Marie Hillebrand (1821–1894): Ihr Leben und erzieherisches Wirken [Reprint 2019 ed.] 9783111553290, 9783111183688

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Marie Hillebrand (1821–1894): Ihr Leben und erzieherisches Wirken [Reprint 2019 ed.]
 9783111553290, 9783111183688

Table of contents :
An die Verklärte. Widmung
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Bemerkungen zur gegenwärtigen Ausgabe
Erster Theil. Das Reben
Zweiter Theil. Das Wirken
Anhang

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Marie Hillebrand (1821 — 1894)

Ihr Leben unö erziehliches Wirken.

Von

Jean Molanö. Nebst Originalbriefen von Marie Hillebrand als Anhang.

Gießen I. Nicker'sche Buchhandlung

1895.

Nlke Rechte vorbetzalken.

Dmck von Reinhold Baist in Frankfurt a. M.

An Sie Verklärte. Widmung.

„Den Menschen schuf sich Gott zum Ebenbild!?—“ Wer zweifelte nicht oft an jener Sage Beim Häßlichen, das überall zn Tage Tritt, und entweiht der Menschheit Ehrenschild? Doch wer Dich sah, so weise, fest und mild, Zum Helfen mächtig in jedweder Lage, Der rief, gestärkt im Glauben: „Keine Frage! „Wohl ist der Mensch der Gottheit Ebenbild!"

So ruhe sanft! Umsonst nicht war Dein Leben; Verdanken doch die vielen Seelen Dir Ernst-heitern Sinn und unentwegtes Streben!

Dein Segen wächst und. wuchert für und für; Der Welt verbleibst Du, denn fort wirkt in ihr Beispiel wie Lehre, welche Du gegeben.

Inhaltsverzeichnis

Seite Widmung...........................................................................................................................HI Vorwort...................................................................................................................... V

Erster Theil.

Das Leben.

I.

Kindheit und erste Jugend................................................................................1

II.

Schilderung der voll entwickelten Persönlichkeit...................................... II

III. Erster Aufenthalt in Paris.........................................................................16

IV. Rastatter Episode............................................................................................... 19 V.

Zweiter Aufenthalt in Paris mit ihrem BruderKarl............................. 21

VI.

Kurzer Aufenthalt in England.................................................................. 24

VII. Anfang

der

selbstständigen

pädagogischen

Thätigkeit,

ließen.

Offenbach.......................................................................................................... 27

VIII.

Mangel an schriftlichen Quellen über dies Wirken................................ 32

IX. Verlegung des Instituts nach Rödelheim (1854), nach Soden (1867),

nach Neuenhain (1871).

Letzte biographische Notizen .

Dwerker Theil. X. Rödelheim.

....

33

Das Wirken.

Eigenthümliches Gepräge der Anstalt................................. 36

XI. Des Unterrichts Resultate und Methode.................................................. 41

XII. Unterricht und Lebenszuschnitt im Dienste der Erziehung ....

49

XIII. Disziplin und Verfassung.............................................................................. 57

XIV. Wie ein scheinbares Hinderniß eine Bedingung des Erfolgs war .

59

XV. Souveräne Stellung und nach allen Richtungen hin überlegene Einsicht der Vorsteherin.

Gesundheit. XVI. Nachwirkung

.

.

dieser

Ihre Sorge für geistige wie physische

............................................................................................ 60

Erziehung

durchs

ganze

spätere

Leben

der

Schülerinnen.....................................................................................................67

XVII.

Schluß.................................

68

Anhang........................................................................................................................... 71

Als vor einigen Monaten die großartige Erscheinung, deren

Andenken die vorliegende Schrift gewidmet ist, vom Schauplatze

des Lebens verschwunden war, stand es fest für Alle, die sie ge­ kannt und gewürdigt hatten, daß einer so ausnehmend hervorragen­ den Persönlichkeit, einem so bedeutenden Wirken

ein schriftliches

Denkmal zu setzen sei. Dem Mangel aller Memoiren und sonstiger

Aufzeichnungen von ihrer Hand mußte aber durch eine andere ab­

geholfen werden.

Und wieder stand es bei ihren Freunden eben­

falls vom ersten Augenblicke an fest, daß diese Aufgabe nur mir, dem Schreiber dieser Zeilen, übertragen werden könne.

Warum gerade mir? Was bin ich, der Namenlose, in weiteren

Kreisen völlig Unbekannte, der so gut wie nie für die Oeffentlichkeit geschrieben hat? Dieser berechtigten Frage gegenüber muß ich meine

Befugniß zum Auftreten in dieser Sache legitimiren. Dies soll in möglichster Kürze hier geschehen. Zu Marie Hillebrand

wurde ich,

kaum erst 22 Jahre

alt, durch eine Verkettung ungewöhnlicher Unlstände (Silbe

1856

geführt. Durch Bildungsgang, Neigung und Verhältnisse auf den Lehr­

beruf

angewiesen,

würde

Professeur an irgend

ich

in -Frankreich,

meiner

Heimath,

einem Gymnasium geworden sein, hätten

nicht die politischen Ereignisse vom December 1851 zwischen dem

VI offiziellen Staatsorganismus

und

dem Knaben, der ich damals

war, das Tafeltuch zerschnitten.

Es wurde nämlich im Jahre 1852 meine Mutter/) blos weil mit

mißliebigen und gefürchteten Persönlichkeiten befreundet, ohne Rich­ terspruch, auf rein administrativem Wege nach Algerien depor-

tirt, dort, weil sie zu keinem Gnadengesuch, an das Haupt der

Abenteurer-Regierung sich herbeiließ, von Kerker zu Kerker, vom äußersten Westen bis zum äußersten Osten der langgestreckten Ko­ lonie, ja bis an die Grenze der Sahara geschleppt. Als es endlich

ihrem treuen Freunde, dem alten Dichter Beranger, gelungen war, durch geschickte Benutzung eines günstigen Zufalles ihre be­ dingungslose Freilassung zu erzwingen, starb sie auf der Rückreise

an den Folgen der monatelangen Mißhandlung. x) Meine Mutter, Pauline Noland, war eine nach mehreren Seiten

hin hervorragende mächtige Persönlichkeit. Mit der Fähigkeit und dem Bedürfniß, sich für Prinzipien 311 begeistern, denen sie Alles und schließlich ihr Leben opferte, verband sie lebhaften Geist und glühende Liebe für die Menschheit. Ihrer Bered­ samkeit bei ernstm Anlässen kam nur ihre liebenswürdige Einfachheit im täg­ lichen Umgänge gleich, durch welche letztere allein begreiflich wird, daß sie, bei entschiedenster Parteistellung im öffentlichen Leben, auch in gegnerischen Kreisen

stets beliebt blieb. Mit Beranger, George Sand, Edgar Quinel, Jules Michelet und deren

Geistesbrüdern, mit der Phalanx jener bedeutenden Männer aus der SaintSim onisten-Schule, die später unterm zweiten Kaiserreiche den wirthschaftlichen Aufschwung Frankreichs einleiteten, mit Sozialistenführern und Koryphäen aller

liberalen Nüancen (mit Ausnahme der doktrinären) befreundet, flößte sie dabei auch streng katholischen Damen aus dem legitimistischen Adel eine unerschütter­ liche Zuneigung ein, von der noch lange Jahre nach ihrem Tode rührende Kund­

gebungen mir begegneten. Selbst eine nicht verächtliche Schriftstellerin, imponirte sie durch allseitige

Geistesbildung und durch eine, im damaligen Frankreich noch seltene Vertraut­

heit mit ausländischer Sprache und Literatur. In der streitbaren Demokratie knüpfte sich an ihr Märtyrerthum ein legen­ därer Kultus, der noch nicht erloschen zu sein scheint. Hat doch noch erst kürzlich in Paris eine Straße den Namen 'N ne Pauline Roland erhalten. Wer über ihr schreckliches Ende mehr als das hier Gesagte erfahren möchte,

sei auf das ihr gewidmete Gedicht in den Chätim ents von Victor Hugo und auf Ribeyrolles Bagnes d’Afrique (London 1853) verwiesen..

VII Nach solcher Erfahrung war für mich nicht nur der Gedanke an eine Staatsanstellung ins Reich der Unmöglichkeit gerückt, son­

dern ich trat auch zu den Bonapartes, von Naturrechts wegen,

u ein reines Vendetta - Verhältniß.

Ich war gottlob keine Korsi-

karernatur; aber es wird Niemanden wundern, daß ich an der

erstm Kundgebung eines erwachenden politischen Widerstandes im Jannar 1856 *) mich betheiligte. Ebenso selbstverständlich wurde ich

festgenommen und zu einer Gefängnißstrafe verurtheilt, nach deren Absitzen ich, nicht minder natürlich, sofort in eine Verschwörung

mich einließ. *) Es war dies ein Studenten-Krawall,

Dozenten

gerichtet.

Eine einigermaßen

Knabenstreich behandelt.

gegen einen besonders servilen

kluge Regierung hätte die Sache als

Es scheinen aber die traurigen Staatsmänner von da­

mals durch die Thatsache erschreckt und verwirrt worden zu sein, daß sie schon so kurz nach dem Staatsstreiche es mit den Söhnen der Proskribirten zu thun

bekamen. Als wenn überhaupt, nach so brutaler Gewaltthat, die Vergeltung for­

dernde Reaktion hätte ausbleiben können.

— Wie dem auch sei, von der Re­

gierung war es ein taktischer Fehler, die Angelegenheit als eine politische zu behandeln.

Daß derselben übrigens dieser Charakter objektiv zukam, war nicht zu verkennen. Auf dem ganzen Wege von der Aula der Sorbonne nach der Polizei­

präfektur wurden wir Verhafteten von der Bevölkerung durch Hutabnehmen ach­ tungsvoll gegrüßt, ja stellenweise akklamirt.

Hatten wir doch dit

son

fait

au coup d’etat!

Bei der Gerichtsverhandlung war der vorsitzende Richter takt- und würde­ los

genug,

in

offener

Sitzung den anwesenden

Reporters

der ausländischen

Presse zu bedeuten, daß etwaige Berichterstattung über diesen Prozeß (der doch

ohne Ausschluß der Oeffentlichkeit stattfand) ihre Blätter um die Erlaubniß zum Debit in Frankreich bringen könne. Unsere Vertheidigung hatten die politisch bedeutsamsten Spitzen der Pariser

Advokatur übernommen. So Emile Ollivier, der sich damals von seinen späteren bonapartistischen Wandlungen nichts träumen ließ, und außer anderen berühmten

Namen der alte Staatsmann Dufaure, vor dessen Ansehen und verachtungsvollem

Auftreten sich Staatsanwalt und Richter am liebsten verkrochen hätten. Eine (ohne jede Pose angenommene) Römerhaltung ließ Haupt der

ganzen „Verschwörung"-' betrachten, was

mich

als

das

mich um so komischer an-

muthete, da ich, erst im allerletzten Augenblicke von der Absicht einer Manifestation

verständigt, mich kaum noch zu rechter Zeit eingefunden hatte.

Ich war aber

nun einmal ein Held, wußte ich auch selber nicht wie. — Als ich drei Monate

VIII Wohl fing ich schon damals an, mich von den revolutionären Bestrebungen, deren Hohlheit der durch Privat - Studien geweckte historische Sinn mich ahnen ließ, innerlich abzuweuden.

Aber vor

der Hand nur innerlich; bis zu völliger Klärung der Ansichten

wirkten die früher empfangenen Impulse weiter fort. Einsichtige ältere Freunde, die mich mit Besorgniß so nutzlosen Gefahren ausgesetzt sahen, bestimmten mich, unter einem sich bieten­ den Vorwande, die ihnen ebenfalls befreundete Marie Hillebrand,

wie ich meinte auf kurze Zeit, zu besuchen.

Während ich in Rödelheim bei Frankfurt a. M. ihr Gast war, erfolgte in Paris meine zweite Verurtheilung, diesmal also in contumaciam.

Kehrte ich nun nach Frankreich zurück, so war

mir, der herrschenden administrativen Praxis gemäß, Cayenne sicher, wovon schon das erste Mal die Rede für mich gewesen sein soll.

Ich zog vor, deutsche Luft weiter zu athmen. Marie Hillebrand, die ja 1849 an ihrem Bruder Karl Aehnliches erlebt hatte, und die ohnehin für Unglückliche immer da war, nahm sich des unreifen Flüchtlings an, beschäftigte mich als

Sprachlehrer an ihrem Institut, und bemutterte mich ebenso, wie

sieben Jahre früher ihren Bruder.

Ich verdanke ihr den sehr

nöthig gewesenen Ausbau meines inneren Wesens und die rasche, gründliche Heilung vom revolutionären Wahntreiben, dem übrigens iii meiner Natur nichts Verwandtes entsprach.

später aus dem Gefängniß entlassen wurde, wollte man mich sehen und kennen lernen.

Ich wurde nolens volens von einem väterlichen Freunde, dem ange­

sehenen

Nationalhistoriker

Henri Martin,

in

vornehme oppositionelle

($. B. bei Madame d'Haussonville) cingeführt, wo ich

Häuser

armer Junge mich im

Bewußtsein meiner Ungeschliffenheit höchst unbehaglich fühlte,

und

nie wieder

erscheinen wollte. Daß mail mich irgendwo vermißt hätte, ist mir nie zu Ohren gekommen.

Mit dem Gesagte,l dürfte der politische Charakter der an sich nnbedcutendcn Afsaire Nisard außer Zweifel gesetzt sein.

IX

Durch Dankbarkeit wie durch äußere Umstände an Marie Hillebrand gebunden, war ich unter den sonst rasch wechselnden Persönlichkeiten das bleibende Element in ihren: Institut, ward uach und nach ihre rechte Hand und, wo es galt, ihr Vertreter und Be­ schützer. So habe ich bis zu ihrem Tode (im Ganzen 37—38 Jahre) ihr zur Seite gestanden, Arbeit und Sorgen wie Freuden des Be­ rufs mit ihr getheilt, und zuletzt der sonst Vereinsamten die Augen geschlossen. So hat Niemand in die Eigenthümlichkeit ihres Wesens und Wirkens tiefer blicken. Niemand von ihr selbst mehr mündliche Aufschlüsse über ihre früheren Erlebnisse erfahren können, und so hatten ihre Freunde wohl ein Recht, inich zum Entwerfen ihres Lebensbildes befugt zu erachten.

Frankfurt a. M., im October 1894.

Bemerkungen zur gegenwärtigen Ausgabe. Lebe«: und Wirken der großen Persönlichkeit streng gesondert zu behandeln, erwies sich unnröglich, da beide, mit einander innigst verknüpft, nur in einander volle Erklärung finden. So kommt im biographischen Theil Pädagogisches, im pädagogischen Biographisches vor. Und spottet nicht überhaupt die Natur aller Versuche, scharfe Grenzen zu ziehen und einzuhalten? Wünschenswerth erschien es, aus Marie Hillebrand's Original­ briefen Charakteristisches als Anhang zu veröffentlichen, damit der Leser sie selbst in der frischen Unmittelbarkeit ihrer Auffassung, in ihrer Pflichtfreudigkeit, in ihrem idealistischen Lebensmuth, in der Treue ihrer Freundschaft, in der liebevollen Erhabenheit ihrer Seelsorge kennen

X

lerne. Leider gestattet der mir gewährte Raum nur kärgliche Proben aus dein überaus reichen Material, so daß die Wahl zur Qual wurde. Und nun noch ein Wort in eigener Sache. — Freunde, deren Urtheil mir sonst viel gilt, tadelten in diesem Schriftchen die öftere Erwähnung von Dingen, die in's Gebiet des Unbegreiflichen spielen. Ich bin kein Mystiker, kein Spiritist, habe mich nicht einmal je versucht gefühlt, in die Mysterien der Hypnose als uilberufener Laie zu blicken. Aber Thatsachen, die mir als solche feststehen, da sie entweder von mir selbst erlebt, oder von einwandsfreien Zeugen mir bestätigt wurden, durfte ich, da sie für die geschilderte Persönlichseit so bezeichnend sind, aus kleinlicher Rücksicht nicht ver­ schweigen. Darüber zu grübeln, oder gar daraus Consequenzen abzuleiten, sei getrost Anderen überlassen.

Frankfurt a. M., im Januar 1895. Jean Koland.

Erster Theil.

DaF Reben. i.

Die zu Bad Sodeu aut Taunus ant 4. April 1894 verstorbene

Marie Katharina Ängrlica Hillebrand war am 2. Februar 1821 in Heidelberg geboren,

als Tochter des Professors der Philosophie

Dr. Joseph Hillebrand und seiner aus einer Beamtenfamilie

stammenden Ehefran Babette Eschborn.

Von beideit Eltern gingen reiche Gaben auf sie über: vom Vater ernstes geistiges Streben und Tiefe des Deitkens, von der

Mutter der ttnwiderstehliche Reiz eines liebevollen, selbstlosen, anmuthsvollen Wesens.

An Heiterkeit, an Feinheit des Gefühls, an Wärme

der humanen Gesinnung waren beide Gatten einander gleich. In den vierzehn Jahren (1856—1870), die ich in der Nähe des alten

Professors verbracht, lernte ich an ihm einen der edelsten und geistvollsten

Menschen schätzen, und begriff wohl die liebende Verehrung, die ihm seine ehemaligen Schüler bis zu seinem Lebensende bewahrten. Als ich in den Hillebrand'schen Kreis kam,

war Marien's

Mutter schon über dreißig Jahre todt; ihr Andenken fand ich aber bei Vieleit noch lebendig.

Manche Männer und Frauen habe ich

kennen gelernt, die nach so langer Zeit noch immer nicht ohne Rührung von der herrlichen Frau sprechen konnten.' Eine treue

Freundin Marien's (um 10—12 Jahre älter als diese) hörte ich erzählen, wie sie sich als Kind immer gefreut habe, wenn sie aus

stiller

Ecke die liebe Professorin

lauschen durfte.

sich

ansehen und

ihrer

Worte

2 Die durchaus „seelische"*) Frau gehörte zu den seltenen Menschen, deren feine Organisation prophetische Ahnungen zeitigt.

Davon sei ein an's Wunderbare grenzendes Beispiel angeführt, das

nur das Zeugniß ihres von abergläubischem Hange durchaus freien Gatten mir glaublich machte.

Er erzählte es gern als einen Be­

weis, daß „es zwischen Himmel und Erde mehr Dinge gibt, als

unsere Schulweisheit sich träumt." Kurz nach der Verheirathung träumte es der Frau in Heidel­ berg, sie sähe auf einem Friedhofe die eigene Grabstätte und

würde ihr ein katholisches Todtenamt abgehalten.

es

Letzteres Gesicht

hielt sie für die täuschende Nachwirkung jugendlicher Eindrücke/)

und sie schlug es sich aus dem Sinne. Aber das im Schlaf gesehene Grab ließ ihr keine Ruhe; allsonntäglich besichtigte sie mit ihrem

Manne in Heidelberg und Umgegend alle Friedhöfe, ohne den ge­ träumten wieder zu finden.

Nachdenr 1822 Hillebrand als Profesior der Philosophie nach Gießen gezogen war, erkannte seine Frau gleich beim ersten Spazier­ gang den einst im Schlafe gesehenen Friedhof, auf dem sie auch

nach wenigen Jahren zur Ruhe bestattet ward. —

Einige Tage

nachher erfuhr aber ihr Mann, daß sein Kollege und Freund, der

strengkatholische Professor der Jurisprudenz Linde/) für die Ver­

storbene ein katholisches Todtenamt habe lesen lassen.

