichtigen) übereinstimmt.

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III. Marktverantwortung aus Sicht der (Wahl-)Bürger und Politiker: Empirie Betrachten wir zunächst die eingangs erwähnten Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung im Hinblick auf die Soziale Marktwirtschaft. Diese Vorstellungen werden in der Literatur zur empirischen Gerechtigkeitsforschung als Individualismus und Egalitarismus sowie Askraptivismus und Fatalismus beschrieben.51 Die Grundlogik der Sozialen Marktwirtschaft im Allokationsspiel entspricht dem Individualismus. Bei dieser Vorstellung werden ungleiche Einkommen als gerecht angesehen, da sie auf Leistungsunterschieden beruhen. Individualistisch eingestellte Menschen halten Ungleichheiten für sinnvoll, da aus ungleichen Einkommen (als Ergebnis von Wettbewerbsprozessen) Leistungsanreize resultieren, welche die Wohlfahrt der Bevölkerung erhöhen. Eine ungleiche Primärverteilung der Einkommen aus dem Allokationsspiel von Märkten wird daher als gerecht angesehen. Studien der empirischen Gerechtigkeitsforschung zeigen, dass die Zustimmung zum Individualismus in Westdeutschland bis zum Jahr 2000 angestiegen ist, um dann bis zum Jahr 2006 zurück zu gehen. Hingegen ist die Zustimmung zu dieser Gerechtigkeitsvorstellung in den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung bis zum Jahr 2000 kontinuierlich gesunken.52 Die Zustimmung zur Marktwirtschaft mit ihren Ungleichheiten nahm also ab. 1. Marktverantwortung aus Sicht der (Wahl-)Bürger Um zumindest einen groben Eindruck von der Einschätzung der Marktverantwortung aus Sicht der (Wahl-)Bürger zu erhalten, muss man auf andere Quellen zurückgreifen. Die Bertelsmann Stiftung gibt regelmäßig Umfragen in Auftrag, in der die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft in der Bevölkerung abgefragt wird.53 Im Jahr 2011 wurde im Rahmen einer repräsentativen Umfrage zusätzlich ermittelt, was die Bürger von der Sozialen Marktwirtschaft erwarten – und welche Rolle sie dem Staat innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft zuweisen.54 Die Ergebnisse dieser Befragung können als empirischer Test für die theoretisch aus der Ordnungsökonomik hergeleiteten Verantwortungen des Staates in der Sozialen Marktwirtschaft herangezogen werden. Beginnen wir zunächst mit den Erwartungen der Bürger an die Soziale Marktwirtschaft. ___________ 51

So etwa Wegener/Liebig (2010), S. 89. Vgl. Wegener/Liebig (2010), S. 90. 53 Vgl. Sauerland (2013), S. 59 ff. 54 Vgl. dazu Bertelsmann Stiftung (2011). 52

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Tabelle 1 Erwartungen der Bevölkerung an die Soziale Marktwirtschaft Was erwarten die Bürger von der Sozialen Marktwirtschaft?

Erwartungen (Soll)

Erfüllung (Ist)

Abweichung

… dass alle die gleichen Bildungschancen haben

9,2

5,2

4,0

… dass wenige Leute arbeitslos sind

8,9

4,6

4,3

… dass die Wirtschaft wächst

8,5

6,7

1,8

… dass Unternehmen international wettbewerbsfähig sind

8,4

6,9

1,5

… dass Bürger mit höherem Einkommen auch höhere Steuern zahlen

8,3

5,0

3,3

… dass alle die Chance haben, in der Gesellschaft aufzusteigen

8,3

4,9

3,4

… dass der Staat geringe Schulden hat

8,3

2,8

5,5

… dass der Staat den Umweltschutz fördert

8,2

5,7

2,5

… dass Unternehmen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen

8,1

5,1

3,0

… dass der Staat die sozial Schwachen unterstützt

8,0

5,9

2,1

… dass die Sozialversicherung hohe Leistungen bietet

7,6

5,3

2,3

… dass die Bürger nur niedrige Steuern und Sozialabgaben zahlen müssen

6,6

3,8

2,8

Wie Tabelle 1 zeigt, liegen die wichtigsten Erwartungen der Bevölkerung in den Bereichen Bildungschancen, Beschäftigung und Wirtschaftswachstum. Mit Blick auf die Argumentation der Ordnungsökonomik lässt sich der Bereich der Bildungschancen sehr gut dem Argument der Chancengerechtigkeit zuordnen. Gleiches gilt für die Erwartung von Aufstiegschancen in der Gesellschaft. Die Erwartung einer niedrigen Arbeitslosigkeit bzw. einer hohen Beschäftigung bezieht sich auf den Bereich der Teilhabe am Allokationsspiel. Wie oben erläutert ist dazu aus ordnungsökonomischer Sicht die Chancengerechtigkeit (Bildungschancen) eine wichtige Voraussetzung. Auch die Erwartung von Wirtschaftswachstum lässt sich der Logik der in Abschnitt II.3. skizzierten Allokation in der Sozialen Marktwirtschaft zuordnen.

30

Dirk Sauerland Tabelle 2 Die Rolle des Staates in der Sozialen Marktwirtschaft aus Sicht der Bürger stimme voll und ganz zu

stimme eher zu

Zustimmung Gesamt

Der Staat soll Schulen und Hochschulen finanzieren, denn Bildung ist Staatsaufgabe.

80

16

96

Der Staat soll die Bürger bei seinen Entscheidungen stärker einbinden.

68

22

90

Wer sein Leben lang gearbeitet hat, hat einen Anspruch darauf, dass der Staat den erreichten Lebensstandard sichert.

65

24

89

Der Staat sollte seine Bürger nur unterstützen, wenn diese sich nicht aus eigener Kraft helfen können.

53

27

80

Der Staat sollte dafür sorgen, dass die Arbeitnehmer über Betriebsräte und Aufsichtsräte in den Unternehmen mitbestimmen können.

50

30

80

Der Staat soll allen Bürgern ein Recht auf bezahlte Arbeit garantieren, mit der der Lebensunterhalt bestritten werden kann.

51

20

71

Der Staat soll den rechtlichen Rahmen für das Wirtschaftsleben setzten, sich ansonsten aber aus der Wirtschaft heraushalten.

37

34

71

Der Staat soll sich nicht in Löhne und Arbeitsbedingungen einmischen, das müssen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände alleine regeln.

35

26

61

Der Staat soll finanziell angeschlagene Unternehmen nicht mit Steuermitteln retten, egal wie groß sie sind und welcher Branche sie angehören.

32

26

58

Der Staat soll Banken und Energieunternehmen übernehmen und selbst führen.

16

20

36

Welche Rolle hat der Staat aus der Sicht der Bürger?

Die oben angeführten Argumente zur Logik der (Re-)Distribution im Sinne einer Sozialpolitik für den Markt finden sich bei den Erwartungen der Bürger nur auf den Plätzen zehn und elf (von zwölf) wieder. Das Umverteilungsargument wird hier weniger im Bereich der (sozialen) Absicherungssysteme verortet als vielmehr im Bereich der Steuerpolitik.

Marktverantwortung des Staates und der Politik

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Obwohl die in Tabelle 2 dargestellten Ergebnisse durchaus schon die Aufgaben des Staates thematisieren gab es in der gleichen Befragung auch noch eine explizite Frage nach der Rolle des Staates in der Sozialen Marktwirtschaft. Die Ergebnisse dieser Befragung sind in Tabelle 2 zusammengefasst. Auffällig ist, dass auch hier die Verantwortung für die Bildung (und so die Herstellung von gerechten Startchancen für die Teilnahme am Allokationsspiel) von den Befragten von den vorgegebenen Verantwortungsbereichen als mit Abstand am wichtigsten angesehen werden. Der Wert von 96 % Zustimmung ist nahe an einem faktischen Konsens. Auf Platz drei folgt (immer noch in der Nähe eines Konsenses) die Verantwortung des Staates für eine Absicherung des erreichten Lebensstandards. Dies lässt sich als Absicherungsargument im Sinne der (Re-)Distribution interpretieren. Auf Platz vier folgt die subsidiäre Verantwortung des Staates. Auch diese hat die Unterstützung einer deutlichen Mehrheit der Befragten, und sie ist kompatibel mit den ordnungsökonomischer hergeleiteten Verantwortungsbereichen. Innerhalb der zehn vorgegebenen Antwortoptionen landet das Setzen von Rahmenregeln als staatliche Verantwortung auf Platz sieben. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass die formulierte Ergänzung, nach der der Staat „sich ansonsten aber aus der Wirtschaft heraushalten“ soll, für die Befragten möglicherweise weniger zustimmungsfähig ist als der erste Teil der Aussage (Setzen von Rahmenregeln). Mit Blick auf die in Abschnitt II.3. skizzierten Verantwortungen des Staates im Bereich der Allokation ist in Tabelle 2 schließlich noch interessant, dass die staatliche Produktion von Gütern und Dienstleistungen nicht mehrheitsfähig ist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Ergebnisse der angeführten Befragung in weiten Teilen kompatibel sind mit den theoretischen hergeleiteten Marktverantwortungen des Staates. 2. Marktverantwortung aus Sicht von Politikern Ebenfalls im Jahr 2011 hat die Bertelsmann Stiftung Interviews mit Politikern durchführen lassen, um deren Einschätzungen in Bezug auf das „politische Tagesgeschäft Soziale Marktwirtschaft“ zu ermitteln.55 Auf Basis von 34 Interviews kommen die Verfasser der Studie zu einigen Ergebnissen, die mit Blick auf die hier behandelte Fragestellung interessant sind. So werden von den Interviewten etwa die Verantwortungen innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft klar – und dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend – ___________ 55

Vgl. Bergheim et al. (2011).

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Dirk Sauerland

zugeordnet: „Jeder Bürger, jede Bürgerin ist für sich selbst verantwortlich. Jeder Bürger, jede Bürgerin hat eine Generationenverantwortung für die Nachkommen. […] Der Staat hat Ausbildungsverantwortung. Der Staat hat Führungsverantwortung. Der Staat hat Schiedsverantwortung für einen Ausgleich zwischen Partikular- und Gemeinwohlinteresse.“56 Bei diesen Antworten deckt sich die Ausbildungsverantwortung mit den Erwartungen der Bürger und den ordnungsökonomischen Überlegungen im Bereich der Chancengerechtigkeit. Und auch der Bereich der Generationengerechtigkeit bzw. -verantwortung wird explizit thematisiert. Ebenso interessant ist die Betonung der konsensorientierten Ausrichtung der Sozialen Marktwirtschaft.57 Die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland wird somit auch von den Befragten Politikern als „Konsens generierender Mechanismus“58 angesehen. In einigen Interviews wurden weitere, bereits diskutierte Verantwortungen des Staates genannt: „Er soll Rahmensetzer und Hüter des Wettbewerbs sein, eine Grundinfrastruktur zur Verfügung stellen, Ermöglicher für besonders Schwache und im Krisenfall der Retter in der Not sein.“59 Somit zeigt sich zumindest in dieser Analyse, dass wesentliche der ordnungsökonomisch hergeleiteten Verantwortungsbereiche des Staates (und der Politik) auch von den interviewten Politikern geteilt werden.

IV. Fazit Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollte die Frage nach der Marktverantwortung des Staates und der Politik innerhalb der Sozialen Marktwirtschaft beantwortet werden. Die hier präsentierten Antworten beinhalten drei Perspektiven: zunächst die theoretische Perspektive der Ordnungsökonomik (unter Berücksichtigung des Konsenskriteriums), dann die empirische Perspektive der Bürger und schließlich die empirische Perspektive von Politikern. Die theoretische Analyse weist dem Staat Verantwortungen im Bereich der Allokation (Setzen von Rahmenregeln plus subsidiäre Maßnahmen zur Behebung von Markversagen), der (Re-)Distribution (Sozialpolitik für den Markt) und im Bereich der Herstellung von Chancengleichheit zur Teilhabe am Allokationsspiel sowie der Generationengerechtigkeit zu. Hier ist der Staat gegenüber seinen Bürgern rechenschaftspflichtig. ___________ 56

Bergheim et al. (2011, S. 7). Siehe dazu Bergheim et al. (2011), S. 7 und 13. 58 Karsten (1985, S. 181). 59 Bergheim et al. (2011), S. 13. 57

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Die Ergebnisse der hier herangezogenen empirischen Befragungen deuten darauf hin, dass es für viele theoretisch hergeleitete Verantwortungsbereiche eine sehr große Unterstützung der befragten Bürgerinnen und Bürger gibt, zum Teil in der Nähe eines faktischen Konsenses. Auch die befragten Politiker sehen die Verantwortungsbereiche des Staates ähnlich wie die Ordnungsökonomik. Das lässt sich so interpretieren, dass die Bürger auch empirisch eine Rechenschaftspflicht des Staates und der Politik in diesem Bereich sehen – und die Politiker diese Einschätzung teilen. Schließlich bleibt festzuhalten, dass die Unterstützung der Idee des Subsidiaritätsprinzips in Deutschland hoch ist. Diese Idee beschränkt die Marktverantwortung des Staates und der Politik auf solche Bereiche, in denen die privaten Akteure in den Märkten überfordert sind. Die (Wahl-)Freiheit der Bürgerinnen und Bürger in der demokratischen Gesellschaftsordnung spiegelt sich damit auch in der wettbewerblichen Wirtschaftsordnung wider. Literatur Aufderheide, D. (1996): Konstitutionelle Ökonomik versus Theorie der Wirtschaftspolitik: Herausforderung des Herausforderers?, in: Pies, I. und M. Leschke (Hrsg.), James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, Tübingen, S. 184–192. Beck, H. (2013): Des Guten zu wenig, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3.11.2013, Seite 40. Bergheim, S./Barth, V./Hölz, M. J./Lachenmayer, J. (2011): Politisches Tagesgeschäft Soziale Marktwirtschaft, Gütersloh, Abruf am 09.11.2013 unter http://www. fortschrittszentrum.de/dokumente/2011-04_SozMarkt_Tagesgeschaeft.pdf. Bertelsmann Stiftung (2011): infas-Umfrage: Zukunft soziale Marktwirtschaft, April 2011, Gütersloh, Abruf am 11.11.2013 unter http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/ de/media/xcms_bst_dms_33801_33802_2.pdf. Coase, R. H. (1960): The Problem of Social Cost, in: Journal of Law and Economics 3, S. 1–44. Denzau, A. T./North, D. C. (1994): Shared Mental Models: Ideologies and Institutions, in: KYKLOS 47(1), S. 3–31. Endres, A. (2013): Umweltökonomie, 4. Aufl., Stuttgart. Erlei, M./Leschke, M./Sauerland, D. (2007): Neue Institutionenökonomik, 2. Aufl., Stuttgart. Eucken, W. (1938): Nationalökonomie wozu?, Leipzig. – (1952/1990): Grundsätze der Wirtschaftspolitik, postum veröffentlicht von Edith Eucken und Paul K. Hensel, 6. Aufl., Tübingen. Fritsch, M. (2011): Marktversagen und Wirtschaftspolitik – Mikroökonomische Grundlagen staatlichen Handelns, 8. Aufl., München.

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Dirk Sauerland

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Marktverantwortung des Staates und der Politik

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Marktverantwortung des Staates in einer dynamischen Weltwirtschaft – Korreferat zu Dirk Sauerland – Von Werner Lachmann Zu den wirtschaftspolitischen Aufgaben des Staates in einer Sozialen Marktwirtschaft – so versuchte ich einst den Studenten in meinen Vorlesungen zu erklären – gehören: – Etablierung einer marktwirtschaftlichen Ordnung nebst Sicherung des Wettbewerbs, – Korrektur von Marktversagen, – Verbesserung sozialer Gerechtigkeit durch eine Umverteilungspolitik (Korrektur des Marktergebnisses) und durch eine Verbesserung der Chancengleichheit (Verbesserung der Ausgangslage der Benachteiligten), – Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung durch Konjunkturpolitik (strittig). Sauerland behandelt alle diese Punkte und bietet im ersten Teil einen ausgezeichneten und kenntnisreichen Überblick über die wirtschaftspolitischen Aufgaben des Staates aus ordnungsökonomischer Sicht. Bei der Behandlung des Marktversagens wären nur die „anomalen Angebotsreaktionen“ zu ergänzen – sie stellen auf Agrar- und Arbeitsmärkten doch immer noch ein ernstes und aktuelles Problem dar. Erinnert sei nur an die politische Auseinandersetzung bezüglich der Einführung eines Mindestlohns! Im zweiten Teil gibt er empirische Ergebnisse zur Zustimmung zur Sozialen Marktwirtschaft – sowohl aus der Sicht des Wählers als auch aus der des Politikers – wider. Dennoch bleiben einige Fragen offen und sind einige Ergänzungen vorzutragen. Die Behandlung des Themas erfolgt bei Sauerland nämlich nur aus nationaler und statischer Sicht. Bei dynamischen und internationalen Wirtschaftsbeziehungen hat der Staat ebenfalls Aufgaben zu übernehmen, die nicht angesprochen werden. Damit engt er die Themenstellung ein.1 Es müsste eigentlich auch gefragt werden, inwieweit der Staat die geforderten Aufgaben überhaupt erfüllen kann. ___________ 1

Natürlich können in einem Aufsatz nicht alle möglichen Aspekte behandelt werden!

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Werner Lachmann

Die Themenstellung enthält einige inhaltsschwere Begriffe, die kaum analysiert oder definiert werden. Was soll unter „Markt“ genau verstanden werden? In welchem Zusammenhang ist wer für was in ihm verantwortlich? Verantworten heißt „auf Fragen Antworten geben“ können.2 Vor wem muss sich die Politik oder das abstrakte Gebilde Staat eigentlich verantworten? Nur vor dem Wähler? Der Religionsphilosoph Georg Picht sagte einmal: „Der Horizont der Verantwortung ist die Geschichte“. Nicht nur kurzfristig – bis zur nächsten Wahl, sondern auch für langfristige Konsequenzen ist Verantwortung zu übernehmen. Sind das nur die heutigen Wähler oder auch die nachgeborenen? Nur das eigene Volk oder auch andere Völker? Müsste nicht vom Weltmarkt gesprochen werden? Erinnert sei an die Verantwortung für die Entwicklungsländer! Nationaler Protektionismus greift oft wohlfahrtsmindernd in den Weltmarktprozess ein. Wer Verantwortung für etwas übernehmen muss, sollte auch dazu in der Lage sein. Darüber wird ebenfalls nicht reflektiert. Müsste nicht außerdem die Frage aufgeworfen werden, wie der Markt vor negativ wirkenden Eingriffen von Staat und Politik geschützt wird und wer dazu in der Lage ist? Oder wird generell der Hegelsche Gutstaat unterstellt? In der Themenstellung werden Politik und Staat angesprochen. Ist diese Wortwahl nur zufällig „doppelt gemoppelt“ – oder beinhaltet sie eine Einbeziehung von Bürokratie neben der Politik? Darf allokative Verantwortung nur auf Pareto-Optimalität reduziert werden? Schwingt bei dem Begriff „Verantwortung“ nicht auch ein ethischer Unterton mit? Müsste nicht auf ein ethisches Leitbild rekurriert werden? Nell-Breuning nennt als Sachziel des Marktes „die Kulturfunktion der Unterhaltsfürsorge“. Sollte diese Funktion für das Pflichtenheft der Politik nicht auch irgendwie eine Rolle spielen? Folgende sieben Punkte möchte ich daher kurz aufgreifen und erörtern: – – – – –

Der zwiespältige Bürger als letzte Instanz (Demokratie, Politik, Markt) Welches Wettbewerbsmodell beherrscht die Marktwirtschaft? Problematik meritorischer Güter Ergänzung zu den Euckenschen Prinzipien der Wirtschaftspolitik Was ändert sich für das Pflichtenheft von Politik und Staat bei einer zunehmenden Globalisierung (Weltmarkt) und Staatsverschuldung? – Inwieweit müsste die Sozialpolitik in das Marktmodell integriert werden? – Warum eine unrealistische Konsensbegründung bei der Sozialpolitik?

___________ 2

Siehe die Ausführungen zur Verantwortung in Lachmann (1998).

Marktverantwortung des Staates in einer dynamischen Weltwirtschaft

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I. Verhältnis von Demokratie und Markt? Wahlen in der Demokratie gelten als das politische Äquivalent zum Wettbewerb im Marktprozess. Im ersteren Fall bestimmt der Bürger durch Wahlen die Politik(er). Im zweiten bestimmt der gleiche Bürger3 als Nachfrager über den Marktprozess das Güterangebot in einer Gesellschaft. Allerdings besteht zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Bereichen ein Konflikt. Im ersten Fall stimmt der Bürger nur ab; er muss keine Gegenleistung erbringen; er erhebt Forderungen; es fehlt damit die erforderliche Äquivalenz. Im zweiten Fall bietet er als Nachfrager; nach dem Äquivalenzprinzip erfolgt eine wertgleiche Vergeltung in Tauschprozessen. Der Bürger als Nachfrager bzw. Anbieter hat also die Konsequenzen seiner wirtschaftlichen Entscheidungen zu tragen und wird daher verantwortlicher handeln als als Wähler. Als politischer Souverän behindert er sich selbst als den ökonomischen Souverän. Was bedeutet in dem Zusammenhang eine „demokratisch verfasste Marktwirtschaft“?4 Auf dem Markt zählt Angebot und Nachfrage – in der Demokratie wird gewählt. Der Bürger ist die entscheidende Instanz in einer freien Gesellschaft. – Jedoch, kann seine Entscheidung auch bei fehlender Transparenz, asymmetrischer Information und fehlender ökonomischer Bildung als gesellschaftlich optimal gelten? Wie kann Politik Verantwortung für den Markt übernehmen? – Der gleiche Bürger entscheidet als politischer Souverän anders als der wirtschaftliche Souverän! Ein unterschiedlicher Kenntnisstand und unterschiedliche Informationen der einzelnen Bürger über Sachfragen sind im marktwirtschaftlichen Wettbewerb kein Hindernis für den Marktprozess – aber im politischen Prozess kann dieser Unterschied gravierende Folgen haben. Denn im politischen Prozess gilt die Mehrheitsentscheidung – im marktwirtschaftlichen Prozess ist die Freiheit der Minderheit durch ihre Kaufkraft (zum Erwerb ihrer erwünschten Güter) gesichert. Welche Probleme ergeben sich für die optimale Allokation durch endogene Präferenzen? Durch intensive Werbung wird der Bürger beeinflusst. Welche Rolle spielen in diesem Marktprozess die Medien? Wie souverän ist der Bürger dann noch? Gibt es eine optimale Allokation bei Manipulation und hat der Staat hier nicht hat auch eine Korrekturaufgabe?

___________ 3

Natürlich sind nicht alle Einwohner eines Landes auch wahlberechtigte Bürger; aber die wahlberechtigten Bürger sind eine große Teilmenge aller Einwohner eines Staates. 4 Sauerland (2014), S. 13.

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Werner Lachmann

II. Wettbewerbsleitbild in einer Sozialen Marktwirtschaft Der Markt ist der „systematische Ort der Begegnung von Angebot und Nachfrage“ – aber in einer marktwirtschaftlichen Ordnung wird zusätzlich Wettbewerb unterstellt. Welches wettbewerbliche Leitbild wird vorausgesetzt – bei der Übernahme der Verantwortung? Eucken unterstellte noch die vollständige Konkurrenz der Mikroökonomik, also die Machtlosigkeit der Marktteilnehmer. Früh wurde dieser Wettbewerb der Machtlosen als „Schlafmützenkonkurrenz“ kritisiert.5 Ein Arsenal von am weiten Oligopol orientierten Wettbewerbsvorstellungen wurde als Alternative für die wettbewerbspolitische Praxis entwickelt. Eucken strebte offene Märkte nebst Vertragsfreiheit an. Gelegentlich wird von Liberalen sogar ein freier Wettbewerb gefordert. Vollständige Wettbewerbsfreiheit – so die Chicago School – würde auch Gerechtigkeit implizieren.6 Dagegen spricht das dictum von J. St. Mill: „Competition kills competition“. Deshalb ist für Ordoliberale der Markt eine staatliche Veranstaltung. Der Wettbewerb ist eine Kulturpflanze, die gepflegt werden muss – kein Spontangewächs! Schon die katholische Soziallehre betont, dass der Wettbewerb einer bewussten Ausgestaltung durch ordnungspolitische Maßnahmen bedarf, um seine Sozialfunktion erfüllen zu können. Der Staat legt die Spielregeln fest bei freier Spielzügewahl der Teilnehmer. Wir beobachten in den Industrieländern einen steigenden Anteil des Staates an der Wertschöpfung. Welche Konsequenzen hat dies für die Marktverantwortung des Staates und der Politik, wenn sie als Schiedsrichter mitspielen? Wenn ein Spieler sowohl die Regeln als auch die Spielzüge festlegen kann, ist er damit nicht überfordert?

III. Probleme meritorischer Güter Überrascht hat die Behandlung der öffentlichen Güter. Sie werden bei Sauerland nur als reine öffentliche Güter definiert – jedoch gibt es diese reinen öffentlichen Güter kaum und sie sind daher wirtschaftspolitisch eigentlich uninteressant. Der Begriff „öffentliche Güter“ wird nicht sorgfältig untersucht.7 So hätte auf jeden Fall zwischen Allmendegütern (sie stellen wirtschaftspolitisch die größten Probleme dar) und Klubgütern, deren wirtschaftspolitische Handhabung nicht ganz so schwierig zu sein scheint, unterschieden werden müssen. ___________ 5

Siehe Neumann (2000) oder Lachmann (2004) Kap. 5. Vgl. Lachmann (2010). 7 Eine ausführliche Erläuterung der öffentlichen Güter findet sich in Lachmann (2004), Kap. 8. 6

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Der Markt kann auch korrekturbedürftig sein, sofern die Präferenzen der Nachfrager von einem gesamtgesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen nicht optimal sind oder weil ein Informationsmangel besteht, so dass die Konsumentenpräferenzen verzerrt sind. Diejenigen Güter, die aus gesamtgesellschaftlicher Sicht vermehrt nachgefragt werden sollten, bezeichnet man als meritorische Güter (lat. „meritorius“ = verdienstvoll). In einem derartigen Fall kann der Staat Konsumgebote oder -verbote erlassen (etwa die Schulpflicht oder das Verbot des Drogenkonsums). Weiterhin ist es möglich – z.B. durch Subventionen oder Steuern – diese Güter zu verbilligen oder zu verteuern. Beispiele wären die verbilligte Schulmilch oder der durch Steuern verteuerte Tabak. Durch veränderte Angebots- und Nachfragekurven ergibt sich dann ein anderes Gleichgewicht mit einer höheren oder niedrigeren Gleichgewichtsmenge. Diese Maßnahmen beinhalten allerdings einen erheblichen Eingriff in die Konsumentensouveränität. Das Konzept der meritorischen Güter ist umstritten. Zum einen wäre natürlich zu fragen, mit welchem Recht der Staat in die Konsumentensouveränität eingreift. Hieran sieht man, wie sich verschiedene Staatsauffassungen in der Praxis auswirken. Wer dem Staat möglichst wenige Funktionen zubilligen will und den Entscheidungsträgern in der Regierung womöglich noch misstraut, wird diesen Eingriff in seine Entscheidungsfreiheit als unerträglich empfinden.8 Mit welchem Recht meinen die politischen Entscheidungsträger, besser informiert zu sein als der Einzelne und sinnvollere Entscheidungen treffen zu können? Es handelt sich um – wie Arthur Woll es einmal formulierte – eine Geschmacksdiktatur. Meritorische Güter lassen sich auch über Marktversagen begründen. So werden Bildungsleistungen unter anderem deswegen nicht in ausreichender Menge privat nachgefragt, weil ihr Nutzen Dritten zugute kommt. Es handelt sich also um externe Effekte, und eine Subventionierung von derartigen Leistungen hat nichts mit einem Eingriff in die Konsumentensouveränität zu tun, sondern kompensiert lediglich den ansonsten entgangenen externen Nutzen. Die Konsumentensouveränität wird nicht eingeschränkt, sondern es wird den wahren Präferenzen zum Durchbruch verholfen. Es besteht also nur eine Korrekturbedürftigkeit des Marktes. Außerdem droht die Gefahr, dass der Begriff der meritorischen Güter von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen missbraucht wird, um elitäre oder gruppenspezifische Interessen durchzusetzen. Das Angebot meritorischer Güter wird in diesem Fall verteilungspolitisch motiviert. Oft sollen Bezieher niedriger Einkommen mit meritorischen Gütern versorgt werden. Die Auswirkungen auf ___________ 8 Die Entscheidung der EU-Kommission zum Verbot der Glühbirnen wäre eine solche kritische Maßnahme.

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Werner Lachmann

die optimale Allokation sind strittig, da sie im Widerspruch zum Leitgedanken einer marktwirtschaftlichen Ordnung mit Konsumentensouveränität stehen. Verteilungsziele sind mit anderen Maßnahmen effizienter erreichbar. In der Praxis helfen diese Kriterien oft nicht weiter. Jede der genannten Kritiken ist berechtigt, aber jede ist für sich genommen zu absolut. Die vollkommenen Marktbedingungen liegen nun mal selten vor, und Meritorisierung und Demeritorisierung haben sich gelegentlich praktisch bewährt. Natürlich muss überprüft werden, ob man beim Einsatz solcher Maßnahmen nicht zu weit geht. Und der Informationsvorsprung der Entscheider muss gesichert sein! Es gibt keine wissenschaftlich zwingenden Gründe für meritorische Güter an sich, sondern lediglich Vorstellungen „wohl informierter Politiker“, die meinen, besser als die Bürger zu wissen, was ihnen gut tut. Die Behauptung, bestimmte Güter hätten meritorischen Charakter, lässt sich daher schwer widerlegen, da es kaum Güter gibt, die keine externen Effekte aufweisen, so dass in vielen Bereichen staatliche Interventionen legitimiert werden können. Diese Entscheidungen sind dann nicht pareto-optimal, können aber aus gesellschaftspolitischen Gründen als „second-best“ verteidigt werden. Dennoch bleibt die Frage, wie diesbezügliche Entscheidungen zur Freiheit der Menschen und zum Demokratieprinzip stehen? Die theoretische Begründung für die Einführung von meritorischen Gütern liegt in der unvollständigen und kurzfristigen Einschätzung der Bürger. Hat er als Wähler hingegen diese fehlende Einsicht? Oder muss eine aristokratische Elite unterstellt werden, die paternalistisch dem Bürger und Wähler den höheren Konsum bestimmter Güter vorschreibt? Bürger haben unterschiedliche Wertvorstellungen. Erinnert sei an die Diskussion zur Herdprämie oder erzwungene KITA-Pflicht? Über die Energiewende gibt es unterschiedliche Meinungen. Sollen Gutmenschen als Kommissare in der EU-Kommission wirklich den Bürgern ihre Konsumgewohnheiten vorschreiben?

IV. Ergänzung von Euckenschen Prinzipien der Wirtschaftspolitik Walter Euckens konstituierende und regulierende Prinzipien der Wirtschaftspolitik werden erwähnt. Es verwundert, dass von den staatspolitischen Grundsätzen der Wirtschaftspolitik9 nur die Subsidiarität genannt wird – obgleich die anderen für die praktische Wirtschaftspolitik wichtig sind! Als erster staatspolitischer Grundsatz gilt das Prinzip der Begrenzung der Macht der Interessengruppen. Lobbyisten haben die Macht, ihre Interessen gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen. Die große Mehrheit lässt sich bekanntlich ___________ 9

Vgl. Lachmann (2004), S. 39 ff. und Eucken (1990), S. 325–338.

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kaum organisieren und wird daher von den kleinen organisierten Gruppen ausgebeutet10. Lobbyisten können über die Politik Marktprozess und -struktur beeinflussen. Als weiteren staatspolitischen Grundsatz nennt Eucken den Primat der Ordnungspolitik. Also: Spielregeln statt Spielzüge! Eucken macht deutlich, dass die konstituierenden, regulierenden und staatspolitischen Prinzipien zusammengehören. Er unterstreicht deren Interdependenz und zeigt in seinen ergänzenden Prinzipien zur Wirtschaftsordnungspolitik, dass in der Wirtschaftspolitik Punktualismus vermieden werden soll.11 So fordert er die Beachtung des Prinzips der Ausrichtung von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung an den Prinzipien der Wettbewerbsordnung. Erwähnen möchte ich noch das Prinzip der Anpassung der Sozialpolitik an die Wirtschaftsordnung. In diesem Zusammenhang ist auf die Forderung der „Marktkonformität“ (A. Müller-Armack) bei wirtschaftspolitischen Eingriffen zu verweisen. Der Ordoliberalismus entstand zu einer Zeit, in der in Europa noch nicht einmal eine Währungskonvertibilität geschweige Zollfreiheit im Binnenhandel herrschte. Wie müssen diese Prinzipien nun für eine globalisierte Weltwirtschaft buchstabiert werden? Sollten die Euckenschen Prinzipien nicht einem Test des Standort- und/oder Staatenwettbewerbs unterworfen werden? Es müsste geprüft werden, ob es eine Rechtfertigung dieser Prinzipien auch für den globalen Markt gibt.

V. Aufgaben des Staates bei zunehmender Globalisierung und Verschuldung Bei der Konzipierung der Wettbewerbspolitik muss auf die Größe des Marktes geachtet werden. Kleine räumliche Märkte benötigen einen anderen Ordnungsrahmen als große nationale oder sogar internationale Märkte. In der Wettbewerbspolitik wird daher zwischen Skalen- und Wettbewerbseffizienz unterschieden. Große Märkte erlauben das Erreichen beider Effizienzen. Dies spricht für einen weltweiten Markt. Welche Aufgaben hat der Staat hier zu übernehmen? Ist er auch den Einwohnern der anderen Staaten gegenüber verpflichtet – wie beispielsweise in der Entwicklungsökonomik unterstellt wird? Inwieweit ist es ökonomisch oder auch ethisch gerechtfertigt, eigene Arbeitsplätze und Unternehmen zu schützen? Hier spielen juristische Prinzipien eine ___________ 10

Siehe Olson (1985). Eucken (1990), S. 305 veranschaulicht dies durch einen Hinweis auf die Truppenführung. Die Aktionen einzelner Truppenteile müssen so ineinander greifen, dass durch einen sinnvollen Aufmarsch Schlagkraft und Erfolgschancen optimiert werden. 11

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Rolle, inwieweit Handlungen von Ausländern generell die Wirtschaft des Inlandes negativ tangieren können.12 Besonders schwierig ist die Regulierung der internationalen Finanzmärkte. Die staatliche Aufgabe der Stabilisierung wird erwähnt – doch: wie lassen sich Finanzmärkte stabilisieren? Trotz der Finanzkrise 2008 sind immer noch viele Fragen offen und ordnungspolitisch bestehen weiterhin große Lücken.13 Der Zusammenhang zwischen der Verschuldung des Staates und den Finanzmärkten muss dabei beachtet werden! Staatsschulden schaffen Geld, das wiederum eine Anlage sucht. Realinvestitionen reichen nicht mehr aus – daher die Suche nach Positionsgütern mit der Gefahr von Blasen und Finanzderivaten. Im Jahre 1960 betrug in der Bundesrepublik Deutschland die Verschuldung aller öffentlichen Hände 56,7 Mrd. DM. Zurzeit beträgt sie über 2.100 Mrd. €. Die Staatsverschuldung stieg um das 74-fache. In den letzten 50 Jahren erhöhte sich das Geldvermögen um das 27-fache und die Wirtschaftsleistung nur um das 8-fache. Die hohe Staatsverschuldung wird monetarisiert und legt damit die Grundlagen für vagabundierende Finanzmittel, die zu Störungen der wirtschaftlichen Entwicklung beitragen! In den 1960er Jahren mussten Kreditnehmer auf die Auszahlung der Kredite (in Raten!) häufig warten. Die Situation hat sich gewandelt: Ständig wachsendes Geldvermögen ist auf den normalen Märkten nicht unterzubringen; so wurden neue, spekulative und riskante Anlagemöglichkeiten geschaffen. Finanzmittel gebären Finanzmittel – ohne reale Gegenwerte: Ein gefährliches Spiel! Hat nicht die Politik für diese Märkte und ihre Fehlentwicklungen die Verantwortung zu übernehmen? Oder – wie schon erwähnt: Wer rettet uns vor falschen wirtschaftspolitischen Entscheidungen bezüglich der Ordnungen von Märkten. M.E. hat Bundeskanzler Schröder damals Deutschland – gegen den Willen der Deutschen Bundesbank – für die internationalen Finanzmärkte mit ihren Derivaten geöffnet. Hätte es ohne diese politische Entscheidung die katastrophalen Folgen der Finanzkrise für Deutschland gegeben? Wie lässt sich die Politik hier zur Verantwortung ziehen, wenn sie Marktverantwortung hat? Zur Marktverantwortung gehört auch finanzielle Stabilität! Inwieweit ist die hohe staatliche Verschuldung noch verantwortbar? Widerspricht sie nicht dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft? Warum erfolgt keine Behandlung der Staatsverschuldung? Durch seine Schulden kann der Staat die Gesellschaft und die Funktion der finanziellen und realen Märkte gefährden. Die Erfahrungen von Griechenland, Irland, Spanien und Portugal geben zur Sorge Anlass. Nicht ___________ 12 13

Auf diese juristischen Überlegungen kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. Lachmann/Haupt/Farmer (2011).

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alle Spielzüge sollten auf den Finanzmärkten erlaubt sein und außerdem fehlen klare Regeln zur Haftung und damit zur Übernahme von Verantwortung.14

VI. Kann die Sozialpolitik in das Marktmodell integriert werden? Die Sozialpolitik ist als eigene gesellschaftswissenschaftliche Disziplin konzipiert. Ökonomische Methoden werden bei der Analyse verwendet. Aber im Grunde genommen fehlt die Einbindung der Sozialpolitik in die Marktanalyse – sie wird einfach angehängt – sie gleicht damit nur einer späteren Korrektur des Marktergebnisses. Sozial Gewünschtes mag aber nicht finanzierbar sein. Was sind die Auswirkungen der Sozialpolitik auf den Marktprozess? Nicht nur die negativen – auch die positiven Folgen müssen in einer Marktwirtschaft beachtet werden. Zu den Zielen der Sozialpolitik gehört die Chancengleichheit aller Bürger. In der mikroökonomischen Totalanalyse sind für das allgemeine Gleichgewicht die Anfangsbedingungen entscheidend. Es hängen – da alle Variablen endogen sind – die primären Verteilungsergebnisse von den Anfangsausstattungen ab – und den exogenen Eingriffen des Staates. Da der Marktprozess den Anfang nicht ändern kann, muss die Politik hier eingreifen, um den Gerechtigkeitsvorstellungen der Bürger entgegen zu kommen. Staatsverschuldung über ausufernde und ineffiziente Sozial- (und andere) Bürokratien muss man als Abkehr vom Leitbild einer Sozialen Marktwirtschaft interpretieren. Gilt die ermittelte empirische Zustimmung zur Sozialen Marktwirtschaft nicht eher dem Zerrbild als dem Leitbild? Gegenüber dem Wert solcher Umfragen bin ich skeptisch. Bürger werden pausenlos manipuliert. Medienwissenschaftler zeigen den Zusammenhang zwischen Medienberichten und anschließender Meinung der Bürger.

VII. Konsensbegründung für die Sozialpolitik Sauerland, zurückgreifend auf Rawls, benötigt für eine gesellschaftlich akzeptierte Umverteilung die Einstimmigkeit der Bürger. Warum diese starke Annahme? Eigentlich ist sie unrealistisch. Schon Arrow hat in seinem „Unmöglichkeitsaxiom“ darauf hingewiesen, dass es nicht möglich ist, individuelle Präferenzen zu einer gesellschaftlichen Präferenzordnung zu aggregieren. Auch Hayek weist darauf hin, dass eine Übereinstimmung bezüglich der gesellschaft___________ 14

Zu den konstituierenden Prinzipien der Wirtschaftspolitik Euckens gehört die Haftung des Eigentümers für seine Entscheidungen (Einheit von Gestaltungsmacht und Haftung).

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lich erwünschten Verteilung nicht zu erreichen ist. Die praktische Sozialpolitik hat es doch stets mit nicht-pareto-vergleichbaren Situationen zu tun! Ist diese unterstellte und theoretisch notwendige Konsensfähigkeit nicht eine Illusion? Dafür spräche das hohe Ausmaß der Steuerhinterziehung.

VIII. Fazit Zu Recht wurde „Marktverantwortung“ nicht nur auf Effizienz beschränkt. Wesentliche Punkte staatlicher Verantwortung werden berücksichtigt. Allerdings scheint mir die Sichtweise auf das Inland beschränkt zu sein. Inwieweit haben Staat und Politik eine weltweite Verantwortung – und das auch vor der Geschichte (also in langfristiger Perspektive). Die Verschuldungsfrage gehört ebenso in den Verantwortungsbereich der Politik. Das Dilemma zwischen Marktprozess und politischem Prozess als Willenskundgebung des gleichen Bürgers müsste angegangen werden. Dies hat auch Auswirkungen auf die Behandlung meritorischer Güter. Uns Ökonomen bleibt hierbei ein wichtiger Bildungsauftrag, um rationalere Entscheidungen über diese genannten Prozesse abzusichern. Literatur Eucken, Walter (1990): Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen, 6. Auflage. Lachmann, Werner (1998): Verantwortung zwischen Eigen-, Gruppen- und Gesamtinteresse, in: Haupt, Reinhard/Lachmann, Werner (Hrsg.): Unternehmensethik – Wahre Lehre oder leere Ware? Neuhausen-Stuttgart, S. 55–70. – (2004): Volkswirtschaftslehre 2 Anwendungen, Berlin et al., 2. Aufl. – (2010): Wirtschaft, Wohlstand, Gerechtigkeit, in: Herrmann, Christian (Hrsg.): Leben zur Ehre Gottes. Themenbuch zur Christlichen Ethik – Band 2: Konkretionen, Witten, S. 286–317. – (2010): Subsidiarität, in: Herrmann, Christian (Hrsg.): Leben zur Ehre Gottes. Themenbuch zur Christlichen Ethik – Band 2: Konkretionen, Witten, S. 318–334. Lachmann, Werner/Haupt, Reinhard/Farmer, Karl (Hrsg.) (2011): Die Krise der Weltwirtschaft – Zurück zur Sozialen Marktwirtschaft und die ethischen Herausforderungen auf dem Weg dahin, Berlin (Marktwirtschaft und Ethik Band 15). Neumann, Manfred (2000): Wettbewerbspolitik – Geschichte, Theorie und Praxis, Wiesbaden. Olson, Mancur (1985): Die Logik des kollektiven Handelns. Tübingen, 2. Aufl. Sauerland, Dirk (2014): Marktverantwortung des Staates und der Politik, in diesem Band.

Marktverantwortung im europäischen Kapitalmarktrecht – Korreferat zu Dirk Sauerland – Von Rüdiger Wilhelmi

I. Einleitung Der vorliegende Beitrag untersucht, wie der europäische Gesetzgeber seine Marktverantwortung im Bereich des Kapitalmarktrechts gesehen und ausgeübt hat.1 Er ergänzt damit das Hauptreferat von Sauerland2 in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird den eher abstrakten Ausführungen des Hauptreferats ein praktisches Beispiel gegenüberstellt. Zum anderen beschränkt sich das Hauptreferat auf die Allokation und Distribution und blendet die Stabilität weitgehend aus,3 während das Kapitalmarktrecht – jedenfalls nach der Finanzkrise von 2007/08 – auch der Stabilisierung dient. Der Beitrag stellt zunächst die Entwicklungslinien des europäischen Kapitalmarktrechts dar (II.). Er konzentriert sich dabei insbesondere auf die mit der Regulierung verfolgten Ziele, während der Inhalt der Regelungen nur skizziert wird. Anschließend versucht er, aus diesen Entwicklungslinien einige Schlussfolgerungen mit Bezug auf das Generalthema Marktverantwortung zu ziehen (III.).

II. Entwicklungslinien der Regulierung des europäischen Kapitalmarktes Die Entwicklung des europäischen Kapitalmarktrechts lässt sich in fünf Phasen unterteilen.

___________ 1 Der Beitrag beruht auf Überlegungen, die ich ausführlicher an anderer Stelle veröffentlich habe: Wilhelmi (2014). 2 Sauerland in diesem Band. 3 Sauerland in diesem Band, Fn. 23.

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Rüdiger Wilhelmi

1. Segré-Bericht (1966) Auf europäischer Ebene beginnt die Entwicklung des Kapitalmarktrechts 1966 mit dem Segré-Bericht zum Aufbau eines europäischen Kapitalmarktes.4 Dieser sprach sich für die Erweiterung des europäischen Kapitalmarktes aus; dabei zielte er vor allem auf das Wirtschaftswachstum, insbesondere durch die Erleichterung der Unternehmensfinanzierung, die Reduzierung von Wettbewerbsverzerrungen und die Verminderung der Gefahr von Marktstörungen (Kap. 1 Rn. 5 ff.). Es ging ihm allerdings offenbar nicht nur um die Verbesserung des Marktes als solchem, sondern auch um dahinter liegende Ziele bzw. Marktergebnisse, insbesondere die Erleichterung der Unternehmensfinanzierung. Der Segré-Bericht führte – mit einiger Verspätung – zu den Richtlinien von 1979, 1980 und 1982,5 die vor allem der Verbesserung der Transparenz bzw. Publizität dienten. 2. Weißbuch „Vollendung des Binnenmarktes“ (1985) Die nächste Phase wurde mit dem Weißbuch „Vollendung des Binnenmarktes“ von 1985 eingeläutet.6 Dieses zielte vor allem auf die Schaffung eines einheitlichen integrierten Binnenmarktes und die Beseitigung der Hindernisse für einen freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr (Tz. 4.), also auf die Verbesserung der Marktstruktur. Im Bereich des Kapitalmarktrechts stellte es vor allem auf den Schutz der Investoren bzw. Anleger und die Sicherstellung des Funktionierens der Wertpapiermärkte ab (Tz. 106 f.). Erstmals wird die finanzielle Stabilität erwähnt, aber vor allem auf Kreditinstitute bezogen (Tz. 104). In der Folgezeit wurden fünf Richtlinien erlassen. Diese hatten neben der Verbesserung der Transparenz bzw. Publizität7 auch die Regulierung von Investmentfonds8 und Wertpapierdienstleistungsunternehmen9 sowie der Verwendung und Weitergabe von Insiderinformationen10 zum Gegenstand, also bestimmte Marktteilnehmer und das Marktverhalten.

___________ 4

Kommission (1966). Börsenzulassungs-RL (79/279/EWG); Börsenzulassungsprospekt-RL (80/390/EWG); Zwischenberichts-RL (82/121/EWG). 6 Kommission (1985). 7 Beteiligungstransparenz-RL (88/627/EWG); Emissionsprospekt-RL (89/298/EWG). 8 OGAW-RL (85/661/EWG). 9 Wertpapierdienstleistungs-RL (93/22/EWG); vgl. dazu Lutter/Bayer/J. Schmidt (2012), § 17 Rn. 153 f. 10 Insider-RL (89/592/EG). 5

Marktverantwortung im europäischen Kapitalmarktrecht

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3. Aktionsplan für Finanzdienstleistungen/Lamfalussy-Bericht (1999–2005) Eine deutliche Beschleunigung erfuhr das europäische Kapitalmarktrecht sodann in der nächsten Phase. Diese wurde 1999 durch den Aktionsplan für Finanzdienstleistungen11 eingeläutet, der 2001 durch den Lamfalussy-Bericht12 ergänzt wurde. Der Aktionsplan zielte auf die Sicherstellung eines optimal funktionierenden europäischen Finanzmarkts. Insbesondere wollte er noch bestehende Kapitalmarktfragmentierungen beseitigen um die Kapitalaufnahme billiger zu machen, den Konsumentenschutz verbessern und eine enge Koordinierung der Aufsichtsbehörden fördern (S. 3). Zudem konstatierte er Verbesserungsbedarf bei der Erfassung institutioneller und systemischer Risiken, sieht diese aber weiterhin vor allem institutsbezogen (S. 12). Der Lamfalussy-Bericht von 2001 konzentrierte sich insbesondere auf das Zurückbleiben der Kapitalisierung der europäischen Börsen hinter den amerikanischen Börsen (S. 15). Während der Aktionsplan noch vor allem auf die Struktur des Marktes zielte, ging der Lamfalussy-Bericht damit von als wünschenswert erachteten Marktergebnissen aus. Aktionsplan und Lamfalussy-Report führten zu nicht weniger als 26 – in Worten: sechsundzwanzig – Richtlinien innerhalb von fünf Jahren. Dabei wurde nicht nur die Transparenz bzw. Publizität verbessert.13 Überarbeitet und ergänzt wurden vielmehr auch die Regulierung der Finanzintermediäre14 und des Marktverhaltens.15 Eine neue Qualität hatte schließlich die Einführung eines neuen Rechtsetzungsverfahrens, das sogenannte Lamfalussy-Verfahren, das zu einer Verlagerung der Regelbildung in die Verwaltung und Expertengremien geführt hat.16 4. Weißbuch zur Finanzdienstleistungspolitik für die Jahre 2005–2010 (2005–2007) Nach diesem Parforce-Ritt sah das Weißbuch zur Finanzdienstleistungspolitik für die Jahre 2005–2010 eine Phase der Konsolidierung vor.17 Es zielte auf eine „dynamische Konsolidierung“ der Fortschritte auf dem Weg zu einem in___________ 11

Kommission (1999). Ausschuss der Weisen (2001). 13 Prospekt-RL (2003/71/EG); Transparenz-RL (2004/109/EG). 14 MiFID-RL (2004/39/EG). 15 Marktmissbrauchs-RL (2003/6/EG). 16 Dazu näher etwa Lutter/Bayer/J. Schmidt (2012), § 17 Rn. 44 ff. 17 Kommission (2005); dazu Lutter/Bayer/J. Schmidt (2012), § 17 Rn. 24. 12

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tegrierten, offenen, inklusiven, wettbewerbsfähigen und wirtschaftlich effizienten europäischen Finanzmarkt (Rn. 4). Insgesamt also wenig ambitionierte Ziele. Das Weißbuch ist vor allem interessant, weil es deutlich macht, dass und wie sich die EU-Kommission irren kann. Denn der Finanzmarkt hielt sich nicht an diese Vorgaben und mit der 2007/2008 einsetzenden Finanzmarktkrise war das Weißbuch weitgehend Makulatur. 5. Reaktionen auf die Finanzmarktkrise/de Larosière-Bericht (2007 bis heute) Die bisher letzte Phase ist demgemäß durch die Reaktionen auf diese Krise gekennzeichnet und hält bis heute an. Ob sich die Finanzmärkte diesmal an die Vorgaben der EU-Kommission halten, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis. Statt der geplanten Konsolidierung hat die EU nicht nur mit ersten Not- und Sofortmaßnahmen auf die Finanzmarktkrise reagiert, sondern seit 2008 eine umfassende Reform der gesamten europäischen Kapitalmarktregulierung ins Werk gesetzt,18 die zum Teil bereits bestehende Rechtsakte novelliert, zum Teil aber auch ganz neue Regelungsgegenstände in den Blick nimmt. Dabei ging die EU-Kommission Anfang 2008 zunächst noch davon aus, dass die Finanzmärkte in der EU gut reguliert seien.19 Der de Larosière-Report von 200920 stellte demgegenüber fest, dass die globale Finanzdienstleistungsregulierung die Krise und die anormalen Marktentwicklungen nicht verhindert, ja nicht einmal eingedämmt habe; deshalb sei eine tiefgreifende Überprüfung der Regulierungspolitik notwendig, insbesondere welche Maßnahmen der Finanzmarktregulierung notwendig seien, um den Schutz der Kunden, eine dauerhafte Finanzstabilität und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum sicherzustellen (Tz. 51). Auf der Grundlage dieses Berichts befasste sich die Kommissionsmitteilung „Regulierung der Finanzdienstleistungen für nachhaltiges Wachstum“ von 201021 mit der Fortsetzung der umfassenden Finanzreform, die kurzfristiges Denken, schlechtes Risikomanagement und mangelndes Verantwortungsbewusstsein bestimmter Akteure im Finanzsektor bekämpfen solle und der Korrektur der zugrundeliegenden Schwächen des Aufsichts- und Regulierungsrahmens diene (S. 2). Hauptgrundsätze dieser Reform seien größere Transparenz; effektive ___________ 18

Vgl. Lutter/Bayer/J. Schmidt (2012), § 17 Rn. 25. Kommission (2008), S. 3. 20 The High-Level Group (2009). 21 Kommission (2010). 19

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Aufsicht und Durchsetzung; größere Krisenfestigkeit und Finanzmarktstabilität; sowie mehr Verantwortungsbewusstsein und Verbraucherschutz (S. 4 ff.). Die als Reaktion auf die Finanzkrise ergriffenen Maßnahmen im Bereich des Kapitalmarktrechts betreffen wieder vor allem die Publizität, die Finanzintermediäre und das Marktverhalten. Im Rahmen der Publizität wurde einerseits das Prospektrecht vereinfacht,22 andererseits neue Informationspflichten eingeführt, etwa Kurzinformationen für Anleger.23 Im Bereich der Finanzintermediäre plant die Kommission eine Überarbeitung der OGAW-RL, die den Anlegerschutz verbessern und den Binnenmarkt stärken soll. Vor allem aber wurden auch Alternative Investmentfonds und damit auch Hedge-Fonds reguliert, um Systemrisiken zu erfassen und zu vermeiden.24 Dies bedeutet eine erhebliche Erweiterung des Anwendungsbereichs der Finanzmarktregulierung. Um Aufsichtsarbitrage durch Verlagerung finanzieller Risiken in weniger regulierte Sektoren zu vermeiden, plant die Kommission zudem auch das Schattenbankwesen zu regulieren. In eine ähnliche Richtung zielt die Regulierung der außerbörslichen Handels mit sogenannten OTC-Derivaten, die neben Informationspflichten vor allem Vorschriften zur Risikominimierung enthält, insbesondere zur Abwicklung standardisierter OTC-Derivat-Geschäfte über eine zentrale Gegenpartei.25 Im Bereich des Marktverhaltens ist das Verbot des Marktmissbrauchs verschärft worden,26 verbunden mit der Einführung strafrechtlicher Sanktionen für Insiderhandel und Marktmanipulationen.27 Zudem ist die Regulierung von Leerverkäufen und Credit Default Swaps zu nennen.28 Hier wurden nicht nur Transparenzpflichten eingeführt. Besondere Qualität hat vielmehr, dass erstmals die Möglichkeit geschaffen wurde, bestimmtes Marktverhalten unabhängig von etwaigen Missbrauchstatbeständen zu verbieten.

III. Schlussfolgerungen Aus der Entwicklung des europäischen Kapitalmarktrechts lassen sich für unseren Gegenstand einige vorsichtige Schlussfolgerungen ziehen: Zunächst fällt auf, dass die Marktverantwortung des europäischen Gesetzgebers, so wie er sie wahrgenommen hat, dazu geführt hat, dass das Kapital___________ 22

Änderungs-RL 2010/73/EU. Vgl. etwa Art. 78 ff. OGAW-IV-RL 2009/65/EG. 24 AIFM-Richtlinie 2011/61/EU. 25 EMIR-VO (EU) Nr. 648/2012. 26 Marktmissbrauchs-VO (EU) Nr. 596/2014. 27 Marktmissbrauchs-RL 2014/57/EU. 28 Leerverkaufs-VO (EU) Nr. 236/2012. 23

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marktrecht eines der am stärksten wachsenden Gebiete des EU-Rechts ist.29 Sie hat nicht nur nicht nur zu einer immer höheren Regelungsintensität, sondern auch einer stetigen Ausweitung der Regelungsgegenstände und des Anwendungsbereichs des europäischen Kapitalmarktrechts geführt. Diese Entwicklungen wurden zwar durch die Reaktionen auf die Finanzmarktkrise verstärkt, waren aber auch bereits davor zu beobachten.30 Ob sich dies nur durch die Korrektur von Marktversagen erklären lässt, erscheint zweifelhaft. Im Zusammenhang mit der Schnelligkeit und der mangelnden Systematik und Übersichtlichkeit des europäischen Kapitalmarktrechts ist zudem auf die Gefahr hingewiesen worden, durch ständige neue Rechtsakte auf allen Ebenen eher neue Systemlücken aufzureißen als alte zu schließen.31 Dies führt zu einer verstärkten Gefahr von Regulierungs-Arbitrage, also der Umgehung der Regulierung durch financial engineering. Hinsichtlich der hohen Regelungsgeschwindigkeit und Regelungsdichte sowie der mangelnden Systematik ruft das Kapitalmarktrecht inzwischen doch gewisse Assoziationen zum Steuerrecht hervor. Und ob das ein gutes Vorbild ist, wird man wohl zumindest mit einem Fragezeichen versehen können. Zudem stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob das europäische Kaitalmarktrecht noch den Anforderungen genügt, die an ein einen Markt konstituierendes Recht hinsichtlich Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit sowie des mit seiner Einhaltung verbundenen Aufwands verbunden sind. Weiter fällt eine Änderung bei den mit dem Kapitalmarktrecht verfolgten Zielen auf.32 Denn dem Kapitalmarktrecht wurden traditionell zwei Ziele zugeschrieben: die Funktionsfähigkeit des Marktes und der Anlegerschutz. Dahinter stand der Zweck, einen modernen – besseren – Kapitalmarkt zu schaffen. Dabei ging es letztendlich vor allem darum, die Effizienz des Kapitalmarktes zu erhöhen und den Marktmechanismen mit ihren Eigengesetzlichkeiten Geltung zu verschaffen. Mit den Reaktionen auf die Finanzmarktkrise ist nun ein neues Ziel hinzugetreten, das oft mit Finanzmarktstabilität umschrieben wird.33 Es enthält insofern eine neue Qualität, als es hier nicht darum geht, im Sinne des Hauptreferates, einen möglichst effizienten und gut funktionierenden Markt zu schaffen, sondern den Markt gewissermaßen vor sich selbst zu schützen, ihm Grenzen zu setzen, auch wenn er seiner Funktionslogik folgt – bzw. den Annahmen der überkommenen Wirtschaftswissenschaften darüber. ___________ 29

Vgl. Tridimas (2013), Rn. 783. Vgl. Tridimas (2013), Rn. 24. 31 Oechsler (2007), Rn. 82. 32 Zum folgenden näher Wilhelmi (2014), S. 702 f. m.w.N. 33 Vgl. Veil (2014), § 2 Rn. 9. 30

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Die Regelungsdichte und der stete Zwang zur Nachbesserung wirft auch die Frage auf, ob die dem Gesetzgeber zugeschriebene Marktverantwortung nicht gelegentlich an Hybris grenzt. Denn wenn die Marktverantwortung nicht auf Abhilfe offenbarer Fehlfunktionen, sei es auf wirtschaftlicher, sei es auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, begrenzt ist, sondern als stete Optimierungsaufgabe begriffen wird, setzt sie ein umfassendes Wissen des Gesetzgebers und seiner Experten über das Funktionieren der jeweiligen Märkte voraus. Dieses Wissen dürfte nach den Erfahrungen der Finanzmarktkrise nicht im notwendigen Maße vorhanden sein.34 Der überzogenen Optimierung begegnen aber auch prinzipielle Bedenken, weil sie auf die Abschaffung des Marktes hinauslaufen. Die Entwicklung des Kapitalmarktrechts wirft schließlich schwierige Fragen in Bezug auf das Verhältnis von Markt und Staat auf. Dies betrifft zunächst die Einführung des Lamfalussy-Verfahrens, das die Regelsetzung in erheblichem Umfang auf die Verwaltung und Experten verlagert hat. Es hat zur Verabschiedung von Rechtsakten geführt, die sich zum Teil mehr als 30 Jahre im Gesetzgebungsverfahren befunden hatten.35 Dies sieht auf den ersten Blick positiv aus, erscheint auf den zweiten Blick jedoch nicht ganz unproblematisch. Zunächst stellt sich die Frage nach der demokratischen Legitimation.36 Zwar ist es auf den ersten Blick ein Erfolg, wenn die Einführung des Lamfalussy-Verfahrens die Beendigung seit 30 Jahren laufender Gesetzgebungsverfahren führt. Aber es spricht einiges dafür, dass das bisherige Unvermögen des europäischen Primärgesetzgebers auch auf einem inhaltlichen Dissens beruht. Wenn sich der Primärgesetzgeber nun auf einer sehr abstrakten Rahmenebene einigt und der Sekundärgesetzgeber dann die eigentliche Streitfrage regelt, ist die Streitfrage delegiert worden und zwar nach der Struktur des Lamfalussy-Verfahrens an entsprechende Experten. Ob eine Expertenherrschaft jedoch wünschenswert ist, erscheint gerade bei Streitfragen zweifelhaft, über die sich der Primärgesetzgeber nicht einigen konnte; dies gilt umso mehr als Experten häufig über einen Tunnelblick verfügen, was dazu führt, dass andere als ökonomische Anliegen aus dem Gesichtsfeld geraten.37 Die Frage nach dem Verhältnis von Markt und Staat stellt sich jedoch noch grundsätzlicher. Denn es geht auch um die Frage, ob der Markt (auch) Mittel zu einem außerhalb seiner selbst liegenden Zweck ist oder ob er (oder ein Idealbild) selbst Zweck ist! Das Hauptreferat bleibt hier unklar. Sein Ausgangspunkt ist wohl, dass der Markt nur Mittel ist. Es misst die Märkte an den beiden Kriterien der Men___________ 34

Vgl. Lux (2013). Tridimas (2011), Rn. 791. 36 Vgl. Armour/Ringe (2011), S. 156. 37 Wilhelmi (2014), S. 701. 35

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schenwürdigkeit und der Funktionsfähigkeit. Das Verhältnis dieser Kriterien, insbesondere die Frage, wem Vorrang zukommt, bleibt jedoch ungeklärt. Sozialpolitik wird als bloßes Mittel für besseres Funktionieren der Marktwirtschaft („Stillhalteprämie“) gesehen; die Ausführungen zum Thema „Sozialpolitik für den Markt“ scheinen davon auszugehen, dass es allein darum geht, die Marktwirtschaft besser funktionieren zu lassen.38 Der Staat wird also in den Dienst des Marktes gestellt. Der damit implizit vorausgesetzte Vorrang des Marktes wird jedoch nicht begründet. Auch in der Finanzkrise ist beobachtet worden, dass der demokratische Staat nur noch eine Funktion des Marktes sei, nur noch die Marktwirtschaft vor Kritik und Delegitimation zu schützen hat.39 Demgegenüber wird in der Rechtswissenschaft davon ausgegangen, dass das Regulierungsrecht sowohl Wettbewerbsstrukturen als auch Gemeinwohlbelange zu fördern hat; ein prinzipieller Vorrang des Marktes besteht nicht.40 Es dient insbesondere der Gewährleistung von Gütern und Leistungen, die für das Funktionieren der Gesellschaft und das Wohl und Wehe der Bürger essentiell sind und räumt ihrer objektiven Gewährleistung den Vorrang gegenüber den subjektiven Interessen der Marktteilnehmer ein, etwa im Bereich der Infrastruktur oder des Gesundheitswesens.41 Dies umfasst auch die Gewährleistung von Märkten, deren Funktionieren von besonderer gesamtgesellschaftlicher Bedeutung ist; dabei geht es auch darum, gesamtgesellschaftlichen Fehlfunktionen der Märkte entgegenzuwirken, obwohl oder gerade weil sie nach den Gesetzen der ökonomischen Rationalität funktionieren, etwa beim systemrelevanten Finanzmarkt.

Literatur Armour, John/Ringe, Wolf-Georg (2011): European Company Law 1999–2010, Common Market Law Report (CMLR), S. 125–174. Ausschuss der Weisen (2001): Schlussbericht über die Regulierung der Europäischen Wertpapiermärkte (Lamfalussy-Bericht). Kommission (Hrsg.) (1966): Der Aufbau eines Europäischen Kapitalmarkts (SegréBericht). – (1985): Vollendung des Binnenmarktes. Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat. – (1999): Finanzdienstleistungen: Umsetzung des Finanzmarktrahmens. Aktionsplan. Mitteilung der Kommission (KOM(1999) 232).

___________ 38

Sauerland in diesem Band unter II.4. So Nullmeier (2013), S. 40. 40 Lepsius (2010b), Rn. 1. 41 Lepsius (2010b), Rn. 3. 39

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– (2005): Weißbuch zur Finanzdienstleistungspolitik für die Jahre 2005–2010. – (2008): Europe's financial system: adapting to change (COM(2008) 122). – (2010): Regulierung der Finanzdienstleistungen für nachhaltiges Wachstum (KOM (2010) 301). Lepsius, Oliver (2010a): Verfassungsrechtlicher Rahmen der Regulierung, in: Fehling, Michael/Ruffert, Matthias (Hrsg.), Regulierungsrecht, S. 143–211. – (2010b): Ziele der Regulierung, in: Fehling, Michael/Ruffert, Matthias (Hrsg.), Regulierungsrecht, S. 1055–1086. Lutter, Marcus/Bayer, Walter/Schmidt, Jessica (2012): Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. Lux, Thomas (2013): Effizienz und Stabilität von Finanzmärkten: Stehen wir vor einem Paradigmenwechsel?, in: Wirtschaftsdienst, S. 16–22. Nullmeier, Frank (2013): Die Legitimation der Marktwirtschaft, in: Wirtschaftsdienst, Sonderheft, S. 34–40. Oechsler, Jürgen (2007): Der kapitalmarkt- und börsenrechtliche Regelungsrahmen, in: Bayer, Walter/Habersack, Mathias (Hrsg.): Aktienrecht im Wandel, Band II, S. 150– 216. The High-Level Group on Financial Supervision in the EU (2009): Report (de Larosière-Report). Tridimas, Takis (2011): Evolution of EU Law, in: Craig, Paul/de Burca, Grainne (Hrsg.): The Evolution of EU Law, S. 783–804. Veil, Rüdiger (2014): Europäisches Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. Wilhelmi, Rüdiger (2014): Entwicklungslinien des europäischen Kapitalmarktrechts, in: Juristenzeitung (JZ), S. 693–703.

Zur Debatte um die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen: Ist die CSR-Bewegung Teil der Lösung oder Teil des Problems? Von Detlef Aufderheide1

I. Die Ausgangslage: Kapitalismus unter Belagerung und Beschuss Keine Frage: Profitorientierte Unternehmen – und damit auch profitorientiertes Unternehmertum – stehen unter Belagerung und Beschuss.2 Nicht erst seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 und der sich anschließenden (nahezu) weltweiten Wirtschaftskrise mehren sich die Zweifel an der ethischen Begründung gewinnorientierten Handelns. Die Kritik hat sich nicht zuletzt dadurch erheblich verschärft, dass eine Reihe von schier unglaublichen Verfehlungen von führenden Managern der Finanzwirtschaft und anderer Branchen zutage getreten sind. Beispielhaft seien hier nur genannt: die im Zuge staatsanwaltlicher Ermittlungen bei Goldman Sachs öffentlich gewordenen internen Mails, in denen sich führende Manager des Hauses über die Dummheit der von Goldman Sachs gezielt übervorteilten Kunden lustig machten; das Libor-Kartell, das den scheinbar objektiven Referenzzins des Londoner Bankplatzes zum eigenen Vorteil manipulierte; oder die zahlreichen aufgedeckten Industriekartelle, in denen sich führende Unternehmen auf Kosten großer wie kleiner Kunden bereicherten und – nach allem, was wir wissen – immer wieder bereichern. Außer Frage steht auch, dass es Kapitalismuskritik sozusagen ‚immer schon‘ gegeben hat. In der Vergangenheit wurde eine entsprechende Kritik allerdings typischerweise von den ‚üblichen Verdächtigen‘ vorgetragen, also von ‚immer schon‘ marktkritischen Gruppen und Parteien, in den 1960er Jahren beispiels___________ 1 Für zahlreiche wertvolle Hinweise, die in diesen Beitrag eingeflossen sind, und intensive Diskussionen dankt der Verfasser ganz besonders Damian Bäumlisberger; den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Münster-Tagung zu Wirtschaftsethik und Moralökonomik für eine Reihe von Anregungen. Alle verbleibenden Fehler gehen zu Lasten des Autors. 2 Zum Sprachbild vgl. bspw. Porter/Kramer (2011), S. 62.