So buch­

stäblich hatten ihre Träume sich erfüllt.

Die oft quälende Gabe solcher Ahnungen hatte Marie Hillebrand 9 Mit diesem Ausdrucke bezeichnete stets Joseph Hillebrand das

Wese»

seiner ersten Gemahlin. 2) Sie stammte ebenso wie ihr Mann aus

waren aber von der Kirche ganz abgelöst.

werben.

Hillebrand,

katholischer Familie,

beide

Ihre Kinder liehen sie protestantisch

ein Bauernsohn ans dem Hildesheimischen, hatte Priester

werden sollen und, glaube ich, sogar die niederen Weihen bereits empfangen. In

Göttingen entfremdeten ihn die philosophischen Studien dem kirchlichen Glauben, und feinem wissenschaftlichen Streben war von der

katholischen Abstammung

nichts anzumerken. 3) Linde war später Grohherzl. Staatsnrinister und als Herr v. Linde bis

1866 Bundestagsgesandter für Liechtenstein und ein paar andere Zwergstaaten.

Mit

der Familie Hillebrand

blieb er,

Anschauungen, stets innig befreundet.

trotz dem diametralen Gegensatze der

3 von der Mutter geerbt, litt sehr darunter, hatte derselben aber in ihrem Berufe als Erzieherin viel zu verdanken. Hillebrand's zweite Frau, Caroli ue Hoffmann aus Rödel­

heim, die Tochter eines angesehenen Pädagogen, war, nach allen

Berichtens und nach ihrer

noch

verhandelten

Correspondenz

zu

urtheilen, eine geist- und talentvolle Persönlichkeit, die mit großer

Liebenswürdigkeit im gesellschaftlichen Umgänge hochherzigste

Ge­

sinnung verband. Mit berechtigten: Stolze auf den Seelenadel seiner zweiten

Gattin erzählte mir der alte Professor, wie schön sie sich einst in

Gießen einer Honoratioren-Familie angenommen, die plötzlich, in Folge schwerer sittlicher Vergehungen ihres Oberhauptes, allgemeiner

Aechtung verfallen war.

Die vervehmten Leute ließ Frau Caroline

nicht fallen, hielt vielinehr (mit ihrem Gemahl darin ganz einig) offen zu ihnen mit einem Muthe, der schließlich den unschuldig Leideilden zu gesellschaftlicher Rehabilitirung verhalf. Solche Unerschrockenheit der christlichen Liebe voll zu würdigen,

muß man bedenke», daß sie vor nunmehr fünfzig Jahren in eng­ herzigster kleinstädtischer Umgebung zur Bethätigung kam.

Trotz aller edlen Eigenschaften der zweiten Mutter war ihr

Verhältniß zu Marien lange Jahre hindurch Mit befriedigendes. Einer ungetrübten Beziehung standen in der That zu viele Hindernisse

im Weg. — Frau Caroline betete ihren Gemahl an, und hätte ihm Alles in Allem sein wollen; so mußte sie von seiner unver­

kennbaren Vorliebe zu der Tochter, deren Wesen ihn stets an die erste Frau erinnerte, peinlich berührt werden.

Auch die äußeren

Umstünde waren, ohne irgend Jemandes Verschuldung, dazu ange­ than, der Mutter beständig weh zu thun.

Ein sehr schlechter Ge­

sundheitszustand gestattete ihr nicht, den Repräsentationspflichten voll zu genügen.

In die Lücke mußte naturgemäß die älteste Tochter

einspringen, und wurde früh in Folge dessen als das weibliche

Haupt der Familie betrachtet.

Zit dieser unwillkürlichen Kränkung

trat noch Mariens innere Selbstständigkeit, um die Frau in ihrem

natürlichen Streben nach Herrschaft zu verletzen. „Du widersprichst x) Auch sie war längst gestorben, als ich mit der Familie bekannt wurde.

4 nie", sagte oft die Mutter, „Du gehorchest immer, aber ich spüre dabei stets, daß sich Dein Sinn nicht fügt."

Da die fortwährende Kränklichkeit der armen Frau die von ihr immer wieder angestrebte Selbstüberwindung zur Unmöglichkeit

machte, da andererseits Marie, der es stets gebietendes Bedürfniß

war, mit sich selbst, mit ihrem Denken und Fühlen im Klaren zu sein. Erwachsenen gegenüber kein rechtes Verständniß für das ihrer

Natur ganz fremde chaotische Ringen widerstreitender Gefühle in

einem und demselben Herzen hatte (zu solchem Verständniß konnte

sie auch später nie recht gelangen), so machten sie sich bei unver­ kennbarer Liebe zu einander gegenseitig nicht glücklich.

Erst in der

letzten Lebenszeit der Mittler gewann bei ihr Liebe und Vertrauen

zu der Stieftochter entschieden die Oberhand. Für dieses Mißverhältniß fand übrigens das junge Mädchen in und außer dem Elternhaus reichliche Entschädigung. — In der

Zeit von 1825 bis

1850 stand Gießen mit an der Spitze der

deutschen Universitäten. Wirkten doch hier in jener Zeit eine Reihe

weithin berühmter Dozenten.

Der evangelische Theolog Credner,

die Juristen Arens, Marezoll, Grolman, Jakob Dernburg,

in der medizinischen Fakultät Wilbrandt, der Kliniker Balser,

der Chirurg Wernher, später Bischoff und Bardeleben, in der philosophischen (man weiß wie Verschiedenes unter dieser Rubrik

zusammengefaßt ward) Joseph Hillebrand, Justus Liebig,

der Mathematiker Umpfenbach, Heyer (einer der Begründer der Forstwissenschaft), der Sanskritist Bullers, Osann, Schmitt-

heuner, Moritz Carriere, Karl Vogt, Knapp, Kopp rc. rc. waren Namen von bestem, vollstem Klang, deren Ruf aus dem

In- und Ausland strebsame Jugend herbeilockte. Liebig besonders übte eine in weite Ferne reichende Attraction. Seiner bahnbrechenden Thätigkeit verdankte es Gießen, wie es mit Recht in einer akademisch-historischen Schrift heißt, „in der ganzen

„weiten Welt, so weit noch Kultur reichte, genannt und bekannt

„zu werden,

wie London,

Paris

oder Rom."

Zu Liebig's

Vorlesungen strömten Schüler nicht nur aus ganz Europa, sondern

aus Ostindien und Spanisch-Amerika.

In den Studenten - Ver­

zeichnissen stehen eine Menge später berühmt gewordener Namen.

5 An die Anwesenheit so vieler regsamen, zum Theil sehr reichen

jungen Leute knüpfte sich

dieselbe spielte sich

nicht

naturgemäß

eine lebhafte Geselligkeit;

am wenigsten bei Jos. Hillebrand

ab,

dessen Collegien über Aesthetik und deutsche Nationalliteratur nicht nur von der Studentenschaft, sondern auch von den Spitzen der

gebildeten Gesellschaft, oft Männern mit greifen Haaren, gerne besucht

wurden, und dessen Liebenswürdigkeit, wie die seiner Gemahlin und seiner drei Töchter, das Haus zu einem höchst anziehenden machte.

— Nach den Berichten, die ich von den verschiedensten Seiten ver­

nommen, muß damals in Gießen eine quasi Weimar'sche geistige Atmosphäre geweht haben. In solch anregendem Treiben wuchsen die Töchter des Hauses

heran, fast immer in Gesellschaft von munteren und begabten jungen

Mädchen aus verwandten oder befreundeten Familien. Mit mehreren dieser Jugendgespielinnen

blieb Marie durch

eine Freundschaft verbunden, welcher nur der Tod ein Ende machte.

Einige derselben, die sie überlebt haben, hatten die Güte, mir durch Mittheilung von Correspondenzen zu vorliegender Arbeit werthvolles

Material zu liefern.

Marie wurde natürlich öfters zu längerem

Besuch in deren Familien eingeladen.

Auch die Eltern ihrer zweiten

Mutter, Herr und Frau Dr. Hoffmann in Rödelheim, sahen sie oft und gerne bei sich.

Ueberall machte sie sich beliebt durch thätige Herzensgüte und

ungeheucheltes Wohlwollen; und ihre geistige Ueberlegenheit ward um so williger anerkannt, da sie selbst in ächter Bescheidenheit die­ selbe nie fühlbar zu machen suchte.

So ward ihr das Glück zu Theil, ungemein Vielen treue

Freundschaft

einzuflößen;

und pessimistischen Ansichten

gegenüber

durfte sie sich stets auf eine persönliche Erfahrung berufen, die ihr in der Welt, an den Menschen so viel Schönes und Gutes ent­ gegengebracht.

Schon ihre Jugendbriefe zeigen sie als die einsichtsvolle Seel­ sorgerin, die sie zeitlebens bleiben sollte.

In jeder Gewiffensftage,

nach jedem peinlichen Erlebniß wandten sich die Freundinnen um

Rath und Trost an Marie, deren Liebe wahrlich keine verzärtelnde

6 war: wenn es galt, Unrecht zu verhüten, oder wenn Begangenes sich noch gutmachen ließ, da trat sie mit der ganzen Wucht des höchsten

sittlichen Idealismus auf, unbarmherzig die Herzensschwäche geißelnd,

und die unbewußte Sophisterei beschönigender Kasuistik entlarvend. Unwiderruflich Geschehenes dagegen faßte sie stets milde auf und wußte

den Selbstvorwürfen der Freundinnen das Niederdrückende zu be­ In folgenden Stellen aus Briefen, die Marie als junges

nehmen.

Mädchen an eine Freundin richtete, kommt neben der Innigkeit ihres Freundschaftsgefühls der tiefe Ernst ihrer sittlichen Grund­

anschauung sowie ihre seelsorgerische Milde zu bezeichnendem Ausdruck: „Gottlob, daß Du von der schweren Krankheit genesen bist!

„Ich glaube, wenn Du hinübergegangen wärest. Du hättest mich „mitgezogen ... — Ich bin fest überzeugt, daß eine geistige „Harnlonie nie aufhört, in welcher Weise sie auch besteht; und

„oft sind wir hier weiter getrennt, als von einer anderen Welt

„herüber. — Sterben ist nicht sein Kleid ablegen und es in's „Grab einschließen, woraus die Natur zu rechter Zeit ein anderes „macht.

Aber Sterben ist vom Weg der Wahrheit ab­

kommen, und dann begräbt der Mensch sich selbst.

„Verzeih'

mir,

liebe

L.,

ich

komme in

einen

philosophischen

„Discours; ich glaube, ich habe ein paar Fädchen von Sokrates' „altem Kleid erwischt. „widerrufen will.

Verzeih' mir, denke aber nicht, daß ich

Obiges ist meine feste Ueberzeugung" ....

„Immer höher schützt man Güte und Barmherzigkeit, und

„immer betrübender ist der Gedanke, diesen Pflichten hie und da „wohl nicht genügt zu haben.

Aber, liebe L-, man ist auch

„dann mitunter zu scharf im Urtheil gegen sich selbst. „Man vergißt, wie die damalige Lage nach allen Seiten gewesen, „und wie ja auch die Dinge anders und zum Besten Hütten aus-

„fallen können. — Und ist es denn so schlimm geworden? Heißt „es doch mit Recht: „Du gingst voran, und hast nicht viel verloren!"

Solche Reife und überlegene Ruhe eines noch jungen Gemüthes

hat

zur selbstverstündlichen

Voraussetzung

siegreich

durchgemachte

innere Kümpfe und die Bekanntschaft mit alleil normalen Formen

des Gefühls.

Auf die Seele Marie Hillebrand's hatte eine Jahre

lang gehegte Liebe läuternd und vertiefend gewirkt.

7 Noch im hohen Alter gedachte sie dieses Verhältnisses in einer

Weise, die auf innigste Tiefe der unglücklich ausgefallenen Beziehung schließen ließ.

Nicht als hätte sie gerne und oft das Thema zur

Sprache gebracht.

Auch den Vertrautesten gegenüber ließ sie sich nur

mit Widerstreben darüber aus, wie inan eine immer noch schmerzende

Wunde zu berühren vermeidet.

Der traurige Roman ist aber für

ihr Wesen so charakteristisch, daß ich nicht umhin kann, das darüber nach und nach und bruchstückweise von ihr Gehörte im Zusammen­

hänge zu erzählen.

Im Hillebrand'schen Hause lebte als Pensionär ein junger Mann aus einer der in Schottland königlich gewesenen Familien,

der als Marien's erklärter Ritter und Beschützer auftrat und sich früh mit ihr verlobte.

An eine Verbindung der jungen Leute war

aus sehr guten Gründen vorerst nicht zu denken.

Marie war ohne

Vermögen, Robertson ohne Stellung und als jüngerer Bruder

eines Majoratsherrn ebenfalls arm.

So war die der Umgebung

wohlbekannte Zuneigung Beider zil einander aussichtslos. Von seiner Familie, britischer Sitte gemäß, auf Reisen ge­ schickt, kam er nach Jahren, als die Verhältnisse sich durch eine

Reihe von Todesfällen zu seinen Gunsten geändert, nach Gießen zurück und hielt förmlich um die Geliebte au, deren Eltern seiner

Werbung unter diesen Umständen günstig

waren.

Von Marien

aber, die ihn noch liebte und ihn nie vergessen sollte, ward er wider Erwarten abgewiesen. Verzweiflungsvoll verabschiedete er sich

von ihr mit den Worten: „An Deinem „Nein" gehe ich zu Grunde; werde elend „sterben, und meinen Tod wirst Du im Augenblicke, wo er ein„tritt, erfahren."

So kam es auch.

Eines Tages fühlte Marie, wie sie selbst

mir erzählte, daß Robertson eben vom Leben scheide, und bald

darauffolgende Nachrichten bestätigten, daß diese ihre Empfindung zeitlich mit dem Ereigniß zusammengefallen war. In solch plötzlichem Abbruch einer lange Jahre treu gehegten

Beziehung ist ein psychologisches Räthsel gestellt, zu dessen Lösung

Marie Hillebrand auch den vertrautesten Jugend-Freundinnen den Schlüssel voreuthielt. Erst als schon betagte Frau, in den Jahren, 2

8 wo man der Vergangenheit immer lieber gedenkt, hat sie mir, der ich damals seit mehr als zwanzig Jahren ihre Arbeit theilte, den

Aufschluß gegönnt.

Sie hatte wieder einmal Nobertson's flüchtig

erwähnt und, die Gelegenheit ergreifend, sprach ich die Ansicht aus, daß sie mit Abweisung des treu Liebenden großes Unrecht begangen

habe. — „Doch nicht", erwiderte sie; „furchtbar weh hat es mir „gethan, bereut habe ich es aber nie; ich erfüllte hiermit nur

„eine Pflicht gegen uns beide. Während der Jahre der Trennung

„allmälig zur Klarheit über sein und mein Wesen gekommen, „war ich gewiß, daß wir zusammen unglücklich hätten werden

„müffen.

Er war durch und durch Aristokrat, und zwar nicht

„blos in seinen Ansichten (dies hätte weniger geschadet), sondern

„seiner

ganzen

Gefühlsweise

„Zuneigung zu den Kleinen,

nach.

Bei

meiner entschiedenen

Geringen,

auf die er vornehm

„herabsah, konnte ich sein Leben nicht theilen, ohne es ihm durch „mein alltägliches Thun zu verleiden, oder aber das Beste in

„mir zu verleugnen; dies letztere aber wollte und konnte ich nicht." Mit dieser Erklärung war mir das Räthsel gelöst.

Die er­

langte Erkenntniß des eigenen Wesens hatte Diarien zum Abbrechen

des Verhältnisses zu einem anders Gesinnten nothwendig bestimmen müssen.

Sie gehörte zn denjenigen Naturen, denen es unabweis­

bares Bedürfniß ist, ihrem Gefiihl ihr ganzes Dasein anzupassen. Die

Güte und Liebe zu den Kleinen und Geringen war aber bei ihr keine Herablassung, sondern wie bei Christus ein tiefer Zug des Herzens. H *) Ich war einmal Zeuge eines für diese ihre Gefühlsart höchst bezeichnenden

Auftritts. Eines Tages wurden wir im Gespräch mit einer von Marie Hillebrand entzückten russischen Aristokratin durch den Besuch einer sehr schlichten Bür­ gersfrau unterbrochen.

Ich führte die Unterhaltung mit der Russin allein fort,

merkte aber, wie sie mit jedem Augenblicke unruhiger wurde. Nachdem nun der Besuch sich verabschiedet, brach die Dame in die entrüsteten Worte aus: „Ich „hatte gemeint, Fräulein Marie, daß Sie gegen mich speziell so gut und

„freundlich wären, und nun mußte ich sehen, daß Sie mit allen Leuten nur „eine Art haben; dieser geringen Frau begegnen Sie ebenso, wie mir, Sie „machen keinen Unterschied." — „Auch ich", lautete die strafende Antwort,

„fühle mich schmerzlich enttäuscht; ich hielt Sie für eine edle, humane Frau, „und muß zu mein em Leidwesen erfahren, daß Sie weiter nichts sind als „eine Adelige." Zur Ehre der Dame fei bemerkt, daß sie gleich in sich ging, und von nun

an nur noch inniger an Marie Hillebrand sich anschloß.

9 Andererseits aber hatte sie von dein ehelichen Leben eine ausnehmend

hohe, ideale Auffassung, die es ihr unmöglich machte, ohne die

Gewißheit völliger Uebereinstimmung in allem Wesentlichen

auch

mit deut geliebtesten Manne sich zu verbinden.

Ihre erste Liebe war auch die letzte,

nun an zu ehelosem Leben bestimnit.

und sie wußte sich von

In der That kann man sich

kaum denken, wie ihr der Beeinflussung in ernsten Dingen unzu­

gängliches Wesen sich in die von der Ehe bedingte Selbst-Beschrän­ kung hätte finden sollen.

sie

sich

Für einen unbedeutenden Manu konnte

nicht interesftren;

ihr untergeordnet.

ein bedeutender

hätte

schwerlich

sich

Ihrem ganzen Wesen nach war sie aber zum

Herrschen berufen. Liebe hat sie in

ihrem späteren Leben oft eingeflößt, aber

selbst nie wieder empfunden.

Stets wußte sie übrigens dies Ge­

fühl in's ruhige Fahrwasser

ergebener,

nachhaltiger Freundschaft

über zu leiten.