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weise (auch) von zahlreichen Studierenden und ihren häufig äußerst staats- und wirtschaftskritischen Vereinigungen. Eine Besonderheit der aktuellen Situation dürfte darin liegen, dass die Kritik inzwischen gewissermaßen in der Mitte der Bevölkerung angekommen ist. Insbesondere werden kritische Positionen bis weit in konservative Kreise hinein vertreten.3 Die Tragweite und fundamentale Bedeutung dieses Umstandes ist, wie es scheint, zumindest in der wirtschaftswissenschaftlichen Rezeption noch nicht annähernd in vollem Umfang angekommen. Im Folgenden seien daher mehrere aktuelle Beispiele genannt. Im Jahre 2011 schrieb der konservative Publizist Charles Moore im nicht weniger konservativen britischen Telegraph: „I’m starting to think that the Left might actually be right“.4 Später griff der für das Feuilleton zuständige MitHerausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der viel zu früh verstorbene Frank Schirrmacher, diese These auf und spitzte sie zu: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“ (und nicht etwa: recht haben könnte, wie noch bei Moore). Bei Schirrmacher heißt es trocken: „Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik.“5

Unmittelbar anschließend folgt dieser Satz: „So abgewirtschaftet sie [die linke Gesellschaftskritik, D.A.] schien, sie ist nicht nur wieder da, sie wird auch gebraucht. Die Krise der sogenannten bürgerlichen Politik, einer Politik, die das Wort Bürgertum so gekidnappt hat wie einst der Kommunismus den Proletarier, entwickelt sich zur Selbstbewusstseinskrise des politischen Konservatismus.“6 Bemerkenswert erscheint auch ein in dieser Zeitung vor einigen Jahren wohl (ebenfalls) kaum zu erwartender Text einer Bildunterschrift: „Globalisierung bedeutet nur, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler jeder Nation verteilen.“7

Schirrmacher, offenbar konsterniert: „Es gibt Sätze, die sind falsch. Und es gibt Sätze, die sind richtig. Schlimm ist, wenn Sätze, die falsch waren, plötzlich richtig werden.“8

___________ 3

Auf diesen Umstand weist beispielsweise Homann (2011) hin. Moore (2011). 5 Schirrmacher (2011). 6 Ebenda. 7 Ebenda. 8 Ebenda. 4

Zur Debatte um die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen

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Nun mag man festhalten, dass Schirrmacher ja „nur“ für das Feuilleton der Zeitung stehe, die sich ‚immer schon‘ eigene Positionen gegenüber den Kolleginnen und Kollegen von der Wirtschaftsredaktion erlaubt habe. Eine solche Interpretation würde jedoch das in jüngerer Zeit sich entwickelnde Stimmungsbild im ‚bürgerlichen Medienlager‘ nur höchst unvollständig abbilden: An dieser Stelle bleibe daher auch „die“ international renommierte Finanzzeitung schlechthin nicht unerwähnt, nämlich die inzwischen über einhundert Jahre alte Financial Times, die vermutlich ebenfalls nicht zur typischen Morgenlektüre linker Gesellschaftskritiker gehört. Sie verlegt sich nicht ohne britische (Selbst-)Ironie beachtlicherweise auf religiöse Konnationen; so überschreibt beispielsweise die dort zu Wort kommende Schriftstellerin Margaret Atwood im Jahre 2012 eine Kolumne mit den Worten: „Our faith is fraying in the god of money“9, sie sinniert also über einen schwindenden quasireligiösen Glauben an den Gott des Geldes. Sie schreibt u.a. weiter: „Capitalism, like any other religion [sic], relies on faith and trust“ (ebenda) und erörtert das von ihr konstatierte Schwinden eben dieses Vertrauens. Nur am Rande sei daran erinnert, dass Begriffe wie der der „Ideologie“ in der Vergangenheit zur typischen Bewertung linken Denkens durch seine marktorientierten Kritiker gehörten, nicht aber in den Bereich der Selbsteinschätzung. Bereits 2009 formulierten die Herausgeber der Financial Times unter dem Eindruck der Krise: „The credit crunch has destroyed faith [sic] in the free market ideology [sic!] that has dominated Western thinking for a generation. But what can – or should replace [sic] it?“10 Es sei allerdings nicht verschwiegen, dass auch in den Wirtschaftswissenschaften in den letzten Jahren gelegentlich erhebliche (Selbst-)Kritik geäußert wird. Stellvertretend sei kein Geringerer als Professor Michael Porter genannt, der sich an der Harvard Business School im Bereich Strategisches Management weltweit einen Namen gemacht hat. Zusammen mit seinem Koautor schreibt er – insofern: siehe die Eingangsbemerkung zu diesem Beitrag –: „Capitalism is under siege“11, Kapitalismus steht unter Belagerung durch seine Feinde. Weiter heißt es dort: „In recent years business increasingly has been viewed as a major cause of social, environmental, and economic problems. Companies are widely perceived to be prospering at the expense of the broader community.“12 Die Schlussfolgerungen der Autoren für die „richtigen“ Konsequenzen aus Sicht des strategischen Managements bleiben dann ihrerseits zwar ein gutes Stück hinter den Ergebnissen reflektierter wirtschafts- und unternehmensethischer ___________ 9

Atwood (2012). Financial Times (2009). 11 Porter/Kramer (2011), S. 64. 12 Ebenda. 10

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Analyse zurück (worauf an dieser Stelle noch nicht einzugehen ist)13. Beleg für zunehmenden Handlungsdruck sind sie allerdings allemal.14 Eine nicht zuletzt von Josef Wieland zu Recht immer wieder vorgetragene Formel gewinnt also offenbar an Bedeutung: Demnach steht für profitorientierte Unternehmen nicht weniger auf dem Spiel als die „Licence to operate“15, also gewissermaßen die Lizenz zum Geldverdienen oder schlicht die gesellschaftliche Akzeptanz.16 Wohlgemerkt: Damit ist selbst angesichts scharfer Worte wie der von F. Schirrmacher vorgetragenen nicht die Prognose verbunden, dass ggf. in absehbarer Zeit eine Revolution bevorstehe. Vielmehr werden als Folge schwindender gesellschaftlicher Akzeptanz beispielsweise bereits jene weitreichenden Neu-Regulierungen angesehen, die über einschlägige Verschärfungen der gesetzlichen Vorschriften jeweils deutlich tiefer als bisher in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit eingreifen. Wie reagieren wichtige Akteure aus dem Kreis der Angegriffenen auf diese weitreichende Kritik? Holzschnittartig – und zugegebenermaßen, den Umständen geschuldet, in stark verkürzender Form – seien zwei Positionen skizziert: (i) die marktradikale (marktnaive?) Verteidigung bisheriger Doktrinen in den Wirtschaftswissenschaften, (ii) die lange vor der Krise einsetzende, inzwischen aber immer stärker werdende Tendenz bzw. Bewegung, die darauf setzt, die Wahrnehmung weitergehender gesellschaftlicher Verantwortung im ___________ 13

Dazu später mehr. Vgl. jedoch bspw. zu einer wohlbegründeten, nicht ohne Ironie vorgetragenen Kritik an Porter/Kramer: Beschorner (2013b), der sich in der Überschrift auf ein im Text erwähntes Lied von wiederum keinem Geringeren als Paul Simon bezieht, oder soeben Crane/Palazzo/Spence/Matten (2014). 14 Porters Kollege N. Gregory Mankiw dagegen, ein überaus renommierter Volkswirt, sah sich vorübergehend schärfster Kritik studentischer Aktivitäten unter dem sinnreichen Titel „Occupy Harvard“ gegenüber, die sich im Zuge der „Occupy Wall Street“-Aktionen entwickelt hatten. Der Aufruf per E-Mail zum kollektiven walkout aus der Vorlesung, in Solidarität zur Occupy-Bewegung, ist z.B. hier zu finden: http://www. businessinsider.com/harvard-students-plan-walk-out-of-greg-mankiws-class-to-show-sol idarity-with-occupy-movement-2011-11 (abgerufen am 3. Januar 2014). Vgl. auch Delreal (2011), The Harvard Crimson v. 02.11.2011, ein offener Brief an Mankiw in der Harvard Political Review, sowie die eher einsilbige Reaktion Mankiws – durch Befürwortung der ‚innerstudentischen‘ Replik von Patashnik (2011) – auf seinem Blog http:// gregmankiw.blogspot.de/2011/11/occupy-wall-street-comes-to-ec-10.html (10.01.2014). 15 Wieland (2005), S. 275 u.ö. 16 Vgl. hierzu bspw. auch Palazzo (2007), S. 59–62, Suchanek/Lin-Hi (2006), S. 3–4, sowie Waldkirch/Meyer/Homann (2009), S. 260. Palazzo betrachtet die „licence to operate“ auch als eine geteilte Vorstellung zwischen ansonsten nicht unbedingt übereinstimmenden Positionen in der CSR Debatte – wie z.B. Friedman, Carroll, Homann und Blome-Drees. Waldkirch et al. betrachten die „licence to operate“ auch als wichtige Vorstellung einer von vier Idealtypen, wenn es um die konzeptionelle Erschließung des Begriffs „social security“ geht.

Zur Debatte um die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen

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Handeln gewinnorientierter Unternehmen fest zu verankern. Wir wollen letztere im Folgenden vereinfachend unter dem Stichwort CSR-Bewegung subsumieren, wobei CSR für Corporate Social Responsibility bzw. die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen steht. Schon jetzt sei darauf hingewiesen, dass „social“ sich in der deutschen Überzeugung als „false friend“ erweisen kann (nicht muss), da mit „social“ im Englischen i.d.R. gesellschaftliche Belange in einem recht umfassenden Sinne (vergleichbar „societal issues“) gemeint sind, also auch gesellschaftliche Angelegenheiten allgemeiner Art, die beispielsweise nicht auf die (im Deutschen:) soziale Frage im Sinne von ‚welfare issues‘ beschränkt sein müssen.

II. Marktradikale – marktnaive? – Antworten Einerseits sehen wir Marktradikale, die auch nach den Jahren 2007 und 2008, nach Lehman-Pleite und Libor-Skandal und nicht zuletzt nach schier unglaublichen moralischen und strafrechtlichen Verfehlungen von Managern ihr ‚Mantra‘ von den effizienten Märkten wiederholen, wonach die Verfolgung des Eigennutzes als solche schon einen ethischen Wert darstelle, weil eben dieser Eigennutz – gern auch Egoismus – doch dazu führe, dass es allen oder doch fast allen besser gehe als mit irgendeinem anderen Handlungsmotiv. Wir wollen es an dieser Stelle bei dieser grob vereinfachenden Skizze belassen, kommen aber später darauf zurück.17 Auf der anderen Seite erkennen wir diejnigen, die ‚schon immer‘ gewusst haben, dass die Marktwirtschaft an sich – der Kapitalismus „als solcher“ – von innen verdorben und verrottet ist und angesichts systemimmanenter und zugleich (selbst-)zerstörerischer Egoismen nun auch für den allerletzten Betrachter offenkundig werden musste, was die – selbstverständlich selbst ernannte – gesellschaftliche Avantgarde „immer schon“ gewusst hat. Wie schon viele andere Beiträge zuvor wird auch der nunmehr vorliegende nicht dazu geeignet sein, die jeweils gefestigten (Vor-)Urteile beiseite zu fegen, und so soll hier auch gar nicht erst ein entsprechender Versuch unternommen werden. Stattdessen wollen wir uns nachfolgend auf einen bemerkenswert zentralen Aspekt der gesamten Debatte konzentrieren, nämlich: Welches Verständnis von Verantwortung – im Zweifel: unternehmerischer Verantwortung – ___________ 17 Für eine ausführliche und kritische Beschreibung einer solchen „Moral des Marktes“ (aus Sicht der integrativen Wirtschaftsethik) siehe auch Ulrich (2008), Kapitel 5. Ulrich stellt allerdings auch Homann – und wohl deutlich zu Unrecht – in die „Ecke“ der Marktradikalen, indem er ihm vorwirft, den Eigennutz über den Hinweis auf das dadurch geförderte Gemeinwohl normativ zu überhöhen. Um diese Sicht zu untermauern, zitiert er Homanns Formel „Wettbewerb ist solidarischer als Teilen“, zu finden beispielsweise in Homann/Blome-Drees (1992), S. 111.

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liegt eigentlich Marktwirtschaften zugrunde? Dabei wird es nicht zuletzt darum gehen, das eine oder andere lieb gewonnene Urteil oder Vorurteil kritisch zu hinterfragen. Ob sich im Zuge der laufenden Debatte vielleicht sogar ein Pardigmenwechsel (sc. in den Wirtschaftswissenschaften) abzuzeichnen beginnt, mag fürs Erste offen bleiben.

III. Die Antwort der CSR-Bewegung Keine Frage, das Thema „Gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen“ – neudeutsch: Corporate Social Responsibility, CSR – ist en vogue. Das CSR-Geschäft boomt. Nicht zuletzt die Unternehmen selbst, die Bundesregierung und die Europäische Kommission treiben die Entwicklung voran.18 Die Europäische Kommission hat, aufbauend auf einer ca. zehn Jahre alten Initiative, einen Aktionsplan gestartet. In der ursprünglichen EU-Definition von CSR hieß es noch, die gesellschaftliche (im offiziellen deutschen Text: soziale) Verantwortung sei definiert „als ein Konzept, das den Unternehmen als Grundlage dient, auf freiwilliger Basis [!] soziale Belange und Umweltbelange in ihre Unternehmenstätigkeit und in die Wechselbeziehungen mit den Stakeholdern zu integrieren.“19 Weiter heißt es: Damit die Unternehmen ihrer sozialen Verantwortung tatsächlich in vollem Umfang gerecht werden, „sollten sie auf ein Verfahren zurückgreifen können, mit dem soziale, ökologische und ethische Belange sowie Menschenrechtsfragen in enger Zusammenarbeit mit den Stakeholdern in die Betriebsführung und in ihre Kernstrategie integriert werden“.20 Mit dem nicht eingedeutschten Wort Stakeholder sind dabei, wie inzwischen auch in der einschlägigen Literatur gewohnt, alle diejenigen gemeint, für die durch unternehmerisches Handeln etwas ‚auf dem Spiel steht‘ (to be at stake, „auf dem Stecken“ sein), also alle aus Sicht des Unternehmens internen und externen Anspruchsgruppen, die vom Handeln der jeweiligen Unternehmung betroffen sind. Entsprechend wurde die EU-Definition im Jahre 2011 verdichtet. CSR meint demnach „die Verantwortung von Unternehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft“21. Damit wird – dankenswerterweise – endlich auch deutlich, dass die Einhaltung geltender demokratischer Rechtsnormen von elementarer Bedeutung ist: „Nur wenn die geltenden Rechtsvorschriften und ___________ 18 Vgl. statt vieler EU-Kommission (alte (2001) und neue CSR-Definition (2011)), Global Reporting Initiative (2013), CSR-Initiative von BDA, BDI, DIHK und ZDH (2013), CSR-Preis der Bundesregierung (2013). 19 EU-Kommission (2001), S. 366, erneut zitiert in EU-Kommission (2011), S. 4. 20 EU-Kommission (2011), S. 7. 21 Ebenda, S. 7.

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die zwischen Sozialpartnern bestehenden Tarifverträge eingehalten werden, kann diese Verantwortung wahrgenommen werden.“22 Hier knüpft beispielsweise auch die Bundesregierung an.23 Was war – lange Zeit vor Ausbruch der jüngsten Finanzkrise – Beweggrund für die diversen CSR-Initativen in Wirtschaft und Politik und die wissenschaftliche Beschäftigung mit CSR? Die renommierten Wirtschaftsethiker Michael Crane und Dirk Matten haben es – wie einige andere auch24 – sinngemäß so zusammengefasst: Profitorientierte Unternehmen haben in einem zunehmend globalisierten Umfeld an Macht gewonnen, während die Kraft der (eigentlich) regelsetzenden Politik im Zuge zunehmenden Standortwettbewerbs geschwunden ist. Unternehmen verursachen gesellschaftliche Probleme unterschiedlicher Art bei weitem nicht nur durch Umweltverschmutzung), und sie sind machtvolle gesellschaftliche Akteure, die ihre Macht verantwortlich nutzen sollten; nicht zuletzt haben sie die Pflicht, auch andere Interessen zu berücksichtigen als nur die ihrer Aktionäre bzw., allgemein, ihrer Eigentümer.25 An dieser Stelle ist ein Hinweis angebracht: Wenn im Folgenden durchaus auch kritisch-reflektierenden Worten zur CSR-Bewegung Raum gegeben wird – zum Teil mit Bezug auf vorliegende Literatur –, so sei zur Vermeidung unnötiger Missverständnisse ausdrücklich betont, dass der Verfasser die oben skizzierte Einschätzung der Befürworter von CSR-Aktivitäten grundsätzlich teilt: Es geht nach den hier vorgestellten Überlegungen längst nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch Unternehmen und ihre Leitungen; um Ansätze und Initiativen in Wissenschaft und Praxis, die die Scheuklappen einer falsch verstanden „Shareholder-Value“-Bewegung nachhaltig ablegen – ohne allerdings dabei den Verstand zu vernachlässigen; ganz im Sinne eines „Sapere aude“26.

___________ 22

EU-Kommission (2011), S. 7. Vgl. BDA, BDI, DIHK, ZDH (2013). Für eine Übersicht zur CSR-Debatte und ihrer Historie siehe beispielsweise Palazzo (2009), Crane/McWilliams/Matten/Moon/ Siegal (eds.) (2008) oder Min-Dong (2008). Zu jenem Zweig CSR-Debatte, der die ,Business-Case‘-Perspektive einnimmt, siehe auch Carroll/Shabana/Kareem (2010), für einen Vergleich zwischen den USA und Europa beispielhaft Fifka (2013). 24 Vgl. stellvertretend z.B. Scherer/Palazzo (2011). 25 Vgl. Crane/Matten (2010). 26 Kant (1784) nach Horaz: „Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“, S. 481. 23

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IV. Altes (und Neues?) vom ‚Buhmann‘ (vom ‚Bogeyman‘) der CSR-Bewegung Betrachtet man einführende Veröffentlichungen zum Thema CSR, beispielsweise Lehrbücher zum Thema Wirtschaftsethik (Business Ethics), so darf eine Referenz scheinbar nicht fehlen: Ein unscheinbarer, nur wenige Seiten langer Artikel, erschienen – nicht etwa in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift, sondern – in der New York Times, und auch dort nicht in der Tageszeitung als solcher, sondern im Magazin, unterbrochen zudem von ganzseitiger Reklame. Dieser Artikel wurde verfasst vom späteren Nobelpreisträger Milton Friedman (der diesen Preis wiederum später gewiss nicht für den NYT-Artikel erhalten sollte). Dafür, dass der Artikel keineswegs auf ungeteilte Zustimmung stieß, sorgte schon der unerhörte Titel: „The social responsibility of business is to increase its profits.“27 Bereits damit durfte er als klarer Fall für den akademischen Giftschrank der CSR-Bewegung gelten. Wie oft und wie gründlich er wirklich gelesen und nicht nur zitiert wurde, ist dem Verfasser naturgemäß nicht bekannt. Aber war das überhaupt nötig? Zeigte nicht schon diese Überschrift die beinahe obszöne Ignoranz des – in seinen Aktivitäten als Politikberater ausgewiesen konservativen, wenn nicht „stock-konservativen“ – Wissenschaftlers gegenüber den drängenden gesellschaftlichen Fragen, die durch gewinnorientiertes Handeln aufgeworfen werden? Nicht zuletzt war Friedman doch einer derjenigen, die für südamerikanische Diktatoren befremdlich freundliche Worte aus der vermeintlich harmlosen „ökonomischen Sicht“ gefunden hatten. Dieses mag manchem Kritiker durch den Kopf gegangen sein, denn nicht jede Kritik zeugt davon, dass der – doch sehr kurze – Text allzu gründlich gelesen wurde. Wir wollen das im folgenden aus einem einfachen Grund anders halten, denn die knappen Ausführungen M. Friedmans können nach Überzeugung des Verfassers durchaus dazu beitragen, den nachhaltigen Erfolg (!) der CSR-Bewegung zu erleichtern (!) – wenn denn die von Friedman geäußerten Kritikpunkte reflektiert beantwortet und nicht pauschal zurückgewiesen werden. Wie steht es um die Kernthese von der Gewinnmaximierung? Ist sie ein scheinbar wissenschaftlich gerechtfertigtes Plädoyer für jene Rücksichtslosigkeit, die in der Praxis so oft zu beobachten ist? Tatsächlich heißt es im Text unverblümt-schockierend: „[The responsibility of a corporate executive] will generally be to make as much money as possible“.

___________ 27

Friedman (1970), S. 1.

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Schon diese Formulierung hätte – nach der Überschrift – einen Sturm der Entrüstung auslösen können. Doch damit ist der Satz keineswegs zu Ende. Es heißt bei Friedman nämlich: „… to make as much money as possible while conforming to the basic rules of the society, both those embodied in law and those embodied in ethical custom.‘28

Es geht also um Ausrichtung am Gewinnziel, aber eben gerade nicht in egoistischer Manier, also rücksichtslos, sondern – selbstverständlich, mag jeder Kenner anderer Publikationen Friedmans ergänzen – aus M. Friedmans Sicht unter strikter Beachtung nicht nur von Recht und Gesetz, sondern auch unter ebenso strikter Beachtung der ungeschriebenen Regeln der Sittlichkeit.29 Wohlgemerkt: Aus Sicht des Verfassers greift auch diese – tatsächliche – Aussage Friedmans zu kurz, unter anderem weil sie das Verfolgen des Gewinninteresses mit der ethischen Kategorie der Verantwortung verbindet, während nach Überzeugung des Verfassers die Gewinnerzielung sinnvollerweise gerade nicht per se als ethisch wertvolle Leistung des Handelnden zu rekonstruieren ist, wie gleich zu erläutern sein wird. Es ist festzuhalten, dass M. Friedman keineswegs herhalten kann als Apologet jener rüden Ellbogen-Interpretation von Kapitalismus, die sich mancherorts eingeschlichen zu haben scheint. Doch halt – steht nicht bei Adam Smith, dem Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre, genau das? Nämlich, dass wir es letztlich dem Eigennutz – dem Egoismus? – der Akteure verdankten, wenn es durch Einführung und Verbreitung der Marktwirtschaft insgesamt ‚fast allen‘ besser gehe? Kaum ein einführendes Lehrbuch zur VWL, das nicht das folgende, berühmte Smith-Zitat aufführte: „It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker, that we can expect our dinner, but from their regard to their own interest.“30 „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“31

___________ 28

Im Original heißt es ausführlicher: „In a free-enterprise, private-property system, a corporate executive is an employee of the owners of the business. He has direct responsibility to his employers. That responsibility is to conduct the business in accordance with their desires, which generally will be to make as much money as possible while conforming to the basic rules of the society, both those embodied in law and those embodied in ethical custom.“ Friedman (1970), S. 1. 29 In einigen Publikationen zu CSR wird dies auch hervorgehoben, siehe beispielsweise Velasquez (2011). 30 Smith (1776/1974), S. 14 (dt. Übers. nach H. C. Recktenwaldt 1974). 31 Ebenda.

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Ist sie es, die „Unsichtbare Hand“ des Eigennutzes oder gar des Egoismus, die auf wunderbare Weise dazu führt, dass es im Kapitalismus am Ende ‚fast allen‘ besser geht als in anderen Wirtschaftsformen? Wenn man bedenkt, dass Adam Smith nicht nur der erste Ökonom der Neuzeit, sondern zugleich Moralphilosoph (!) war, mögen bereits Zweifel daran aufkommen, dass hier der Eigennutz oder gar der Egoismus auf den ethischen Schild gehoben werde.32 Oder war A. Smith gar naiv, sah er nicht die Neigung der Menschen, sich auf Kosten anderer die Taschen vollzustopfen? Nein, naiv war er keineswegs. Wer es wirklich darauf anlegt, wird im selben Werk, circa hundert Seiten weiter, fündig. Dort schreibt A. Smith: „People of the same trade seldom meet together, even for merriment or diversion, but the conversation ends in a conspiracy againste [sic] the publick [sic], or in some contrivance to raise prices.“33 „Vertreter ein und derselben Wirtschaftsbranche treffen sich selten – und sei es um der Freude oder Zerstreuung willen –, ohne dass die Unterhaltung entweder in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit oder in Verabredungen zu Preiserhöhungen endet.“34

Adam Smith, der „Verschwörungstheoretiker“ ... Auch das wäre wohl übertrieben. Die jüngere Adam-Smith-Forschung legt aber nahe35, dass Smith – übrigens auch im Kontext der oben aufgeführten Zitate –, wohl nicht den Eigennutz oder gar den Egoismus „ethisch auf den Schild“ hob. Vielmehr ging es ihm bei näherer Betrachtung wohl darum, den Eigennutz nicht – wie im Merkantilismus seiner Zeit – zu unterdrücken, indem man beispielsweise den freien Marktzugang be- oder gar verhinderte und damit Menschen daran hinderte, sich ___________ 32

Die Auffassung, dass Adam Smiths politische Ökonomie nicht unabhängig von seinem moralphilosophischen Werk verstanden werden kann, findet sich u.a. auch bei Ulrich (2008), S. 142, dort u.a. mit Verweis auf Meyer-Faje/Ulrich (1991). 33 Ebenda, S. 129. 34 Ebenda. 35 Vgl. z.B. Fleischacker (2013) m.w.N. Dass Smith den Eigennutz nicht ‚auf den Schild hebt‘, findet sich bei Fleischacker insbesondere in Kapitel 4, Absatz 10 ff. In Absatz 11 heißt es bspw.: „Indeed, a good way to read TMS [Theory of Moral Sentiments] is to see Smith as demonstrating to an impartial spectator in a moment of reflection, that the impartial spectator we use in the course of action operates in a reasonable and noble way – that, in particular, it is not just a tool of our self-interest.“ Die Frage „warum sollte ich moralisch sein?“ im Sinne eines eigennützigen „was bringt mir das?“ versucht Smith laut Fleischacker dadurch zu beantworten, dass er für ein Verständnis von Eigennutz argumentiert, welches im Einklang mit moralischen Forderungen steht. D.h. wahrer Eigennutz wird mit Glück gleichgesetzt, welches wiederum definiert wird als „the consciousness of being beloved“ (TMS, S. 41), und dies ist wiederum nur durch moralisch wünschenswertes Verhalten zu erreichen. Die Adam-Smith-Forschung hatte es sich vermutlich zwischenzeitlich etwas zu leicht gemacht, als sie die beiden Hauptwerke von Adam Smith unter dem Stichwort „Adam-Smith-Problem“ unter verschiedene, miteinander nicht verbundene Fragestellungen Smiths zu subsumieren suchte.

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in freier Entscheidung für ein Gewerbe zu entscheiden, in dem sie sich unternehmerisch (!) etwas zutrauen. Es ging also darum, dem Eigennutz Freiräume zu lassen – in der Diktion James M. Buchanans: in den laufenden Spielzügen, den plays oft the game –, wenn und solange (!) dies nicht in Verantwortungslosigkeit (Kartellbildung als Beispiel) ausartet. In Sachen Kartellbekämpfung war A. Smith noch Pessimist – wer konnte oder wollte schon die „Vertreter ein und derselben Wirtschaftsbranche“ daran hindern, in der Gastwirtschaft ein Glas Lager-Bier miteinander zu trinken? A. Smith setzte deshalb auf die (gegen Interessengruppen wie Gilden und Zünfte zu erzwingende) Marktöffnung und nachstoßenden Wettbewerb durch Neulinge. In seiner Zeit aber, als Marktanteile gewissermaßen vererbt wurden, dürften entsprechende Bestrebungen zur Öffnung der Märkte auf starken Widerstand der betroffenen Kartellbrüder gestoßen sein und damit eines starken staatlichen, gesetzgeberischen Regelsetzers bedurft haben.36 Es ist damit zu rechnen, dass die jüngere Beschäftigung mit Adam Smith noch einige bemerkenswerte (Alt- oder Neu-)Lesarten seiner Schriften zutage fördert.

V. Der umstrittene Artikel: einmal nicht als Quelle der naiven Zustimmung oder reflexhaften Ablehnung, sondern als Reflexionsfläche und ‚Checkliste zur CSR-Qualitätssicherung‘ Folgt aus Friedmans Spott über die „Lyrik“ der CSR-Bewegung (dort gleich im ersten Satz), dass die CSR-Bewegung selbst zum Teil des Problems wird, zu dessen Lösung sie angetreten ist? Keineswegs. In einem komplexer werdenden Umfeld und angesichts wachsender gesellschaftlicher Erwartungen an Unternehmen ist es angezeigt, die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmung im Unternehmen selbst zu reflektieren und – zuallererst auf Ebene des strategischen Managements, also als Chefsache – auch wahrzunehmen. Friedmans Beitrag bringt dagegen eher Geringschätzung gegenüber dem Anliegen zum Ausdruck. Nach Überzeugung des Verfassers ist es allerdings angezeigt, den umstrittenen Beitrag M. Friedmans nicht in erster Linie als Gegenstand der Abwehr und Erwiderung wahrzunehmen, sondern als Quelle einer – nunmehr konstrukti___________ 36 Zur Bedeutung Adam Smiths vgl. Homann (1990), ders. (2002) u.ö., wobei dieser allerdings in seiner Adam-Smith-Interpretation die Bedeutung des Eigennutzes besonders hervorhebt, während es nach der hier vertretenen Lesart im Zweifel eben darum ging, den Eigennutz weder zu unterdrücken noch besonders hervorzuheben, sondern ihn ‚nur‘ als selbstverständlichen Teil der menschlichen Natur zu erkennen. Zu Adam Smith im Zusammenhang mit Konsumentensouveränität siehe auch Homann/Goldschmidt (2011), S. 61 ff.

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ven (!) – Kritik an der CSR-Bewegung, die helfen kann, bei der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung in hinreichendem Maße reflektiert vorzugehen, mögliche Irrtümer und Fehlerquellen zu adressieren und so insgesamt die Qualität der aktiven unternehmerischen Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung zu sichern und zu stärken.37 Fassen wir die oben genannten Gesichtspunkte zusammen38, indem wir die erwähnte und einige weitere Passagen des inkriminierten Textes in den Blick nehmen. 1. Das Geld anderer Leute ... M. Friedman wirft einen wichtigen Kontrollpunkt zur Ausführung von CSRAktivitäten durch angestellte Manager auf: Im Unterschied zu Eigentümern, die ihre Unternehmen selbst führen, nehmen Manager das Geld anderer Leute: „Of course, the corporate executive is also a person in his own right. As a person, he may have many other responsibilities that he recognizes or assumes voluntarily … He may feel impelled by these responsibilities to devote part of his income to causes he regards as worthy, to refuse to work for particular corporations, even to leave his job, for example, to join his country’s armed forces. If we wish, we may refer to some of these responsibilities as ,social responsibilities.‘ But in these respects he is acting as a principal, not an agent; he is spending his own money or time or energy, not the money of his employers or the time or energy he has contracted to devote to their purposes.“39

Die Botschaft lautet hier: Jedem Manager steht es jederzeit frei, Geld für gesellschaftliche Zwecke einzusetzen und gesellschaftliches Engagement zu ___________ 37 Unterstützung für dieses Vorhaben findet sich prima facie z.B. auch bei Suchanek (2005). Allerdings heißt es dort auch: „In this paper, I argue that Friedman’s view has a point, but is, none the less, one-sided. Inappropriate forms of pursuing profits can become a threat to the foundations of a free society to the same degree as inappropriate moral demands for corporate social responsibility which were – rightly – criticized by Friedman.“ Wie hier deutlich zu machen war, hat Friedman ja keineswegs „unangemessenen Formen der Gewinnerzielungsabsicht“ das Wort geredet. 38 Aus der obigen Betrachtung haben wir einen Aspekt zunächst ausgeklammert, der für M. Friedman ebenfalls von Bedeutung war: Die Frage, ob Unternehmen – als Organisationen – überhaupt Verantwortung übernehmen können und sollen oder ob nur ‚Individuen Verantwortung tragen‘ können, wie M. Friedman meint. In einer ergänzenden Betrachtung wäre auch dieser Frage nachzugehen. Für den Augenblick möge der Hinweis genügen, dass sich durch die Zuschreibung von Verantwortung auf Organisationen – also auch auf Unternehmen – gesellschaftliche Steuerungsoptionen, etwa durch (Straf-)Gesetze, ergeben, während das Insistieren auf nur persönlicher Verantwortung diesen Weg versperrt. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass beispielsweise das Instrument der ‚Kollektivstrafe‘ auch buchstäblich unschuldige Mitarbeitende trifft, wie etwa bei Kartellstrafen zu beobachten. Dies soll an dieser Stelle allerdings nicht vertieft, sondern in einer gesonderten Analyse näher betrachtet werden. 39 Friedman (1970), S. 1.

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zeigen – wenn es das eigene, hoffentlich ehrlich verdiente Geld ist.40 Sobald es das Geld der Unternehmung ist, das ein Angestellter einsetzt, ergeben sich in der Tat schwierige Konstellationen und Interessenkonflikte: „[T]he corporate executive would be spending someone else’s money for a general social interest. Insofar as his actions in accord with his ,social responsibility‘ reduce returns to stockholders, he is spending their money. Insofar as his actions raise the price to customers, he is spending the customers’ money. Insofar as his actions lower the wages of some employees, he is spending their money.“41

Friedman bekräftigt seine Kritik an falsch verstandener CSR jedenfalls auch durch den Verweis auf die Interessen anderer Stakeholdergruppen wie die der Arbeitnehmer und Konsumenten: schließlich sorgt er sich im oben aufgeführten Zitat um die potenziell lohnschmälernde und preissteigernde Wirkung von CSR-Maßnahmen. Deutet man dies als Plädoyer für die Berücksichtigung anderer (als den auf Eigentumsrechten basierenden) Stakeholderinteressen, so werden die Konflikte zwischen verschiedenen Shareholdern, denen sich der Unternehmensvorstand bereits ausgesetzt sieht, potenziert. Kunden und Aktionäre haben ein Interesse an Lohnsenkungen, da dies niedrige Preise und ein höheres Residualeinkommen bedeuten würde. Dabei dürften sie untereinander uneins sein, ob die Einsparungen sich in einer wettbewerbsfähigeren Preisstruktur oder einer höheren Dividende niederschlagen. Die Arbeitnehmer wiederum hätten vermutlich nichts dagegen, den Unternehmensgewinn anstelle der Aktionäre als Leistungsprämie ausgezahlt zu bekommen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Unabhängig davon, ob die von Friedman geforderte, ausschließliche Verpflichtung von Managern gegenüber den Eigentümern überzeugt oder nicht – der Verfasser dieses Beitrages ist „not convinced“ –, wirft er dadurch eine grundlegende Frage auf, deren Klärung sich im Zusammenhang der aktuellen CSR Debatte lohnt: Welche Rolle hat eigentlich der Unternehmensvorstand und wem ist er verpflichtet? Werden Manager – im Sinne der Prinzipal-Agenten-Theorie – als Agenten der Aktionäre konzipiert, so scheinen die Schlussfolgerungen Friedmans zunächst schlüssig – wenn auch nur bei einer oberflächlichen Betrachtung. Führt man sich nämlich vor Augen, dass es sich bei den Aktionären um eine heterogene Gruppe handeln kann und oft auch handelt, so sind erste Zweifel gerechtfertigt. Es kann durchaus zu Interessenkonflikten zwischen verschiedenen Aktionärsgruppen kommen, die es dem Unternehmensvorstand unmöglich ___________ 40 Und wenn, so muss man wohl ergänzen, die Legitimität der bestehenden Eigentumsordnung einschließlich des bestehenden Steuer- bzw. (Um-)Verteilungssystems im Großen und Ganzen unterstellt werden kann, etwa im Rahmen einer verfassten Demokratie. Kritisch hierzu siehe aber auch, statt vieler, Murphy/Nagel (2002). 41 Friedman (1970), S. 2.

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machen, die Interessen „der“ Aktionäre konsequent zu vertreten.42 Die meisten Aktionäre dürften zwar vorwiegend an einer Rendite für ihr eingesetztes Kapital interessiert sein – hier gibt es demnach eine Übereinstimmung hinsichtlich des grundsätzlichen Ziels einer Aktiengesellschaft – doch bereits bei unterschiedlichen Risikopräferenzen kann es zwischen Aktionärsgruppen zu Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der adäquaten Mittel zur Verfolgung des (Aktien-)Gesellschaftszwecks kommen. Im Gegensatz zum risikofreudigen Großverdiener, der in einem stark diversifizierten Portfolio nur das Geld einsetzt, auf das er nicht zwingend angewiesen ist, könnte der risikoscheue Kleinanleger, der zu Zwecken der Altersvorsorge in Aktien investiert, eine vorsichtige Unternehmensstrategie mit konservativen Gewinnzielen bevorzugen. Auch Eigen- und Fremdkapitalgeber dürften oft unterschiedliche Risikopräferenzen haben. Neben der Risikofreudigkeit spielen aber auch andere Aspekte eine Rolle. Den meisten Aktionären dürfte es nicht gleichgültig sein, wie Kapitalrendite erzielt wird, d.h. welches Geschäftsmodell auf welche Art und Weise verfolgt wird.43 Dabei sind Meinungsverschiedenheiten, z.B. zwischen Ethical Investment Funds und Investment-Banking-Abteilungen großer Banken, programmiert. Darüber hinaus kann auch die öffentliche Hand als Aktionär auftreten, wie das Beispiel Volkswagen eindrücklich illustriert. In solchen Fällen müsste selbst Friedman eingestehen, dass sich aus der von ihm geforderten, ausschließlichen Verpflichtung von Managern gegenüber den Aktionären geradezu die Verpflichtung zur direkten Verfolgung unmittelbar gemeinnütziger Aktivitäten ergeben könnte. Angesichts dieser weitverbreiteten Problematik unvereinbarer Aktionärspräferenzen hinsichtlich der Mittel und Ziele ist es überraschend, dass ausgerechnet Friedman, bekanntermaßen ein strikter Gegner der Behandlung von Unternehmen als kollektive Entitäten, die Aktionäre als kollektiven Akteur mit homogenen Interessen zu behandeln scheint. Die – auch von Friedman forcierte – Orientierung an den tatsächlichen Eigentümern (einer Aktiengesellschaft) kann also bei näherem Hinsehen keineswegs überzeugen, wenn man bedenkt, dass die Fiktion einer Orientierung des Eigentümers am nachhaltigen Unternehmenserfolg schon deshalb auf wackeligen Beinen steht, weil es im Zweifel leichter ist, ein Aktienpaket rasch zu verkaufen als ein gebrauchtes Hemd. So ist keineswegs garantiert, dass der Ei___________ 42 Nicht zuletzt deshalb verbieten §§ 57, 58 des AktG „Leistungen an opponierende Aktionäre oder (Anleihe-)Gläubiger, die bei verständiger und wirtschaftlicher Betrachtung als ein Abkauf von Aktionärs-/Gläubigerrechten […] zu qualifizieren sind“, Seibt (2014), S. 13. 43 Nicht zuletzt deshalb weisen z.B. Preuss/Perschke (2010, S. 534 ff.) darauf hin, dass sich das CSR-Konzept oft über die Aktienmärkte verbreitet.

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gentümer ein stärkeres bzw. stärker nachhaltiges Interesse hat als andere Stakeholder. Es ist sehr wohl zu erwarten, dass sich ein verantwortlich denkendes und handelndes Management selbstkritisch fragt, ob die Entscheidungsträger auch dann die fragliche Summe für den fraglichen Zweck einsetzen würden, wenn sie selbst Alleineigentümer(in) der fraglichen Unternehmung wären. Diese Technik der kritischen Selbstreflexion kann dem Management bei der Suche nach einem Kompromiss helfen und damit die Versöhnung konfligierender Aktionärsinteressen befördern. Hier treten erneut die Beschränkungen der Prinzipal-Agenten-Theorie in der Auslegung zutage, die Friedman im Widerspruch zur Schlagrichtung seines Arguments bemüht. Angesichts heterogener, teilweise widerstrebender Interessen innerhalb von und zwischen verschiedenen Stakeholdergruppen ist es gerade nicht ratsam, die Rolle von Managern ausschließlich als die von Agenten im Verhältnis zu ihren Eigentümern zu rekonstruieren.44 Stattdessen ist die Bewältigung von Konflikten zwischen verschiedenen Stakeholdergruppen in den Blick zu nehmen – aber eben nur insoweit, als die zugrunde liegende Leitschnur nicht etwa in der „Abwägung zwischen konfligierenden Zielen“ (i.e., Interessen unterschiedlicher Stakeholder-Gruppen) liegt45, sondern im nachhaltigen Erfolg des Unternehmens als solchen. Punkt. Anders gesagt: Im Unterschied zu weiten Teilen der CSR-Literatur ist der Konflikt nicht auf Ziel-, sondern auf Mittelebene zu verorten, wenn man die Prinzipien einer demokratisch verfassten Wettbewerbsordnung ernst nimmt. Das bedeutet aber auch, die Eigentümer nicht als „interne Stakeholder“ zu betrachten, sondern so, wie sie übrigens auch in der neoklassischen mikroökonomischen Theorie (!) konzipiert werden: als Lieferanten von Eigenkapital. Anders formuliert: Um die Rolle des Unternehmensvorstands im Rahmen der Prinzipal-Agenten-Theorie abzubilden, ist es erforderlich die Unternehmung selbst (!) als eigenständigen Prinzipal (!) zu konzipieren, dessen Interessen sich eben nicht aus seiner eignen Agentenrolle gegenüber einer „Vielzahl von Prinzipalen in Gestalt verschiedener Stakeholdergruppen“ ergibt, auch nicht gegenüber einem bestimmten Stakeholder, „dem Eigentümer“, sondern aus der gesellschaftlich zugewiesenen Aufgabe, im fairen (!) Wettstreit mit anderen Unternehmen für eine effiziente Versorgung der Gesellschaft mit wettbewerbsfähigen (sc. legitimen) Gütern zu wettbewerbsfähigen Preisen zu sor___________ 44 Auch gemäß Kantischer Ethik – konkret: nach der zweiten Formulierung des Kategorischen Imperativs – sollten Menschen stets als Zweck und niemals als Mittel zu einem übergeordneten Zweck betrachtet werden. 45 Kaptein/Wempe (2011, S. 1–2) sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Many Hands Dilemma“.

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gen.46 Das Interesse des Unternehmens als Prinzipal bleibt zwar rechtlich strikt an den Gesellschaftszweck gebunden47, meist die Erwirtschaftung einer nachhaltigen Rendite, aber dieser ist eben nicht immer mit den Interessen einzelner Aktionäre oder Aktionärsgruppen gleichzusetzen. Übrigens ist dies nicht zuletzt auch das Leitbild erfolgreich geführter Familienunternehmen, also ausgerechnet jener Unternehmen, bei denen nicht selten eine strikte rechtliche Trennung zwischen privatem Kapital und Unternehmenskapital nicht oder nur in Teilen vorliegt. Diese Familien-Eigentümer behandeln ‚ihre Firma‘ so, als ob die Unternehmung ein eigenständiger Akteur mit eigenen – vorrangigen – Rechten sei, dessen langfristige, generationenübergreifenden Erfolgs- und Überlebensinteressen dann auch ganz konsequent den im Vergleich eher kurzfristigen Konsuminteressen der Familienmitglieder rigoros vorangestellt werden. Geht man aus dieser Perspektive an die Rolle der Unternehmung heran – sieht sie also als Prinzipal sui generis im Rahmen der marktwirtschaftlichen Spielregeln –, so kann auch die u.a. von Carroll (1979) so genannte „philanthropische“ Verantwortung (also die des Menschenfreundes bzw. der Menschenfreundin) wohl weniger leicht fehlinterpretiert werden – falls es denn überhaupt sinnvoll ist, ein solches gedankliches Konzept im Zusammenhang mit CSR zu verfolgen: „Philanthropie“ wird leicht zum Deckmäntelchen für die Finanzierung von Vorstandshobbies durch das Unternehmen.48 2. Gewinn: Leistung für die Gesellschaft oder Gegenleistung der Gesellschaft? Am Ende des Artikels, sein früheres Buch „Capitalism and Freedom“ zitierend, wiederholt M. Friedman seine titelgebende These: „[T]here is one and only one social responsibility of business – to use its resources and engage in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game, which is to say, engages in open and free competition without deception or fraud“.49

Friedmans vielkritisierte Beschränkung unternehmerischer Verantwortung auf die Erzielung von Profiten kann in Verbindung mit dem Argument des vo___________ 46

Dadurch würde auch eine bessere Passung mit der Rolle des Vorstands gemäß AktG erreicht. Dieser hat zwar eine „besondere (über den inhaltlichen Gehalt von § 242 BGB hinausgehende), organschaftliche Vertrauens- und Treuebindung“ gegenüber den Aktionären (Seibt (2014), S. 6), doch aus § 76 Abs. 1 des AktG lässt sich auch „die Freiheit zum selbständigen und weisungsfreien Handeln nach eigenem Ermessen ableiten“. Seibt (2014), S. 8. 47 Auch im AktG wird dies durch § 82 Abs. 2 sichergestellt. 48 Vgl. kritisch auch, aus juristischer Sicht, Seibt (2014). 49 Friedman (1970), S. 4.

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rangegangenen Abschnitts eine interessante Perspektive eröffnen. Wenn das Unternehmen nämlich aus heuristischen Gründen als eigenständiger Prinzipal konzipiert wird, dessen Interesse der Unternehmensvorstand vorrangig vertreten sollte, so kann es grundsätzlich sinnvoll sein, sich an einer Steuerungsgröße wie dem Gewinn zu orientieren. Stellt man die kontroverse Frage nach seiner Verwendung zurück, lässt sich der Gewinn eines Unternehmens als ein Barometer interpretieren, das den wirtschaftlichen Zustand eines Unternehmens abbildet. Die Erzielung von nachhaltigen Gewinnen wird zur Voraussetzung für den Fortbestand des Unternehmens. Dabei kann das Unternehmen auch weiterhin als Vehikel der Stakeholder für die Verfolgung ihrer jeweiligen Interessen betrachtet werden – vorzugsweise nicht, wie in Friedmans Zeitungsartikel, nur als Vehikel der Aktionäre als einer Stakeholdergruppe von vielen. Damit dieses Vehikel seine Funktion jedoch dauerhaft ausüben kann, muss es wirtschaftlich gesund sein – was wiederum die regelmäßige Erzielung eines Gewinns erfordert.50 Dieser hohe Stellenwert des wirtschaftlichen Erfolgs von Unternehmen findet sich übrigens auch bei wichtigen Protagonisten der CSR-Debatte wieder, wenn auch bemerkenswert unsystematisch eingefügt. In Archie Carrolls häufig bemühter „Verantwortungspyramide“51 bildet die ökonomische Verantwortung (Verantwortung für ökonomischen Erfolg, wenn man so will) sogar die Basis für andere Aspekte unternehmerischer Verantwortung und steht damit im Rang noch vor der rechtlichen Verantwortung, also der Einhaltung der Gesetze. Im Lichte des diskutierten Zitats bei Friedman ist diese Nachrangigkeit gesetzlicher und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen durchaus kritisch zu sehen. Bei Friedman verhält es sich nämlich genau umgekehrt: Das Profitstreben von Unternehmen darf nur im Rahmen eng definierter Spielregeln stattfinden und ist letzteren im Konfliktfall unterzuordnen.52 Carrolls Verantwortungspyramide hingegen suggeriert, dass der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens die Übertretung von Gesetzen und moralischen Restriktionen im Konfliktfall rechtfertigen könne. Angesichts des großen Friedmanschen Optimismus sollte ergänzt werden, dass seine titelgebende These dann besonders stark ist, wenn durch wirkungsvolle gesetzliche Rahmenbedingungen dafür Sorge getragen werden kann und ___________ 50

chen. 51

Es wird gewissermaßen die ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit angespro-

Carroll (1979), Carroll/Buchholtz (2008), S. 45, u.ö. Hier wird bereits deutlich, dass das gedankliche Konzept der ethischen Restriktionen gleichermaßen auslegbar wie auslegungspflichtig ist, denn mit dem Verzicht auf Täuschung und Betrug ist es nach wohlbegründetem ethischen Verkehrsverständnis nicht getan, wenn es um die Einhaltung ethischer Standards geht. Man denke nur an ungezügelte Machtausübung durch Monopolisten oder Monopsonisten. 52

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wird, dass hinreichend funktionierender Wettbewerb herrscht und sogenannte negative wie positive Externalitäten entweder vernachlässigbar sind oder hinreichend erfolgreich politisch adressiert wurden.53 Vertreter „politischer CSR-Konzeptionen“ leiten das vermeintliche Erfordernis freiwilliger Unternehmensverantwortung im Sinne einer politischen Gestaltungsaufgabe aus einem systematischen Verlust (national-)staatlicher Regulierungsmacht ab, der sich im Rahmen der jüngsten Welle der Globalisierung eingestellt hat.54 In einem rechtlichen Vakuum wird die von Friedman verteidigte „Pflicht zur Profitsteigerung“ nicht durch die Priorität der rechtlichen Spielregeln in Schach gehalten und dadurch in Form einer allgemeinen Handlungsanweisung dem Gemeinwohl dienstbar gemacht. Doch dieser Vorwurf wird Friedmans Argumentation, die auf der Prämisse eines weitgehend in sich geschlossenen und funktionierenden Nationalstaats fußt, nicht gerecht. Denn seine These ist in ein umfassendes Wirtschaftsmodell eingebettet und kann nur in diesem Zusammenhang „richtig“ verstanden werden. Wenn dieses Wirtschaftsmodell aufgrund veränderter globaler Rahmenbedingungen auf nationaler Ebene nicht mehr vorherrscht, schmälert dies nicht zwangsläufig die Kernaussage. Der entscheidende Punkt liegt nämlich woanders, wie nun zu zeigen ist. Um diesen, von Kritikern regelmäßig übersehenen, zweiten Teil der Friedmanschen Position noch deutlicher zu machen, ist es jedenfalls unter „postnationalen Vorzeichen“ sinnvoll, die Gewinnerzielung gerade nicht per se als ethisch wertvolle Leistung des Handelnden zu rekonstruieren.55 Vielmehr ist sie als Teil eines größeren, gedanklich zu rekonstruierenden Gesellschaftsvertrages, in dem die Pflicht der Unternehmen – ihre Verantwortung – darin liegt, ihre – ohnehin aus eigenem Antrieb zu erwartende – Bereitschaft und Fähigkeit zur Gewinnerzielung im Wettbewerb mit anderen und mit fairen Mitteln zu ver___________ 53

D.h. wenn wirkungsvolle Rahmenbedingungen nicht oder noch nicht vorliegen, kann dieses Argument Friedmans seine Schlagkraft verlieren. Autoren wie Matten, Crane, Moon, Palazzo oder Scherer scheinen oft anzunehmen, dass die Verbreitung von CSR die Folge des systematisch bedingten Verlustes (national-)staatlicher Regulierungsmacht ist. Aber darum geht es ja gerade: hier nicht vorschnell die ‚CSR-/Unternehmenskarte‘ zu ziehen und damit willkürlich und ad hoc Verantwortungsbereiche umzudefinieren. Stattdessen ist zu erkennen und anzuerkennen, dass es auch unter den Vorzeichen der wirtschaftlichen Globalisierung prinzipiell möglich und nötig (!) ist, etwa in Form von Global-Governance-Strukturen einen rechtlichen Rahmen zu schaffen. Insofern scheint Friedman für eine Art Ordoliberalismus zu plädieren und seine Kritiker dafür, dass man dem (zunächst) nicht behebbaren globalen Regelungsdefizit mit der Einforderung freiwilliger CSR-Maßnahmen begegnen müsse. Das aber müsste sauber hergeleitet und begründet werden – nicht zuletzt in Anbetracht der erheblichen Nebenwirkungen, die sich dann ergeben. 54 Vgl. z.B. die vorstehend zitierten Autoren. 55 Es ist – insofern – auch Suchanek (2005) zuzustimmen.

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folgen: also darin, wettbewerbsfähige und gesellschaftlich akzeptable Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen unter Einsatz fairer Mittel bereitzustellen.56 Das Recht auf Gewinnerzielung (die „licence to operate“, wenn man so will) ist somit als Gegenleistung (!) der Gesellschaft (!) für erfolgreiches Handeln anzusehen. Die Unternehmen „liefern“ wettbewerbsfähige, legitime Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen; die Gesellschaft als Ganze akzeptiert im Gegenzug die ‚Belohnung‘ in Gestalt von Gewinnen und damit implizit auch ein gewisses Maß an Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen, das schon bei Rawls als Konzept eines Maßes an ‚gerechtfertigter Ungleichheit‘ entwickelt wird und selbstverständlich die notwendige Diskussion um ein ungerechtfertigtes Maß an Ungleichheit einschließen wird. Eine postulierte ethische „Pflicht zur Gewinnerzielung“57 könnte dagegen Gefahr laufen, unbeabsichtigt zu einer Verwechslung von Leistung und Gegenleistung beizutragen: Es wird Zeit, die wirtschaftsethische Analyse des Gewinnstrebens an dieser Stelle vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Auf diese Weise kann Friedmans Kernaussage für die aktuelle Diskussion fruchtbar gemacht werden. Die Metapher eines Gesellschaftsvertrags impliziert wechselseitige Vorteile für die Vertragspartner – hier: die Gesellschaftsmitglieder. D.h. die Bedingungen zur Vergabe der „licence to operate“ an Unternehmen ergeben sich aus den Interessen aller Gesellschaftsmitglieder, einen ‚Preis‘ zu zahlen für den gesellschaftlich höchst wünschenswerten Ansporn zu Risikound Leistungsbereitschaft, der mit der Aussicht auf die Erzielung von Gewinnen verbunden ist. In demokratischen Systemen kann mit Friedman davon ausgegangen werden, dass sich die gesetzlichen Regeln zur Vergabe der „licence to operate“ an den Interessen der Allgemeinheit orientieren. In autokratischen oder korrupten Systemen fehlen hingegen wirkungsvolle Mechanismen zur Gewährleistung dieser Vorteilhaftigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder. Die „licence to operate“ wird faktisch nur zum Vorteil einer herrschenden Gruppe und auf Kosten der Allgemeinheit vergeben. Als Beispiel könnte man die oft zitierte Vergabe von Konzessionen zur Erdölförderung im Nigerdelta anführen. Eine vertragstheoretische Herleitung der „licence to operate“ hat nun den Vorteil, dass eine Kritik solcher Praktiken möglich wird. Unternehmen können gesellschaftsschädliche Aktivitäten nicht mehr mit dem Verweis auf bestehende Gesetze abschmettern, sondern müssen zur Kenntnis nehmen, dass sie zwar über die „licence to operate“ der Machthaber, jedoch nicht über die „licence to ___________ 56

Vgl. zur Idee des Gesellschaftsvertrages neben den „Originalen“ Rawls und Buchanan z.B. auch die jüngere Arbeit von Dunfee und Donaldson mit Bezug auf die Wirtschafts- und Unternehmensethik, Donaldson/Dunfee (1994), (1999a), (1999b). 57 Vgl. in diesem Sinne bspw. Homann (2002).

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operate“ der Gesellschaft verfügen. Somit bietet die vertragstheoretische Rekonstruktion der „licence to operate“ auch in einem fehlenden demokratischen Rahmen Orientierung. 3. Pflicht vor Kür Der guten Ordnung halber sei noch einmal festgehalten: Die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung beschränkt sich selbstverständlich nicht darauf, „neben“ der eigentlichen Geschäftstätigkeit auch „etwas Gutes zu tun“: Vor die Kür eines gesellschaftlichen Engagements im Sinne von Sponsoring, Kulturförderung usw. ist eindeutig die Pflicht eines fairen Verhaltens am Markt, im Kerngeschäft zu setzen – siehe oben. Anders gesagt: nicht allein die Gewinnverwendung, sondern bereits die (Art der) Gewinnerzielung gehört, wie auch inzwischen von der EU gesehen, in den Bereich CSR. Soweit zu erkennen, ist dies inzwischen common sense in der einschlägigen Literatur.58 Gleichwohl gibt es immer wieder Indizien dafür, dass hier manches in der geschäftlichen Praxis missverstanden wird. In jüngerer Zeit wirbt beispielsweise die Tochtergesellschaft eines amerikanischen Automobilkonzerns – sicher in bester Absicht – damit, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für 16 Stunden im Jahr in bezahlter Zeit, also auf Kosten des Unternehmens, die Gelegenheit haben, (so wörtlich) „Gutes zu tun“59: Das Unternehmen unterstützt auf diese Weise mit erheblichen Mitteln die gemeinnützige Gesellschaft DKMS (Deutsche Knochenmarkspenderdatei) in ihrem Kampf gegen Blutkrebs. Nun kann man lamentieren, dass das immer noch „viel zu wenig“ sei. Oder dass es nicht die Aufgabe eines Unternehmens sei, in dieser Weise auf private Entscheidungen seiner Mitarbeitenden einzuwirken. Zu letzterem ist allerdings zu sagen, dass, erstens, die Teilnahme offenbar freiwillig ist und die aufgewandte Zeit, zweitens, ja offenbar zumindest in dem genannten Umfang vom Unternehmen finanziell unterstützt bzw. entgolten wird. Die eigentliche Pointe wartet aber woanders: Geht man von der Daumenregel aus, dass beispielsweise im gewerblichen Bereich in Deutschland ca. 1.500 Stunden pro Jahr gearbeitet wird, so könnte mancher Schelm sich fragen, ob im Kerngeschäft Automobilproduktion, also in den verbleibenden 99 Prozent der Zeit, dann wohl nach eigener Einschätzung des Unternehmens „nicht(s) Gutes“ getan werde? Oder wie soll man es verstehen, wenn in der besagten freigehaltenen Zeit Gelegenheit bestehe, „etwas Gutes“ zu tun?

___________ 58 59

Vgl. bspw. Beschorner (2008), Lin-Hi (2011), Suchanek (2005). Mobil (2013), S. 47.

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Unternehmen wie das beschriebene stellen gesellschaftlich akzeptierte, wettbewerbsfähige Produkte her, derer sie sich nicht zu schämen brauchen (sofern man die Pkw-Produktion nicht wegen der Wirkungen von Produktion und Nutzung auf Umwelt und Natur bereits als solche für böse erklärt). Im Sinne der hier entwickelten Argumentation tragen solche erfolgreichen Unternehmen eben nicht nur die Mit-Verantwortung zur Reduzierung unerwünschter Nebenwirkungen. Sondern sie haben durchaus Anlass, ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen und sehr viel selbstbewusster in erster Linie ihre Leistungen im Kerngeschäft in den Vordergrund zu rücken und offensiv zu kommunizieren, wenn das damit eingenommene Geld ein ehrlich verdientes ist und außerdem Fairness im Umgang mit Mitarbeitenden, Lieferanten und Kunden sowie weiteren Stakeholdern das Handeln leitet.60 Wenn allerdings Unternehmen mit ihrer Kommunikation selbst tendenziell die Einschätzung unterstützen, dass ihr Kerngeschäft „eigentlich eher unethisch“ sei und vorrangig auf anderen Gebieten „Gutes“ getan werde, so mag sich der Eindruck verstärken, es gehe hier am Ende doch nur um Eigenreklame und Buhlen um Goodwill (gar in der Art eines ‚Ablasshandels‘?) bei den Kritikern der Branche, die ggf. unter den Lesern der Publikation (der Kundenzeitschrift der Deutschen Bahn) vermutet werden können. Dann aber darf die grundsätzliche Frage nach dem Sinn von CSRMaßnahmen durchaus gestellt werden. 4. CSR – Auch altruistisch motiviert oder „doch nur eigennützig”? Besonders bemerkenswert ist, dass M. Friedman in dem fraglichen kleinen Beitrag keineswegs jene Aktivitäten rundheraus ablehnt, die man (auch) mit dem Etikett CSR belegt: „Of course, in practice the doctrine of social responsibility is frequently a cloak1 for [profit orientation]. [I]t may well be in the long run interest of a corporation that is a major employer in a small community to devote resources to providing amenities to that community or to improving its government. That may make it easier to attract desirable employees, […] or have other worthwhile effects. … Or it may be that, given the laws about the deductibility of corporate charitable contributions, the stockholders can contribute more to charities … by having the corporation make the gift than by doing it themselves, since they can in that way contribute an amount that would otherwise have been paid as corporate taxes.“61

___________ 60 Auch wäre evtl. aus Sicht der Unternehmensleitung zu prüfen, ob es hart arbeitenden Menschen (etwa gewerblichen Arbeitnehmern am Fließband) durchaus ohne schlechtes Gewissen freigestellt bleiben dürfte, wie sie die zur Verfügung gestellte Zeit nutzen. 61 Ebenda, S. 5.

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Dies ist ein besonders schwieriger Punkt, der nach Überzeugung des Verfassers für den zukünftigen Erfolg der CSR-Bewegung mitentscheidend sein wird: Soll die Wahrnehmung von CSR als „über das bloße Gewinnerzielungsinteresse hinausgehend“ interpretiert werden? Dann bliebe zu klären, wie sich dies in einer wettbewerblich organisierten Wirtschaft mit den Grundprinzipien eben des Wettbewerbs verträgt: Wenn ausgerechnet die verantwortungsvollsten Unternehmen mit geringeren Gewinnen zu kämpfen hätten als die weniger ethisch Sensiblen im Lande (oder anderswo, dies wäre angesichts einer globalisierten Wirtschaft zu ergänzen). Dieses Argument ist altbekannt,62 aber deswegen nicht aus der Welt. Wenn man dagegen betont, dass sich CSR-Engagement zumindest mittelbis langfristig auszahle – dafür spricht nicht immer, aber doch recht häufig einiges –, dann bleibt u.a. festzustellen, dass ein entsprechend handelndes Management von M. Friedman eben keineswegs (!) kritisiert würde: wenn nämlich CSR-Aktivitäten letztendlich als Investitionen für die Unternehmung interpretiert werden können. So ist es doch einigermaßen verwunderlich, dass Friedmans kleiner Beitrag auch von vielen Vertretern des Business Case für CSR abgelehnt wird.63 Wohlgemerkt: Investitionen sind ja ihrer Natur nach stets insofern unsicher, als nicht klar ist, ob oder wann sie sich tatsächlich auszahlen werden. Das unterscheidet ‚Investitionen in gesellschaftliche Akzeptanz‘ nicht systematisch von anderen Investitionen. Auch bleibe hier nicht unerwähnt, dass beispielsweise der Vertreter des Stakeholder-Ansatzes schlechthin, R. E. Freeman64, mit großer Selbstverständlichkeit die verschiedenen Ansprüche verschiedener Stakeholder nicht mit den Gewinnansprüchen der Eigentümer auf eine Stufe stellt, sondern stets den Gewinn der Unternehmung im Auge hat (!), auch wenn dies nicht immer deutlich betont wird. Wenn man aber wiederum diese Position vertritt – CSR als Win-WinStrategie, um es neudeutsch auszudrücken –, so ergeben sich Anschlussprobleme: – Was ist, wenn sich ein CSR-Engagement absehbar oder mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht auszahlen würde? Entfiele dann die Verantwortung oder wäre sie geringer? – Nicht wenige durchaus aufgeklärte Menschen interpretieren ein wichtiges Kant-Diktum (mit bewusstem oder unbewusstem Bezug zu Kant) offenbar ___________ 62 Vgl. hierzu v.a. Homann/Blome-Drees (1992), Homann/Lütge (2002), dies. (2005), S. 24 ff., Mack (2010), S. 107–108 u.ö. 63 Siehe hierzu z.B. die zum Stichwort Business Case oben zitierten Autoren. 64 Vgl. als locus classicus Freeman (1984) oder auch Freeman (2004).

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in stark verkürzter Form, nämlich jener, wonach die Handlungen eines Menschen dann, wenn sie (auch) von Eigeninteresse geleitet sind, „keinen moralischen Wert“ haben: Während Kant, auf die Motive achtend, selbstverständlich eigennützigen Handlungen nicht jeglichen Wert absprach – sondern eben „nur“ den moralischen –, so scheint die Wahrnehmung bei vielen kritischen Menschen diejenige zu sein, dass sie dann „keinen Wert“ hätten. Auch wenn dieser für CSR-Aktivitäten von (großen) Unternehmen extrem bedeutsame Punkt hier leider nicht vertieft werden kann, dürfte es auf der Hand liegen, welche Schwierigkeiten sich dann ergeben, wenn die Unternehmung im Sinne eines „Tue Gutes und rede darüber“ ihre Aktivitäten kommuniziert und sich damit in den Augen nicht weniger Rezipienten als eigennütziger Akteur „entlarvt“ (denn, so scheint mancher zu denken, „warum sonst machen sie so lautstark auf sich aufmerksam, statt einfach nur im Stillen Gutes zu tun, wenn es ihnen wirklich um die Sache geht und nicht um Reklame?“). – Oder, und das macht die CSR-Kommunikation nicht einfacher, die Unternehmung sieht sich vor diesem Hintergrund veranlasst, ihr Eigeninteresse herunterzuspielen. Dann jedoch laufen wir Gefahr, Managerinnen und Manager zu Heuchlern zu erziehen. Eine wichtige Forschungsfrage ergibt sich damit: Wie können Unternehmen im offenen (insofern: aufrichtigen) Dialog mit den Stakeholdern das Eigeninteresse nicht (!) herunterspielen und dennoch zumindest auf mittlere Sicht auf Anerkennung durch die Adressaten setzen? Oder wäre es auf mittlere Sicht angebracht, bei CSR-Aktivitäten die ethisch-moralische Konnotation ganz in Frage zu stellen? Der Text von M. Friedman selbst, 1970 publiziert, zeigt sich im Kontext erfrischend aktuell: „In the present climate of opinion, with its wide spread aversion to ,capitalism,‘ ,profits,‘ the ,soulless corporation‘ and so on, this is one way for a corporation to generate goodwill as a by-product of expenditures that are entirely justified in its own self-interest.“ 65

Bei M. Friedman wird der Konflikt zwischen dem Eigeninteresse von Unternehmen und den Ansprüchen der Moral – insofern ähnlich wie später bei K. Homann – über die Spielregeln aufgelöst. Die in der rechtlichen – und bei Friedman, anders als bei Homann66, auch der informellen – Rahmenordnung verkörperten Beschränkungen und Gebote werden allen Marktteilnehmern auferlegt, so dass es eine untergeordnete Rolle spielt, ob sich jemand aus Überzeu___________ 65

Friedman (1970), S. 5. Man denke etwa an die Ermunterung, im Falle unterstellter Gefangenendilemmata „vorläufig zu defektieren“, etwa durch (illegalen) Export von Waffen in Krisengebiete. 66

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gung oder aus Furcht vor Strafe an die geltenden Gesetze und Moralvorstellungen hält. Doch spätestens unter Globalisierungsbedingungen, d.h. wenn die Versöhnung von Eigeninteresse und Moral über die Spielregeln aus systematischen Gründen nicht möglich ist, stellt sich die Frage nach deren Verhältnis zueinander neu. Wird die Unternehmung wie bei Friedman als Vehikel zur Verwirklichung von Stakeholderinteressen aufgefasst, kann sie überhaupt keine eigene Motivation haben. Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt, gibt es jedoch gute Gründe, diesen engen Unternehmensbegriff zu erweitern und von einem Unternehmensinteresse sui generis auszugehen. Diese Konzeptionierung eröffnet überhaupt erst die Möglichkeit, Unternehmen eine, wie auch immer ausgestaltete, Motivation zuzuschreiben. (Die Frage, ob es überhaupt möglich oder sinnvoll ist, die auf Personen gemünzte Gesinnungsethik Kants auf Organisationen anzuwenden, muss schließlich zunächst bejaht werden, bevor der moralische Wert des Unternehmenshandelns von dem Vorhandensein der Achtung vor dem Moralgesetz abhängig gemacht werden kann.)67 Auf der Prämisse einer Unternehmensmotivation aufbauend, scheint es in der CSR-Literatur zwei Lager zu geben. Einige Autoren plädieren für eine Sensibilisierung von Unternehmen für die Möglichkeit und Notwendigkeit, aus einer genuin moralischen Motivation heraus zu handeln. Baumann-Pauly und Scherer (2013) schlagen gar die Anwendung des Kohlberg-Modells über die Stufen moralischer Entwicklung auf Unternehmen vor – im Sinne eines Modells über die Stufen der moralischen Entwicklung von Unternehmen. Andere Autoren wiederum argumentieren dafür, aus deskriptiven oder heuristischen Gründen immer von strategisch eigeninteressiert handelnden Unternehmen auszugehen.68 Wenn er die Betrachtung von Unternehmen als kollektive Akteure befürwortet hätte, wäre Friedman wohl dieser Sichtweise zugeneigt gewesen. Aber das darf an dieser Stelle spekulativ bleiben. 5. Vom Schuster und den Leisten M. Friedman macht einen weiteren Punkt deutlich, der aus der hier vertretenen Sicht unmittelbar an die Idee des Gesellschaftsvertrages und die zu erbringenden Leistungen anknüpft: In einer funktionierenden Demokratie gibt es, ___________ 67 Die Motivation kollektiver Akteure wie Unternehmen könnte dennoch anders interpretiert werden als die Motivation individueller Akteure. Das Zuschreiben von Motivation an Organisationen sollte nach Überzeugung des Verfassers eher als Analogie verstanden werden, die einen heuristischen Zweck erfüllt, denn als metaphysische Aussage. 68 Vgl. Whelan (2013), S. 716–718.

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ökonomisch gesprochen, sehr gute Gründe für eine Arbeitsteilung zwischen den Aufgaben (i) einerseits der Bereitstellung privater („normaler“) Güter und (ii) andererseits der Bereitstellung öffentlicher Güter, zu denen im weiteren Sinne Gesellschaftsgüter, soziale Unterstützung, … einschließlich der Adressierung sogenannter Externalitäten zählen: Für das eine gibt es die Organisationsform der Unternehmung(en), für das andere die demokratische – durch freie, gleiche und geheime Wahlen legitimierte! – Politik. Und dann kann prinzipiell jeder das tun, was er am besten beherrscht. Wohlgemerkt: Damit werden nicht die prinzipielle Reflexion und das Infragestellen einer solchen Arbeitsteilung unter den Bedingungen der Globalisierung abgelehnt.69 Es geht vielmehr darum, nicht vorschnell vom geringer werdenden Einfluss nationalstaatlicher Regelungsfähigkeit darauf zu schließen, dass nunmehr – ausgerechnet – Unternehmen die ‚Kohlen aus dem Feuer‘ holen sollen oder auch nur können. Wir sind also gut beraten, hier Friedman zumindest ernst zu nehmen. Ein Beispiel zur genannten Arbeitsteilung aus dem Friedman-Text ist das folgende: „[The corporate executive] is presumably an expert in running his company – in producing a product or selling it or financing it. But nothing about his selection makes him an expert on [political issues].“70

Wenn also Unternehmen in die gesellschaftliche Pflicht genommen werden, ohne demokratisch legitimiert oder gar besonders dazu befähigt zu sein, so ist dieser Aspekt besonders (selbst-)kritisch zu sehen.71 Auch hier ist für das Risiko von Fehlinvestitionen durchaus die folgende Besonderheit zu bedenken: „The situation of the individual proprietor is somewhat different. If he acts to reduce the returns of his enterprise in order to exercise his ,social responsibility,‘ he is spending his own money, not someone else’s. If he wishes to spend his money on such purposes, that is his right“. 72

Letztlich müssen einzelne Unternehmen eben keineswegs ein Interesse daran haben, öffentliche Güter freiwillig bereitzustellen oder auch nur zu ihrer Bereitstellung beizutragen. Unter Wettbewerbsbedingungen haben sie u.U. sogar Anreize, als Trittbrettfahrer aufzutreten, d.h. vom bereitgestellten öffentlichen Gut ___________ 69

Zu denken wäre beispielsweise an die Beiträge Elinor Ostroms, die sich sehr viel mit der Bereitstellung (lokaler) öffentlicher Güter oder der Lösung von „collective action problems“ durch private Akteure beschäftigt hat. Vgl. z.B. die veröffentlichte und überarbeitete Version ihrer Nobelpreisvorlesung: Ostrom (2010). Ein ähnlicher Grundtenor lässt sich auch hier finden: Sandler, Todd (2004), „Global Collective Action“, Cambridge University Press, Cambridge. Auch J. Wieland ist hinsichtlich globaler Sozialstandards, die er als globale öffentliche Güter konzeptioniert, der Auffassung, dass diese ggf. nicht von staatlichen Akteuren (allein) bereitgestellt werden können; siehe hierzu etwa Wieland (2012), S. 240. 70 Friedman (1970), S. 3. 71 Vgl. bspw. Beckert (2005). 72 Friedman (1970), S. 4.

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zu profitieren, ohne sich an den Kosten zu beteiligen, wie u.a. K. Homann immer wieder betont. Doch auch die branchenweite Koordinierung zur Bereitstellung öffentlicher Güter kennt ihre Grenzen. Nur wenn die Vorteile des öffentlichen Gutes den Mitgliedern der Branche zugutekommen, wird überhaupt der Wille zur Organisation einer Branchenlösung aufgebracht werden. Und wenn dieser Wille da ist, dürften die Unternehmen stets darauf bedacht sein, die Branchenlösung auf ihre vermuteten übereinstimmenden Eigeninteressen zuzuschneiden, nicht aber auf die Belange Dritter oder gar ‚der Gesellschaft‘ insgesamt. D.h. bestimmte öffentliche Güter, die Unternehmen auch kollektiv keine Vorteile bringen, werden ohne altruistische Motive nie durch die Wirtschaft bereitgestellt werden. Oder, anders gesagt: Man sollte sich in der CSR-Bewegung selbstkritisch fragen, ob man hier nicht im Begriff ist, den Bock zum Gärtner zu machen. 6. Die Machtfrage, erneut betrachtet Angesichts zunehmend globalisierter Märkte gibt es nun deutliche Hinweise, dass die Wirkungsmacht nationaler und auch regionaler Politik zur Sicherstellung ethischer Mindeststandards in wirtschaftlichem Handeln eingeschränkt wird. Es sei noch einmal festgehalten, dass daraus aber keineswegs folgt, dass Unternehmen – zumal demokratisch nicht legitimiert – die ggf. entstehenden Regelungslücken qualifiziert und im Sinne der Allgemeinheit füllen können oder auch nur wollen. Sehr wohl ist allerdings denkbar, dass im Sinne einer sauberen Arbeitsteilung zwischen Politik und Wirtschaft die Unternehmungen zu einem politisch definierten (!) und demokratisch legitimierten (!) Ziel angemessene Mittel (!) bereitstellen: ihre Managementqualitäten. Also ihre Fähigkeiten, organisatorische und andere Aufgaben beispielsweise in sich entwickelnden Ländern effizient zu lösen, effizienter jedenfalls als staatliche Verwaltungen.73 Im Sinne einer zu entwickelnden ‚CSR-Checkliste zur Qualitätssicherung der Aktivitäten‘ wäre allerdings auch zu fragen, ob tatsächlich Unternehmen, die ihrerseits im globalen Wettbewerb stehen, die notwendige Macht besitzen, um nachhaltig (!) Aufgaben z.B. in den Produktionsländern wahrzunehmen74:75 ___________ 73

Vgl. hierzu z.B. die Arbeiten J. Wielands. Für Hinweise zu diesem Aspekt – die Grenzen unternehmerischer Macht in der Globalisierung und mögliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung von CSR – dankt der Verfasser insbesondere Matthias Kettner. 75 Neben Wettbewerbsdruck auf horizontaler Ebene könnte zusätzlich auf vertikaler Ebene auch noch die Kooperationsform die notwendige Macht von Unternehmen beschränken. D.h. in globalen Lieferketten, i.e. bei der Kooperation über den Markt, besitzen selbst große Unternehmen mit großen Marktanteilen noch viel weniger Einfluss74

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Wie steht es beispielsweise um die nachhaltige Entwicklung des Schulwesens oder der gesundheitlichen Versorgung, falls die Unternehmung sich in wenigen Jahren veranlasst sehen sollte, sich aus einer Region zurückzuziehen und die Produktion weiter zu verlagern: Endet dann die gesellschaftliche Verantwortung?76

VI. Schlussbemerkung Gegenstand des vorliegenden Beitrages war die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen in Auseinandersetzung mit einem umstrittenen kleinen Magazinbeitrag von M. Friedman. Die wichtigste These lautete im Kern: Die vornehmste Verantwortung eines Unternehmung liegt nicht darin, Gewinne zu erzielen. Dies würde auf gesellschaftlicher Ebene eine Verwechslung von Leistungen und Gegenleistungen implizieren. Sondern darin, nachhaltigen Erfolg am Markt mit fairen Mitteln anzustreben. Vor diesem Hintergrund – und nur vor diesem Hintergrund – lassen sich überzeugende CSR-Maßnahmen konzeptionell sauber und widerspruchsfrei entwickeln. Dabei erweist sich der – häufig negativ zitierte, möglicherweise weniger häufig gelesene – Artikel durchaus als ‚Quelle der Inspiration‘ für wichtige Kriterien nachhaltig erfolgreicher CSR-Maßnahmen. Einige davon führt der Beitrag auf, die Liste bleibt notwendigerweise vorläufig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Literatur Aßländer, Michael (Hrsg.) (2011): „Handbuch Wirtschaftsethik“, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart. Aßländer, Michael/Nutzinger, Hans (2010): „Der systematische Ort der Moral ist die Ethik! Einige kritische Anmerkungen zur ökonomischen Ethik Karl Homanns“, Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik, 11. Jg., Nr. 3, S. 226–248.

___________ möglichkeiten als integrierte Unternehmen. Vgl. etwa Williamson (2002). Hinzu kommt noch die Kompetenzverteilung zwischen Politik und Wirtschaft. D.h. eigentlich können Unternehmen oft nur auf sehr fragwürdigem Wege die Macht erlangen, die für den Erfolg von CSR-Maßnahmen nötig ist, nämlich (1) durch die Ausschaltung des Marktmechanismus, (1a) durch die vertikale Integration von Lieferanten (Williamson) (1b) durch die horizontale Integration von Konkurrenten (Monopolbildung), (2) durch die Ausschaltung politischer Akteure, (2a) durch die Übernahme politischer Verantwortung im politischen Vakuum, (2b) durch zivilen Ungehorsam im Falle wahrgenommener politischer Ungerechtigkeiten, (2c) durch die Übernahme politischer Macht gegen den Willen ungerechter Machthaber (Putsch). 76 Pragmatisch könnte man hier vielleicht antworten, dass häufig schon viel erreicht werden kann, wenn – wie das durch zahlreiche Unternehmen offenbar bereits geschieht – in diesem Sinne ein Anfang gemacht wird.

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Bei Friedman nichts Neues: Anmerkungen zu einem falsch verstandenen Klassiker der CSR-Diskussion – Korreferat zu Detlef Aufderheide – Von Thomas Hajduk

I. Einleitung In seinen Gedanken „Über Schriftstellerei und Stils“ schreibt Arthur Schopenhauer zu „nachgeahmten, d.h. halbgestohlenen Titel[n]“, sie seien der „bündigste Beweis des allertotalsten Mangels an Originalität“.1 Dasselbe lässt sich über die Marotte sagen, Beiträge zu der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen mit einem Verweis auf Milton Friedmans Magazinbeitrag von 1970, in der Regel zitiert als „The Social Responsibility Of Business ls to Increase lts Profits“, zu beginnen, und sei es nur, um den thesenartigen Titel sofort zu verwerfen. Nicht selten ist von Seminararbeiten, Artikeln, ja ganzen Büchern, die so anfangen, so viel zu erwarten wie von nachgeahmten Titeln: ein Mangel an Originalität, der sich in einem Wiederkauen bekannter Argumente ausdrückt. Umso erfreulicher ist es, dass Detlef Aufderheide sich in seinem Beitrag die Mühe macht, Friedmans Text, der vermutlich der am häufigsten zitierte der internationalen wirtschaftsethischen Debatte ist2, einer genaueren, offenen Lektüre zu unterziehen. Dies ist allein deswegen schon begrüßenswert, weil der Autor Friedmans Text überhaupt gelesen hat und dies auch noch unvoreingenommen tat, also weder als „Marktradikaler“ noch als „CSR-Bewegter“3. Dabei kommt er jedoch zu einer überraschenden These: Die Ausführungen des ___________ 1

Vgl. Schopenhauer (1862), S. 540. Google Scholar gibt für eine immer wieder zitierte elektronische Fassung eines Wiederabdrucks bei Springer (vgl. Friedman 2007) eine Zitation durch 8.640 Autoren an, eine außerordentlich hohe Zahl für einen wirtschaftsethischen Text (abgerufen am 25.10.2014). 3 Im Folgenden werden des Lesbarkeit halber die Begriffe „gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen“, „Corporate Social Responsibility“ (CSR) und „Social Responsibility“ synonym benutzt, ohne damit die Bedeutungsvielfalt der Begriffe zu verneinen. 2

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„Buhmanns“ Friedman könnten „dazu beitragen, den nachhaltigen Erfolg (!) der CSR-Bewegung zu erleichtern (!)“4, sofern seine Kritikpunkte reflektiert beantwortet statt pauschal abgelehnt würden. Dann wäre Friedmans Beitrag nicht länger ein „klarer Fall für den akademischen Giftschrank der CSRBewegung“5, sondern „Quelle einer – nunmehr konstruktiven (!) – Kritik an der CSR-Bewegung“6. Wie diese konstruktive Kritik aussieht, zeigt Aufderheide in seinen klugen, den Stand der aktuellen Diskussion widerspiegelnden Bemerkungen und Fragen, die er in Anschluss an ausgewählte Aussagen Friedmans formuliert. Es ist gute Praxis, historische Texte neu zu lesen und nach ihrem Erkenntniswert für die Gegenwart zu fragen. In diesem Sinne kann Friedmans Text als „Reflexionsfläche und ‚Checkliste zur CSR-Qualitätssicherung‘“7 betrachtet werden. Doch ehe eine solche Interpretation des Textes erfolgt, sollte der Beitrag als das gelesen werden, was er auch und zuvörderst ist: ein zeitgenössischer Beitrag aus dem Jahr 1970. Aus dieser historischen Sicht zeigt sich, dass der Artikel keinesfalls als Grundlagentext für eine entstehende „CSR-Bewegung“ geschrieben wurde und nur bedingt als Klassiker zu verstehen ist. Das Ziel dieses Koreferats ist es, Aufderheides Interpretation des Friedmanschen Textes durch eine weitere Lesart zu kontrastieren und damit zu ergänzen. Der Grund dafür ist kein geschichtswissenschaftliches L’art pour l’art. Die Popularität des Friedmanschen Texts – und zwar nicht im Sinne einer offenen Lektüre, wie sie Aufderheide betreibt, sondern als Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung zwischen CSR-Bewegten und ihren Kritikern – ist erklärungsbedürftig. Denn ist es nicht erstaunlich, dass ein nunmehr 44 Jahre alter Magazinbeitrag so häufig zitiert wird, obwohl zwischenzeitlich eine immense Entwicklung in der Praxis wie der Diskussion gesellschaftlicher Verantwortung zu verzeichnen ist? Waren Friedmans These und Argumentation so brillant, so treffend, dass wir uns noch heute immer wieder an ihr abarbeiten müssen, ehe wir uns modernen Theorien und Debatten zuwenden dürfen? Die „Friedman-Doktrin“ (s.u.), so meine These, ist vor allem ein ideologischer Beitrag zu den Debatten der späten 1960er Jahren und sollte zuallererst als solcher verstanden werden, ehe aktuelle Aussagen abgeleitet werden.8 Dem ___________ 4

Aufderheide (2014), S. 64. Aufderheide (2014), S. 64. 6 Aufderheide (2014), S. 67. 7 Aufderheide (2014), S. 67. 8 Die Absicht, die hinter dieser These und der mit ihr einhergehenden historischen Betrachtung steht, ist es nicht, Friedman als „stock-konservativen“ Wissenschaftler zu desavouieren und seine Ideen damit zum Abschuss der Empörung freizugeben. Friedmans Tätigkeit als Wirtschaftsberater für den chilenischen Diktator Augusto Pinochet im Jahr 1975 war schon zu Lebzeiten des Ökonomen stark umstritten, ist aber keine hilf5

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Text den Rang eines Klassikers zuzubilligen – als welche etwa Adam Smiths „Wealth of Nations“ und in der Tat auch Friedmans „Capitalism and Freedom“ gelten – hieße doch, einen Beitrag ein weiteres Mal zu nobilitieren, der die Wirtschafts- und Unternehmensethik in eine defensive Rolle drängt. Es bedeutete, all jenen das Wort zu reden, die ethischen Fragen in der Wirtschaft skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen und die den Schwarzen Peter der Begründungslast eigener Annahmen und Glaubenssätze an die Kritiker weiterreichen statt auf die Kritik konstruktiv einzugehen. Eben diese ideologische Klarheit der Friedman-Doktrin macht sie auch heute noch so beliebt unter den CSRKritikern, die teilweise nicht müde werden sie stumpf zu wiederholen, als sei sie eine zeitlos gültige Wahrheit.9 Wie in der folgenden Quellenkritik zu zeigen ist, ist die Friedman-Doktorin das Gegenteil: ein zugespitzter Gegenwartskommentar zu einer zeitgenössischen Debatte.

II. Die Friedman-Doktrin: ein Beitrag zur Systemfrage Es liegt nahe, einen Text, der 44 Jahre alt ist, anders zu betrachten als einen aktuellen Artikel. Die Welt, in der Friedman zu seiner Kritik an den Verfechtern gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen ansetzte, existiert nicht mehr. Sie ist vor allem weit entfernt von der Lebenswelt heutiger Studenten, die in jedem Einführungskurs zu „Corporate Social Responsibility“ oder Wirtschaftsethik den Magazinbeitrag lesen oder referieren müssen (gewiss ohne historische Einleitung). Um diese Unterschiede und ihre Implikationen zu verdeutlichen, erfolgt im Weiteren eine kurze äußere und innere Quellenkritik des Artikels. Mit diesem Begriff bezeichnen Historiker eine Analyse, die sowohl die äußeren Entstehungs- und Überlieferungskontexte als auch die Bedeutungsinhalte eines Textes aus ihrer Zeit heraus zu verstehen und erklären versucht. 1. Äußere Quellenkritik Es ist tatsächlich bemerkenswert, dass ein so viel zitierter Text der wirtschaftsethischen Diskussion ausgerechnet aus einem Magazin stammt, das seit 1896 sonntäglich zunächst als Bestandteil der und später als Dreingabe zur New York Times erschienen ist. Friedman entschied sich indes aus gutem Grund für ein so populäres Forum. Seit den späten 1960er Jahren mehrten sich ___________ reiche Leseanleitung für seinen fünf Jahre zuvor geschriebenen Text; dieser ist unabhängig davon zu interpretieren. Hier ist Aufderheide (2014), S. 64 zuzustimmen. 9 Vgl. Henderson (2001), auf dem auch das erste, sehr kritische CSR-Dossier des Economist basiert, vgl. Crook (2005). Jüngster schaler Aufguss der Friedmanschen These, ohne deren Urheber zu nennen: Karnani (2010).

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Zweifel und Kritik an Großunternehmen.10 Gewerkschaften spürten als erste die Entstehung multinationaler Unternehmen (MNU), die Mitte der 1960er Jahren von ersten Ökonomen wie Raymond Vernon als neues Phänomen erkannt und untersucht worden waren.11 Die neuen, transnational mobilen Großunternehmen bedrohten in den USA das harmonische Beziehungsdreieck zwischen Big Government, Big Business und Big Labor, das für gut zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg für Stabilität und Wachstum gesorgt hatte, einer Zeit also, die als das „Golden Age of Capitalism“ bekannt war. Aber auch Politiker in den USA und in Westeuropa reagierten skeptisch auf die Macht der „Multis“, die sich im aufkommenden Standortwettbewerb ausdrückte. Auf den Straßen der westlichen Hauptstädte protestierte dieweil ein Teil der Jugend gegen die althergebrachte (Wirtschafts-)Ordnung und flirtete mit marxistischen und Interdependenzansätzen, die – anders als heute – nicht rein gedankliche Alternativen zu marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnungen waren. Denn 1970 gab es eine sozialistische Systemalternative im Herrschaftsgebiet der Sowjetunion, von der noch niemand ahnen konnte, dass sie 20 Jahre später kollabieren würde. Neben dieser „Zweiten Welt“ bzw. dem „Ostblock“ gab es noch die „Dritte Welt“ bestehend aus den „blockfreien Staaten“. Diese vorwiegend afrikanischen und südamerikanischen Länder, die teilweise erst wenige Jahre zuvor aus der Kolonialherrschaft entlassen worden waren, begannen Ende der 1960er Jahre lautstark nach globaler Gerechtigkeit zu rufen und brachten über das UNOSystem Forderungen nach einer Neuordnung der globalen Handelsbeziehungen ein, die in der Verabschiedung der beiden Resolutionen zur „New International Economic Order“ ihren Höhepunkt finden sollten.12 Milton Friedman war 1970 bereits seit 24 Jahren ein bekannter Ökonomieprofessor und öffentlicher Intellektueller an der University of Chicago, wo er einer der wichtigsten Vertreter der neoklassischen „Chicago School of Economics“ und damit eines ökonomischen Liberalismus war.13 Dass die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen nicht kompatibel mit seiner Anschauung – sowohl ideologisch wie theoretisch – war, hatte Friedman bereits in seinem Werk „Capitalism and Freedom“ klar gemacht.14 Allerdings sprach er 1962 das Thema CSR nur am Rande an und dürfte damit die ersten Autoren aufs Korn genommen haben, die die aus seiner Sicht „fundamentally subversive ___________ 10

Vgl. Hajduk (2013) für eine ausführlichere Darstellung. Vernon leitete von 1965 bis 1977 das „Multinational Enterprise Project“ der Harvard Business School. Das Forschungsprojekt war der erste empirisch umfassende Versuch, sich dem neuen Phänomen der MNU zu nähern, das bis dahin wenig beachtet worden war. Vgl. auch die bekannteste Publikation des Projekts, Vernon (1971). 12 Vgl. Sagafi-Nejad und Dunning (2008). 13 Vgl. Jones (2012) für eine aktuelle Darstellung. 14 Vgl. Friedman (1962), S. 133. 11

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doctrine [of social responsibility]“ vertraten, wie etwa Howard R. Bowen oder William C. Frederick.15 Doch waren die 1950er und frühen 1960er Jahre eine Zeit, in der mehr über CSR geredet (oder besser: gedacht) als gehandelt wurde.16 Dies änderte sich erst in den späten 1960er Jahren, was wiederum Friedman angeregt haben dürfte, sich dem Thema CSR in einem eigenen (aber nicht eigenständigen, sondern die Passage in „Capitalism and Freedom“ explizierenden) Beitrag zu widmen. Wer sich die Mühe macht, Friedmans Artikel im New York Times Magazine im Original zu lesen, also nicht als digitales Transkript oder als Wiederabdruck, der kann den zeitgenössischen Bezug unschwer übersehen.17 Direkt auf den ersten beiden Seiten sind neun Portraits abgebildet: Unter dem Vorstandsvorsitzenden von General Motors (GM), James Roche, sind acht Aktivisten zu sehen, die führende Köpfe der „Tame G.M.!“-Kampagne waren. Wie die Bildunterschrift verrät, verlangten Vertreter der Kampagne auf einem Aktionärstreffen im Mai 1970, dass GM drei neue Vorstände einstellen, die das Allgemeinwohl („public interest“) vertreten würden, und ein Komitee ins Leben rufen solle, das die Leistung des Unternehmens in diesem und dem Umweltbereich untersuchen würde.18 Obwohl die GM-Aktionäre diesen Vorschlag mit klarer Mehrheit abgelehnt hatten, schuf das Management als Reaktion auf die Kampagne ein „public-policy comittee“, dem fünf Vorstände angehörten. 1970 war GM der größte Automobilhersteller der Welt und eines der größten MNU der Welt; die „Tame G.M.!“-Kampagne genoss eine entsprechend hohe Aufmerksamkeit, auch die Milton Friedmans, der sich dazu in einer der bekanntesten Medien der populär-intellektuellen Debattenkultur der USA zu Wort meldete. 2. Innere Quellenkritik Ein Grund für die vorwiegend ahistorische Lektüre von Friedmans Text liegt darin, dass man ihn wie einen aktuellen Artikel lesen und die darin enthaltenen Thesen diskutieren kann. Die Sprache des Autors ist uns noch nahe genug, um kein Befremden und keine historische Distanz bei der Lektüre zu verspüren. Liest man den Text jedoch dem Historiker gleich als Quelle und fragt, was er ___________ 15

Friedman (1962), S. 133; vgl. ferner Bowen (1953) und Frederick (1960). Vgl. Carroll (2008), S. 26, 28. 17 Es ist übrigens für die Rezeptionsgeschichte des Artikels bezeichnend, dass er praktisch nie im Original zitiert wird, wenn überhaupt mehr als der Titel zitiert wird (und auch dieser wird verkürzt wiedergegeben). Das dürfte nicht allein an der schwierigen bzw. kostenpflichtigen Beschaffung des Texts liegen, sondern kann durchaus auch als Zeichen eines mangelnden historischen Bewusstseins in der CSR-Literatur gewertet werden. 18 Vgl. Friedman (1970), S. 32. 16

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über seinen Urheber und dessen Zeit sagt, so ist auch hier der zeitgebundene Debattencharakter nicht von der Hand zu weisen. Bereits in der Überschrift, die nie vollständig zitiert wird, wird dies allzu deutlich: „A Friedman doctrine – The Social Responsibility of Business Is to Increase Its Profits“19. Eine Doktrin, also eine „Lehre“, erhebt Anspruch auf Allgemeingültigkeit und ist eher in der Politik und der Religion denn der Wissenschaft vorzufinden, wo in diesem Zusammenhang das Wort These zu erwarten wäre. In dem Magazinartikel bezieht sich die „Friedman-Doktrin“ direkt auf die Formulierung einer „doctrine of social responsibility“20, gegen die sich der Autor wendet. Der Leserschaft – die in dieser Zeit mit so mancher (außen-)politischen Doktrin konfrontiert war – wurde also bereits mit der Überschrift signalisiert, dass es hier nicht um intellektuelle Spiegelfechterei, sondern die handfeste (Lehr-)Meinung eines bekannten Ökonomen geht. Das Versprechen der Überschrift wird in dem ideologischen Rahmen eingelöst, der den Artikel einleitet und beendet. Gleich im ersten Absatz, in dem der Intellektuelle Friedman die nicht minder intellektuelle Leserschaft der New York Times mit einem subtilen Verweis auf Molierés Komödie „Le Bourgeois gentilhomme“ umschmeichelt, tritt der Kalte Krieger Friedman auf. Manager, die sich mit gesellschaftlichen Zielen ihrer Unternehmen beschäftigten, würden „pure and unadulterated socialism“ predigen und seien ahnungslose Marionetten intellektueller Kräfte, die seit Jahrzehnten die Grundlage einer freien Gesellschaft unterliefen.21 Die CSR-Bewegung wird somit sogleich als „sozialistisch“ stigmatisiert und ist damit per se indiskutabel. Eine konstruktive Kritik an CSR würde anders beginnen. Es zeigt sich hier die Nähe zu „Capitalism and Freedom“ und damit Friedmans generellem Verständnis der Gesellschaft, das er gegen die kollektivistischen Gesellschaftsentwürfen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Ideologie der Sowjetunion in Stellung bringt. Im Sozialismus wurden die wirtschaftlichen Produktivkräfte mittels Planwirtschaft gänzlich einer politischen Zielsetzung unterworfen. Friedman dagegen plädiert für eine klare Trennung zwischen Wirtschaft und Regierung. Aus dieser weltanschaulichen Sicht wirkt die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch Unternehmen wie eine Vermischung der politischen und wirtschaftlichen Sphäre und damit wie ein Schritt Richtung Sozialismus. Dies aber würde die Grundlagen einer freien Gesellschaft verletzten, erinnert Friedman die Leser auf der letzten Seite des Artikels und tadelt zeitgenössische Unternehmenslenker für die Kurzsichtigkeit, mit ___________ 19

Vgl. Friedman (1970), S. 32. Vgl. Friedman (1970), S. 33. 21 Vgl. Friedman (1970), S. 33. Die Begriffe „social“ und „socialism“ sind noch heute politische Kampfvokabeln der amerikanischen Konservativen und insbesondere deren Tea Party Bewegung. 20

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der sie Profitstreben unmoralisch nennen und auf externe Kontrollen pochen würden.22 Das Ergebnis solcher Kontrollen sei nicht „the social consciences, however highly developed, of the pontificating executives“, sondern: „the iron fist of Government bureaucrats”.23 Um keine Zweifel an der Stoßrichtung seiner Doktrin zu lassen, rekurriert Friedman abschließend explizit auf die Grundidee aus „Capitalism and Freedom”: Er könne keinen Unterschied zwischen gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen und „the most explicitly collectivist doctrine“ erkennen, bis auf den, dass sie glaube: „collectivist ends can be attained without collectivist means“.24 Eine konstruktive Kritik an CSR würde anders enden.

III. Fazit: Caveat emptor Man mag fragen, was mit diesen Ausführungen gewonnen ist, die Friedmans Argumente, denen sich Aufderheide ausführlich gewidmet hat, ausgespart haben. Ein besseres Verständnis für die historische Dimension des Beitrags, lautet die Antwort, die vor allem jenen gilt, die den Text lediglich als das wiederholen, als was er schon 1970 veröffentlicht wurde: ein ideologisches Statement, damals gegen den realen und eingebildeten Sozialismus gerichtet, heute gegen staatliche Eingriffe in die Freiheit von Unternehmen.25 Diese „Käuferwarnung“ an die Leser des Artikels sollte der Auseinandersetzung mit Friedman vorangehen, allzumal in universitären Seminaren. Nicht, um Friedmans Ideen von vorneherein zu disqualifizieren, sondern um die Friedman-Doktrin zunächst als einen historischen Referenzpunkt in der Entwicklung des CSR-Begriffs (in den USA) zu verstehen. Aus dieser historischen Sicht gehen schließlich auch alternative Lesarten der Friedmanschen Argumente hervor, von denen hier nur wenige umrissen werden können. So ist etwa die Aussage, dass nur Individuen Verantwortungsträger sein könnten, schlicht überholt.26 Wie oben erwähnt steckte 1970 die Forschung zu MNU in den Kinderschuhen und Friedman gehörte nicht zu denjenigen Pioniere, die sich mit diesem neuen Phänomen auseinandersetzten. Seine Aussage ___________ 22

Vgl. Friedman (1970), S. 124 f. Friedman (1970): S. 125. 24 Vgl. Friedman (1970), S. 125. 25 Die „ingroup-outgroup polarization“ ist ein zentrales Merkmal von Ideologien (vgl. van Dijk (2006), S. 124) und äußert sich in der historischen und aktuellen CSRDebatte als nicht enden wollender Streit zwischen Anhängern „freiwilliger“ und (gesetzlich) „verpflichtender“ CSR-Konzepte, vgl. exemplarisch die Stellungnahme von BDA (2013) und CorA (2013) zu der Einführung der Berichtspflicht von nichtfinanziellen Informationen. 26 Vgl. Friedman (1970), S. 33. 23

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ist daher allenfalls als eine damals noch vertretbare (Lehr-)Meinung zu werten; als Prämisse trifft sie heute nicht mehr zu. Nicht nur ist empirisch zu beobachten, dass Unternehmen tatsächlich Rechte und Pflichten haben – man beachte nur das Urteil zu „Citizens United v. Federal Election Commission“ von 2010, das u.a. Unternehmen ein Recht auf freie Meinung zuspricht, oder die Verabschiedung der ISO 26000 Norm im selben Jahr, die gerade die Verantwortung von Organisationen definiert. Auch der wissenschaftliche Diskurs hat sich weiterentwickelt; die Prämisse organisationaler Verantwortung liegt Konzepten wie „political CSR“ oder der Literatur zu Wirtschaft und Menschenrechten zugrunde und genießt heute eine breite Akzeptanz.27 Auch die vorbehaltlose Übernahme bestimmter Begriffe ist mit Vorsicht zu genießen, da diese dem Bedeutungswandel unterzogen sind. Wenn Friedman etwa die „ethischen Sitten“ eines Landes nennt, die von Unternehmen zu beachten seien, dann wären in den USA des Jahres 1970 damit auch die Bestechung ausländischer Mandatsträger28 und – in großen Teilen der Wirtschaft – Investitionen in Apartheid-Südafrika als legitim zu erachten.29 Selbst scheinbar neutrale Worte wie „Regierung“ sind nicht äquivalent mit dem heutigen Sprachgebrauch. Es mag sein, dass Republikaner oder die Anhänger der Tea Party Friedmans negative Vorstellung einer „eisernen Faust von Bürokraten“ teilen; in den USA der Demokraten und insbesondere Europa gibt es differenziertere Ansichten und damit auch andere Vorstellungen über das Verhältnis von Politik und Wirtschaft, das in Friedmans Text eine zentrale Rolle einnimmt. Man denke nur an die treibende Rolle von Staaten wie Dänemark, Deutschland oder Frankreich sowie der Europäischen Union, wenn es um die Institutionalisierung von CSR in Europa geht. Friedmans Text ist auch hier anachronistisch. ___________ 27

Vgl. Scherer/Palazzo/Matten (2013) und Wettstein (2012). Fünf Jahre nach dem Erscheinen des Artikels sollte ein großer Bestechungsskandal die USA beschäftigen; Berichte der Stock Exchange Commission hatten aufgedeckt, dass ein Großteil der Fortune 500 Unternehmen ausländische Beamte und Politiker bestochen hatte (vgl. Kugel/Gruenberg 1977). Dieser Skandal führte zur Verabschiedung des Foreign Corrupt Practices Act von 1977, ein weltweit einmaliges Gesetz, auf dessen Grundlage 2008 auch Siemens für seine weltweiten Bestechungsvorfälle zu einer Strafe von 450 Millionen USD verurteilt wurde. 29 Die Legitimität von Direktinvestitionen in Südafrika wurde ab Mitte der 1970er Jahre kontrovers diskutiert. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Friedmans Text sich gegen Maßnahmen des GM-Managements richtete, die 1971 zur Wahl von Rev. Leon Sullivan in den Vorstand führten. Der erste Afroamerikaner in einem solchen Amt entwickelte die 1977 vorgestellten Sullivan Principles, einen bei US-Unternehmen populären Verhaltenskodex, der Direktinvestitionen in Südafrika unter der Bedingung guthieß, dass die Unterzeichner rassistisch motivierte Diskriminierung vermieden. Der Kodex gilt als eine der frühesten internationalen CSR-Initiativen (vgl. Sethi/Williams 2000). 28

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Abschließend bleibt festzuhalten, dass eine offene, auf genauer Lektüre basierende Auseinandersetzung mit Friedmans Text wünschenswert ist. Aufderheide hat in seiner Interpretation des Textes exemplarisch gezeigt, wie man die Friedmanschen Argumente zum Ausgangspunkt aktueller Überlegungen über die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen machen kann. Dabei – und dafür habe ich in diesem Koreferat plädiert – sollte man jedoch klären, wer hier eigentlich spricht: Friedman oder seine Interpreten? Die historische Interpretation des Textes lässt zweifeln, ob Friedman sich in der Rolle als konstruktiver Kritiker der CSR-Bewegung wiedergefunden hätte. Klar dagegen ist, dass der Text auch in Zukunft viel diskutiert wird und noch viele (Studenten-)Generationen beschäftigen wird. Mit Aufderheide empfehle ich einen unvoreingenommenen Blick auf den Text – allerdings nach einer angemessenen Historisierung des Beitrags.30 Literatur Aufderheide, Detlef (2014): in diesem Band. Bird, Frederick (2009): Why the Responsible Practice of Business Ethics Calls for a Due Regard for History, in: Journal of Business Ethics 89, S. 203–220. Bowen, Howard Rothmann (1953): Social Responsibilities of the Businessman, 1. Aufl., New York. Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) (2013): Stellungnahme der deutschen Arbeitgeber zum Richtlinienvorschlag zur Offenlegung von Informationen nichtfinanzieller Art und zu Diversity, Berlin. Link: http://www.arbeitgeber.de/ www%5Carbeitgeber.nsf/res/BDA_Diversity.pdf/$file/BDA_Diversity.pdf (zuletzt abgerufen am 10.11.2014). Carroll, Archie B. (2008): A History of Corporate Social Responsibility. Concepts and Practices, in: Crane, Andrew/McWilliams, Abagail/Matten, Dirk/Moon, Jeremy/Siegel, Donald (Hrsg./2008): The Oxford Handbook of Corporate Social Responsibility, Oxford, S. 19–46. Carroll, Archie B./Goodpaster, Kenneth E./Lipartito, Kenneth J./Post, James E./ Werhane, Patricia H. (2012): Corporate Responsibility. The American Experience, Cambridge. Corporate Accountability – Netzwerk für Unternehmensverantwortung (CorA) (2013): Stellungnahme zum Vorschlag der EU-Kommission zur Offenlegung von nichtfinanziellen Informationen durch Unternehmen COM (2013) 207, Berlin. Link: http://www.cora-netz.de/cora/wp-content/uploads/2013/12/Stellungnahme-ECCJ-und -CORA_Vorschlag-der-KOM_Offenlegungspflichten_2013-10.pdf (zuletzt abgerufen am 10.11.2014).

___________ 30 Für den Wert historischer Betrachtungen spricht sich auch Frederick Bird (2009) aus, und mit ihrer Geschichte der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen in den USA haben führende Unternehmensethiker wie Carroll, Goodpaster und Werhane einen empirisch bedeutenden Schritt in diese Richtung unternommen (vgl. Carroll et al. 2012).

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Thomas Hajduk

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Unternehmensverantwortung in der Sozialen Marktwirtschaft1 – Korreferat zu Detlef Aufderheide – Von Elmar Nass „Schon 1972 notierte von Nell-Breuning kritisch zur katholischen Soziallehre: ‚Die Schlüsselfigur heutiger Wirtschaft, der Unternehmer, scheint ihr unbekannt zu sein‘. Mehr als dreißig Jahre später gähnt, abgesehen von wenigen Ausnahmen, in puncto Unternehmensethik nach wie vor ein dunkles Loch im Bereich der christlichen Sozialethik.“2 Dieses Loch zu schließen, setzt bei einer Unternehmensverantwortung an, die der Grundidee Sozialer Marktwirtschaft entspricht. Denn diese beruht selbst weitgehend auf christlichen Wurzeln. Ziel dieses Beitrags ist keineswegs, die christliche als die einzig zulässige Unternehmensethik im Sinne Sozialer Marktwirtschaft zu behaupten,3 sondern sie für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit konkurrierenden Modellen zu rüsten.

I. Intuition allein genügt nicht Es füllen sich die Bibliotheken mit zahllosen Büchern zu Corporate Governance, Unternehmensethik und CSR. Da liegt die Vermutung doch nah, hier ließe sich wohl irgendwo eine Theorie finden, die an christliche Sozialethik anschlussfähig sei. Diese Suche gestaltet sich aber vor allem deshalb schwierig, weil sich viele Leitfäden für die Praxis mit Tipps zum guten unternehmerischen Verhalten finden, doch ohne wissenschaftlich schlüssige Systematik.4

___________ 1

Vereinbarungsgemäß ist dieser Beitrag nicht als klassisches Korreferat, sondern als komplementäre Erweiterung zum Thema ‚Marktverantwortung von Unternehmen‘ konzipiert. 2 Schramm (2007), S. 46. 3 Dazu bietet sich etwa auch der neoaristotelische Ansatz von Amartya Sen an. Vgl. Nass (2006), S. 195–241. 4 Vgl. Neuberger (62002).

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Auf der einen Seite wird dabei unternehmerische Verantwortung vor allem zum Zweck struktureller Optimierungsprozesse von Organisationen verstanden McKinsey u.a.), Reinhard Sprenger stellte Ende der Neunziger Jahre in seinen narrativen Bestsellern die Erfolgsrezepte eigenverantwortlicher Führung heraus und warnte vor zu viel Mitarbeiterlob im Unternehmen. Fredmund Malik subsummiert in ähnlichem Stil erwünschte Führungseigenschaften zum Zweck optimierter Humanressourcen. Dem harten Ziel der Leistungsoptimierung werden dabei sekundäre weiche Unternehmenskulturziele untergeordnet: etwa die Schaffung eines Klimas von Vertrauen, Stärkung von Loyalität und Identifikation, in der Qualifikation von Mitarbeitern das Augenmerk auf eine Schwächung der Schwächen und insgesamt ein positives Denken. Persönlichkeitsbildung ist dann Instrument des wirtschaftlichen Erfolgs: „Wesentlich ist nicht wie die Menschen sind, sondern wie sie handeln: nicht das Sein ist entscheidend, sondern das Tun.“5 Theoretisch ließen sich solche Modelle wohl rückbinden an eine ökonomische Unternehmensethik im Sinne Karl Homanns und seiner Schüler, nach der die Logik des Homo oeconomicus sowohl für die Gestaltung der marktrelevanten Regeln eines Unternehmens als auch für die individuelle Motivation zu den Spielzügen im Unternehmen Moral überflüssig macht und Ethik durch Ökonomik ersetzt.6 Dagegen finden sich ebenso viele Empfehlungen, die sich mit einer Abkehr vom Eigennutzdenken als Kritik an einem solchen Verständnis der Unternehmensethik verstehen. Dazu zählen vor allem im US-amerikanischen Kontext erfolgreiche Ansätze des so genannten Servant Leadership, die nun langsam auch in Europa Fuß fassen.7 Inspiriert durch Hermann Hesses ‚Morgenlandfahrt‘ entwarf der Unternehmer Robert Greenleaf (1904–1990) die Vision einer dienenden Grundhaltung von Führungskräften und übertrug diese Unternehmenskulturidee sogar auf die Rolle der USA in der Welt. Evangelikale Weiterentwicklungen wie die von Ken Blanchard, Phil Hodges oder Ken Jennings stellen ein solches Führungsverständnis unter das Motto ‚Lead like Jesus‘. Hier werden mit intuitiven Bibelbezügen wieder Grundsätze und Tugenden aneinandergereiht, wie ‚Heart, head, hands and habit‘, womit die rechte Motivation, das Vorhandensein einer Vision wie ein entschlossenes Handeln mit spirituellem Charisma gemeint sind; oder etwa die Tugenden des Wegbereiters, des visionären Leistungsmotivators o.a. Die säkulare Version von James Sipe und Don Frick bietet eine Matrix mit 21 Führungskompetenzen, die in 7 Kategorien eingeteilt sind (Kommunikator, Teamarbeiter, moralische Autorität, systematischer Denker, Charakterstärke, Weitblick, den Menschen zuerst in den Blick nehmen). So praktisch all diese Kataloge sein mögen, es fehlt auch ihnen bis___________ 5

Malik (2007), S. 79. Vgl. Homann/Bloome-Drees (1992) sowie zur Deutung Nass (2003). 7 Vgl. zu einer Übersicht Hartmann (2013). 6

Unternehmensverantwortung in der Sozialen Marktwirtschaft

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lang eine systematische Grundlegung. Für die säkularen Varianten bietet sich hierzu womöglich der Anschluss an die ausdrücklich metaphysikfreie integrative Wirtschaftsethik Peter Ulrichs an, die mit kantischem Anspruch den Primat des Ethischen gegenüber dem Ökonomischen transzendental einführt und für die Implementierung diskursethische Prozesse vorschlägt.8 Für ausdrücklich christliche Varianten liegt bislang keine daran anschlussfähige, hinreichend profilierte unternehmensethische Systematik vor. Der evangelische Theologe Matthias Hartmann sucht wohl auch deshalb in seiner Vorstellung des ‚Servant Leadership‘ für diakonische Unternehmen Anschluss an die integrative Theorie. Ein ausdrücklich christliches Verantwortungsmodell, welches konsistent Systematik und Praxeologie vereint, könnte sich methodisch ein Beispiel nehmen an dem anthroposophischen Unternehmenskonzept der Drogeriemarktkette dm, wie es dort von Götz Werner auf der theoretisch sauber erarbeiteten Grundlage eines weltanschaulich transparent gemachten Menschenbildes9 mit wirtschaftlichem Erfolg konsequent umgesetzt wurde. Ausgehend von der Idee der irdisch aufgegebenen Selbsterlösung des Menschen geht es darum, Führungskräfte zu Evokatoren der dem Menschen innewohnenden Kreativität zu machen. Eine Kultur des Mitunternehmertums der Mitarbeiter führe auf der Grundlage innerer Ausgeglichenheit zu einer hohen Identifikation mit sich und dem Unternehmen. Der wirtschaftliche Erfolg ist als das daraus abgeleitete Ziel zu verstehen, dem die so genannte Veredelung jedes Menschen nicht geopfert werden darf. Auf dieser Grundlage kann Götz Werner für eine am anthroposophischen Menschenbild stimmig ausgerichtete Unternehmensethik eine Kultur beschreiben, die intuitiv dem christlichen Gedanken nahe steht: „Zwischen der Durchführung einer Weisung und einem Handeln aus einer Einsicht ist von außen kaum ein Unterschied zu sehen. Auf diesen Unterschied aber kommt es entscheidend an.“10 Da Intuition aber nicht reicht, wird es im Folgenden um einen ersten Schritt christlicher Systematisierung für eine überzeugende Praxis gehen.

II. Referenz ist die Soziale Marktwirtschaft Die Referenz einer Marktverantwortung von Unternehmen ist in Deutschland das Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft im Sinne ihrer Gründerväter. Diese Sinnzuschreibung sei betont, da die Semantik heute so unscharf geworden ist, dass sich Linkspartei bis Liberale auf dieses Ordnungsmodell be___________ 8

Vgl. Ulrich (2008) sowie zur Deutung Nass (2003). Vgl. hierzu etwa Dietz (2007). 10 Werner (2006), S. 29. 9

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rufen. Im ursprünglichen Sinne ist mit der Sozialen Marktwirtschaft im Gegensatz zu einer Zentralverwaltungswirtschaft zunächst ein grundsätzliches Bekenntnis zum Markt mit den auch ethisch wünschenswerten effizienten Allokationen gemeint, durch die Ressourcenverschwendung vermieden wird. Neben den zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Marktes notwendigen und fraglos zulässigen Reallokationen (etwa zur Vermeidung von Monopolen oder externen Effekte) bedarf es zudem eines Ordnungsrahmens, der weltanschaulich zu begründende Redistributionen und andere Marktregulierungen gestattet. Walter Eucken etwa zufolge gelten als Ordnungsprinzipien der Primat der Währungspolitik, die Konstanz der Wirtschaftspolitik, offene Märkte, Vertragsfreiheit, Haftung, Privateigentum, Monopolkontrolle, progressive Besteuerung, die Vermeidung externer Effekte und Interventionen gegen Anomalien auf dem Arbeitsmarkt. Andere Gründerväter wie Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Alfred Müller-Armack, Ludwig Erhard o.a. kommen zu je eigenen inhaltlichen Bestimmungen dieser den Markt und seine Eigengesetzlichkeiten rahmenden Prinzipien. Gemeinsam ist diesem normativen Kranz jeweils der mit ihm verbundene Anspruch eines universalisierbaren Ordnungsrahmens, der zumeist christlich oder mit Eucken kantisch begründet ist.11 Aus christlicher Sicht bieten die zunächst abstrakten Sozialprinzipien von Personalität, Solidarität und Subsidiarität die inhaltliche Füllung des Ordnungsrahmens, an dem sich eine entsprechende Unternehmensverantwortung zu orientieren hat, will sie mit der Grundidee der Wirtschaftsordnung konvergieren. Mehr noch: eine Unternehmensethik, die eine solche Verantwortung als Leitbild für die Praxis systematisch begründen kann, ist die Unternehmensethik, die die Soziale Marktwirtschaft auf die Unternehmensebene schlüssig übersetzt und der Ordnung so Stabilität und Glaubwürdigkeit verleiht: ein schlüssiges Praxisfundament, das angesichts der Konfusion um das rechte Verständnis Sozialer Marktwirtschaft und einer sich scheu in Selbstmitleid für sich selbst entschuldigenden christlichen Sozialethik dringender denn je geboten erscheint. Eine ethische Systematik beginnt in der Begründung des Rahmens mit seinen Prinzipien. Und dieser wiederum hat seinen Anfangspunkt im postulierten Menschenbild als ethikkonstituierender Wertbasisentscheidung. Jede auf den Menschen bezogene Ethik fragt zuerst: Was für ein Mensch sind wir, und was für ein Mensch wollen wir sein? Zu beantworten sind dabei die Fragen nach dem Sein und nach dem Sollen des Menschen und seiner Begründung, ohne dem naturalistische Fehlschluss zu verfallen. Dann erst kann eine Idee des guten Lebens schlüssig begründet werden und eine prinzipiengeleitete Bestimmung juristischer wie moralischer Rechte und Pflichten erfolgen. Diese Grundlegung für eine dazu stimmige Konzeption von Führungs- und Mitarbeiterethos, von Regelsystemen und Stra___________ 11

Vgl. Nass/Müller (2013).

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tegien im Unternehmen zu einer Unternehmens- und Führungskultur macht aus bloß intuitiven oder narrativen Postulaten oder Appellen zum guten Unternehmertum eine Unternehmensethik als in sich schlüssige Systematik. Christliche Unternehmensverantwortung gründet in einer Unternehmensethik im Sinn der Sozialen Marktwirtschaft. Schritte zu einer so für eine christliche Ethik erschlossenen Unternehmensverantwortung sollen hier gegangen werden.

III. Wertbasis ist das Menschenbild Für die Wertbasis stehen sich zwei Ideen vom Menschen gegenüber. Marktwirtschaftliches Denken postuliert den Homo oeconomicus im Sinne von James Buchanan und seiner Schüler als heuristische Fiktion. Und daraus lässt sich bei am Markt agierenden Unternehmen im Sinne der Effizienz eine Idee der Mitarbeiterschaft als Humanressourcen ableiten. Fachliche und motivationssteigende Schulungen, Regeln und Anreize sind Instrumente, um die Summe des Leitungsoutputs zu optimieren. Will ein Unternehmen am Markt Erfolg haben, ist eine solche Betrachtung mit Ausnahme der utilitaristischen Summierung zunächst legitim. Im Sinne Sozialer Marktwirtschaft muss daneben mit dem Prinzip der Personalität immer auch das Ziel einer Optimierung der persönlichen Entwicklung jedes Menschen in Abhängigkeit von fixen und variablen Persönlichkeitsfaktoren mitgedacht werden, die den einzelnen Menschen ausmachen. Gerät eine der beiden Sichtweisen aus dem Blick, kommt es entweder zu einer ökonomistischen Depersonalisierung oder zu einer utopischen Entwirtschaftlichung unternehmerischen Handelns. Verantwortung im Kontext Sozialer Marktwirtschaft steht vor der schweren Aufgabe, immer beide Sichtweisen zusammen zu denken. Damit sollen auch aus einer christlichen Sicht des ‚Moral point of view‘ keineswegs ökonomische Gesetzmäßigkeiten geleugnet werden. Möglicherweise müssen zur Erhaltung des Unternehmens auch einmal Mitarbeiter entlassen werden. Wer dies aber unter Einbeziehung der personalen Sicht tut, mit der der einzelne Mensch als Selbstzweck verstanden ist, wird solche Härten aber in anderer Weise umsetzen als etwa ein ökonomischer Imperialist im Sinne Gary Beckers. Die beiden Seiten miteinander zu sehen, entspricht der Idee von Adam Smith, der als Moralphilosoph gerade auch die Entfaltung der nicht egoistischen Motive (die Sympathie) als erstrebenswertes Ziel einer Gesellschaft und damit auch der Unternehmen einfordert.12 Ausgehend von der Wertbasis geht es nunmehr darum, eine dazu kohärente Synthese aus wirtschaftlichem Erfolg und personaler Menschendienlichkeit in einem Unternehmenskulturprogramm fortzuführen. Die christliche Systematik einer Unternehmensverantwortung Sozialer Marktwirtschaft schließt dabei die ___________ 12

Smith (1926/61994).

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Selbstzwecklichkeit des Marktes mit einem sich selbst genügenden Egoismus ebenso aus wie einen ineffizienten Etatismus, der nicht allein interne Entscheidungsprozesse, sondern auch grundsätzlich die Legitimität unternehmerischen Tuns deliberativen Prozessen unterwerfen will und dabei unter der Herrschaft des herrschaftsfreien Diskurses womöglich die unantastbare Menschenwürde als Wertbasis nicht mehr verteidigen kann, wie es Jürgen Habermas für eine solche Diskurssystematik freimütig eingesteht: „Menschenrechte mögen moralisch noch so gut begründet werden können. Sie dürfen aber einem Souverän nicht gleichsam paternalistisch übergestülpt werden. Die Idee der rechtlichen Autonomie der Bürger verlangt ja, dass sich die Adressaten des Rechts zugleich als dessen Autoren verstehen können.“13

IV. Sinn begründet die Systematik Christlicher Ausgangspunkt ist die ebenso biblisch wie über eine als ‚Ratio recta‘ liebende Vernunft erkennbare Menschennatur.14 Nicht als Ergebnis von Diskurs oder Konstruktion, sondern aus der in der Gottesebenbildlichkeit und der Menschwerdung Gottes begründete gleiche Würde jedes Menschen als Person mit Individualitas und Socialitas lassen sich unbedingte Rechte jedes Menschen auf Entfaltung von Kreativität und Gemeinschaftlichkeit gut begründen. Die Rechtsprinzipien Solidarität und Subsidiarität fordern von der Wirtschaftsordnung und der gelebten Unternehmenskultur ein Regel-, Tugend- und Strategiekonzept der Hilfe zur Selbsthilfe mit einem idealerweise hohen Grad auch affektiver Zusammengehörigkeit. Wenn Menschen sich gemeinsam als Geschöpfe Gottes verstehen, so das Ideal, leben sie unabhängig von rechtlich Erzwingbaren anders miteinander, als hielten sie sich für austauschbare Zufallsprodukte. Der Mensch ist aus christlicher Sicht zugleich von seiner Natur aus ein moralisches Wesen, das Verantwortung für sich und andere übernimmt, soweit er es kann. Das Sollen des Menschen ist damit ein Wesensmerkmal menschlichen Seins, es wird keineswegs naturalistisch daherpostuliert. Christlich gesprochen besteht die Verantwortung des moralischen Menschseins vor allem vor Gott, weil wir alle von Gott einen Auftrag zum Guten erhalten haben, für dessen Erfüllung wir uns unseren Fähigkeiten entsprechend verantworten werden. In dieser Verantwortlichkeit kann eine christliche Unternehmensethik sich nicht mit einer Unternehmens- als Regelethik zufrieden geben, die im Sinne Karl Homanns im Rahmen von letztlich wieder durch ökonomische Nutzenlogik bestimmte Regeln vor der Individualmoral warnt. Dies käme einer unternehmerischen Entpersonalisierung gleich, da die Entfaltung individueller Tugend in allen Lebensbereichen gerade eine wesentliche Aufgabe personaler ___________ 13 14

Habermas (1996), S. 301. Vgl. Benedikt XVI. (2009) sowie zu einer ökumenischen Perspektive Nass (2012).

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Entfaltung ist. Sowohl die Gestaltung von Regeln und Strategien im Unternehmen wie die konkreten Spielzüge in deren Kontext sind systematische Orte von Moral und Tugend, oder, um es mit Eberhard Schockenhoff zu sagen: „Gerechtigkeitsfragen können im Blick auf die motivationale Verfasstheit der Personen erörtert werden, die im horizontalen Rahmen … oder innerhalb vertikaler Verantwortungsbeziehungen zu gerechtem Handeln aufgerufen sind.“15 Ausgehend von einer christlich begründeten Personalität mit einer wesenhaft dreifachen Verantwortung als Wertbasis und daraus abgeleitetem Pflichtbewusstsein hat eine damit vereinbare Unternehmenskultur Regeln zuerst im Dienst gegenseitigen Vertrauens zu gestalten. Eine verantwortbare Transparenz der Unternehmensziele und -strategien ist unverzichtbar. Wie im anthroposophischen Ansatz ist die Entfaltung des Menschen mit seiner moralischen Bestimmung das erste Ziel der Wirtschaft und damit auch des Unternehmens und seiner Kultur. Nur ist das Personverständnis und damit die Wertbasis christlich gesehen anders bestimmt. Die Entfaltung des Menschen wird nicht als veredelnder Selbsterlösungsprozess verstanden, der uns für eine irdische Wiedergeburt vorbereitet. Vielmehr gilt die Entfaltung der personalen Wesenseigenschaften als menschliche Antwort auf Gottes Geschenk des Personseins. Erlösung des Menschen ist kein pelagianischer Leistungsakt, sondern sie wird uns letztlich von Gott zuteil. Damit behält auch die in ihrer Schwachheit gebrochene menschliche Existenz (das Fragmentarische) die gleiche Wertschätzung wie der frei zur Entfaltung kommende erfolgreiche Unternehmergeist. Personale Wertschätzung im Unternehmen versteht aus christlicher Sicht auch punktuelle Unausgeglichenheit oder fehlende positive Ausstrahlung nicht als einen (Veredelungs-)Mangel, sondern als menschlichen Ausdruck unserer Geschöpflichkeit, der mit Kohelet biblisch gesprochen auch seine Zeit haben darf. Christliche Unternehmensstrategien sind auf eine Wertschätzung dieser personalen Existenz ausgerichtet. Das heißt etwa, dass in Personalentscheidungen vor allem Menschen mit einer entsprechenden Tugenddisposition gesucht werden. Die in der Unternehmenskultur zuerst der Personalität geschuldete Entfaltung auch der Socialitas setzt sozial-kreative Leistungs- wie auch kritischkreative Entscheidungspotentiale in der Mitarbeiterschaft frei. Eine christlich vertretbare Synthese aus wirtschaftlichem Erfolg und Menschendienlichkeit honoriert Leistung als Entfaltung der Individualitas und fördert ebenso die soziale Entfaltung in Teams: nicht aus pragmatischen Gründen, sondern mit dem Zweck der Entfaltung der natürlichen personalen Bestimmung. Eine Top-downHierarchie ist damit nicht vereinbar. Zugleich müssen die Grenzen einer deliberativen Kultur im Blick bleiben. Skrupulöses moralisches Grübeln, das Leistung blockiert, ist ebenso bedenklich zu sehen wie die Ineffizienz allzu ___________ 15

Schockenhoff (2007), S. 113.

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langer Entscheidungswege. Zu fördern ist im Unternehmen ein Wir-Gefühl der Loyalität aus Einsicht, welches sich idealerweise aus einem auch affektiven Miteinander speist, denn dies ist die christliche Idee sozialer Liebe, die letztlich den sozialen Frieden im Geist Sozialer Marktwirtschaft konkretisiert. Zweifellos bleibt deren Realisierung eine visionäre Vorstellung. Letztlich ist es die individuell wie als Unternehmenskultur verinnerlichte christliche Sinnperspektive unserer menschlichen Existenz, welche den wirtschaftlichen Erfolg zu einem Dienstwert an der personalen Entfaltung macht und so systematisch das Zueinander von Effizienz und Menschendienlichkeit für die Unternehmenspraxis bestimmt, mit dem sich das dunkle Loch erhellen lässt. Literatur Benedikt XVI. (2009): Enzyklika ‚Caritas in veritate‘, Vatikanstadt. Dietz, Karl-Martin (2007): Die ontologische Grundlage der Autonomie des Menschen und ihr Rang in der modernen Führungspraxis, in: Waldemar Schreckenberger (Hrsg.) (2007): Recht, Staat und kulturelle Entwicklung, Speyerer Arbeitsheft Nr. 191, Speyer, S. 97–109. Habermas, Jürgen (1996): Über den inneren Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: ders.: Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a.M., S. 293–305. Hartmann, Mathias (2013): Servant Leadership in diakonischen Unternehmen, Stuttgart. Homann, Karl/Blome-Drees, Franz (1992): Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen. Malik, Fredmund (2007): Management. Das A und O des Handwerks, Frankfurt a.M. Nass, Elmar (2012): Vom Menschenbild des Christentums zum sozialen Humanismus, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik (ZEE) 56/2: S. 90–102. – (2006): Der humangerechte Sozialstaat. Ein sozialethischer Entwurf zur Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, Tübingen. – (2003): Der Mensch als Ziel der Wirtschaftsethik. Eine finalethische Positionierung im Spannungsfeld zwischen Ethik und Ökonomik, Paderborn. Nass, Elmar/Müller, Christian (2013): Normative Grundlagen des Ordoliberalismus, in: Pribyl, Herbert (Hrsg.) (2013): Die Weltwirtschaftskrise. Lösungsansätze aus christlich-ethischer Sicht, Heiligenkreuz: S. 157–183. Neuberger, Oswald (62002): Führen und führen lassen, Stuttgart. Smith, Adam (1926/61994): Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg. Schockenhoff, Eberhard (2007): Grundlegung der Ethik, Freiburg i.Br. Schramm, Michael (2007): Unternehmensethik. Besprechung zu: Udo Lehmann: Ethik und Struktur in internationalen Unternehmen, in: Amos 1/1: S. 46–47. Ulrich, Peter (42008): Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, Bern/Stuttgart/Wien. Werner, Götz (2006): Führung für Mündige. Subsidiarität und Marke als Herausforderungen einer modernen Führung, Karlsruhe.

Marktverantwortung von Konsumenten – grundsätzliche ethische Überlegungen Von Arnd Küppers und Peter Schallenberg Immer wieder wird in der öffentlichen Debatte von den Verbrauchern mehr Verantwortungsbewusstsein in ihrem Konsumverhalten und Markthandeln gefordert. Statt einer Einleitung sollen hier kurz drei Beispiele genannt werden, auf die später zurückzukommen sein wird. Auf den ersten Blick erscheinen diese Beispiele vielleicht ähnlich, bei genauerer Betrachtung aber sind sie doch sehr unterschiedlich gelagert. Das erste Beispiel ist der Fleischkonsum. Die Deutschen essen viel Fleisch, im Durchschnitt zu viel, zumindest unter ernährungsphysiologischen Gesichtspunkten. Doch gibt es neben gesundheitlichen Erwägungen auch gewichtige moralische Gründe, den übermäßigen Fleischkonsum einzuschränken? Die Bündnis-Grünen etwa meinen ja. Ihr Vorschlag eines Veggie-Day im Wahlprogramm1 zur Bundestagswahl 2013 sorgte für Furore. Die Begründung hierfür finden die Grünen nicht nur im Tierschutz und in ihrer Ablehnung der Massentierhaltung. Fleisch, so schreiben sie auf ihrer Homepage, sei zudem „ein Klima- und Ressourcenkiller“2. Die Bilanz der Fleischproduktion sei erschreckend: Die Herstellung von 1 kg Fleisch erfordere den Einsatz von 16 kg Getreide und 15.000 Liter Wasser. Das von den Nutztieren ausgestoßene Methan belaste die Atmosphäre 20 mal stärker als CO2. Zudem werde ein Drittel der Weltgetreideernte für Futtermittel verwendet. Damit stehe die Massentierhaltung „immer mehr in Konkurrenz zur Ernährung der Weltbevölkerung“3. Die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO schätzt die Zahl der weltweit Hungernden auf 870 Millionen.4 Das heißt, dass mehr als jeder zehnte Mensch auf der Erde chronisch unterernährt ist. Auch andere sehen hier den übermäßigen Fleischverbrauch in den Wohlstandsländern als eine nicht unwesentliche Ursache. „Fehlende Konsum-Kritik = unvollständige Entwicklungs___________ 1

Siehe dazu Bündnis 90/Die Grünen (2013), S. 163 f. http://www.gruene.de/themen/moderne-gesellschaft/gruenedewir-wissen-es-besser. html (22.10.2013). 3 Bündnis 90/Die Grünen (2013), S. 163. 4 Hierzu und zur Welternährungssituation insgesamt siehe Food and Agriculture Organization of the United Nations (2012). 2

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Arnd Küppers und Peter Schallenberg

politik“5, so bringt die Albert-Schweitzer-Stiftung den Gedankengang auf den Punkt. Das zweite Beispiel: Am 24. April 2013 starben weit über 1000 Menschen, als in der bangladeschischen Stadt Sabhar, 25 km von der Hauptstadt Dhaka gelegen, ein neungeschössiges Gebäude einstürzte, in dem mehrere Textilfabriken untergebracht waren. Darüber hinaus wurden fast 2500 Menschen bei dieser Katastrophe verletzt. Es ist der größte Fabrikunfall in der Geschichte des Landes gewesen, aber beileibe kein Einzelfall. Prominent durch die Medien ging im November 2012 auch die Brandkatastrophe in einer anderen Textilfabrik nahe Dhaka. Mehr als 1000 Arbeiter waren in der neunstöckigen Fabrik von den Flammen eingeschlossen worden, als im Erdgeschoss ein Brand ausgebrochen war. Notausgänge für einen solchen Fall gab es nicht. Mehr als 100 Menschen starben in dem Feuer, über 200 erlitten schwere Brandverletzungen. Es gibt viele solcher Textilfabriken in Bangladesch, das sich mehr und mehr zur Nähstube der Welt entwickelt. Wobei „Fabrik“ nach europäischen Maßstäben ein euphemistischer Ausdruck für diese Produktionsstätten ist, die in einer Art baurechtsfreier Zone auf den Etagen von hierzu statisch oftmals ungeeigneten Mehrgeschossbauten betrieben werden. In diesen Fabriken spielen Arbeitssicherheit und Brandschutz oftmals keine große Rolle. Auch namhafte europäische und amerikanische Textilunternehmen, keineswegs nur Billigketten und Discounter, lassen in solchen Fabriken produzieren. Tragen die Konsumenten, die solche Textilien kaufen, eine Mitverantwortung für die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter? Das dritte Beispiel: In Zeiten, in denen das klassische Sparbuch, Bundesanleihen und Tagesgeld- oder Festgeldkonten nur Zinsen unter der Inflationsrate bieten, suchen immer mehr Menschen ihr Heil in Aktien oder Unternehmensanleihen. Weil die Erfahrungen aus dem Niedergang der T-Aktie oder der Dotcom-Blase die Verbraucher jedoch haben vorsichtiger werden lassen, versuchen sich nur noch wenige in eigenen Spekulationen und vertrauen lieber professionellen Anlegern. Millionen Menschen haben zudem einen fondsgebundenen Riestervertrag. Woher weiß der Anleger aber, was die Fondsmanager mit seinem Geld machen? Ob sie es in Firmen investieren, die im Waffengeschäft tätig sind oder im Bereich der Kernenergie, im Glücksspiel, der Pornoindustrie oder was man sonst für moralisch problematisch halten mag? Viel besser sieht es übrigens gar nicht aus, wenn der Sparer ob solcher Unwägbarkeiten auf eine gute Rendite verzichtet und sein Geld doch ganz konservativ auf dem Sparbuch liegen lässt. Denn die Bank bewahrt es ja nicht für ihn im Tresorraum auf, sondern investiert ihrerseits, vergibt Kredite. Mit wem geht sie dabei aber so alles ihre Geschäftsbeziehungen ein? Liegt das in der Mitverantwortung des Ver___________ 5 http://albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/welthunger-entwicklungspolitik-fleisch frage (22.10.2013).

Marktverantwortung von Konsumenten

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brauchers? Kann man von dem für seine Altersversorgung sparenden Arbeitnehmer verlangen, dass er sich über die Anlagepolitik seiner Bank informiert? Die folgenden ethischen Überlegungen zur Marktverantwortung von Konsumenten werden in zwei Abschnitte gegliedert. Bevor im zweiten Teil die eigentliche Skizze einer Konsumethik vorgenommen werden kann, ist in einem ersten Teil die Auseinandersetzung mit der Frage unumgänglich, inwieweit die mit der Verantwortung der einzelnen Konsumenten in Blick genommene individualethische Perspektive in einer modernen Wirtschaftsethik überhaupt angemessen und relevant ist. Denn in der zeitgenössischen Diskussion ist die Meinung verbreitet, um nicht zu sagen: herrschend, dass eine moderne Sozialethik rein als Institutionen-, Strukturen- oder Ordnungsethik konzipiert und betrieben werden sollte; ein individual- oder tugendethischer Zugang wird demgegenüber als unangemessen betrachtet, um komplexe Funktionssysteme wie die Wirtschaft ethisch zu evaluieren und zu normieren. Wäre diese Position unzweifelhaft richtig, dann wäre die Frage nach der Marktverantwortung der Konsumenten von vornherein falsch gestellt und das Vorhaben einer Konsumethik im Sinne einer Konsumentenethik obsolet.

I. Marktverantwortung des Einzelnen – vormoderne und neuzeitliche Sichtweisen Konsumenten sind individuelle wirtschaftliche Handlungssubjekte. Sind sie als solche auch Träger moralischer Verantwortung, oder ist schon diese Fragestellung falsch? Die in der Moderne herrschenden sozialphilosophischen Überzeugungen jedenfalls scheinen die Verbraucher prima facie von dem Verdacht zu entlasten, durch ihr Konsumverhalten moralische Schuld auf sich laden zu können. Im Vordergrund stehen vielmehr die sozialen Strukturen und Rahmenbedingungen. Das soll auch an dieser Stelle nicht in Frage gestellt werden. Zur Debatte gestellt werden soll aber die Position, die eine moderne Sozial- und Wirtschaftsethik ausschließlich als Institutionenethik versteht und eine generelle Irrelevanz individualethischer Aspekte behauptet. Vor dem Hintergrund der konkreten Themenstellung des vorliegenden Papers geht es also um die Frage, inwieweit unter den Bedingungen einer freien Marktwirtschaft dem Einzelnen überhaupt moralische Verantwortung zugeschrieben werden kann oder nicht. Damit soll vorab die grundsätzliche Möglichkeit einer Konsumentenethik diskutiert werden. In jedem Fall markiert das moderne Konzept der Institutionen-, Strukturenoder Ordnungsethik einen signifikanten Unterschied zu der gesamten Vormoderne, in der die persönliche Verantwortung des Einzelnen, auch die des wirtschaftlich Handelnden, im Mittelpunkt sozialer Organisation und ethischer Reflexion stand.

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1. Fraglose Verantwortung in der Vormoderne Für die vormodernen sozialen Gemeinschaften, in denen es noch keinen das soziale Zusammenlebenden normierenden und Verstöße sanktionierenden Rechtsstaat gibt, ist das wechselseitige Vertrauen in die soziale Verantwortung der Gemeinschaftsmitglieder eine notwendige Funktionsbedingung. Das gilt nicht nur mit Blick auf die segmentär differenzierten tribalen Gesellschaften, sondern auch für die antiken Hochkulturen. Das wechselseitige Vertrauen der Stammesgenossen beziehungsweise der Bürger ist hier die zentrale sozialethische Kategorie, das heißt nicht nur in Bezug auf die Tugend der Freundschaft, sondern geradezu als politisches Prinzip. Dieser Gedanke findet sich bei vielen griechischen Autoren, etwa dem Vorsokratiker Demokrit, dem Dichter Hesiod, bei Platon und bei Aristoteles.6 Ähnliches gilt für die mittelalterlichen Feudalgesellschaften. Auch hier hat Vertrauen im Spannungsfeld von Treu und Glauben eine überragend wichtige soziale Funktion. Das mittelalterliche Lehnswesen7, das seine Vorläufergestalten bereits im römischen Klientelwesen und im germanischen Gefolgschaftswesen hat, ist eine ganz wesentlich auf Vertrauen gegründete Sozialordnung. Lehnsherr und Lehnsempfänger geloben einander wechselseitig Treue. Das bedeutet auf der Seite des Lehnsherrn, dass er seinem Vasallen Schutz und Schirm geben muss. Und auf der Seite des Vasallen sind als Pendant zu dem Begriffspaar Schutz und Schirm auxilium und consilium (Rat und Hilfe) gefordert. Das bedeutet Gefolgschaft, vor allem im Krieg, aber auch bestimmte Dienste am Hof des Lehnsherren. a) Antike Wirtschaftsethik Ethik wird in diesen vormodernen Gesellschaften verstanden als Tugendethik. Aristoteles (384–322 v. Chr.), bei dem die Ethik erstmals als eigenständige philosophische Disziplin begegnet, begründet diese als praktische Wissenschaft: „Der Teil der Philosophie, mit dem wir es hier zu tun haben, ist nicht wie die anderen rein theoretisch – wir philosophieren nämlich nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden.“8 Gegenstand ethischer Untersuchung im Sinne des Aristoteles ist also der Mensch als sittliches Wesen; es geht jenseits bloßer Erkenntnis um eine moralische Praxis. ___________ 6

Siehe dazu Gloyna (2001), Sp. 986. Siehe dazu Petzold (2012). 8 Aristoteles, Nikomachische Ethik II 1, 1103b26 f. 7

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Ziel des menschlichen Lebens und damit Fluchtpunkt der aristotelischen Ethik ist die eudaimonia, was Franz Dirlmeier in der hier verwendeten Übersetzung ebenso wie die meisten anderen Aristoteles-Übersetzer mit „Glück“ übersetzt. Diese Übersetzung mag heute angesichts gewisser Abnutzungserscheinungen des Glücksbegriffs als unzureichend erscheinen. Deshalb bedarf es einiger zusätzlicher Erläuterungen: Der aristotelische Begriff der eudaimonia zielt auf einen Zustand des, im umfassenden Sinne verstanden, gelingenden Lebens. Und im umfassenden Sinne gelungen ist für Aristoteles ein tugendhaftes Leben. Er unterscheidet bei den Tugenden die ethischen von den dianoetischen.9 Unter den dianoetischen Tugenden sind die ursprünglich vernünftigen Tugenden zu verstehen, die in der reinen Ausübung der Vernunft liegen; sie beziehen sich auf das Denkvermögen. Die ethischen Tugenden sind in einem abgeleiteten Sinne vernünftige Tugenden; sie beziehen sich auf das Begehrungsvermögen, das zwar nicht selber der vernünftigen Überlegung fähig ist, von dieser aber kontrolliert wird und insoweit Wille ist. Dass sich dieser Tugendbegriff wesentlich von dem modernen Verständnis unterscheidet, ist offensichtlich. Die Cambridger Philosophin Elizabeth Anscombe hat 1958 in ihrem berühmten Aufsatz „Modern Moral Philosophy“ völlig richtig festgestellt: „Anyone, who has read Aristotle’s Ethics and has also read modern moral philosophy must have been struck by the great contrasts between them.“10 Bereits der Begriff „moralisch“, der ja direkt auf Aristoteles zurückgeht, sei in der im modernen Sinne verwendeten Weise gar nicht mehr auf die aristotelische Konzeption anwendbar. Denn das, was Aristoteles als die dianoetischen Tugenden bezeichne, etwa die gute Urteilskraft, werde heute ja gar nicht mehr unter moralischen Kategorien betrachtet. Anscombe folgert deshalb: „If someone professes to be expounding Aristotle and talks in a modern fashion about ,moral‘ such-and-such, he must be very imperceptive if he does not constantly feel like someone whose jaws have somehow got out of alignment: the teeth don’t come together in a proper bite.“11 Diese großen Unterschiede zwischen Moderne und Vormoderne betreffen natürlich auch den Bereich der Wirtschaftsethik. Der in der modernen Sozialethik seit John Rawls zentrale Begriff der Gerechtigkeit hat auch in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles eine herausgehobene Stellung. Das gesamte fünfte Buch seiner Ethik widmet der Stagirit der Erörterung dieses Themas.12 Aber auch die Gerechtigkeit wird von Aristoteles rein tugendethisch verstanden und nicht sozialethisch. Und das Marktverhältnis, also die Beziehung von Pro___________ 9

3 ff.