Noch sei indessen bemerkt, daß sie ihrer Ausnahmsnatur in

Dingen der Enipfindung sich vollkommen bewußt und weit entfernt

war, die ihr persönlich eigenthümliche ideale Auffassung des ehelichen

Lebens von Anderen zu fordern. — Bei ihrer späteren Lebensstellung tinb dem Vertrauen, das sie Jedem eiuflößte, betont sie in gar

manches Zerwürfniß zwischen Gatten Einblick, itnd wußte meisteits Friedeit zu stiften, indent sie federn Theil das Herabstimmen seiner Aehnliche Züge könnte ich leicht in Menge anführen. Die Gleichschätzung der Menschen um der Menscheneigenschaft willen, die Jgnorirung von Stand und Stellung war bei Marie Hillebrand keine demo­ kratische Pose, keine Prinzipienreiterei, nichts Gemachtes oder auch nur Gewolltes,

sondern der getreue Ausdruck eines tief wurzelnden Gefühles, für welches jene Unterschiede einfach nicht vorhanden waren. Den Verkehr mit den Großen zu suchen, sich zu ihnen zu drängen, wäre sie viel zu stolz gewesen. — In der letzten Periode ihres Lebens brachten die Verhältnisse sie mit hohen Fürstlichkeiten in Berührung. Kaiserin Friedrich, das Großherzogliche Paar von Baden, die Frau Fürstin-Mutter zu Wied mit) deren Königliche Tochter wurden mit ihr bekannt, lernten sie hochschätzen und trugen ihr ein Wohlwollen entgegen, das sie aus der Tiefe ihres Herzens in treuer Dankbarkeit erwiderte. Dem Rang dieser Herrschaften jedoch zu huldigen, wäre

ihr unmöglich gewesen. Und sie verlangten es nicht, sondern waren, auch ohne die gewohnten Aeußerlichkeiten, mit Dem zufrieden, was ihnen die große, hohe

Natur zu geben hatte.

10 Ansprüche zur Pflicht machte. Jeden anwies, mehr zu geben und weniger zu fordern.

„Zwischen ehrlichen Menschen", pflegte sie zu

sagen, „sind solche Mißverhältnisse gewöhnlich bloße Mißverständnisse „und werden geheilt, sobald man sich gegenseitig begreifen lernt „und gegen einander gerecht sein will."

Ihren früheren Schülerinnen, die sie oft bei bevorstehender Verlobung fragten, pflegte sie zu jeder nur würdigen Verbindung zu rathen, auch wo sie meinten, die „rechte" Liebe nicht zu fühlen.

Diese „rechte" Liebe, meinte sie, das jedes andere Objekt wirklich ausschließende Gefühl, sei verhältnißmäßig selten und erwache nicht in jeder Seele.

Eheloses Leben sei aber für die meisten Frauen

ein Unglück. Wo vollends nur Standesvorurtheile u. drgl. der Verlobung im Wege standen, griff sie helfend durch und zerriß dies Spinnen­

gewebe.

So meinte einmal ein junges Mädchen, es müßte aus kind­

licher Pietät einen Freier abweisen, der als bloßer Kaufmann dem Gelehrtenhochinuth ihres (kürzlich verstorbenen) Vaters nicht genehm gewesen.

„Gibt es", sagte Marie Hillebrand, „ein Fortleben, und

„sieht Dein Vater von oben auf Dich herab, so wird er gewiß „im Himmel viel gescheidter sein, als er hienieden war.

So

„heirathe nur getrost den braven, treuen Mann." In dieser Weise hat sie viel Segen gestiftet.

Doch kehren wir

noch einmal zu ihrem Herzensroman zurück. In welchen Jahren derselbe sich abgespielt, darüber fehlt in

dem mir zugänglichen Material jede chronologische Angabe. einem Briefwechsel der Liebenden

hat sich

keine Spur

Von

erhalten.

Angaben von Marien's Jugendfreundinnen widersprechen sich hin­ sichtlich der Zeit wie der Nebenumstände. überein,

daß

das Verhältniß

Nur darin stimmen sie

frühe begann und

lange dauerte.

Aus verschiedenen Gründen glaube ich indessen den Bruch mit Ro­

bertson in die Mitte des Jahres 1842 versetzen zu dürfen. dieser Annahme bestimmt mich, außer

Zu

der auffallenden, totalen

und endgültigen Aenderung, welche um jene Zeit Marien's Hand­

schrift plötzlich erfährt, folgende Stelle eines aus Mainz datirten

Briefes an eine Freundin (13. Juli 1842).

Marie schreibt da:

„Hätte ich Dich nur bei nur! Es ist immer dasselbe und wird

„immer so bleiben, aber Niemand weiß es, als Du."

11 Tags darauf fährt sie, durch Nachtreflexionen offenbar wieder aufgerichtet, in ganz anderem Tone fort: „Heute ist es still und heiter, und ich will Alles tragen, und „es wird nicht schwer, wenn nur der liebe Gott hilft ... —

„Gewiß ist es Dir recht ruhig zu Muthe; Du hast ja für so

„Viele zu sorgen und machst sie glücklich, und der beste Trost „ist, sich in der Sorge für Andere zu vergessen.

Das erstarkt

„das Herz, gibt ihm Muth und eine Heiterkeit, die sein eigen „ist, und nicht von Außen, sondern von Innen kommt.

Wenn

„es denn auch zuweilen eine trübe Stunde gibt, so geht sie doch

„voriiber, mit seinem Gott allein ausgemacht, und die Reinigung „läßt die nächste nicht so leicht kommen."

Wie es sich übrigens auch mit der Richtigkeit obiger chrono­ logischen Combination verhalten mag, so viel geht aus dem angeführten Brief hervor,

daß

hier,

im Jahre 1842,

Marien die

ethische Grundanschauung ihres ganzen spätern Lebens, wonach alle

Lebensvorkommnisse in erster Reihe zur Vertiefung und Läuterung des eigenen Gemüthes zu verwerthen sind, zu klarstem Bewußtsein gekonrmen ist. Sie stand damals im 22. Lebensjahr, einem Alter, wo bei Frauen

Geist

und

Charakter,

unbeschadet

weiterer

Entwicklung,

die endgültige Richtung angenommen zu haben pflegen.

Von jetzt

an erscheint sie als ein in der Hauptsache fertiges, ausgereiftes Wesen; ganz und gar so geartet, wie ich 1856 sie kennen lernen sollte.

II. Sie war von mittelgroßer Gestalt, feingliedrig und zart gebaut. Bis gegen das fünfzigste Lebensjahr blieb sie schmächtig und an­

scheinend so schwach, daß man nicht begriff, wie sie soviel Mühen

und Aufregungen aushalten konnte.

Den Körper hatte > aber der

starke Geist ganz in der Gewalt und durfte dem Sklaven Alles

zunmthen.

muth.

Bewegung

und Geberde waren von ungesuchter

An­

Um die Kleidermoden stets unbekümmert, machte sie doch

auch im einfachsten Anzug den vornehmsten Eindruck, wie überhaupt

12 ihr die Gabe eigen war, ihre äußere, keineswegs luxuriöse Umgebung stets geschmackvoll zu gestalten.

Sie hatte etwas unregelmäßige,

Gesichtszüge,

schöne Zähne,

aber

höchst

ausdrucksvolle

schwarzes Haar und dunkle Augen,

deren Alles durchdringender Blick dem Menschen bis auf den Grund

der Seele schaute. Den sehr beweglichen Mund umspielte leicht ein ironisches Lächeln, das von heiterer Grundstimmung zeugte.

Die

stark entwickelte, schön gewölbte Stirn blieb bis zuletzt von Runzeln

verschont. An sogenannten Talenten war sie arm, hatte keine Singstimme

rind brachte es nie zu einer Fertigkeit im Clavierspiel, obwohl sie musikalischen Geschmack besaß und die Theorie der Tonkunst sich

angeeignet hatte.

Zum Zeichnen fehlte ihr jede Anlage, ja sogar

die Fähigkeit, Baurisse zu verstehen; nur Reliefs oder perspektivische

Ansichten begriff sie; dabei war sie aber im Stande, in ihrem Kopf

ein ganzes Haus bis in's kleinste Detail zu construiren und einVon diesem intuitiven Vorstellungsvermögen legte sie in

zutheilen.

Neuenhain eine glänzende Probe ab; ihr dortiges Jnstitutsgebäude

ward ganz nach ihren Angaben gebaut, wenn es auch dem Architekten schwer genug fiel, das von ihr Gewollte zu verstehen und darnach

Pläne zu zeichnen. Französisch und Englisch wollte sie nur mit großer Mühe ge­ lernt haben, beherrschte aber die beiden Sprachen vollständig und

hatte sich in deren Literatur vertieft. Eine langsame, weil stets denkende Leserin, war sie doch über

das Wesentliche und Charakteristische eines philosophischen oder po­ pulär wissenschaftlichen Werkes so bald im Klaren, daß sie es oft

nicht einmal zu Ende zu lesen brauchte.

So hatte sie sich, mit

Ausnahme der Mathematik, wozu ihr jeder Sinn fehlte, in allen Zweigen

des Wissens

angeeignet,

einen

ansehnlichen Schatz

von Kenntnissen

war in der Geschichte der Philosophie, wie in der

literarischen, der Kultur- und Staatengeschichte zu Hause, sowie

mit den allgemeinen Gesetzen und Resultaten der Naturwissenschaften vertrant. Und da sie den Stoff nie passiv, nie mechanisch aufnahm,

ihn

vielmehr durch Nachdenken

zu ihrer eigenen Substanz ver­

arbeitete, trug Alles, was sie sagte, das Gepräge des persönlich

13 Erlebten.

In ihrem Munde klang auch der allerbekannteste Gemein­

platz neu und eigenthümlich.

Sie hatte eine eminent poetische Phantasie, der es Bedürfniß

war, den Gefühlen und Erlebnissen des Augenblicks lyrischen Aus­

druck zu verleihen.

War aber diesem Drang genügt, so pflegte

das Erzeugniß in den Papierkorb zu wandern.

Nur aus ihrer Jugendzeit hatte sie ein dünnes Heftchen auf­

bewahrt, mit Gelegenheitsgedichten, die ihr Vater, der feine Aesthetiker, unbedenklich

der

besten Lyrik

seines

Abgottes Goethe zur Seite

stellte, Leider war sie zur Veröffentlichung nicht zu bestimmen, und die kleine Sammlung, an die sie nicht mehr dachte, ist später

in der rastlosen Unruhe eines 25 Jahre lang von äußeren Stürmen zerzausten Lebens spurlos verschwunden.

Aber noch nach dreißig

Jahren erinnere ich mich, daß es Perlen der Innigkeit waren. Die Gabe des Dichtens behielt sie bis in's späte Alter.

In Stamnlbüchern ihrer ehemaligen Schülerinnen dürfte sich vou ihr noch manches Erhaltenswerthe vorfinden. Bei festlichen Anlässen in der Schule wandten sich

oft die

Mädchen an sie um ein Gelegenheitsgedicht, das mühelos entstand, und bald ernst, bald scherzhaft, immer aber eigenthümlich ausfiel.

Im ernsten Affekt entwickelte sie eine hinreißende, zu Herzen gehende Beredsamkeit.

Waren aber, wie es oft geschah, in ihrem

Hause Freunde mit den Schülerinnen zu fröhlichem Mahle ver­ sammelt, so sah man Marie Hillebrand, nach einem kurzen Augen­

blicke stiller Sammlung, von ihrem Platze aufstehen, und andächtig

lauschte man eines Trinkspruches voll heiterer,

aber weihevoller

Weisheit, welcher etwa beginnende Ausgelassenheit auf das rechte

Maß wieder herabstimmte. In der Konversation, die Marien's Lebenselement war, machten

ihre große Lebhaftigkeit und die wahre Theilnahme, die sie Allem und Jedem entgegenbrachte, sie höchst liebenswürdig und fesselnd. In ihrer Jugend hatte sie gelegentlich als dramatische Dar­

stellerin ein solches Talent bekundet, daß berufene Kunstrichter sie für die Bühne geschaffen erklärten.

blieb

sie

stets

in seltenem Maße

Für das tragisch Ergreifende

empfänglich.

Die

klassischeil

14 Meisterwerke der Dichtkunst blieben ihr, wenn auch hundertmal von

ihr gelesen, doch immer neu. Von deren pathetischen Situationen wurde sie ebenso tief ergriffen, wie das unerfahrenste Kind. Einmal

z. B. wohnten wir in Frankfurt mit Bekannten einer meisterhaften Vorstellung

Macbeth's bei.

Da

sah man

Schlafwandeln Marie erbleichen und erzittern.

bei

Lady

Macbeth's

So vollständig war

sie der Wirklichkeit entrückt, daß eine neben ihr sitzende englische

Freundin ihr lächelnd zuraunte: „What is that? I did not know, that you were Duncan’s murderer.“

Ein treffendes Wort, wo­

mit sie gar oft wieder bei ähnlichen Anlässen geneckt wurdet)

Diese ausnehmende Empfänglichkeit für das Schöne kam der Lehrerin später sehr zu statten und machte sie zur unvergleichlichen

Vorleserin poetischer Werke.

Es war als quelle das Gedicht un­

mittelbar aus dem Urgrund ihres Gemüthes. Mit dieser Fülle seltener Geistesgabeu war aber eine Willens­ energie verbunden, die jedes gewöhnliche Hinderniß überwand und

selbst anscheinend verzweifelte Verhältniffe zum Besten gestaltete; ihr unbeugsamer Muth ließ auch von direkt drohender Todesgefahr sich

nicht abschreckend) 9 An Neckereien hatte sie große Freude,

ließ sie sich gerne gefallen und

besaß eine köstliche Gabe der Selbstironie, wovon später bezeichnende Proben

folgen werden.

2) Nach dem Kriege von 1866 zögerte der Großherzog von Hessen bekanntlich sehr lange, mit dem Sieger Frieden zu schließen; wie man erzählte, war es die

Abtretung des

kürzlich ihm heimgefallenen Homburg, wogegen er sich sträubte.

Wie dem auch sei,

der Kriegszustand bestand fort,

und nach altem Herkommen

hatten für den Fehler ihres Fürsten die Achiver zu büßen. Rödelheim blieb mit preußischen Mannschaften belegt, die sich als Strafeinquartierung betrachteten mü>

zu Ausschreitungen neigten. Von einer Geschäftsreise im September 1866 zurückgekehrt, erfuhr ich mm

Folgendes: Durch feindnachbarliche Einflüsterungen aufgestachelt, hatte die bei uns ein­ quartierte Soldateska nächtlich im Schloßgarten groben Unfug verübt, und als

Marie Hillebrand furchtlos sie verjagte, auf sie geschossen. Da von dem in Rödel­

heim commandirenden Offizier kein Einschreiten zu erlangen war, fuhr Marie unter den: Hohngelächter der Soldaten nach Frankfurt auf die Commandantur, die sie

an den in Bockenheim liegenden Vorgesetzten des Truppentheils wies. Dort mehr als anständig empfangen, bestand sie auf sofortige Umquartierung, die sie auch

15

Nichts vermochte sie von der Erfüllung dessen abzuhalten, was

ihr als ihre Pflicht erschien.

Ihr Pflichtgefühl war aber oft inso-

ferne ein verkehrtes, als sie darüber das eigene Recht leicht hintan

setzte. Begegnete ihr ein Unglücklicher, so machte sie es sich zur Auf­

gabe, Hülfe zu bringen, und konnte in diesem Eifer nicht nur ihr In­ teresse, sondern auch die berechtigte Scheu vor Mißdeutungen ihres

stets edlen, aber oft leicht zu verkennenden Thuns vergessen. Unter niedrigen Auffassungen litt ihr weibliches Feingefühl unsäglich, und

trotzdem setzte sie sich denselben öfters aus.

Diese Schwäche ihres

Wesens charakterisirt folgende Anekdote: In den geistig regsameil Pariser Kreisen, wo sie 1845—1847

verkehrte, hatten die damals viel geltenden Phrenologen und Phy-

siognomiker

einen

Concurrenten

bedeutenden

in der Person des

„Chiromanten" Capitän d'Arpentigny, der es sich zur Specialität

gemacht hatte, aus den Formen und Linien der Hand den Charakter der Menschen zu lesen. In einer Gesellschaft traf er mit Marie Hillebrand zusammen

und bat sie, ihni ihre Hand zu zeigen, worauf sie scherzend einging.

Sein Orakel lautete zunächst:

„Diese Hand verräth ungewöhnliche

Ordnungsliebe", worauf eine mit Marien genau bekannte englische

Darne in Gelächter ausbrach.

Ohne deßwegen die Fassung zu ver­

lieren, bat nun d'Arpentigny diese Dame um Vorzeigen ihrer eigenen Hand, uni) sagte nach deren Besichtigung:

„Ich begreife jetzt Ihr

„Lachen; Sie sind, Madame, in materiellen Dingen peinlich

„ordentlich; in Ihrem Spind, in Ihrer Schublade sieht es gewiß „viel netter

aus, als in denjenigen des Fräuleins.

Und doch

„bleibe ich dabei: ihr wohnt in seltenem Grade inne jener höhere „Ordnungssinn, der nicht eher ruht, als bis er alle Beziehungen „und Lebensverhältnisse harmonisch gestaltet hat." Da verstummte

das

Lachen

der

Dame, deren

starke

Seite gerade dieser höhere

Ordnungssinn nicht war.

„Jetzt aber", fuhr er, zu Marie Hillebrand gewandt, weiter fort, „jetzt müssen die Schwächen Ihres Wesens zur Sprache kommen.

durchsetzte, obwohl die Mannschaften nur noch 24 Stunden in Rödelheim zu bleiben hatten. Von den Ausquartierten kamen mehrere zu ihr und baten um Entschuldigung einer Rohheit, der sie sich nicht zu widersetzen vermocht.

16 „Der Mensch hat dreierlei Pflichten:

„Mitmenschen und gegen sich selbst.

gegen Gott, gegen seine

Aus Ihrer Hand aber lese

„ich, daß Sie dieser letzten Kategorie von Pflichten nicht gerecht

„zu werden wissen, während Sie die zwei ersten in vollem Maß „erfüllen. Lassen Sie sich warnen: heißt es doch, du sollst deinen

„Nächsten

wie dich selbst, nicht aber mehr als dich selbst,

„lieben." Hiermit war über Marie Hillebrand's Charakter das treffendste

Urtheil gesprochen, ja man kann sagen, ihres Lebens Verhängniß im Voraus verkündet.

Ihre Interessen gebührend wahrzunehmen, sollte sie niemals lernen. Wo sie einmal Mitleid empfunden, war sie gegen Aus­

beutung und Mißbrauch ihrer Güte leicht wehrlos.

Jenes Gefühl

des Mitleids nannte sie zwar gerne, auf Spinoza's Autorität sich berufend,

ein verächtliches, warnte Jeden, sich dadurch bestimmen

zu lassen, ließ sich aber selbst nur zu sehr davon beherrschen; in

der letzten Periode ihres Lebens ward dieser Charakterzug, einer

höchst

unbedeutenden

Persönlichkeit

gegenüber,

zur

verderblichen

Schwäche, die sogar die materielle Existenz gefährdete.

Mich, den Geschäftsführer ihres Instituts, hat sie oft zur Ver­

zweiflung gebracht durch ihre stete Bereitwilligkeit, Familien, die in der Regel reicher als sie waren, unsinnige Ermäßigungen der Pension

für deren Töchter zu gewähren. Den gemachten Einzelfehler konnte sie wohl nachträglich einsehen, lernte aber nie dessen Wiederholung

meiden.

Mit dieser Unfähigkeit, an sich zu denken, stand in scharfem Gegensatze die Umsicht und Weisheit, die sie, auch in Geschäfts -

fachen, als Rathgeberin bethätigte.

Sobald nicht ihr

eigenes,

sondern fremdes Interesse auf dem Spiele stand, war sie lauter

Klarheit und praktische Klugheit.