Siehe dazu und zum Folgenden Aristoteles, Nikomachische Ethik II 1, I 13, 1103a

10

Anscombe (1981), S 26. Anscombe (1981), S 26. 12 Siehe dazu Gordon (2007). 11

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duzent und Konsument beziehungsweise von Anbieter und Nachfrager wird von ihm ausschließlich unter der Perspektive dieses tugendethischen Gerechtigkeitsbegriffs erörtert. Der gerechte Preis richtet sich für ihn nach dem Prinzip der Tauschgerechtigkeit beziehungsweise der ausgleichenden Gerechtigkeit, die sich aus der proportionalen Gleichheit von Leistung und Gegenleistung ergibt.13 Anders als unter diesem strikten Prinzip der Gleichheit hält Aristoteles das Marktgeschehen für moralisch nicht statthaft, weil sonst die Gefahr des Missbrauchs von Marktmacht zu stark sei.14 Wegen Unvereinbarkeit mit dem Prinzip der Tauschgerechtigkeit lehnt er auch das Zinsgeschäft ab. Ökonomik begreift er allein als die Verwaltung des Hauses (oikos), die sich nach den Grundsätzen (nomos = Gesetz) der Ethik, insbesondere der Gerechtigkeit, aber auch der Tugend des Maßhaltens zu richten hat. Die Ökonomik als gleichsam natürliche Erwerbskunst zur Deckung der Lebensbedürfnisse grenzt er vor diesem Hintergrund auch scharf ab von der Chrematistik, der auf das bloße Gewinnstreben ausgerichteten Kaufmannstätigkeit. Der Chrematist wirtschaftet nicht zur Deckung des Haushaltsbedarfs, sondern um Reichtum anzuhäufen. Er macht sich eines der von Aristoteles genannten Verstöße gegen die Gerechtigkeit schuldig, der Pleonexie (Habsucht). Der Pleonektes, der Mehr-HabenWollende, ist ein Feind der Gleichheit und damit ein Feind der Gerechtigkeit.15 b) Scholastische Wirtschaftsethik Auch das Christentum entwickelt in der Frühzeit zunächst keine Sozialethik im modernen Sinne. Im Zentrum der Reflexion steht vielmehr stets die persönliche Bekehrung des Einzelnen zu Gott. Aber die Brücke zu einer Sozialethik ist doch in gewisser Weise schon vorgezeichnet in der Lehre des heiligen Augustinus (354–430) von den zwei Reichen oder besser: von den zwei Bürgerschaften oder Zivilisationen, die einander kontrastierend gegenübergestellt werden.16 Auf der einen Seite steht die civitas Dei, der Gottesstaat, in dem der Mensch eigentlich leben soll und kann, seit dem Sündenfall freilich nur noch als Wunschtraum, nach der Offenbarung Gottes in Jesus Christus aber wieder im Sakrament greifbar. Auf der anderen Seite und diametral entgegengesetzt die civitas terrena, der irdische Staat, unter dessen Restriktionen und Ambivalenzen der Mensch wirklich lebt. Die civitas terrena ist ein durch die Ursünde von Adam und Eva und endgültig ein durch den Brudermord Kains an Abel notwendig gewordenes Übel. Dass der Mensch den anderen Menschen, dass ___________ 13

Vgl. Gordon (2007), S. 181 ff. Siehe dazu und zum Folgenden Rabe (1984), Sp. 1149 f. und Ziegler (2008), S. 40 f. 15 Vgl. Gordon (2007), S 38 ff. 16 Siehe dazu Gilson (2005) und Horn (1997). 14

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der Bruder den Bruder umbringt, manifestiert die Macht des Bösen und bedarf der Eindämmung durch die künstliche Zivilisation des Erdenstaates. Dessen vordringliche Aufgabe ist es also, die einigermaßen friedliche Koexistenz der Menschen sicherzustellen. Stärker sozialethisch wirksam wird diese theologische Unterscheidung dann seit der Zeit der „Päpstlichen Revolution“ im 11. Jahrhundert, die eine der wesentlichen Grundlagen zur Entstehung der abendländischen Rechtstradition geworden ist.17 Hier beginnt eine neue ethische Wendung: hin zu einer Verwandlung der Welt, die nach dem ursprünglichen Schöpfungsplan doch dazu bestimmt ist, Gottes guter Garten zu sein. Der Gedanke des Fortschritts und der Entwicklung steht jetzt im Zentrum der Überlegungen: Wie kann der Mensch glücken, wie kann sein Leben gelingen? Dieser Fokus hat ein neues Verständnis von Ethik zur Folge: Zeit und Geschichte sind ausgerichtet auf die Vollendung durch den Messias – das ist der Glaube wie er in den Prophetenbüchern des Alten Testaments begegnet. Die Botschaft des Neuen Testaments ist nun: Zeit und Geschichte sind vollendet durch den Messias, der in diese Welt gekommen ist und in ihr bleiben wird bis zum Ende der Zeit durch die Kirche und das pilgernde Gottesvolk. Es liegt also jetzt am Menschen und nicht mehr an Gott, die Verwandlung der Welt herbeizuführen. Gott hat sein Werk getan und tut es durch das sakramentale Wirken der Kirche; jeder Mensch aber muss in seinem Leben und in seiner Verantwortung nun sein Werk tun und diese Welt zum Besseren verwandeln. Vollendet und erwartet und geradezu herbeigehandelt wird eine Zeit, die mit der Schöpfung begonnen hat und mit der neuen Schöpfung auf ewig nicht enden wird. Von hier aus versteht sich der drängende Anspruch und die christliche Ungeduld, die künftige Welt müsse anders sein als die vergangene und die gegenwärtige, obschon sie sich schon hier und jetzt ankündigt und vorbereitet. Trotz dieser Akzentverschiebungen bleibt das von Aristoteles begründete Verständnis von Wirtschaftsethik im Großen und Ganzen auch in der Hochscholastik erhalten. Es kommt lediglich zur Vertiefung, allenfalls zur Weiterentwicklung in Form von stärkerer Differenzierung. Besonders wichtig ist hierbei der Beitrag des heiligen Thomas von Aquin (1225–1274).18 Er erhebt beispielsweise nur noch dann moralische Einwände gegen die kaufmännische Betätigung, wenn sie einzig dem bloßen Gewinnstreben dient, das kein Maß und keine Grenze kennt. Der Gewinn jedoch – Ziel des Handels – hat, obwohl er in seinem Begriff nichts über ehrenhaft oder notwendig aussagt, dennoch nicht etwas Lasterhaftes oder Tugendwidriges in sich. Daher besteht keine Schwierigkeit, ihn einem notwendigen oder auch einem ehrenhaften Ziel dienstbar zu machen. Und somit wird das Handelsge-

___________ 17 18

Siehe dazu Berman (1997). Siehe dazu Pribram (1992), S. 21 ff.

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schäft eine erlaubte Sache, z.B. wenn einer den maßvollen Gewinn, den er beim Handel sucht, für die Erhaltung seines Hauses verwendet oder wenn er damit die Armen unterstützt oder auch wenn er Handel treibt zum öffentlichen Nutzen, damit seinem Land das Notwendige zum Leben nicht fehle, und er den Gewinn dabei weniger als Ziel, sondern sozusagen als Arbeitsentgelt auffasst.19

Zu einem regelrechten Paradigmenwechsel in der Wirtschaftsethik kommt es dann an der Schwelle zur Moderne bei einigen Autoren der Spätscholastik wie zum Beispiel Luis de Molina (1535–1600).20 Sie erkannten sehr klar die Vorzüge des Wettbewerbs und im Umkehrschluss die Nachteile sowohl privater Monopole wie auch staatlicher Preisfestsetzungen. Hinsichtlich der traditionellen Lehre vom gerechten Preis vertraten sie die Auffassung, dass die Ethik keinen substantiell gerechten Preis ermitteln könne, dass vielmehr grundsätzlich der aus dem marktlichen Wettbewerb resultierende Preis am gemeinwohldienlichsten und damit gerecht sei. Wegen dieser äußerst modernen Ansichten schrieb Joseph Schumpeter: „Innerhalb ihres Systems von Moraltheologie und Recht erlangte die Wirtschaftslehre ihre klar umrissene, wenn nicht sogar eigenständige Existenz, und die Scholastiker sind mehr als jede andere Gruppe die ,Begründer‘ der Wirtschaftswissenschaft geworden.“21 Als Zeitgenossen der spanischen Spätscholastiker entwickelten im 15. und 16. Jahrhundert italienische Humanisten das Konzept einer economia civile und erklärten den Gedanken der Reziprozität zu deren zentralem Prinzip.22 Auch wenn damit das Verständnis für die wirtschaftlichen Funktionsprozesse an der Schwelle zur Neuzeit zunahm, wurde doch grundsätzlich an dem von Aristoteles und Thomas entwickelten Paradigma festgehalten und wurden also die Marktakteure (noch) nicht aus ihrer individuellen moralischen Verantwortung entlassen. Das ändert sich erst in der Neuzeit. 2. Ordnungspolitische Exkulpation der Verbraucher in der Moderne Mit dem Beginn der Moderne entsteht die Idee des Staates, einer umfassende Staatsordnung, einer Staatsverfassung und einer staatlich garantierten Sozialordnung. Im Zuge dessen tritt die sozialethische Bedeutung des Vertrauens in die Integrität Einzelnen, des Herrschers oder des Mitbürgers, zurück, und die Bedeutung von kodifizierten sozialen Regeln, Rechtsnormen tritt in den Vordergrund. Wie unter einem Brennglas deutlich wird das in jenem berühmten ___________ 19

Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II, q. 77, a. 4 c. Siehe dazu Höffner (1941). 21 Schumpeter (1965), Bd. 1, S 143. 22 Siehe dazu Bruni/Zamagni (2013). Dieser Ansatz hat Papst Benedikt XVI. im Hinblick auf seine Sozialenzyklika Caritas in veritate stark inspiriert. 20

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Satz des exemplarischen Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar“23. Die Idee ist also: Es braucht nur die richtigen Regeln, die richtige Ordnung, dann werden auch die selbstsüchtigsten, niederträchtigsten Individuen sich friedlich und dem Gemeinwohl dienlich verhalten. Und Kant sagt eigentlich noch mehr, denn es geht bei seinen Überlegungen ja um die Staatserrichtung. Er sagt tatsächlich sogar, dass auch die selbstsüchtigsten, niederträchtigsten Individuen aus wohlverstandenem Eigeninteresse eine gute Staatsverfassung, eine gute soziale Ordnung begründen würden. Dieser Rationalismus hat etwas von einem Technizismus. Es braucht keine sozialen Tugenden, es braucht nur eine rationale Soziotechnik, einen Gesellschaftsvertrag heißt das in der Begriffswelt der Aufklärungsphilosophen. Und das ist in gewisser Weise die sich durchtragende sozialphilosophische Idee der Moderne: dass die gerechte, die gute Gesellschaft hergestellt werden kann mittels rationalen Entwurfs, rationaler Planung. Der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard nennt die unterschiedlichen Gesellschaftsentwürfe, die auf dieser Idee fußen, die „großen Erzählungen“ der Moderne.24 Die letzte dieser großen Erzählungen war der Marxismus. Dieser rationalistische Technizismus betrifft natürlich auch die Vorstellungen von Wirtschaft und Wirtschaftsethik. Der schottische Aufklärungsphilosoph Adam Smith, Professor für Moralphilosophie in Glasgow, sucht im 18. Jahrhundert nach Lösungen für das neuzeitliche Problem des Massenpauperismus. Das Ergebnis aber ist kein klassisches Tugendlehrbuch mit einer Empfehlung der Benevolenz, der barmherzigen Mildtätigkeit der Reichen gegenüber den Armen als Christenpflicht. Sondern in seinem 1776 erschienenen Buch The Wealth of Nations, das ihn schnell weltberühmt und zum Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre macht, empfiehlt auch er eine Soziotechnik: Markt und Wettbewerb. Auch dieses Konzept von Adam Smith könnte man auf die provozierende Formulierung Kants bringen: Es geht um die Herstellung einer Wirtschaftsordnung, die selbst bei einem Volk von Teufeln funktionieren würde und in der auch die selbstsüchtigsten, niederträchtigsten Individuen, die nur ihre egoistischen Ziele verfolgen, dem Gemeinwohl dienen würden. Das ist die berühmte Idee der „invisible hand“, der „unsichtbaren Hand“. Diese veränderte Sicht der Dinge geht einher mit einer Veränderung der Gesellschaftsstruktur. Und das ist der Übergang von der vormodernen stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft zu der neuzeitlichen funktional differen___________ 23 24

Kant, Zum ewigen Frieden, S. 366. Siehe dazu Lyotard (2009).

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zierten Gesellschaft. Das heißt, die moderne Gesellschaft ist organisiert durch die Trennung verschiedener Funktionssysteme, die bestimmte soziale Aufgaben erfüllen und dabei auch einem je eigenen Typus von Rationalität folgen. Das Funktionssystem der Wirtschaft regelt dabei die Produktion und Allokation von Gütern und Dienstleitungen unter Knappheitsbedingungen.25 Niklas Luhmann, auf dessen soziologische Studien die Ausarbeitung dieser Unterscheidung maßgeblich zurückgeht, hält die Idee Angewandter Ethik unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung für weitgehend obsolet. Das zeigt sich besonders deutlich an einem Vortrag, den er seinerzeit in Münster zum Thema Wirtschaftsethik gehalten hat. Er beginnt seine Ausführungen sogleich damit, die Themenstellung aufs Korn zu nehmen: „Ich muß es gleich am Anfang sagen: es ist mir nicht gelungen herauszubekommen, worüber ich eigentlich reden soll. Die Sache hat einen Namen: Wirtschaftsethik. Und ein Geheimnis, nämlich ihre Regeln. Aber meine Vermutung ist, dass sie zu der Sorte von Erscheinungen gehört wie auch die Staatsräson oder die englische Küche, die in der Form eines Geheimnisses auftreten, weil sie geheimhalten müssen, daß sie gar nicht existieren.“26 Differenzierter wird das Thema von den Ordnungsökonomen betrachtet, also den Vertretern der in Deutschland lange vorherrschenden volkswirtschaftlichen Schule des Ordoliberalismus. Das grundsätzliche Anliegen der Wirtschaftsethik wird von ihnen nicht in Frage gestellt. „Das Anliegen der sozialen Gerechtigkeit kann nicht ernst genug genommen werden“27, schreibt Walter Eucken in seiner 1952 erschienenen Schrift Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Aber anders als in der Vormoderne wir dieser Begriff der sozialen Gerechtigkeit nun nicht mehr tugendethisch verstanden, sondern dezidiert strukturen- beziehungsweise ordnungsethisch: „Soziale Gerechtigkeit sollte man [...] durch Schaffung einer funktionsfähigen Gesamtordnung und insbesondere dadurch herzustellen suchen, daß man die Einkommensbildung den strengen Regeln des Wettbewerbs, des Risikos und der Haftung unterwirft.“28 Karl Homann hat aus der Ordnungsökonomik heraus ein in der Diskussion äußerst einflussreiches Modell von Wirtschaftsethik entwickelt.29 Er vertritt die Auffassung, dass die sittliche Qualität eines Wirtschaftssystems beziehungsweise marktwirtschaftlichen Handelns nicht primär von den moralischen Ein___________ 25

Siehe dazu Luhmann (1989). Luhmann (2008), S 196. 27 Eucken (2004), S 315. 28 Eucken (2004), S 317. 29 Die Darstellung der wirtschaftsethischen Konzeption Karl Homanns sowie die Kritik daran unter Punkt II. ist im Wesentlichen übernommen aus Küppers (2008), S. 383– 404. 26

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stellungen, der Tugendhaftigkeit der Marktteilnehmer abhängt, sondern von den Institutionen und Ordnungsstrukturen, die den Handlungsrahmen der Akteure konstituieren. Daher kommt er „zu folgender grundlegender These: Der systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft ist die Rahmenordnung“; innerhalb dieser Ordnung „arbeitet der Markt ,moralfrei‘“30. Dem außerhalb der Wirtschaftswissenschaft geführten Diskurs über soziale Fragen wirft Homann eine völlige Verkennung der Funktionslogik moderner Gesellschaften vor. Statt sachgerecht zu diskutieren, werde „moralische Aufrüstung“31 betrieben. Globale Solidarität werde gepredigt oder Konsumkritik betrieben, um Probleme wie Hunger und Unterentwicklung zu lösen. Wie Luhmann meint auch Homann, „dass diese Vorgehensweise aufgrund gesellschaftstheoretischer Überlegungen völlig verfehlt und die Unlösbarkeit der Problematik dadurch vorprogrammiert ist.“32 Er sieht darin eine „moralisierende Donquichotterie“33, die à la longue nicht zu einer Stärkung, sondern zu einer Erosion der Moral beitragen werde, weil sie den Einzelnen einer permanenten Überforderung aussetze und ihm nicht selten ein Handeln gegen seine eigenen Interessen abverlange. Wer unter heutigen Bedingungen die Ressourcen traditioneller Moral pflegen und fördern wolle, so Homann, müsse sich von dem Paradigma individueller Handlungssteuerung verabschieden.34 In einer modernen, ausdifferenzierten, pluralistischen Großgesellschaft seien die den Einzelnen vorgegebenen Regeln, Normen und Institutionen die Stellschrauben, an denen man drehen müsse, um erwünschte Verhaltensweisen zu erreichen. Es komme deshalb darauf an, der Moral „ein im weitesten Sinne ,ökonomisches‘ Fundament zu geben, d.h., ihr durch ordnungs- bzw. gesellschaftspolitische Reformen ein Anreizfundament zu geben, weil sonst die Ehrlichen die Dummen sind.“35 Um die großen sozialen Herausforderungen der Zeit meistern zu können, sei ein Bedingungswandel und nicht ein Gesinnungswandel erforderlich. „Nicht Änderung der Menschen und ihrer Motivation, sondern Änderung der Handlungsbedingungen unter Stützung auf das identisch bleibende Eigeninteresse als Handlungsmotiv lautet das Programm.“36 Aus einer solchen anreiz- oder institutionenethischen Konzeption heraus ist freilich keine spezifische Ethik des Konsums zu entwickeln. Der Verbraucher ___________ 30

Homann/Blome-Drees (1992), S. 35 f. Homann (1997), S 13. 32 Homann (1997), S 13. 33 Homann (2002), S. 18. 34 Siehe dazu und zum Folgenden Homann (1997), S. 15 f. 35 Homann (1997), S. 16. 36 Homann (2002), S. 7. 31

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wird sozusagen ordnungspolitisch und ordnungsökonomisch von dem Verdacht exkulpiert, durch falschen Konsum negative soziale Effekte herbeizuführen. Im Bereich der Sozialethik sind Probleme nicht mit Blick auf individuelle Handlungen, sondern auf der Ebene kollektiver Handlungsanreize in Form von Regeln, Institutionen, Strukturen zu analysieren und zu lösen. Ist beispielsweise der Klimawandel auch auf übermäßigen Energiekonsum zurückzuführen, dann ist es Homanns Gedankengang zufolge ein Irrweg, moralisch zu einem ökologischeren Verhalten der Verbraucher aufzurufen. Der richtige Weg sei es vielmehr, die Rahmenordnung so zu gestalten, dass weniger Energie verbraucht wird. 3. Kritik einer rein institutionenethischen Perspektive Zu der kirchlichen Soziallehre hat Karl Homann ein kritisches Verhältnis. Zwar anerkennt er vor allem mit Blick auf die Sozialverkündigung von Papst Johannes Paul II. ein gegenüber früheren Zeiten vertieftes Verständnis für die Bedeutung sozialer Ordnung und Institutionen. Aber er kritisiert, dass die Enzykliken auch immer wieder im tugendethischen Paradigma argumentieren. Im Hinblick auf die Enzyklika Sollicitudo rei socialis von Johannes Paul II aus dem Jahr 1987 beispielsweise stört sich Homann daran, dass der Papst in dem Zusammenhang seiner Überlegungen über die Ursachen der Unterentwicklung und Armut in vielen Teilen der Welt von „Strukturen der Sünde“37 spricht. Wenn der Papst sagt, es sei auch „erforderlich, die Ursachen moralischer Natur zu ermitteln“38, die es für die Not der Menschen in den Entwicklungsländern gebe, wenn er explizit die „Gier nach Profit“ und das „Verlangen nach Macht“ kritisiert,39 dann erweist sich für den Institutionenethiker „die Hintergrundvorstellung, in der dieser Teil der Enzyklika gedacht ist, als vormodern.“40 In der kirchlichen Soziallehre wiederum findet sich eine ausdrückliche Kritik an ordnungspolitischen und sozialethischen Konzeptionen, die einseitig nur die Institutionen und Strukturen in den Blick nehmen. So schreibt Papst Benedikt XVI. 2009 in seiner Enzyklika Caritas in veritate: „Im Laufe der Geschichte hat man oft gemeint, die Schaffung von Institutionen genüge, um der Menschheit die Erfüllung ihres Rechtes auf Entwicklung zu gewährleisten. Leider hat man in solche Institutionen ein übertriebenes Vertrauen gesetzt, so als könnten sie das ersehnte Ziel automatisch erlangen. In Wirklichkeit reichen die Institutionen allein nicht aus, denn die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ist vor

___________ 37

Sollicitudo rei socialis 36 ff. Sollicitudo rei socialis 35. 39 Sollicitudo rei socialis 661. 40 Homann (2002), S 9. 38

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allem Berufung und verlangt folglich von allen eine freie und solidarische Übernahme von Verantwortung“.41

Der Papst zielt mit dieser Bemerkung sicher nicht ausdrücklich auf Karl Homanns Ansatz. Diesen haben jedoch eine ganze Reihe Vertreterinnen und Vertreter der Christlichen Sozialethik kritisiert. Institutionen und Strukturen, so etwa Ursula Nothelle-Wildfeuer, seien „nichts völlig Statisches“, sondern stünden „im Wechselspiel mit dem individuellen moralischen Verhalten der in ihnen handelnden Subjekte“42. Auch Thomas Hausmanninger meint, dass es zu kurz greife, in dem Appell an die individuelle Moral, wie er nach wie vor in der kirchlichen Sozialverkündigung üblich ist, nur ein vormodernes Relikt zu sehen. Das „Ethos als Komplement einer Strukturenethik“43 sei weiterhin unverzichtbar. Arno Anzenbacher verweist zudem auf die Bedeutung der individuellen Moral in der Gesellschaft für die Prozesse der Regelfindung und -reform. Hier zeige sich sehr deutlich, „dass die sozialethische Perspektive die individualethische voraussetzt und nur aufgrund dieser Fundierung ethischmoralischen Charakter besitzt.“44 Aber nicht nur aus den Reihen der Theologie wird Homann kritisiert. Der Politikwissenschaftler Reinhard Zintl etwa bezeichnet bereits den Begriff einer Anreizethik als „irreführend, da er den Eindruck erwecken könnte, es handele sich um die Charakterisierung bereits bestimmter Inhalte einer ökonomischen Ethik. Dass eine Ethik anreizkompatibel sein sollte, ist eine Restriktion, nicht aber eine inhaltliche Kennzeichnung.“45 Auch ein die ökonomische Methode in den Vordergrund stellender ethischer Ansatz könne sich nicht völlig auf die Anreize kaprizieren, sondern müsse sich auf normative Fragen einlassen, sonst handele es sich gar nicht um eine ethische Theorie. Und selbst der Volkswirt Guy Kirsch, der die Idee einer Anreizethik „in hohem Maß vernünftig“ findet, bemerkt kritisch, dass es „weder nötig noch sinnvoll ist, der individuellen Moral derart wenig Aufmerksamkeit zu widmen“46. Um Potentiale und Grenzen des Konzepts einer Anreizethik angemessen zu würdigen, ist aus unserer Sicht die Unterscheidung von zwei Ebenen im Gedankengang Homanns hervorzuheben, die er selbst innerhalb seiner Theorie betont,47 aber nicht immer hinreichend umsetzt. Auf der ersten Ebene geht es um die Frage der Legitimation gesellschaftlicher Normen, auf der zweiten um das ___________ 41

Caritas in veritate 11. Nothelle-Wildfeuer (1999), S. 70. 43 Hausmanninger (1997), S. 65. 44 Anzenbacher (1995), S. 215. 45 Zintl (1995), S. 232. 46 Kirsch (1995), S. 216 f. 47 Siehe dazu und zum Folgenden Homann/Blome-Drees (1992), S. 17 f. 42

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Problem der Implementation dieser Normen unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft. Das zentrale Thema der meisten Publikationen des Münchener Wirtschaftsethikers ist diese Implementationsfrage. Und hier liegt, das konzedieren auch viele seiner Kritiker, die Stärke des Ansatzes. „Homann arbeitet überzeugend heraus,“ so der evangelische Sozialethiker Jochen Gerlach, „worin der Beitrag der Wirtschaftstheorie für ethische Problemlagen bestehen kann“48. Er verweist dabei ebenso wie Elmar Nass49 und Arnd Küppers50 besonders auf die Analyse von Dilemmastrukturen zum besseren Verständnis von Interaktionszusammenhängen und auf die Möglichkeit, aufgrund der so erlangten Erkenntnisse soziale Strukturen und Institutionen besser im Hinblick auf ethisch erwünschte Effekte gestalten zu können. Unter dieser Perspektive ergibt sich, dass – zumindest unter den Voraussetzungen einer funktional differenzierten Gesellschaft – eine starre Trennung von Individual- und Sozialethik im Bereich von Angewandter Ethik letztlich nicht mehr durchführbar ist. Vielmehr werden in einer angemessenen normativen Evaluation moralischer Konflikte beide Perspektiven ineinander greifen müssen. Der Einzelne handelt unter institutionell determinierten und kulturell geprägten sozialen Rahmenbedingungen. Andererseits prägen die individuellen moralischen Präferenzen und Handlungen auch die Entwicklung von kulturellen Anschauungen und Institutionen.

II. Ansätze zu einer Ethik des Konsums Ulrike Knobloch betont die Notwendigkeit eines in dieser Weise zweistufigen Ansatzes normativer Ethik im besonderen Hinblick auf eine Konsumethik: „Gerade in der heutigen Gesellschaft, in der die Auswirkungen einzelner (Konsum-) Handlungen unüberschaubar geworden sind, müssen Institutionen geschaffen werden, die den einzelnen in seiner Verantwortungsübernahme entlasten oder unterstützen. Allerdings werden auch die den einzelnen entlastenden Institutionen idealerweise von allen von den Auswirkungen der individuellen Handlungen betroffenen Menschen geschaffen. Der einzelne trägt demnach nicht nur Verantwortung für sein individuelles Handeln, sondern auch für die Gestaltung der gesellschaftlichen Institutionen, die verantwortliches individuelles Handeln erst ermöglichen.“51

Dieser Perspektive möchten wir uns anschließen, dabei aber betonen, dass wir einen weiten Institutionenbegriff zugrunde legen. Das heißt, es geht nicht nur um Institutionen im engeren Sinne, die in bestimmten formellen Prozessen errichtet werden. Sondern umfasst sind hier auch Institutionen im weiteren Sin___________ 48

Gerlach (2002), 227. Vgl. Nass (2003), S. 194. 50 Vgl. Küppers (2008), S. 398 f. 51 Knobloch (1994), S. 143. 49

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ne, also soziale Strukturen und Gegebenheiten, die im informellen Sinne handlungsleitend sind. Auch hier zeigt sich ein Ineinandergreifen von sozial- und individualethischer Perspektive. Eine Vielzahl von gleichläufigen individuellen Handlungen verdichtet sich zu sozialen Handlungsmustern und Institutionen im weiteren Sinne. Mit dieser Ergänzung beziehungsweise Präzisierung wollen wir für unsere weiteren Überlegungen die von Knobloch vorgeschlagene Systematik einer Konsumethik übernehmen, wie sie im folgenden Schema52 illustriert wird: Tabelle 1

Individuelle Ebene: Frage nach den Voraussetzungen des Konsums Institutionelle Ebene: Sorge um den Erhalt der Voraussetzungen

Ethik der Gerechtigkeit:

Ethik des guten Lebens:

Gerechter Konsum

Konsum als Teil des guten Lebens

Verallgemeinerte Gegenseitigkeit: Sozial- und Umweltverträglichkeit des Konsums

Konkrete Gegenseitigkeit:

Sicherung der Sozial- und Umweltverträglichkeit

Unterstützung bei der Bedürfnisinterpretation

Bedürfnisinterpretation

Neben der bereits erwähnten Verbindung von sozial- und individualethischer Perspektive sollen in diesem Ansatz also außerdem die Paradigmen von Gerechtigkeitsethik und Ethik des guten Lebens miteinander verbunden werden. Es erscheint einleuchtend, wenn Knobloch meint, die auffällige Vernachlässigung des Aspekts des Konsums im zeitgenössischen wirtschaftsethischen Diskurs sei auch darauf zurückzuführen, dass moderne Ethiken sich weitgehend auf den Aspekt der Gerechtigkeitsethik beschränken und Fragen des guten Lebens meist ausklammern.53 „Die Vernunftmoral“, so die von Knobloch exemplarisch angeführte Position von Jürgen Habermas, „ist auf Fragen der Gerechtigkeit spezialisiert und betrachtet grundsätzlich alles im scharfen aber engen Lichtkegel der Universalisierbarkeit.“54 Weil Fragen des guten Lebens aber eben nicht universalisierbar sind, sollen sie eo ipso von dem praktischen Diskurs ausgenommen werden. „Der Universalisierungsgrundsatz“, so Habermas an anderer Stelle, „funktio___________ 52

Knobloch (1994), S. 145. Vgl. Knobloch (1994), S. 139. 54 Habermas (1998), S. 145. 53

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niert wie ein Messer, das einen Schnitt legt zwischen ‚das Gute‘ und ‚das Gerechte‘, zwischen evaluative und streng normative Aussagen.“55 Neben Habermas könnte man andere Autoren anführen, etwa John Rawls, der ausdrücklich betont, dass sein Konzept einer „Gerechtigkeit als Fairness“ als politisch und nicht als moralisch zu begreifen ist. „Somit bleibt Gerechtigkeit als Fairneß, philosophisch gesprochen, an der Oberfläche. Angesichts der tiefgreifenden Differenzen, die zwischen Überzeugungen und Vorstellungen über das Gute zumindest seit der Reformation bestehen, müssen wir erkennen, daß eine öffentliche Übereinstimmung über grundlegende philosophische Fragen ebensowenig ohne die staatliche Verletzung von Grundfreiheiten erreicht werden kann wie über Fragen religiöser oder moralischer Lehren. Die Philosophie, verstanden als Suche nach der Wahrheit einer unabhängigen metaphysischen und moralischen Ordnung, kann nach meiner Überzeugung in einer demokratischen Gesellschaft keine brauchbare gemeinsame Basis für eine politische Gerechtigkeitskonzeption bereitstellen.“56

Eben durch diese, gleichsam systemimmanente, „Vernachlässigung der Fragen des guten Lebens wird auch den damit eng verbundenen Fragen des Konsums nur geringe Bedeutung beigemessen“,57 so Knobloch. Im Anschluss an Seyla Benhabib stellt sie diese strikte Trennung von Gerechtigkeitsfragen und Fragen des guten Lebens in Zweifel. Zwar bestreitet sie nicht, dass Vorstellungen des guten Lebens nicht universalisierbar sind, aber sie bestreitet, dass das ein hinreichender Grund sei, sie aus dem praktischen Diskurs auszuklammern. Das funktioniere schon allein deshalb nicht, weil die Trennung beider Sphären nur in der Theorie messerscharf sei – insoweit besteht wiederum eine Parallele zu der Unterscheidung von Individual- und Sozialethik. Selbst Habermas konzediert neuerdings, dass es „keinen Metadiskurs [gibt], auf den wir uns zurückziehen könnten, um die Wahl zwischen verschiedenen Formen der Argumentation zu begründen“ und zu entscheiden, „ob wir ein gegebenes Problem unter Gesichtspunkten des Zweckmäßigen, des Guten oder des Gerechten auffassen und behandeln möchten“.58 Wenn aber also die Diskursethik die Unterscheidung von Fragen des guten Lebens und des Gerechten nur formal, aber nicht konkret-inhaltlich vornehmen kann, so die einleuchtende Schlussfolgerung von Knobloch, sei es auch nicht sinnvoll und letztlich auch nicht durchführbar, diese Fragen eo ipso aus dem praktischen Diskurs auszuklammern. Da es eben keinen Metadiskurs gebe, der die Einteilung in die formalen Kategorien vorwegnehme, müsse diese selbst zum Gegenstand des Diskurses gemacht werden. „Durch die Diskussion um ih___________ 55

Habermas (1983), S. 113. Rawls (1995), S. 44. 57 Knobloch (1994), S. 139. 58 Habermas (1991), S. 117 f. 56

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re Zuordnung bleiben die Fragen des guten Lebens der Reflexion und Transformation zugänglich, und man beschränkt sich nicht frühzeitig auf die Fragen der Gerechtigkeit“.59 Im Folgenden sollen Ansätze einer Ethik des Konsums entsprechend der oben dargestellten Systematik entfaltet werden. Anders als in der Studie Knoblochs soll im Folgenden das Thema zunächst unter der Perspektive der Gerechtigkeit betrachtet werden und in einem zweiten Teil unter der Perspektive einer Ethik des guten Lebens. Unter beiden Gliederungspunkten sollen entsprechend der Fragestellung dieses Papers jeweils die individualethischen Aspekte im Vordergrund stehen. Die sozialethischen Implikationen des jeweiligen Aspekts sollen abschließend angesprochen werden, können im Rahmen dieses begrenzten Papers aber nicht weiter entfaltet werden. 1. Konsum unter der Perspektive der Gerechtigkeit Entsprechend der Idee des kantischen kategorischen Imperativs ist eine Verhaltensmaxime nur dann als gerecht zu bezeichnen, wenn sie verallgemeinerbar ist, das heißt, wenn sie geeignet ist, auch das Verhalten aller anderen zu bestimmen. Das ist der Ausgangspunkt, den Knobloch in ihrer Erörterung des gerechten Konsums wählt. Als konkrete Ausformulierung des Verallgemeinerungsgrundsatzes im Hinblick auf eine Konsumethik bezeichnet sie die Sozial- und Umweltverträglichkeit des Konsums. Weiter ausbuchstabiert wird dieser Gedankengang von Adela Cortina, die die unterschiedlichen Formulierungen Kants für seinen kategorischen Imperativ aufgreift und für die Frage nach Kriterien gerechten Konsums in einer differenzierten Argumentation fruchtbar macht. Entsprechend der ersten Formulierung des kategorischen Imperativs, der gemäß eine Handlungsmaxime dann moralisch ist, wenn sie geeignet ist, allgemeines Gesetz zu werden, rückt auch für Cortina mit Blick auf den Konsum die Frage der Nachhaltigkeit in den Fokus. Es gehe also bei dem Verallgemeinerungstest um folgende konkrete Frage: „Ist eine Konsumhandlung dergestalt, dass sie, einmal verallgemeinert, die Natur selbst zerstört, deren Prinzip das des Lebens ist, so ist die Norm, sie auszuführen, nicht moralisch.“60 Wem angesichts der abstrakten Formulierung die Brisanz dieses Satzes nicht sofort klar ist, hilft Cortina mit einem Beispiel auf die Sprünge: dem Kauf eines Autos. Hätte jeder Mensch auf der Welt ein Auto in Gebrauch, so wären die Auswirkungen auf die Umwelt verheerend; also wäre der Kauf eines Autos demnach unmoralisch. Und Ausnahmen lässt der kategorische Imperativ unter diesen ___________ 59 60

Knobloch (1994), S. 141. Cortina (2006), S. 96.

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Umständen bekanntlich nicht zu. Ist ein Konsum umweltschädlich, und würde er als universales Verhaltensmuster die Natur zerstören, dann ist das entsprechende Verhalten jedem Einzelnen moralisch untersagt. Denn „[d]ie Maxime des Egoismus darf nicht über der Maxime stehen, dem, was sich als moralisches Gesetz erwiesen hat, zu gehorchen.“61 Die oberste konsumethische Norm würde diesem Gedankengang entsprechend lauten: „Konsumiere so, dass deine Norm verallgemeinerbar ist, ohne die Nachhaltigkeit der Natur zu gefährden.“62 Damit ist Cortinas Gedankengang aber noch nicht am Ende. Die Konsequenz, dass die Autoproduktion sofort eingestellt werden müsse, möchte sie an dieser Stelle noch nicht ziehen. Stattdessen wendet sie sich der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs zu, um das Themenfeld von allen Seiten auszuleuchten. Übertragen auf den Konsum würde die Konkretisierung der Formel nach ihrer Lesart folgendermaßen lauten: „Konsumiere so, dass du die Freiheit eines jeden Menschen sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich achtest und förderst.“63 Inhaltlich füllen möchte sie diesen Imperativ unter Rückgriff auf Amartya Sen, der in seiner Theorie an Rawls anknüpft, aber dessen Fokussierung auf materielle Güter kritisiert. Sen meint, dass die sittliche Qualität einer Gesellschaft sich danach bemisst, inwieweit ihre Mitglieder die tatsächliche Fähigkeit haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Er spricht von einem „capability-based assessment of justice“64. In einem dritten und ihre Überlegungen abschließenden Schritt wendet sich Cortina schließlich Kants Gedanken zu, demgemäß „ein jedes vernünftige Wesen so handeln [muss], als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.“65 Im Hinblick auf die Frage des gerechten Konsums macht sie diese Reich-der-Zwecke-Formel des kategorischen Imperativs dahingehend fruchtbar, dass sie fordert, dass einzelne Normen des Konsums „in einen Gesamtlebensstil eingefügt werden [müssen], der mit der Gesetzgebung eines möglichen Reichs der Zwecke kohärent sein muss.“66 Der bei vielen Familien verbreitete Eifer bei der Mülltrennung etwa werde moralisch völlig wertlos, wenn man im Übrigen den Verhaltensmustern der Konsumgesellschaft folge, das für Cortina eben dort frappant wird, wo jede Familie ein oder gar mehrere Autos besitzt. ___________ 61

Cortina (2006), S. 97. Cortina (2006), S. 97. 63 Cortina (2006), S. 97. 64 Sen (1992), S. 81. 65 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 438. 66 Cortina (2006), S. 98. 62

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„Mehr als isolierte Normen“, so die Quintessenz von Cortinas Überlegungen, „müssen darum nachhaltige, übernehmbare und verallgemeinerbare Lebensstile für einen gerechten Konsum erdacht werden.“ Was sie damit meint, erläutert sie abermals an ihrem Reizthema Auto: Wenn gemäß der Verallgemeinerungsformel des kategorischen Imperativs die in den heute hochentwickelten Ländern herrschende Art, Autos zu besitzen und zu gebrauchen, moralisch unstatthaft sei, dann sei die richtige Konsequenz nicht das Verbot der Produktion von Autos. Es gehe vielmehr darum, den Auto-Konsum „umzuverteilen, durch neue, ausbaufähige Lebensformen: Lebensformen der so genannten ‚globalen Mittelschicht‘.“ Hieraus ergibt sich ihre abschließende Formulierung des kategorischen Imperativs für einen gerechten Konsum, der die Nachhaltigkeit der Umwelt und die Förderung der Freiheit des Menschen gleichermaßen berücksichtige: „Übernimm die Normen eines Konsumlebensstils, die sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen die Freiheit fördern und ein allgemeines Reich der Zwecke ermöglichen.“67 Cortinas Diskreditierung der Müll trennenden und zugleich Auto fahrenden Familien lässt ihren eigenen Pessimismus erkennen, mit dem sie offenbar die Realisierungschancen ihres hohen konsumethischen Forderungsanspruchs betrachtet. Dieser unerreichbar scheinende Anspruch rührt auch daher, dass sie sich in diesem Teil ihrer Argumentation ganz auf der Ebene der kantischen Pflichten- und Prinzipienethik bewegt. Im Folgenden begibt sie sich deshalb, wie auch Knobloch in ihrer Untersuchung, auf das Feld der Diskursethik. Dennoch sind die prinzipienethischen Überlegungen im Ausgang von Kants kategorischem Imperativ keineswegs wertlos. Sie verdeutlichen vielmehr die dramatische Ungerechtigkeit des heute in den hochentwickelten Gesellschaften herrschenden Konsumverhaltens. Und sie verdeutlichen die Dramatik der ökologischen Herausforderung, die sich in der Weise noch verschärft, wie sich das westliche Konsummuster in einigen sich rasch entwickelnden Schwellenländern verbreitet, allen voran natürlich China. Insbesondere die Debatte über den Klimawandel zeigt dabei, wie Gerechtigkeits- und Klugheitsargumente ineinander übergehen. Was heute unter dem Aspekt der Gerechtigkeit geboten ist, erscheint mittel- und langfristig als Gebot der Klugheit und des wohlverstandenen Eigeninteresses. 68 Ulrike Knobloch weist darauf hin, dass bei der Forderung nach ökologischem und sozialverträglichem Konsum vorausgesetzt ist, dass der Verbraucher auch einen entsprechenden Handlungsspielraum hat.69 Dieser aber sei zumindest in den hochentwickelten Ländern bei den meisten Menschen gegeben. Er ___________ 67

Cortina (2006), S. 98. Vgl. Knobloch (1994), S. 149 f. 69 Siehe dazu und zum Folgenden Knobloch (1994), S. 151 f. 68

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umfasse vor allem die Möglichkeit, die Entscheidung über den Kauf bestimmter Produkte auch unter sozialen und ökologischen Aspekten zu treffen und das Gebrauchs- und Verbrauchsverhalten mit Blick auf den Aspekt der Nachhaltigkeit zu verändern. Solche Veränderungen im Konsumverhalten, wenn sie denn Verbraucher in relevanter Zahl umfassen, führen auch zu entsprechenden Verhaltensänderungen bei den Produzenten. Um die Beispiele vom Anfang aufzugreifen: Weil nach den Fleischskandalen der letzten Jahre immer mehr Konsumenten Vorbehalte gegen Fleisch aus Massentierhaltung hegen, wächst der Markt für Bio-Fleisch stetig. Und wenn sich Verbraucher in größerer Zahl dafür interessieren würden, unter welchen Arbeitsbedingungen die von ihnen erworbenen Textilien produziert werden, würden einige Produzenten sicher mehr soziale Verantwortung zeigen und damit auch ihre Produkte bewerben. Bisher allerdings fristen fair gehandelte Textilien nach wie vor ein Schattendasein. Wie wichtig in diesem Zusammenhang eine kritische Öffentlichkeit, insbesondere eine kritische Berichterstattung in den Medien ist, die die Verbraucher erst über Missstände informiert, zeigt das eingangs geschilderte Beispiel der Textilfabriken in Bangladesch. Erst die wachsende Aufmerksamkeit und Kritik in den Medien nach mehreren großen Brandunglücken und schließlich dem verheerenden Einsturz der Textilfabrik in Sabhar im April 2013 baute einen solchen öffentlichen Druck auf, dass sich mehr als 70 internationale Textilunternehmen dazu durchrangen, entgegen ihrer langjährigen Weigerung ein Brandschutzabkommen zu unterzeichnen, das mehr Arbeitssicherheit in den Fabriken ihrer bangladeschischen Lieferanten sicherstellen soll. Das ganze Thema wird unter dem Aspekt der Konsumentensouveränität verhandelt. Dieser Begriff und die dahinter stehende Idee sind sehr umstritten. Das in der Diskussion gezeichnete Bild des Konsumenten changiert „zwischen den Extremen ‚Übertölpelte beziehungsweise Tölpel der Kultur‘ und ‚Helden der Moderne‘.“70 Bei aller kritischen Diskussion des Konzepts der Konsumentensouveränität, die sich etwa um den Einfluss der Werbung oder um das soziale Klima einer Kultur des Konsumismus dreht, wird man allerdings mit Achim Lerch daran festhalten wollen, „dass Individuen in ihrem Verhalten zumindest nicht vollständig determiniert sind, sondern grundsätzlich sowohl individuelle als auch soziale Lernprozesse und damit verbundene Verhaltensänderungen möglich sind.“ Würde man von diesem Postulat abrücken „wäre nicht nur die Debatte um Konsumentensouveränität obsolet, sondern jegliche Beschäftigung mit (Wirtschafts-)Ethik“.71 Bei aller Betonung der Bedeutung der individualethischen Ebene darf aber freilich nicht die in der Auseinandersetzung mit Karl Homann herausgearbeite___________ 70 71

Bauman (2009), S. 20. Lerch (2004), S. 78.

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te Erkenntnis vergessen werden, dass ethische Prinzipien anreizkompatibel in der Gesellschaft implementiert werden müssen, damit derjenige, der sich moralisch verhält, am Ende nicht der Dumme ist. Gesellschaftliche Ziele wie das der Energiewende sind nicht allein über das Ethos der Bürgerinnen und Bürger umzusetzen, sondern hier bedarf es umfangreicher gesetzlicher Vorgaben und Rahmensetzungen. Das eingangs genannte Beispiel des Sparens zeigt zudem die Grenzen der Steuerungsmöglichkeiten, die der Einzelne durch sein Verhalten als Verbraucher hat. So komplexe Funktionssysteme wie der Finanzmarkt können nur über die Herstellung eines gesetzlichen Ordnungsrahmens zu mehr Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit gebracht werden. Dabei darf aber freilich wiederum nicht vergessen werden, dass Voraussetzung einer in solcher Weise veränderten Ordnungspolitik wiederum die Veränderung der moralischen Bewusstseinslage bei den Individuen ist. Auch das ist in der Auseinandersetzung mit Homann betont worden. Individual- und Sozialethik greifen unter den komplexen Funktionsbedingungen hochentwickelter moderner Gesellschaften ineinander. 2. Konsum unter der Perspektive einer Ethik des guten Lebens Eine Gerechtigkeitsethik im Sinne von Habermas und Rawls bleibt, wie oben bereits dargestellt, philosophisch „an der Oberfläche“72, sie stellt eine „Minimalethik“73 dar. Für eine entfaltete Konsumethik ist das nicht ausreichend, eben weil Fragen des Konsums nicht zu trennen sind von den persönlichen Präferenzen der als Verbraucher agierenden Individuen. Solche individuellen Präferenzen aber stehen in engem Zusammenhang mit persönlichen Konzeptionen des guten Lebens. Die Brücke von den gerechtigkeitsethischen Erwägungen zu den Überlegungen im Anschluss an eine Ethik des guten Lebens baut Knobloch auf der Grundlage der Erkenntnis, dass eine kantische Ethik im Sinne von Habermas und Rawls, wie oben dargestellt, die Unterscheidung von Fragen des guten Lebens und des Gerechten nur formal, aber nicht konkret-inhaltlich durchführen kann. Wie sehr beide Fragenkreise ineinander laufen, zeigt sich gerade im Hinblick auf eine Konsumethik, in der der formale Verallgemeinerungsgrundsatz sich in den Fragen der Sozial- und Umweltverträglichkeit des Verbraucherverhaltens aktualisiert. Denn „was sozial- und umweltverträglich ist, läßt sich nicht ohne Vorstellungen über das gute Leben festlegen“.74 ___________ 72

Rawls (1995), S. 44. Knobloch (1994), S. 152. 74 Knobloch (1994), S. 153. 73

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„Die Bedürfnisse und die damit verbundenen Vorstellungen vom guten Leben können nicht als unhinterfragt gegeben angesehen werden, sondern bevor wir über die Sozial- und Umweltverträglichkeit unserer Wirtschaftsweise etwas aussagen können, haben wir immer schon Entscheidungen getroffen, was wir brauchen und welche Güter wir aus dem Riesenangebot der zur Auswahl stehenden Möglichkeiten zur Befriedigung unserer Bedürfnisse auswählen. Als Konsumenten besitzen wir die Fähigkeit und unterliegen dem Druck, Entscheidungen zu treffen. Mit diesen Entscheidungen sind wir eingebunden in den kulturellen Kontext, in dem Selbstversorgung nicht mehr möglich ist und in dem wir zum Kauf von auf dem Markt angebotenen Gütern gezwungen werden. Forderungen nach Veränderungen im Konsumverhalten müssen diesen kulturellen Rahmen des Konsums ernst nehmen.“75

Dieser kulturelle Rahmen ist derjenige der Konsumgesellschaft. Was Thorstein Veblen 1899 in seiner Schrift The Theory of the Leisure Class mit Bezug auf die Oberschicht als „demonstrativen Konsum“ oder „Geltungskonsum“ bezeichnet hat,76 ist innerhalb der hochentwickelten modernen Gesellschaften zum allgemeinen sozialen Handlungsmuster geworden. Adela Cortina definiert die Konsumgesellschaft als „jene Gesellschaft, in der der Konsum zur zentralen Dynamik des gesellschaftlichen Lebens geworden ist, und ganz besonders der Konsum von Waren, die nicht lebensnotwendig sind“. Ganz im Sinne von Veblen meint sie, dass der Konsum von Luxusgütern in den hochentwickelten Gesellschaften „zum Schlüssel für persönlichen Erfolg“ geworden ist. Außerdem meint sie, der Luxuskonsum sein „zum wesentlichen Lockmittel für Politiker auf Stimmenfang und zum Wirtschaftsmotor geworden“.77 Und in der Tat: Nur über Veblens Figur des demonstrativen Konsums ist der Erfolg bestimmter vergleichsweise teurer, aber eben prestigeträchtiger Markenprodukte zu erklären. Eines der besten Beispiele in diesem Zusammenhang sind nach wie vor die Produkte des Apple-Konzerns. Das Konsumverhalten der Apple-Kunden illustriert auch idealtypisch den Veblen-Effekt, also das Phänomen einer anomalen Nachfragereaktion, die darin besteht, dass bei bestimmten Produkten ein höherer Preis zu einer größeren Nachfrage führt als ein niedrigerer Preis. Rational erklärbar ist das einzig durch den Veblen-Effekt, der darin begründet liegt, dass der Erwerber mit dem überteuerten Produkt auch das damit verbundene gesellschaftliche Prestige kauft. Konsum wird zum Geltungskonsum. In ihrer Marktstrategie setzt die Firma Apple nach wie vor wie keiner ihrer Mitbewerber auf den Veblen-Effekt, der durchaus zu Recht bisweilen als „Snob-Effekt“ übersetzt wird. Apple-Produkte sind nicht nur im Vergleich zu Konkurrenzprodukten signifikant teurer, vor allem sinken ihrer Preise – anders als bei allen Konkurrenzprodukten – selbst dann nicht, wenn bereits Nachfolgegenerationen eines bestimmten Produktes auf dem Markt sind. Apple___________ 75

Knobloch (1994), S. 153. Siehe dazu Veblen (2011), S. 79 ff. 77 Cortina (2006), S. 91; im Original z.T. Hervorhebungen. 76

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Kunden stört das nicht. Das mit Apple-Produkten verbundene soziale Prestige wiegt für sie offenbar so schwer, dass sie auch bereit sind, überhöhte Preise für veraltete Technik zu bezahlen. Zygmunt Bauman spricht gar von einer „konsumistische[n] Revolution“78. Den Übergang vom Konsum zum „Konsumismus“ verortet er wie Cortina an dem Punkt, an dem der Konsum seine zentrale soziale Bedeutung bekommen hat. „Im Gegensatz zum Konsum, der in erster Linie ein Merkmal und eine Beschäftigung von einzelnen Menschen ist, ist Konsumismus ein Attribut der Gesellschaft.“79 Baumann zieht einen Vergleich zu der modernen Gesellschaft von Produzenten. Die Rolle, die die Arbeitskraft in dieser vormaligen Gesellschaftskonstellation gespielt habe, spiele in der Postmoderne der Konsum. „Damit eine Gesellschaft sich dieses Attribut [des Konsumismus] aneignet, muss die vollkommen individuelle Fähigkeit des Wollens, Wünschens und Sehnens – genau wie die Arbeitskraft in der Gesellschaft von Produzenten – von den Einzelnen losgelöst (‚entfremdet‘) und zu einer externen Kraft recycelt/verdinglicht werden. Diese Kraft bringt dann die ‚Gesellschaft von Konsumenten‘ als eine spezifische Form des menschlichen Zusammenlebens zum Laufen und hält sie auf Kurs, während sie gleichzeitig spezifische Parameter für effektive individuelle Lebensstrategien festlegt und auf andere Weise die Wahrscheinlichkeit bestimmter individueller Entscheidungen und Verhaltensweisen manipuliert.“80

Unter dieser Perspektive hält Bauman auch die ganze Diskussion über Konzept der Konsumentensouveränität für Augenwischerei. Es macht unter dem konsumistischen Regime seiner Ansicht nach gar keinen Sinn darüber zu streiten, inwieweit der Verbraucher autonome Entscheidungen trifft oder aber in seinem Konsumverhalten durch externe Faktoren wie Werbung determiniert ist. Denn was die Konsumgesellschaft von anderen Gesellschaftsformen unterscheide, sei letztlich gerade das Verwischen und schließlich die Beseitigung der in dieser Diskussion zum Tragen kommenden Unterscheidung von Selbst- und Fremdbestimmung beziehungsweise von Subjekt und Objekt. „In der Konsumgesellschaft kann niemand ein Subjekt werden, ohne sich zuerst in eine Ware zu verwandeln, und niemand kann sich seines Subjektseins sicher sein, ohne ständig jene Fähigkeiten zu regenerieren, wiederzubeleben und aufzufrischen, die von einer käuflichen Ware erwartet und eingefordert werden.“81 Diese „Verwandlung von Konsumenten in Waren“ ist seiner Ansicht nach das „wichtigste Kennzeichen der Konsumgesellschaft“, ein freilich sorgfältig verschleiertes Kennzeichen.82 ___________ 78

Bauman (2009), S. 38; im Original z.T. Hervorhebungen. Bauman (2009), S. 41; im Original z.T. Hervorhebungen. 80 Bauman (2009), S. 41. 81 Bauman (2009), S. 21. 82 Bauman (2009), S. 21; im Original z.T. Hervorhebungen. 79

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Auch wenn man dieses Urteil von Baumann in seiner ganzen Schärfe nicht teilen mag, so diskutiert er in seiner Analyse doch gesellschaftliche Tendenzen, die Entwicklungen markieren, die unübersehbar in die Richtung seiner Diagnose weisen. Beispielhaft angeführt seien an dieser Stelle nur die Veränderungen in menschlichen Beziehungen. In Partnerschaftsbörsen im Internet präsentieren sich die Menschen in der Tat oftmals selbst wie Waren und bewerten beziehungsweise wählen potentielle Partnerinnen und Partner wie Konsumobjekte. Auch Beziehungen werden zunehmend nach den Regeln des Konsums und nicht des partnerschaftlichen Miteinanders geführt. „Die zugrunde liegende Überzeugung ist, dass es möglich ist, das Liebesobjekt aus einer Anzahl eindeutig festgelegter und messbarer körperlicher und sozialer Eigenschaften und Charakterzüge zusammenzusetzen. Den Prinzipien eines solchen ‚Liebesmarketings‘ […] zufolge sollte der interessierte ‚Käufer‘ des ‚Liebesobjekts‘ vom ‚Kauf‘ absehen, wenn das gesuchte Liebesobjekt in einer oder mehrerer Kategorien durchfällt, genau so, wie er oder sie es ganz gewiss bei jeder anderen angebotenen Ware tun würde; wenn sich das Versagen jedoch erst nach dem ‚Kauf‘ herausstellt, so ist das durchgefallene Liebesobjekt, wie jedes andere Konsumgut, wegzuwerfen und entsprechend auszutauschen.“83

Baumans Diagnose läuft darauf hinaus, was Jürgen Habermas auf den Begriff der „Kolonialisierung der Lebenswelt“84 gebracht hat. Diese Kolonialisierung ist in der Konsumgesellschaft nach Baumans Überzeugung massiv, geradezu totalitär. Wir leben seiner Ansicht nach unter der totalitären Herrschaft des Konsumismus. Wie das postmoderne Autoren zu tun pflegen, lässt auch Bauman den Leser mit dieser schonungslosen Diagnose weitgehend allein. Für eine Therapie zur Revitalisierung der Lebenswelt finden sich allenfalls Hinweise. Es ist ja gerade dieser „Destruktivismus“, der Habermas herzliche Abneigung gegen die Protagonisten der philosophischen Postmoderne begründet. Aber auch wenn man in Baumans Analyse zutreffende Beschreibungen von Tendenzen in der Konsumgesellschaft erkennt, muss man seinem Pessimismus nicht folgen. Ulrike Knobloch möchte konsumistische Einstellungen und Handlungsmuster durch „Bedürfnisinterpretation“85 aufbrechen. Es geht dabei um eine ethische „Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der Menschen, die sie durch am Markt angebotene Güter zu befriedigen versuchen“.86 Ausdrücklich betont Knobloch, dass eine solche Bedürfnisinterpretation sich dem Faktum der fortschreitenden Kolonialisierung der Lebenswelt, sie spricht von „Ökonomisierung“, stellen muss. ___________ 83

Bauman (2009), S. 135; im Original z.T. Hervorhebungen. Habermas (1981), S. 522. 85 Knobloch (1994), S. 153. 86 Knobloch (1994), S. 154. 84

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In die gleiche Richtung gehen die Überlegungen von Michael Neuner. Er entfaltet seine Idee von Konsumethik als „Bedürfnisethik“. Als „Zielnorm“ einer solchen Bedürfnisethik führt Neuner den Begriff des „human Angemessenen“87 ein. Und als human angemessen rekonstruiert er in seinem Vorschlag eine Bedürfnisgestaltung, in der drei Bedürfniskreise zur hinreichenden Ausbildung gelangen, die er als „universelle Grundbedürfnisse“ im Sinne von „notwendigen Bedingungen eines glückenden Lebens“ identifiziert. Das sind erstens das „Bedürfnis nach Kompetenz und Wirksamkeit“, zweitens das Bedürfnis „nach autonomem und selbstbestimmten Handeln“ und drittens das „Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit, Zugehörigkeit und sozialen Beziehungen“.88 Neuner versucht schließlich, dieses Kriterium des human Angemessenen operationalisierbar zu machen, indem er die Unterscheidung von „instrumentalem“ und „terminalem Konsum“ einführt. „Im Falle des instrumentalen Konsums wird das Partikulare, die Konsumentscheidung, nicht einem Zweck, sondern einem Sinnziel untergeordnet, das mit dem Streben nach Entfaltung der Identität umschrieben werden kann“. Human angemessen ist ein solcher instrumentaler Konsum unter der Bedingung der „qualifizierte[n], temperierte[n] Ausweitung des individuellen Verbrauchs im Hinblick auf solche Güter, die der Weiterentwicklung des individuellen Erlebnis- und Gestaltungspotenzials zuträglich sind.“89 Dies ist zugleich Restriktionsbedingung, durch die nach Neuners Überzeugung im instrumentalen Konsum „eine immanente Begrenzung der Güterakkumulation angelegt“ ist.90 Hiervon unterscheidet er den „terminalen Konsum“, dem eine „Rückbindung an selbstkonkordante Ziele“ fehle. Der im terminalen Modus Konsumierende handelt nach dieser Lesart also gegen seine wahren Bedürfnisse im Sinne der oben eingeführten universellen Grundbedürfnisse und verfehlt deshalb auch das Ziel eines guten, gelingenden beziehungsweise glücklichen Lebens. Auch Ulrike Knobloch nennt als ersten Schritt einer ethischen Bedürfnisinterpretation die „Unterscheidung von wahren und falschen Bedürfnissen“91. Als Diskursethikerin ist sie sich dabei aber bewusst, dass diese Unterscheidung nicht von einem neutralen Standpunkt aus möglich ist, sondern nur in deliberativen Prozessen unter Beteiligung aller (potentiell) Betroffenen ermittelt werden kann. Ausgangspunkt ist dabei eine „rationale Bedürfniskritik“.92 ___________ 87

Neuner (2006), S. 107. Neuner (2006), S. 110. 89 Neuner (2006), S. 115. 90 Neuner (2006), S. 116. 91 Knobloch (1994), S. 154. 92 Knobloch (1994), S. 156. 88

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Mit ihrem Ansatz einer „kommunikativen Ethik der Bedürfnisinterpretation“ folgt Knobloch Seyla Benhabib, die in diesem Konzept ihrerseits Habermas Idee der „reflektierten Bedürfnisinterpretation“ weiterentwickelt. Es geht dabei nicht darum, bestimmte Lebensvorstellungen zu universalisieren, sondern „unsere Lebensformen und konkreten Geschichten […] der moralischen Kommunikation, Reflexion und Veränderung zugänglich“ zu machen.93 Auf diese Weise vermeidet Knobloch die Gefahr, im Theoretischen ins Illusionäre und im Praktischen ins Totalitäre abzugleiten, und es gelingt ihr dennoch, die Fragen eines guten und gelingenden Lebens in den praktischen Diskurs einzubeziehen. „Die kommunikative Ethik der Bedürfnisinterpretation bietet die Möglichkeit, kritisch zu den faktischen Bedürfnisäußerungen Stellung zu nehmen, ohne sich dadurch außerhalb des Bedürfnissystems zu stellen. Eine solche kommunikative Ethik der Bedürfnisinterpretation spricht uns allen die Fähigkeit zu, den soziokulturellen Kontext unserer Bedürfnisse zu erkennen und uns darüber zu verständigen, welche Bedürfnisse aus dem Blickwinkel des guten Lebens in den Diskurs eingebracht werden sollen, und zwar vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß ihre Befriedigung in der gegenwärtigen Konsumgesellschaft nicht mehr gewährleistet ist.“94

In einen solchen praktischen Diskurs können sich insbesondere auch Kirche und Theologie mit der spezifisch christlichen Vorstellung von einem guten Leben einbringen. Im Hinblick auf sozial- und umweltverträgliches Konsumverhalten werden hierbei die Motive der Schöpfungsverantwortung und der christlichen Nächstenliebe die entscheidende Rolle spielen. Knobloch diskutiert auch im Hinblick auf die Bedürfnisinterpretation institutionenethische Aspekte, die an dieser Stelle, wie bereits oben unter der Gerechtigkeitsperspektive, nur erwähnt werden sollen, aber nicht weiter dargestellt oder diskutiert werden können. Es geht hierbei vor allem um Institutionen, die die Fähigkeit der Verbraucher zur Bedürfnisinterpretation stärken können. Hier ist selbstverständlich vor allem an die unterschiedlichen Bereiche der Bildung und auch an Möglichkeiten der Verbraucheraufklärung zu denken. Unter diesem Punkt wäre heute auch die Diskussion über das „Nudging“ zu verhandeln.95 Darunter fällt der eingangs als Beispiel genannte Vorschlag der Grünen, in öffentlichen Kantinen einen Veggie-Day einzuführen.

III. Ergebnisse und Zusammenfassung Auch wenn die zentrale Bedeutung sozialer Institutionen und Ordnungsstrukturen für sozial- und wirtschaftsethische Fragestellungen unter den Bedingungen moderner hochentwickelter Großgesellschaften unbestritten ist, so ___________ 93

Knobloch (1994), S. 159. Knobloch (1994), S. 160. 95 Siehe dazu Thaler/Sunstein (2009). 94

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ergibt sich daraus keineswegs die Notwendigkeit der völligen Ausklammerung individual- beziehungsweise tugendethischer Überlegungen. Vielmehr zeigt gerade das Beispiel des Konsums, wie sehr individuelle Entscheidungen und Handlungen sich zu sozialen Handlungsmustern und schließlich Strukturen verdichten. Eine starre dogmatische Trennung von Individual- und Sozialethik beziehungsweise Tugend- und Institutionenethik ist deshalb theoretisch nicht zu begründen und praktisch undurchführbar. Grundsätzliche Einwände gegen das Vorhaben einer Konsumentenethik, wie sie etwa bei Karl Homann begegnen, sind deshalb nicht stichhaltig. Eine ordnungspolitische beziehungsweise ordnungsethische Exkulpation der Verbraucher im Hinblick auf eine moralische Verantwortung für ihr Konsumverhalten ist keineswegs angezeigt. Gleichwohl wird eine umfassende Konsumethik sich nicht als eine rein individualethisch konzipierte Konsumentenethik darstellen lassen, sondern ihren Gegenstandsbereich gleichermaßen institutionen- und ordnungsethisch ausleuchten. Selbstverständlich muss ein als moralisch vorzugswürdig erkanntes Konsumverhalten durch entsprechende Anreizstrukturen ordnungspolitisch gestützt und gefördert werden. Im vorliegenden Paper, dem das Thema der Marktverantwortung der Konsumenten vorgegeben war, wird allerdings nicht der Anspruch erhoben, eine solche umfassende Konsumethik zu skizzieren. Vielmehr beschränkt sich der vorliegende Aufsatz darauf, den individualethischen Aspekt des Themas näher auszuleuchten und Ansätze einer Konsumentenethik zu reflektieren. Gegenstand des vorliegenden Papers ist also der Versuch zu eruieren, welches Konsumverhalten im Hinblick auf berechtigte Gemeinwohlinteressen wie ökologische Nachhaltigkeit und globale soziale Gerechtigkeit moralisch angezeigt ist. Die ordnungsethische Frage, durch welche sozialen Institutionen und Regeln Anreize zu nachhaltigem und sozialem Konsum geschaffen werden können, ist nicht Gegenstand dieses Papers, gehört aber zweifellos zu den unverzichtbaren Dimensionen einer umfassenden Konsumethik. Ebenso wie eine starre Abgrenzung von Individual- und Sozialethik hier nicht möglich ist, stößt auch die dogmatische Trennung von Gerechtigkeitsethik und Ethik des guten Lebens auf dem Anwendungsfeld des Konsums an ihre Grenzen. Denn das Konsumverhalten von Menschen steht immer im engen Zusammenhang mit ihren individuellen Präferenzen, die eben in Vorstellungen vom guten Leben wurzeln. Eine an Kant geschulte Gerechtigkeitsethik ordnet ein Verhalten dann als gerecht ein, wenn seine leitende Maxime verallgemeinerbar ist, also als universale Verhaltensmaxime vorstellbar ist, ohne dass die allgemeinen Lebensgrundlagen geschädigt und moralisch relevante Interessen verletzt würden. Im Hinblick auf das Konsumverhalten ergeben sich aus dem moralischen Abwägungskriterium der Verallgemeinerbarkeit insbesondere die Ansprüche der Sozial- und Um-

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weltverträglichkeit. Nimmt man diese ethischen Grundsätze, die sich in anderen Lebenszusammenhängen ganz fragloser allgemeiner Zustimmung erfreuen, auch im Hinblick auf die Praxis des Konsums ernst, dann ist kaum zu übersehen, dass das in den hochentwickelten Gesellschaften herrschende Konsumverhalten in weiten Teilen als ungerecht bezeichnet werden muss. Ein daraus folgendes moralisches Minimalgebot wäre es, an Konsumenten den Anspruch zu stellen, bei ihren Kaufentscheidungen zumindest auch zu berücksichtigen, unter welchen sozialen und ökologischen Bedingungen Produkte hergestellt werden. Die Marktentwicklung bei Bioprodukten zeigt, dass Produzenten auf solche veränderten Einstellungen beim Verbraucher durchaus reagieren. Das aus den gerechtigkeitsethischen Überlegungen folgende anspruchsvollere moralische Gebot besteht darin, Konsum- und Lebensstile zu entwickeln, die mit einer global verantwortlichen, solidarischen und nachhaltigen Weltentwicklung konkordant sind. Adela Cortina spricht von „Lebensformen der so genannten ‚globalen Mittelschicht‘.“ Wie solche Konsum- und Lebensstile aussehen können, muss in deliberativen Prozessen unter Beteiligung (oder zumindest Berücksichtigung) aller (potentiell) Betroffenen eruiert werden. Ein solcher Diskurs kann das selbst gesteckte Ziel allerdings nur dann erreichen, wenn über die genannten Gerechtigkeitsaspekte hinaus auch die unterschiedlichen Vorverständnisse der Diskursteilnehmer hinsichtlich eines guten und gelingenden Lebens berücksichtigt werden. Schon die Begriffe des Lebensstils oder der Lebensform überschreiten die Gerechtigkeitsperspektive und verweisen auf die Rhetorik einer Ethik des guten Lebens, wie sie in eudämonistischen Ansätzen im Gefolge von Aristoteles und Thomas von Aquin repräsentiert ist. Insofern weist das Thema der Konsumethik in erkenntnistheoretischer Hinsicht über das Feld der Angewandten Ethik signifikant hinaus. Gerade die ethische Beschäftigung mit dem Thema des Konsums macht deutlich, dass manche überkommenen fundamentalethischen Dichotomien neu gedacht werden müssen. Im Hinblick auf die Unterscheidung von Individual- und Sozialethik beziehungsweise Tugend- und Institutionenethik, die Abgrenzung zwischen moderner Diskursethik und „vormoderner“ eudämonistischer beziehungsweise aristotelischer Ethik und schließlich mit Blick auf die Differenzierung zwischen Gerechtigkeitsethik und Ethik des guten Lebens zeigt sich auf dem Anwendungsfeld der Konsumethik, dass diese Einteilungen nicht (mehr) im Sinne der strikten Trennung, sondern in Rücksicht auf vielfältige Verschränkungen und Übergänge gedacht und gehandhabt werden sollten.

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Von der Begründung zur Implementierung einer Ethik des Konsums – Korreferat zu Arnd Küppers und Peter Schallenberg – Von Katharina Klein Mit ihrem Paper zielen Arnd Küppers und Peter Schallenberg auf die Frage, was mit der Marktverantwortung von Konsumenten gemeint ist. Sie beantworten diese normativ damit, dass Konsumenten eine Verantwortung in Form von (i) der Befolgung konsumethischer Normen, die sich am Kant’schen kategorischen Imperativ orientieren1, und (ii) der Reflexion und Interpretation der eigenen Bedürfnisse im gesellschaftlichen Diskurs2 zukommt. Wobei das Befolgen der Normen, Pflichten und Prinzipien nur dann realistisch scheint, wenn diese „anreizkompatibel in der Gesellschaft implementiert werden“3. Die Autoren behandeln somit ausführlich eine zweistufige Konsumethik, in der sowohl individual- und sozialethische Perspektiven als auch „die Paradigmen von Gerechtigkeitsethik und Ethik des guten Lebens miteinander verbunden werden.“4 Sie beginnen ihren Beitrag mit drei aktuellen Beispielen, die die Verantwortung von Konsumenten verdeutlichen sollen. Es folgt eine Abhandlung über die Entwicklung der Marktverantwortung des Einzelnen aus wirtschaftsethischer Perspektive von der Vormoderne bis zur Moderne. Hierbei zeigen sie, dass sich die Verantwortlichkeit vom Individuum zu den Institutionen bzw. dem Rechtsstaat und seinen Rahmenbedingungen verlagert. In der Moderne, so Schallenberg und Küppers, trete „die Bedeutung von kodifizierten sozialen Regeln [...] in den Vordergrund“5, was zu einer ordnungspolitischen Exkulpation der Verbraucher führe. Wie es zu einer solchen Exkulpation gekommen ist und wie die Wirtschaftsethik darauf reagiert, nämlich mit dem Modell der ökonomischen Wirtschaftsethik Karl Homanns, erörtern die Autoren auf den darauffolgenden Seiten. Es folgt eine Kritik an dieser „rein institutionenethischen Perspektive“6, ___________ 1

Vgl. Küppers/Schallenberg (2014), 123 f. Vgl. ebd., S. 131 f. 3 Ebd., S. 126. 4 Ebd., S. 121. 5 Ebd., S. 114. 6 Ebd., S. 118 ff. 2

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die zu der Folgerung führt, dass „eine starre Trennung von Individual- und Sozialethik im Bereich von Angewandter Ethik letztlich nicht mehr durchführbar ist.“7 Basierend jeweils auf der individualethischen Perspektive einer Ethik der Gerechtigkeit und einer Ethik des guten Lebens entwickeln die Autoren im Anschluss den anfangs geschilderten zweistufigen Ansatz einer Ethik des Konsums. Mit dieser skizzierten Ethik des Konsums bleiben Schallenberg und Küppers auf einer theoretischen Begründungsebene ohne den eigentlichen Problembereich einer Konsumethik, die tatsächliche Implementierung, zu thematisieren. Die Frage, ob und wie die ethischen Prinzipien durch die Konsumenten und die Gesellschaft konkret umgesetzt werden können, bleibt seitens der Autoren unbeantwortet. Nachdem der folgende Beitrag Kritik geübt hat an der unzureichenden Darstellung der Entwicklung des Menschenbilds und der fehlenden Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Handlungsspielraum der Konsumenten, widmet er sich ebendiesem Hauptkritikpunkt sowie den möglichen Besonderheiten und Problematiken der Implementierungsebene einer Ethik des Konsums.

I. Zur Entwicklung des Menschenbilds Bei der Abhandlung über die Entwicklung der Marktverantwortung des Einzelnen aus wirtschaftsethischer Perspektive wandelt sich das theoretische Verständnis des vorherrschenden Menschenbilds abrupt von einem tugendhaften in der Vormoderne zu einem selbstsüchtigen und niederträchtigen in der Moderne.8 Für Schallenberg und Küppers endet die Auseinandersetzung mit dem Menschenbild auf dieser letzten Entwicklungsstufe – vermutlich deshalb, weil es vordergründig nicht um das Menschenbild, sondern die daraus resultierende Konzeption einer ökonomischen Wirtschaftsethik geht. Die ökonomische Wirtschaftsethik arbeitet, folgt man der Darstellung der Autoren, mit dem Modell des Homo oeconomicus, der sich nur dann „dem Gemeinwohl dienlich“9 und vermeintlich moralisch verhält, wenn Anreize in Form von gewissen Regeln existieren. Dass Menschen aber de facto keine rein eigennutzinteressierten Wesen sind und es durchaus problematisch sein kann, sie in der Theorie als solche zu skizzieren10, zeigen die Experimente der Verhaltensökonomik. Speziell das ___________ 7

Ebd., S. 120. Vgl. ebd., S. 115 f. 9 Ebd., S. 115. 10 Verfechter des Modells des Homo oeconomicus beteuern, dass es sich um eine Methodik und nicht um ein Menschenbild handelt. Die Kritik der Verhaltensökonomik ist aber insofern gerechtfertigt, als dass die methodische Fokussierung auf den Homo oeconomicus womöglich dazu führt, dass diejenigen, die damit arbeiten, irgendwann 8

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Ultimatumspiel11 legt dar, dass das theoretisch erwartete Verhalten (analog der Homo oeconomicus-Annahme) von dem tatsächlichen Verhalten der Individuen abweicht: sie zeigen Tendenzen zu fairem und bestrafendem Verhalten und neigen dazu, zu kooperieren und den Nutzen Anderer in ihre eigene Nutzenfunktion einzubeziehen. Diese Erkenntnisse verlangen nach einem grundlegenden Überdenken des realitätsfernen Modells des Homo oeconomicus. Sie verleihen der Kritik der Autoren am institutionenethischen Ansatz, die stark aus der Perspektive der kirchlichen Soziallehre argumentiert, sowie dem darauffolgenden Zwischenfazit, dass „eine starre Trennung von Individual- und Sozialethik im Bereich von Angewandter Ethik letztlich nicht mehr durchführbar ist“12, empirischen Nachdruck.

II. Zum Handlungsspielraum von Konsumenten Als wichtige Voraussetzung für die Forderung nach ökologischem und sozialverträglichem Konsum benennen die Autoren mit Bezug auf Knobloch den Handlungsspielraum des Einzelnen, der vor allem die Entscheidungsfreiheit über den eigenen Konsum umfasse.13 Während Bilharz, Fricke und Schrader noch einen Schritt weitergehen und erörtern, „dass die Verantwortung [von Konsumenten; K.K.] von den Handlungsmöglichkeiten abhängt“14 und dass „aus moralphilosophischer Perspektive“ Verantwortung vor allem „durch die Möglichkeit [entsteht], Handlungsspielräume nutzen zu können“15, bleiben Schallenberg und Küppers an diesem Punkt innerhalb ihrer Diskussion stehen. Dabei wäre gerade der Handlungsspielraum von Diskussions- und Erkenntnispotenzial geprägt gewesen. Wohl gehen die Autoren auf die Thematik der Konsumentensouveränität, unter welcher der angesprochene Handlungsspielraum subsumiert werden kann, ein. Sie beenden diese aber rasch mit dem Zitat von Lerch, „dass Individuen in ihrem Verhalten zumindest nicht vollständig determiniert sind [...].“16 Auf eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Frage, ob Konsumenten tatsächlich den nötigen Handlungsspielraum besitzen, der sie zur Verantwortungsübernahme befähigt, verzichten sie gänzlich. Die Vertiefung ___________ glauben, dass Menschen sich tatsächlich so verhalten und der Homo oeconomicus indirekt doch zu einem Menschenbild wird. 11 Güth/Schmittberger/Schwarze (1982); Das Ultimatumspiel, der Spieltheorie entstammend, gilt als das klassische Experiment aus dem Bereich der heute unter dem Begriff Verhaltensökonomik bekannt ist. 12 Küppers/Schallenberg (2014), S. 120. 13 Vgl. ebd., S. 125. 14 Bilharz/Fricke/Schrader (2011), S. 13. 15 Ebd., S. 11. 16 Lerch (2004), S. 78, zitiert nach Küppers/Schallenberg (2014), S. 126.

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dieser Frage ist es m.E. aber, die innerhalb der Debatte um die Verantwortungsfähigkeit von Konsumenten von fundamentaler Bedeutung ist. Betrachtet man die Konsumentensouveränität aus einer normativen Perspektive, sollen die Konsumenten idealiter, im Sinne eines nachhaltigen Konsums, souveräne Konsumentscheidungen treffen.17 Die Frage, die sich stellt, ist vielmehr, ob sie das realiter können. Ahaus, Heidbrink und Schmidt fragen demnach richtigerweise, ob „Konsumenten tatsächlich über das nötige Maß an Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit, die Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung sind“18, verfügen.19 Für Schmidt und Seele ist diese Frage positiv zu beantworten: jedem Konsumenten kann Verantwortung zugeschrieben werden, da die Bedingungen dafür, nämlich „Freiheit, Kausalität und Wissentlichkeit“20, in jedem Konsumenten (zumindest solchen, die in Demokratien leben) erfüllt sind. In ihrem Beitrag gehen sie sogar einen Schritt weiter und zeigen eine Ausgestaltung dieser Handlungsspielräume auf, aus der drei Bereiche verantwortlichen Konsums hervorgehen: die Konsumhandlung (mit den Phasen Kauf, Nutzung und Entsorgung), die Informationsbeschaffung und die Einflussnahme auf Marktstrukturen.21 Auch Bilharz, Fricke und Schrader würden die von Ahaus, Heidbrink und Schmidt gestellte Frage positiv beantworten: Konsumenten besitzen immer mehr „Wahl-, Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten“22. Und weil es diese (Handlungs-)Möglichkeiten sind, auf denen sich die Verantwortung des Einzelnen gründet, erweitert sich mit diesen Möglichkeiten auch die Verantwortung. Der Konsument hat ein Wahlrecht, weil er beispielsweise „die Möglichkeit [besitzt], Strom aus regenerativen Quellen zu beziehen oder im Supermarkt Bioprodukte zu kaufen“23; er hat ein Informationsrecht, da er über Kennzeichnungen und Verbraucherbildungsmaßnahmen informiert und aufgeklärt wird; das Kommunikationsrecht besteht in der Möglichkeit, jederzeit in einen offenen Dialog mit Unternehmen und Politik treten zu können und vice versa.24

___________ 17

Vgl. Lerch (2005), S. 75. Ahaus/Heidbrink/Schmidt (2009), S. 4 [Hervorhebung: K.K.]. 19 Eine vollständige Diskussion dieser Frage ist aufgrund des begrenzten Rahmens dieses Beitrags nicht möglich, jedoch sollen einige Aspekte exemplarisch thematisiert werden. 20 Heidbrink (2008), S. 134, zitiert nach Schmidt/Seele (2012), S. 172. 21 Vgl. Schmidt/Seele (2012), S. 172 f. 22 Bilharz/Fricke/Schrader (2011), S. 11. 23 Ebd., S. 12. 24 Vgl. ebd. 18

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Bilharz, Fricke und Schrader konstatieren wohl „Defizite, die die Konsumentenverantwortung einschränken“25, diese jedoch nicht generell infrage stellen können.26 Solche Defizite könnten beispielsweise die Marktintransparenz sowie die Informationsasymmetrie zwischen Anbieter und Nachfrager sein. Auch das Vertrauen der Konsumenten in den Markt, die Anbieter sowie die eigene Marktmacht muss hinsichtlich der Frage des Könnens eingehend diskutiert werden. Weiterhin ist zu klären, inwiefern das verantwortlich konsumieren Können ein verantwortlich konsumieren Wollen voraussetzt. Denn die anreizkompatible Ausgestaltung der Rahmenordnung ist nur dann fruchtbar, wenn die Konsumenten prinzipiell daran interessiert sind, Verantwortung zu übernehmen.27 Diese Diskussion um den tatsächlichen Handlungsspielraum der Konsumenten in einer wirklichen Welt, stützt die nachfolgende Kritik an der Fokussierung auf die Begründungsebene.

III. Notizen zur Implementierung einer Ethik des Konsums Aus den Ausführungen Schallenbergs und Küppers’ geht hervor, dass ein Konsument verantwortungsvoll handelt, wenn er (i) die konsumethischen Normen befolgt28 und (ii) seine eigenen Bedürfnisse über einen praktischen Diskurs interpretiert29. Die Autoren bleiben mit ihrer Ethik des Konsums auf einer Begründungsebene und fokussieren sich in ihrem Aufsatz explizit auf den individualethischen Aspekt und eine Auseinandersetzung mit den Ansätzen einer Konsumethik; sie erheben nicht den Anspruch, eine umfassende Konsumethik skizzieren zu wollen. Dabei liegt die eigentliche Herausforderung einer Ethik des Konsums m.E. darin, die ethischen Normen in die ökonomische Entscheidungslogik der Konsumenten zu übersetzen und somit die Konsumenten dabei zu fördern und dazu zu befähigen, tatsächlich nach diesen Normen zu handeln und folglich Verantwortung für ihren Konsum zu übernehmen. Eine diesen Ansprüchen genügende Ethik des Konsums muss deshalb alle drei Ebenen Angewandter Ethik30 berücksichtigen, um funktionsfähig zu sein und eine Wirkung ___________ 25

Ebd. Vgl. ebd. 27 Die Frage nach dem verantwortlich konsumieren Wollen wird nicht weiter erörtert, da sie zu weit in generelle moralphilosophische Debatten hineingreifen würde, die im Rahmen dieses Beitrags nicht behandelt werden können. 28 Vgl. Küppers/Schallenberg (2014), S. 123. 29 Vgl. ebd., S. 131 f. 30 Schramm (2011) unterscheidet in Begründungsebene, in Anwendungsebene und in Implementierungsebene. Auf der Begründungsebene geht es rein um die theoretische Begründung moralischer Normen. Auf der Anwendungsebene wird die Frage erörtert, „welche von unter Umständen konfligierenden moralischen Normen in einer bestimmten 26

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zu haben – denn die moralischen Ziele können annähernd nur dann erreicht werden, wenn sich die Konsumethik zusätzlich sowohl der Anwendungs- als auch der Implementierungsebene widmet. Bezüglich der Anwendungsebene merken Schallenberg und Küppers an, dass eine Realisierung der konsumethischen Normen nur dann realistisch scheint, wenn man sich damit auf eine Diskursebene begibt, sie setzen sich anschließend aber nicht näher mit dieser Ebene auseinander. Da die tatsächliche Handlung31 der Konsumenten auf der Implementierungsebene stattfindet, sollen an dieser Stelle mögliche Probleme und Vorschläge für diese dritte Ebene einer Konsumethik vorgestellt und diskutiert werden, denn „[n]eben den moralischen Gerechtigkeitsaspekten spielen hier ökonomische Kostenaspekte ebenso eine Rolle wie juristische Gesichtspunkte oder technische Normen.“32 Wobei zu beachten ist, dass die folgenden Ausführungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie sollen lediglich einen Impuls geben für eine mögliche Umsetzungsgestaltung der normativen Forderungen der von Schallenberg und Küppers skizzierten Ethik des Konsums und mögliche, damit verbundene Hindernisse aufzeigen. 1. Die konsumethischen Normen betreffend a) Fehlendes moralisches Interesse Die Befolgung von Normen setzt stets ein Wollen voraus, d.h. es erfordert ein Interesse des Einzelnen an der Befolgung dieser Normen. Da es sich in diesem Fall um konsumethische Normen handelt, werden konkret moralische Interessen33 innerhalb der Konsumentscheidungssituation unterstellt. In der Realität jedoch kommen diese moralischen Interessen der Konsumenten, ob in dieser Situation präsent oder nicht, nicht mit der nötigen Konsequenz zum Tragen (Stichwort: Attitude-Behaviour-Gap34). ___________ lokalen Situation angemessen(er) ist.“ (S. 182). Diese Norm könnte implementiert werden. Es existiert dann eine potenzielle moralische Realität. Diese potenzielle moralische Realität muss im nächsten Schritt, auf der Implementierungsebene, zur konkreten Wirklichkeit werden. Da auf dieser dritten Ebene aber Polydimensionalität herrscht, muss die Ethik Wege finden, sich gegen andere Disziplinen zu behaupten, um die Umsetzung der moralischen Ziele in der aktualen Welt sicherzustellen. 31 Im Sinne der Implementierung einer Norm in die Realität. 32 Ebd., S. 184. 33 Näheres zur Theorie moralischer Interessen und zur Unterscheidung von ökonomischen und moralischen Interessen: Schramm (2006). 34 Mit der Attitude-Behaviour-Gap wird der Umstand beschrieben, dass das Verhalten der Konsumenten oftmals von deren behaupteter Intention, ökologisch und sozial nachhaltig konsumieren zu wollen, abweicht. Vgl. Newholm/Shaw (2007).

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b) Informationsasymmetrien Die Konsumenten sind von den konsumethischen Normen in der Praxis überfordert (sofern diese überhaupt in deren Aufmerksamkeitsbereich gelangen, denn dieser Aspekt ist schließlich noch ungeklärt). Sie sind nicht im Besitz aller, die ökologische und soziale Nachhaltigkeit der zum Konsum zur Verfügung stehenden Produkte betreffenden, Informationen und deshalb nicht in der Lage zu beurteilen, ob der Konsum von Produkt A nun der Nachhaltigkeit zuträglicher ist als der Konsum von Produkt B. Auf dem Markt herrschen Informationsasymmetrien zwischen Anbieter und Nachfrager. Zudem sind Konsumenten häufig mit Zeitknappheit und einem Überangebot an Konsumprodukten (Stichwort: paradox of choice35) konfrontiert. Aus Sicht der Autoren, die das Zusammenspiel von Individual- und Sozialethik stets betonen, könnte man hier nun einwenden, dass es genau aus diesem Grund Institutionen bedarf, die den Konsumenten mit relevanten Informationen versorgen, um ihn zu befähigen den konsumethischen Normen zu folgen. Als ein Beispiel sind Öko-Siegel und -Label anzuführen, die durch Regierungen oder unabhängige Organisationen (z.B. Demeter) vergeben werden (Stichwort: Signalling/Screening). Wobei schon hinsichtlich dieser Maßnahme drei einschränkende Momente, die praktische Umsetzung betreffend, zu diagnostizieren sind: erstens die Unübersichtlichkeit, die aufgrund der Masse an Kennzeichnungen zu einer Überforderung und Kapitulation der Konsumenten führt, zweitens die fehlende Bekanntheit vieler Kennzeichnungen und drittens das fehlende Vertrauen der Konsumenten in ebendiese.36 c) Die Wichtigkeit der Ausgestaltung der Rahmenordnung Die Ausgestaltung der Rahmenordnung ist für die Befolgung der Normen durch den Einzelnen essentiell. Schallenberg und Küppers konstatieren, „dass ethische Prinzipien anreizkompatibel in der Gesellschaft implementiert werden müssen, damit derjenige, der sich moralisch verhält, am Ende nicht der Dumme ist.“37 Um dieser Aussage noch mehr Nachdruck zu verleihen, soll ein Beitrag der Verhaltensökonomik zur Wirtschaftsethik von Festl und Festl-Pell angeführt werden. Sie zeigen, in Anlehnung an das Ultimatumspiel, dass, sofern kein Bestrafungsmechanismus vorhanden ist, schon wenige Homines oeco___________ 35 Im Kern besagt das „paradox of choice“, dass eine Reduktion der den Konsumenten zur Verfügung stehenden Auswahlmöglichkeiten deren Sorge, die richtige Wahl zu treffen, verringert. Andersherum: Ein Zuviel an Auswahlmöglichkeiten kann bei Konsumenten zu großer Unsicherheit und letztendlich zur Resignation (Nicht-Kauf) führen. Vgl. Schwartz (2004). 36 Vgl. zu zweitens und drittens z.B. von Meyer-Höfer/Spiller (2013). 37 Küppers/Schallenberg (2014), S. 127.

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nomices eine Marktinteraktion dominieren können38 und „die Erhöhung der Moralität von Individuen die moralische Qualität der Ergebnisse von Interaktionssituationen“39 nicht zwangsläufig erhöht. Einen weiteren, in diesem Zusammenhang, relevanten Beitrag liefern Falk und Szech. Sie legen anhand eines auf dem Handel mit dem Leben von Mäusen basierenden Experiments dar, dass Märkte, als Institutionen mit Käufern und Verkäufern, u.a. aufgrund der geteilten Verantwortung der Marktteilnehmer, zu einer Erosion moralischer Werte führen.40 Die Idee, dass eine individuelle Handlung für das Marktgeschehen von Bedeutung ist, wird in multilateralen Märkten zerstreut und führt dazu, dass sich die Individuen weniger verantwortlich fühlen. Diese Eigenschaft von Märkten erschwert den Erhalt individualmoralischer Werte.41 Falk und Szech kommen zu dem Ergebnis „that appealing to morality has only a limited potential for alleviating negative market externalities.“42 Diese Erkenntnisse der Verhaltensökonomik unterstreichen die Wichtigkeit der Ausgestaltung der Rahmenordnung für die Befolgung der konsumethischen Normen durch jeden Einzelnen. 2. Den praktischen Bedürfnisdiskurs betreffend a) Unzureichende Bedürfnisreflexion Konsumenten, die trotz reflektierter Bedürfnisse (aus welchen Gründen auch immer; z.B. aus Bequemlichkeit) an einem bestimmten Konsumverhalten festhalten, laufen Gefahr, stigmatisiert zu werden und könnten deshalb von vorneherein eine Teilnahme am praktischen Diskurs und eine Reflexion ihrer Bedürfnisse verweigern. b) Die konkrete Ausgestaltung des praktischen Bedürfnisdiskurses Beim praktischen Diskurs sollen die eigenen Bedürfnisse in den gesellschaftlichen Kontext gestellt und aus diesem heraus interpretiert werden. Konkret, auf Implementierungsebene, bedeutet dies am Beispiel des Bedürfnisses Mobilität, dass der Konsument, angesichts der Kenntnis einer Vielzahl umwelt___________ 38

Vgl. Festl/Festl-Pell (2012), S. 148. Ebd., S. 150. 40 Vgl. Falck/Szech, S. 708. 41 Vgl. ebd. 42 Ebd., S. 710. 39

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freundlicherer Alternativen zum Besitz und Gebrauch eines Automobils, im Sinne einer „kommunikativen Ethik der Bedürfnisinterpretation“43 folgendes tun sollte: (i) die Versprechen der Werbung der Automobilhersteller (z.B. dass der Kauf eines Autos zusätzlich zur Mobilität Status, Prestige und Freiheit verspricht) kritisch hinterfragen44; (ii) den „Einstieg in den Ausstieg vom Automobil durch bewusste Reduktionsstrategien und kombinierte Mobilität“45 überdenken; (iii) den „Zusammenhang von Wohnen und Arbeiten reflektieren“46; (iv) die „Bedürfnisgerechtigkeit von (Kurz-)Fernreisen in Frage stellen“47. Bei dieser Bedürfnisreflexion leistet ihm die „moralische Kommunikation“48 innerhalb der Gesellschaft eine wichtige Hilfestellung. c) Individueller Schwellenwert als Orientierunghilfe Reflektierte Bedürfnisse helfen den Konsumenten dabei, mit dem auf dem Markt vorherrschenden Güter- und damit zusammenhängenden Informationsüberfluss zurecht zu kommen. Die Funktion von reflektierten Bedürfnissen als Orientierungshilfe verdeutlicht das folgende Zitat von Neuner: „Anders als in der Theorie des rational choice angenommen, würden Konsumenten dann nicht eine maximale Anzahl an Optionen miteinander vergleichen, sondern würden nur zu prüfen haben, ob eine Option ihren reflektierten Bedürfnissen angemessen ist oder nicht. Dazu müsste allein ein individueller Schwellenwert festgelegt werden, ab dem eine Marktoption akzeptiert werden kann“.49

IV. Fazit und Ausblick: Was bleibt zu tun? Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen insbesondere zwei Aspekte. Der erste Aspekt bezieht sich auf die Notwendigkeit der vollständigen theoretischen Ausbuchstabierung (von der Begründungs- bis zur Implementierungsebene) einer funktionierenden Ethik des Konsums. Es muss nach Methoden gesucht werden, die es den Konsumenten ermöglichen die konsumethischen Normen in konkrete, lokale Konsumentscheidungssituationen mit einzubeziehen. Der zweite Aspekt betont die Wichtigkeit der Aussagen von Schallenberg und Küppers, dass „eine starre Trennung von Individual- und Sozialethik im ___________ 43

Knobloch (1994), S. 156, zitiert nach Küppers/Schallenberg (2014), S. 131. Vgl. Belz (2001), S. 330 (in Anlehnung an Knobloch (1994), S. 145). 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Knobloch (1994), S. 159, zitiert nach Küppers/Schallenberg (2014), S. 132. 49 Neuner (2005), S. 208. 44

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Bereich von Angewandter Ethik letztlich nicht mehr durchführbar ist“50 und dass „auf dem Anwendungsfeld der Konsumethik“51 Rücksicht genommen werden muss auf das Zusammenwirken der unterschiedlichen theoretischen (Wirtschafts-)Ethikansätze. Diese Aussagen werden gar zur Schlüsselerkenntnis hinsichtlich der Implementierung einer Ethik des Konsums: Institutionen kommt die Aufgabe zu, individuelles ökologisches und sozialverträgliches Konsumieren-Wollen anzuregen (z.B. durch Verbraucherbildung) und ein ökologisches und sozialverträgliches Konsumieren-Können zu ermöglichen (z.B. durch den Abbau von Informationsasymmetrien in Form von Öko-Zertifizierungen)52 53; das Individuum wiederum besitzt die Verantwortung, entsprechend seines ökologischen und sozialverträglichen Konsumieren-Wollens zu handeln und die gesellschaftlichen Institutionen mitzugestalten. Dass auch Unternehmen einen wichtigen Akteur innerhalb einer Ethik des Konsums darstellen, verdeutlicht das folgende Zitat von Schmidt und Seele: „Bei einer ethisch motivierten Anpassung der Marktwirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit lautet die Frage [...], wie nachhaltiges Angebot und nachhaltige Nachfrage optimal aufeinander abgestimmt werden und sich gegenseitig fordern und fördern können. Hierbei sind sowohl die Unternehmen als auch die Individuen in ihrer Rolle als zivilgesellschaftliche und politische Akteure gefragt [...]“.54

Folglich darf eine Ethik des Konsums den Konsumenten mit der Verantwortung nicht alleine lassen, sondern muss dafür Sorge tragen, dass Unternehmen sowie die formalen und informalen Institutionen ihrer Aufgabe als Verantwortungsinstanz und -akteur nachkommen. Nach der vorangegangenen Betrachtung der Herausforderungen und Hindernisse auf der Implementierungsebene einer Ethik des Konsums wird deutlich, dass im Hinblick auf eine funktionierende anwendungsorientierte Konsumethik noch viel zu tun bleibt. Insbesondere müssen aus den bestehenden normativen Forderungen in einem ersten Schritt konkrete Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Hierbei bildet die dezidierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Implementierungsebene den Startpunkt. ___________ 50

Küppers/Schallenberg (2014), S. 120. Ebd., S. 134. 52 Zustimmung findet diese Auffassung bei Meisch (2013), S. 163: „Institutions link individual action to a collective effort. They facilitate taking responsibility by providing a Can to a moral Ought.“ 53 Hinsichtlich der Rolle der Institutionen soll an dieser Stelle auf die anhaltenden Diskussionen zwischen Befürwortern und Kritikern des Paternalismus hingewiesen werden, die, auf anderer Ebene, in dem hier vorliegenden Zusammenhang sicherlich einige interessante, die Implementierungsebene betreffende Erkenntnisse liefern dürften. Von besonderem Interesse ist hierbei der sanfte oder libertäre Paternalismus wie er u.a. von Kirchgässner (2012) und Thaler/Sunstein (2009) propagiert wird. 54 Schmidt/Seele (2012), S. 187. 51

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Katharina Klein

Schmidt, Imke/Seele, Peter (2012): Konsumentenverantwortung in der Wirtschaftsethik. Ein Beitrag aus Sicht der Lebensstilforschung, in: zfwu, 13/2, S. 169–191. Schramm, Michael (2011): Ethik der Transaktion – Eine mikroanalytische Ontologie des operativen Managements, in: Grüninger, Stephan/Fürst, Michael/Pforr, Sebastian/ Schmiedeknecht, Maud (Hrsg.): Verantwortung in der globalen Ökonomie gestalten – Governanceethik und Wertemanagement, Festschrift für Josef Wieland, Marburg, S. 165–187. – (2006): Moralische Interessen in der Unternehmensethik, in: Ebert, Udo (Hrsg.): Wirtschaftsethische Perspektiven VIII – Grundsatzfragen, Unternehmensethik, Institutionen, Probleme internationaler Kooperation und nachhaltiger Entwicklung, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 228/VIII, Berlin, S. 13–39. Schwartz, Barry (2004): The paradox of choice: Why more is less, New York. Thaler, Richard/Sunstein, Cass R. (2009): Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Berlin.

Marktverantwortung von Konsumenten – Eine ökonomische Einordnung – Korreferat zu Arnd Küppers und Peter Schallenberg – Von Eric Christian Meyer

I. Einleitung In ihrem Beitrag geben Küppers/Schallenberg einen historischen Überblick über die ethischen Perspektiven auf den Konsum und versuchen dann zwei Ansätze für eine Konsumethik herauszuarbeiten. Bei dieser Behandlung ergeben sich einige Lücken, die dieser Beitrag in einer ökonomischen Sichtweise zu schließen versucht. Zunächst fällt auf, dass der Begriff der „Marktverantwortung“ keiner Definition unterzogen und auch keine Begründung für entsprechendes marktverantwortliches Handeln gegeben wird. Dieses korreliert mit der Ablehnung eines institutionenökonomischen Erklärungsansatzes für Marktverantwortung und die damit bedingte Verortung eines solchen Handelns. Zum anderen werden zwar Vorschläge für eine Konsumethik unterbreitet, diese werden jedoch nicht hinsichtlich ihrer ökonomischen Wirkungen untersucht, die aber Teil einer solchen Ethik zu sein haben. Dieser Beitrag wird ökonomische Kritikpunkte an den konsumethischen Perspektiven konkretisieren. Es wird dann ausführlich auf die wirtschaftlichen Wirkungen solcher konsumethischer Leitregeln eingegangen. Schließlich soll der institutionenökonomische Ansatz als Lösung für die Herausforderungen der Marktverantwortung stark gemacht werden, wobei seine Stärken und seine Voraussetzungen deutlich werden. Damit wird es auch möglich, enge Gebiete aufzuzeigen, in denen auf die Handlungsebene zielende konsumethische Ansätze unter Umständen eine Rechtfertigung haben könnten.

II. Kritikpunkte 1. Regelebene als Ort der Marktverantwortung Auf eine Definition oder Klärung des Begriffs der Marktverantwortung wird im Beitrag von Küppers/Schallenberg weitgehend verzichtet. Anhand von Beispielen wird versucht zu verdeutlichen, welche Aspekte der Begriff der Markt-

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verantwortung adressieren könnte. Aus ökonomischer Sicht sind die genannten Beispiele als typische Externalitäten von wirtschaftlichen Handlungen zu interpretieren, d.h. die eigenen wirtschaftlichen Aktionen verursachen bei Dritten negative Wirkungen, die der Handelnde nicht berücksichtigt, da sie sich nicht in den Preisen auf den Märkten niederschlagen. Entsprechende Preissignale könnten diese negativen Wirkungen internalisieren. Wenn Marktverantwortung so interpretiert wird, und die genannten Beispiele legen dieses nahe, so wäre tatsächlich die Regelebene der geeignete Ort für einen Diskurs der Marktverantwortung. Küppers/Schallenberg beschreiben den institutionenethischen Ansatz zwar, verwerfen ihn aber mit der Begründung, dass hieraus kein konsumethischer Ansatz herleitbar sei, was in der Natur der Sache liegt. Sinnvoller wäre es, diesen institutionenethischen Ansatz als Kern der Argumentation zu entwickeln und dann auf mögliche Lücken und fehlende Voraussetzungen abzustellen, die Raum für solche Ansätze bieten. Dieses soll in Abschnitt IV. geschehen. 2. Kritik der Konsumethikansätze Küppers/Schallenberg leiten zwei große Ansätze für eine Konsumethik her: Konsum unter der Perspektive der Gerechtigkeit und Konsum und der Perspektive des gerechten Lebens. Beide versuchen Regeln für ein verantwortliches Konsumverhalten abzubilden. In der Gerechtigkeitsperspektive wird eine wesentliche Voraussetzung benannt, die auch aus ökonomischer Perspektive sinnvoll ist. Die Individuen brauchen Handlungsspielräume für ihr Handeln. Dieses ist eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren von Märkten. Der auf Märkten sich vollziehende Tausch von Gütern und Leistungen muss freiwillig sein, d.h. es besteht immer die Möglichkeit, diesen Tausch abzulehnen oder auf die Güter oder Leistungen anderer Anbieter – zumindest mittelfristig – auszuweichen. Nur wenn dieses gegeben ist, können Märkte sinnvoll funktionieren und für beide Marktseiten ihre Wohlfahrtswirkungen entfalten. Nur dadurch entstehen auch Anreize, Produktinnovationen zu leisten, um geänderten Bedürfnissen der Konsumenten gerecht zu werden. Problematischer ist die aus dem kategorischen Imperativ abgeleitete Handlungsmaxime für nachhaltigen Konsum, der einen Verallgemeinerungstest empfiehlt. D.h. eine Konsumentscheidung ist ethisch nur tragbar, wenn sie auch dann noch sinnvoll wäre, wenn alle anderen Menschen diese Konsumentscheidung treffen würden. Diese Maxime missachtet mehrere ökonomische Fakten, so dass sie allenfalls eine Obergrenze für die Konsumkonsequenzen abbildet, die jedoch in der Realität so nie eintreffen wird, und sie damit für eine reale Handlungsmaxime wertlos werden lässt. Erstens existieren zwischen den Indi-

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viduen Präferenzunterscheide, die ihre Konsumentscheidungen leiten. Zu unterstellen, dass alle Individuen diese Konsumentscheidung träfen, würde bedeuten, dass identische Präferenzen und Budgets vorliegen, was nicht der Fall ist. Vielmehr sind es genau diese Unterscheide in den Präferenzen und Budgets, die zu unterschiedlichen Konsumentscheidungen führen und damit Märkte überhaupt erst nötig und wohlfahrtsmehrend werden lassen. Mit einer solchen Konstruktion werden also die Zahl der Konsumenten und damit die Wirkung ihres Konsums maßlos überschätzt. Unterstellt man jedoch, dass immer noch eine hinreichend große Zahl ähnliche Konsumentscheidungen trifft, so missachtet der Ansatz ein weiteres Phänomen. Denn zweitens – und viel wesentlicher – gingen von diesen Konsumentscheidungen entsprechende Preissignale aus. Auf dem Weg zu einer Situation, in der alle oder viele Menschen dieselbe Konsumentscheidung treffen, würden sich auch entsprechende Knappheiten auf den Märkten z.B. für Ressourcen ergeben, die zu steigenden Preisen und damit wieder zu einer Verringerung des Konsums führen würden. Die Folgen, die sich aus solch ähnlichem Konsumverhalten ergäbe, sind also weitaus geringer, da es knappheitsinduzierte Signale gibt, die zu einer entsprechenden Minderung der Folgen führen würde. Eine solche Handlungsmaxime missachtet also den systemischen Charakter von (unabhängigen) Konsumentscheidungen und die in diesem System auftretenden gegenläufigen Kräfte. Die Handlungsmaxime referenziert damit auf eine rein fiktive Benchmark, die eine absolute Folgenobergrenze darstellt, von der aber sicher ist, dass sie so niemals realisiert würde. Würde man ihr folgen, so würde sich die Wohlfahrt für die Menschen reduzieren, ohne dass hierfür eine sinnvolle Begründung vorliegen würde. In der Perspektive des gerechten Lebens finden die ökonomischen Kalküle, die grundlegend für Märkte sind keinen Raum mehr. Auch werden ökonomische Konsequenzen kaum erfasst. Tendenziell werden individuelle Konsumentscheidungen als minderqualifiziert, da durch Informationsdefizite und Werbung verzerrt abgewertet. Mithin bedürfe es zentraler Entscheidungen über den „erlaubten“ Konsum. Dass die negativen Konsequenzen des Konsums als Grundlage für eine solche Handlungsempfehlung dabei überschätzt werden, wurde zuvor schon erläutert. Bei der Abqualifizierung der Werbung wird z.B. übersehen, dass die mit der Werbung verbundene Möglichkeit der Preisdifferenzierung anderen – meist ärmeren – Menschen erst einen Konsum (möglicherweise einen Mindestkonsum) ermöglichen. Die ethische Problematik einer solchen Verweigerung von Konsum für arme Menschen wird jedoch nicht diskutiert. Auch bleibt unklar, wie denn über den „Mindestkonsum“ oder über „wahre und falsche Bedürfnisse“ zu befinden ist. Individuelle Präferenz und Einkommen sind augenscheinlich keine hinreichenden Kriterien mehr für die Konsumentscheidung. Solche fixierten „gesellschaftlich akzeptablen“ Konsumentscheidungen tragen aber letztlich ökonomisch nicht weit. Da die Präferenzen und die Einkommen unabhängig von der Definition dieses Mindestkonsums weiter

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existieren, werden sich entsprechende Sekundärmärkte bilden, wo diese Bedürfnisse dann befriedigt werden. Insgesamt würde es also eines erheblichen Überwachungs- und Umerziehungsaufwandes bedürfen, um diese Vorstellungen durchzusetzen, was in einem liberalen Staat so nicht vorstellbar sein sollte.

III. Ökonomische Wirkungen Die im Beitrag von Küppers/Schallenberg vorgeschlagenen konsumethischen Instrumente zielen darauf ab, den Konsum „schädlicher“ oder „schädigender“ Produkte zu reduzieren oder das Ausmaß der Schädigung bei der Produktion zurückzufahren. Hierfür ergeben sich zwei Ansatzpunkte, die einmal an der Angebotskurve und einmal an der Nachfragekurve der Produkte ansetzen. Vorschläge, die auf entsprechende Regeländerungen wie zum Beispiel zur Erhöhung von Arbeits- oder Umweltstandards oder Mindestlöhnen beruhen, können als eine Erhöhung der Grenzkosten für die Produktion interpretiert werden. Entsprechend verschiebt sich die Angebotskurve der Produzenten nach oben (vgl. Abbildung 1). Preis Nachfrage

Angebot 2 Angebot 1

p2 p1

x2 x1 Menge Abbildung 1: Kostenerhöhung durch Regeländerungen

Mit der Erhöhung der Grenzkosten und der Verschiebung der Nachfragekurve aufgrund von Forderungen an einen verantwortungsvollen Konsum werden somit jene Konsumenten nicht mehr bedient, die die geringste Zahlungsbereitschaft hierfür haben, weil sie entweder eine sehr geringe Präferenz für dieses Produkt haben oder weil sie ein entsprechend geringes Einkommen haben (in der Abbildung sind es jene Nachfrager zwischen x2 und x1). In ihrem Konsum unberührt sind jene Konsumenten mit einer hohen Zahlungsbereitschaft, wenngleich sie nun einen höheren Preis zu entrichten haben und damit die Konsu-

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mentenrente sinkt. Damit ergibt sich bei diesen Vorschlägen tendenziell ein Trade-off zwischen den gewünschten Effekten des Konsums und denjenigen, die hiervon zunächst betroffen sind und tatsächlich mit einem Nicht-Konsum zu diesem Ergebnis beitragen, was typischerweise ärmere Konsumenten sind. Dieses ist insb. dann auch ethisch problematisch, wenn die Forderungen von jenen kommen, die über hohe Zahlungsbereitschaft verfügen und mithin nicht diesen Verzicht zu leisten haben. Nachfrageseitig kann den Wünschen nach einem verantwortungsvollen Konsum durch eine entsprechende Produkt oder Preisdifferenzierungsstrategie entsprochen werden. Modellhaft sei angenommen, dass es gelingt, ein Produkt zu höheren Preisen an jene zu verkaufen, die für entsprechend „fair“ produzierte Produkte eine höhere Zahlungsbereitschaft haben, d.h. jene greifen alle nicht auf die preisgünstigere Variante des Produkts zurück. In diesem Fall bleibt der Konsum jener Nachfrager unberührt, die eine z.B. einkommensbedingte geringe Zahlungsbereitschaft haben. Die Last in Form höherer Preise und einer geringen Konsumentenrente wird von jenen getragen, die eine hohe Zahlungsbereitschaft haben. Für sie wandelt sich ein Teil der Konsumentenrente in eine Produzentenrente (Unternehmensgewinn) um, womit dann Zahlungen z.B. an fair produzierende Lieferanten geleistet werden können. Preis Nachfrage

Angebot

p2 p1

x2

x1

Menge

Abbildung 2: Preisdifferenzierung

Forderungen an die Marktverantwortung der Konsumenten haben also stets auch entsprechende Verteilungswirkungen und es ist zu klären, ob die Kosten einer Maßnahme auch tatsächlich von jenen Konsumenten oder Lobbyorganisationen zu tragen sind, die hierfür eintreten oder ob damit Verträge zu Lasten Dritter geschlossen werden.

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IV. Regelebene als Ort der Marktverantwortung: Voraussetzungen und Handlungskonsequenzen Die Probleme in der Beschreibung einer Marktverantwortung liegen im Wesentlichen in der Ablehnung einer institutionenökonomischen Verankerung dieser Frage in der Regelebene. Märkte brauchen zum Funktionieren auch einen entsprechenden Regelrahmen, der insbesondere in der Sicherung von Eigentumsrechten besteht, da nur dann sinnvolle Tauschbeziehungen möglich sind. Auf dieser politischen Regelebene können – ökonomisch begründet – Eigentumsrechte zugewiesen und eingeschränkt werden. Die Idee der Marktverantwortung des Konsumenten hingegen zielt meist darauf ab, dass der Kauf eines Produktes nicht nur auf das Produkt abzielen sollte, sondern auch auf dessen Produktion und den Konsequenzen daraus. Hier geht es häufig um Umweltverschmutzung oder Arbeitsstandards. Im Falle von auftretenden Externalitäten (wie z.B. bei der Umweltverschmutzung in einem Produktionsprozess) kann dieses durch entsprechende wirtschaftspolitische Instrumente internalisiert werden. Im Falle von Arbeitsstandards stehen ordnungsrechtliche Maßnahmen zur Verfügung, die einen Regelrahmen für die Märkte schaffen. Für die Individuen sind diese Maßnahmen meist mit steigenden (Grenz-)Kosten verbunden, was die oben beschriebenen Konsequenzen nach sich zieht. Was Küppers/ Schallenberg als „ordnungspolitische Exkulpation der Verbraucher“ beschreiben, ist also vielmehr eine zusätzliche Verantwortung, die der Verbraucher hat, allerdings nicht in seiner Rolle als Verbraucher, sondern in seiner Rolle als Staatsbürger. Hier kann einer Verantwortung wirksam nachgekommen werden, so dass man sich die sehr umständlichen Übungen, Konsum- und Regelentscheidung miteinander zu verknüpfen, erspart. Das Vermischen der Konsumentscheidung und der Idee uno acto mit dieser Entscheidung auch Einfluss auf den Produktionsprozess und den ihn gestaltenden Regelrahmen zu nehmen, weist aber auch andere Schwächen auf. Mit dieser Verknüpfung werden stets Insellösungen angestrebt, aber keine umfassende Lösung geliefert. Wird z.B. bei der Produktion eines Gutes klimaschädigendes Kohlendioxid freigesetzt und durch entsprechende öffentliche Aufmerksamkeit eine Reduktion des Konsums dieses Gutes erreicht, so kann es sein, dass Verbraucher auf den Konsum eines anderen Gutes ausweichen, das möglicherweise noch schädlicher ist oder andere Schäden verursacht. Hier erweist sich der Regelansatz klar überlegen, in dessen Diskurs erst das zu lösende Problem eingegrenzt und dann eine umfassende Lösung konzipiert wird, so dass auch substituierende Ausweichhandlungen dem identischen Regelrahmen unterworfen sind. Im Gegensatz zu einer punktuell greifenden Marktverantwortung im Konsum kommt der Regelansatz dem systemischen Charakter des ökonomischen Handelns nach. Auch Forderungen nach bestimmten Arbeitsstandards für Produkte, die konsumiert werden, laufen Gefahr aufgrund des Inselcharakters

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negative Wirkungen zu entfalten. Ähnliche Effekte kann die Forderung nach höheren Arbeitsstandards in anderen Ländern haben. Werden diese dieses in den exportorientierten Branchen durch entsprechende ausgewählte Konsumentscheidungen entsprechend gefördert, so werden die Arbeitsplätze in den Exportbranchen attraktiver, die binnenmarktorientierten Unternehmen für die Versorgung der Bevölkerung sind jedoch nicht in der Lage ähnliche Bedingungen anzubieten, so dass es zu einer Verlagerung der Arbeitskräfte in den Exportsektor und zu einer Minderversorgung in der Binnenwirtschaft kommt. Auch hier hätte eine alle Branchen umfassende Regellösung im Gegensatz zur konsuminduzierten Insellösung klare Vorteile gehabt. Allerdings hat der Regelansatz auch Voraussetzungen für sein Funktionieren. Damit die Individuen ihre Doppelrolle als Konsument und in der Findung geeigneter Regeln wahrnehmen können, müssen einerseits die Märkte, andererseits aber auch entsprechende demokratische Entscheidungsfindungsmechanismen für die Regelfindung wie z.B. Wahlen vorhanden sein. Diese existieren jedoch nicht überall und für alle Problemkreise. Betrachtet man die Arbeitsstandards in einigen Ländern (z.B. in Asien), so fehlen hier entsprechende Mechanismen d.h. der Regelmechanismus ist hier nicht aktivierbar. Außerdem fallen Wirkungen des Handelns und die Begrenzung des demokratischen Entscheidungsprozesses auseinander. Dieses gilt insbesondere für globale Probleme wie z.B. den Klimawandel oder aber auch internationale Arbeitsstandards. Bestenfalls kann hier eine Entscheidungsfindung in Verhandlungen zwischen Staaten erreicht werden, von denen einige nicht über hinreichende interne Entscheidungsmechanismen verfügen. Wenn der Entscheidungskanal jedoch teilweise dysfunktional ist, dann gilt es abzuwägen, ob die – eigentlich unterlegenen – Mechanismen der Konsumverantwortung einen Beitrag zur Internalisierung solcher Produktionsexternalitäten leisten können. Dabei sind jedoch die Wirkungen sorgsam abzuwägen, um nicht – wie bereits beschrieben – negative Nebenwirkungen aufgrund systemischer Zusammenhänge zu erzielen.

V. Fazit Die Marktverantwortung der Konsumenten ist richtig in ihrer Rolle auf der Regelebene allokiert. Andere Mechanismen sind dieser unterlegen, da sie zu Insellösungen führen und damit mögliche Nebenwirkungen nicht berücksichtigen. Erst wenn entsprechende Fehlfunktionen im Entscheidungsprozess der Regelfindung auftreten, ist sorgsam abzuwägen, ob konsumverantwortliche Mechanismen, bei denen die Konsumentscheidung zugleich ein Einwirken auf den Regelrahmen bezweckt, sinnvoll sein können.

Spekulation mit Nahrungsmitteln, Regulierung und Selbstregulierung1 Von Matthias Kalkuhl

I. Einleitung Mit den stark ansteigenden Preisen für Mais, Weizen, Soja und Reis in den Jahren 2007/2008 sowie 2010 rückte die Frage um den Einfluss von Spekulation an Warenterminmärkten in den Vordergrund der öffentlichen Debatte um globale Ernährungssicherheit. Die Weltmarktpreise von Grundnahrungsmitteln waren über viele Jahre hinweg stabil auf niedrigem Niveau geblieben. Der starke Anstieg der Preise zog nicht nur plötzliche Handelsbeschränkungen wie Exportverbote mit sich, die zu weiteren globalen Preisschüben und hoher Volatilität führten. Ansteigende Nahrungsmittelpreise führten auch zu Aufständen, Protesten und politischer Instabilität in mehreren afrikanischen Ländern.2 Die Politik hob das Thema der Preisstabilität und Nahrungsmittelsicherheit mit den G8- und G20-Treffen in den Jahren 2009 bis 2011 auf die internationale Agenda und diskutierte neben verbessertem Krisenmanagement und Investitionen in die Landwirtschaft auch die Regulierung der Warenterminmärkte.3 Der jüngste Beschluss des EU-Parlaments zur MiFID-Richtlinie legt Rahmenbedingungen für eine stärkere Regulierung der Warenterminmärkte fest, die in den kommenden Jahren von den Nationalstaaten ausgestaltet werden. Gerade um die Frage des Einflusses von Spekulation auf die Preisentwicklung ist eine heftige Kontroverse entbrannt. Wie Abbildung 1 veranschaulicht, liegt das Handelsvolumen von Terminkontrakten zwar seit Jahren über der globalen physischen Produktion, ist seit 2004 jedoch erheblich gestiegen. Während Befürworter von Spekulation mit Agrarrohstoffen auf die positiven Effekte für Produzenten hinweisen, die langfristig die Ernährung der Weltbevölkerung sichern, und keine Belege für übertriebene, spekulationsgetriebene Preisspitzen sehen, fordern Kritiker eine stärkere Regulierung der Terminmärkte bis hin zu ___________ 1 Ich danke Anna Winter für wertvolle Kommentare zur Überarbeitung des Manuskripts sowie Markus Henn und Jörg Althammer für ihre Hinweise und Anmerkungen zur Vorstellung dieses Artikels. 2 Vgl. Berazneva/Lee (2013). 3 Vgl. Hiemenz (2012).

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Matthias Kalkuhl

Verboten bestimmter Produkte wie Index-Fonds4. Die mittlerweile zahlreichen ökonomischen Arbeiten zum Einfluss von Spekulation auf Preisentwicklungen kommen allerdings zu unterschiedlichen Resultaten – die Wissenschaft bleibt eine klare Antwort schuldig. Zur Frage nach einer optimalen Regulierung der Warenterminmärkte gibt es dagegen kaum Forschungsarbeiten. 20,000

Millionen Tonnen

17,500 15,000 12,500 10,000 7,500 5,000 2,500 0 19951996199719981999200020012002200320042005200620072008200920102011 Globale Getreideproduktion (Mais, Weizen, Soja) Terminhandel* (Mais/Chicago, Weizen/Chicago und Kansas, Soja/Chicago) * Anmerkung: Das Handelsvolumen bei den Terminkontrakten ist aggregiert über Kontrakte mit verschiedenen Laufzeiten. Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten von FAOSTAT und Bloomberg.

Abbildung 1: Handelsvolumen wichtigster Terminkontrakte im Vergleich zur globalen Produktion

Dieser Artikel stellt die wissenschaftliche Debatte um den Einfluss von Spekulation auf die Preisentwicklung dar und entwickelt mögliche politische Lösungsansätze. Zunächst werden dabei die Grundfunktionen von Warenterminmärkten erläutert und Mechanismen erklärt, wie Spekulation zu einer besseren, aber auch gestörten Preisfindung beitragen kann. Danach werden die empirischen Belege für den Einfluss von Spekulation erörtert und die Größenordnung am Beispiel eines ökonometrischen Modells aus der Literatur veranschaulicht. Schließlich werden die Zusammenhänge zwischen den Preisen an Warenterminmärkten und der Ernährungssicherheit armer Menschen in Entwicklungsländern diskutiert. Wegen der teilweise positiven Effekte von Spekulationen für Absicherung und Preisfindung sowie aufgrund der Schwierigkeit, übertriebene ___________ 4

Vgl. Foodwatch (2011); Oxfam (2012).

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spekulationsgetriebene Preisspitzen zu identifizieren, ist eine staatliche Regulierung schwer umsetzbar. Daher werden die Stärken und Schwächen regulatorischer Lösungen mit einer ‚freiwilligen‘ Selbstverpflichtungslösung verglichen und Handlungsfelder für die Politik aufgezeigt. Der Artikel schließt mit einer Zusammenfassung in acht Kernthesen.

II. Die Rolle von Terminmärkten und Spekulation für Ernährungssicherheit 1. Die Funktionsweise von Terminmärkten Terminmärkte erlauben Produzenten von Gütern sowie Konsumenten und verarbeitendem Gewerbe die Absicherung gegen Preisrisiken. Gerade für landwirtschaftliche Produzenten stellen Preisrisiken ein erhebliches Problem dar: Nach der Entscheidung für den Anbau müssen Saatgut, Düngemittel und Pflanzenschutzmittel bezahlt werden. Der Preis, zu dem der Landwirt seine Ernte jedoch verkaufen kann, ist in hohem Grade unsicher. Dadurch entsteht ein hohes Verlustrisiko, wenn der spätere Preis die Kosten für die Produktion nicht decken kann. Hohe Verlustrisiken reduzieren ertragssteigernde Investitionen und damit auch die langfristige Verfügbarkeit von Lebensmitteln5. Mit einem Terminkontrakt kann der Landwirt die Ernte vor Anbau zu einem festgelegten Preis bereits im Vorfeld ‚verkaufen‘: Entweder liefert er sie zum angegebenen Liefertermin, oder er kompensiert die Vertragspartei später mit einem Gegenkontrakt, der auf dem Terminmarkt gekauft wird (‚glattstellen‘). Bei der letzten Variante kommt es nicht zu einer physischen Lieferung, sondern nur zu einem finanziellen Ausgleich: Der Produzent bekommt (oder zahlt) die Differenz zwischen dem ursprünglichen Preis und dem aktuellen Preis an der Terminbörse; die Ernte kann er dann an einen beliebigen Abnehmer (zum aktuellen Marktpreis) verkaufen. Das Glattstellen des Terminkontraktes erlaubt damit die finanzielle Absicherung selbst für Produzenten mit größerer Entfernung zu den bei der Terminbörse registrierten Lagerhäusern; diese hätten bei einer physischen Lieferung erhebliche Transportkosten zu tragen. Das Glattstellen erlaubt aber auch die Partizipation von Händlern, welche physisch überhaupt nichts mit dem entsprechenden Rohstoff zu tun haben. Durch die Möglichkeit zur physischen Lieferung wird der Terminmarkt mit dem (‚realen‘) Kassamarkt verbunden und verhindert, dass sich die Preise auf beiden Märkten zu weit auseinanderbewegen.6 ___________ 5

Vgl. Haile/Kalkuhl (2013). Es sind jedoch auch andere Mechanismen denkbar, welche eine Konvergenz garantieren, wie z.B. das Festlegen von Ausgleichszahlungen (‚cash-settlement‘) basierend auf einem Spot-Preisindex. Die jüngst beobachteten Probleme bei der Konvergenz zwi6

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2. Die Akteure an Terminbörsen und ihr Einfluss auf die Preisentwicklung Die ökonomische Literatur – sowohl theoretischer als auch empirischer Art – beurteilt die Wirkung von Terminmärkten auf Preise als grundsätzlich stabilisierend. Terminkontrakte erlauben es, zukünftige Nachfrage mit zukünftigem Angebot in Einklang zu bringen. Dies dient einer besseren Koordination von Produktion, Lagerhaltung, Verarbeitung und Konsum. Wie bereits erläutert, erlauben Terminkontrakte eine bessere Entscheidungsgrundlage für Produktionsfaktoren, was Investitionsrisiken senkt, Investitionen fördert und damit auch zur langfristigen Ernährungssicherheit durch Produktionssteigerungen beiträgt. Neben diesem klassischen Absicherungsmotiv (hedging) gibt es jedoch auch Marktteilnehmer, die mit eigenen Analysen oder privaten Informationen auf Preisbewegungen wetten – also spekulieren. Sind diese Spekulationen auf Fundamentaldaten begründet, bewirkt diese Art der Spekulation einen verbesserten Preisfindungsprozess, weil neue Informationen (z.B. Ernteausfälle) schnell eingepreist werden und damit der Allgemeinheit zu Verfügung stehen. Der Terminmarkt hat damit teilweise den Charakter eines öffentlichen Gutes, da die dort erzielten (und allgemein beobachtbaren) Preise auch von Akteuren, die nicht unmittelbar am Terminmarkt teilnehmen, als Entscheidungs- und Vertragsgrundlage genutzt werden können. Sind diese Spekulationen jedoch nicht durch Fundamentaldaten begründet, sondern durch andere Investitionsregeln bestimmt (wie z.B. bei der technischen Analyse, wo historische Preisbewegungen an Stelle aktueller Informationen maßgebend sind), kann Spekulation zu Übertreibungen führen und Preise von den Fundamentaldaten wegbewegen. Obwohl diese Handelsstrategien im Erwartungswert nicht rentabel sind (und daher nicht über längere Zeiträume dominant sein sollten), können sie dennoch eine maßgebliche Rolle im Anlegerverhalten spielen, v.a. wenn es zu Hypes und Herdenverhalten kommt7. In den letzten Jahren hat zudem eine ganz andere Art der Stabilisierungsfunktion an Bedeutung gewonnen, die im Zusammenhang mit Nahrungsmittelspekulation steht: Die Stabilisierung von Finanz-Portfolios gegen Finanzmarktrisiken durch Diversifizierung. Das Grundprinzip hier ist die Verringerung von Risiken durch die geschickte Kombination verschiedener Finanz- und Wertanlagen. Dabei steht nicht die unmittelbare Renditemaximierung im Vordergrund (die normalerweise mit hohen Risiken verbunden ist), sondern die breite Streuung von Vermögen auf möglichst unkorrelierte Komponenten, welche Preisschwankungen ausmitteln und eine stabile Rendite garantieren. Je weniger eine ___________ schen Spot- und Terminmarkt sind auf unzureichend gesetzte Höchstgrenzen bei den Lagergebühren zurückzuführen (vgl. Adjemian et al., 2013). 7 Vgl. Shiller (2003); UNCTAD (2011).

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Anlageklasse mit den anderen Klassen korreliert ist, desto höher ist dabei der Diversifizierungsgewinn und damit der Stabilisierungseffekt.8 Im Gegensatz zu Edelmetallen oder Energie-Rohstoffen galten Agrarrohstoffe als wenig mit Aktienindices korreliert, weil Agrarpreise stark von exogenen Faktoren wie Wetterbedingungen abhängen. Dadurch sind Agrarrohstoffe für Pensionsfonds, Vermögensverwalter aber auch Versicherungen interessant, obwohl die zunehmende Integration in die Finanzmärkte (mit einer zunehmenden Korrelation zu anderen Anlageklassen) den Diversifizierungseffekt verringert. In diesem Zusammenhang stehen vor allem Rohstoff-Index-Fonds, die seit 2004 ein erhebliches Wachstum verzeichnen. Diese bilden einen Index aus einzelnen Rohstoffen ab. Da die Wertanteile der Rohstoffe in dem Fonds oft konstant gehalten werden, werden einzelne Rohstoffkontrakte verkauft, wenn ihr Wert im Vergleich zu anderen steigt und umgekehrt. Ein derartiger IndexFonds handelt daher antizyklisch innerhalb seines Portfolios, was oft als Argument für eine stabilisierende Wirkung gesehen wird.9 Allerdings können IndexFonds auch Preisbewegungen von anderen Rohstoffen übertragen: Wenn der Ölpreis relativ zu Agrarrohstoffen steigt, werden zum Beispiel in einem Rohstoff-Fonds Ölkontrakte verkauft und Agrarkontrakte gekauft, was zu Preiseffekten bei Agrarprodukten führen kann.10 Weiterhin führt der Aufbau neuer Positionen durch steigende Zuflüsse in den Index zu einer erhöhten Nachfrage von allen im Index gehaltenen Kontrakten – was wiederum Effekte auf die Preise haben kann.11 Doch können Index-Fonds auch positive Effekte für die Ernährungssicherheit haben: Weil sie dauerhaft eine Gegenposition zu den sich am Terminmarkt absichernden Produzenten einnehmen, könnten diese zu geringeren Kosten ihre Preisrisiken absichern.12. Dies wäre jedoch nur der Fall, wenn Index-Fonds tatsächlich die Preise auf den Terminmärkten erhöhen (bzw. die Risikoprämien verringern). In einem jüngst erschienenen Beitrag modellieren Vercammen and Doroudian13 den Einfluss von Portfolio-Diversifizierung mit physischen Rohstoffen auf Rohstoffpreise und Lagerbestände. Sie zeigen, dass das Rollieren von gelagerten Rohstoffen aus Diversifizierungsmotiven zu erhöhten Lagerbeständen führt, welche die Volatilität bei Nahrungsmittelpreisen verringert. Dadurch würde Portfolio-Diversifizierung mit Nahrungsmitteln langfristig helfen, Preise zu stabilisieren. Allerdings modellieren die Autoren ___________ 8 Die Grundlage bildet dazu das Capital Asset Pricing Model, ein Standardmodell aus der Finanzökonomie. 9 Vgl. Prehn et al. (2013). 10 Eine theoretische Analyse findet sich bei Basak/Pavlova (2013). Empirische Belege dafür finden Tang/Xiong (2012). 11 Dieser ‚Mengeneffekt‘ wird auch von Befürwortern von Index-Fonds prinzipiell für möglich gehalten (vgl. Prehn et al., 2013). 12 Vgl. Prehn et al. (2013). 13 Vgl. Vercammen/Doroudian (2014).

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nicht die Übergangsdynamik, die zum Aufbau höherer Lagerbestände führt und die kurzfristig Preise erhöht, wenn Nahrungsmittel nicht zum Konsum zur Verfügung stehen. Absicherung von Preisrisiken (mit realwirtschaftl. Bezug) durch Terminkontrakte

Handel basierend auf Fundamentaldaten

Wetten

Diversifizierung

Produzenten, verarbeitendes Gewerbe, Lagerhalter

(Klassische) informierte Händler

„Noise Traders“, Hobby-Anleger

Pensionsfonds, Portfoliomanager

Kann zu Destabilisierung und Blasen führen

Kann zu erhöhten Spillovern und Korrelationen zu anderen Rohstoffen und Finanzanlagen führen

Verringerung von Preisrisiken von landwirtschaftlicher Produktion

Verbesserung der Preisbildung; Berücksichtigung von Fundamentalfaktoren

Abbildung 2: Typisierung von Akteuren und Motiven und deren Einfluss auf die Preisbildung14

Die dargestellte Klassifizierung von Motiven und Akteuren ist in Abbildung 2 vereinfacht zusammengefasst. In der Realität ist dieses Schema anhand unklarer Trennlinien und Kriterien nicht immer anwendbar. Zudem ist es schwierig, Motivation und Anlagestrategie direkt zu beobachten, da in den meisten Fällen die Kauf- und Verkaufsentscheidungen einzelner Personen am anonymen Markt nicht verzeichnet werden (s. im nächsten Abschnitt). Dennoch veranschaulicht die Klassifizierung die Heterogenität der Marktteilnehmer und ihren Einfluss auf die Preise. Abschließend lässt sich festhalten, dass Spekulation (von informierten Marktteilnehmern) wichtig für eine effiziente Preisfindung ist und der Terminhandel mit geringen Zugangsbarrieren Preisrisiken für Produzenten verringert und damit die Produktion erhöhen kann. Spekulation kann jedoch auch zu verzerrten Preisen führen. Im folgenden Abschnitt wird der Stand der empirischen Forschung kurz vorgestellt, die den Einfluss von Spekulation auf Agrarpreise untersucht.

___________ 14

Quelle: Eigene Darstellung.

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III. Stand der Forschung: Einfluss von Spekulation auf Preise 1. Methodische Probleme und Datenverfügbarkeit Bei der empirischen Analyse des Einflusses von Spekulation auf Preisspitzen oder Volatilität stellen sich zahlreiche Probleme, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Das Hauptproblem ist, das Ausmaß von Spekulation zu messen bzw. die Art der Spekulation gemäß der Kategorien in Abbildung 2. Gerade letzteres ist jedoch wichtig, da Spekulation sowohl Preise stabilisieren wie auch verzerren kann. Da die unterschiedlichen Spekulationsmotive (getrieben von Fundamentalfaktoren, von Diversifizierung oder von anderen Gründen wie Herdenverhalten oder preisbasierten Handelsstrategien) teilweise gegenläufige Effekte haben und sich aufheben können, wird ein aggregiertes, undifferenziertes Maß nur einen geringen oder keinen Zusammenhang finden. Die verfügbaren Daten15 unterscheiden im Wesentlichen jedoch nur zwischen kommerziellen Händlern (mit direktem physischen Geschäftsbezug zum Rohstoff) und nicht-kommerziellen Händlern (üblicherweise Finanzmarkt-Investoren). Erst seit 2004 sind Daten zu Index-Fonds verfügbar. Die Klassifizierung ist problematisch, da prinzipiell auch Banken als ‚kommerzielle Händler‘ registriert sein könnten und ‚echte‘ kommerzielle Händler, wie Produzenten oder Lagerhalter, auch Terminkontrakte zum Spekulieren anstatt zum Absichern nutzen könnten.16 Ein weiteres Problem für die empirische Forschung stellt der Beweis einer kausalen Beziehung dar. Statistische Modelle können nur die Signifikanz von Korrelationen testen, nicht jedoch Kausalität. Spekulation kann mit Preisbewegungen korreliert sein, ohne dass ein kausaler Zusammenhang vorliegt (‚Scheinkorrelation‘). Zum Beispiel könnten bestimmte Spekulanten erst dann in den Markt einsteigen, wenn Preise sehr volatil sind, weil dies hohe Gewinnchancen (aber auch Verlustrisiken) bringt. Wenn die Gruppe dieser risikofreudigen Spekulanten sehr klein ist, würde sie praktisch keinen Einfluss auf die Preise haben. Dennoch würde man eine hohe und statistisch signifikante Korrelation zwischen Spekulanten und Volatilität beobachten. In diesem Fall würde das Verbot von Spekulation jedoch nichts an der Volatilität ändern, da es eine andere Ursache gab. Ein Indiz für Kausalität könnte jedoch sein, wenn Spekulationsaktivität zeitlich vor Preisbewegungen gemessen wird (sogenannter ‚Granger-Kausalitätstest‘), allerdings kann auch dort der Zusammenhang ein ___________ 15 Diese werden von der US-amerikanischen Börsenaufsicht CFTC für Handelsplätze in den USA wöchentlich veröffentlicht; von vielen anderen Handelsplätzen sowie dem OTC-Markt sind diese Daten nicht verfügbar. 16 Siehe Irwin/Sanders (2011) für eine Diskussion über die Probleme der CFTCKlassifizierung.

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scheinbarer sein, wenn Spekulationen auf Erwartungen in der Zukunft basieren.17 Weiterhin ist in liquiden Märkten damit zu rechnen, dass Spekulationsaktivitäten die Preisbewegungen augenblicklich, nicht jedoch am nächsten Tag oder in der nächsten Woche beeinflussen18: Der spekulationsgetriebene Kauf von Terminkontrakten beeinflusst die Preise sofort und nicht erst am nächsten Tag. Diese Tatsache erlaubt eigentlich nur Granger-Kausalitätstests für intraday Handelsdaten, die jedoch nicht verfügbar sind. Die CFTC-Daten zu Spekulation sind öffentlich sogar nur wöchentlich verfügbar. Ein letztes großes Problem bei der ökonomischen Analyse zum Einfluss von Spekulation auf die Preisentwicklung ist die Bestimmung des auf Fundamentaldaten (also Angebot und Nachfrage) basierenden ‚korrekten‘ Preises. Die oft diskutierte Frage, ob Spekulation die Preise beeinflusst, ist dahingehend irreführend, weil sie das Problem auf einige wenige Händlergruppen bzw. Finanzprodukte (wie Indexfonds) reduziert: Die ökonomische Theorie geht ganz klar davon aus, dass momentane Preise stark von Erwartungen über zukünftige Preise und Ereignisse beeinflusst sind. Somit sind alle beobachteten Preise das Ergebnis aggregierter Spekulationen über die Zukunft. In diesem Sinne beeinflusst Spekulation eindeutig die Preise und sorgt auch dafür, dass sie – in Abwesenheit von Marktversagen – auch ‚korrekt‘ (im Sinne von effizient) sind. Die relevante Frage ist daher nicht, ob Spekulation (allgemein aber auch bezogen auf einzelne Händlergruppen oder Finanzprodukte) die Preise beeinflusst, sondern ob sie die Preise von ihrem ‚korrekten‘ Wert wegbewegen.19 Dazu müsste man jedoch zunächst den ‚korrekten‘ Preis berechnen, der auf Fundamentaldaten beruht. Dies ist jedoch eine äußerst schwierige Angelegenheit, v.a. wenn man die Preisbewegungen in kurzen Zeiträumen (wie Monate, Wochen oder Tage) verstehen will. Zudem sind die meisten Ökonomen skeptisch bezüglich der Möglichkeit, Preise mittels Modellen besser vorhersagen zu können als der Markt, weil die Realität zu komplex für ökonomische Modelle ist und sich zudem viele Fundamentalfaktoren, wie Produktion oder Handelsbeschränkungen, nicht exakt und in Echtzeit messen lassen.20 Modelle zur Berechnung und Prognose von Fundamentalpreisen können daher nur grobe Richtwerte für größere Zeiträume geben. Damit lässt sich nicht untersuchen, ob Preisspitzen, die

___________ 17

Vgl. Grosche (2012). Vgl. Gilbert/Pfuderer (2013). 19 Dies wird auch als ‚Blase‘ bezeichnet. 20 Ein häufiges Argument für die These, Ökonomen hätten keine besseren Preismodelle, besteht darin, dass sich mit der Existenz eines solchen Modells sehr viel Geld verdienen lässt (solange es nicht öffentlich verfügbar ist) und das Modell wertlos wird, wenn es von jedermann genutzt werden kann. 18

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nur einige Wochen oder Monate andauern, von fundamentalen Faktoren oder Ereignissen oder von Übertreibungen verursacht werden.21 2. Die empirische Forschung zum Einfluss von Spekulation auf Preise Im Wesentlichen werden bei der empirischen Forschung folgende Ansätze verwendet: (i) Granger-Kausalitätstests, (ii) Erklärung von Preisbewegungen mit Fundamentalfaktoren und (iii) Untersuchung des Einflusses einzelner Transaktionen. Eine vierte Gruppe von Arbeiten konzentriert sich auf die Verknüpfung von Agrarpreisen mit den Preisbewegungen auf Energie- und Finanzmärkten (financialization). Diese Arbeiten benutzen meist keine explizite Spekulationsvariable als Erklärungsgröße und konzentrieren sich vor allem darauf, Änderungen in den Preis- oder Volatilitätsmustern zwischen Rohstoff- und Finanzmärkten zu identifizieren. Dies kann dann als Indiz einer engeren Verflechtung durch Finanzinvestoren gewertet werden, wobei jedoch nicht klar ist, inwieweit dies zu höherer Volatilität führt bzw. inwiefern dies nicht auch stabilisierende Effekte haben kann. Wir konzentrieren uns daher im Folgenden v.a. auf Arbeiten, die den direkten Einfluss von Spekulation auf Preise untersuchen. Von Braun et al.22 geben einen Überblick über wichtige Veröffentlichungen, der hier kurz wiedergegeben wird. Wegen der oben angesprochenen Schwierigkeiten finden viele Analysen, die auf Granger-Kausalitätstests beruhen, erwartungsgemäß keinen starken Zusammenhang zwischen Spekulation und Preisspitzen. Einige Arbeiten bestätigen Granger-Kausalität nur für einzelne Rohstoffe oder einzelne Preisperioden, was jedoch keine robuste Schlussfolgerung erlaubt. Dennoch berichten nahezu alle Autoren eine hohe Korrelation zwischen Spekulation (die unterschiedlich gemessen wird) und Preisspitzen – auch jene Autoren, die keinen kausalen Einfluss durch Granger-Kausalitätstests bestätigen. Arbeiten, die Preise mit Fundamentalfaktoren wie Erntemenge und Nachfrage erklären, finden dagegen einen deutlichen Einfluss von Spekulation23, auch von Index-Fonds24. Wegen mangelnden Zugangs zu Daten ist die Untersuchung konkreter Finanzprodukte kaum möglich. Eine Ausnahme bilden Henderson et al.25, die zeigen, dass die Transaktionen sogenannter Commodity ___________ 21 In bestimmten Situationen lässt sich aber prüfen, ob eine einzelne Preisbewegung durch ein einzelnes Ereignis ‚korrekt‘ war oder übertrieben. Malkiel (2003) diskutiert irrationale Preisbewegungen einiger Firmenaktien. 22 Vgl. von Braun et al. (2013). 23 Vgl. Algieri (2013); Tadesse et al. (2013). 24 Vgl. Gilbert (2010). 25 Vgl. Henderson et al. (2012).