III. Daß eine so großartig angelegte Persönlichkeit beruflos in der Enge des kleinstädtischen Familienkreises ihr Leben verbringen sollte, war nicht zu erwarten. Es drängte sie in die Welt hinaus. Nachdem

17 sie, nicht ohne Mühe, den Eltern die Erlaubniß dazu abgerungen,

entschloß sie sich, einer Cousine, die bereits in Paris lebte, dahin zu folgen, zunächst zur eigenen Fortbildung, aber mit der Absicht,

sobald wie möglich eine Stelle als Erzieherin anzunehmen.

Im

November 1845 in der Weltstadt angekommen, trat sie erst in ein Pensionat ein, dessen treffliche Vorsteherin noch 20 Jahre später

ihrer großen Persönlichkeit bewundernde Anerkennung zollte.

Nach­

dem Marie sich dort durch emsiges Studium in der französischen

Sprache vervollkommnet, kam sie als Erzieherin eines schwer zu behandelnden Knaben in die Familie eines angesehenen, feingebildeten Kaufherrn, Mr. CH. Veyret.

Die zwei Jahre, die sie dort in

Marly le Roi verbrachte, waren wohl die sorgloseste, glücklichste

Zeit ihres Lebens. Von Herrn und Frau Veyret gleich geliebt und

hoch geachtet, von ihrem kleinen Schüler vergöttert, stand sie als

ein

ebenbürtiges,

ja in manchen Fällen dominirendes

Mitglied

der Familie da. Das gebildete Veyret'sche Haus war ein hochgeselliges, und diese

Eigenschaft schloß in jener Zeit viel geistigen Genuß in sich.

War

doch vielleicht in keiner Epoche unseres Jahrhunderts die französische

Geselligkeit, nach jeder Richtung hin, so fein und so durchaus edel, als gerade in jenen letzten Jahren des Julikönigthums. Nicht um­ sonst

hatte

die Nation soeben

die

literarisch

und

philosophisch

glänzende Epoche durchgemacht, deren Koryphäen Lamartine, V. Hugo, A. de Müsset, Boranger, George Sand, Augustin und Amodoe Thierry,

Thiers, Guizot, Consin e tutti quanti meist noch in vollem Wirken lebten.

ziemlich

Dazu hatten die Saint Simonisten und die noch

harmlosen sozialistischen

Träumer Fourier,

Cousidsrant,

Pierre Leroux, von den schon grimmigeren Cabet und Louis Blanc

zu geschweigen, eine Unmenge von Zukunftsideen angeregt, welche

damals, vor den Kämpfen von 1848, im Reiche des thatenlosen Gedankens noch friedfertig neben einander wohnten.

So war die

dortige Atmosphäre ganz durchgeistigt, gleichmäßig frei

von den

früheren Vorurtheilen und von den späteren Verbitterungen.

Auch das Veyret'sche Haus, das mit all diesen verschiedenen Richtungen, sowie mit den Künstlerkreisen Fühlung hatte, war von

geistigen Jntereffen durchdrungen. —

Die einzigen Berühmtheiten,

mit welcher Marie Hillebrand dort persönlich bekannt wurde, waren

18 Chopin und George Sand, welche letztere sich lebhaft für „die Heine

deutsche Gouvernante" interessirte und Dieser wieder durch ihr stilles, anspruchsloses Wesen viel Sympathie einflößte.

Aber mit einer

großen Zahl bedeutender, wenn auch jetzt vergessener Männer und

vortrefflicher,

edler Frauen kam sie in Berührung; unter letzteren

seien nur die Damen aus der Familie Geoffroy S. Hilaire und die herrliche Atme, de MarlianiH erwähnt, in deren Haus ein­

geführt zu sein schon als gesellschaftlicher Adelsbrief galt.

Pariser Gesellschaft mar jener liebens­

In dieser Elite der

würdige, wohlwollende Ton heimisch, der alles Verletzende fernhält. Wohl kann kein Volk da, wo es Entscheidungen gilt, leidenschaft­

licher werden als die Franzosen; aber im Salon suchte matt keine Entscheidung,

sondern

nur Anregung

und

feinen Verkehr.

Die

Aitderen angenehm zu unterhalten, war jedes Einzelnen selbstver­ ständliches Bestreben, und dem entsprechend fiel die leidige Recht­

haberei von selbst weg.

An Discussionen fehlte es nicht, aber die

oberste Regel französischer Geselligkeit, wonach dieselbe Person nie

zum dritten Male ein Thema wieder berühren darf, ließ im

Streite der Geister keine Schroffheit aufkommen. Nach Deutschland zurückgekehrt, vermißte Marie Hillebrand nach

eigener Aussage hier nichts so sehr, als jenen feinen, artigen Ton

der Pariser Gesellschaft, und glaubte sich oft aus der civilisirteit in

eine halbbarbarische Welt versetzt. Freilich wäre es unbillig gewesen, an eine kleine Universitätsstadt voller Cliquen- und

Kastenwesen

den Pariser Maßstab legen zu wollen.

Anfaitgs 1847 ward Marie durch Familienpflichten nach Hause

zurückgerufeu.

Die stets kränkliche Mutter fühlte ihr Ende heran­

nahen, unb sehnte sich nach der Tochter, die ttoch einige Wochen

ihre treue Pflegeritt war.

In Marien's Armen starb die arme

Frau, mit der Stieftochter mehr als ausgesöhnt. Keinen Augeitblick ließ sie dieselbe von sich, und verabschiedete sich von ihr mit den

Worten:

„Du hast einen feinen, richtigen Sinn; dem folge nur

immer und lasse Dich durch nichts Beirren."*2) *) Gemahlin eines spanischen Diplomaten und George Saudis muthige Freundin zur Zeit, wo die geniale Schriftstellerin noch unter dem Bann sozialer Aechtung lag.

2) Bier und zwanzig Jahre später nahm der geliebte Vater in ähnlicher

19 In Paris sowohl wie in Südfrankreich, wo sie mit der Familie

Veyret zeitweise gelebt, hatte sie ergebene Freunde zurückgelassen, die ihr bald darauf in schwerer Zeit nach Kräften treu beistanden.

Die Briefe, die sie ihr nach Deutschland schrieben, bezeugen, welch

mächtigen Eindruck sie auf die für menschliche Größe so überaus empfänglichen Franzosen gemacht hatte.

Von Frauen aus jenem

Kreise finde ich sie als Sainte Marie Hillebrand angeredet.

Als

ich selbst im Anfang der 60 er Jahre, aus ihrem Hause kommend, meine Heimath

Paris nach

langer Abwesenheit wieder besuchte,

empfing mich ein angesehener Mediziner gleich bei der ersten Be­

gegnung mit der Frage:

„Was macht unser weiblicher Christus?"

IV. Bald sollte Mariens Liebe zu den Ihrigen auf schwere Probe gestellt werden, in Folge der politischen Ereignisse von 1848—49.

Ihr Vater hatte seit Jahren in der Darmstädter Kammer auf liberaler Seite gestanden.

Ihre vier Brüder (Julius f 1868 als

Professor der Jurisprudenz, die Mediziner Eduard und Wilhelm,

und der später als Essayist so berühmt gewordene Karl) wurden alle mehr oder weniger in den Strudel der Bewegung gerissen.

Wilhelm und Karl, beide in den Frankfurter September-Aufstand verwickelt, versteckten sich eine Zeit lang im Odenwalde bei Ver­

Marie eilte ihnen nach und brachte sie nach Straßburg

wandten.

bei einem ehemaligen Hörer ihres Vaters in Sicherheit. H Nicht lange blieb Karl ruhig in diesem Asyl. Als die Kämpfe Weise von ihr Abschied: „Ohne Sorge lasse ich Dich hinter mir zurück, Du bist ja reich: Du hast Dein großes Leben." *) „Marie",

schrieb mir

bei Erwähnung

dieser

Episode ihre

Consine,

„war der thatkräftige Engel der Familie, für welche sie in jeder Beziehung

„unablässig sorgte. „ihrem

Ich weiß durch nichte Schwester, daß Marie, nachdem

gemaßregelten Vater

der Gehalt entzogen worden war,

in Gießen

„fleißig stickte, um durch diesen Verdienst den häuslichen Verhältnissen auf-

„zuhelfen." Rach dem Tode der Mutter hatte sie die Leitung des Haushaltes über­

nommen und denselben bei umsichtigster Sparsamkeit behaglich gestaltet, wozu sie überhaupt ein angeborenes Talent besaß.

20 in Baden entbrannten, stieß er zu den Freischaaren, redigirte eine Zeit lang das Amtsblatt der revolutionären Regierung und ward schließlich Mieroslawsky als Adjutant beigegeben.

Marie, welcher für politische Kämpfe

und deren moralische

Erfordernisse stets jeder Sinn abging, bestürmte ihn brieflich, vom aussichtslosen Thun abzustehen und wieder nach dem sicheren Straß­

burg zu ziehen.

Dem echt weiblichen Drängen widerstand selbstver­

ständlich sein männlicher Sinn; er focht mit bei Waghäusel, schrieb Lieferungen aus, gab Unterschriften, that mit einem Worte, was

seine Stellung mit sich brachte, und harrte bis zuletzt aus. Bei der Kapitulation von Rastatt fiel er, als einer der Gravirtesten, in preußische Gefangenschaft

und hatte

alle

Aussicht,

dem Stand­

rechte zum Opfer zu fallen. Da litt es Marien nicht mehr zu Hause.

Sie machte sich

keine Illusionen, war auf's Schlimmste gefaßt und handelte darnach. Vom Minister Jaup in Darmstadt freundlich empfangen und mit Empfehlungen an seine badischen Kollegen versehen, eilte sie,

über Heidelberg, Bruchsal, Karlsruhe, wo alte Beziehungen ihr nützlich sein zu können schienen, nach Rastatt.

Dort war Alles

noch in einer Verwirrung, die ihr zu statten gekomnien sein mag.

In der überfüllten, ihr fremden Stadt sand sie nur Obdach in

einer Garküche, wo sie unter den einquartierten Soldaten der Haus­

frau Kartoffeln schälen half.

Den nächsten Morgen traf sie den preußischen Platzkommandeur von flehenden Frauen umlagert, die er rauh abwies.

Nach ihrem

Begehr kurz gefragt, erwiderte Marie: „Wenn, wie ich eben gehört, „eine Frau ihren Mann nicht sehen darf, muß ich von jeder „Bitte absehen; habe ich doch unter den Gefangenen nur einen

„Bruder." — Der Offizier war wie verwandelt und entschuldigte seine Barschheit

mit Ueberlastung

und Uebermüdung;

Tagen sei er nicht aus den Kleidern gekommen.

seit

drei

Im Uebrigen

bedauerte er, ihr bestätigen zu müssen, daß ihr Brnder einer der

gravirtesten Gefangenen sei, und sie zu ihm keinen Zutritt erlangen

könne. Was daranf folgte, kam ihr selbst nie zu klarem Bewußtsein.

Wie eine Nachtwandlerin irrte sie in der unbekannten Festung nm-

21 her.

Preußische Landwehrmänner

scheinen

mitleidig

ihr

durch­

geholfen zu haben; an den abweisenden Schildwachen vorbei tarn

sie immer weiter, bis sie auf einmal schanzenden Gefangenen be­

gegnete und in den Armen ihres Bruders lag, unter allgemeinem Schluchzen der Gefangenen und der Wächter.

Durch Einschreiten eines Offiziers natürlich bald wieder ent­ fernt, kam sie, ohne zu wissen wie ihr geschah, wieder aus der

Festung und reiste trostlos nach Hause zurück.

So ganz fruchtlos, wie sie meinte, waren jedoch ihre Schritte wohl nicht gewesen.

Ein befreundeter Gerichtsbeamter hatte ihr

gegenüber geäußert, man müsse für Karl nur Zeit zu gewinnen

suchen, bis

an Stelle

des Standrechts

wieder in Thätigkeit träten.

die ordentlichen Gerichte

Für Zeitgewinn scheint aber der gute

Mann stillschweigend gesorgt zu haben, und zwar ganz griindlich; denn als Karl später Deutschland wieder besuchen wollte, fanden

sich gegen ihn gar keine Akten aus jener Zeit vor. Der Gefangene konnte es selbst nicht begreifen, daß er immer

nicht, wie seine Zellengenossen, vor's Kriegsgericht gerufen wurde. Die Frist benutzte er, um als ausgezeichneter Turner mit noch

einem Gefährten durch eine Cloake zu entweichen.

Unter roman­

haften Episoden*) erreichten die Flüchtlinge das französische Rhein­

ufer und waren gerettet.

Die Straßburger Freunde nahmen Karl

zu sich und meldeten nach Gießen seine Rettung.

V. Sofort reiste Marie dem Bruder nach, den zu bemuttern nun

ihre oberste Pflicht war. In Straßburg, wo sie einige Zeit blieben, gewann Marie treue Freundinnen an den Damen des gastlichen

Hauses. In Straßburg war aber für Karl weder Beschäftigung noch

Stellung zu finden, und bald reisten die Flüchtlinge weiter nach

Paris, wo allein Befferes sich hoffen ließ.

Auf lohnende Arbeit waren Bruder und Schwester um so J) s. Ludwig Bamberger's Nekrolog von Karl Hillebrand in der Deutschen Rundschau vom December 1884.

22 nöthiger angewiesen, da im Vaterhause die Verhältnisse sich auf's Der Vater, der Alles eher als ein Revo­

Ungünstigste gestalteten.

lutionär, aber doch ein gewissenhaft liberaler Mann war, hielt sich durch konstitutionelle Bedenken verpflichtet, als hessischer Abgeordneter die Steuer zu verweigern.

Hiermit war die willkommene Handhabe

geboten, um ein Exempel zu statuiren.

Der alte Hillebrand verlor

seine, durch das revolutionäre Gebühren der Söhne bereits schwer Von dem später berüchtigt gewordenen

compromittirte Anstellung.

Ministerium Dalwigk ward er abgesetzt und die Pensionsberechtigung ihm abgesprochen.

Die ewige Kränklichkeit seiner Frau, ihre und

seine grenzenlos gastfreie Gesinnung und der Leichtsinn des einen Sohnes hatten eine momentan schwierige Lage geschaffen.

mußte

später,

kraft

Dienstpragmatik, dem

der klaren

Bestimmungen

der

Zwar

akademischen

Emeritirten die Pension wieder zuerkannt

werden, einstweilen aber lasteten auf ihm schwere Sorgen.

Der

älteste Sohn Julius, damals Privatdozent, hatte von Deutschland, wo für ihn nun keine Anstellung denkbar, sich nach der Schweiz

gewandt und mußte, bis

er

1851

als Professor des deutschen

Privatrechts einen Ruf nach Zürich bekam, vom Vater unterstützt werden.

Zwei andere Söhne, Mediziner, entschloffen sich, in Amerika

ihr Glück zu suchen und brauchten dazu Zehr- und Reisegeld. Für

den alten Gelehrten waren die Verhältnisse um so schwieriger, da er von Geschäften keine blaffe Ahnung hattet)

Von zu Haus hatten Unterstützung zu erwarten.

also

Marie

und Karl nur

geringe

Herr Veyret blieb an treuer Freund­

schaft sich immer gleich, war aber seit 1848 ein ruinirter Mann.

Im

Wesentlichen

Unterrichtsstunden in jener Zeit

waren

die

Geschwister

angewiesen.

Eine

auf

höchst

allgemeiner Geschüftskrisis,

wo

den

Ertrag

kärgliche die

von

Ressource

revolutionäre

Aufregung reiche Ausländer aus der französischeu Weltstadt ver­

scheuchte. — Indessen wurde, während Marie hier und da durch Stundengeben etwas verdiente und in bitterer Armuth, wovon der Vater das Wenigste ahnte, den gemeinsamen Haushalt führte, ihr

Bruder Karl von Heinrich Heine als Sekretär angenommen. x) Ganz rührend in dieser Hinsicht ist ein Brief von

Da

1850, worin er

seiner Tochter Marie den von ihm soeben erst entdeckten Unterschied zwischen Prima- und Secunda-Wechsel explicirt.

23 verdiente er wohl Geld, bekam es aber höchst selten ausbezahlt; dagegen war der Dichter

unerschöpflich an guten Rathschlägen:

Karl sollte nur sich amüsiren, vor allen Dingen aber eine Pariser Grisette zu sich nehmen, sonst könnte er der französischen Sprache

nie ordentlich mächtig werden u. drgl. mehr. Dem

20jährigen,

auffallend

schönen

Jüngling,

nach

dem

ohnehin die Frauen nur zu gerne schauten, gefielen die hohen Lehren

nicht

iibel,

und

den

ganz anders lautenden Ermahnungen

der

Schwester setzte er beharrlich die Autorität des großen Heine ent­ Sie war ganz unglücklich und zerbrach sich den Kopf, wie

gegen.

sie beit Bruder dem gefährlichen Einfluß entziehen könnte. Dieser Sorge war sie jedoch bald enthoben.

Eines Abends

brachte ihr Karl, nebst dem bis auf den Tag pünktlich ausbezahlten Honorar, einen Gruß von Heine, der sie bitten ließ, ihm seine schlechten Rathschläge zu verzeihen. Er hatte zufällig erfahren, daß

sie ihrem Bruder

nachgezogen

sei,

und diesem

ernste Vorwürfe

darüber gemacht, daß er vor ihm ihres Thuns und ihrer Opfer nie gedacht; hatte ihn, unter Hinweis auf das selbstverschuldete Elend

des eigenen Zustandes, beschworen, ja immer der Schwester zu folgen.1)

Hatte sich hiermit die Situation nach einer Seite wesentlich gebessert, so drohten doch Karl andere Gefahren. Durch die Rastatter

Vergangenheit war er in Paris natürlich in Berührung mit de­ magogischen Kreisen gerathen, in deren unfruchtbarem Treiben er leicht untergehen konnte.

Von der Unreife und Begriffsverwirrung, die in jenen Kreisen herrschte, sich eine Vorstellung zu bilden, würde der heutigen Jugend schwer fallen. Mit bodenloser Unkenntniß der politischen und sozialen

Wirklichkeiten paarte sich die Sucht, es den großen Terroristen von 1793 nachzumachen. Schon in den Aeußerlichkeiten des Kostüms wurden diese von

den französischen Demokraten von 1848—49 kopirt. Westen

Durch weiße

mit ungeheueren Umschlägen ä la Robespierre hatte sich

eine Zeit lang ächt patriotische Gesinnungstüchtigkeit bekundet, und

Mit Heine wurde Marie H. nie persönlich bekannt.

24

den überlebenden Zeugen der ersten Revolution begegneten in den Clubs die altbekannten Masken eines S. Inst, Couthon und

Anacharsis Clootz. Mit solch geistloser Nachäfferei täuschten sich die armen Statisten über den eigenen Gedankenmangel. Marien war nicht blos das leere Treiben an und für sich zuwider; sie fühlte auch, daß Karl weniger als irgend Jemand

dafür geschaffen war. Nur durch die zufällige Verquickung nationaler und demokratischer Bewegungen in den Jahren 1848—49 auf die

Bahn des bewaffneten Aufstandes getrieben, war er seinem Wesen nach Aristokrat vom Wirbel bis zur Zehe.

So wenig- dieser Zug

seiner Natur der ganz anders gearteten Schwester zusagte, sie hatte denselben erkannt und hoffte davon seine Rettung.

Er sollte von

Paris weg in möglichst aristokratische Umgebung versetzt werden.

Daß er nicht ohne Kampf sich dazu bestimmen ließ, bezeugt

ein langer Brief, worin er der Schwester zu Gemüthe führt, wie Unrecht sie habe, ihn von seinen patriotischen Pflichten abtrünnig machen zu wollen. Gegen ihre reifere Einsicht drang er, zu seinem Glücke, damit nicht durch.

Sie bestand darauf, daß er Heine ver­

lasse, und verschaffte ihm gute Empfehlungen nach Bordeaux, der

aristokratischsten Stadt Frankreichs, wo er bald Ansehen sich er­ warb und nach und nach den Grund zu seiner literarischen Be­ rühmtheit legte.

Ihn von Paris loszueisen, übernahm sie seine Schulden, zahlte

sie mit geliehenem Gelde, und nahni, um dieses wieder abtragen zu können, eine Stelle als Gouverilante in einer englischen Familie

an, mit welcher sie im Juli 1850 auf deren Landgut in Londons

Nähe zog.

VI.

Viel mehr als jetzt waren damals die Briten in Denkart und Sitte insularisch von den anderen Völkern abgeschlossen.

Auf dem

Continent fanden sie sich u>ohl leicht in die ihnen selbst bequemere

Landesart; sobald sie aber den heimathlichen Boden wieder berührten,

Dgl. Louis Reybaud's klassisch gebliebene Humoreske „JGrdme Paturot ä la recherche de la meilleure des republiques“.

25 trat die steife englische Sitte ungemildert wieder hervor.

So sah

sich Marie bei der Familie North bald schmerzlich enttäuscht. Ihre freie und allbefreiende Seele sollte auf einmal in die Schranken

des

engherzigsten

Formen-

und

Kastenwesens

gezwängt

werden.

Was sie auch that, war immer shocking. Und verlangt wurde von

ihr immerwährend als selbstverständlich eine Haltung, wogegen sich ihr ganzer Sinn auflehnte. Wenn später nach dieser Episode ihres Lebens gefragt, ant­ wortete sie zuerst:

„Da war ich sehr unartig".

Ließ man aber

das Gespräch nicht fallen, drang man auf Detailbeichte, da bekam

man Geschichten zu hören, über die man lächeln mußte, bei deren

Erzählung aber ihr das Blut in den Adern immer wieder kochte. Dem Mr. North gehörte das ganze Dorf, und zwischen ihm

und den Gutsnachbarn bestand ein stiller Wetteifer in der Ver­ schönerung ihrer Anwesen.

Demgemäß prangte vor jedem sauber

angestrichenen Cottage ein Vorgärtchen mit den schönsten Blumen.

Die Insassen aber waren elende Taglöhner, denen es am Nöthigsten gebrach.

Von Marie Hillebrand zur Rede gestellt, warum sie nicht

statt der „dummen Blumen" Kartoffeln und Gemüse zögen und eine Ziege sich hielten, antworteten sie ihr:

Bei Leibe nicht! The

Laird würde es nie erlauben; sein Dorf soll weit und breit das

schönste sein. Natürlich gab sie der Herrschaft mit ihrer Leutseligkeit gegen die Kleinen und Armen beständig Aergerniß. Noch mehr aber durch

Standreden, die zwischen Christi Bergpredigt und der Kapuzinade in Wallenstein's Lager

die

goldene Mitte

glücklich

getroffen

zu

haben scheinen: „Christen wollt Ihr sein, spendet für Heidenmissionen,

und

„habt keine Liebe übrig für die Armen, die bei Euch wohnen.

„Ich meine doch,

„Charity begins at hörne!“

„Zahlung der Armen-Taxe ist es nicht gethan.

Mit der

Dem Menschen

„könnt Ihr nicht menschlich nahe kommen, wenn er nicht gesell-

„schaftsfähig ist".

„Von englischer Freiheit wißt Ihr viel zu reden.

Wo

ist

„diese Freiheit? muß ich doch es immer wieder erleben, wie vor

„Euren Kindern, die ich erziehen soll, die ältesten Leute im Dorf 3*

26 „demüthig sich verbeugen;

wie sie nach beendigtem Gottesdienst

„nicht eher aufbrechen dürfen, als bis Ihr die Kirche verlassen

„habt. Ihr spottet unserer deutschen Fürstendienerei. Aber wahrlich, „ich sage Euch, keinem Fürsten noch Könige gegenüber sind wir

„in Deutschland so unterthänig, wie vor Euch Dorfjunkern Eure

„Gutsleute.

Wie kann ich unter solchen Verhältnissen ein Kind

„richtig erziehen? — u. s. n>." Das unmöglich zu haltende Verhältniß kündigte sie schon nach

wenigen Wochen; Mr. und Mrs. North suchten auffallender Weise sie zu halten, und behandelten sie bis zuletzt mit aller Güte, waren

aber schließlich einsichtig genug, sie ruhig ziehen zu lassen.

Und

daran thaten sie wohl; drohte doch Mariens Wesen die ganze Haus-

Die gutbezahlten, gutgehaltenen Dienstboten,

Ordnung zu lockern.

denen nach einer Reihe von Dienstjahren auskömmliche Pensionen winkten, wollten, als sie ging, alle ihr nachziehen, in ihren Dienst

treten, und vermochten nicht einzusehen, daß sie, ärmer als sie alle,

keine Stelle zu vergeben habe.

Geradezu revolutionär hatte auf sie

gewirkt die ungewohnte allgemein menschliche Sympathie, der sie hier bei einer Gebildeten begegnet waren.

Sobald zuni Ersatz eine andere Gouvernante sich gefunden,

verließ sie das vornehme Haus, mußte aber gleich erfahren, welch nachhaltigen Eindruck trotz Allem sie in der Familie hinterlassen.

Die ältere Tochter, Marion, hörte trotz der Mahnungen der Mutter nicht auf, mit ihr zu correspondiren; sie schrieb einige Jahre lang

an Marie intime Briefe, die, noch jetzt erhalten, in ihrem gebrochenen,

oft komischen Deutsch von wohlthuender Frische und Liebenswürdig­ keit

sind. — Ja,

nach mehr als drei Dezennien erinnerte sich

Marion, durch botanische Reisen in den tropischen Ländern mittler­

weile

zu

wissenschaftlicher Berühmtheit

gelangt,

ihrer

Gouvernante und hatte kaum deren Adreffe erfahren,

früheren

als sie in

alter Liebe wieder an sie schrieb. Ohne Stelle, ohne Mittel fand Marie in London Zuflucht und Heim bei einer Dame, die sie erst ein Jahr zuvor in Deutschland

kennen

gelernt

hatte,

und

welche

mit ihr bis zuletzt in treuer

Freundschaft verbunden bleiben sollte. Frau Julie Hähnisch war die Gemahlin eines tüchtigen, damals in England sehr beliebten

Porträtmalers.

Beide Eheleute nahmen sich ihrer liebevoll an. Es

27 gelang jedoch nicht, für sie in England auskömmliche Beschäftigung

zu finden, und so ward sie von den Verhältnissen nach Hause und zu dem Berufe gedrängt, für den sie recht eigentlich geschaffen war.

VII. Daß sie eine geborene Erzieherin sei, hatte ihr bisheriges Leben

zur Genüge bewiesen; im Verkehr mit den Freundinnen und den Brüdern *) ebensowohl wie in Gouvernantenstellen.

Ebenso klar

war aber andererseits, daß sie nur bei vollster Selbständigkeit wirken

Hatte ihr in Paris Veyret's Herzlichkeit jedes Gefühl

konnte.

der Abhängigkeit benommen, so war in England ihre gänzliche Un­ fähigkeit, sich unter ein Joch zu beugen, unverkennbar zu Tage getreten.

Zur Bethätigung der in ihr wohnenden mächtigen Kraft

verlangte ihre Gemüthsanlage eine nicht nur selbständige, sondern souveräne Stellung,

die keine bereits bestehende Schule ihr hätte

gewähren können; denn, trotz einer Bescheidenheit, die sich durch Widerspruch und Widerstand von Gleichberechtigten im Augenblicke leicht verblüffen und einschüchtern ließ?) war sie doch ganz außer

Stande,

fremder Einsicht oder auch der Schablone eines Schul­

programms

sich

unterzuordnen.

Wie

ein

lebendiger Quell

der

Inspiration sprudelte stets ihr Thun unmittelbar aus den Tiefen

ihrer Seele. So war sie, als Erzieherin, auf die Gründung einer eigenen

Anstalt angewiesen. Diesen Gedanken wird ihr wohl schon in den 40er Jahren der häufige Besuch bei einer befreundeten Frau Meyer eingegeben haben, *) Einer derselben wäre ohne sie niemals dazu gekommen, sich als Medi­

ziner zu habilitiren. Den leichtsinnigen Witzbold hielt Marie allein zum Studium an, lernte^selbst mit, ja honorirte ihm sogar (mit 6 Kreuzern) jede Stunde, die er mit ihr zu arbeiten geruhte.

2) Zum^Bewußtsein ihres eigenen Rechtes und Werthes mußte sie, wenn jenes verletzt, dieser verkannt wurde,

erst durch Reflerion sich emporarbeiten.

Momentan bis zur Zerknirschung verwirrt, ging sie in schlafloser Nacht mit sich selbst zu Gerichte.

Am nächsten Morgen aber wieder zu der Einsicht gekommen,

daß sie doch nicht so ganz schlecht und gering sei, Gegner

zur Rede mit vernichtender Beredsamkeit,

stellte

sie den

unbilligen

die ihm jede Lust benahm,

jemals wieder sich in^derselben Weise zu versündigen.

28

die in Heidelberg nach dem Tode ihres Mannes eine größere Anzahl Pensionärinnen angenommen hatte und deren Erziehung mit Gewissen­ haftigkeit und Erfolg testete.

Während des zweiten Aufenthalts in

Paris (1850) ward ihr von den dortigen Freunden

ein solches

Unternehmen angerathen, und von London aus zu dessen Verwirk­ lichung Capital angeboten.

Sie hatte sich jedoch gesträubt, darauf

einzugehen, theils aus Bescheidenheit, theils in richtiger Vorahnung der Schmerzen und Kämpfe des dornenvollen Berufes. Aus Paris, 3. Februar 1850, schreibt sie:

„mich in Aussicht; „erzählen.

„Man hat allerhand Projekte für

lassen Sie sich

von Fräulein T. darüber

Für meinen Geschmack und meine Talente sind die-

„selben viel zu großartig; ich würde ein einfaches Familienleben

„vorziehen. Doch, wie es kommen mag, nie werde ich die gütige

„Sorge meiner Freunde für mich vergessen und immer jede Ge„legenheit preisen, die mich mit so edlen Menschen in Berührung

„gebracht hat.

Ich wünsche nur Eines von der Zukunft:

sie

„möge mich beweisen lassen, daß ich des Vertrauens, das man

„mir schenkt, nicht ganz unwürdig bin." Noch in demselben Jahre (1850) sollte indessen das Unter­ nehmen zu Stande kommen.

Schon int October finden wir sie

wieder in Gießen, von wo sie schreibt: (16. Oct.) „Herr T. war mit Fran H. und deren Töchtern bei uns;

„die Mädchen kommen als Schülerinnen zu mir, und ich gehe „nicht nach Paris." Gießen, 15. Nov. 1850.

„Die Mädchen aus Frankfurt sind

„seit 2 Sagen bei uns. Ihre Eltern haben sie gebracht und zu-

„gleich

ein jüngeres

Schwesterchen

zu Besuch.

Uns thut die

„Gegenwart dieser Kinder sehr wohl. Die Jugend hat so viel

„Belebendes, man

wird unwillkürlich von ihrer heiteren Sorg-

„losigkeit angesteckt und läßt die trüben Gedanken nicht an sich

„kommen." Zum ersten Male genoß sie da mit dem Vater und'den zwei Schwestern ruhiges Familienleben; an materiellem Sorgen fehlte

es wohl nicht, da dem Vater gerade um diese Zeit die Professur entzogen worden und Schulden noch da waren. Es lichtete sich aber durch ihre Thätigkeit, und hoffnungsvoll durfte sie entgegen schauen.

der Zukunft

Am Wirken selbst hatte sie große Freude.

29

Bald waren neue Schülerinnen in Aussicht, welchen die Privatwohnung nicht mehr Raum genug bot. Für ein Mädchen­ pensionat hielt Marie natürlich die kleine Universitätsstadt nicht besonders geeignet. An die „Freie Stadt Frankfurt", wo damals noch der Zopf des engherzigsten Permissionisten - Wesens herrschte, war nicht zu denken. Sie war auf Großherzoglich Hessisches Gebiet angewiesen.

Sie schreibt (Gießen, 1. Januar 1851): „Ich bin erst gestern „von Frankfurt zurückgekommen, wo ich hinreiste, um uns in „Offenbach eine Wohnung zu miethen." Schon Ende März war sie mit ihrem Vater, ihrer unverheiratheten Schwester (die zehn Jahre lang ihr zur Seite stand) und den paar Schülerinnen dorthin übergesiedelt. Rasch füllte sich die Schule, noch ehe die Einrichtung fertig war. Sie hatte, wie sie sagte, schneller die Schülerinnen, als Tische und Dintenfäsier. Weit und breit wurde die von allen anderen so ganz ver­ schiedene Anstalt gerühmt, welche im Unterricht so viel, in der Er­

ziehung noch mehr leistete. Von ihrer glücklichen Stimmung in jenen Tagen zeugt folgende Stelle, wo sie ihr Wirken in heiterer Selbstironie charakterisirt (Pfingsten 1852):

„Es geht noch Alles seinen gewohnten Gang. Die Mädchen „lehre ich das ABC und vom Lause der Gestirne, von „den Gräsern und von den Helden Griechenlands, „und möchte ihnen durch alles dies beibringen, daß alles „Wissen Stückwerk ist und die Treue des Herzens das

„Eine, was Noth thut". In der Schulmännerwelt war bald ob der curiosen Schule großer Aufruhr. „Was war das für ein armseliges Ding, das sich „unterstand, es anders als die Fachleute zu machen, und Erfolg „zu haben? Wußte doch kein Mensch, ob und wo Marie Hille„brand ein Examen bestanden!" Diese Kleinigkeit hatte sie in der That ebensogut vergessen, wie früher die rechtzeitige Anschaffung von Dintenfässern.

Von der Schulbehörde daran erinnert, bat sie um sofortige Prüfung, bestand glänzend und erhielt nebst der nachträglichen Er-

30 laubniß zur Errichtung ihrer (längst bestehenden) Anstalt ein Zeug­

niß, das mit dem ungewöhnlichen Passus schloß: „Nach meinen eigenen Wahrnehmungen sowohl", schreibt der

„Examinator, „als nach mehrfach vernommenen dankbaren Aeußer„ungen betheiligter Eltern hat Frl. Marie Hillebrand sich in

„ihrer Anstalt der Erfüllung

ihrer

Pflichten fortwährend mit

„unverkennbarer Begeisterung gewidmet und nicht allein den Geist „ihrer Zöglinge zu bereichern, sondern auch mit liebevoller Sorg„falt auf ihr Gemüth veredelnd einzuwirken und ihnen eine

„wahrhaft

religiössittliche Richtung

zu geben

ge-

„strebt." — Offenbach a. M., 20. Nov. 1852.

Die hier durch gesperrten Druck hervorgehobenen letzten Worte sollten für Marie Hillebrand von unsäglichem Werthe sein. Machte dies Zeugniß es ihr doch möglich,

den Religions­

unterricht in ihrer Anstalt ganz in eigener Hand zu behalten, jede Einmischung von Theologen sich zu verbitten und geistliche Mit­

wirkung auf die Vorbereitung zur Confirmation zu beschränken.

Und wie hätte sie Geistliche brauchen können bei einem Streben,

das berufen war, unter Anderem das zu verwirklichen, wonach der

sterbende Lessing sich vergebens sehnte? wurde doch das glückliche „Reich, wo es keine Juden und keine Christen gibt",1) von Marie Hillebrand in ihrer Anstalt dargestellt.

Der Religionsunterricht war aber

auch außerdem das Alles

durchdringende Lebensprinzip ihrer Erziehung, welche durch Ueber-

laffung desselben an theologische Kräfte ganz lahm gelegt worden wäre. In der Schule von Spinoza, Lessing, Kant und Schleiermacher

gebildet, hatte ihr Geist- wie bei solcher Zucht nicht anders zu er­

warten, allmälich die dogmatischen Fesseln abgestreift, ohne daß sie selbst im Stande gewesen wäre, den Zeitpunkt anzugeben, wo für sie die Gläubigkeit im kirchlichen Sinne aufgehört.

Ganz un­

bewußt und ohne fühlbaren Riß hatte sich der Prozeß in ihr ab­ gespielt.

Eine Theologie als Wissenschaft vermochte sie nicht anzu-

*) s. Lessing's letzten Brief an Moses Mendelssohn.

31 erkennen,

sondern

nur

eine

der Theologie,

Geschichte

worin sie

ebenso bewandert war, wie in der Geschichte der Philosophie. Das

kirchliche Dogma war ihr somit zu einem unwesentlichen Beiwerk geworden;

dies

Gerüst

beizubehalten

gönnte

sie Jedem,

der es

nöthig zu haben vermeinte; bei ihr war es nach Fertigwerden des inneren sittlichen Baues von selbst weggefallen. Aber fest und unerschütterlich stand

bei ihr der Glaube an

eine Weltordnung, die in Bezug auf den Menschen eine sittliche sei, und deren gerechtes Walten

sich in der Geschichte verfolgen lasse.

Selbst der einzelne Mensch finde schon bei Lebzeiten Strafe und

Belohnung

seines

Thuns

in

der

daraus

resultirenden

rigung oder Veredlung seines inneren Wesens. Sanktion

vollkommen

hinreichend;

Iphigenie „ganz unbefleckt

den

Ernied­

Für sie war diese

Spruch

der

Goethe'schen

genießt sich nur das Herz!" hat saunt

jemals ein anderer Mensch so lebendig wie sie bewahrheitet.

Die in diesem ihrem Glaubeit enthaltenen Zweifel und Ne­

gationen blieben bei ihr aber etwas

streng Esoterisches, worüber

sie nur in der Intimität gegen Gleichgesinnte sich äußerte.

Da-

für Propaganda zu machen, hielt sie nicht am Platze, dachte viel­

mehr, diese Anschauuitgen könnten Resultate der Bildung sein,

böten aber keine Bildungsmittel, und hätten nur

für den

Redlichen Werth, der durch eigenes Denken von selbst dazu ge­

lange.

Im Grunde waren sie ihr sogar ziemlich unwesentlich: es

komme, pflegte sie zu sagen, wertiger darauf an, nach was der Mensch zu streben glaube, als welchen Weg er gehe. Saul sei ausgegangen, um Eselinnen zu suchen, und habe doch ein Königreich gefunden;

und Amerika's Entdeckuttg verliere dadurch nichts von ihrem Werthe,

daß Columbus nach Indien zu segeln gemeint habe. So beobachtete sie den Glaubensfragen gegenüber eine Zurück­

haltung, die in ihrer delikaten Stellung der größten Klugheit gleich kam, aber nur der itngewollte Ausdruck ihrer Natur war. Daß sie

keine Kirche besuchte, fiel Niemand auf, da sie eigentlich, nach

dem Worte des Evangeliums,

„nie aus dem Tempel kam", ihr

ganzes Thuit uitd Walten vielmehr gelebte Religion war.