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Linked Notes, die z.B. von Banken oder Fondsgesellschaften ausgegeben werden, erhebliche Preiseffekte haben können. Während es durchaus Indizien dafür gibt, dass Spekulation Preisspitzen erhöht, ist der Einfluss auf Preisvolatilität gering oder gar negativ. Zwar finden auch einige wenige Papiere, dass Spekulation die Volatilität erhöht, doch besteht hier eine starke bi-direktionale Beziehung, weil hohe Volatilität auch Spekulanten anziehen kann.26 Andere Arbeiten zeigen, dass ein großer Anteil von Spekulanten die Kurzfrist-Volatilität27 gar verringert, weil die Liquidität höher ist und dadurch einzelne Transaktionen geringere Preiseffekte haben.28 Unabhängig von der Frage der Spekulation gibt es jedoch viele empirische Belege dafür, dass die Existenz bzw. Schaffung von Terminmärkten (die sowohl zur Absicherung als auch zur Spekulation genutzt werden können) grundsätzlich die Volatilität verringert.29 3. Einfluss von Spekulation auf Mais-Preise: Ein Modell mit Fundamentalfaktoren In diesem Abschnitt sollen die Erkenntnisse aus dem ökonometrischen Zeitreihenmodell von Tadesse et al.30 erläutert werden. Im Gegensatz zu vielen anderen Arbeiten berücksichtigt das Modell Fundamentalfaktoren zur Erklärung monatlicher Preisänderungen. Dazu werden die monatlichen Prognosen des US Landwirtschaftsministeriums (USDA) zur globalen Produktion und Lagerbeständen von Mais, Soja und Weizen verwendet. Auf der Nachfrageseite wird das globale Brutto-Inlandsprodukt (monatlich interpoliert) verwendet. Weiterhin werden Ölpreise als Kostenfaktor bei der Produktion und als Nachfragefaktor bei Biospritnutzung berücksichtigt. Spekulation wird anhand der öffentlich verfügbaren Daten der US Regulierungsbehörde als ‚Überschuss‘ von NettoLong-Kontrakten (Kaufkontrakten) gegenüber dem Absicherungsbedarf von kommerziellen Händlern berechnet. Mit dem Zeitreihenmodell wird geschätzt, welche dieser Faktoren die monatlichen Preisänderungen am besten erklären können – und wie stark diese Preisbewegungen beeinflussen. Während Spekulation bei allen drei Rohstoffen für den betrachteten Zeitraum von 1986–2011 einen statistisch hochsignifikanten Einfluss auf Preise hat, sind die quantitativen Effekte bei Weizen sehr gering (weil mit Weizen weniger spekuliert wird), bei Mais und Soja allerdings sehr hoch. ___________ 26

Vgl. Algieri (2012). Damit ist die Volatilität der täglichen Börsenpreise (oder der intra-day Börsenpreise) über einen Zeitraum von wenigen Wochen oder Monaten gemeint. 28 Vgl. Brunetti et al. (2011). 29 Vgl. Netz (1995); Morgan (1999); Santos (2002); Jacks (2007); Jacks et al. (2011). 30 Vgl. Tadesse et al. (2013). 27

Spekulation mit Nahrungsmitteln, Regulierung und Selbstregulierung

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Jun 2010 ‐ Mai 2011 Spekulation: 42%

Sep 2006 ‐ Dez 2008 Spekulation: 45%

Monatliche Preisänderungen ‐ Mais

20% 15% 10% 5% 0% ‐5% ‐10% ‐15% ‐20% Beobachtete Preisspitzen

‐25%

Simulierte Preisspitzen ohne exzessive Spekulation Jan 2011

Apr 2011

Jul 2010

Okt 2010

Jan 2010

Apr 2010

Jul 2009

Okt 2009

Jan 2009

Apr 2009

Jul 2008

Okt 2008

Jan 2008

Apr 2008

Jul 2007

Okt 2007

Jan 2007

Apr 2007

Jul 2006

Okt 2006

Jan 2006

Apr 2006

Jul 2005

Okt 2005

Jan 2005

Apr 2005

Jul 2004

Okt 2004

Jan 2004

Apr 2004

‐30%

Anmerkung: Die durchgehende Linie zeigt die prozentuale Änderung des US Mais Kassa-Preises zum Vormonat. Die gestrichelte Linie zeigt die prozentuale Änderung des Preises abzüglich des Einflusses von Spekulation. Für die markierten Bereiche ist der Anstieg des Preises über den entsprechenden Zeitraum durch Spekulation berechnet (der sich über die Monate aufsummiert). Quelle: Eigene Darstellung mit Simulationen basierend auf dem ökonometrischen Modell von Tadesse et al. (2013), für dessen Schätzung Daten von 1986 bis 2011 zu Grunde liegen.

Abbildung 3: Preisspitzen bei Mais und Einfluss von Spekulation

Abbildung 3 zeigt die monatlichen beobachteten Preisänderungen des MaisPreises (blaue Linie) sowie die hypothetischen Änderungen des Maispreises (rote gestrichelte Linie) ohne exzessive Spekulation31. Letztere basiert auf Simulationen des ökonometrischen Modells von Tadesse et al. (2013). Zunächst ist zu erkennen, dass Spekulation nicht die Hauptursache der Preisspitzen ist, die durch andere Faktoren – hauptsächlich Angebotsschocks, steigende Nachfrage durch Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum sowie Ölpreisschwankungen – bestimmt werden. Für die meiste Zeit gilt, dass exzessive Spekulation die Preisbewegung kaum beeinflusst. Exzessive Spekulation kann auch zu einer Stabilisierung der Preise beitragen, wie z.B. 2004/2005, als der Mais-Preis ohne exzessive Spekulation auf einen Preisverfall laut Modell stärker angestiegen wäre. Allerdings sind auch die quantitativen Effekte exzessiver Spekulation für zwei Zeiträume in 2006–2008 sowie 2010/2011 dargestellt, in denen Spekulati___________ 31

‚Exzessiv‘ meint in diesem Zusammenhang, dass es mehr Spekulation gibt, als zur Absicherung der kommerziellen Händler nötig wäre. Siehe Tadesse et al. (2013) zur Definition des Spekulationsmaßes.

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on die Preise in einigen Monaten stark erhöht und damit teilweise stärker als andere Faktoren beeinflusst hat. Das Modell von Tadesse et al. (2013) verdeutlicht, dass exzessive Spekulation in bestimmten Zeiten Preisspitzen verstärken kann. Daraus lässt sich noch keine direkte Politikmaßnahme ableiten. Zum einen ist der Nutzen von Spekulation für eine bessere Preisfindung und zum Absichern gegen Preisrisiken nicht abgebildet, der gesellschaftliche Kosten durch ein generelles Verbot von Spekulation impliziert. Die wenig differenzierten Positionsdaten, mit denen Spekulation gemessen wird, erlauben es nicht zwischen stabilisierender oder destabilisierender Spekulation zu unterscheiden oder ein überprüfbares theoretisches Modell zu entwickeln, mit dem der Einfluss von Spekulation und Politikeingriffen untersucht und kausale Effekte herausgearbeitet werden könnten. Letztlich ist nicht klar, wie exzessive Spekulation in der Praxis reduziert werden kann, ohne gleichzeitig die ‚nützliche‘ Spekulation zu verringern. Auf die Schwierigkeiten, das situationsbedingt optimale Maß an Regulierung zu finden, wird in Abschnitt 5 eingegangen.

IV. Einfluss globaler Preisschwankungen auf die Ernährungssicherheit in Entwicklungsländern Bei der öffentlichen Debatte um Spekulation mit Nahrungsmitteln geht es jedoch nicht nur darum, ob Spekulation die Preise von Terminkontrakten beeinflussen kann. Oft wird auch die Frage diskutiert, wie stark die Nahrungsmittelpreise für arme Haushalte in Entwicklungsländern mit den Preisen auf den Terminmärkten in den USA zusammenhängen – und ob temporäre Preisanstiege überhaupt negative Effekte auf Einkommen und Ernährungssicherheit armer Haushalte haben, die überwiegend im landwirtschaftlichen Sektor arbeiten. 1. Der Einfluss von Terminmärkten auf Nahrungspreise in Entwicklungsländern Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schrieb kürzlich: Dass die Nachfrage von Fonds keine Preise treiben kann, „leuchtet jedoch beim Blick auf die Funktionsweise der Fonds sofort ein: Sie kaufen nämlich nie echte Weizenkörner oder echten Reis, sondern immer nur Weizen- oder Reis-Futures – also Wertpapiere, keine Nahrung“.32 Dieses häufig gebrachte Argument steht jedoch im Widerspruch zur weit verbreiteten Ansicht der Ökonomen, dass Terminpreise eng mit den Kassapreisen verknüpft sind. Dies folgt nicht nur aus ___________ 32 Dennis Kremer: „Spekulation auf den Hunger der Welt“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.10.2013.

Spekulation mit Nahrungsmitteln, Regulierung und Selbstregulierung

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elementaren theoretischen Überlegungen zu Arbitragemöglichkeiten durch Lagerhaltung, wie sie in jedem Lehrbuch zu Rohstoff- und Terminmärkten zu finden sind,33 sondern ist auch in zahlreichen empirischen Arbeiten gezeigt worden.34 Die empirischen Arbeiten machen zudem deutlich, dass Kassapreise durch Terminpreise vorhergesagt werden können35 und eine kausale Beziehung vor allem von den Terminpreisen zu den Kassapreisen herrscht.36 Wenn Spekulation also die Preise auf den Terminmärkten beeinflussen kann, so sind auch die Kassapreise in den USA, und damit vor allem die Exportpreise und Weltmarktpreise, mitbetroffen.37 Eine weitere Frage stellt sich, inwiefern Schwankungen der Weltmarktpreise überhaupt bei armen Haushalten in Entwicklungsländern ankommen, da nicht alle Länder die betreffenden Produkte importieren und hohe Transportkosten sowie Zölle die Transmission von Preisänderungen verringern. Der jüngste FAO-Bericht38 zum „State of Food Insecurity in the World“ schätzt die Bedeutung von Änderungen der Weltmarktpreise für Konsumenten als sehr gering ein, lieferte jedoch keine quantitative Analyse dazu. Bestehende empirische Arbeiten, die teils sehr hohe, teils aber auch keine Preistransmissionen finden,39 fokussieren sich meist nur auf einzelne Länder und ausgewählte Nahrungsmittel, sodass eine Abschätzung der globalen Auswirkungen bisher fehlte. Durch eine empirische Analyse von Nahrungsmittelpreisen in ca. 200 Ländern der Welt sowie die Berücksichtigung mehrere globaler Weltmarktpreise und Preisindizes (einschließlich der Preise von Terminkontrakten) muss jedoch von einer weitaus höheren Vulnerabilität gegenüber globalen Preisanstiegen ausgegangen werden.40 Die folgende Abbildung 4 zeigt die Ergebnisse der Transmissionsanalyse von Kalkuhl (2013). Selbst in afrikanischen Ländern haben globale Preisanstiege von Agrarrohstoffen erhebliche Konsequenzen für die lokalen Nahrungsmittelpreise. Die Transmission auf den Preis des landestypischen Nahrungsmittelkorbes ist bei ärmeren Ländern v.a. dadurch so hoch, weil Grundnahrungsmittel unverarbeitet oder wenig verarbeitet gekauft werden und einen großen Anteil am Konsum haben. ___________ 33

Zum Beispiel Hull (2005), Kapitel 5. Zum Beispiel Fama/Frenc (1987). 35 Vgl. McKenzie/Holt (2002); Roache/Reichsfeld (2011). 36 Vgl. Hernandez/Torero (2010). 37 In der Tat untersuchen und bestätigen einige der in Abschnitt 3 genannten Arbeiten den Einfluss von Spekulation auch auf Kassapreise, wie z.B. Algieri (2012) oder Tadesse et al. (2013). 38 Vgl. FAO (2013). 39 Vgl. Robles (2011); Greb et al. (2012); Ianchovichina et al. (2012). 40 Vgl. Kalkuhl (2013). 34

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Anmerkung: Eine Transmissionsrate von 0.20 gibt an, dass der gesamte nationale Nahrungspreisindex um 20% steigt, wenn sich der Weltmarktpreis verdoppelt (um 100% steigt). Quelle: Kalkuhl (2013).

Abbildung 4: Transmissionsrate von globalen Agrarpreisen auf den nationalen Nahrungspreisindex

Das Ausmaß der Transmission lässt sich aber auch anhand der im jeweiligen Land betroffenen Bevölkerung unter der Armutsgrenze darstellen. Dabei wird unterstellt, dass innerhalb eines Landes alle Menschen gleichermaßen von Änderungen des nationalen Nahrungspreisindex betroffen sind.41 Die folgende Abbildung 5 zeigt, dass die Nahrungsmittelpreise in Ländern, in denen 91% der global extrem Armen leben, mehr oder weniger stark von Weltmarktpreisen abhängig sind. Während Angola und Äthiopien die höchsten Transmissionsraten aufweisen (67%), ist die Transmission in Indien, wo ein Drittel der global extrem Armen beheimatet ist, relativ gering (etwa 6%). Allerdings kann auch eine geringe Transmission erhebliche Konsequenzen haben, wenn sich die Preise mehrerer Produkte innerhalb kurzer Zeit verdoppeln (wie z.B. 2007/2008 geschehen). Nur ein kleiner Teil der extrem Armen (9%) lebt in Ländern, deren Nahrungsmittelpreise vollständig von den Weltmarktpreisen entkoppelt sind.42

___________ 41

Die Nahrungspreisindices vieler Entwicklungsländer sind mitunter wenig repräsentativ für die ländliche Bevölkerung, v.a. in abgelegenen, isolierten Regionen. 42 Schaut man sich die Transmission globaler Preise auf einzelne Getreidepreise in den Ländern an, kommt man zu weitaus höheren Transmissionsraten, s. Kalkuhl (2013).

Spekulation mit Nahrungsmitteln, Regulierung und Selbstregulierung

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Angola, Äthiopien

Sambia Uganda

Kenia

Nigeria Indonesien China

Bangladesch Indien

Anmerkung: Dargestellt ist die Transmission globaler Nahrungspreise auf den nationalen Nahrungspreisindex, wobei die Länder in absteigender Intensität angeordnet sind und die Breite eines Landes auf der horizontalen Achse der Anzahl der Bevölkerung unter der extremen Armutsgrenze entspricht. Eine Transmissionsrate von 0.20 gibt an, dass der gesamte nationale Nahrungspreisindex um 20% steigt wenn sich der Weltmarktpreis verdoppelt (um 100% steigt). Quelle: Kalkuhl (2013).

Abbildung 5: Transmission nach Bevölkerung unterhalb der extremen Armutsgrenze

2. Konsequenzen von Preisvolatilität und Preis-Schocks auf Ernährungssicherheit und Armut Anfang der 2000er Jahre kritisierten viele NGOs, die Weltmarktpreise für Agrarprodukte seien durch Subventionen, Freihandel und Intensivierung in Industrieländern zu gering, um Kleinbauern in Entwicklungsländern ein angemessenes Einkommen zu gewähren. Dies zeige sich auch darin, dass ein Großteil der unterernährten Menschen Kleinbauern sind.43 In den Jahren 2007/2008 jedoch kritisierten NGOs, dass Nahrungsmittelpreise so hoch gewesen seien, dass sich viele Menschen nicht mehr ausreichend (oder ausreichend gute) Nahrungsmittel leisten könnten. Ist nun ein niedriger oder ein hoher Preis hilfreich im Kampf gegen Hunger und Armut auf der Welt? ___________ 43

Vgl. FAO (2004).

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Preisänderungen haben immer sehr heterogene Auswirkungen auf das real verfügbare Einkommen von Menschen – abhängig davon, was sie arbeiten und produzieren, und wie die Preise anderer Güter und Löhne durch indirekte Gleichgewichtseffekte betroffen sind. Theoretisch ließe sich ein Preis ausrechnen, der zu einem Minimum an Menschen unter der Armutsgrenze führt, doch ließe dies die Ungleichheit unterhalb der Armutsgrenze außer Acht. Ein illustratives Beispiel geben Aksoy und Isik-Dikmelik (2008), die zeigen, dass Preisanstiege zu einem Einkommenstransfer der (durchschnittlich) wohlhabenderen städtischen Gebiete, in denen größtenteils Konsumenten wohnen, zu den (durchschnittlich) ärmeren ländlichen Gebieten, wo überwiegend Produzenten leben, führen. Damit verringern Preisanstiege die Ungleichheit zwischen der reicheren Stadt und dem armen Land. Allerdings treffen Preisanstiege die jeweils ärmsten Menschen in Städten wie auch auf dem Land besonders hart, weil sie Menschen vor existenzielle Probleme stellen, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. In ländlichen Gebieten sind davon auch landlose Menschen oder Haushalte mit nur wenig Land betroffen, die sich nicht selbstversorgen können und Nahrungsmittel durch Einkommen aus Erwerbsarbeit kaufen. Diese existenziellen Probleme sind dagegen seltener zu beobachten im Falle sinkender Agrarpreise, die zwar zu geringeren Einkommen von Kleinbauern führen, aber nicht unmittelbar die Ernährungssicherheit gefährden, wenn Bauern über genügend Land verfügen. Während sich die öffentliche Diskussion oft um den ‚richtigen‘ Preis für Nahrungsmittel dreht, ist jedoch ein anderer Punkt ganz entscheidend: die Stabilität von Preisen bzw. die Geschwindigkeit von Preisänderungen. Allmählich steigende oder sinkende Preise erlauben Menschen, Gesellschaften und Regierungen sich anzupassen. Regierungen können bei allmählich steigenden Preisen Investitionen in die Landwirtschaft fördern, welche durch Produktionssteigerungen langfristig preisdämpfend wirken. Kleinbauern können ihren Anbau auf Pflanzen mit hohen Preisen umstellen, während Konsumenten ihre Essgewohnheiten – z.B. beim Fleischkonsum – anpassen oder selber Gemüse auf kleinen Flächen in der Stadt anbauen können. Bei plötzlich ansteigenden Preisen sind diese Anpassungsprozesse jedoch nicht möglich. Kleinbauern profitieren nicht von plötzlich hohen Maispreisen, wenn sie in den vorherigen Jahren Kaffee angepflanzt haben. Konsumenten müssen sich verschulden oder Wertgegenstände verkaufen, um ausreichend Nahrungsmittel zu kaufen. Quantitative Abschätzungen zum Einfluss der Preiserhöhungen in 2007/08 auf Armut und Ernährungssicherheit zeigen, dass die schnellen Preisänderungen bis zu 105 Millionen Menschen in die Armut trieben44, dass 63 Millionen ___________ 44

Vgl. Ivanic/Martin (2008).

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mehr Menschen an Unterernährung litten45 und dass das real verfügbare Einkommen selbst von Kleinbauern mit ausreichend Land zur Selbstversorgung in zahlreichen Ländern gefallen ist.46 Diese negativen Auswirkungen kurzfristiger Preisanstiege stehen in einem starken Gegensatz zu den positiven Auswirkungen langfristiger Preisanstiege auf Einkommen und Ernährungssicherheit.47 Die angeführten Überlegungen zeigen, dass die Geschwindigkeit von Preisänderungen entscheidend für die Bewertung der Wohlfahrtseffekte ist. Häufige Preisänderungen haben aber noch andere Nebenwirkungen: Weil sie das Preisrisiko erhöhen, reduzieren sie Investitionen und den Anbau von eigentlich stark nachgefragten und knappen Rohstoffen, was wiederum die Fähigkeit des Marktes reduziert, auf Knappheiten mit Angebotssteigerungen zu reagieren. So erklären Haile und Kalkuhl (2013), dass die geringen globalen Produktionssteigerungen seit 2007 trotz der hohen Agrarpreise auch an den gestiegenen Preisund damit Investitionsrisiken liegen.

V. Staatliche Regulierung vs. Selbstregulierung 1. Grundprinzipien optimaler Regulierung Während in Abschnitt 2 der grundsätzliche Nutzen von Terminmärkten und Spekulation auf Terminmärkten, aber auch das Risiko von Übertreibungen erläutert wurde, beschäftigte sich der dritte Abschnitt mit der empirischen Evidenz und dem möglichen quantitativen Ausmaß von Spekulation auf Agrarpreise. Eine optimale Regulierung würde ‚schädliche‘ oder riskante Spekulation (z.B. nicht durch Fundamentaldaten gedecktes Herdenverhalten) erkennen und durch Transaktionssteuern, Positionslimits oder andere Instrumente eindämmen.48 Gleichzeitig würde sie ‚nützliche‘ Spekulation (z.B. auf Fundamentaldaten basierende Transaktionen aber auch Index-Fonds in Zeiten guter globaler Versorgungslage) gewähren lassen. Besteht Unsicherheit über Nutzen oder Schaden von Spekulation in einer bestimmten Situation, wäre eine Risikobetrachtung angebracht, bei der das Risiko großer sozialer Schäden (Gefährdung der akuten Ernährungssicherheit, Verringerung von Einkommen armer Menschen) gegen den Nutzen von Spekulation (z.B. bessere Preisfindung, Diversifizierung von Anlagen-Portfolios) abgewogen wird. Dieser Abwägungsprozess ist einerseits durch die Faktenlage bestimmt (Einfluss von Spekulation auf Preise), aber auch von ethischen Werten und Normen abhängig, welche Risiken ___________ 45

Vgl. Tiwari/Zaman (2010). Vgl. Anríquez et al. (2013). 47 Vgl. Tefera (2013). 48 Zur Frage um optimale Regulierung von Finanzmärkten siehe auch Posner/Weyl (2013). 46

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und Schäden durch welchen Nutzen aufgewogen werden können. Damit ist die Frage um optimale Regulierung keine rein ökonomische, sondern auch eine gesellschaftliche. 2. Probleme staatlicher Regulierung Der klassische wohlfahrtsökonomische Ansatz zur Lösung sozial suboptimaler Marktergebnisse besteht in der Regulierung der Märkte. In dem hier betrachteten Fall der Spekulation mit Nahrungsmitteln stellen jedoch folgende Probleme die staatliche Regulierung vor eine große Herausforderung: a) b) c) d)

Erkennen von schädlicher und nützlicher Spekulation Geschwindigkeit des Handelns Koordination der Regulierung über Staatsgrenzen hinaus Folgenabschätzung von Regulierung und Nichtregulierung. a) Erkennen von schädlicher und nützlicher Spekulation

Das in V.1. vorgestellte differenzierte Eingreifen setzt voraus, dass sich zwischen nützlicher und schädlicher Spekulation unterscheiden lässt. Wie in den Abschnitten 2. und 3. jedoch erläutert wurde, lassen sich Motivation und Beweggründe von Marktteilnehmern kaum messen und bestehende proxies, wie die Klassifizierung der CTFC, könnten leicht umgangen werden. Dazu kommt, dass selbst die CFTC Kategorisierung in nicht-kommerzielle Händler nicht zwischen fundamental-getriebenen (‚nützlichen‘) und anderen Spekulanten unterscheiden kann. Ohne Differenzierung bleibt jedoch nur die sehr ungenaue Regulierung von Spekulation und Handelsaktivität allgemein, z.B. durch eine allgemeine Transaktionssteuer, die zwar schädliche Spekulation etwas eindämmen könnte, aber auch nützliche Spekulationsaktivitäten verringern würden. b) Geschwindigkeit des Handelns Selbst wenn es Regulierungsbehörden oder Wissenschaftlern gelänge, übertriebene Preisbewegungen oder ‚Blasen‘ an den Agrarmärkten zu erkennen (was aus den in Abschnitt 3. genannten Gründen äußerst schwierig ist), müssten diese schnell eingreifen können. Nach den Abschätzungen in Abschnitt 3. kann Spekulation die Preise von Agrarrohstoffen innerhalb weniger Monate um 20– 30 Prozent erhöhen. Zusammen mit einer angespannten Versorgungslage mit Nahrungsmitteln in Entwicklungsländern können solche Preiserhöhungen große Wohlfahrtsverluste verursachen, wenn nicht unmittelbar gegengesteuert wird.

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Ein parlamentarischer Prozess wäre dafür viel zu langsam und träge. Die Alternative, das Eingreifen einer unabhängigen Regulierungsbehörde, erfordert die Aufstellung von klaren, objektiven Regeln, wann die Behörde in welchem Umfang eingreifen darf. Da es kein klares ökonomisches Prinzip zur Aufstellung solcher Regeln gibt, wären sie zu einem gewissen Grad subjektiv mit großem Ermessensspielraum und damit ständiger Kritik und möglichen Gerichtsprozessen ausgesetzt. c)

Koordination der Regulierung über Staatsgrenzen hinaus

Die Regulierung der Warenterminmärkte ist nur in Koordination mit anderen Staaten effektiv, vor allem den USA, welche die größten und einflussreichsten Warenterminmärkte beheimaten. Selbst eine strikte Regulierung der Warenterminmärkte innerhalb der EU hätte wenig Auswirkungen, da auf ihnen nur ein Bruchteil im Vergleich zu den in den USA gehandelten Terminkontrakten gehandelt werden. d) Folgenabschätzung von Regulierung und Nichtregulierung Für die gesellschaftliche Bewertung und den Diskurs um Regulierung ist es wichtig, Kosten und Nutzen verschiedener regulatorischer Instrumente abzuschätzen. Dies wäre vor allem vor dem Hintergrund ‚einfacherer‘ Eingriffe wie dauerhaften Positionslimits oder Transaktionssteuern interessant. So spannend wie die Frage nach der Größenordnung der Preiseffekte von Spekulation, ist auch die Frage nach den Kosten einer übermäßigen Regulierung, die die Absicherungs- und Preisfindungsmechanismen von Terminmärkten einschränken. Doch dazu konnte die Ökonomie bisher wenig beitragen, weil sich die Regulierung von Finanz- und Terminmärkte schwer modellieren lässt und empirische Untersuchungen wegen der geringen Häufigkeit politischer Eingriffe kaum möglich sind. Auch die Kritiker einer stärkeren Regulierung sind bisher eine Antwort schuldig geblieben, wie hoch die Kosten einer übermäßigen Regulierung wären (unabhängig vom möglichen Nutzen in Krisenzeiten). Ohne Folgenabschätzung regulatorischer Eingriffe (inklusive Nicht-Regulierung) bleibt jedoch jegliches (Nicht-)Handeln ein Experiment. 3. Vorteile von Selbstregulierung Einige der genannten Herausforderungen staatlicher Regulierung gelten auch für den Privatsektor, zum Beispiel das Problem der Folgenabschätzung von Selbstregulierung und des koordinierten Handelns. In anderen Punkten ergeben sich jedoch einige Vorteile einer ‚freiwilligen‘ oder ‚selbstregulierten‘ Lösung,

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innerhalb derer Banken und Investoren in Krisenzeiten – wenn also die Ernährungssicherheit vieler Menschen akut gefährdet ist – den Kauf von Terminkontrakten reduzieren oder einstellen. Dies setzt jedoch voraus, dass Banken – bzw. die Kunden und Anleger, die den Banken ihr Geld anvertrauen – sich zu verantwortungsvollen Investitionspraktiken verpflichten und diese Verpflichtung ernst nehmen. Banken können ihre Produkte einfacher und schneller anpassen und würden, wenn sie hinter der Idee des verantwortungsvollen Investments stehen, nicht nach Schlupflöchern suchen, wie dies bei einer aufgesetzten regulatorischen Lösung der Fall wäre. Einzelne große europäische Banken haben zudem einen großen Marktanteil auf den US-amerikanischen Terminbörsen, sodass eine Änderung der Investitionspraktiken mehr Auswirkungen haben könnte als eine strengere Regulierung europäischer Terminmärkte. Investoren kennen zudem das Motiv ihrer Transaktionen besser als es eine Regulierungsbehörde mit ihren Klassifikationsverfahren abdecken könnte. So könnten sie Spekulationen, die durch Fundamentaldaten gedeckt sind, weiterhin betreiben, während sie bei der Entstehung von Blasen frühzeitig aussteigen. In akuten Krisenzeiten könnten Anleger und Index-Fonds, die Agrarrohstoffe zur Diversifizierung ihres Portfolios nutzen, temporär Agrarrohstoffe untergewichten bzw. komplett aus dem Fonds nehmen. Ein Rohstoff-Fonds könnte eine solche Strategie anwenden und die Anteile der Rohstoffe entsprechend dem Risiko von Ernährungskrisen gewichten. 4. Motivation für Selbstregulierung Die genannten Maßnahmen setzen jedoch voraus, dass Anleger und Banken mögliche soziale Risiken und Externalitäten ihres Handelns ernst nehmen und auch bereit sind, für die eigenverantwortliche Verringerung sozialer Kosten selbst einen Teil der möglichen Kosten (in Form entgangener Gewinne) in Kauf zu nehmen. Während moralisches Verhalten von in Wettbewerb stehenden Firmen nicht zu erwarten ist (bzw. aufgrund der Anreizstruktur des Marktes moralisches Verhalten im Allgemeinen bestraft wird)49, handeln Banken und Investmentfonds überwiegend im Auftrag von (auch) moralisch denkenden und handelnden Personen – den Privatanlegern. Diese können durchaus bereit sein, ___________ 49 Siehe dazu auch Friedman (2007), der die Verantwortung eines Managers gegenüber des Unternehmers darin sieht, Gewinne innerhalb legaler und ethischer Rahmenbedingungen zu maximieren. Allerdings können Unternehmenseigner ihr Unternehmen auch zur Verwirklichung ihrer sozialen und ökologischen Präferenzen nutzen, vgl. Kitzmueller/Shimshack (2012). Auch gibt die Festlegung der von Friedman genannten ethischen Rahmenbedingungen, die nicht zwangsläufig in Gesetzen formuliert sein müssen, viel Spielraum.

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wirtschaftliche Entscheidungen innerhalb ethischer Rahmenbedingungen zu treffen. Das große Kundenwachstum, das sozial-ökologische Banken in den letzten Jahren erfahren haben50 sowie die allgemeine Einstellung der Öffentlichkeit, die Spekulationen auf steigende Preise ablehnend gegenüber steht51, machen deutlich, dass es ein großes Kundenpotenzial für Finanzprodukte und Anlagen gibt, die ethische Standards berücksichtigen.52 Ein Strategiewechsel der Banken, Pensionsfonds und Versicherer könnte daher auch neue Kunden gewinnen. Eine andere Motivation des Banken- und Finanzsektors für die Entwicklung ethischer Anlageprodukte und -strategien sind die hohen Vertrauensverluste und Reputationskosten, die im Zusammenhang von Spekulation mit Nahrungsmitteln aber auch mit der Finanzkrise im Allgemeinen verbunden sind.53 Seit vielen Jahren leidet der Bankensektor in Deutschland unter einem geringen Ansehen, weil ihm keine Vertrauenswürdigkeit und soziale Verantwortung zugeschrieben werden.54 Diese Imageprobleme führen nicht nur zu einer Abwanderung von Kunden zu alternativen Banken, sondern erschweren auch die Zusammenarbeit mit politischen Entscheidungsträgern bei Fragen der Bankenund Finanzmarktregulierung, weil konstruktive und sinnvolle Vorschläge aus dem Bankensektor misstrauisch aufgenommen werden und der Öffentlichkeit gegenüber schwer vermittelbar sind. Eine stärkere Integration sozialer Aspekte und gesellschaftlicher Ziele in die eigene Geschäftsstrategie kann somit auch der langfristigen Profitabilität der Banken dienen55. Wichtig ist dabei jedoch, Synergien zwischen gesellschaftlichen Zielen und dem eigenen Geschäftsfeld zu suchen und auszubauen, anstatt ethische Fragen in eine Nachhaltigkeitsabteilung auszulagern, die sich überwiegend mit Pressearbeit beschäftigt (ibid.). 5. Selbstregulierung vs. staatliche Regulierung Staatliche Regulierung wie auch Selbstregulierung haben ihre jeweiligen Grenzen. Unter Berücksichtigung der realpolitischen Möglichkeiten wird eine effektive staatliche Regulierung, welche die USA einschließen muss, kaum ___________ 50

Die Spareinlagen und Kredite öko-sozialer Banken wuchsen von 2006 bis 2011 um 20–30% jährlich, welches um ein Vielfaches höher ist als bei klassischen, s. zeb (2012). 51 Siehe forsa (2011). 52 Das Kundenpotenzial ökologisch-sozialer Banken wird in Deutschland auf etwa 20% geschätzt, vgl. zeb (2012). 53 Marktanalysen und Kundenbefragungen bestätigen, dass das Vertrauen in den Bankensektor in den letzten Jahren rapide gesunken ist, vgl. Bankenverband (2011) und Ernst & Young (2012). 54 Vgl. GPRA (2012). 55 Vgl. Porter/Kramer (2006).

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möglich sein. Dazu kommen die angesprochenen Probleme, das richtige Maß an Regulierung und die richtige Ausgestaltung und Umsetzung zu finden. Andererseits könnten die bisherigen Ausstiege von Banken aus dem Geschäft mit Agrarspekulationen ein Indiz dafür sein, dass es Anreize zu einer ‚Selbstregulierung‘ gibt.56 Dennoch ist es überaus fraglich, ob Appelle an Kunden, Anleger und Finanzinstitutionen ausreichen, um einen spürbaren Gesamteffekt auf das Anlage- und Spekulationsverhalten zu haben. Die Erfahrung mit sogenannten ‚freiwilligen Selbstverpflichtungen‘ in anderen Bereichen wie dem Umweltschutz zeigt, dass die Effektivität solcher Lösungen vor allem davon abhängt, welche staatlich-regulatorischen Maßnahmen überlegt und vorbereitet werden, sollte eine Selbstverpflichtung nicht zustande kommen oder nicht ausreichend sein.57 Daraus ergeben sich folgende Handlungsoptionen: Die Politik muss weiter an Konzepten arbeiten, Finanz- und Terminmärkte zu regulieren, inklusive der Möglichkeit, in Krisenzeiten mit verschiedenen Instrumenten (Positionsgrenzen, Transaktionssteuern) eingreifen zu können. Dabei muss vor allem eine europäische Lösung (wie im Rahmen der MiFID- und EMIR-Direktiven) angestrebt werden, welche zusätzlich aber auch die USA einschließt. Die jüngst beschlossenen europäischen Rahmengesetze (MiFID) ermöglichen zwar striktere Positionsgrenzen für einzelne Händler um den Aufbau marktbeherrschender Positionen zu verhindern, können jedoch nicht das Problem von Blasen ausgelöst durch den Herdentrieb vieler kleinerer und mittlerer Transaktionen lösen. Zudem sind die globalen Haupthandelsplätze für Terminkontrakte in den USA von der Regelung unberührt. Über die Regulierungsbemühungen hinaus kann der Bankensektor dazu ermuntert und aufgefordert werden, eigenverantwortliche Lösungen zu erarbeiten und umzusetzen. Dazu könnten auch Pilot-Projekte mit Vorreiterbanken gefördert werden. Sollte eine Branchenweite Selbstverpflichtung überzeugend sein, könnten bestimmte regulatorische Eingriffe geändert bzw. abgeschwächt werden. Unabhängig von politischen Lösungen besteht jedoch ein großer Forschungsbedarf, um die Auswirkungen politischer Instrumente auf die Warentermin- und Finanzmärkte zu verstehen. Bisherige ökonomische Arbeiten beschäftigen sich zu sehr mit der Informationseffizienz von Märkten, jedoch kaum mit den wohlfahrtsökonomischen Auswirkungen von Spekulation, Krisen und Marktregulierung.58 Die Politik kann das Verständnis von Finanzmärkten vor allem dadurch verbessern, indem sie getätigte Transaktionen transparenter werden lässt, z.B. durch Reporting-Vorgaben, die in hoher zeitlicher Auflösung ___________ 56 Folgende Banken erklärten den Ausstieg aus dem Geschäft mit Agrarspekulationen: Deka Bank im April 2012, LBBW im Juni 2012, Commerzbank im August 2012, LBB im August 2012, Barclays im Februar 2013. 57 Vgl. Alberini/Segerson (2002). 58 Vgl. Posner/Weyl (2013).

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ermöglichen, Rückschlüsse darüber zu ziehen, wer mit welchem Motiv und welcher Strategie an Finanzmärkten handelt.

VI. Schluss: Acht Kernthesen zu Agrar-Spekulation und verantwortungsvollem Investment Die hier ausgeführten Überlegungen zum Einfluss von Spekulation auf Nahrungsmittelpreise und Ernährungssicherheit in Entwicklungsländern lassen sich in acht Kernthesen zusammenfassen: 1. Warenterminmärkte und Spekulation mit Terminkontrakten haben grundsätzlich nützliche Funktionen: Weil sie Preisrisiken reduzieren, verbessern sie die langfristige Ernährungssicherheit durch erhöhte Produktion und stabilere Preise durch verbesserte Lagerhaltung. Davon profitieren auch arme Menschen, v.a. auf der Konsumentenseite, in Entwicklungsländern. Hinzuzufügen ist die durch Portfolio-Diversifizierung gewonnene Stabilität von Vermögen, welche allerdings vor allem den (global) relativ wohlhabenden Kapitalanlegern (aber auch Kleinsparern in Industrieländern) nützt. 2. Wissenschaftliche Evidenz darüber, ob Spekulation auch zu zeitweise übertriebenen Preisbewegungen an den Terminbörsen führt, ist gemischt; einige Arbeiten finden einen erheblichen Einfluss von Spekulation auf Preisspitzen. Daher sollte und kann nicht davon ausgegangen werden, dass bestimmte Spekulationsaktivitäten grundsätzlich nicht zu Preisspitzen bei Kassapreisen und damit Weltmarktpreisen führt. Aus einer Reihe von methodischen Gründen und theoretischen Überlegungen sind solche Untersuchungen generell sehr schwierig, weswegen auch in Zukunft nicht von einer klaren wissenschaftlichen Beweislage auszugehen ist. 3. Preisbewegungen an Warenterminmärkten werden durch die Kassamärkte, Handel und Substitutionseffekte bis zu Konsumenten in Entwicklungsländern übertragen. Globale Preisänderungen verändern damit innerhalb kürzester Zeit das reale Einkommen von hunderten von Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze von 1.25$/Tag leben. 4. Im Gegensatz zu langfristigen Preistrends haben kurzfristige Preisanstiege überwiegend negative Folgen für Einkommen und Ernährungssicherheit – vor allem für die Ärmsten der Armen, die als Lohnarbeiter arbeiten und kein oder kaum eigenes Land haben. Daher besteht ein hohes Gefährdungsrisiko für die Ernährungssicherheit, wenn globale Preise in die Höhe schnellen. 5. Aus den Punkten zwei bis vier folgt: Spekulation kann zu einem existenziellen Problem werden bzw. zur Verschärfung existenzieller Probleme beitragen, wenn sich globale Rohstoffpreise oder lokale Nahrungsmittelpreise bereits in einem starken Aufwärtstrend befinden.

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6. Daher muss der grundsätzliche (und vor allem langfristig wirksame) Nutzen von Spekulation mit dem – in bestimmten Zeiten und nur akut vorhandenen – Risiko von extremen Preisbewegungen abgewogen werden. Eine optimale Regulierung ist global koordiniert und situationsabhängig, d.h. sie greift vor allem in Krisensituationen ein. Staatliche Regulierung ist jedoch sehr schwierig, da es unmöglich ist, das richtige Maß zu finden. Es gibt bisher kein anerkanntes Verfahren, das Blasen und exzessive Spekulation erkennt und adäquate Instrumente zur Bekämpfung vorschlägt. Weiterhin sind Regierungen oft zu träge und langsam, um in Krisenzeiten schnell einzugreifen. 7. Zusätzlich zur staatlichen Regulierung sollten Selbstregulierungsvorhaben unterstützt und geprüft werden, weil sie einfacher und schneller umsetzbar sind. Banken und Anleger sollten ein Gespür dafür entwickeln, wann Käufe von Terminkontrakten zu Spekulationszwecken Schaden anrichten können. Die Effektivität freiwilliger Lösungen ist aber abhängig davon, wie viele Finanzinstitute mitmachen – und wie stark der politische Druck durch regulatorische Alternativen ist. 8. Spekulation ist nicht die Hauptursache für Hunger, Unter- und Mangelernährung auf der Welt, die durch zahlreiche strukturelle Probleme bedingt sind. Spekulation war bei den Preisanstiegen der letzten Jahre nur teilweise von Bedeutung. Die Preise für Reis – dem Hauptnahrungsmitteln der meisten armen Menschen – und Weizen wurden v.a. durch abrupte Handelsbeschränkungen wie Exportverbote beeinflusst. Zudem sind die Preise fast aller Nahrungsmittel auch durch die hohe Nachfrage gestiegen. Zu den strukturellen Problemen, die es langfristig zu lösen gilt, zählen vor allem Armut (geringes Einkommen) und fehlende soziale Sicherheitsnetze. In einer Welt ohne extreme Armut und mit funktionierenden sozialen Netzen sind Preisanstiege bei Nahrungsmitteln kein existenzielles Problem – und damit auch nicht Spekulation. Literatur Adjemian, M. K./Garcia, P./Irwin, S./Smith, A. (2013): Non-Convergence in Domestic Commodity Futures Markets: Causes, Consequences, and Remedies. United States Department of Agriculture, Economic Research Service. Aksoy, A./Isik-Dikmelik, A. (2008): Are Low Food Prices Pro-Poor? Net Food Buyers and Sellers in Low-Income Countries. Net Food Buyers and Sellers in Low-Income Countries (June 1, 2008). World Bank Policy Research Working Paper Series. Alberini, A./Segerson, K. (2002): Assessing voluntary programs to improve environmental quality. Environmental and Resource Economics 22, 157–184.

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Die Grenzen wissenschaftlich gestützter Handlungsempfehlungen. Das Beispiel Nahrungsmittelspekulation – Korreferat zu Matthias Kalkuhl – Von Jörg Althammer und Maximilian Sommer Wohl kaum eine Diskussion wird so emotional geführt wie die Frage nach der Legitimität der Spekulation mit Grundnahrungsmitteln. Kritiker der Finanzialisierung des Marktes für Grundnahrungsmittel machen den Handel mit Warenterminkontrakten mitverantwortlich für den Anstieg der Nahrungsmittelpreise und damit für den Hunger in der Welt. Insbesondere die abrupten Änderungen der Lebensmittelpreise in den Jahren 2007/2008 und 2010, die zeitlich mit starken Preissprüngen auf den Warenterminmärkten zusammenfielen, gelten vielfach als Beleg für den negativen Einfluss des Kapitalmarkts auf die Versorgungssicherheit der ärmsten Bevölkerung. In der Literatur ist die unterstellte Kausalität jedoch äußerst umstritten. In der Tabelle im Anhang zu diesem Beitrag findet sich eine Übersicht über die wichtigsten Studien zu diesem Thema, zur untersuchten Fragestellung, der Methodik und den zentralen Ergebnissen.1 Um einen Einfluss der Finanzialisierung des Nahrungsmittelmarktes auf die Ernährungssicherheit der ärmsten Bevölkerung schlüssig aufzuzeigen, müssten mehrere Effekte nachgewiesen werden. – Zunächst müsste gezeigt werden können, dass sich die Entwicklung der Futurepreise auf das Niveau oder die Volatilität der Kassapreise des zugrundeliegenden Produkts auswirkt. Dieser Transmissionsmechanismus steht im Vordergrund der wissenschaftlichen Diskussion um die ethische Legitimität der Terminmärkte für Grundnahrungsmittel. – Weiterhin müsste gezeigt werden können, dass sich eine spekulationsbedingte Veränderung der Kassapreise auf die regionalen Marktpreise für Grundnahrungsmittel auswirkt.

___________ 1 Wir danken Frau Erdmuthe Ellmann für die kritische Durchsicht der Literatur und die Zusammenstellung der Ergebnisse.

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– Und schließlich müsste nachgewiesen werden, dass diese Änderung der regionalen Lebensmittelpreise die Versorgungssicherheit der Bevölkerung beeinträchtigt. Der vorliegende Beitrag von Matthias Kalkuhl repräsentiert den ersten Versuch in der Literatur, die verschiedenen Wirkungsmechanismen zusammenzuführen, um die in der Diskussion implizit unterstellte Kausalitätskette zu überprüfen. Das Ziel des Beitrags ist es dabei, ein empirisch belastbares Bild des Gesamteffekts abzugeben. Das Papier zeichnet sich durch eine sehr ausgewogene Darstellung der unterschiedlichen Positionen aus. Dadurch trägt es zur Versachlichung einer hoch emotionalen Diskussion bei. So wird zunächst ausführlich dargestellt, dass die Warenterminmärkte Produktionsrisiken absichern und insofern mit dazu beitragen, das Angebot an Nahrungsmitteln zu vergrößern. Eine weitgehende Beschränkung des Marktes oder gar ein Verbot der Warentermingeschäfte, wie dies in der politischen Diskussion teilweise gefordert wird, wäre also aus entwicklungspolitischer Sicht kontraproduktiv. Die Spekulation kann jedoch – so das Argument des Beitrags – in einer angespannten Situation auf den globalen Märkten für Grundnahrungsmittel zu einem spekulationsbedingten Überschießen der Kassapreise führen. Die Argumentation von Kalkuhl basiert auf zwei Aufsätzen, die sich mit einem jeweils isolierten Aspekt dieser Wirkungskette beschäftigen. Tadesse et al. (2013) überprüfen spekulative Preisspitzen (peaks) des Terminmarkts auf den Kassamarkt. In Kalkuhl (2014) werden die Transmissionsmechanismen globaler Preisänderungen auf die nationalen Märkte der am wenigsten entwickelten Volkswirtschaften untersucht. In dem vorliegenden Beitrag werden nun beide Effekte zusammengeführt und aus den Ergebnissen wirtschaftspolitische Empfehlungen abgeleitet. Das Papier argumentiert, dass die Finanzialisierung keinen Einfluss auf die Entwicklung des Preisniveaus oder der Volatilität aufweist. Für einige Perioden lässt sich jedoch ein spekulationsbedingtes „Überschießen“ der Marktpreise beobachten, das sich negativ auf die Versorgungssituation der Entwicklungs- und Schwellenländer auswirkt. Insbesondere die Sub-Sahara-Staaten, aber auch Länder wie China oder Indien wären danach von spekulativen Blasen negativ betroffen. Im Rahmen des Koreferats werden wir uns auf drei Punkte konzentrieren: – Werden die Preisspitzen auf den Märkten für Grundnahrungsmittel durch das Modell hinreichend erklärt? – Ist die Transmission eines Preiseffekts vom Terminmarkt auf den Kassamarkt nachvollziehbar? – Sind die wirtschaftspolitischen Empfehlungen des Papiers adäquat?

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I. Zur Erklärung spekulativer Preisspitzen Am Terminmarkt für Grundnahrungsmittel sind unterschiedliche Akteure mit jeweils divergenten Zielen aktiv. Diese heterogene Akteursstruktur wird im Text sehr differenziert herausgearbeitet. Das Papier trifft nicht nur die gängige Unterscheidung zwischen commercial und non-commercial tradern – also dahingehend, ob dem Termingeschäft ein Warengeschäft zugrunde liegt oder nicht. Die non-commercial trader werden nochmals weiter ausdifferenziert in „informierte“ Händler, Händler, die den Warenterminmarkt zur Diversifikation ihres Portfolios nutzen (diversification trader) und uninformierte „noise trader“. Während dem kommerziellen und dem „informierten“ Handel eine effizienzsteigernde und preisstabilisierende Funktion unterstellt wird, können diversification trader und insbesondere noise trader zu einer Destabilisierung der Märkte beitragen. Für die empirische Umsetzung ist diese Differenzierung jedoch irrelevant. In dem Beitrag von Tadesse et al. (2013) wird lediglich der open interest, also die offenen Positionen aller Marktteilnehmer als Indikator für erratische Bewegungen auf den Warenterminmärkten verwendet. Dieser Wert ist als Indikator für spekulative Übertreibungen am Terminmarkt ausgesprochen problematisch. Denn eine Korrelation zwischen open interest und dem Preis der Ware erlaubt noch keine Aussage über die zugrunde liegende Kausalität. Neben einer spekulativen Überhitzung der Preise ist auch die umgekehrte Kausalität mit den Daten kompatibel: wenn sich die Preise durch nicht beobachtete exogene Schocks stark ändern, dann wird ein Teil der vorhandenen Kauf- oder Verkaufsorders nicht bedient, d.h. der open interest steigt. Aus theoretischer Sicht ist diese Erklärung sogar plausibler als das im Text unterstellte Argument der spekulationsgetriebenen Preisbewegung. Aber selbst, wenn man die Kausalität wie in dem Papier unterstellt als gegeben annimmt, ist der Effekt der Finanzialisierung auf die Lebensmittelpreise von untergeordneter Bedeutung. Die wesentlichen Faktoren zur Erklärung der Preisbewegung sind fundamentaler Art.2 Dies geht auch aus der Abb. 3 des Papiers hervor. Mit wenigen Ausnahmen entspricht der Marktpreis der über Fundamentalfaktoren geschätzten Preisentwicklung. Erkennbare Abweichungen zeigen sich im dritten Quartal 2007, im zweiten Quartal 2008 sowie Anfang des Jahres 2011.3 ___________ 2 Dies wird im vorliegenden Papier nicht ganz deutlich. Der Aufsatz von Tadesse et al. (2013), der diesem Abschnitt zugrunde liegt, weist jedoch die Koeffizienten der Effekte aus. Hier zeigt sich, dass die wesentlichen preisbestimmenden Faktoren reale Produktions- und Nachfrageschocks sind; die „Spekulation“ erweist sich zwar als statistisch signifikant, quantitativ jedoch von untergeordneter Bedeutung. 3 Die im Text vorgenommene Abgrenzung der „Spekulationsphasen“ von September 2006 bis Dezember 2008 und erneut von Juni 2010 bis Mai 2011 ist für uns aus den Angaben des Textes nicht nachvollziehbar. Insbesondere im ersten der genannten Zeiträume entspricht der Marktwert mit Ausnahme der o.a. beiden Quartale dem geschätzten

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II. Die Transmission von Preisschocks auf lokale Märkte Um einen armutsverstärkenden Effekt der Warenterminmärkte abzuleiten, genügt es nicht, einen Einfluss der Spekulation auf die Marktpreise zu identifizieren. Vielmehr müsste zusätzlich gezeigt werden, dass sich die Weltmarktpreise der von Spekulation betroffenen Güter auf die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung der ärmsten Länder auswirkt. Mit dieser Transmission der Weltmarktpreise auf die Inlandspreise setzt sich der zweite Teil des Beitrags auseinander. Hier wird die Reaktion nationaler Lebensmittelpreise unter der Annahme untersucht, dass sich der Weltmarktpreis für einen Index aus verschiedenen Nahrungsmitteln verdoppelt. Für die ärmsten Volkswirtschaften werden Transmissionsraten von über 60 % ermittelt. Dieses Ergebnis zeigt eine erhebliche Vulnerabilität insbesondere der am wenigsten entwickelten Volkswirtschaften auf globale Preisschwankungen. Es unterstreicht damit die große Bedeutung, die eine Politik der Versorgung mit preisgünstigen Grundnahrungsmitteln gerade für die ärmste Bevölkerung hat. Für die hier relevante Fragestellung ist diese methodische Vorgehensweise jedoch aus zwei Gründen verfehlt. Zum einen betreffen die am Kapitalmarkt gehandelten Nahrungsmittel nur einen kleinen Teil der lokal konsumierten Lebensmittel. Die Spekulation betrifft im Wesentlichen Mais, Weizen und Soja. Diese drei Produkte spielen für die Versorgung der Bevölkerung in den ärmsten Ländern jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Wesentlich wichtiger für die regionale Lebensmittelversorgung sind Reis, Maniok und Kartoffeln. Diese Produkte werden jedoch nicht oder nur sehr eingeschränkt an den Terminmärkten gehandelt, so dass eine spekulative Verzerrung der lokalen Preise ausgeschlossen werden kann. Insofern lassen sich aus den empirisch festgestellten Preisspitzen keine Aussagen für die Preisbewegung und die Nahrungsmittelversorgung in den Entwicklungsländern ableiten. Ein zweiter Punkt betrifft die Vorgehensweise bei der Quantifizierung des Transmissionseffekts spekulativ verzerrter Weltmarktpreise auf den lokalen Markt. Denn hier wird die Veränderung eines Lebensmittelindex auf die lokalen Preise für Nahrungsmittel untersucht. Für die unterstellte Kausalkette müsste jedoch der Einfluss der untersuchten Produkte – also Mais, Weizen und Soja – auf die lokalen Güterpreise untersucht werden. Aus den oben genannten Gründen dürfte dieser Effekt deutlich niedriger ausfallen. Des Weiteren beruhen die berechneten Transmissionseffekte auf Preisänderungen, die weit über den empirisch feststellbaren Preisschwankungen liegen. Wenn man den Effekt spekulationsbedingter Preisspitzen mit den hier ausgewiesenen Transmissionseffekten gewichtet, so wird implizit unterstellt, dass dieser Effekt linear ist. Das ___________ Fundamentalwert, obwohl die gemessene Schwankungsbreite bis zu 35 Prozentpunkten beträgt.

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ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Aufgrund einer unterschiedlichen Integrationstiefe der jeweiligen Volkswirtschaften und erheblicher Transportkosten ist vielmehr davon auszugehen, dass sich geringe Veränderungen der Weltmarktpreise nicht oder nur relative schwach auf die lokalen Märkte auswirken, während massive Preisschwankungen einen deutlich stärkeren Effekt haben dürften. Aber selbst, wenn man die im Papier ausgewiesenen Transmissionsraten akzeptiert, fällt der Gesamteffekt eher moderat und in einem zeitlich sehr begrenzten Rahmen aus.

III. Wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen Bislang ist es noch nicht überzeugend gelungen, einen Einfluss des Terminhandels auf die Versorgungssituation der von Armut betroffenen Bevölkerung schlüssig nachzuweisen. Aber unabhängig davon ist die Frage nach einer adäquaten Regulierung dieser Märkte von hoher wirtschaftsethischer Bedeutung. Denn zum einen bedeutet die Tatsache, dass ein destabilisierender Einfluss der Futurepreise auf den Spotmarkt nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, noch nicht, dass ein derartiger Einfluss grundsätzlich auszuschließen wäre. Angesichts der erheblichen gesellschaftlichen Kosten, die hiermit verbunden wären, kann bereits die Anwendung des Vorsichtsprinzips einen regulatorischen Eingriff begründen. Und zum anderen hängt die gesellschaftliche Akzeptanz der Aktivitäten auf diesen Märkten – und damit auch die moralische Legitimation der Marktakteure – davon ab, ob in der Gesellschaft mehrheitlich die Überzeugung herrscht, dass die negativen Effekte ausgeschaltet werden können oder zumindest in ihren Auswirkungen beherrschbar bleiben. Schließlich kann eine „naive“ Regulierung4 erheblichen Schaden anrichten und die sinnvolle allokative Funktion dieser Märkte untergraben. Kalkuhl spricht sich in seinem Beitrag gegen eine staatliche Regulierung der Warenterminmärkte aus. Er begründet dies mit Informationsasymmetrien und der verzögerten Reaktion politischer Akteure. So seien öffentliche Institutionen weder in der Lage, effiziente von ineffizienten Spekulationen zu unterscheiden, noch könnten sie hinreichend schnell reagieren, um spekulative Überhitzungen zu vermeiden. Deshalb befürwortet er eine freiwillige Selbstverpflichtung der Marktteilnehmer. Damit argumentiert Kalkuhl im Rahmen der gängigen Unternehmensethik, wonach bei einer notorisch unvollkommenen Rahmenordnung die einzelnen Akteure gefordert sind, den institutionellen Freiraum durch mo___________ 4 Eine naive Regulierung mit erheblichen negativen Konsequenzen wäre bspw. ein vollständiges Verbot von Terminmärkten für Grundnahrungsmittel, wie dies in der politischen Diskussion teilweise gefordert wurde. Aber auch bei der geplanten Einführung von Positionslimits auf europäischer Ebene stellt sich die Frage, ob die gesellschaftlichen Kosten einen eventuell vorhandenen Nutzen übersteigen.

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ralgeleitetes Handeln zu schließen. Dauerhafte kollektive Selbstbindungen sind jedoch nur zu erwarten, wenn hierdurch Dilemmasituationen für die beteiligten Akteure aufgelöst und superiore Allokationen realisiert werden können. Hierzu ist es erforderlich, dass – ein gemeinsames Interesse der Akteure einer Marktseite besteht, – die Gefahr des Trittbrettfahrerverhaltens gering ist und – die privaten Akteure einen signifikanten Informationsvorsprung vor öffentlichen Akteuren besitzen. Alle drei Bedingungen scheinen im vorliegenden Fall nicht erfüllt zu sein. So ist nicht unmittelbar ersichtlich, weshalb private Akteure hinsichtlich der Funktionalität ihrer Aktivitäten und ihres Grads an Informiertheit einen Vorsprung vor externen Dritten haben sollten. Hinsichtlich der Reaktionsgeschwindigkeit sind regelbasierte Regulierungen, welche ein „Überschießen“ der Termin- oder Kassapreise verhindern, diskretionären Absprachen der Marktteilnehmer überlegen. Und schließlich hat die Diskussion um freiwillige Selbstverpflichtungen gezeigt, dass mit einer dauerhaften Selbstbindung der Marktakteure nur gerechnet werden kann, wenn sie mit einer „glaubwürdigen Drohung“ einer staatlichen Regulierung verbunden ist. Auch aus diesem Grund müssen effiziente Konzepte zur Regulierung dieses Marktes entwickelt werden.

IV. Fazit Der Einfluss der Nahrungsmittelspekulation auf die Ernährungssituation der ärmsten Bevölkerung ist ein Thema von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz. Die starken Preisschwankungen in den Jahren 2008 und 2011 und der zeitgleiche Anstieg der Futurepreise für bestimmte Grundnahrungsmittel haben eine breite und hoch emotional geführte Diskussion darüber entstehen lassen, inwieweit die Warenterminmärkte für diese Preisspitzen mitverantwortlich sein können. Das vorliegende Papier von Matthias Kalkuhl liefert einen inhaltlich ausgewogenen und aufschlussreichen Beitrag zu dieser Diskussion. Eine Versachlichung der emotional aufgeladenen Diskussion ist dringend erforderlich. Denn mittlerweile wird auch von den Kritikern anerkannt, dass die Warenterminmärkte eine wichtige Versicherungsfunktion wahrnehmen. Es ist davon auszugehen, dass diese Möglichkeit, Preisrisiken abzusichern, die Angebotsbedingungen auf den Märkten für Nahrungsmittel spürbar verbessert und das Nahrungsmittelangebot positiv beeinflusst. Ein vollständiges Verbot dieser Märkte oder eine Regulierung mit erdrosselnder Wirkung wäre somit eindeutig kontraproduktiv. Aber die Fokussierung der öffentlichen Diskussion auf den Teilaspekt der Warenterminmärkte birgt zusätzlich die Gefahr, die eigentlichen Ursachen der

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Nahrungsmittelknappheit aus den Augen zu verlieren. Der wesentliche Grund liegt nicht in der Finanzialisierung dieser Märkte, sondern in einer stark steigenden Nachfrage nach Grundnahrungsmitteln. Dieser Nachfrageanstieg ist nur zu einem geringen Teil auf die Zunahme der Weltbevölkerung zurückzuführen. Im Wesentlichen liegt die Ursache in einem deutlich steigenden Pro-KopfKonsum, der vor allem veränderten Lebensgewohnheiten in den Schwellenländern geschuldet ist. Eine wirksame und nachhaltige Bekämpfung des weltweiten Hungers erfordert somit ein deutlich steigendes Nahrungsmittelangebot. Und die Absicherung der Produzenten gegen Preisschwankungen durch den Warenterminmarkt ist hierzu eine unverzichtbare Voraussetzung. Literatur Adämmer, Philipp/Bohl, Martin T./Stephan, Patrick M. (2011): Speculative Bubbles in Agriculture Prices, in: Working Paper. Universität Münster. Algieri, Bernardina (2012): Price Volatility, Speculation and Excessive Speculation in Commodity Markets: Sheep or Shepherd Behaviour?, in: ZEF discussion paper on development policy 166, Zentrum für Entwicklungsforschung, Bonn. Aulerich, Nicole M./Irwin, Scott H./Garcia, Philip (2013): Bubbles, Food Prices, and Speculation. Evidence from the CFTC’s Daily Large Trader Data Files, in: NBER Working Paper 19065, National Bureau of Economic Research, Cambridge. Braun, Joachim von/Tadesse, Getaw (2012): Global Food Price Volatility and Spikes. An Overview of Costs, Causes, and Solutions, in: ZEF discussion paper on development policy 161, Zentrum für Entwicklungsforschung, Bonn. Capelle-Blancardy, Gunther/Coulibaly, Dramane (2011): Index Trading and Agricultural Commodity Prices. A Panel Granger Causality Analysis, in: CEPII research center series 126–127, S. 51–72. Chiao, Cheng-Huei/Hu, Bill/Shanmugam, Velmurugan P. (2012): Agricultural Commodity Price Spikes since 2006. A New Look at the Efficiency of U.S. Futures Markets, in: Working Paper, Arkansas State University. Dwyer, Alexander/Holloway, James/Wright, Michelle (2012): Commodity Market Financialisation. A Closer Look at the Evidence, in: Bulletin der Reserve Bank of Australia, 1. Quarter, S. 65–77. Foodwatch (2011): Die Hungermacher. Wie Deutsche Bank, Goldman Sachs & Co. auf Kosten der Ärmsten mit Lebensmitteln spekulieren, Berlin. Gilbert, Christopher L./Pfuderer, Simone (2012): Index Funds Do Impact Agricultural Prices, in: Working Paper, Department of Economics, University of Trento. Hamilton, James D./Wu, Jing C. (2014): Effects of index-fund investing on commodity futures prices, in: NBER Working Paper 19892, National Bureau of Economic Research, Cambridge. Hernandez, Manuel/Torero, Maximo (2010): Examining the Dynamic Relationship between Spot and Future Prices of Agricultural Commodities, in: IFPRI Working Paper 988, International Food Policy Research Institute, Washington D.C.

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1985-2011

1995-2012

2004-2009

1996-2009

2006-2010

1995-2011

1997-2011

2006-2011

2006-2012

Algieri (2012)

Aulerich et al. (2013)

von Braun, Tadesse (2013)

Capelle-Blancard, Coulibaly (2011)

Chiao et al. (2012)

Dwyer et al. (2012)

Gilbert, Pfuderer (2012)

Hamilton, Wu (2014)

Beobachtungszeitraum

Ädammer et al. (2011)

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Momentum Threshold AutoRegressive (MTAR) Model GARCH-Modell, Granger Kausalitätstest SUR Regression, Bivariater Granger Kausalitätstest SUR Regression, OLS und FGLS Regression SUR Regression, Wald-Test mit Bootstrap Critical Values, Panel Granger Kausalitätstest Regression, Granger Kausalitätstest, GARCH-Modell GARCH-Modell, Granger Kausalitätstest, Hauptkomponentenanalyse Regression, Granger Kausalitätstest

Wesentliche statistische Analysemethoden

nicht nachweisbar

nicht nachweisbar

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nachweisbar

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...die Volatilität

nicht nachweisbar

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nachweisbar

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…das Preisniveau

Ergebnis: Auswirkung der Spekulation auf…

Tabelle 1: Übersicht über empirische Studien zur Nahrungsmittelspekulation (1/2)

Anhang Die Grenzen wissenschaftlich gestützter Handlungsempfehlungen 195

2000-2009

Stoll, Whaley (2009)

1960-2010

2002-2008

Robles et al. (2009)

Welthungerhilfe (2011)

1986-2010

Manera et al. (2012)

1994-2011

1989-2011

Liu et al. (2013)

2004-2011

2004-2012

Liao-Etienne et al. (2012)

Oxfam (2013)

2006-2009

Irwin, Sanders (2010)

Foodwatch (2011)

1994-2009

Hernandez, Torrero (2010)

Autor

Beobachtungszeitraum

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Deskriptive Analyse Deskriptive Analyse, Regression

Deskriptive Analyse

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Regression, Granger Kausalitätstest Regression, Granger Kausalitätstest

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nicht nachweisbar nicht nachweisbar

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...die Volatilität

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…das Preisniveau

Ergebnis: Auswirkung der Spekulation auf…

GARCH-Modell

Regression, Granger Kausalitätstest Parkinson's Extreme Value Estimator, Regression, Granger Kausalitätstest Regression, PSY Verfahren für explosive Perioden, Granger Kausalitätstest Regime-SwitchingRegressionsmodell nach van Norden und Schaller, LR-Test

Wesentliche statistische Analysemethoden

Tabelle 1: Übersicht über empirische Studien zur Nahrungsmittelspekulation (2/2)

196 Jörg Althammer und Maximilian Sommer

Spekulation mit Nahrungsmitteln – Korreferat zu Matthias Kalkuhl – Von Markus Henn Der Darstellung von Matthias Kalkuhl ist in vielem zuzustimmen. Sowohl die Schwierigkeiten des Themas als auch die angebotenen wissenschaftlichen und politischen Lösungen werden klar benannt. Jedoch will ich im Folgenden die Darstellung des Themas um weitere zentrale Facetten ergänzen und an einigen Punkten die Kritik an der Spekulation stärker betonen.

I. Zur Theorie der Spekulation und ihrer Wirkung Zunächst soll noch einmal genauer darauf gesehen werden, wie Spekulation auf den Terminmärkten wirken kann. Matthias Kalkuhl stellt zurecht fest, dass Preise immer das Produkt von spekulativen Erwartungen – sprich: Spekulation – sind und insofern die Frage müßig sein sollte, ob Spekulation die Preise beeinflussen kann. Allerdings hat die Sichtweise, Spekulation könne die Preise schon theoretisch nicht beeinflussen, bis hinein in die Wissenschaft so viel Unterstützung, dass man darauf noch genauer eingehen muss. So wird immer wieder behauptet, dass Spekulation überhaupt keine Wirkung auf die Terminmärkte haben könne, solange sie nicht auch physische Lagermengen kontrolliert. Begründet wird dies in der Regel damit, dass jeder Spekulant einen Long- oder Short-Partner für einen Future finden müsse und Futures unbegrenzt geschaffen werden könnten. Die Rede ist von einem „Nullsummenspiel“, manchmal wurden Futures gar mit Sportwetten verglichen, wie vom Hallenser Professor Ingo Pies.1 Diesem irreführenden Vergleich gegenüber muss festgehalten werden, dass auch der Handel mit Futures ein Marktprozess ist. Ann Berg, früher Weizenhändlerin und Direktorin an der Chicagoer Terminbörse, schrieb dem Verfasser einmal dazu: „We used to have a saying when someone asked ,Why did the price go up?‘ and it was ,More buyers than sellers.‘“ Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Futures theoretisch unbegrenzt geschaffen werden können – denn die beiden Parteien müssen sich dennoch auf einen Preis einigen, zu dem sie den Future schaffen. Und wenn auf einer Seite mehr Interesse ist, kann ___________ 1

Pies (2012), S. 6.

198

Markus Henn

die andere einen für sich besseren Preis verlangen. Durch Indexfonds, die nur long-Positionen kaufen, dürften also Produzenten einen höheren Preis verlangen können, den dann allerdings auch die Firmen bezahlen müssen, die sich selbst auf der Long-Seite absichern wollen. Selbst Ingo Pies ist in seinen jüngsten Publikationen von der Sportwetten-These abgekommen und gibt einen theoretisch erwarteten Einfluss von Indexfonds auf die Preise offen zu. In einem auch bei Kalkuhl zitierten Text heißt es: „… ein Markteintritt weiterer Longonly-Indexfonds bzw. die Erhöhung des Einlagevermögens in bestehende Long-only-Indexfonds […] [kann] dazu führen, dass sich der Gleichgewichtspreis nicht nur dem zukünftig erwarteten Kassapreis annähert, sondern diesen sogar übersteigen kann.“2 Was die Wirkung der Terminpreise auf die Kassamärkte – letztlich auch in Entwicklungsländern – angeht, weist Kalkuhl zurecht auf eine starke Transmission hin. Allerdings muss der Transmissionsweg noch genauer beleuchtet werden. Zunächst ist klar, dass er über die Lagerhaltung gehen kann. Dies kann durch eine Aussage des US-Bauers Craig Stewart illustriert werden: „Wenn die Futures-Preise für Mais hoch sind an der Börse, dann lagere ich ihn in meinen Silos länger. Es ist für mich daher auch völlig klar, dass die Milliarden der Spekulanten die Preise für Lebensmittel nach oben treiben.“3 Ob die Lagerhaltung immer steigt, ist wegen schlechter und fehlender Daten kaum nachzuprüfen. Es ist aber davon auszugehen, dass viele physische Händler ihren Profit über Lagerhaltung maximieren. Im Übrigen kann die Übertragung auch über die Terminmärkte gehen, z.B. von den internationalen auf die indischen.4 Was bei Kalkuhl nicht behandelt wird, ist die Frage, ob es auch ohne Änderungen bei der Lagerhaltung zu Preiseffekten kommen kann. Dazu gab es in den letzten Jahren eine Debatte insbesondere zu Öl, bei der einige Wissenschaftler stark für die Möglichkeit solcher Preiseffekte eintraten.5 Es fragt sich zwar, wie weit sich dies auf Agrargüter übertragen lässt, da diese schlechter zu lagern sind sowie anders als Öl nicht einfach im Boden gelassen und später gefördert werden können. Auch ist die Dauer des Effekts umstritten. Ein Argument für einen allgemeinen Preiseffekt auch ohne Lagerveränderungen sind aber Informationsdefizite.6 Für alle Rohstoffe gibt es zudem Hinweise, dass sich physische Händler direkt an den Futures orientieren. Dafür spricht zumindest anekdotische Evidenz von Produzenten und Nahrungsmittelverarbeitern, ___________ 2

Prehn et al. (2013). FAZ (2013). 4 Vgl. Kumar/Payesh (2011). 5 Vgl. Tilton et al. (2012), dort auch Verweise auf die Gegenthese, dass es immer einen Lagereffekt brauche. 6 Sockin/Xiong (2013). 3

Spekulation mit Nahrungsmitteln

199

die natürlich die Terminpreise im Blick haben. Es soll auch Lieferverträge geben, die sich auf Futurespreise beziehen.