Aber

vielen ihrer Schülerinnen, auch recht begabten, die ihr in ihrem

Wirken Jahre lang nahe gestanden hatten, war es später eine er-

32 staunliche Entdeckung, daß Glaube» hege. D

Frl. Marie keinen positiven orthodoxen

VIII. Vierzig Jahre sollte Marie Hillebrand's Wirksamkeit als Instituts­ vorsteherin dauern. Es kamt meine Absicht nicht sein, die Geduld des Lesers durch detaillirte Annalen auf harte Probe zu stellen; dazu würde ohnehin das Aktenmaterial fehlen, denn der bedeutenden Frau ging zu schriftlichen Aufzeichnungen über ihr Thun nicht nur die Muße, soudern auch die Lust ab. Die tagbücherselige Zeit Jean Paul'scher Schwärmerei und Nahel'scher Selbstbespiegelung hatte sie in ihrer Jugend mitgemacht, ohne von Herzen dabei zu sein; ihrem thatkräftigen gesunden Sinn widerstrebte die ewige Beschäf­ tigung mit dem lieben „Ich". Sie blieb derselben zeitlebens abhold und ließ sie in ihrer Schule nicht aufkommen. Oft hörte man sie sagen: „Ueber dem Buchen des Lebens versäumt Mancher zu leben", und: „Wer sich beständig den Puls befühlt, wird bald Fieber be­ kommen." Schriftliches also hat sie kaum hinterlassen. Nur einmal, ganz

int Anfang ihrer Berufsthätigkeit, ließ sie sich durch dringende Bitten einer französischen Freundin zu einer Darlegung ihrer pädagogischen Ideen bestimmen, welche der Gemahl dieser Dame, Dr. Guepin aus Nantes, in einem Buch abdruckte, von dem sogar der Titel längst verschollen ist. Daraus erfuhr ich zum ersten Mal von der Existenz einer Marie Hillebrand, erinnere mich aber deutlich, daß sich jene

Prinzipienerklärung mit der Wirklichkeit ihres pädagogischen Wirkens durchaus nicht deckte. — Wer könnte überhaupt gleich im Anfang seiner Laufbahn dieselbe prophetisch vorausschildern? Das vermochte aber am roenigfteii eine so durchaus impulsive Persönlichkeit, wie sag das Eintreten

Ueberhaupt

nicht in ihrer Natur. Versuche,

ne

in dieselbe zu reißen,

jemals einen Lehrerkongreß. jeden

auffallenden

für

Meinungen,

gleichviel welche,

Auch blieb sie der Frauenbewegung immer ferne; alle Ihre

Schritt, jedes

waren umsonst.

Ebensowenig besuchte sic

angeborene weibliche Schüchternheit scheute

öffentliche Auftreten.

Hiermit will ich weder

Lob noch Tadel ausgesprochen, sondern blos eine Eigenthümlichkeit ihres Wesens erwähnt haben.

33 die hier besprochene, für welche niemals Abstraktionen, sondern stets die Erfordernisse der augenblicklichen Wirklichkeit bestimmend waren. Ten lebenden Organismus dagegen, den sie in ihrer Anstalt

geschaffen, habe ich genau gekannt, und ant Wirken und Treiben darin Theil genommen.

Diese bedeutende Leistilng eingehend zu beleuchten, ist ein Haupt­ zweck der vorliegenden Schrift.

Um jedoch die Darstellung nicht

später durch Erörterung zufälliger Ereignisse, die ebenso gut hätten ausbleiben als eintreten können, zu mtterbrechen, muß ich einen

kurzen Abriß von Marie Hillebrand's äußerem

Schicksale bis zu

ihrem Lebensende vorausschicken.

IX.

In Offenbach gewährte das Institut, trotz der starken Frequenz

und des schnell erlangten Rufes, seiner Stifterin keine rechte Be­

friedigung.

Wohl leistete es als Unterrichtsanstalt Bedeutendes, in

der Erziehung aber, die für Marie der eigentliche Zweck des Wirkens war, fühlte sie sich auf Schritt und Tritt durchkreuzt und gehemmt

durch die Anwesenheit von Externen und das dadurch bedingte Ein­ dringen äußerer Einflüsse.

So sehnte sie sich

nach

Abgeschlossenheit und suchte dieselbe, sobald

ländlicher

die

materiellen

Verhältnisse ihrer Familie geordnet waren.

Durch ihr Diplom an Hessen-Tarmstädtisches Gebiet gebunden, verlegte

sie 1854 ihre

Anstalt

nach

dem

ihr

längst

bekannten

Rödelheim, wo sie vom Grafen Solms nach und nach zwei Häuser

und das damals nur zum kleinsten Theil ausgebaute Schloß in

Pacht nahm. — Dank der wohlwollenden Haltung des Miethsherrn in dem weitläufigen Anwesen ganz wie zu Haus, durfte sie darin nach Belieben schalteit und walten, und wäre dort wohl immer ge­ blieben,

hätte sie nicht im Jahre 1866 der von massenhafter Ein­

quartierung eingeschleppte Lazareth-Tpphus vertrieben.*) Mit einer einzigen Schülerin, einer Waise aus Nordschottland, r) Cs war eine förmliche Epidemie gewesen. Wohl ein Viertel der Schülerinnen erkrankte, mehrere starben; die Lokalität kam in Verruf und mußte verlassen

werden.

34 die man nicht heimschicken konnte, flüchteten wir Weihnachten 1866 nach dem nahen Badeorte Soden.

Wir hatten, nach den furchtbaren Erlebnissen, uns die Frage

noch nicht gestellt, ob das Institut fortzusetzen oder aufzugeben sei. Das Vertrauen der Familien machte die Erwägung des Für und Wider iiberflüssig;x) kaum durch Neujahrskarten von unserem Orts­

wechsel benachrichtigt, schickten sie uns ohne vorherige Anfrage die

Schülerinnen nach Soden.

und

Auf einmal hatten wir 40 Zöglinge

keine ausreichende Wohnung.

Nothgedrungen

kaufte Marie

Hillebrand (Januar 1867) ein großes, wenn auch für ihre Zwecke

schlecht geeignetes Anwesen in Soden und nahm das nur ganz kurz

unterbrochene Wirken wieder auf.

Den Aufenthalt in Soden hatte sie immer nur als Provisorimu betrachtet.

Fehlte doch die für eine Mädchen-Erziehungs-Anstalt

nöthige Abgeschlossenheit ganz und gar, und die zudringliche Neugier unbeschäftigter Badegäste erwies sich noch störender, als seiner Zeit in Offenbach die Einflüsse von Außen.

So ergriff sie 1871 die erste sich bietende Gelegenheit und miethete in Neuenhain, V» Stunde von Soden, ein von einem Knaben­

erzieher, der kein Glück gehabt, für Schulzwecke eingerichtetes Haus, das wenigstens in den Hauptpunkten dem Bedürfniß entsprach. Von

dort aus endlich baute sie 1876, ebenfalls in Neuenhain, ein Instituts­ gebäude, *2) welches, ganz nach ihren Angaben eingetheilt und eingeWie unerschütterlich dieses Vertrauen gewesen, sollte sich lange Jahre nach der Rödelheimer Katastrophe in erschütternder Weise zeigen, als dem Institute

eine neue Schülerin zugewiesen wurde durch Empfehlung zweier Familien deren Töchter in Rödelheim dem Typhus zum Opfer gefallen waren.

2) Hier fällt mir ein seltsames Beispiel der prophetischen Gesichte, deren Gabe Marie von der Mutter überkommen hatte, wieder ein. In der Sodener Zeit, also mindestens 6 Jahre ehe sie Bauen überhaupt dachte, hatten wir eines Tages die Schülerinnen aus eine benachbarte Höhe begleitet. Auf einmal rief sie aus: „Was ist das? Das hatte ich noch nie gesehen!" und hieß mich nach einem Hügel schauen, wo sie ein Gebäude erblickte, das sie mir genau beschrieb, mit Freitreppe, Veranda und Balcons. Es existirte nur in ihrer Phantasie. Der Platz aber war derjenige, wo sie 1876, und zwar ihrer vorahnenden Schilderung

entsprechend, bauen sollte.

35 richtet,

den

speziellen

Erfordernissen

ihres

Berufs

vollkommen

genügte. In diesem selbsterbauten Haus spielte sich der letzte Theil ihres

pädagogischen Wirkens ab, leider unter dem Drucke schwerer mate­

rieller Sorgen.

Wie wahr der Spruch, daß dreimal umgezogen so

viel heißt, als einmal abgebrannt, ward ihr in peinlichster Weise fühlbar. Zu unverschuldetem Unglück traten aber noch viele geschäft­ liche

Fehler, von denen keine Warnung sie

abzuhalten

vermocht

hatte, weil sie tief in der Eigenthümlichkeit ihrer Natur wurzelten.

Die Folgen dieser weittragendeil Irrthümer verdüsterten den

Abend ihres Lebens, ohne indeffen ihr Muth und Humor zu be­ nehmen. x) Noch andere Prüfungen waren ihr vorbehalten: Die zwei Augen,

auf welchen im buchstäblichen Siilu des Wortes Wirksamkeit und Existenz ruhten, fingen mit den Jahren sich zu trüben an.

Eine

Erblindung am grauen Staare ward 1886 glücklich operirt.

Aber

dazu gesellte sich noch eine innere chronische Krankheit, nach deren Nennung sie sich geistigem Niedergänge geweiht wußte. Unter solchen Umständen noch arbeiten zu müssen war Sklaverei.

Doch mit un-

gebrochenem Muthe ruderte sie auf ihrer Galeere fort, einem nirgends x) Mitten unter diesen Drangsalen schreibt sie im Dezember 1884 an eine alte Freundin: „Mehr als je begreife ich, welch „die Fluth nicht wahrgenommen zu haben .... „eine Gans, — die längst die Jugendjahre „unserm Alter sich befunden, und die ich für

ein Fehler es war meinerseits, Wir haben soeben mit Herrn F. hinter sich hatte, vielleicht in viel Geld mit Haut und Haar

„der eben so alten Marie (von Kl.-Schwalbach) abgekauft, — verzehrt, unsere „Zähne daran erschüttert und unseren Magen schwer bedrückt. — Ach! I.,

„so ist das Leben! schwer zu verdauen und zu verarbeiten, wenn man „nicht zu rechter Zeit gesehen und gehört hat. — Deine furchtbare „Prophezeiung ist Gott sei Dank noch nicht eingetreten, und wird sich auch „hoffentlich nicht erfüllen. Was bliebe mir dann übrig, als mich zum Sterben „niederzulegen, um meinen gequälten Geist auf- und ihn den himmlischen Heer„schaaren zu übergeben? .... Du könntest Dich wohl einmal der Dampf-

„fräst überlassen und hier landen. Aber Du reisest nur auf Flügeln herzinniger „Wünsche und Gefühle, imb mit dieser Kraft kommt man nicht weit. Ver„zeihe diese Capucinäde, aber mitunter muß eine vom Stapel gelassen werden, „und an Wen soll ich sie adressiren, wenn nicht an Hich? Oh! ich bin jetzt „so behutsam geworden, ich behandle jetzt die Menschen wie rohe Eier, mit „Glace-Handschuhen, die ich aber gewöhnlich vergesse anzuziehen."

36 noch sichtbaren Hafen entgegen, bis ihr endlich im Herbste des

Jahres 1890 auf Betreiben ergebener Freunde die Last abgeuommen ward, und der Verkauf des Neuenhainer Hauses an eine Wohl­

thätigkeitsanstalt ihr das Ausruhen ermöglichte.

Bitt höchst be­

scheidenem Auskommen trat sie Anfang 1891 in's Privatleben zurück, um nach knapper Jahresfrist raschem geistigen Siechthum zu verfallen.

Körperliche Schmerzen blieben ihr in dieser trüben Zeit erspart1) und den heiteren Sinn behielt sie bis zuletzt.

Zweiter Theil.

D a $ Wirken.

x. Doch kehren wir zu Erfreulicherem

zurück, zu

dem gesund

blühenden Organismus, welchen um sich zu schaffen ihr beschieden worden war.

Ob in Offenbach oder in Rödelheim, ob in Soden oder in Neuenhain, das Institut blieb sich im Grunde immer gleich, wie die mächtige Seele, deren Bethätigung es war.

Zum Gegenstand

meiner Schilderung wähle ich indessen mit Vorbedacht die Rödel-

Heimer Zeit, nicht nur weil ich dort die Anstalt kennen lernte, l) Diese ertrug sie sehr schlecht. (1881):

In richtiger Selbsterkenntniß schreibt sie

„Ich habe fliegende Gicht. Da heißt es Geduld haben, und die übe ich „auch immer in der Zeit, wo ich grade keine Schmerzen fühle. „Stellen aber diese sich ein, so huldige ich dem klassischen Alterthum, und „schreie trotz dem auf die wüste Insel abgesetzten Philoktet."

In Darmstädter Mundart (die bekanntlich das n kaum, das r gar nicht ausspricht) gebrauchte sie gerne, in Bezug auf sich, das geflügelte Wort: „Ich kann Alles vertragen, nur keine Unannehmlichkeiten."

37 und viel auf den unmittelbaren ersten Eindruck gebe, sondern auch

weil sich in jener Periode der schädliche Einfluß äußerer Umstüude und ungeeigneter Persönlichkeiten am welligste«, ja zuletzt gar nicht mehr fühlbar machte, mithin das Walten der leitenden Individualität zur reinsten Entfaltung gelangte.

Die Externen, die in Offenbach

störend eingewirkt, hatte Marie Hillebrand glücklich abgeschüttelt, und ferne lagen noch die nagenden Sorgen einer späteren Zeit.

Auch war die Rödelheiuier Periode die Zeit des größten Rufes der Anstalt.

Diese war weit und breit berühmt und der Gegen­

stand von Polemiken geworden, welche die Stifterin unter der Be­ dingung ruhig hinnahm,

daß sie sich daran nicht zu betheiligen

brauchte. Von dem

allgemeinen

Interesse,

deffen

Gegenstand

in der

zweiten Hälfte der 50er Jahre und bis 1866 Marie Hillebrand's

Wirken war, mögen einige bezeichnende Züge Zeugniß ablegen. Als einmal die Wanderversammlung deutscher Schulmänner in

Frankfurt tagte, wollten einige der Herren (ob auf eigene Faust

oder als Abordnung, weiß ich nicht) sich das vielbesprochene, viel­

geschmähte Rödelheimer Institut ansehen.

Im richtigen Gefühl, daß

da dem Auge nichts zu zeigen, daß das einzig Werthvolle und Eigen­

thümliche von flüchtigem Blicke nicht wahrzunehmen sei, weigerte sich Marie Hillebrand, ihrem Wunsche zu willfahren.

Der Eine,

dem es gelang, zu ihr Zutritt zu erlangen, brachte den Collegen

den beruhigenden Bescheid: da sei nichts besonderes.

Vorsteherin

gesehen:

ein

elendes Lichtchen,

das

Er habe die

bald

ausgehen

müsse. — Das Lichtchen sollte noch einige dreißig Jahre munter

fortbrennen. Ein berühmter Schriftsteller rügte in einer damals viel ge­ lesenen Zeitschrift, daß Marie

Hillebrand die Mädchen für den

Mutterberuf vorbereite, ohne daß brauchten.

sie an den Man»

Der sonst höchst geistvolle Herr

zu denken

ahnte nicht, daß

in

diesem vermeintlichen Tadel das höchste Lob ausgesprochen war.

Andererseits verstieg sich zuweilen der Enthusiasmus der An­ hänger zu compromittirenden Aeußerungen.

Die älteren Zeitgenossen

erinnern

sich

wohl

noch,

welcher

Sturm der Entrüstung losbrach, als sich 1853 der schwache Pius IX.

38

von den Jesuiten die Verkündigung des neuen Marien - Dogmas mit dem befremdlich klingenden Namen abringen ließ.

Im Verlaufe jener Polemiken ward einmal an einen der Führer der katholischen Partei in Frankfurt am Main öffentlich in der Presse der Rath ertheilt: Wenn es denn ohne Marien-Cultus durch­ aus nicht abginge, so möchte der darnach Verlangende den kleinen

Weg von Frankfurt nach Rödelheim nicht scheuen und dort dem Wirken einer anderen Maria zusehen, die er unbedenklich ver­

göttern bürste.1)2

Mehr als solche Excentricitäten zeugt von dem Ansehen, in

welchem Marie und ihr Wirken stand, folgende Thatsache: Im

Jahre 1865 hatte sie daran gedacht, nach Ablauf der Miethzeit in Rödelheini ihre Anstalt in's Badische zu verlegen, und fand beim Großherzog, obgleich ihm damals persönlich noch nicht bekannt, das

willigste Entgegenkommen.

scheiterte der Plan.

Am Mangel eines passenden Anwesens

?lber der edle Fürst hatte Diarien, auf ihren

bloßen Ruf hin, solche Theilnahme zugewendet, daß er ihr 1866 in der Kriegszeit sein Jagdschloß Scheibenhardt (bei Karlsruhe) als

Zuflucht für's Institut anbot und ließ.

zu diesem Zwecke einräumen

Unterbrechung der Communicationen durch die Kriegsereig­

nisse machte die Uebersiedlung unmöglich?)

So viel von der damaligen Berühmtheit der Anstalt.

Beim Eintritt in beit Rödelheimer Zauberkreis glaubte sich empfängliche Jugend

leicht in eine andere, bessere Welt versetzt.

War doch hier die Lebensatmosphäre so rein, so mächtig in seiner Einfachheit das geistige Streben, wie es jentals nur zu Port Royal bei der großen Angelique Arnauld der Fall gewesen sein mag.3) x) Dem gefährlichen Freunde verwies Marie Hillebrand solch schwärmerische Apotheose, auf die leicht ein Bewerfen mit Koth hätte folgen können. Er mußte von ihr schweigen, der mit Hillebrands befreundete katholische Pfarrer von Rödelheim legte sich beschwichtigend in's Mittel, und schnell war der Zwischen­ fall vergessen. 2) Bei Abstattung des schuldigen Dankes ward Marie mit den Groß­

herzoglichen Herrschaften bekannt, die wiederholt sie in ihr Land zu ziehen suchten und ihr in der Folge wesentliche Dienste leisteten. In Soden kam die Frau

Großherzogin während ihrer Badekur fast täglich zu Marie Hillebrand.

3) Ueber diese großartige Frau s. Ab rege de l’histoire de Port Royal,

vom Tragödiendichter Jean Racine.

39 Fern lagen aber die klösterlichen Schranken. In größter Frei­ heit, in stetem Verkehr mit den Elementen, unter welchen sie der­

einst in der Welt leben sollten, wuchsen die jungen Mädchen auf in einer unsichtbaren Zucht, deren Alles umfassende Umsicht erst aufmerksamerer Beobachtung sich offenbarte.

Hillebrand'scher Familientradition gemäß war das Haus ein

eminent gastliches und der Sitz einer um den alten Professor und seine große Tochter gravitirenden Geselligkeit.