II. Indexfonds und ihre Geschichte Vom Preiseinfluss der Indexfonds war bereits die Rede. Nun soll noch ergänzend auf ihre Entstehung eingegangen werden. Wie Kalkuhl darstellt, spielt Diversifizierung im Interesse der Anlegerinnen und Anleger eine wichtige Rolle bei der Aktivität der Indexfonds. Wichtig ist hier aber zu betonen, dass die Diversifizierung zunächst die einzige Begründung für ihre Einführung war – und nicht etwa ein Liquiditätsmangel an den Terminmärkten. Erst später in der Debatte wurde das Argument angeführt, die Fonds würden auch den Terminmärkten über mehr Liquidität nützen. Inzwischen hat sich sogar das ursprüngliche Argument für die Fonds als falsch herausgestellt. Die prominenteste Studie von Gorton und Rouwenhourst7 zur Begründung der Diversifizierungsvorteile basierte damals auf einem reinen Zeitreihenvergleich. Inzwischen weiß man, dass diese theoretisch möglichen Gewinne in der Praxis gar nicht zu realisieren sind, weil die reale Handelsaktivität Kosten verursacht. Beim Rollen der Futurespositionen, also beim Kauf neuer Futures als Ersatz für diejenigen mit endender Laufzeit, kann viel Geld für den Fonds verloren gehen. Hinzu kommt, dass die Fonds offensichtlich durch das viele Rollen die Märkte in ihrer Struktur verändert haben. In der klassischen Lehre von Rohstoff-Futures geht man davon aus, dass die später auslaufenden Futures für einen Rohstoff billiger sein müssen als die früher auslaufenden, weil man zusätzlich Lagerkosten zu tragen hat. Keynes nannte dies normal backwardation. Wohl die Nachfrage der Indexfonds nach Long-Positionen hat nun aber dazu geführt, dass deutlich häufiger als früher die später auslaufenden Futures teurer sind als die früher auslaufenden, in der Fachsprache nennt man dies contango.8 Ist letzteres der Fall, wird aber auch das Rollen der Indexfonds teurer, weil sie für den neuen Future mehr bezahlen müssen – und das frisst die Gewinne auf. Zugleich haben sich aber auch die Verhältnisse zwischen den Rohstoffmärkten und den Finanzmärkten verändert: Die Korrelation ist heute höher als früher.9 Damit sind auch die von Gorton und Rouwenhourst vorhergesagten Diversifizierungsgewinne gar nicht mehr möglich. Es ist anzunehmen, dass zu___________ 7

Gorton/Rouwenhourst (2006). Frenk/Turbeville (2012). 9 Siehe z.B. Silvennoinen/Thorp (2013), weitere Studien bei Ederer et al. (2013). 8

200

Markus Henn

mindest ein Teil der neuartigen Kohärenz von den Indexfonds selbst herbeigeführt wurde. All das hat zur Folge, dass die Fonds viel weniger Gewinne bringen als von der Wissenschaft erwartet und als von der Wirtschaft versprochen. Selbst die Indexfondsbefürworter um Professor Irwin aus den USA mussten letztes Jahr hinsichtlich der möglichen Gewinne aus den Fonds für Anlegerinnen und Anleger eingestehen: „How could we have been so wrong?“. In ihrer Analyse stellen sie fest, dass 23 von 25 Fonds in den letzten fünf Jahren Verluste hatten, der Durchschnittsverlust lag bei 40%.10

III. Wissenschaftliche Analysen Bei der wissenschaftlichen Analyse hat Kalkuhl wichtige Verfahren genannt und diskutiert. Zu erwähnen wäre der Vollständigkeit halber noch die Überblicksstudie von Will et al.11, laut der die Mehrheit der empirischen Studien keine oder keine klaren Belege für eine Preisbeeinflussung sieht. Allerdings gibt es gegen diese Studie eine Reihe von Vorbehalten, was die Auswahl der Literatur und die Bewertung angeht12, und eine beachtliche Zahl an Studien schreibt der Spekulation allgemein oder speziell den Indexfonds schon eine mehr oder weniger negative Rolle für die Preisentwicklung zu.13 Bei den Analysen von Einzeltransaktionen gibt es nicht nur die von Kalkuhl erwähnte Studie zu Commodity Linked Notes, sondern auch mehrere zur Rollphase der Indexfonds. Diese Studien finden klare Preiseffekte während der dieser Phase.14 Ein von Kalkuhl nicht direkt erwähnter Methodentyp sind Blasentests. Dabei wird – vereinfacht gesagt – eine Preisentwicklung auf außergewöhnliche Ausschläge hin untersucht. Dies geschieht zwar teils im Vergleich zu einem durch Fundamentalfaktoren gerechtfertigten Preis und ähnelt der Studie von Tadesse et al., die bei Kalkuhl zitiert wird. Teils wird aber auch nur die Preiszeitreihe auf explosive Bewegungen untersucht, ohne Bezug zu Fundamentaldaten. In den letzten Jahren ist eine Vielzahl an solchen Tests zu Nahrungsmittel- oder Rohstoffterminmärkten erschienen. Die Ergebnisse sind ähnlich widersprüchlich wie bei anderen Testverfahren. Einige Studien erkennen eine Blase15, ande___________ 10

Main et al. (2013). Will et al. (2012). 12 Henn (2013a); Bass (2013). 13 Henn (2013b). 14 Mou (2010); Frenk/Turbeville (2010). 15 Siehe z.B. Gutierrez (2012). 11

Spekulation mit Nahrungsmitteln

201

re allerdings weniger. Letztlich dürfte der Wert solcher Blasentests aber im Wesentlichen daran hängen, ob Fundamentaldaten die Preisbewegung rechtfertigen. Denn die wissenschaftliche Diskussion hat gezeigt, dass selbst die besonders krasse Preisspitze bei Öl um 2008 herum von einigen Wissenschaftlern als fundamental erklärbar gesehen wird. Damit sind Blasentests wohl nur ein Anhängsel der Analysen zu Fundamentalfaktoren. Die meisten solchen Analysen zu Fundamentalfaktoren zeugen aber vor allem von den Schwierigkeiten, die Faktoren zu operationalisieren: Bestimmt wird das Ergebnis schon durch die Auswahl der Faktoren und ihre Gewichtung, und dann durch die Auswahl der Messdaten. Wenn zum Beispiel in einer Studie der Ölpreis und der Transport als einzelne Faktoren gelten, aber zugleich der Transport vor allem mit dem Ölpreis in Verbindung steht, kann die Analyse keine korrekten Ergebnisse liefern. Beim Ölpreis wiederum gehen Gewichtungen ein, die eigentlich erst durch die Analyse ermittelt werden sollen.16 Deshalb produzieren solche Analysen keine besonders belastbaren und zugleich voneinander stark abweichenden Ergebnisse.17 Das betrifft sowohl die Gesamterklärungskraft der Analyse – sprich wie viel durch die gewählten Faktoren erklärt werden kann – als auch die Erklärungskraft einzelner Faktoren. Relativ einig sind sich die meisten dieser Studien, dass der Ölpreis eine zentrale Rolle für Agrarpreise spielt. Allerdings ist die Frage, was den Ölpreis bestimmt. Ähnlich wie bei Nahrungsmitteln gibt es hier kontroverse Erkenntnisse in der Wissenschaft. Einige Studien jedenfalls setzen den Einfluss der Spekulation hoch an18, was auch angesichts der extremen Preisschwankungen plausibel erscheint. Zu den Fundamentalfaktoren wäre auch noch einiges im Einzelnen anzumerken. Eine zentrale Rolle spielen auch hier die Lagerbestände und das LagerVerbrauch-Verhältnis. So wird immer verwiesen auf schwache Ernten 2006/2007 und 2010 und entsprechend niedrige Lagerstände. Doch gab es zum Beispiel bei Weizen auch schon um 2004 niedrige Lagerbestände, ohne dass die Preise explodiert wären. Umgekehrt waren die Lager 2010 wieder deutlich besser und dennoch konnte ein vergleichsweise geringer Ernteausfall in Russland und anderen Staaten den Preis extrem in die Höhe treiben – viel höher als es der geringe Produktionsausfall erwarten lässt. Entsprechend sieht Professor Christopher Gilbert nur weniger als 40 Prozent der Preise durch Lagerbestände erklärt.19

___________ 16

So bei Witzke/Noleppa (2011). Siehe Witzke/Noleppa (2011); Baffes (2011). 18 Siehe z.B. Chevallier (2012); Hache/Lantz (2013); Cifarelli/Paladino (2010). 19 Gilbert (2011), S. 13. 17

202

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IV. Hedge Fonds, Hochfrequenzhandel und Unternehmensspekulation Der Fokus von Matthias Kalkuhl liegt auf der Aktivität der Indexfonds, auch wenn er andere Handelsformen in seiner Übersicht erwähnt. Deshalb soll hier näher auf andere Formen der Spekulation eingegangen werden. Zunächst ist dazu festzustellen, dass auch Hedge Fonds seit einigen Jahren eine neuartige Rolle spielen. Sie sind zwar eher die klassischen Spekulanten, die es auch schon früher in diesen Märkten gab und die in alle Richtungen aktiv spekulieren, doch sie sind durch die Deregulierung der Finanz- und Rohstoffterminmärkte immens gewachsen. Einige Studien sprechen für einen noch größeren Einfluss auf die Preise durch Hedge Fonds – bzw. „managed money“ nach der US-Klassifizierung – als durch Indexfonds.20 Hedge Fonds betreiben immer mehr Handel mithilfe von Computeralgorithmen, Preistrendanalysen („Charthandel“) oder Hochfrequenzhandelstechniken. Dabei werden im Millisekundenbereich Positionen eingegangen und wieder aufgelöst oder sogar nur Aufträge erteilt und wieder storniert, was auch zur Preismanipulation genutzt werden kann. Die Schwierigkeit in der Analyse des Hochfrequenzhandels liegt darin, dass es keine klare Definition dafür gibt. Es können bestimmte Merkmale wie ein hoher Portfolioumsatz oder hohe Stornierungsraten herangezogen werden, aber die Grenze muss hier letztlich willkürlich bleiben. Zugleich sind viele Marktdaten, wie zum Beispiel die Berichte der US-Aufsicht CFTC, nicht annähernd fein genug, um dieses Geschehen zu erfassen. Trotz Unsicherheit im Detail ist sicher, dass der Hochfrequenzhandel immer stärker in Rohstoff- und sogar Agrarmärkten Fuß fasst. Der Präsident der USRohstoffbörse ICE, Tom Farley, schätzte den Hochfrequenzanteil schon 2011 auf 10 Prozent bei soft commodities wie Kakao oder Zucker.21 Zumindest einzelne Hochfrequenz-Fonds in Europa wie Cyril H.F. von John Locke Investments waren laut dem Fondsprospekt vor nicht allzu langer Zeit in Rohstoffmärkten aktiv, darunter auch in Maisfutures an europäischen Märkten.22 Im Frühjahr 2013 erhielt die Hochfrequenz-Firma Coscia and Panther, die unter anderem in Chicago mit Mais-Futures gehandelt hatte, wegen Marktmanipulation eine Strafe von 2,8 Millionen US-Dollar.23 ___________ 20

Siehe z.B. Mayer (2012); Ederer et al. (2013). Rampton (2011). 22 Der entsprechende Fondsprospekt ist inzwischen nicht mehr verfügbar im Netz, der Fonds scheint aber noch aktiv zu sein laut www.sicavonline.fr/index.cfm?action= fiche&code=00000X13111. 23 CFTC (2013). 21

Spekulation mit Nahrungsmitteln

203

Um trotz der genannten Schwierigkeiten die Wirkung des Hochfrequenzhandels zu analysieren, haben einige Studien verschiedene Methoden gewählt. Eine Studie versucht, reale Rohstoffpreisbewegungen mit handelsüblichen Chartmethoden nachzubilden – mit dem Ergebnis, dass die Preisbewegung der meisten Rohstoffe besser mit dem Einfluss des Charthandels erklärbar ist.24 Eine andere untersucht strukturelle Brüche in den Rohstoffpreisentwicklungen, die mit dem Aufkommen des Hochfrequenzhandels erklärbar sind.25 Anspruchsvolle dynamische Modelle können zeigen, dass Rohstoffpreise immer mehr durch spekulative Rückkopplungseffekte, also endogen bestimmt werden, nicht mehr durch neue exogene Informationen: So sieht eine Studie 60 bis 70 Prozent der Preisbewegungen in Rohstoffmärkten endogen bestimmt.26 Diese Effekte könnten auf verschiedene Weise zwischen den Händlergruppen entstehen. Es könnten Reaktionen von Hedge Fonds auf Indexfonds sein27 oder von uninformierten Händlern auf Indexfonds.28 Einen näheren Blick lohnen auch die Unternehmen, die mit den physischen Rohstoffen zu tun haben und sich absichern wollen. Matthias Kalkuhl spricht die Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen (Finanz-)Spekulation und (Unternehmens-)Absicherung an. Es spricht in der Tat vieles dafür, dass sich die physischen Händler nicht nur an den Börsen absichern. Vielmehr spekulieren auch diese, besonders die multinationalen Agrarkonzerne, oft nur auf Preisbewegungen. Das mag zum Teil auch unvermeidlich sein, um sich abzusichern, da Absicherung in der Praxis durchaus heißen kann, auf einen bestimmten Preis zu spekulieren. Zum Teil übersteigt diese Aktivität aber klar den Bedarf für eine Absicherung. Ein Beispiel dafür lieferte wohl Glencore Xstrata, der größte Rohstoffhändler der Welt. Dessen Vorgängerfirma Glencore drängte 2010 laut Presseberichten Russland dazu, ein Exportverbot für Weizen zu verhängen. Das dann erfolgte Verbot nützte dem Konzern zunächst dadurch, dass er Lieferungen wegen höherer Gewalt verweigern konnte. Beim Börsengang von Glencore 2011 wurde dann bekannt, dass der Konzern 2010 eine große Long-Position in Weizen hielt – und also zusätzlich auf dem Terminmarkt profitierte von einer Preissteigerung, die er selbst über das russische Exportverbot mit herbeigeführt hatte.29

___________ 24

Schulmeister (2012). Bichetti/Maystre (2012). 26 Filimonov et al. (2013). 27 Guilleminot et al. (2013) 28 Tse/Williams (2013). 29 Blas/Farchy (2011). 25

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V. Regulierung trotz Unsicherheiten gerechtfertigt und nötig Matthias Kalkuhl hat auf die Schwierigkeit hingewiesen, eine Regulierung zu begründen. Bei aller Diskussion über die genauen Ergebnisse der Wissenschaft darf aber nicht übersehen werden, dass es wohl keinen Bereich der Finanzmarktregulierung gibt, der auf einer absolut klaren ökonomischen Beweislage aufbauen könnte, schon gar was die Details angeht. Es lassen sich in der Regel nur Indizien für oder gegen eine Regulierung finden, die Entscheidung bleibt immer ein Stück weit willkürlich bzw. von Überzeugungen geleitet. Der Verfasser neigt zu der Ansicht, dass angesichts der Indizien für Probleme mit übermäßiger Spekulation eine starke staatliche Regulierung der Terminbörsen und insbesondere der dort aktiven Finanzakteure nötig ist. Das Mindeste wäre eine Einführung strenger Positionslimits, also Grenzen für die zulässige Zahl an Futuresverträgen pro Händler. So meinte Ann Berg, früher lange Weizenhändlerin an der Chicagoer Börse und später unter anderem Beraterin der UN-Welternährungsorganisation: „Über 150 Jahre Futures-Handel haben gezeigt, dass Positionslimits in Märkten mit endlichem Angebot notwendig sind, um exzessive Spekulation und Horten zu verhindern.“30 Einige Anlageformen wie Indexfonds sollten verboten werden. Sie schaden der sensiblen Balance zwischen Short- und Long-Positionen. Wie schon beschrieben war ihre Einführung eine reine Finanzmarktidee, auch ohne die Fonds hatten die Börsen funktioniert. Seit ihrer Einführung gab es dann Preisspitzen und Probleme mit der Konvergenz zwischen Termin- und Kassamarkt. Selbst wenn man die Fonds nicht für die Ursache dieser Probleme hält, kann man kaum sagen, dass durch sie die Situation an den Märkten besser geworden wäre. Auch die Spekulation von Unternehmen muss reguliert werden. Zwar ist die Trennung von Spekulation und Absicherung nicht leicht. Doch eine Anbindung von zulässigen Positionen an reale Geschäfte, die abgesichert werden, ist möglich. Sowohl die Regulierung von Positionslimits in den USA (bona fide hedge exemption) als auch die internationalen Rechnungslegungsvorschriften (hedge accounting) kennen die Identifizierung von Absicherungspositionen. Schließlich muss der Hochfrequenzhandel mit entsprechenden Maßnahmen zurückgedrängt werden. Am besten wäre es, bestimmte Handelstechniken gar nicht erst zuzulassen, zumindest in Rohstoffmärkten. Dazu zählt zum Beispiel ein hoher Anteil an Stornierungen oder ein hoher Portfolioumschlag. Als Mittel gegen den Hochfrequenzhandel sollte außerdem eine Finanztransaktionssteuer eingeführt werden, wie sie gerade im Rahmen einer verstärkten Zusammenar___________ 30

Berg (2010), Übersetzung der Verfasser.

Spekulation mit Nahrungsmitteln

205

beit von elf EU-Staaten geplant ist und auch in der Vergangenheit von der UNCTAD gefordert wurde. Ohne eine starke Regulierung der Rohstoffterminmärkte werden diese den Launen des gesamten Finanzsektors ausgeliefert. Was dieser anrichten kann, haben wir in der Finanzkrise gelernt. Literatur Bass, Hans Heinrich (2013): Finanzspekulation und Nahrungsmittelpreise. Anmerkungen zum Stand der Forschung. Materialien des Wissenschaftsschwerpunktes „Globalisierung der Weltwirtschaft“ des Institute for World Economics and International Management, Band 42. Bremen. Berg, Ann (2010): Agricultural Futures: Strengthening market signals for global price discover. Paper to the FAO's Committee on Commodity Problems Extraordinary meeting; www.fao.org/fileadmin/templates/est/COMM_MARKETS_MONITORING /Grains/Documents/ConferenceRoomSeries2.pdf (Abfrage 03.03.2014). Bichetti, David/Maystre, Nicolas (2012): The synchronized and long-lasting structural change on commodity markets: evidence from high frequency data. MPRA Paper 37486; http://mpra.ub.uni-muenchen.de/37486/1/MPRA_paper_37486.pdf (Abfrage 02.03.2014). Baffes, John (2011): Commodity Markets: A New Structure or Deviations from Long Term Trends? In: Commodity Market Development in Europe – Outlook. S. 81; http://ftp.jrc.es/EURdoc/JRC67918.pdf (Abfrage 03.03.2014). Blas, Javier/Farchy, Jack (2011): Glencore reveals bet on grain price rise. Financial Times 24.08.2011; www.ft.com/cms/s/0/aea76c56-6ea5-11e0-a13b-00144feabdc0. html#axzz2powYb4Pw (Abfrage 03.03.2014). CFTC (Commodity Futures Trading Commission) (2013): CFTC Orders Panther Energy Trading LLC and its Principal Michael J. Coscia to Pay $2.8 Million and Bans Them from Trading for One Year, for Spoofing in Numerous Commodity Futures Contracts. 22.07.2013; www.cftc.gov/PressRoom/PressReleases/pr6649-13 (Abfrage 03.03.2014). Chevallier, Julien (2013): Price relationships in crude oil futures: new evidence from CFTC disaggregated data, in: Environmental Economics and Policy Studies 15, S. 133–170. Cifarelli, Giulio/Paladino, Giovanna (2010): Oil price dynamics and speculation: A multivariate financial approach, in: Energy Economics 32, S. 363–372. Ederer, Stefan/Heumesser, Christine/Staritz, Cornelia (2013): The role of fundamentals and financialisation in recent commodity price developments – an empirical analysis for wheat, coffee, cotton, and oil. Österreichische Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung Working Paper 42. Wien. FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) (2013): Die Sicht des Bauern und des Händlers auf die Börse. 10.10.2013, Nr. 243, S. 24.

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Spekulation mit Nahrungsmitteln

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Tank oder Teller? Lebensmittel als Energielieferant für Industrieländer Von Joachim Wiemeyer

I. Einleitung Im Kontext der Debatte über den Klimawandel erschienen nachwachsende Rohstoffe, vor allem Biotreibstoff, als große Hoffnungszeichen. Denn bei ihrem Pflanzenwachstum nehmen sie mit Hilfe der Sonnenenergie CO2 aus der Atmosphäre auf, um es dann bei der Verbrennung wieder abzugeben. Aber nicht nur wegen des Klimawandels galt Bioenergie1 als verheißungsvolles Zukunftsprojekt. Da die bekannten Vorräte fossiler Brennstoffe (vor allem Erdöl) zurückgehen, schien hier ein Ausgleich zu finden zu sein. Weiterhin hatten sich in Europa und den USA Überschüsse in der Agrarproduktion ergeben, die teilweise zu erheblichen Flächenstilllegungen führten, teilweise im Ausland abgesetzt wurden, was aber wegen der Verzerrung der Weltagrarmärkte in Entwicklungsländern auf Kritik stieß. Ohne weltwirtschaftliche Verwerfungen ließen sich mit Bioenergie neue Absatzmärkte und Einkommensquellen für die Landwirtschaft der Industrieländer erschließen. Aber auch für manche Schwellenund Entwicklungsländer erschien Bioenergie als ein sinnvoller Weg in die Zukunft. So könnten sich flächenreiche Länder ohne Ölquellen unabhängiger von teuren Ölimporten machen. Hier war Brasilien seit den ersten beiden Ölkrisen der 70er Jahre mit der Herstellung von Ethanol als Beimischung von Benzin ein Vorbild.2 Neben Devisenvorteilen bietet der großflächige Anbau von nachwachsenden Rohstoffen auch Arbeitsplätze, die zudem in erheblich größerer Anzahl anfallen als bei der Förderung vergleichbarer Energiemengen durch Erdöl oder Gas. Durch den parallelen Anbau von Nahrungs- und Energiepflan___________ 1 Müller (2008) fordert, lieber von Agrartreibstoffen zu sprechen, weil „Bio“ im deutschen Sprachgebrauch positiv belegt ist, und der Ausdruck „Bio“-energie ein positives Image suggerieren soll. 2 Obwohl Brasilien mit 22 Einwohnern pro Quadratkilometer nur eine Besiedelungsdichte von weniger als ein Zehntel Deutschlands hat, der Energieverbrauch pro Einwohner nur ein Drittel Deutschlands beträgt und pro Hektar doppelt so viel Biomasse wie in Deutschland erzeugt werden kann, kann dort auch nur lediglich 22% der Energieversorgung (+ 15% Wasserenergie) durch Bioenergie erzeugt werden. Vgl. Leopoldina (2013), S. 67–69 und Smith (2012), S. 28 ff.

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zen könnte eine Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln wie mit Energie im ländlichen Raum entstehen. Bioenergie erscheint auch als sinnvolle Ergänzung zur Wind- und Solarenergie. Während der Strom aus Wind- und Solarenergie nur schwer gespeichert werden kann, könnte Bioenergie gezielt dann eingesetzt werden, wenn ein Defizit anderer erneuerbarer Energiequellen auftritt.3 Ein weiterer Vorteil von Bioenergie wird darin gesehen, dass diese als Antrieb in Kraftfahrzeugen, in Zukunft ggf. auch in Flugzeugen, eingesetzt werden kann. Ebenso können nachwachsende Rohstoffe als Ausgang für Prozesse der chemischen Industrie und weiterer Wirtschaftszweige genutzt werden. Aufgrund solcher Vorteile wurde die Bioenergie politisch gefördert, z.B. indem in EU-Europa wie in den USA vorgeschrieben wurde, Bioenergie dem Benzin beizumischen. Bioenergie geriet aber vor allem seit 2007 massiv in die Kritik. In diesem Jahr kam es zu sehr hohen Preisen auf den weltweiten Agrarmärkten. Diese Preissteigerungen lösten in einigen Ländern, in denen die Bevölkerung – anders als in Industrieländern – einen hohen Anteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel verwenden muss, politische Unruhen (z.B. Tortilla-Revolte in Mexiko 20074) aus. Für die Preissteigerungen wurden neben geringen Ernten, einer Umstellung von Nahrungsgewohnheiten (mehr Fleisch statt vegetarischer Ernährung in Schwellenländern), dem Einstieg der Finanzspekulation in die Terminmärkte für Agrarrohstoffe sowie hohen Ölpreisen (als Produktionskosten) auch die zunehmende Verwendung von Nahrungsmitteln (z.B. Mais in den USA) als Bioenergie verantwortlich gemacht. Die Nutzungskonkurrenz einer Verwendung der Ernten als Nahrungsmittel für Menschen versus Bioenergie lag auf dem Tisch. Im Anschluss daran wurden in der Öffentlichkeit die ehrgeizigen Ziele der EU-Kommission wie der US-amerikanischen Regierung, für die Zukunft hohe Anteile von Bioenergie in ihrer Planung der Energieversorgung vorzusehen, kritisiert. Als Folge der Kritik hat das EU-Parlament im September 20135 beschlossen, Einschränkungen der bisherigen Konzeption der Verwendung von Bioenergie an der Energieversorgung vornehmen. Es stellt sich daher die Frage, ob die realisierte Verdreifachung der Bioenergieerzeugung seit 2000, der mit erheblichem Investitionsaufwand, gefördert durch Subventionen bzw. indirekte Subventionen (Befreiung von der Mineralölsteuer) und staatlichen Ordnungsmaßnahmen (Beimischungszwang), eingeschlagene Weg der forcierten Nutzung von Bioenergie nicht ein Irrweg war. Es ___________ 3

Vgl. Leopoldina (2013), S. 25. Vgl. Bommert (2009), S. 261. 5 Vgl. Europäisches Parlament (2013). 4

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„wird ersichtlich, dass die Erwartungen an die Bioenergie zu hoch gewesen sind. Es stellt sich heraus, dass die Verfügbarkeit von Biomasse als Energiequelle im Verhältnis zum Primärenergieverbrauch in Deutschland sehr niedrig ist, und dass nur wenige Bioenergiequellen frei von Risiken für Umwelt, Ökologie und Klima sind. Ohne Importe von Biomasse können nur ein paar Prozent des Primärenergieverbrauchs von Deutschland aus eigener Biomasse nachhaltig erzeugt werden.“6

Hingegen gehen Studien aus der Agrarökonomie auch in den nächsten Jahren von weiter steigenden Produktionsmengen von Bioenergie aus. „Danach werden 2020 12% (2008-10: 11%) des Futtergetreides und 33% (2008-10: 21%) der Weltzuckerproduktion in die Ethanolherstellung gehen und 16% (2008-10: 11%) der pflanzlichen Öle in die Biodieselproduktion.“7 Es liegt eine somit kontroverse Einschätzung vor. Dazu wird im zweiten Abschnitt die Problemlage, die sich aus der Verwendung von Bioenergie ergibt, näher analysiert. Im dritten Abschnitt werden dann ethische Überlegungen darüber angestellt, nach welchen Kriterien die Verwendung von Bioenergie zu bewerten ist. Im vierten Abschnitt wird dann Bioenergie aus der Sicht der Gerechtigkeitskriterien bewertet. Im fünften Abschnitt ist dann zu fragen, welche Akteure welche Handlungsmöglichkeiten haben und wem welche Verantwortung im Spannungsfeld von Klimawandel, Energieversorgung und Ernährungssicherheit zukommt.

II. Die Problemlage Eine stärkere Verwendung von Bioenergie weist eine Reihe von Problemen auf. Die erste Generation von Bioenergie, die vor allem Pflanzen verwendet, welche auch Nahrungsmittelpflanzen für Menschen darstellen, kann in Nahrungsmittelkonkurrenz zu Menschen geraten. Dabei ist zwar nicht direkt ein unmittelbarer Zusammenhang zu sehen: Wenn z.B. in Brasilien mehr Bioenergie verwendet wird, hat dies nicht unmittelbar etwas damit zu tun, dass z.B. in Afrika oder Bangladesch Menschen hungern. Allerdings schlagen sich Weltmarktpreise für bestimmte Agrargüter auch in Entwicklungsländern nieder, vor allem wenn sie Agrarimporteure sind, weil sie ein strukturelles Defizit in ihrer Nahrungsmittelproduktion im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl aufweisen.8 Der jährliche Kalorienbedarf eines Menschen kann mit 200 Kilo Mais gedeckt werden, der in Ethanol umgewandelt in einem Kleinwagen für ca. 1.000 km reichen würde.9 ___________ 6

Leopoldina (2013), S. 11. Schmitz (2012), S. 11. 8 Vgl. Smith (2012), S. 24 f. 9 Vgl. Müller (2008), S. 8. 7

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Um einer Nahrungsmittelkonkurrenz zu entgehen, wird für die zweite Generation von Bioenergie gefordert, dass nur Pflanzenreste bzw. Pflanzen für die Energieerzeugung verwendet werden, die für menschliche Nahrung nicht geeignet sind.10 Solche Pflanzen sollen zudem in Grenzböden bevorzugt angebaut werden, die bisher noch gar nicht für den Anbau von Nahrungsmitteln herangezogen wurden. Die Problematik der zweiten Generation liegt darin, dass Pflanzenreste auch als Dünger gebraucht werden können und Randzonen der Nahrungsmittelproduktion auch Lebensraum für wilde Tiere sein können, die z.T. vom Aussterben bedroht sind. Das Potential der Bioenergie der zweiten Generation muss im Verhältnis zum Gesamtbedarf der Energieversorgung als gering eingeschätzt werden. Es kann aber für Dörfer, die bisher nicht an ein Stromnetz angeschlossen sind, lokale Bedeutung erlangen.11 In der Forschung wird nach einer dritten Generation von Biotreibstoffen gesucht, mit der weniger Nutzungskonflikte verbunden sind. Dies gilt für Algen, die im Meer wachsen könnten und daher den Vorteil hätten, keinen Boden zu beanspruchen. Bisher ist aber nicht absehbar, ob und wann diese Produktionsweisen überhaupt preislich wettbewerbsfähig werden.12 Die verstärkte Verwendung von Bioenergie muss im größeren Zusammenhang der Welternährung gesehen werden.13 Dabei sind folgende Faktoren zu beachten: Es gibt erstens gegenwärtig eine Anzahl von 842 Millionen hungernden Menschen14. Die Weltbevölkerung wird insgesamt auf 9–9,5 Mrd. bis 2050 steigen. Bei wachsendem Wohlstand erfolgt üblicherweise eine stärkere Hinwendung zu fleischlicher Ernährung. Damit werden aber im erheblichen Umfang pflanzliche Kalorien in tierische Kalorien umgewandelt, z.B. bei Rindfleisch im Verhältnis 1:7.15 Dass die Verwendung von Bioenergie zu Preissteigerungen auf Agrarmärkten beiträgt und dass fixe Benzinbeimischungsquoten auch Schwankungen (Volatilität) auf Agrarmärkten erhöhen können, ist unbestritten. Verschiedene wissenschaftliche Studien16 kommen aber zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen, weil sie für den Zeitraum 2002–2008 zwischen 10% und 66% des Preisanstieges durch Verwendung von Bioenergie schwanken. Es gibt hier noch keinen wissenschaftlichen Konsens über das Ausmaß des Einflusses von Bioenergie auf die Preisentwicklung, zumal andere Faktoren wie Lagerhaltung, Wechsel___________ 10

Leopoldina (2013), S. 31 f. Vgl. am Beispiel Mali: Smith (2012), S. 111–114. 12 Vgl. Leopoldina (2013), S. 43 f. 13 Vgl. Leopoldina (2013), S. 7. 14 Vgl. Die ZEIT (2013). 15 Vgl. Müller (2008), S. 7. 16 Vgl. Schmitz (2012), S. 19 und Smith (2012), S. 11 f. 11

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kursschwankungen, Finanzinvestoren (Spekulanten), Verhängung von Exportrestriktionen, Vorratskäufe von Importeuren etc. ebenfalls Einfluss nehmen. Auf die Bioenergieproduktion nimmt auch ein steigender Ölpreis Einfluss, insofern er einerseits Kosten treibt, andererseits die Nachfrage nach Bioenergie erhöht. Es gibt daher auf der einen Seite einen zunehmenden Flächenbedarf für menschliche Ernährung sowie die Notwendigkeit für eine Intensivierung der Produktion bzw. für Produktionssteigerungen auf vorhandenen Flächen. Bei den Flächen ist zu beachten, dass auf der anderen Seite eine wachsende und nach mehr Wohlstand strebende Bevölkerung auch Flächen für Wohnung, Verkehrswege, industrielle Produktionsanlagen etc. benötigt. Dazu wird auch auf für Nahrungsmittelproduktion geeignete Flächen zurückgegriffen, wenn diese in der Umgebung von Städten liegen. Mehr Land für die Nahrungsmittelproduktion würde eine weitere Abholzung von Wäldern und Umwandlung in Wiesen und Ackerflächen bedeuten. Dies erhöht aber die CO2-Belastung, die heute bereits im erheblichen Umfang von der Landwirtschaft ausgeht.17 Diese ist für 30–35% der globalen Treibhausgase verantwortlich. Bei der vorhandenen Ackerfläche ist weiterhin mit Produktionsverlusten bzw. abnehmenden Produktivitätszuwächsen zu rechnen.18 Ursache dafür ist der erhebliche Umfang von Bodenerosion, weil auf Böden ungeeignete Pflanzen angebaut werden und Schutzwaldstreifen entfernt wurden. Weiterhin können Böden von Nährstoffen ausgelaugt werden, was permanente Düngerzufuhr erfordert.19 Aber die Vorräte an Phosphordünger sind nicht unbegrenzt. Andere Beschränkungen der Bodenfruchtbarkeit liegen in der Wasserknappheit.20 Diese kann einerseits bereits durch den Klimawandel bedingt sein, weil Veränderungen von Regenmengen und Regenzeiten ausgelöst wurden. Weiterhin benötigen mehr Menschen Wasser für andere Zwecke (Trinken, Waschen etc.). Darüber hinaus werden in einigen Regionen der Erde unterirdische Wasservorräte angezapft, die sich nicht oder nur sehr langfristig erneuern, so dass immer tiefer gebohrt werden muss und eine Erschöpfung von Quellen möglich ist. In manchen Regionen der Erde können abnehmende Süßwasservorräte zu einem Vordringen von Salzwasser führen, was durch eine Versalzung von Böden deren Ertragsfähigkeit mindert bzw. Produktionsumstellungen erforderlich macht. Weitere Gefährdungen der Nahrungsmittelproduktion liegen darin, dass bei den Hauptnahrungsmitteln der Menschheit wie Reis, Weizen, Mais usw. die ___________ 17

Vgl. Leopoldina (2013), S. 28. Vgl. Leopoldina (2013), S. 10 und Schmitz (2012), S. 16. 19 Vgl. SVG (2012), S. 17. 20 Vgl. SVG (2012), S. 18 und Leopoldina (2013), S. 36–39 sowie Schmitz (2012), S. 16). 18

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Anzahl der gebräuchlichen Sorten reduziert werden.21 Falls sich Schädlinge besonders auf diese Sorten einstellen und kurzfristig keine Gegenmittel vorhanden sind, drohen größere Ernteausfälle. In den letzten Jahren sind die Produktivitätssteigerungen auf vorhandener Bodenfläche mittels besserer Sorten, Düngung, Pflanzenschutzmitteln und mechanischer Bearbeitung des Bodens (Pflügen) geringer geworden. Daher wird verstärkt über gentechnisch veränderte Pflanzen nachgedacht, die ein Produktivitätsschub sein können. Die Verwendung von gentechnisch veränderten Pflanzen stößt zumindest in vielen Ländern Westeuropas jedoch auf Akzeptanzprobleme.22 Weitere Probleme der Verwendung von Bioenergie liegen darin, dass zwischen einem Bruttonutzen und dem häufig erheblich geringerem Nettonutzen hinsichtlich eines Energiebeitrages unterschieden werden muss. Zunächst kann es sein, dass Boden, der für Bioenergie genutzt wird, im Sinne des Klimaschutzes mehrere Jahre keinen Vorteil bringt, weil z.B. Wald erst abgeholzt und damit im erheblichen Umfang CO2 freigesetzt wurde.23 Wenn dann für die Bodenbearbeitung durch Maschinen, die Ernte und den Transport sowie die Dünger- und Saatgutherstellung und ihren Einsatz fossile Energien genutzt wurden, mindert sich der Nettobeitrag ganz erheblich.24 Bioenergie wird daher immer nur einen geringen Anteil der Energieversorgung abdecken können. Weitere Probleme im Agrarsektor liegen darin, dass es in zentralen Märkten für eine Bioenergienutzung weltweit eine geringere Anzahl von Konzernen gibt, die Saatgut bereitstellen und entwickeln.25 Weiterhin sind in der Agrarchemie, bei der Produktion von Pflanzenschutzmitteln und Dünger ebenso wenige Konzerne dominierend. Darüber hinaus wird auch der weltweite Agrarhandel von wenigen Firmen beherrscht. Da sich angesichts der weltweiten Bevölkerungsentwicklung und der stärkeren Nachfrage nach Fleisch und nach Bioenergie eine Bodenknappheit abzeichnet, gibt es sowohl staatliche Investoren bzw. staatsnahe Investoren (z.B. reiche Ölstaaten), die im Ausland erheblichen Eigentum bzw. Nutzungsrechte an Boden erwerben (von Kritikern als Landraub – Landgrapping) bezeichnet, als auch private Finanzinvestoren, die Boden als lukrativen Markt entdecken. Aus der Sicht von Entwicklungsländern stellt sich die Frage, ob erstens die Regierungen der Entwicklungsländer selbst eine hinreichende Expertise und Kompetenz haben, mit den ausländischen Konzernen solche Verträge abzu___________ 21

Vgl. Bommert (2009), S. 206 ff. Vgl. SVG (2012), S. 15 f. 23 Vgl. Smith (2012), S. 54 f. 24 Vgl. Leopoldina (2013), S. 6. 25 Vgl. SVG (2012), S. 29 f. 22

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schließen, die im Interesse ihres Landes liegen.26 Ein zweites Problem liegt darin, inwieweit nicht undemokratische Strukturen und Korruption dazu führen, dass z.B. ausländischen Investoren der Erwerb großer Landflächen ermöglicht wird, ohne Rücksicht auf nationale Belange bzw. benachteiligte Bevölkerungsgruppen im eigenen Land.27 Innerhalb von Entwicklungsländern gibt es durch Bioenergie Probleme, wenn einheimische Kleinbauern ohne gesicherte Eigentumsrechte an Boden, die häufig eher in Randregionen oder Grenzböden tätig sind, von einheimischen Großgrundbesitzern verdrängt werden, oder ihre Regierung den Boden ohne Beachtung ihrer traditionellen Bodenrechte an Ausländer veräußert.28 Dies geschieht dann, wenn die Nachfrage nach Bioenergie, aber auch das Bevölkerungswachstum solche Regionen wirtschaftlich interessant macht. Vom Land vertriebene Kleinbauern erhalten häufig keine oder nur geringe Entschädigungen, die ihnen keine Zukunftsperspektiven bieten. Die Anzahl der Arbeitsplätze, die bei einem großflächigen Anbau von Bioenergie entstehen, sind häufig geringer als die der bisher auf den genutzten Flächen ansässigen kleinbäuerlichen Betriebe.

III. Sozialethische Kriterien 1. Theologische Vorbemerkung Im Christentum hat Brot eine hohe symbolische Bedeutung.29 Im Grundgebet der Christen, dem „Vater unser“, taucht die Bitte um das tägliche Brot auf. Bereits im Alten Testament beim Propheten Jesaja (Jes 58,10) ist die Speisung von Hungernden mit Brot ein wichtiges Zeichen gesellschaftlicher Solidarität. In biblischen Erzählungen wie der „Speisung“ der 5000 (Mk 6,38–40) erfolgt diese (neben Fischen) durch Brot. Hungernde zu speisen, gehört zu den zentralen Werken christlicher Barmherzigkeit (Mt 25, 35). Beim letzten Abendmahl teilt Jesus Brot an die Apostel aus und identifiziert sich selbst (dies ist mein Leib – Mt 26, 26) mit diesem Brot. Dieses letzte Abendmahl ist Ausgangspunkt für die weltweit täglich 100.000fach gefeierten Eucharistiefeiern, in der der Empfang des gewandelten Brotes für die teilnehmenden Gläubigen der zentrale Ort ist. Wegen dieser hohen symbolischen Bedeutung ist für Christen die Verwendung von Brotgetreide als Bioenergie, etwa als Kraftfahrzeugantrieb, anstößig. ___________ 26

Vgl. Smith (2012), S. 39–42 am Beispiel Tansanias. Vgl. SVG (2012), S. 32 f. und Smith (2012), S. 91 ff. 28 Vgl. Bommert (2009), S. 272 f. 29 Vgl. Schleissing (2013), S. 26 f. 27

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Daher gibt es für Christen einen religiös begründeten Vorbehalt, der mit ihrer religiösen Tradition und ihrem Glaubensleben zusammenhängt. 2. Weltweite und generationenübergreifende Dimension der Sozialethik Der Schöpfungsbericht der Bibel führt die gesamte Menschheit auf ein Ehepaar zurück. Dies hat symbolische Bedeutung, weil damit alle Menschen auf der Erde eine menschheitsweite Familie bilden bzw. es eine fundamentale Einheit des ganzen Menschengeschlechts (Gaudium et spes Nr. 77 u. 78) gibt. Von diesem grundsätzlichen Ansatz her ergeben sich zwei zentrale Gerechtigkeitsfragen, nämlich zum einen die Gerechtigkeit innerhalb der Generationen der jetzt lebenden Menschen, zum anderen Gerechtigkeitsfragen im intergenerationellen Bereich (Zukunftsgerechtigkeit). Einer idealen Familie entspricht die Sorge für alle heutigen Familienmitglieder wie die Vorsorge für zukünftige Generationen einschließlich noch nicht geborener. Diese Problematik wird in der öffentlichen Debatte häufig mit dem Begriff der „Nachhaltigkeit“ verhandelt. Dies gilt auch für die Christliche Sozialethik.30 Dabei gibt es eine Vielzahl von Nachhaltigkeitsbegriffen. In der Regel wird in diesen sowohl die soziale Gerechtigkeit für die jetzt lebende Generation wie die Gerechtigkeit für zukünftige Generationen thematisiert. Wegen dieses üblicherweise sehr umfassenden Inhalts des Nachhaltigkeitsbegriffs wird auf diesen nachfolgend nicht mehr zurückgegriffen, sondern versucht, verschiedene Gerechtigkeitskategorien herauszustellen. a) Gerechtigkeitskriterien im nationalen Kontext Der Gerechtigkeitsbegriff hat in vertragstheoretischen Überlegungen (z.B. John Rawls) zentrale Bedeutung erlangt. Dabei ist für die Vertragstheorie die Beteiligung aller Betroffenen an sie tangierenden Entscheidungen zentral. In solchen vertragstheoretischen Überlegungen ist ein systematischer Vorrang der Politik vor der Wirtschaft angelegt. Dies bedeutet, dass Politik der Wirtschaft die Rahmenbedingungen vorzugeben hat und sich Wirtschaften innerhalb der politisch gestalteten Rahmenordnung abzuspielen hat.31 Der Grundgedanke der Vertragstheorie ist, dass das gerecht ist, dem alle zugestimmt haben. Daher ist die Beteiligungsgerechtigkeit die erste und zentrale Gerechtigkeitsnorm. Indem bei Rawls die Einwilligung in den Gesellschafts___________ 30 31

Vgl. Vogt (2013). Vgl. Wiemeyer (2013).

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vertrag eine fiktive Einwilligung ist, also ein Gedankenexperiment vorliegt, ist es möglich, auch zukünftige Generationen in die Überlegungen miteinzubeziehen. Man kann dementsprechend zwischen Fragen der intragenerationellen und der intergenerationellen Gerechtigkeit unterscheiden. Fragen der intragenerationellen Gerechtigkeit werden seit dem 19. Jahrhundert unter dem Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ verhandelt. Dieser Begriff ist aber ebenfalls wenig präzise, so dass er konkretisiert werden muss. Dabei können folgende Kategorien der sozialen Gerechtigkeit32 unterschieden werden: Erstens die Leistungsgerechtigkeit, zweitens die Chancengerechtigkeit, drittens die Bedarfsgerechtigkeit und viertens die Finanzierungsgerechtigkeit. Diese Gerechtigkeitsüberlegungen werden vor dem Hintergrund einer marktwirtschaftlichen Ordnung nun näher entfaltet. Leistungsgerechtigkeit bedeutet, dass im wirtschaftlichen Austausch Leistung und Gegenleistung fair austariert sind. Dies gilt zum einen für die jeweilige Markttransaktion, die z.B. auf beiden Seiten einen freiwilligen Tausch beinhalten soll und ohne systematische Informationsverzerrungen zustande kommen soll. Zum anderen gilt dies aber auch für die strukturellen Marktbedingungen, etwa die Bildung von Marktmacht von wenigen Anbietern, die dann auf der anderen Marktseite einer Vielzahl von Nachfragern gegenüberstehen, ein Problem, dass z.B. zwischen Kleinbauern und Großabnehmern des Agrarhandels oder der Nahrungsmittelindustrie besteht. Die zweite intragenerationelle Gerechtigkeitskategorie ist die Chancengerechtigkeit. Sie zielt darauf ab, dass alle tatsächlich an einem Marktgeschehen partizipieren können. Diese Teilhabe an Märkten setzt z.B. im Arbeitsmarkt den Erwerb von Humankapital (durch Bildung) voraus. Im unternehmerischen Bereich ist dafür die Verfügung über Produktionsmittel wichtig. Chancengerechtigkeit hat auch eine regionale Dimension, weil innerhalb verschiedener Regionen eines Landes (z.B. Hauptstadt versus ländlicher Raum) die sozialen Unterschiede nicht zu groß sein dürfen. Daher ist durch Infrastruktur (z.B. Straßen, andere Verkehrswege, Energieversorgung) wie öffentliche Einrichtungen (Schulen, Gesundheitszentren etc.) für alle Menschen eines Landes der Zugang zu notwendigen Grundbedingungen menschlichen Lebens zu gewährleisten, um diese zu befähigen, eigenverantwortliche Lebensentwürfe zu entfalten. Die dritte Gerechtigkeitskategorie ist die Bedarfsgerechtigkeit. Sie zielt darauf ab, dass für alle Menschen auf der Erde das Existenzminimum gesichert ist, zuerst eine hinreichende Versorgung mit Wasser und festen Nahrungsmitteln, aber auch mit Energie (z.B. zum Kochen und Heizen). Damit innerhalb ei___________ 32

Die nachfolgenden Überlegungen zu Gerechtigkeitskategorien sind von mir in Wiemeyer (1998) erstmals ausführlich dargelegt und nachfolgend in weiteren Veröffentlichungen herangezogen worden.

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nes Landes die sozialen Unterschiede nicht zu groß werden, ist ein relatives Existenzminimum, dessen Höhe mit dem allgemeinen Wohlstand ansteigt, sicherzustellen. Bedarfsgerechtigkeit geht über ein Recht auf Nahrung33 hinaus. Sie schließt auch den Zugang zu sauberem Wasser, Energie, Bekleidung und Wohnung mit ein. Die vierte Gerechtigkeitskategorie betrifft die Finanzierungsgerechtigkeit. Um die Leistungsgerechtigkeit zu sichern, Maßnahmen zur Förderung von Chancengerechtigkeit (Bildung, Existenzgründungen) durchzuführen, die Bedarfsgerechtigkeit zu gewährleisten, ist es notwendig, dass der Staat bzw. überstaatliche Institutionen über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Daher ist eine gerechte Mittelaufbringung notwendig, indem wirtschaftlich Leistungsfähigere, z.B. durch eine progressive Besteuerung, für solche Gemeinschaftsaufgaben herangezogen werden. Diese Kategorien der intragenerationellen Gerechtigkeit beanspruchen in der jeweiligen Generation Geltung. Das Verhältnis zwischen verschiedenen Generationen bestimmt dann die intergenerationelle Gerechtigkeit. In der Menschheitsgeschichte ist es so gewesen, dass tendenziell alle früheren Generationen nach dem Motto „unsere Kinder sollen es einmal besser haben“ auf Konsummöglichkeiten verzichtet und Kapital gebildet haben, um die Lebensqualität nachfolgender Generationen zu erhöhen. Auch sehr arme Generationen haben Konsumverzicht geleistet. In ethischer Hinsicht ist dies durchaus umstritten, weil es folgende drei Möglichkeiten gibt: a) Nachfolgende Generationen haben einen Anspruch auf menschenwürdige Lebensbedingungen. Diese müssen aber nicht besser sein als die vorhergehender Generationen, sondern können auch schlechter sein.34 b) Im Sinne der Übertragung des Gleichheitspostulats von Menschen nicht nur für die jeweils Lebenden, sondern auch für zukünftige Generationen könnte man einen Anspruch auf gleichwertige Lebensbedingungen vertreten. c) Nachfolgende Generationen haben das Recht, dass sie bessere Lebensbedingungen als ihre Vorgängergenerationen vorfinden. Hier wird die Position c) eingenommen35, dass nachfolgende Generationen bessergestellt werden sollten. Dies entspricht dem biblischen Kulturauftrag (Gen 1,28), der Entfaltung der Menschheit. Es entspricht tendenziell der bisherigen Menschheitsgeschichte und vorherrschenden moralischen Intuitionen. Wenn die heutige Generation begrüßt, dass vorhergehende Generationen Kon___________ 33

Vgl. SVG (2012), S. 39 ff. Solche Positionen vertreten z.B. Nonegalitaristen wie Krebs (2001). 35 Vgl. Wiemeyer (2004). 34

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sumverzicht zu ihren Gunsten geleistet haben, mit welchem Recht kann irgendwann eine Generation entscheiden, den Kulturauftrag nicht mehr fortzuführen und aus dem Generationenvertrag auszusteigen? M. E. gibt es kein plausibles ethisches Kriterium dafür, welche Generation wann aus dem Bemühen der Kulturentwicklung aussteigen darf. Dies hat zur Konsequenz, dass jede Generation nachfolgenden Generationen selbst mehr Kapital zu hinterlassen hat, als sie selbst vorgefunden hat. In diesem Sinne wird hier auch die Natur als Kapital verstanden, nicht im Sinne einer vordergründigen ökonomischen Verzweckung, sondern im dem Sinne, dass Kapital etwas Wertvolles ist und man für Kapitalerhalt und Kapitalbildung auch kurzfristige Konsumverzichte leisten muss. Naturkapital ist die Basis und bildet ein zentrales und unverzichtbares Fundament des Wirtschaftens und menschlicher Existenz überhaupt. Hinzu kommt aber Sachkapital in Form von Investitionen in Gebäude, Produktionsanlagen, Verkehrswege etc. Neben das Sachkapital tritt auch das Wissenskapital, das durch Erfindungen und die Hervorbringung neuen Wissens vermehrt wird. Zwar kann auf Naturkapital nicht verzichtet werden. Es ist aber eine gewisse Substitution von Naturkapital durch Sachkapital und Wissenskapital möglich.36 Im intergenerationellen Kontext stellt die Größe der jeweiligen Generationen eine zentrale Frage dar, weil die Bevölkerungsanzahl beeinflusst, wie viel Kapital jedem Menschen pro Kopf zur Verfügung steht. Die Menschheit ist historisch gesehen tendenziell gewachsen, wenn auch Kriege, Seuchen (Pest) sowie Hungerkatastrophen zeitweise die Bevölkerungszahl lokal reduziert haben. Aber auch am Ende des Zweiten Weltkrieges lebten mehr Menschen auf der Erde als zum Beginn. Die Verantwortung einer Generation besteht nicht nur darin, kommenden Generationen ausreichend Natur-, Sach- und Wissenskapital zu hinterlassen, sondern die Größe der kommenden Generationen und damit die Anzahl der Menschen so zu gestalten, dass dies keine Überforderung des Kapitalstocks, vor allem des begrenzten natürlichen Kapitals, darstellt. Eine in diesem Sinne verantwortete Elternschaft ist damit auch ein Gebot der Generationengerechtigkeit, das auch durch gesellschaftliche Normen und institutionelle Regelungen (z.B. Heiratsalter für Mädchen, Schulbesuch, Wissen und Zugang zu Verhütungsmitteln) gestaltet wird. Umgekehrt kann es aber auch Konstellationen geben, in denen sich die Anzahl der Personen sehr schnell reduziert, wenn sich in Deutschland die einheimische Bevölkerung (ohne Personen mit Migrationshin-

___________ 36 In der Nachhaltigkeitsterminologie wird dies als „schwache Nachhaltigkeit“ bezeichnet. Vgl. zur Diskussion Vogt (2013), S. 134 ff.

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tergrund) nur zu 55% regeneriert37, was ökologisch entlastend sein kann, aber Soziale Sicherungssysteme vor Probleme stellt. b) Gerechtigkeitskriterien im globalen Kontext Die gerade benannten Gerechtigkeitskategorien sind zunächst in einem nationalen Kontext entwickelt worden, um die gesellschaftliche Ordnung eines Nationalstaates zu prägen. Sie lassen sich aber auch in modifizierter Form auf die zwischenstaatliche bzw. globale Ebene übertragen. Ein Problem der Übertragung von Gerechtigkeitsproblemen auf die überstaatliche Ebene liegt allerdings darin, dass im Idealfall alle an überstaatlichen Regelungen beteiligten Staaten wohlgeordnete Staaten sein sollten, in denen die genannten Gerechtigkeitskategorien national bereits anerkannt und möglichst weitgehend verwirklicht sind. Überstaatliche Probleme (z.B. Migration: Armutsflüchtlinge, politische oder religiöse Verfolgung) ergeben sich vielfach erst daraus, dass viele Staaten nicht nach Gerechtigkeitskriterien gestaltet sind. Die globale Ebene ist durch Selbstwidersprüchlichkeiten von Regierungen geprägt, die zwar in ihrem eigenen Land Beteiligungsgerechtigkeit im Sinne einer echten demokratischen Staatsform ihrer Bevölkerung verweigern, auf überstaatlicher Ebene aber Beteiligungsrechte einfordern. In einer internationalen Ordnung spielen die genannten Kriterien der Beteiligungsgerechtigkeit, die Kriterien der intragenerationellen Gerechtigkeit, nämlich der Leistungsgerechtigkeit, der Chancengerechtigkeit, der Bedarfsgerechtigkeit, der Finanzierungsgerechtigkeit sowie der intergenerationellen Gerechtigkeit die zentrale Rolle. Beteiligungsgerechtigkeit bedeutet, dass alle Staaten an denen sie betreffenden Entscheidungen beteiligt sind. Leistungsgerechtigkeit bezieht sich auf faire Bedingungen im Welthandel, in dem z.B. Anbieter aus Entwicklungsländern Zugang zu den Märkten der Industrieländer erhalten und nicht durch protektionistische Maßnahmen daran gehindert werden. Es bezieht sich dann auf eine Kontrolle der ökonomischen Macht, über die z.T. transnationale Konzerne verfügen, auch in Vertragsbeziehungen/Verhandlungen mit Regierungen von Entwicklungsländern. Chancengerechtigkeit bezieht sich auf die Problematik, ob gerade die ärmsten Entwicklungsländer über hinreichende Fähigkeiten und Möglichkeiten verfügen, sich überhaupt erfolgreich in die Weltwirtschaft integrieren zu können. Hier stellt sich die Frage, ob nicht ggf. externe Unterstützung notwendig ist, z.B. für Binnenstaaten in Afrika38, deren Exporterlöse durch hohe Transport___________ 37

Vgl. Kaufmann (2007). Vgl. Collier (2008), S. 77 ff. Für ihn ist die geographische Lage als Binnenstaat ein wichtiges Entwicklungshemmnis. 38

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kosten gemindert, während ihre Importe durch ebensolche Transportkosten verteuert werden. Bedarfsgerechtigkeit spielt auf der internationalen Ebene dann eine Rolle, wenn ein Land das absolute Existenzminimum seiner Bevölkerung nicht durch eigene Anstrengungen allein sichern kann. Dann ist die internationale Staatengemeinschaft aufgerufen, hier Unterstützung zu leisten, z.B. in Not- und Katastrophenfällen. Internationale Finanzierungsgerechtigkeit zielt darauf ab, dass wirtschaftlich leistungsfähigere Staaten für globale Institutionen zur Sicherung der Leistungsgerechtigkeit (z.B. WTO) einen größeren finanziellen Anteil übernehmen. Auch sollen diese zur Sicherung von Chancengerechtigkeit (Entwicklungshilfe) sowie Bedarfsgerechtigkeit (Not- und Katastrophenhilfe) entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit Beiträge erbringen. Intergenerationelle Gerechtigkeit auf globaler Ebene betrifft die Frage, ob die Lebensbedingungen für nachfolgende Generationen weltweit insgesamt so gestaltet werden, dass es nicht durch negative Entwicklungen bei Gemeinschaftsgütern der Menschheit (Klima) zu einer drastischen Einschränkung der Lebensmöglichkeiten zukünftiger Generationen kommt, sondern bessere Lebensbedingungen möglich werden. c) Das Verhältnis der Gerechtigkeitskriterien Wenn man eine Vielzahl von Gerechtigkeitskriterien postuliert, können diese in Konflikt geraten, so dass Vorrangregeln diskutiert werden müssen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass Gerechtigkeitsprobleme der Gegenwart nicht auf Kosten zukünftiger Generationen gelöst werden dürfen. Daher hat die Generationengerechtigkeit bzw. die intergenerationelle Gerechtigkeit Vorrang. Innerhalb der Gerechtigkeitskategorien der intragenerationellen Gerechtigkeit ist zwischen systematischen und kurzfristigen Überlegungen zu unterscheiden. Systematisch hat die Leistungsgerechtigkeit Vorrang vor der Chancengerechtigkeit und der Bedarfsgerechtigkeit. Begründet ist dies damit, dass Arme, die wegen fehlender Leistungsgerechtigkeit arm sind, nicht mit Maßnahmen der Bedarfsgerechtigkeit abgespeist werden dürfen, sondern sich die Existenzsicherung durch eigene Anstrengungen unter Bedingungen der Leistungsgerechtigkeit erarbeiten sollen. Dies hat auch etwas mit Selbstwertgefühl und Selbstachtung zu tun und ermöglicht eher gesellschaftliche Anerkennung. Fair für eigene Anstrengungen belohnt zu werden, ist dem passiven Empfang von Transferzahlungen vorzuziehen.39 Wenn trotz Leistungsgerechtigkeit Armut bestehen ___________ 39

Vgl. SVG (2012), S. 43.

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bleibt, sind temporäre Maßnahmen der Chancengerechtigkeit einer Daueralimentation der Bedarfsgerechtigkeit vorzuziehen. Kurzfristig, in akuten Notlagen, kann, um das Überleben von Menschen zu sichern, Bedarfsgerechtigkeit Priorität zukommen. Dies ist in der Gegenwart gegeben, da rd. 842 Millionen Menschen Hunger leiden. Die Finanzierung von Maßnahmen der Chancen- und Bedarfsgerechtigkeit darf nicht so weit gehen, dass die Relationen in der Leistungsgerechtigkeit umgekehrt werden, indem Personen, die durch wirtschaftliche Leistungen erst die Finanzierung von Maßnahmen der Bedarfs- und Chancengerechtigkeit ermöglichen, schlechter gestellt werden.

IV. Bioenergie im Lichte der Gerechtigkeitskriterien Mit Hilfe dieser Gerechtigkeitskategorien soll nun eine normative Relecture der im zweiten Abschnitt dargestellten Problematik der Bioenergie behandelt werden. 1. Beteiligungsgerechtigkeit: Auf nationaler Ebene der Entwicklungsländer wurden nationale Bioenergiestrategien, wie die Öffnung des eigenen Landes für ausländische Investoren für Landbesitz, nicht unter Beteiligung der Gesamtbevölkerung diskutiert, etwa der städtischen Armen, die mit teuren Nahrungsmitteln konfrontiert sind, oder der ländlichen Kleinbauern, die ggf. den von ihnen beackerten Boden verlieren. 2. Auf internationaler Ebene wurde die Bioenergiestrategie westlicher Industrieländer, vor allem der EU und der USA, nicht mit den rd. 50 ärmeren Entwicklungsländern, die auf Nahrungsmittelimport zur Deckung des Nahrungsmittelbedarfs ihrer Bevölkerung angewiesen sind, thematisiert und abgewogen, ob damit die Ernährung ihrer Bevölkerung nicht weiter oder gar stärker gefährdet wird. 3. Bedarfsgerechtigkeit: Gegenwärtig hungern ca. 842 Mill. Menschen auf der Erde. Die Bioenergiestrategien wurden ohne hinreichende Beachtung ihrer Auswirkungen auf die Welternährung entwickelt und nicht im Hinblick darauf, wie ausreichende Ernährung bei einer auf absehbarer Zeit wachsenden Weltbevölkerung gesichert werden kann. 4. Chancengerechtigkeit: Bioenergiestrategien zielen häufig nicht auf eine Verbesserung der Lebenschancen von Menschen in ländlichen Räumen ab, indem die Produktion von Nahrungsmitteln mit der Herstellung von Bioenergie zur Verbesserung der Lebenssituation lokal verknüpft wird, z.B. die Verwendung von Bioenergie komplementär zu Wind- und Sonnenenergie, um permanente Stromversorgung zu gewährleisten. 5. Leistungsgerechtigkeit: Aufgrund der Marktmacht führender Saatgutkonzerne, führender Konzerne von Agrochemikalien wie Dünger und Pflanzenschutzmitteln und internationaler Agrarhandelskonzerne sind faire Wettbe-

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werbsbedingungen und Transaktionen auf „gleicher Augenhöhe“ nicht gewährleistet. Weiterhin ist es möglich, dass ausländische staatliche wie private Investoren Landbesitz bzw. Landnutzungsrechte zu günstigen Bedingungen erhalten, sei es, weil den Entwicklungsländern die Verhandlungsexpertise fehlt, sei es, dass die Vereinbarungen mit persönlichen Vorteilen für Regierungsmitglieder, Abgeordnete und Beamte (Korruption) verbunden sind, während eine gerechte Entschädigung der bisherigen Bodennutzer entfällt. 6. Intergenerationelle Gerechtigkeit: Die intergenerationelle Gerechtigkeit ist dadurch gefährdet, dass bereits heute ein Teil der weltweiten Produktion an Biomasse sowohl für Nahrungsmittel als auch als Bioenergie mit einem Raubbau an natürlichem Kapital (Bodenerosion, ausgelaugte Böden, Versalzung von Böden, Nutzung von begrenzten Süßwasservorräten, Anreicherung des Grundwassers mit Schadstoffen, begrenzte Vorräte an Dünger etc.) erfolgen. Weiterhin wird die Artenvielfalt von Tieren und Pflanzen gemindert. Die zusätzliche Produktion von Bioenergie führt zur Erweiterung der Anbauflächen und einer Verstärkung von Produktionen auf Kosten von Naturkapital (Bodenerosion, Wasservorräte etc.). Der Beitrag zur CO2Minderung ist, wenn überhaupt gegeben, gering. Aufgrund dieser Gerechtigkeitsprobleme stellt sich die Frage, wer verantwortlich dafür ist, dass die Verwendung von Bioenergie nur in dem Maße und in der Art und Weise erfolgt, wie sie mit den genannten Gerechtigkeitskriterien vereinbar ist.

V. Verantwortungsträger Das Gemeinwohl einer Gesellschaft wird erreicht, wenn alle, die dazu beitragen können, tatsächlich ihren Beitrag leisten. Dies gilt nicht nur für das Gemeinwohl kleiner Gruppen oder das Gemeinwohl eines Nationalstaates, sondern auch für das Weltgemeinwohl. Dies erfordert zum einen, dass ein Konsens über den Inhalt des Gemeinwohls besteht, so dass mögliche Verantwortungsträger sich nicht wegen eines Dissenses verweigern. Selbst wenn ein inhaltlicher Konsens besteht, ist es möglich, dass denkbare Verantwortungsträger jeweils anderen die primäre Handlungsverantwortung zuweisen. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass nicht alle potentiellen Verantwortungsträger hinreichend über ihre Handlungsmöglichkeiten informiert sind. Ein weiteres Problem liegt darin, dass einzelne Handlungsträger ihren Beitrag zur Erreichung von Gemeinwohlzielen davon abhängig machen, dass auch andere ihren möglichen und zumutbaren Beitrag leisten. Dies ist aus zwei Gründen der Fall: erstens, weil die tatsächliche Erreichung eines Gemeinwohlziels davon abhängt, dass eine hinreichende Anzahl sich beteiligt. Der zweite Grund besteht in einer Ge-

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rechtigkeitsfrage: Wer soll gerechterweise die Leistungen zur Erreichung eines Gemeinwohlziels erbringen? Wie sollen diese Leistungsbeiträge unter möglichen Verantwortungsträgern verteilt werden (Finanzierungsgerechtigkeit)? Bei den hier zu behandelnden Fragen der Interdependenz und gegenseitigen Abhängigkeiten von Welternährung, des Klimaschutzes und der Sicherung der Energieversorgung handelt es sich um Probleme des Weltgemeinwohls40, über die es vernünftigerweise keinen inhaltlichen Dissens geben dürfte, da die Bekämpfung des weltweiten Hungers, die Vermeidung von gravierenden Klimaänderungen mit weltweiten Folgen und die Sicherstellung von Energieversorgung, weil von Energie menschenwürdige Lebensbedingungen abhängen, kaum zu bestreitende Gemeinwohlziele sind. Bei den genannten Problemen ist dann nach den Verantwortungsträgern zu fragen: Dabei ist festzuhalten, dass das Weltklima das globalste Problem ist, weil es im negativen Sinne irrelevant ist, an welcher Stelle der Erde CO2 ausgestoßen wird, weil sich CO2 weltweit verteilt, und im positiven Sinne es ebenfalls irrelevant ist, wo CO2 vermieden oder wieder aufgefangen wird, weil dies ebenfalls globale Konsequenzen hat. Hingegen ist die Frage der Energieversorgung durchaus lokal, weil z.B. das Ausmaß der Wasser-, Wind- und Sonnenenergie in einem Land keine Auswirkungen außerhalb dieses Landes hat, wenn durch solche regenerierbare Energie nicht unmittelbar CO2 vermieden oder Importe von Energierohstoffen reduziert werden. Fragen der Ernährungssicherheit sind ebenso zunächst einmal lokal, weil das Verhältnis der Bevölkerungszahl zur Produktivität der Landwirtschaft und die Verwendung/Verteilung der produzierten Güter auf die Ernährungssituation entscheidend Einfluss nimmt. Auf die Ernährungssituation eines relativ armen Landes nehmen darüber hinaus extern folgende Faktoren Einfluss: Wenn ein Land eine hohe Eigenversorgung an Nahrungsmitteln hat, aber Energieimportland ist, wirken sich die Weltmarktpreise von Öl, ebenso bei fehlender Eigenproduktion die Importpreise von Saatgut und Agrarchemikalien, aus, ebenso ggf. Importe von Landmaschinen. Wenn ein armes Land ein strukturelles Defizit an Nahrungsmitteln hat, wirken sich die Weltmarktpreise für Agrargüter aus, falls nicht ausreichend Devisen zur Verfügung stehen. Der in anderen Ländern verursachte Klimawandel kann sich auf die Ernährungssituation auswirken, wenn sich Stürme oder Dürren, der Anstieg der Durchschnittstemperaturen auf Höhe und Sicherheit der Ernteerträge auswirken. Welche prioritären Verantwortungsträger sind für die drei Probleme zu sehen? ___________ 40

Vgl. Marx (1994).

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1. Weltweite Verantwortung für den Klimaschutz Beim Klimaproblem muss es durch ein internationales Abkommen, das möglichst alle Staaten, zumindest alle wesentlichen Staaten mit einem signifikanten CO2-Ausstoß, umfasst, zu einer weltweiten Lösung einer Begrenzung und schrittweise Rückführung des CO2-Ausstoßes kommen. Wenn nicht alle wesentlichen Akteure erfasst werden, können Reduzierungsanstrengungen an einem Ort sinnlos sein, wenn z.B. die CO2 intensive Produktion aus einem Land ausgelagert wird, und in einem anderen Land ggf. zu noch weniger effizienten Produktionsbedingungen CO2 erzeugt und zusätzlich durch Schadstoffausstoß der Transportbedingungen belastet in das Ursprungsland der Erzeugung importiert wird. Im Bereich der Klimapolitik ist daher ein weltweites Abkommen, das eine ausreichende Reduzierung des Schadstoffausstoßes vorsieht, wo die Einhaltung wirksam überprüft und Verstöße ggf. sanktioniert werden können, unabdingbar.41 Dabei muss in die Berechnung der Klimaeffekt von Landnutzungsänderungen ausdrücklich mit eingerechnet werden und darf nicht wie beim KyotoAbkommen vernachlässigt bleiben.42 Ein solches Abkommen scheitert bisher daran, dass u.a. keine Einigung darüber besteht, wie die seit Beginn der Industrialisierung angefallenen Altlasten der früh industrialisierten Länder berücksichtigt werden sollten und ob es deshalb bei altindustrialisierten Ländern zu höheren Reduzierungsverpflichtungen kommen sollte. Ein weiteres Problem liegt darin, ob bei Entwicklungsländern mit einem Bevölkerungsanstieg in Zukunft die zusätzlichen Personen weitere Ansprüche auf CO2-Emissionsrechte erwerben oder eine aktive Politik der Begrenzung des Bevölkerungswachstums erforderlich ist. Weiterhin werden bei erheblichen Reduzierungsverpflichtungen in mittlerer Frist kurzfristig erhebliche Wohlstandseinbußen gesehen, die als unzumutbar betrachtet werden. Darüber hinaus wird an Stelle von präventiven Maßnahmen auf spätere Anpassungsinvestitionen an den Klimawandel gesetzt, die wegen neuer technischer Innovationen kostengünstig seien könnten. Die Verantwortung der nationalen Regierungen besteht zunächst darin, zu einem weltweiten Klimaabkommen zu kommen, und nach Vereinbarung eines solchen Abkommens darin, dieses durch geeignete Instrumente in ihrem Land durch eigenes Handeln (Verkehrs-, Energie-, Infrastrukturpolitik), sowie dessen Inhalte gegenüber der Wirtschaft und privaten Haushalten, durchzusetzen.

___________ 41 42

Vgl. SVG (2012), S. 59 f. Vgl. Smith (2012), S. 58 f.