Fast immer waren

Logirgäste da, meist nur bei Tische sichtbar; den Tag über kamen

und gingen zahlreiche Fremde, meist um die Vorsteherin zu sprechen. Bekannte und Unbekannte; Eltern, die ihre Kinder besuchen, sie abholen oder neue Schülerinnen anmelden wollten, Geschäftsleute,

die etwas auszumachen hatten, Leute, welche die berühmte Persön­

lichkeit kennen lernen

wollten und Hilfesuchende jeder Kategorie,

von der vornehmen Dame, die sich den aus dem Labyrinth ver­

wirrender

Conflikte rettenden

Ariadnefaden

holte, bis herab

zu

dem verschämten Bettler, welcher hier Wohlthaten empfing, denen

der feinfühlige Sinn der Geberin das Demüthigende benahm. So ward z. B. einmal Marie Hillebrand vor ihrer Haus­

thüre von einem sehr anständig aussehenden Herrn mit den Worten angeredet: „Sie sehen so herzensgut aus, daß ich Sie wohl um etwas zu essen bitten darf.

Ich falle vor Schwäche bald um."

Sie ließ für ihn im Empfangszimmer einen Tisch decken und

ein Frühstück auftragen, setzte sich zu ihm, sah von Fragen, denen er scheu auswich, gänzlich ab, drängte ihm aber, als er wegging,

einige Gulden als Darlehen auf.

Vergessen hatte sie den Vorfall,

als sie einige Tage später wieder in's Empfangszimmer gerufen

ward, aus welchem wundervolles Klavierspiel ihr entgegentönte; am

Instrument saß der Bettler von vorgestern, der ihr das Geld zurück­

erstatten und ganz besonders dafür danken wollte, daß sie ihn als

Herrn

behandelt.

Es

war ein Privatbeamter,

den ungerechter

Verdacht in wahnsinnige Flucht getrieben, dessen Unschuld aber sich

mittlerweile herausgestellt hattet) *) Daß Marien's Güte oft genug von Schwindlern mißbraucht ward,

beirrte sie nicht; ja, war einmal der Schwindel originell und genial ange­ legt, so konnte er ihr nachträglich einen künstlerischen Hochgennß der Selbst­

ironie bereiten.

40 Da denkt man unwillkürlich an jene mittelalterliche Sage von

Christus, der als Bettler umherzieht, um die Herzen zu prüfen. Bei diesem beständigen Verkehr mit Fremden hatte es fast

den Anschein, als vernachlässigte Marie Hillebrand

ihre Schule.

Wie wenig dies der Fall war, wird an anderer Stelle gezeigt.

Nur so viel sei hier bemerkt, daß ihre Lehrstunden nie ausfallen durften, und daß sie mit den Schülerinnen Tag und Nacht in

Fühlung blieb.

Sobald eine Entscheidung zu treffen war, durfte

weder ihr Schlaf noch ihre Bequenllichkeit berücksichtigt werde», am wenigsten aber die Anwesenheit von Fremden.

Wer auch mit ihr

im Gespräch war, mußte es sich gefallen lassen, daß sie mitten in der feffelndsten Unterhaltung

wegen irgend

eines Schulanliegens

bei Seite gerufen wurde; mit artiger Entschuldigung verließ sie den Gast, um bald, nach Lösung der vorliegenden Berufsaufgabe, wieder ganz bei ihm zu sein. Der vielgeschäftige Schein, worin sich Frauen (und nicht blos Frauen) oft so sehr gefallen, war ihr verächtlich.

Sie, die so viel leistete, sah immer aus, als hätte sie gar nichts zu thun.

Eine ungemeine Kraft der Concentration ermöglichte es

ihr, jede abfallende Minute zum Lesen

zu

benutzen, so daß sie

neben gründlichster Vorbereitung zur jedesmaligen Lektion noch zum

Fortstudiren

Zeit

erübrigte.

ruhige Sammlung des

Zum Nachdenken

über Dinge, die

Geistes fordern, diente dann die

Nacht;

denn ihr Schlafbedürfniß war minimal; in Zeiten angestrengtester

wochenlanger Nachtwachen bei Kranken genügten zu ihrer völligen Erfrischung ein Bad und zweistündige Mittagsruhe?)

Dem Fremden fiel auf, daß unter den Schülerinnen neben Erwachsenen und Halbwüchsigen

auch ganz kleine Kinder sich be­

fanden. „Gegenwärtig (lese ich in einem Briefe vom Februar 1856)

„haben wir 54 Mädchen von allen Altersstufen, vom vierten bis „zum

vierundzwanzigsten Jahre, auch mehrere

Confir-

„manden."

Dadurch bekam die Anstalt einen

familienhaften

Charakter,

auf welchen bei Darlegung der Unterrichts- und Erziehungsmethode zurückgekommen werden soll?) *) Ausspannung und Erholung fand sie in der Lektüre der einfachsten Kinderbücher (Chr. Schmidts Ostereier u. drgl.).

41 Die in

freier Geschäftigkeit

sich

bewegenden

Schülerinnen,

denen der Fremde im Haus oder Garten fast unfehlbar begegnete,

gaben ohne gezierte Schüchternheit ihm den etwa gewünschten Be­ scheid, führten, wenn nöthig, ihn in's Empfangzimmer und meldeten ihn an, hielten sich aber nirgends auf, sondern gingen gleich wieder

ihren Beschäftigungen nach. Wir wollen sehen, worin diese bestanden, was der Lebensinhalt ihrer überaus thätigen Tage war.

XI.

Wie wirksam und erfolgreich der Unterricht, zeigte sich in den Prüfungen, die zwei bis dreimal im Jahre stattfanden, und deren Resultate für die Anstalt die wirksamste Reklame gebildet haben

würden, wäre nicht der Vorsteherin jede Reklame zuwider gewesen. Rur selten, und dann immer zu dem speziellen Zwecke, Angriffe, die ihr zufällig zu Ohren gekommen, zu entkräften, ließ sie Fremde

dem Examen beiwohnen. Namhafte Pädagogen, die ab und zu von gemeinsamen Freun­

den mitgebracht wurden, waren stets erstaunt über die Fülle des Stoffes und dessen gründliche Bearbeitung.

Die Prüfung eröffnete, nach Absingung eines Chorals, der

Rechnenlehrer, der gerne, wie es bei Fachlehrern leicht der Fall, die ganze Zeit für sich in Anspruch genommen hätte. Bald aber nahm

Marie, des trockenen Tones satt, ihm das Heft aus der Hand, um

es nicht mehr fahren zu lassen.

Rasch wurde den jüngeren Zög­

lingen die biblische Geschichte abgehört; und nachdem die älteren durch

Vorlesen,

Uebersetzen

und

grammatische

Erklärungen von

ihrem Können in den Sprachen Probe abgelegt hatten, ging es an die Realien, Naturwissenschaft, Geographie und

Geschichte, und

zwar in buntem Durcheinander, das die Annahme eines Einpaukens zum Zwecke des Examens völlig ausschloß. Die abspringende Frage­ weise hätte viel eher den Verdacht oberflächlicher Viellernerei erwecken

können, wenn nicht von Zeit zu Zeit längeres Verweilen bei Einem

Gegenstand, den eine Schülerin

in freiem Vortrag gründlich er­

örtern mußte, den Ernst des Studiums bekundet hätte.

42 Diese Fragmethode glaube ich nicht besser als durch ein sche­

matisches Beispiel erklären zu können.

„Um welchen Weltkörper bewegt sich die Erde? — Bewegen sich auch andere Weltkörper um die Sonne? — Nennt die Haupt­ planeten. — Was nennt man Trabanten? Welche Planeten sind von solchen begleitet? — Hat man immer gewußt, daß die Erde die Sonne umkreist? — Wer widerlegte das Ptolemäische System. — Wann und wo lebte Copernicus? — Wer bildete sein System aus? — Erzählt von Galilei — von Keppler — welche Gesetze hat Keppler aufgestellt? — Welcher englische Mathematiker hat alle Bewegung auf eine einzige Kraft zurückgeführt? — Wann lebte Newton? — Welcher französische Astronom hat die bis jetzt wahrscheinlichste Welttheorie aufgestellt? — Was ist die Laplace'sche Theorie? — Wann lebte Laplace?

Wie erklärt man den Wechsel der Jahreszeiten auf der Erde? Was nennt man Ekliptik? Was heißt Länge und Breite eines Orts!

Nennt die fünf sogenannten Welttheile! — Wie heißt noch Ame­ rika im Gegensatz zu den Kontinenten der östlichen Erdhälfte? —

Warum heißt es neue Welt? — Wann wurde es entdeckt und von Wem? Woher stammte Columbus? — Wo liegt Genua? — Wie heißt das Gebirge im Norden von Genua? — Wie laufen die Apenninen? — Wie heißt die berühmteste Stadt Italiens? — Ueber welche Länder hat Rom geherrscht? Wann und von wem wurde ihm Gallien unterworfen? — Wann und wie starb Julius Cäsar? — Welchen berühmten Feldherrn mußte er besiegen, um zur Herrschaft zu gelangen? — Wo und wie starb Pompejus? — Was

waren die Ptolemäer? — Wer hatte Aegyptens maritime Hauptstadt gegründet? — Nennt Alexander's Hauptschlachten! — Welches große Heldengedicht hatte ihn zu seinen Großthaten begeistert? — Was ist der Gegenstand der Ilias? — Wo lag Troja?

Erzähle Eine den Trojanerkrieg im Zusammenhang.

Wer war Helena? — Wo liegt Sparta? — Von welchem griechischen Stamm wurde Sparta bald nach dem Trojanerkrieg er­ obert? — Nennt die hellenischen Hauptstämme, — den berühmtesten jonischen Staat. — Von wem empfing Athen seine Gesetze? Wann lebte Solon? Wer war der Gesetzgeber Sparta's und wann lebte er? —

43 Gegen welches asiatische Reich hatten die Griechen im fünften Jahr­ hundert vor Christo zu kämpfen gehabt? Nennt den Gründer des

Perserreichs. — Die Hauptnachfolger des Cyrus. — Wer zerstörte sein Reich? — Wie kommt es, daß wir 700 Jahre nach dieser Zer­ störung durch Alexander den römischen Kaiser Julian wieder im Kampfe mit dem Perserreiche finden? Auf welche Dynastie waren die Sasianiden gefolgt, und wann? Von welchem makedonisch­ griechischen Reiche waren die Parther abgefallen? — Um welches

Land hatten Seleukiden und Ptolemäer lange gestritten? — Welcher Theil von Syrien spielt eine bedeutende Rolle in unserer Religions­ geschichte?— Waren die Hebräer die ersten Bewohner Palästina's? Von welchem Volk entlehnte König Salomo Künstler und Hand­ werker zu seinem Tempelbau? — Wo lag Ophir? Keine Antwort, Ihr wißt es nicht? Nun das weiß auch kein Gelehrter zu sagen. — Was war die Hauptkolonie der Phönizier in Nordafrika? — Welcher karthagische Held zog gegen die Römer nach Italien? — Nennt die Siege Hannibals? — War er etwa zur See nach Italien ge­

kommen? — Wie viele panische Kriege zählt die Geschichte? — Welches östlichere Land eroberteil die Römer zur Zeit, wo sie Karthago zer­

störten? — Stand damals die Kultur in Rom oder in Griechenland höher? — Welcher große Staatsmann regierte in Athen beim An­ fang des peloponnesischen Kriegs? Welche Künstler und Dichter blühten im perikleischen Zeitalter? — Nach welchen großen Herrschern sind später ganze Cultur-Epochen genannt worden?— Wer war Augustus? Gegen wen hatte er Krieg führen muffen? Welche Schriftsteller blühten unter ihm? — Wer waren die Medicäer? Was war im Mittelalter die Verfassung der norditalienischen Städte? Nennt die berühmtesten Republiken Italiens! Wer herrschte damals in Rom? — Wer war Gregor VII. ? Mit welchem deutschen Kaiser führte er Krieg? Wie heißt dieser Kampf? Was bedeutet InvestiturStreit? — Nennt die Reihe der deutschen Herrscher von Heinrich I. bis Maximilian I. mit Jahreszahlen! Wo starb Barbarossa? Was waren die Kreuzzüge? — Erzählt von Muhamed und dem Islam! Was ist das Datum der Hedschra ? — Wann kam Constantinopel unter muhamedanische Herrscher? War Muhamed II. ein Araber? — Nennt einige seiner osmanischen Vorgänger! — Wann, wo und von wem ward Bajazid gefangen genommen? Wer war Timur? — Welches

44 Centralasiatische Volk hatte im 13. Jahrhundert eine Weltherrschaft

begründet? Welches christliche Reich blieb lange Zeit den Nachkom­ men Dschingis- Khan's zinspflichtig? — Zu welchem Volksstamme ge­

hören die Russen? Nennt die anderen slavischen Stämme!— Zu welcher Form des Christenthums bekennen sich die Russen? —

welcher die Polen?

Wann ward Polen ein Wahlreich?

Zu

Welche

deutsche Hauptstadt wurde von einem Polenkönig gerettet? Wann? — Wie waren die Türken vor Wien gekommen? Wer war 1795

Anführer der Polen? Hatte Kosziusko nicht schon in einem anderen

Welttheil für die Freiheit gekämpft? Erzählt vom Nordamerikanischen Befreiungskrieg!

Und

so

weiter,

immer

auf der leichten Brücke der Ideen­

association von einem Gegenstand zum andern überspringend.

So

ging es 2—3 Stunden lang, bis endlich Erschöpfung, der Zuhörer mehr als der Fragenden, Halt gebot.

Auf die stets durchsichtig

klare Frage erfolgte bestimmte Antwort, ost im Chorus, den

die

Fragende zum Schweigen bringen mußte, indem sie einer bestimmten Schülerin das Wort förmlich zuwies.

Die Annahme eines speziellen Einpaukens zu Examenszwecken verbot sich durch die Fülle und Vielseitigkeit des Materials.

Den

pädagogisch Gebildeten erschien aber das Resultat um so unfaß­ barer, da die Mädchen meist nur 2—2‘/2 Jahre in der Anstalt verblieben.

Aus anderen Schulen Kommende, Inhaberinnen glänzender Zeug­ nisse, wurden bald bescheiden gemacht durch ihre anfängliche Un­

fähigkeit, dem Unterrichte zu folgen.

Ihre Thränen des verletzten

Ehrgeizes trocknete aber gleich die Versicherung der tüchtigsten Mit­

schülerinnen,

es

sei ihnen

selbst anfangs

nicht besser ergangen.

Man müsse sich an die Methode erst gewöhnen.

Auf Fragen nach dieser Methode pflegte Marie Hillebrand zu er­ widern, es sei einfach die natürliche Methode, nach welchem Bescheid

man freilich gerade so klug war, als wie zuvor. Und doch hatte sie Recht.

Diese Methode war in so ferne die natürliche, als sie sich genau nach der Einzelnatur der Schülerinnen richtete.

Nicht diese hatten

mit dem Unterrichte Schritt zu halten, sondern der Unterricht paßte

sich ihrem Können und Bedürfen an. Von dem Prinzip ausgehend, daß die mittlere Mädchenschule keine

Gelehrten zu bilden, sondern vor Allem die Lust und Fähigkeit zum

45 Lernen

zu entwickeln

hat,

betrachtete

Marie Hillebrand

es

für

gleichgültig, wie viel Stoff die einzelne Schülerin in gegebener Zeit

sich aneignete, wenn nur dieses Biel oder Wenig wohlverstanden

und gründlich bearbeitet wurde. Daher keineKlassen-Eintheilung. In Einem Schulsaale empfingen die Mädchen von 13—17 Jahren einen gemeinsamen Unterricht, gehaltvoll genug, um auch den anspruchsvolleren Geistern zu genügen.

Als Leitfäden dienten die besten Schulbücher,

keine für „Töchter­

schulen" oder „für die weibliche Jugend" eigens abgeschwächte Absude. Nach jenen Leitfäden bearbeitet wurde das in der Lehrstunde

Vorgetragene in den sogenannten Parti een.

Es waren dies keine

Klassen im hergebrachten Sinne, sondern nach eigenen Grundsätzen

gebildete Gruppen; einer oder zwei tiichtigen Schülerinnen wurden

fünf bis zehn minder Vorgeschrittene übergeben, die sie vorwärts zu bringen hatten. Die Vorsteherin bestimmte, wie viel des Vorgetragenen Jeder der Schwächeren zuzumuthen sei. Manchen wurde anfangs nur

ein ganz kleines Stück aufgegeben, dies Wenige mußte aber ganz gründlich

bearbeitet werden;

erst

wurde

es

durchgegangen

und

durch Kreuz- und Querfragen ergründet, dann schriftlich in Fragen und

Antworten wiedergegeben;

wir korrigirten von

jeder Partie

nur ein Heft, wonach die Partieführerinnen die anderen

wieder

korrigirten.

Arbeit

Darauf

brachte die Partie

in

gemeinsamer

einen Aufsatz zu Stande, der wieder in gleicher Weise korrigirt

wurde.

Korrekturen, die auf Orthographie oder Ausdrucksweise sich

bezogen, wurden durch mehrmaliges Abschreiben dem

Gedächtniß

eingeprägt.

Erst wenn dies Alles geschehen und der Stoff den Zöglingen recht vertraut geworden ivar, wurde zum Aussagen gelernt.

Zwei

Reihen von Schülerinnen stellten sich vor der Vorsteherin einander gegenüber, von denen abwechselnd die eine zu fragen, die andere

zu antworten hatte.

Auf lautes, deutliches Reden ward gehalten,

wozu die großen Räume ohnehin aufforderten. Dem Abhören folgte dann eine neue Unterrichts-Stunde, die weiteren Lernstoff aufgab. In dieser Methode verbanden sich also auf's Innigste gemein­

samer und Privatunterricht, letzterer von den Schülerinnen selbst

ertheilt, die durch's Lehren zu doppelt intensivem Lernen angeleitet wurden.

46 Sehr ernst wurde es mit ihren Lehrpflichten genommen; für

den Erfolg waren sie verantwortlich; klagten sie bei der Vorsteherin

über die Schwierigkeit, diesem oder jenem Kinde etwas beizubringen,

so hieß es einfach: Du bist selbst daran schuld, hast es an Geduld fehlen lassen, oder: Du bist selbst noch nicht klar genug. Lerne die

Sache gründlicher.

Da aber Marie Hillebrand selbst das Beispiel

gab und in ihrem Lehrstreben nie ermüdete, eiferten ihr die besseren

Schülerinnen nach und brachten schließlich das kaum möglich Schei­ nende fertig. Alle, auch die unbegabtesten Mädchen, kamen vorwärts und gewannen Lust am Studium.

Und wenn nur mittelgute Be­

anlagung vorlag, waren die Fortschritte rasch und sicher.

In der kurzen Zeit von durchschnittlich 2—21/z Jnstitutsjahren die ganze Weltgeschichte durchzugehen und deren Hauptthatsachen den Zög­ lingen einzuprägen, diese erstaunliche Leistung wurde dadurch ermög­

licht, daß alle Geschichts-Perioden gleichzeitig durchgenommen wurden,

z. B. Montags alte und griechische Geschichte, Dienstags römische, Mittwochs Mittelalter, Donnerstags neuere, Samstags neueste Ge­

schichte.^) Genaue Beobachtung der Chronologie verhütete die sonst unvermeidliche Confusion; ohne geographischen Atlas durfte keine Geschichte gelernt werden.