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2. Nationale Energiepolitik in weltwirtschaftlicher Verantwortung Da der Energiesektor jeden Landes für die Klimapolitik große Bedeutung hat, stellt die Beachtung der weltweiten Klimavorgaben die erste Herausforderung für jede nationale Energiepolitik dar. Dazu könnte Bioenergie wegen eines geringeren CO2-Ausstoßes einen Beitrag leisten. Bei der nationalen Klimapolitik sind aber weitere Gesichtspunkte zu beachten: Zum einen ist die Versorgungsicherheit, vor allem in der Stromerzeugung, in den Blick zu nehmen, da das moderne Leben vor allem vom Zugang zu Elektrizität abhängt. Weiterhin ist notwendig, dass für die Bevölkerung Energie bezahlbar ist, so dass keine Energiearmut bei bestimmten Bevölkerungskreisen auftritt. Außerdem muss die Energieversorgung langfristig gewährleistet sein, so dass der Energiebedarf nachfolgender Generationen beachtet wird. Darüber hinaus dürfen mit der Energieversorgung keine übergroßen Risiken für Mensch und Natur verbunden sein. Weiterhin darf die Energieversorgung die Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung nicht beeinträchtigen. Für die Erreichung dieser Ziele ist im Sinne des Vorrangs der Politik vor der Wirtschaft die nationale Politik verantwortlich. Da Energieleitungen (Stromnetze, Ölpipelines, Gasleitungen) über nationale Grenzen hinausgehen, Gefährdungen von Kernkraftwerken auch nationale Grenzen überschreiten können und grenzüberschreitende Flüsse für die Gewinnung von Strom umgeleitet werden können, sind Kooperationen und Abstimmungen zwischen Nachbarländern in Fragen der Energiepolitik notwendig. Der deutsche Atomausstieg erfolgte ohne Konsultationen der Nachbarländer (Frankreich, Polen, Tschechen, Österreich etc.). Zwar belässt der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (Art. 194) Kernelemente der Energiepolitik in nationaler Souveränität, eine größere Abstimmung wäre aber geboten. 3. Lokale Verantwortung für ausreichende Ernährung Traditionell war die Ernährungssicherheit eine rein lokale bzw. regionale Herausforderung. In der Menschheitsgeschichte musste sich die Zahl der Menschen jeweils an den lokalen Produktionsmöglichkeiten orientieren. Wenn die gegebene Produktivität der Landwirtschaft für die Zahl der Menschen zu gering war, kommt es zu Hunger(-tod), zu Abwanderung oder zu innovativen Anstrengungen durch neue Produktionsmethoden, z.B. künstliche Bewässerung, Züchtung neuer Sorten, um die Produktivität zu erhöhen. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass bei lokalen Defiziten der Nahrungsmittelversorgung aus Überschussgebieten Nahrungsmittel herantransportiert werden. Dazu müssen eine entsprechende Verkehrsinfrastruktur sowie Lagerungsmöglichkeiten vorhanden sein. Weiterhin müssen Defizitgebiete (z.B. Städte) über eine hinreichende Kaufkraft verfügen, um Nahrungsmittel erwerben zu können. Gegenwärtig ist Hunger kein Angebotsproblem an Nahrungsmitteln, sondern ein ge-

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sellschaftlich, ökonomisch und politisch gestaltetes und gestaltbares Verteilungsproblem. Mit der Herausbildung der modernen Staatenwelt übernehmen die Regierungen die Verantwortung43 für die Ernährungssicherheit ihrer Bevölkerung: Dazu entsteht eine umfangreiche Agrar- und Ernährungspolitik. Zu ihr gehört eine die Produktivität steigernde und Verteilungsaspekte beachtende Ausgestaltung der Bodenrechte, eine Förderung der Agrarforschung (Saatgut, Versuchsgüter etc.), die Ausbildung der in der Landwirtschaft Tätigen sowie die Beratung landwirtschaftlicher Betriebe über Saatgut, Dünger, Abbaumethoden, landwirtschaftliche Infrastruktur bzw. der ländlichen Räume (Straßen, Talsperren, Wälderschutz etc.).44 Weiterhin müssen die Verarbeitung, die Qualitätssicherung, der Transport, die Lagerung und der Handel von Agrarprodukten gewährleistet sein. Als Vorsorge für Versorgungsengpässe ist eine Vorratshaltung notwendig. Bevölkerungsgruppen, die nicht ausreichend über Nahrungsmittel verfügen, müssen unmittelbar mit Nahrungsmitteln versorgt werden oder mit ausreichend Kaufkraft ausgestattet werden. Auf die Ernährungslage eines Landes nehmen vielfältige Faktoren Einfluss.45 Bereits innerhalb eines Landes gibt es Konflikte, wenn von hohen Agrarpreisen Erzeuger (mit Überschüssen) profitieren, während städtische Verbraucher eher verlieren. Höhere Preise können Anreize für Investitionen in die Landwirtschaft darstellen. Lokale Nahrungsmittelpreise sind – z.B. wegen mangelhafter Infrastruktur und teurer Transportwege, oder weil die lokal vorherrschenden Hauptnahrungsmittelgüter (z.B. Cassava, Sorghum) gar nicht auf dem Weltmarkt gehandelt werden – nur indirekt mit dem Weltmarkt verbunden.46 In Gesellschaften, die überwiegend Agrargesellschaften sind und wo die Masse der Bevölkerung in ländlichen Räumen lebt, kann eine nationale Akkumulation von Kapital nur erfolgen, wenn in der Landwirtschaft erwirtschaftete Überschüsse in städtischen Regionen und andere Wirtschaftszweige investiert werden. Hunger und Ernährungsprobleme in ländlichen Räumen treten auf, wenn zu viele Überschüsse aus der Landwirtschaft, z.B. durch staatlich verordnete Niedrigpreise47, entzogen und (z.B. in Relation zum Bevölkerungswachstum) zu wenig in die Landwirtschaft und ländliche Räume investiert wird. ___________ 43

Vgl. SVG (2012), S. 46. Vgl. SVG (2012), S. 56 f. 45 Vgl. Schmitz (2012), S. 24. 46 Vgl. Schmitz (2012), S. 24–28. 47 Vgl. Schmitz (2012), S. 28. 44

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Während in Industrieländern mit einem kleinen Agrarsektor üblicherweise industrielle Ballungszentren die Landwirtschaft subventionieren, ist es in Entwicklungsländern genau umgekehrt, dass städtische Räume auf Kosten der Landwirtschaft und ländlicher Räume profitieren.48 Die Landwirtschaft soll die städtische Bevölkerung preisgünstig mit Nahrungsmitteln versorgen, sie soll möglichst Agrarprodukte erzeugen, die exportiert werden können und der Regierung (Devisen-)Einnahmen bringen. Da Regierungen sich in der Hauptstadt und wenigen Großstädten behaupten müssen, während selbst gewaltsame Protestbewegungen in abgelegenen ländlichen Räumen die Regierungsmacht kaum tangieren, hat aus machtpolitischer Rationalität in autoritären und halbdemokratischen Systemen eine unterernährte Landbevölkerung keine politische Priorität. Mit einer solchen machtpolitischen Rationalität angesichts defizitärer Strukturen der Beteiligungsgerechtigkeit kann man erklären, weshalb Regierungen in Entwicklungsländern z.B. großflächigen Anbau von Bioenergie fördern und ggf. den Verkauf größerer Landflächen an ausländische Investoren zulassen bzw. diese selbst veräußern, selbst wenn damit die Ernährung der eigenen Bevölkerung (weiter) gefährdet wird.49 Dabei haben Nationalstaaten grundsätzlich das Recht, den Grundbesitz durch Ausländer ganz auszuschließen, oder ihn zumindest strikt (z.B. über eine Genehmigungspflicht) zu regulieren. Die Regierungen vieler Entwicklungsländer räumen der Bedarfsgerechtigkeit nicht die mögliche und notwendige Priorität ein und verletzten damit ihre Verantwortungspflichten. Sie haben auch durch die geschickte Festlegung von Im- und Exportzöllen für Agrarprodukte prinzipiell die Möglichkeit, den eigenen Agrarsektor zu schützen, um die Bedarfsgerechtigkeit zu gewährleisten. Weil auch keine hinreichenden Bedingungen der Chancengerechtigkeit gegeben sind, etwa ein Bildungswesen, das alle Kinder umfasst, und vorhandene Bildungssysteme noch starke geschlechterspezifische Asymmetrien aufweisen, kommt es zu frühen Eheschließungen bzw. Schwangerschaften, was ein hohes Bevölkerungswachstum zur Folge hat. Dies zeigt, dass gesellschaftliche Probleme interdependent sind, und eine wirtschaftliche wie soziale Entwicklung komplex ist, weil einerseits strukturelle Defizite in politischen Systemen (Demokratieprobleme, mangelnder Rechtsstaat, ineffiziente Verwaltung) gravierende gesellschaftliche Probleme (Bildungsdefizite, Vernachlässigung von Infrastruktur, Vernachlässigung der Landwirtschaft) bedingen. Die Defizite verhindern andererseits die Entstehung einer lebendigen und wirksamen Zivilgesellschaft, die im politischen System Reformen anstoßen kann. ___________ 48 49

Vgl. Chemnitz/Fuhr (2012), S. 4. Vgl. SVG (2012), S. 32 f.

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4. Externe Verantwortung für die Ernährungssituation in EL Bei der externen Verantwortung für die Ernährungssituation in Entwicklungsländern sind grundsätzlich zwei Konstellationen denkbar: – Die Regierung eines Entwicklungslandes kommt ihrer ethischen Verpflichtung zur Sicherung der Bedarfsgerechtigkeit nicht nach. – Die Regierung eines Entwicklungslandes wird durch externe Entwicklungen wie die Klimaveränderungen, Weltmarktbedingungen, Akteure auf dem Weltmarkt etc. darin gehindert, eine wirksame Politik der Bedarfsgerechtigkeit zu verfolgen. Diese beiden Aspekte sind getrennt zu behandeln. a) Die Vernachlässigung der Bedarfsgerechtigkeit durch die verantwortliche Regierung Bei dieser Konstellation stellen sich drei Probleme: Für Regierungen anderer Länder, vor allem der Industrieländer, stellt sich das Problem, dass ein fehlendes Eingehen auf die Regierungen der Entwicklungsländer ihnen als Form der Bevormundung, in neokolonialistischer Weise, ausgelegt werden könnte. Für private Unternehmen stellt sich das Problem, dass die Ablehnung von Vertragsangeboten durch die Regierungen der Entwicklungsländer ihnen als Missachtung des normativ grundsätzlich gebotenen Vorrangs der Politik vor der Wirtschaft ausgelegt werden könnte. Für humanitäre Organisationen, die z.B. Nahrungsmitteldefizite in Entwicklungsländer ausgleichen, stellt sich das Problem, dass sie „Freisetzungseffekte“ auslösen können, weil sie Nahrungsmittel finanzieren und die Regierungen mit dem gesparten Geld z.B. Waffen kaufen oder Prestigeobjekte finanzieren. Für verantwortliches Handeln in einer solchen Konstellation sind folgende Aspekte zu bedenken: Es ist ein breiterer internationaler Konsens darüber notwendig, dass eine Regierung ihre Pflichten zur Sicherung der Ernährung ihrer Bevölkerung vernachlässigt. Dabei sollte ein solcher Konsens auch Länder umfassen, die einem ähnlichen Kulturraum und einem ähnlichen ökonomischen Entwicklungsstand wie das entsprechende Land angehören. Dann ist es möglich, ohne dem Vorwurf „imperialistischer Bevormundung“ Vorschub zu leisten, ein solches Land in der Weltöffentlichkeit unter Druck zu setzen. Weiterhin kann man, einen breiteren Konsens vorausgesetzt, auch gegen Herrschende u.a. wirksame Reiseverbote für die Führungsschicht, z.B. zum Einkauf von Luxusgütern in westlichen Hauptstädten, verhängen.

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Für Unternehmen ist dann die Verpflichtung gegeben, mit solchen Regierungen keine Geschäfte zu tätigen und nicht den undemokratischen und korrupten Charakter eines Regimes zum eigenen Vorteil auszunutzen. Für Nicht-Regierungs-Organisationen stellt sich die Frage, ob sie unter solchen Bedingungen tatsächlich Bedürftige erreichen können und ihr Handeln nicht auch eine indirekte Unterstützung eines undemokratischen politischen Regimes darstellt. b) Externe Gefährdungen der Ernährungslage Zu den externen Faktoren, die eine Gefährdung der Ernährungssicherheit eines Landes ausmachen, gehört der Klimawandel. Daher sind die Hauptverursacherländer (USA, China, EU) für eine Vermeidung verantwortlich. Eine zweite Verantwortung von Industrieländern liegt in der Kontrolle Transnationaler Unternehmen50, die besonders für den Agrarsektor relevant sind. Fragen sind hier, ob im Bereich der Produktion von Landmaschinen, von Agrarchemikalien wie Dünger und Schädlingsbekämpfungsmitteln sowie von Saatgut mangelnder Wettbewerb vorliegt oder Monopolgewinne erzielt werden, indem z.B. geistige Eigentumsrechte (Sortenschutz) zu weit ausgedehnt werden oder zu wenig unabhängige Konkurrenten am Markt sind. Hier sind Regierungen der Industrieländer dafür verantwortlich, dass keine „Extraprofite“ erzielt werden. Im Sinne der Leistungsgerechtigkeit ist eine Wettbewerbspolitik zu fordern, die nicht nur die Konsumenten bzw. Landwirte innerhalb der Industrieländer schützt, sondern ebenso Kunden in Entwicklungsländern. Neben spezifisch auf den Agrarsektor bezogenen Vorleistungen spielt Öl bzw. spielen Ölprodukte (Benzin, Diesel etc.) für alle Länder, die nicht Selbstversorger sind, eine Rolle. Im Sinne der Klimaziele können Industrieländer durch Energiesparmaßnahmen und eine Besteuerung den Verbrauch fossiler Energieträger verteuern, was tendenziell aber auf den Weltmärkten zu Preissenkungen führt. Diese Preissenkungen dürfen dann aber nicht zu einem Mehrverbrauch an anderer Stelle führen, wenn fossile Brennstoffe für nachfolgende Generationen bewahrt und Klimaschutzziele erreicht werden sollen. Es ist ein schwieriges politisches Lenkungsproblem, z.B. Benzin oder Diesel relativ preisgünstig (z.B. steuerbefreit) prioritär für die Ernährungssicherheit einzusetzen und andere – ethisch nachrangig zu beurteilende – Verwendungsweisen (Individualverkehr) zurückzudrängen. Eine externe Gefährdung der Ernährungslage könnte, selbst wenn in einem Land ausreichende Produktionsmöglichkeiten zur Sicherung der Nahrungsmit___________ 50

Vgl. SVG (2012), S. 61.

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telversorgung vorliegen, in der Weltmarktnachfrage nach Bioenergie und Futtermitteln für die Massentierhaltung in Industrieländern liegen, weil diese mit höherer Kaufkraft als die der einheimischen Bevölkerung ausgestattet sind und es für die heimischen Agraranbieter lukrativer ist, auf dem Weltmarkt zu verkaufen statt an die arme einheimische Bevölkerung. In diesem Fall hat allerdings die Regierung eines Entwicklungslandes durch Exportbeschränkungen oder staatliche Aufkaufrechte für die Ernte die Möglichkeit, die Ernährungssicherheit zu sichern. Ein gewisses Unterlaufen durch Schmuggel kann aber nicht ausgeschlossen werden, vor allem wenn staatliche Ankäufe unter dem Deckmantel der Versorgungssicherheit für Einheimische etabliert werden, tatsächlich aber für Exporte genutzt werden, um Devisen zu erzielen. Problematisch ist die Weltmarktabhängigkeit der rund 50 Länder, die auf Nahrungsmittelimporte angewiesen sind und die in anderen Sektoren wirtschaftlich nicht so leistungsfähig sind, dass sie in großem Ausmaß über Devisen verfügen, um jederzeit im ausreichenden Umfang auf dem Weltmarkt Nahrungsmittel zu erwerben. Diese Länder müssen aber zunächst die internen Handlungsmöglichkeiten nutzen, durch Begrenzung der Bevölkerungszahl, Ausschöpfung der Entwicklungspotentiale des eigenen Agrarsektors und bei Insel- und Küstenstaaten der Meereswirtschaft (Fischerei) ihre Importabhängigkeit zu mindern. Zu welchen Preisen sie Nahrungsmittel importieren können, hängt vor allem von der Politik von Industrie- und Schwellenländern ab. Industrieländer wie die EU haben große Verantwortung, wenn sie in der Agrarpolitik auf Massentierhaltung setzen, die auf erhebliche Futtermittelimporte (Soja) angewiesen ist. Ebenso problematisch ist es, wenn eine Bioenergiestrategie auf dem Import von Bioenergie beruht, z.B. Palmöl aus Indonesien in die EU.51 Ähnlich wie die EU gilt dies auch für die USA sowie andere große Industrienationen wie Kanada, Australien, Russland. Es gilt aber auch für Schwellenländer wie China. Hier ist eine ethische Pflicht zur Unterlassung zu sehen. Industrieländer, die keine Nettoimporteure von Agrarprodukten sind, sondern Nettoexporteure, können für sich im Inland Bioenergie verwenden. Für Katastrophenfälle ist es sinnvoll, wenn es weltweite Notvorräte geben würde, die nach dem Grundsatz der Finanzierungsgerechtigkeit (Beiträge nach Bruttoinlandsprodukt pro Kopf) finanziert werden. Eine generelle Verpflichtung, Agrarüberschüsse zu günstigen Preisen auf dem Weltmarkt anzubieten, besteht für Überschussländer nicht. Von günstigen Preisen auf dem Weltagrarmarkt würden auch Länder profitieren, die als Öl- oder Gasexportierende Länder finanzkräftig sind. Ebenso würden Länder profitieren, die die Entwicklung ihres eigenen Agrarsektors vernachlässigt haben. Besser wäre es, wenn gezielt ___________ 51

Vgl. Smith (2012), S. 56 f.

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ärmere Entwicklungsländer unterstützt werden, wenn diese zu zumutbaren Eigenanstrengungen bereit sind. Bei Bioenergie der zweiten Generation, die keine Nahrungsmittelpflanzen wie Mais oder Getreide sind, gibt es zwar keine direkte Konkurrenz zu Nahrungsmitteln. Es kann aber durch Umwandlung von Agrarflächen zum Nahrungsmittelanbau eine indirekte Konkurrenz bzw. bei vorheriger Abholzung von Wäldern ein Konflikt zum Klimaschutz geben. Deshalb ist auch bei ihrer Verwendung Vorsicht geboten. c) Die Verantwortung von Unternehmen aus Industrieländern Unternehmen in Industrieländern52, vor allem Großkonzerne mit weltweiten Produktions- und Handelsbeziehungen, haben ihre Strategien konform mit dem Weltgemeinwohl auszurichten. Dies bedeutet etwa für Energieunternehmen in Industrieländern, dass sie für ihre Bioenergievorhaben nicht auf Importe aus Entwicklungsländern setzen sollten. Für Automobilunternehmen gilt, dass sie zur Erreichung von Klimazielen (Flottenverbrauch mit CO2-Werten) nicht anstreben sollten, dass die Beimischung von Bioenergie in Benzin eingerechnet wird. Selbst wenn die Erzeugung von Bioenergie für Unternehmen aus dem Bereich der Agrarchemie und der Saatgutfirmen als lukratives Geschäftsfeld erscheint, sollten sie auf diese Strategie nicht setzten, selbst wenn sich hier im Zusammenspiel von defizitären politischen Systemen von Entwicklungsländern und den Importinteressen von Industrieländern lukrative Geschäftsfelder aufzutun scheinen. Bei hinreichendem Verantwortungsbewusstsein und ethischer Sensibilität werden sie feststellen, dass Geschäftsmodelle, die als Nebenwirkung den Hunger größerer Bevölkerungsgruppen billigend in Kauf nehmen, sowohl durch politische Kurswechsel, etwa einer erstarkenden Zivilgesellschaft in Entwicklungsländern, wie durch die öffentliche Meinung in Industrieländern zu jeder Zeit angreifbar sind, und dies über kurz oder lang auch sein werden. Es liegt hier keine nachhaltige Unternehmensstrategie vor. Unternehmen, die in fremden Ländern in Landflächen investieren, bzw. Finanzmarktakteuren, wie Banken, die solche Investitionen finanzieren, muss bewusst sein, dass solche Investitionen gegen breite legitime Interessen von Bevölkerungskreisen in Entwicklungsländern stattfinden können. Dabei sind hier politische Kurswechsel denkbar, so dass ihre Eigentumsrechte gefährdet sein können. Schon aus langfristigem Eigeninteresse ist hier von Unternehmen und Finanzinvestoren eine hohe ethische Sensibilität erforderlich. ___________ 52

Vgl. zur Unternehmensethik allgemein: Wiemeyer (2013a).

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d) Die Verantwortung von Konsumenten in Industrieländern Im vergangenen Bundestagswahlkampf hat folgende Passage aus dem Wahlprogramm der Grünen für Aufregung gesorgt: „Deshalb fordern wir mehr Verbraucheraufklärung zu den gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Folgen des Fleischkonsums. Öffentliche Kantinen sollen Vorreiterfunktionen übernehmen. Angebote von vegetarischen und veganen Gerichten und ein „Veggie Day“ sollen zum Standard werden. Wir wollen ein Label für vegetarische und vegane Produkte.“53 Eine Reduzierung des Fleischkonsums wäre eine sinnvolle Maßnahme.54 Allerdings muss hier auch ein Reboundeffekt beachtet werden, weil dann die Lebenserwartung der Menschen steigen kann, so dass aus mehr Lebensjahren wiederum ein höherer Verbrauch von Naturkapital erwachsen kann. Ein stärker auf vegetarische Ernährung ausgerichtetes Verhalten müsste daher in einen insgesamt ressourcenärmeren Lebensstil eingebunden sein. Dies gilt vor allem für eine Verminderung des Rindfleischkonsums, wegen der hohen Belastung mit dem klimaschädlichen Methangas.55 Bei den Essgewohnheiten kann der Einzelne auch zu einem reduzierten Energieverbrauch beitragen, wenn Obst und Gemüse entsprechend der Jahreszeiten verzerrt wird, weil dann für die Produktion weniger Energie für Transporte benötigt wird und/oder eine energieunterstützte Produktion in Treibhäusern stattfindet. Weiterhin kann auch ein sorgfältiger Umgang mit Nahrungsmitteln, von denen in westlichen Industrieländern ein Drittel in der Produktion, im Handel und privaten Haushalten weggeworfen wird, zur Naturschonung beitragen.56 Eine andere Alternative zur Verwendung von Bioenergie wäre eine Verstärkung des Energiesparens. Dies könnte z.B. im Verkehrsverhalten erfolgen, wenn kleinere Fahrzeuge erworben werden, häufiger auf öffentlichen Nahverkehr umgestiegen wird, kürzere Strecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Im Wahlkampf 2013 wurde das oben genannte Zitat aus dem Grünen Wahlprogramm als Bevormundung und Freiheitsbeschränkung aufgefasst. Im Kontext einer christlichen Anthropologie, die um die Schwäche der Menschen weiß, ist aber auch eine alternative Interpretation möglich. Da Menschen ihre Schwächen kennen und die Erfahrung machen, dass sie diesen Schwächen immer wieder erliegen, könnten sie im Sinne einer klugen Selbstbindung be___________ 53

Die GRÜNEN (2013), S. 164. Vgl. SVG (2012), S. 67. 55 Vgl. SVG (2012), S. 22 f. 56 Vgl. SVG (2012), S. 13. 54

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schließen, sich selbst nicht in Versuchung zu führen. Eine freiwillig beschlossene Selbstbindung widerspricht aber nicht dem Freiheitspostulat, so dass die Initiative der „Grünen“ nicht unplausibel war.57

VI. Schlussbemerkung Bioenergie wird problemlos nur einen sehr geringen Beitrag zur Energieversorgung der Industrieländer leisten können (z.B. durch Reststoffverwertung). Eine Verwendung kann in ländlichen Räumen in Entwicklungsländern (z.B. zur lokalen Stromerzeugung) sinnvoll sein. Weitere Forschungsanstrengungen sind notwendig, die sowohl eine höhere Ertragsfähigkeit und Kostensenkungen der zweiten und dritten Generation wie von Biotreibstoffen anstreben. Allerdings muss die Forschung ebenfalls auf eine umfassende Berechnung der Folgen von Bioenergienutzung (z.B. unter Einrechnung von Landnutzungsänderungen, etwa durch Abholzung von Trockenwäldern und Entwässerung von Mooren) gerichtet sein, um realistische Werte für CO2-Ersparnisse zu ermitteln. Energiesparmaßnahmen, Steigerung der Energieeffizienz, Änderungen von Lebensstilen und Verhaltensweisen großer Teile der Konsumenten in Industrieländern sowie erneuerbare Energien wie Wind-, Wasser- und Sonnenenergie sollten Vorrang vor einem Ausbau der Bioenergie erhalten. Literatur Bommert, Wilfried (2009): Kein Brot für die Welt. Die Zukunft der Welternährung, 3. Aufl. Berlin. Chemnitz, Christine/Fuhr, Lili: Haben oder Nichthaben. Ressourcengerechtigkeit in einer endlichen Welt, hrsg. v. der Heinrich Böll-Stiftung, Berlin 2012. http://www. boell.de/sites/default/files/2012_06_Haben_oder_Nichthaben_Ressourcengerechtigkeit _in_einer_endlichen_Welt.pdf (Zugriff 20.10.2013) Collier, Paul (2008): Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann, Bonn. Die GRÜNEN (2013): Wahlprogramm, http://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/ Dokumente/Wahlprogramm/Wahlprogramm-barrierefrei.pdf (Zugriff am 12.10.13) Elster, Jon (1987): Subversion der Rationalität, Frankfurt a.M. Europäisches Parlament (2013): http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef =-%2f%2fEP%2f%2fTEXT%2bTA%2bP7-TA-2013-0357%2b0%2bDOC%2bXML %2bV0%2f%2fDE&language=DE (Zugriff am 7.11.2013) Kaufmann, Franz-Xaver (2007): Familie im Spannungsfeld gefährdeter Sozialstaatlichkeit, Reihe Kirche und Gesellschaft Nr. 341, Köln.

___________ 57

Elster (1987), S. 67 ff. hat dieses Konzept „rationaler Selbstbindung“ entworfen.

Tank oder Teller? Lebensmittel als Energielieferant für Industrieländer

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Krebs, Angelika (2001): Wieviel Natur schulden wir der Zukunft? Eine Kritik am zukunftsethischen Egalitarismus, in: Dieter Birnbacher/Gerd Brudermüller (Hrsg.): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, Würzburg, 157–183. Marx, Reinhard (1994): Weltgemeinwohl als sozialethische Kategorie. Anmerkungen zum weltweiten Horizont der katholischen Soziallehre, in: Stimmen der Zeit, 212 Bd., S. 38–48. Müller, Oliver (2008): Umweltpolitik am Scheideweg. Biotreibstoffe in der Diskussion, Reihe Kirche und Gesellschaft Nr. 348, Köln. Nationale Akademie der Wissenschaft Leopoldina Halle (2013): Bioenergie – Möglichkeiten und Grenzen, Stellungnahme, Halle. http://www.leopoldina.org/uploads/ tx_leopublication/2013_06_Stellungnahme_Bioenergie_DE.pdf (Zugriff 7.11.2013) Schleissig, Stephan (2013): Energie aus Biomasse. Eine ethische Analyse, in: Silke Franke (Hrsg.): Energie aus Biomasse. Ethik und Praxis, Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen Nr. 85, Hans-Seidel-Stiftung, München, S. 21–28. Schmitz, Michael (2012): Bestimmungsgründe für das Niveau und die Volatilität von Agrarrohstoffpreise auf internationalen Märkten – Implikationen für Welternährung und Politikgestaltung – Vorstudie, Gießen 2012. http://www.ufop.de/files/5413/3879/ 5148/UFOP_0966_Vorstudie.pdf (Zugriff 20.10.2013) Smith, James (2012): Biotreibstoff. Eine Idee wird zum Bumerang, Berlin. SVG (2012): Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“: Den Hunger bekämpfen. Unsere gemeinsame Verantwortung für das Menschenrecht auf Nahrung. Hrsg. v. der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz. Vogt, Markus (2013): Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus theologisch-ethischer Perspektive, 3. Aufl., München. Wiemeyer, Joachim (1998): Europäische Union und weltwirtschaftliche Gerechtigkeit, Münster. – (2004): Gerechtigkeit zwischen Generationen als wirtschaftsethisches Problem, in: Ethica 12 (1/2004), 71–94. – (2013): Das Verhältnis von Wirtschaft und Politik in der Finanzkrise in: Martin Dabrowski/Judith Wolf/Karlies Abmeier (Hrsg.): Überwindung der EU-Schuldenkrise zwischen Solidarität und Subsidiarität, Paderborn, 129–153. – (2013a): Unternehmensethik aus christlich-sozialethischer Sicht, Reihe Kirche und Gesellschaft Nr. 403, Köln. DIE ZEIT (2013) http://www.zeit.de/wirtschaft/2013-10/welthungerhilfe-hungersnot-an bau-verteilung (Zugriff 7.11.2013).

Drei Thesen zur „Food-First“-Maxime im Bioenergiediskurs – Korreferat zu Joachim Wiemeyer – Von Anne Klatt und Almut Jering

I. Vorbemerkungen Die normative Grundlage unserer Argumentation ist das Leitbild Nachhaltiger Entwicklung, das wesentlich auf der UN Konferenz zu Umwelt und Entwicklung in Rio 1992 geprägt wurde. Demnach ist eine intra- und intergenerationell gerechte Ressourcenbeanspruchung anzustreben. Dies gilt insbesondere für die Befriedigung von Grundbedürfnissen aller Generationen bzw. von „Umwelt- und Entwicklungsbedürfnissen“ in der Terminologie der UN. Den physischen Korridor für die Ressourcennutzung spannt dabei die ökologische Tragfähigkeit der Ökosysteme auf, insbesondere ihre Senkenkapazitäten. Folglich beantworten wir die Frage, ob eine energetische Nutzung eines biogenen Rohstoffs vertretbar ist, nicht anhand der Frage, ob es sich um ein Nahrungsmittel handelt (Kriterium „Essbarkeit“), sondern anhand ihrer (potentiellen) Auswirkungen im Hinblick auf das Erreichen der Ziele der Nachhaltigen Entwicklung. Abschließend möchten wir vorbemerken, dass der Kontext unserer Argumentation die Bioenergienutzung in Industrieländern ist, d.h. vor dem Hintergrund der vergleichsweise sehr hohen Pro-Kopf-Beanspruchung von Energie und anderen Ressourcen, mitsamt einem hohen Fleischkonsum. Die Situation in den Ländern des Südens stellt sich häufig gänzlich anders dar. Dort kann die Modernisierung der traditionellen Bioenergienutzung sehr viele Vorteile mit sich bringen. Die folgende Argumentation bezieht sich zudem ausschließlich auf Biomasse, die von Ackerflächen stammt („Anbaubiomasse“, inklusive Kurzumtriebsplantagen auf Agrarflächen) und am Markt gehandelt wird1, nicht jedoch auf die Nutzung biogener Abfall- und Reststoffe, Waldholz, Landschaftspflegematerial, Paludikulturen und andere „Spezialsegmente“. Auch de___________ 1 Global betrachtet wird sehr viel Biomasse nicht gehandelt, was in Erörterungen zur Biomassenutzung ebenfalls mitgedacht werden muss.

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Anne Klatt und Almut Jering

ren Nutzung ist nicht frei von Zielkonflikten, wie Wiemeyer in seinem Beitrag beispielsweise im Hinblick auf die Humusreproduktion andeutet, bedarf aber einer Erörterung in anderen Kategorien.

II. Drei Thesen zur Food-First-Maxime Wiemeyer (2013) konstatiert richtigerweise, dass Hunger gegenwärtig „kein Angebotsproblem an Nahrungsmitteln ist, sondern ein gesellschaftlich, ökonomisch und politisch gestaltetes und gestaltbares Verteilungsproblem ist.“ Perspektivisch hingegen wird sich die Konkurrenz um Agrarprodukte aufgrund des Bevölkerungswachstums, der anhaltend ressourcenintensiven Konsummuster der Industrieländer und deren Ausweitung auf die Schwellenländer deutlich verstärken. Zum Verteilungsproblem droht sich ein Mengenproblem zu addieren.2 Daher sollten Erörterungen von Konkurrenzen verschiedener Biomassenutzungen immer auch vor dem Hintergrund dieser Trends erfolgen. 1. Zur fehlenden Absicherung der Food-First-Maxime Die Auffassung, dass die globale Ernährungssicherung die höchste Priorität innerhalb der Biomassenutzungsoptionen genießen soll, kann als allgemein akzeptiert gelten.3 Das heißt, die Legitimität der energetischen Nutzung wird nicht kategorisch abgelehnt, sondern an die Bedingung geknüpft, die im Folgenden zur Formel „food first“ komprimiert wird. Aber was folgt aus diesem Konsens in der Praxis? Welche Institutionen stellen sicher, dass nur die Menge energetisch genutzt wird, die tatsächlich nicht für die Ernährung benötigt wird? These 1: Trotz der breiten Akzeptanz der Food-First-Maxime und der vorhandenen Bereitschaft, diese wirksam „umzusetzen“, wird der Vorrang der Ernährungssicherung bei der Nutzung von Agrarprodukten nicht sichergestellt. Begründung: a) Am Markt hängt die Befriedigung bzw. Nicht-Befriedigung von Bedürfnissen und Wünschen wesentlich davon ab, ob diese mit Kaufkraft untersetzt sind. Die „Relevanz“ bzw. Essentialität der Bedürfnisse  etwa zwischen überlebensnotwendigen Bedarfen und „Nice to have“-Nachfragen – unterscheidend  wird nicht berücksichtigt. Wenn Landwirte und Landwirtinnen ___________ 2

WBA (2012). Ernährungssicherung (Food Security) ist gemäß der Deklaration des Weltgipfels zu Ernährungssicherung dann gegeben, wenn eine Bevölkerung jederzeit physischen, sozialen und wirtschaftlichen Zugang zu ausreichenden, sicheren und nährenden Lebensmitteln hat, die ihren Bedürfnissen und Nahrungspräferenzen für ein aktives und gesundes Leben entsprechen (FAO, 2013). 3

Drei Thesen zur „Food-First“-Maxime im Bioenergiediskurs

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oder Handelsunternehmungen über den Verkauf ihrer Produkte für die energetische Verwendung höhere Preise erzielen als Kaufkraftschwache („Vulnerable“) für ihre Ernährung aufbringen können, kann deren Versorgung zu kurz kommen. Daher ist ein Schutzmechanismus für die Versorgung der Ärmsten erforderlich. b) Eine Verortung der Verantwortung, den Vorrang der Ernährungssicherung sicherzustellen, auf der Ebene der einzelnen Marktakteure scheitert bereits daran, dass der Hungerproblematik ein komplexes Ursachengeflecht zugrunde liegt und der Einzelne überfordert ist, Auswirkungen auf globaler Ebene zu erkennen. Auch niedrige Nahrungspreise gelten als Grund für Unterernährung. Daher ist es folgerichtig, die Sicherstellung der Einhaltung der Food FirstMaxime nicht dem individuellen Marktakteur zu übertragen, sondern auf einer höheren Ebene institutionell zu verankern.4 Primär bietet sich hierfür die Ebene der Nationalstaaten an, wie auch Wiemeyer (2013) argumentiert. Dass Staaten dieser Verantwortung nicht immer nachkommen (können), belegt ein Blick in die Statistiken zur Unterernährung. Und diese defizitäre Realität muss wiederum von einer verantwortungsbewussten (Bioenergie-)Politik in den Industrieländern hinreichend berücksichtigt werden, d.h. (bio)energiebezogene Regularien sind so zu gestalten, dass die Bioenergienutzung kein Risiko für die Ernährungssicherung darstellt. c) In der politischen Praxis der Länder, die Bioenergie im größeren Maßstab nutzen und dabei ökologische und soziale Risiken so weit wie möglich ausschließen wollen, wird primär der Weg der Nachhaltigkeits-Zertifizierung und der Berichtspflichtigkeit beschritten.5 Bei effektiver und ambitionierter Umsetzung lassen sich mit dem Instrument der flächenbezogenen Zertifizierung direkte Folgen ausschließen, wie etwa die Innutzungnahme von Wäldern, intakten Moorböden oder biodiversem Grünland eigens für den Anbau von Pflanzen für die Biokraftstoffproduktion. Auch kann damit der Erhalt von Ökosystemdienstleistungen begünstigt werden und theoretisch könnten sozio-ökonomische Aspekte wie die Achtung traditioneller Nutzungsrechte verankert werden. Ergo ___________ 4

Zichy et al. (2011) sprechen hier von einer „moralischen Überforderung“, wenn die Verantwortung für den globalen Kampf gegen den Hunger auf der Mikroebene verortet werden würde. 5 Beispielsweise mit der europäischen Erneuerbare-Energien-Richtline 2009/28/EG und deren Umsetzung in nationales Recht durch die Biokraftstoff- und die Biomassestrom-Nachhaltigkeitsverordnung, die verbindliche Nachhaltigkeitskriterien für flüssige Bioenergieträger enthalten. Für feste und gasförmige Bioenergieträger existieren derzeit keine analogen Anforderungen. Des Weiteren müssen sowohl die Bundesregierung als auch die Europäische Kommission zu Entwicklungen bestimmter Nachhaltigkeitsaspekte im Zusammenhang mit der Bioenergieförderung regelmäßig Berichte vorlegen.

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kann das Instrument Zertifizierung bei adäquater6 Umsetzung wichtige Impulse für eine nachhaltige Agrarproduktion setzen. Gleichwohl sind der Wirkmächtigkeit des Instruments Zertifizierung auch bei bestmöglicher Umsetzung klare Grenzen gesetzt. Steigende Preise für Agrarprodukte und andere mittelbare Effekte der Zusätzlichkeit der Nachfrage für die energetische Biomassenutzung kann es ebenso wenig verhindern wie es Verteilungsfragen adressieren kann. 2. Zur Hoffnung auf Konfliktlösung durch Ausweitung des Agrargüterangebots Den Verweisen auf die vielfältigen sozial-ökologischen Risiken, die aus steigenden Nutzungskonkurrenzen resultieren und die durch eine Bioenergienutzung verstärkt werden können, werden im politischen Diskurs Potenziale zur Steigerung des Angebots an Agrargütern entgegengestellt. Produktionssteigerungen können entweder durch eine Ausweitung von Anbauflächen und/oder durch eine Steigerung der Flächenproduktivität (Intensivierung) erfolgen. Daher ist zu fragen, ob eine solche Angebotssteigerung zur Entspannung der Nachfragekonkurrenzen im erforderlichen Umfang a) möglich und b) mit anderen Schutzzielen kompatibel ist. Der „erforderliche Umfang“ ergibt sich dabei sowohl aus der steigenden Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermitteln als auch den steigenden Nutzungen stofflicher und energetischer Art. These 2: Die Ausweitung des Angebots ist weder eine sichere noch eine konfliktfreie Lösung des Problems. Begründung: a) Eine Ausweitung der Anbaufläche ist je nach Art der umgebrochenen Fläche sozioökonomisch und/oder ökologisch teilweise sehr problematisch. In der Regel werden Flächen umgebrochen, die für den Klimaschutz, den Erhalt der Biodiversität und anderen Ökosystemdienstleistungen, wie die Regulation von Stoffkreisläufen und des Wasserhaushalts, eminent wichtig sind und die ihre Funktion durch die landwirtschaftliche Nutzung mindestens teilweise einbüßen. Eine Ausweitung ist damit weit mehr als ein reines „CO2Problem“, auf das indirekte Effekte der Bioenergienutzung im Diskurs gelegentlich reduziert werden. Die Innutzungnahme von so genanntem marginalem und degradiertem Land7 gilt einem prominentem Narrativ zufolge als Lösung des Problems. In vielen ___________ 6 Eine adäquate Umsetzung heißt, dass sämtlicher Aspekte des Konzepts Nachhaltigkeit einbezogen und in wirksame, verifizierbare Indikatoren gefasst sind; dass eine hinreichend große Reichweite erwirkt wird, um Verlagerungseffekten vorzubeugen; dass die Verifikation effektiv ist und dass Betroffene partizipieren. Ausführlich in: Jering et al. (2012). 7 In der Literatur wird zwischen degradiertem und marginalem Land unterschieden. Ersteres ist durch den Verlust der ökologischen Selbstregulationskräfte gekennzeichnet;

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Fällen ist eine solche Flächennutzung jedoch wirtschaftlich kaum realisierbar, da meistens jegliche Infrastrukturen (Verkehrsanbindung, Bewässerungssysteme etc.) fehlen. Auch kann sie mit hohen ökologischen Risiken verbunden sein, da degradierte Ökosysteme fragile Systeme sind und zudem wertvolle Rückzugsräume für die biologische Vielfalt darstellen können. Letztlich müssen wir unseren Blick auf diese Flächen korrigieren: Es handelt es sich nicht um „Niemandsland“. Diese Flächen werden in der Regel – zumindest extensiv – von Menschen genutzt, die oft keine offiziellen Landtitel bzw. nur traditionelle, unverbriefte Nutzungsrechte besitzen und ihre Lebensgrundlage verlieren, wenn diese Flächen durch Investoren „in Beschlag“ genommen werden.8 b) Eine Steigerung der Flächenproduktivität birgt in Abhängigkeit von lokalen geoökologischen Voraussetzungen und dem Grad der bereits realisierten Bewirtschaftungsintensität und den Methoden massive Umweltrisiken. Die ökologische Funktionalität der Agrarsysteme industrialisierter Länder ist in aller Regel stark verarmt, so dass sie zu vielen globalen und lokalen Umweltproblemen beitragen. Dazu gehören etwa die Kontamination von Wasserressourcen mit Nähr- und Schadstoffen, die Eutrophierung natürlicher Ökosysteme zulasten der biologischen Vielfalt, hohe Emissionen von Treibhausgasen aus der Landnutzung usw.9 Solche äußerst problematischen Nebenwirkungen einer high input-Landwirtschaft können bei weiterer Intensivierung – im konventionellen Stil – bereits intensiv genutzter Flächen noch verstärkt werden. c) Potenziale zur nachhaltigen und ökologisch verträglichen Ertragssteigerung sind eher in Afrika und Teilen Asiens und Lateinamerikas zu verorten; also in den Regionen, wo die Agrarproduktion auf sehr geringem Ertragsniveau stattfindet und Nahrungsmittelbedarfe ungedeckt sind. Dieses Potenzial an umwelt- und sozialverträglicher Angebotssteigerung wird sehr wahrscheinlich vollständig vom steigenden Bedarf an Nahrungs- und Futtermitteln aufgezehrt.10 D.h., die Mengensteigerungen, die durch eine ökologische Intensivierung der bislang sehr extensiven Agrarsysteme in Afrika, Teilen Asiens und Lateinamerika erwirkt werden können, führen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu „Überschüssen“, die dann energetisch genutzt werden könnten, ohne die Verletzung der Food-First-Maxime bzw. die Befriedigung anderer essentieller Bedürfnisse in den Ländern des Südens zu riskieren.

___________ Letzteres dadurch, dass es unter gegenwärtigen agrarökonomischen Bedingungen nicht kostendeckend bewirtschaftet werden kann. 8 Wicke (2010); Jering et al. (2012); Goeser (2010). 9 Jering et al. (2012). 10 Nach der mittleren UN-Prognose werden im Jahr 2050 etwa 9 Mrd. Menschen leben, für deren Bedarf etwa 70% mehr Nahrungsmittel produziert werden müssten.

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3. Zur Erlässlichkeit der Bioenergie für die Energiewende Für die Annäherung an das Leitbild Nachhaltige Entwicklung ist es – neben der Sicherstellung der Ernährung und der ökologischen Funktionalität von (Agrar-)Ökosystemen – ebenso relevant, unseren Energiebedarf auf ein zukunftsgerechtes Niveau zu bringen und auf klimaverträglichere und erneuerbare Quellen umzustellen. Angesichts dessen stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die Bioenergie für die Energiewende hat. These 3: Nach gegenwärtigem Stand des Wissens brauchen wir biogenen Kohlenstoff nicht für die Energieversorgung, jedoch – zumindest mittelfristig – als Substitut für fossilen Kohlenstoff in der stofflichen Nutzung. Begründung: a) Mit Hilfe der Elektrolyse kann Wind- und Solarstrom genutzt werden, um chemische Energieträger (Wasserstoff, Methan) zu produzieren. Dadurch wird Wind- und Solarenergie speicherbar und für sämtliche Energiesektoren (Verkehr, Wärme/Kälte, Strom) nutzbar gemacht. Das Potenzial zur nachhaltigen Bereitstellung von Biomassestrom, z.B. aus Biogas, ist so gering, dass es den künftigen Bedarf an Energie zur Kompensation von Differenzen zwischen Angebot und Nachfrage nicht decken kann. Daher werden – neben anderen Innovationen – alternative Speichertechniken wie Power to Gas oder Power to Liquid ohnehin benötigt. Somit wird zum einen das Argument des Wertes der Bioenergie als „Regel- und Speicherenergie“ relativiert und zum anderen werden Wind- und Sonnenenergie für fast alle Anwendungen erschlossen. b) Angesichts der zunehmenden Konkurrenzen um Biomasse und Agrarflächen muss die Flächeneffizienz bei der Abwägung verschiedener Optionen der Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen ein zentrales Kriterium werden. Die Flächenerträge von Bioenergie fallen weit hinter die Flächenerträge von Wind- und Solarenergie zurück. Dies gilt auch unter Berücksichtigung von Umwandlungsverlusten, wenn fluktuierende Wind- und Solarenergie zur Gewinnung von chemischen Energieträgern genutzt wird. c) Die Industrie benötigt in hohem Maß Kohlenstoff als Ausgangsstoff für Produkte aller Art, z.B. Kunststoffe, Textilfasern und Pharmaka. Wenn diese Produkte weiterhin verfügbar sein sollen, muss die bislang fossil basierte Herstellung perspektivisch ebenfalls unabhängig von fossilen Rohstoffen werden. Dafür gibt es neben dem Kohlenstoff aus biogenen Rohstoffen bislang keine ökonomisch tragfähige Alternative zum fossilen Kohlenstoff.11 Allerdings sind

___________ 11 Die Nutzung von CO2 als Kohlenstoffquelle befindet sich derzeit im Stadium der Forschung und Entwicklung.

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biobasierte Produkte hinsichtlich ihrer Umweltverträglichkeit ihren fossilen Pendants nicht pauschal überlegen und daher ebenfalls nicht unkritisch.12

III. Fazit und Schlussbemerkungen Angesichts dessen, dass … 1. die Einhaltung der Food-First-Maxime bei Nutzung von Agrarprodukten für die Bioenergieproduktion bisher nicht institutionell sichergestellt wird und bisher keine praktikablen Lösungen in Sicht sind, wie dies effektiv gelingen kann, 2. die Realisierung einer ökologisch verträglichen Ausweitung des Biomasseangebots im Umfang des sich abzeichnenden Anstiegs sämtlicher konkurrierender Nachfragen unwahrscheinlich bis utopisch erscheint und 3. der biogene Kohlenstoff für eine nachhaltige Energieversorgung auf Basis erneuerbarer Energien nicht essentiell ist, sehr wohl aber mittelfristig für den Wandel der noch fossil basierten Industrie in Richtung einer biobasierten benötigt wird, empfiehlt das Umweltbundesamt die energetische Nutzung von Anbaubiomasse nicht weiter auszuweiten und Maßnahmen einzuleiten, um langfristig ganz darauf verzichten zu können.13 Jedoch ist es verfehlt, die Bioenergie als den zentralen Faktor des globalen Hungers bzw. der Beanspruchung von agrarischen Ressourcen im Ausland zu etikettieren. Beispielsweise schlägt der Fleischkonsum hierbei weit heftiger zu Buche. Die Beanspruchung von Agrarflächen für die Bioenergieproduktion liegt nach Raschka und Carus (2012) bei etwa 55 Mio. Hektar und damit weit unter den 1.030.000 Mio. Hektar, die für die Produktion von Tierfuttermitteln belegt werden.14 Daher ist der Fleischverzehr jenseits einer – unter Abwägung aller Argumente zu bestimmenden – Menge ethisch nicht minder fragwürdig und, wie Wiemeyer (2013) schreibt, dessen Reduktion in der Tat eine „sinnvolle Maßnahme“. Dies gilt auch für andere tierische Lebensmittel, da deren ökologischer Fußabdruck nicht wesentlich kleiner ist als der des Fleisches.15 ___________ 12

Nach Untersuchungen von Detzel (2012) sind beispielsweise Tüten oder Einweggeschirr aus Bioplastik in ihrer Ökobilanz bisher ihren erdölbasierten Varianten nicht überlegen. 13 Eine Konkretisierung und Differenzierung unser Empfehlung findet sich in Jering et al. (2012). 14 Davon unbenommen kann die Bioenergie in Krisensituationen das „Zünglein an der Waage“ sein und wird es, wie dargestellt wurde, voraussichtlich immer öfter werden. 15 Maier et al. (2013).

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Folglich ist es richtig und wichtig, dass hierzu eine kritische Diskussion beginnt und der Konsum tierischer Nahrungsmittel nicht (länger) als nicht zu hinterfragende Privatsache gilt. Unseres Erachtens hat der Staat über eine reine Aufklärungsaufgabe hinaus Verantwortung für eine entsprechende Gestaltung der Rahmenbedingungen, in denen Anbieter und Nachfrager sich bewegen, im Sinne nachhaltiger Konsummuster. Irreführend ist ebenfalls die häufig beobachtbare Fokussierung der Palmölproblematisierung auf Biokraftstoffe: Rund zwei Drittel des Palmöls werden in der Nahrungsmittelindustrie verwendet, immerhin ein Viertel in der Industrie (Kosmetik, Kerzen, Seifen etc.) und nur 5% für die Gewinnung von Strom, Wärme oder Kraftstoffen.16 Warum sollte das Palmöl im Shampoo im Gegensatz zur Verwendung im Tank als intra- und intergenerationell unproblematische Ressourcenbeanspruchung gelten? D.h., auch in der Kategorie „stoffliche Nutzung von Biomasse“ werden zunehmend Nutzungs- und Abwägungskonflikte zu verzeichnen sein. Letztlich wird vor dem Hintergrund der zunehmenden intra- und intergenerationellen Konflikte um die Beanspruchung von natürlichen Ressourcen bzw. von Naturkapital die Erfordernis einer übergreifenden Ressourcenethik zunehmend evident. Ökosystemfunktionen und hierbei insbesondere Senkenkapazitäten müssen neben materiell genutzten Ressourcen mit in den Fokus rücken. Daher werden ein kluges, gerechtes und vorausschauendes Abwägen ihrer Allokation17 und die Verwirklichung des Abwägungsurteils zentrale Aufgaben des künftigen gesellschaftlichen Diskurses sein. Die Ergebnisse dieses Diskurses müssen sich in der Gestaltung der Rahmen, in dem die Marktakteure agieren, niederschlagen. Literatur BMU (2012): Langfristszenarien und Strategien für den Ausbau erneuerbarer Energien in Deutschland bei Berücksichtigung der Entwicklungen in Europa und global. Schlussbericht der Arbeitsgemeinschaft DLR, Fraunhofer IWES und IFNE. Berlin.

___________ 16

FNR (2011) Eine Strategie „Nur Rapsöl für die Biodieselproduktion“ ist jedoch nicht zielführend, da dieses Rapsöl dann anderen Nutzungen (in der Kosmetik, Nahrungsmittelproduktion etc.) entzogen werden würde, wodurch eine Knappheit entstünde, so dass diese wahrscheinlich ihrerseits auf (billiges) Palm- und Sojaöl umsteigen würden. 17 Unter Ressourcenallokation wird die angesichts der Knappheit von Ressourcen notwendige Aufteilung bzw. Zuordnung von Produktionsfaktoren innerhalb des insgesamt Produzierbaren verstanden. Um ein gesellschaftlich optimales Ergebnis zu erhalten, muss sie in einem Diskurs entschieden werden, um etwa die Bedürfnisbefriedigung von Menschen mit geringer Kaufkraft zu sichern.

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Detzel, A. (2012): Untersuchung der Umweltwirkungen von Verpackungen aus biologisch abbaubaren Kunststoffen. Umweltbundesamt, UBA-Texte 52/2012, DessauRoßlau. FAO (2013): The State of Food Insecurity in the World 2013. The multiple dimensions of food insecurity. Rom. FNR (2011): Palmölnutzung weltweit. Grafik. URL: http://mediathek.fnr.de/palmolnut zung-weltweit-2010-palmol-und-palmkernol.html (abgerufen am 27.02.14). Goeser, H. (2011): Land Grabbing. Ursachen, Wirkungen Handelsbedarf. Infobrief des Wissenschaftlichen Dienstes im Bundestag. Berlin. Jering, A./Klatt, A./Seven, J./Ehlers, K./Günther, J./Ostermeier, A./Mönch, L. (2012): UBA-Positionspapier – Globale Landflächen und Biomasse nachhaltig und ressourcenschonend nutzen. Umweltbundesamt. Dessau-Roßlau. Meier, T./Christen, O. E./Jahreis, G./Voget-Kleschin, L./Schrode, A./Artmann, M. (2014): Balancing virtual land imports by a shift in the diet: Using a land-based approach to assess the sustainability of food consumption. Germany as an example. In: Appetite. 2014 Mar; 74:20–34. Epub 2013 Nov 20. Raschka, A./Carus, M. (2012): Stoffliche Nutzung von Biomasse – Basisdaten für Deutschland, Europa und die Welt; Hürth: nova-Institut GmbH. Teilbericht des F+EProjekts FKZ 3710 93109 „Ökologische Innovationspolitik – mehr Ressourceneffizienz und Klimaschutz durch nachhaltige stoffliche Nutzung von Biomasse“, UBATexte 1/2014, Dessau-Rosslau. WBA (2012): Ernährungssicherung und nachhaltige Produktivitätssteigerung. Stellungnahme. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (WBA). Berlin. Wicke, B. (2011): Bioenergy production on degraded and marginal land: Assessing its potentials, ecnomic performance, and environmental impacts for different settings and geographical scales. Utrecht University. Wiemeyer, J. (2014): Tank oder Teller? Lebensmittel als Energielieferanten für Industrieländer. Beitrag im gleichen Band. Zichy, M./Dürnberger, C./Formowitz, B./Uhl, A. (2011): Energie aus Biomasse – ein ethisches Diskussionsmodell. Verlag Vieweg + Teubner.

Nachhaltige Energieversorgung durch Bioenergie? – Korreferat zu Joachim Wiemeyer – Von Anika Schroeder Wenn die Menschheit den Gefahren eines ungebremsten Klimawandels entgehen will, ist die Zukunft der Energieversorgung – mit Gas als Brückentechnologie – effizienter und erneuerbar. Dies verdeutlicht Teil 3 des fünften Sachstandberichts des Zwischenstaatlichen Ausschusses über Globale Klimaveränderungen (IPCC), der 2014 vorgelegt worden ist. Auch die Bioenergie wird den Szenarien nach im zukünftigen Energiemix eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Gleichwohl ist sie global betrachtet die wohl am meisten unter ethischen Gesichtspunkten diskutierte Energieform. Der vorliegende Beitrag beschreibt die Auswirkungen der EU Agrospritpolitik und untermauert damit die Notwendigkeit der von Professor Wiemeyer aufgeworfenen Dimensionen der Gerechtigkeit, die bei der Nutzung von Bioenergie angesetzt werden müssen. Diese werden zudem ergänzt um eine menschenrechtliche und umweltpolitische Perspektive.

I. Folgen der EU Biospritpolitik Die EU beschloss im Jahr 2008, bis 2020 zehn Prozent der Energie, die im Verkehrssektor genutzt wird, aus Erneuerbaren Energien zu beziehen. Zur Zielerreichung dienen vor allem Agrartreibstoffe – sogenannter „Bio“sprit: Biodiesel aus Speiseölen (v. a. Soja und Palmöl) und Bioethanol (v. a. aus Zuckerrohr). Dieser Treibstoff muss 35 % weniger klimaschädliche Treibhausgase als konventioneller Kraftstoff verursachen, um auf das Ziel angerechnet zu werden: ab 2017 müssen sogar 50 % Einsparung erzielt werden. Sollte das 10 % Ziel allein durch die Nutzung von Biokraftstoffen erreicht werden, so können 3,5 % der Treibhausgase im Jahr 2017 eingespart werden (bei konstantem Verkehrsaufkommen).1 ___________ 1

BUND, MISEREOR, Oxfam (2013): Verordnete Verantwortungslosigkeit. Die Förderung von Biosprit in der EU. http://www.misereor.de/fileadmin/redaktion/FactSheet_ Biosprit_online.pdf.

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II. Negative Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit Dieses sehr geringe Klimaschutzpotenzial wird teuer erkauft. 2011 stellte ein Bericht von FAO, OECD und sieben weiteren multilateralen Organisationen fest: „Die [Nahrungsmittel-]Preise sind erheblich höher, als sie es ohne Biospritproduktion wären.“ Vor diesem Hintergrund empfahlen diese Organisationen den G20 Staaten, jegliche Förderung durch Subventionen und Mengenziele zu beenden.2 Die Konkurrenz zwischen Tank oder Teller geht aber weit über die Preisproblematik hinaus: Die Landfläche, die nötig wäre, um das europäische Erneuerbare-Energien-Ziel im Verkehrssektor durch den Einsatz von Biosprit aus der ersten Generation zu erreichen, entspricht 88 % der Gesamtfläche Deutschlands.3 Der zusätzlich angeheizte Wettbewerb um Land wirkt sich insbesondere in Entwicklungsländern aus. Nach einem Bericht der International Land Coalition wurden im letzten Jahrzehnt auf mehr als 60 % der von Investoren neu gekauften und gepachteten Flächen Energiepflanzen und „Flexcrops“ angebaut.4 Im Zuge dieser „Verpachtungen“ finden Vertreibungen und systematische Missachtungen der Menschenrechte der lokalen Bevölkerung statt – Macht und Landkonzentration inklusive. Auch MISEREOR erhält und bewilligt zunehmend Projektanträge, die dem Ziel dienen, Menschen über geplante Landverkäufe zu informieren und Rechtshilfe zu leisten. Auch vertriebene Familien und Gemeinden, oder jene, die unter den Pestiziden aus dem Agrospritanbau leiden, erhalten Unterstützung, um ihre Rechte auf ihr angestammtes Land, saubere Umwelt oder angemessene Entschädigungen durchzusetzen.5

III. Klimaschutznutzen höchst fraglich Wie oben erwähnt, müssen Agrartreibstoffe zur Anrechnung auf das 10 % Ziel nachweislich zum Klimaschutz beitragen. Zudem dürfen keine Kraftstoffe angerechnet werden, für deren Anbau Wälder zerstört worden sind. Allerdings verdrängt der Anbau von Energiepflanzen Ackerbau und Viehzucht für die Nahrungsmittelproduktion in bisher bewaldete oder divers und extensiv genutzte Flächen. Die Treibhausgasemissionen aus diesen Indirekten Landnutzungs___________ 2

FAO, IFAD, IMF, OECD, UNCTAD, WFP, the World Bank, the WTO, IFPRI, UN, HLTF (2011): Price Volatility in Food and Agricultural Markets: Policy Responses. S. 26 f. 3 Renewable Fuels Agency (2008): The Gallagher Review of the indirect effects of the bio-fuels production. S. 32. 4 EuropAfrica (2011): (Bio)Fueling Injustice? S. 26; ferner: ILC, CIRAD, IIED 2012. Land Rights and the Rush for Land. S. 29 ff. 5 Einen Überblick über die Folgen des Biospritanbaus und die Arbeit unserer Projektpartner bietet der MISEREOR Blog http://www.misereor.de/blog/tag/landraub/ und http://www.misereor.de/blog/tag/biokraftstoff/.

Nachhaltige Energieversorgung durch Bioenergie?

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änderungen („indirect land-use change“, ILUC) betragen laut konservativen Berechnungen für den Zeitraum 2010–2020 500–830 Millionen Tonnen Treibhausgase.6 Dies entspricht acht Prozent der gesamten Verkehrsemissionen der EU im Jahr 2007, die gar nicht erst in den Klimabilanzen auftauchen!

IV. Der schwierige EU Reformprozess Auch die EU-Kommission hat erkannt, dass Biosprit wenig zum Klimaschutz beiträgt und sich negativ auf die Ernährungssicherheit der Weltbevölkerung auswirkt. Sie legte daher Ende 2012 einen Reformvorschlag vor. MISEREOR hat diesen als nicht ausreichend bewertet, da der Vorschlag keinen Abstand vom Mengenziel vorsah – wie von den o. g. internationalen Organisationen gefordert. Dies ist umso besorgniserregender, da die EU weiterhin auf weitreichende, verpflichtende Sozialstandards verzichtet und damit gar nicht erst versucht zu verhindern, dass Menschen für die Produktion von Agrartreibstoffen vertrieben und Menschenrechte verletzt würden. Immerhin sollten aber die Bedingungen an den Agrarkraftstoff geändert werden, die auf 10 % Ziel angerechnet werden dürfen: Der Reformvorschlag sah erstens vor, dass der Anteil von Nahrungsmitteln zur Zielerreichung auf 5 % gedeckelt wird. Die restlichen fünf Prozentpunkte hätten dann etwa durch Ökostrom im Schienenverkehr oder durch Agrarkraftstoffe aus Ernteabfällen erzielt werden müssen. Die Deckelung des Nahrungsmittelanteils auf fünf Prozent entspräche in etwa dem derzeitigen Niveau.7 Zweitens sollten moderne Agrarkraftstoffe der zweiten und dritten Generation (aus Ernteabfällen, Lebensmittelresten, Holz oder auch Algen) mehrfach angerechnet werden. Dies soll die Entwicklung der Technologien zur Herstellung der Kraftstoffe voranbringen, da sie bisher nicht marktfähig sind. An dieser Stelle soll abermals vor Augen geführt werden, dass die Probleme nicht allein darin bestehen, dass Nahrungsmittel eingesetzt werden, sondern dass potenzielles Ackerland genutzt wird. Auch für die modernen Agrartreibstoffe könnte jedoch Ackerland benötigt werden (z. B. Holz für die Produktion von Treibstoffen der zweiten Generation). Die Geschichte des Biosprits der ersten Generation sollte lehren, dass Chancen und Risiken abgewogen werden, bevor eine neue Technologie gefördert wird, die knappes Land in Anspruch nehmen könnte. ___________ 6

IEEP (2011): Anticipated Indirect Land Use Change Associated with Expanded Use of Biofuels and Bioliquids in the EU, S. 16. 7 Angesichts steigender Kraftstoffverbräuche in der EU würde dies dennoch eine leichte Steigerung bedeuten.

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Drittens sollten die Emissionen aus indirekten Landnutzungsänderungen (ILUC) angerechnet werden, was zu ehrlichen Klimabilanzen geführt hätte und auch ein wichtiger Beitrag gewesen wäre, um den Druck auf Wälder und Ackerland durch die EU Erneuerbaren Energien Ziele zu senken.

V. Abschluss des Reformprozesses in Sicht Der Vorschlag der Kommission wurde bis Mai 2014 zwischen den vielen beteiligten Ausschüssen (u. a. Energie, Umwelt, Landwirtschaft) beraten und wird dem EU Parlament im Herbst 2014 zur zweiten Lesung vorgelegt. Laut des gegenwärtigen Textes, der im Herbst 2015 in die zweite Parlamentslesung geht, soll der Anteil an Biokraftstoffen aus Nahrungsmitteln bei 7 % gedeckelt werden. Der Druck auf die Landflächen der Welt wird also weiter steigen, da der Bedarf an „Bio“sprit – staatlich verordnet – weiter ansteigen wird (wenn auch weniger als durch die ursprüngliche Regelung). Die Regierungen können über die Emissionen aus indirekter Landnutzungsänderung (ILUC) berichten, müssen es aber nicht. Zukünftig sollen außerdem 0,5 % der Quote durch den Einsatz von „Bio“sprit der zweiten und dritten Generation erzielt werden (darauf können Regierungen aber auch verzichten). Damit ist die Reform zu einem Papiertiger verkommen, der den Namen nicht mehr verdient. Dieser Reformprozess zeigt auf, wie schwer es ist, einmal beschlossene Pfade der Energiepolitik zu korrigieren, wenn sich Landwirtschaft und Industrie einmal an die entsprechenden politischen Rahmenbedingungen angepasst haben. Er zeigt aber vor allem auf, wie sorgfältig zukünftig in der Bioenergiepolitik agiert werden muss.

VI. Verkehrswende statt Bio“sprit Keine Frage – auch der Verkehrssektor muss einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Die Abkehr von Erdöl ist zudem allein deshalb geboten, weil bei dessen Förderung massive Umwelt- und Menschenrechtsprobleme auftreten8. Agrarkraftstoffe boten sich als einfachste Alternative an: Denn das System des individuellen motorisierten Verkehrssystems als solches schien auch angesichts der Erfordernisse des Klimaschutzes plötzlich wieder zukunftsfähig. Dies hat sich jedoch als Irrweg erwiesen, den es dringend zu korrigieren gilt. Die Vision von Mobilität für alle und nicht der individuelle Verkehr sollten eine zukunftsfähige Verkehrspolitik leiten, wozu insbesondere ein mutiger und intelligenter Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs gehört sowie neue Formen der Stadt- und Siedlungsplanung. Auf dem Weg dahin gilt es, den Spritver___________ 8

MISEREOR (2007): Erdöl. Reichtum, der arm macht.

Nachhaltige Energieversorgung durch Bioenergie?

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brauch der Fahrzeuge zu verringern und den Trend zum „größer, stärker, schneller“ zu durchbrechen. Allein der Einsatz von Leichtlaufreifen kann die Emissionen im Verkehr um 3 % senken. Zur Erinnerung; Dies ist der nahezu Beitrag, den „Bio“sprit zu leisten vermag – diesmal aber ohne Risiken und Nebenwirkungen! Diese technischen, kleinteiligen Maßnahmen dürfen allerdings nicht von der notwendigen Verkehrswende ablenken.

VII. Die Zukunft der Bioenergie Bioenergie als solche ist der älteste und nach wie vor für mindestens drei Milliarden Menschen wichtigste Energieträger für Licht und Wärme zum Heizen und Kochen. Die Nahrungsmittelversorgung für den Menschen steht insofern schon immer in – zumindest theoretischer – Konkurrenz mit dem Energiebedarf. So können Wälder für die Produktion von Brennholz genutzt oder in Weide- und Ackerland umgewandelt werden. Selbst die Frage „Tank oder Teller? stellt sich seit Menschengedenken: Ochs, Esel und Pferd werden u. a. als Zugtiere genutzt und dienen damit demselben Zweck, wie ein Auto oder Traktor. Auch sie benötigen Land und Nahrung. In einer idealen Agrarkultur legen Menschen allerdings Mischkulturen an (z. B. pflanzen sie Hecken zur Brennholzgewinnung am Feldrand). Wenn Konkurrenzen nicht vermeidbar sind, werden die unterschiedlichen Interessen an das Land sorgfältig gegeneinander abgewogen und ggf. immer wieder angepasst. Unter dieser Perspektive ist die ethische Frage, ob Nahrungsmittel und potentielles Ackerland zur Energiegewinnung genutzt werden dürfen, grundsätzlich nicht zu verneinen. In einer globalisierten Welt mit weltweiten Wertschöpfungsketten haben integrierte Systeme, die sich an den lokalen Bedürfnissen marginalisierter Gruppen in Entwicklungsländern ausrichten, keinen Platz und werden schlichtweg als ineffizient betrachtet. Daher müssen der Wirtschaft strenge gesetzliche Grenzen gesetzt werden – sowohl in den Anbauländern der Biomasse als auch in den Nutzerländern. Die von Prof. Wiemeyer aufgeworfenen Dimensionen der Gerechtigkeit (Beteiligung-, Bedarfs-, Chancen, Leistungs- und intergenerationelle Gerechtigkeit) beschreiben diese Grenzen sehr gut. Sie müssen jedoch um zwei Aspekte ergänzt werden: Die Menschenrechte und den Klimaschutz. Die Menschenrechte greifen die unterschiedlichen Dimensionen auf (bis auf die intergenerationelle Gerechtigkeit), machen aber deutlich, dass es sich hier um Rechtsansprüche eines jeden Weltbürgers handelt, denen Regierungen, Unternehmen sowie jedes Individuum verpflichtet sind. Bioenergie sollte zudem nur dort eingesetzt werden, wo es lokal die beste Alternative darstellt und der Klimanutzen als besonders hoch anzusehen ist und

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Anika Schroeder

eben nicht dort, wo andere Alternativen zu ungemütlich scheinen (wie im Verkehrssektor). Die effizienteste Nutzung kann erfolgen, wenn sie lokal produziert und genutzt wird und der gleichzeitigen Erzeugung von Strom und Wärme dient9 und in lokale Kreisläufe eingebettet ist. Sogenannter „Bio“sprit kann diese Kriterien derzeit nicht erfüllen.

___________ 9 Sachverständigenrat für Umweltfragen (2007). Klimaschutz durch Biomasse (Sondergutachten), S. 57.

Autorenverzeichnis Althammer, Jörg, Prof. Dr., Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensethik, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Aufderheide, Detlef, Prof. Dr., Professur für Wirtschaftsethik und Strategisches Management, SiB School of International Business, Hochschule Bremen, zuvor Gründungsinhaber des Dr. Jürgen Meyer Stiftungslehrstuhls für Internationale Wirtschaftsethik, HSBA Hamburg School of Business Administration, Hamburg Hajduk, Thomas, Institut für Wirtschaftsethik, Universität St.Gallen Henn, Markus, Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung – WEED e.V., Berlin Jering, Almut, Umweltbundesamt, Dessau-Roßlau Kalkuhl, Matthias, Dr., Zentrum für Entwicklungsforschung, Universität Bonn Klatt, Anne, Umweltbundesamt, Dessau-Roßlau Klein, Katharina, Wirtschaftswissenschaftlerin, Stuttgart Küppers, Arnd, Dr., Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle, Mönchengladbach Lachmann, Werner, Prof. i.R. Dr. h.c. Ph.D., ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschafts- u. Entwicklungspolitik, Universität Erlangen-Nürnberg Meyer, Eric Christian, Dr., Institut für Genossenschaftswesen, Universität Münster Nass, Elmar, Prof. Dr. Dr., Professur für Wirtschafts- und Sozialethik, Wilhelm Löhe Hochschule, Fürth Sauerland, Dirk, Prof. Dr., Lehrstuhl für Institutionenökonomik und Gesundheitspolitik, Universität Witten/Herdecke Schallenberg, Peter, Prof. Dr., Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle, Mönchengladbach Schroeder, Anika, Bischöfliches Hilfswerk MISEREOR, Aachen Sommer, Maximilian, Dr., Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensethik, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Wiemeyer, Joachim, Prof. Dr., Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre, Bochum Wilhelmi, Rüdiger, Prof. Dr., Lehrstuhl für bürgerliches Recht, Universität Konstanz