Und so rasch war (trotz der oben ange­

deuteten schriftlichen Bearbeitung) das Vorschreiten, daß in Jahres­ frist die ganze Weltgeschichte durchgegangen war.

Wer dann im

folgenden Jahre sie nochmals vorgetragen bekam, hatte ausführlichere Lehrbücher zur Vervollständigung seines Wissens. ?)

Neben der Muttersprache wurden Französisch und Englisch ge­ lernt. Zur grammatischen Schulung des Geistes wurde die französische Sprache, als die einzige grammatisch hoch entwickelte unter den dreien,

weidlich

ausgenutzt, und

zwar in

einer der

Touffaint-

Langenscheidt'schen Methode sehr nahe verwandten Weise. Lectüre einer interessanten Erzählung

knüpfte

sich

An die

die gründliche

Bearbeitung des Stückes in formaler Hinsicht. Nebenher lief selbst­ verständlich das Erlernen der Sprachformen, der Regeln und Aus­

nahmen, und grammatische Analyse, wie sie in Frankreich getrieben *) Der Freitag war dem Zeichnen und Malen gewidmet.

2) Im ersten Jahre Dr. Gg. Weber's Weltgeschichte im Abriß.

desselben Verfassers zweibändige größere Ausgabe.

Später

47 wird und das große Resultat erzielt, daß dort fast Jeder richtig sprechen und schreiben lernt (was in Deutschland bekanntlich viel weniger

der Fall ist). Gute französische Prosa wurde so weit bearbeitet, daß

es den Schülerinnen ein Leichtes war, sie aus der eigenen Uebersetzung fließend und fehlerlos in die Ursprache zurück zu übertragen.

Für richtige Aussprache und Uebung in der Conversation war

in Rödelheim gesorgt durch die Anwesenheit junger Französinnen, welche die Deutschen und Engländerinnen lesen ließen, und für die

ihnen

selbst

angethanen Lern-Qualen durch unerbittliche

Rüge

schlechter Aussprache gründliche Rache nahmen.

Zum Erlernen des so viel leichteren Englisch verhalfen auf ähnliche Weise die Engländerinnen; auf die atrophirte Grammatik dieser Sprache wurde übrigens nicht mehr Mühe angewandt, als

sie es verdient. In die Mysterien der deutschen Grammatik wurde auch nicht

unnöthig tief eingedrungen.

Mit einem sehr kurzen Sprachlehrbuch

nahm man vorlieb, hielt aber viel auf Richtigkeit und Kürze des

Ausdrucks, und förderte den Styl hauptsächlich durch fleißiges Ab­ schreiben und Auswendiglernen klassischer Prosa. *) Wollte doch die

Schule keine Sprachgelehrten, sondern gebildete Geister in die Welt

entlassen. Daß auch die oben beschriebene Art der Stoffbearbeitung stylistisch bildend war, leuchtet von selbst ein.

Vom deutschen Aufsatz als besonderem Lehrfach hielt Marie Hillebrand nichts. Brunnen.

Der Geist der Kinder, sagte sie, ist ein leerer

Ehe wir daraus schöpfen, müssen wir ihn erst füllen.

Und besser, sie lernen etwas Gutes und Schönes, als sie zermartern ihr Gehirn zur Hervorbringung von etwas nothwendigerweise sehr Mittelmäßigem.

Mag auch diese Ansicht Manchem gelten;

als pädagogische Ketzerei

so viel steht fest, daß die Mädchen sich im Institut ein

richtiges und elegantes Deutsch aneigneten, welches für das jedesmalige

Denken und Fühlen stets angemessenen Ausdruck fand; frei von *) Die Franzosen haben es in der Beherrschung der Muttersprache haupt­ sächlich durch dieses Mittel weit gebracht. Wer dort nur eine Mittelschule durchge­ macht hat, kann schön französisch schreiben; dafür aber hat er ganze Schriftsteller im Kopfe, deren Ausdrucksweise ihm unbewußt zu Fleisch und Blut geworden ist.

48 falschem Pathos und von eingelernten Redefloskeln, schlicht, einfach, poetisch, wo die Naturanlage der Schreibenden es war, und beredt,

wenn es galt, tiefem Gefühl eine Sprache zu verleihen.

Die vielen Schülerinnen aber, die direkt aus beut Institut, ohne weitere Vorbereitung als die hier erhaltene, zur Staatsprüfung

sich meldeten, haben int deutschen Aufsatze nicht minder gut, als

anderswo gebildete bestanden. Die Literaturgeschichte hat als besonderes Schulfach die Gefahr,

dem Schüler über viele Werke, die er nicht kennt, fertige Urtheile beizubringen, die er in hohem Bildungsbewußtsein gedankenlos wieder

von sich gibt, i) Diese Klippe ward untgangen durch möglichst trockene Behand­ lung des Reinhistorischen.

Von den meisten Schriftstellern lernte

ntait fast nur Namett, Geburts- und Todesjahr und die Titel der

Hauptschriften. —

Dafür aber wurden die Schülerinnen mit bett

Meisterwerken der Weltliteratur bekannt, die ihnen Marie, wie be­

reits gesagt eine Künstlerin im Vorträgen von entfielt Dichtungen, durch Vorlesen vermittelte. Dem

Detail

der

Naturwissenschaften

erkannte

sie keinen

Bildungswerth zu, ließ es daher in diesen Fächerit bei der Erklärung

der Hauptgesetze der Physik und Kosmographie, einem Ueberblick der

geologischen

Erdgeschichte,

des

Wesens chemischer

Vorgänge,

der

Physiologie der Pflanzen und Thierwelt und der Betrachtung und Bestimmung der in der nächsten Umgebung vorkommenden Lebens­ gebilde bewenden.

Die Schülerinnen

zum physikalischen

Experi-

0 Davon ein erlebtes Beispiel. — Solch eine in der heimathlichen Schule, bei völliger Unkenntniß irgend eines Originalwerks, mit literarhistorischem und literarkritischem Wust aufgepäppelte höhere Tochter gab einmal kurz nach ihrer Ankunft in Rödelheim in öffentlicher Prüfung (nota bene vor einem ge­ strengen, gegen Marie Hillebrand damals noch sehr wenig wohlwollenden Herrn Schulrath) auf die Frage der Vorsteherin: „In welcher Fraueugestalt hat Goethe ein nachstrebenswerthes Ideal weiblicher Reinheit geschaffen?" die ergötzliche Antwort: „In Faustas Gretchen!" „So?" fragte Marie, „hast Du den Faust denn gelesen?" — „Rein." — „So schweige von Dingen, die Du nicht kennst."

Mit dem Faust natürlich nicht näher bekannt, berichtigten auf weiteres

Fragen die anderen Mädchen den Fehler und nannten Iphigenie. — Aber in die Erde versinken wollte die Neunzehnjährige, als ihr nachher unter vier Augen

Gretchens angeblich nachstrebenswerthes Erdenwallen kurz angedeutet ward.

49 mentiren

anzuleiten,

Laboratorium

für

sie

ein

auch

einzurichten,

sie

mit

botanischer und zoologischer

noch

so

bescheidenes

Klassifikation zu quiileii, wäre Marien nur als Zeitverlust, als eine

ambitiöse und deßhalb schädliche Spielerei erschienen. — Ob dieser „Zurücksetzung der Naturgeschichte" von befreundeten Naturwissen­

schaftlern oft getadelt,

ließ sie sich nie beirren; zuletzt beseitigte

etwaige Skrupel ein hervorragender Physiologe mit den beruhigenden

Worten: „Sie haben ganz recht. Das Detail der Naturwissenschaft

„erweitert das Können der Menschheit, trägt aber, als Schulfach, „zur allgemeinen Bildung nichts bei. Es setzt vielmehr, um „fruchtbar

zu wirken,

eine

bereits vorhandene

Geistesbildung

„voraus."

XII. Den

unschützbaren

Vorzug der

Einheitlichkeit verdankte der

Unterricht in Marien's Anstalt deni Umstande, daß er fast in seiner

Gesammtheit von einer und derselben Person ertheilt wurde.

Mit

Ausnahme von Rechnen, Musik, Zeichnen und Malen, Turnen und Und da

Tanz lehrte Marie Hillebrand allein sämmtliche Fächer.

sie zu gleicher Zeit ebenfalls allein und

leitete, fielen (immer etwas

souverän die

Erziehung

die Kraftverluste durch Reibung weg, die aus dem divergirenden) Wirken verschiedener

Personen

sich

unvermeidlich ergeben.

Erziehung war ihr aber die Hauptsache, der Unterricht nur

ein Mittel dazu. Reich

Wie nach

Christus aus dem Trachten nach dem

Gottes und der Gerechtigkeit alles übrige von selbst kommt

und obendrein gegeben wird, so wollte Marie den Menschen durch

Charakterbildung zum Glücke führen, denn „ein rechter Sinn „Bringt das Schöne in das Leben,

„Sucht es aber nicht darin." Bon dieser Ueberzeugung längst durchdrungen, schrieb sie, schon

vor dem Zusammenkommen eines Instituts, über ihre zwei ersten Schülerinnen: „die Mädchen machen mir viel Freude; sie geben

sich Mühe, gute, glückliche Menschen zu werden.

50 Und so lange Marien's Anstalt bestand, wurde darin

nach

Güte, nach Vortrefflichkeit gestrebt, und glücklich gelebt durch Be­

thätigung aller edlen Seelenkräfte. Der Liebe zunächst, indem die Mädchen

stets zusammen zu

wirken und für einander zu sorgen hatten. Pädagogisch gebildeten Lesern wird bei unserer Schilderung der

Rödelheimer Lernweise bereitsaufgefallen sein die Nichtbenntzung

des Ehrgeizes*) als Ansporn zum Studium.

Wie

gefährlich

jener Affekt, zeigen zur Genüge die heute nicht seltenen Selbstmorde von nicht versetzten Schulknaben in einem Alter, welches, dem

Todesbegriffe fern und fremd, vom unbewußten Genusse thätigen

Lebens ganz ausgefüllt sein sollte. Bei Mädchen hat aber der Ehrgeiz noch andere, besondere Ge­ fahren. Fast unfehlbar artet er hier bei den Begabten in Eitelkeit, bei den Zurückstehenden in Eifersucht und hämische Gehässigkeit aus,

im einen wie im anderen Fall den Charakter schädigend und das Glück des späteren Lebens untergrabend.

Ist doch der weibliche

Geist viel subjektiver als der männliche

angelegt, viel weniger

geneigt, geistige Ueberlegenheit Anderer neidlos anzuerkennen; zu der ihm ferner liegenden objektiven Gerechtigkeit gelangt er erst auf dem

Umwege der Gemüthsdurchbildung. In Rödelheim war dem Ehrgeiz keine Rolle eingeräumt; es

gab keine Classeneintheilung, folglich kein Versetzen, kein Oben- oder Unten-Sitzen.

Höherer Begabung ward kein anderer Lohn, als die

Anforderung entsprechend höherer Leistung und die Verpflichtung, Schwächeren vorwärts zu helfen, also Bethätigung der Liebe auch

bei der geistigen Arbeit.

Daß deßwegen die Resultate des Unter­

richtes nicht geringer ausfielen, haben wir bereits gesehen. So sehr ich auch alles Theoretisiren über Pädagogik hier meiden

möchte, die Bemerkung kann ich doch nicht unterdrücken, daß ich

auch bei Knaben die übliche Anspornung des Ehrgeizes nicht für

unentbehrlich halte. In Rödelheim sowohl, wie später in Neuenhain hat Marie Hillebrand ab und zu Jungen, die in der öffentlichen Schule

nicht vorwärts kamen, zeitweise in die Kur genommen und nach derselben *) Ehrgeiz sage ich, nicht Ehrgefühl. Die zwei Begriffe sind streng aus

einander zu halten.

51 Methode, wie die Mädchen, unterrichtet.

Nach der Heimkehr in's

Elternhaus nun kamen diese Knaben alle in höhere Klaffen als ihre Altersgenossen, und holten durch Privatunterricht das in einzelnen

Fächern durch Nichtbeachtung des Gymnasialprogramms natürlich Versäumte rasch nach, ohne daß ihnen je bei uns das Obensitzen als Ziel vorgehalten worden wäre.*)

Mit raffinirter Kunst ward in Rödelheim Alles vermieden, was

Eitelkeit fördern konnte. Es wird dem heutigen Geschlechte kaum glaublich sein, daß außer den Empfangzimmern im ganzen Hause nirgends ein Spiegel sich vorfand. Ohne diesen Conseiller des Gräces mußten die Mädchen

sich ankleiden. Das Haar ordnete im Schlafsaal Eines dem Anderen.

Wie groß auch Marien's Freude an äußerer Schönheit auch des Weibes war, so ließ sie den so nahe liegenden Kultus derselben unter den Schülerinnen nicht aufkommen. Lebende Bilder, bei denen blos die Schönheit zu einseitiger

Geltung kommt, ließ die große Erzieherin nicht gerne darstellen.

Um so lieber waren ihr aber theatralische Aufführungen, wo die Eindrücke äußerer Schönheit mit denen der Handlung, des Vor­

trages,

der

verbinden.

Geberde zu einer harmonischen Gesammtwirkung sich Mehr

als

einmal kamen

solche Aufführungen,

von

Marie Hillebrand einstudirt, in klassischer Vollendung zu Stande. So wurden z. B. in Rödelheim und Neuenhain Hauptszenen aus

Sophokles' Antigone, aus Tell, Maria Stuart rc. von begabten

und schönen Mädchen in einer Vollkommenheit gegeben, welche jeder Hofbühne zur Ehre gereicht haben würdet)

Außer diesen gründlich vorbereiteten Vorstellungen, die nur hohe

Festlichkeiten verherrlichten, wurden oft aus dem Stegreife komische Vorfälle aus dem Schulleben zum Besten gegeben, in einer Weise, die an die freie Laune der alt-attischen Comödie erinnerte, aber

immer einen harmlosen Charakter bewahrte. Ergötzliche Dummheiten, x) Freilich ist es viel leichter, durch egoistische Affekte, die stets zur Hand sind, zu wirken, als durch edlere, die man erst wachrufen muß.

2) Aecht klassisch, freilich in anderem Sinne, war auch die äußere Aus­ stattung, die zur Zeit Shakespeares nicht primitiver hat sein können, als auf unserer Schulbühne. Aus allen Schlafsälen zusammengetragene spanische Wände dienten fast ohne ferneren Schmuck als Coulissen.

52 wie sie in jeder Schule vorkommen, täppisches oder unüberlegtes Wesen der Einzelnen, die komischen Widersprüche, in die Jedermann

einmal mit sich selbst geräth, wurden mit Nennung der Namen, mit Nachahmung des Kostüms wie der Sprache und Geberde aufgeführt.

Durch Censur der Vorsteherin immer in weisen Schranken ge­

halten/) hatte dies kameradschaftliche Aufziehen seinen pädagogischen Werth.

Man lernte einen Scherz vertragen und gewöhnte sich die

lebenverderbende Empfindlichkeit ab.

Das Theater im

nahen

Frankfurt wurde

oft von unseren

Mädchen besucht, die unbewußt die Logen-Nachbarn amüsirten durch die ungetheilte Aufmerksamkeit, die sie der Bühne widmeten. Da Rödelheim's nächste Umgebung zu Ausflügen sich wenig

eignet, wurden oft, und mit Leiterwagen

grundsätzlich immer unerwartet,

Partieen

in den ferneren Taunus veranstaltet.

Sonst erging man sich meist im großen, schönen Schloßgarten.

So wurde dem jugendlichen Bedürfniß nach Vergnügen Rech­ nung getragen und außerdem durch den ganzen Zuschnitt des Lebens

ein heiterer Sinn gefördert, während fortwährende Thätigkeit zu

träumerischer Schwärmerei keine Zeit einräumte. Nathan's goldenen Spruch: „Wie viel leichter ist andächtig schwärmen, als gut handeln!"

führte Marie Hillebrand nicht nur gerne im Munde; dem Schwärmen beugte sie vor, wie es überhaupt ihre Art war, nicht durch Ver­ bote und Strafen,

sondern

durch Maßregeln

und Einrichtungen

zu wirken.

„Wo Eins ist, hat Anderes nicht Platz", war ihr leitender Grundsatz. ist

Ein mit guten, aktiven Gedanken ausgefüllter Sinn

gegen nichtige passive Gefühle gefeit,*2)

hält dieselben

sich

ferne, wie innere Gesundheit krankmachende Einflüffe der Außen­

welt abwehrt. Das Leben der Schülerinnen war aber nicht nur unglaublich

thätig, sondern ihre Thätigkeit war stets eine gemeinschaftliche.

’) Selbstverständlich durften weder körperliche Gebrechen,

noch begangene

Fehler ernsterer Natur der Belustigung als Stoff dienen.

2) Diese Terminologie war der Diätetik der Seele von Feuchtersleben entnommen, welches Werk zu Marie Hillebrands Erziehungsklassikern gehörte.

53 wodurch müßiges Spiel der einsamen Phantasie einfach unmöglich

wurde. Daß dieses Seelenvermögen deßwegen nicht zu kurz kam, daß ihm Nahrung genug, und zwar die beste geboten ward, hat der ein­

sichtige Leser aus dem früher Gesagten wohl bereits ersehen. Nicht sterilisirt (wie der moderne Ausdruck lautet) sollte die Phantasie

werden, sondern vielmehr vor frühreifer Produktion, die sie steril

macht, gehütet werden.

Gehört sie doch zu den Kräften, die nicht

spät genug im Menschen zu freier Thätigkeit kommen können. Auf die Gefahren aber,

welche unbewachtes,

inhaltsleeres Spiel der

Imagination für jugendliche Gemüther mit sich führt, braucht näher

nicht eingegangen zu werden. Dies vorausgeschickt, wollen wir nun schildern, wie sich für die Rödelheimer Schuljugend der Tag abspielte.

Nach Luft ward

das

fertiger Toilette und als

Morgengebet

Frühstück eingenommen.

ein

kurzen Turnübungen in frischer schöner

Dann

stiegen

Choral

gesungen

und

die Mädchen wieder

in die Schlafsäle, um ihre inzwischen gelüfteten Betten selbst zu

machen. Während Einige in den von den Dienstboten ausgekehrten Räumen den Staub abwischten, spülten Andere das Frühstücksgeschirr,

reinigten und füllten die Lampen *) u. s. w. Für Gründlichkeit bei diesen häuslichen Verrichtungen sorgten

die

Partieführerinnen, sie

theilten mit einigen der Jüngeren frische Leibwäsche und sonstiges

Weißzeug aus, und hielten Alle zu peinlicher Reinlichkeit an, die ihnen zum Bedürfniß wurde.

So kam es leicht vor, daß sich in

den Ferien eine kleine Rödelheimerin der brüderlichen Kämme und

Schwämme annahm, nicht ohne entrüstete Strafpredigt über die „Schlamperei". Bei den häuslichen Arbeiten verhütete eifriges Repetiren für

die bevorstehende Lehrstunde das Aufkommen leeren Geschwätzes, der verpönten „müßigen Worte",

deren verflachenden Einfluß

Ataris

Hillebrand für ein Haupthinderniß der Bildung hielt. 2) Vor Einführung des Petroleums keine angenehme Arbeit. Sinn der Mädchen scheute aber auch gröbere Arbeiten nicht.

Der mackere

Ihr Eifer,

Alles

selbst zu besorgen, verstieg sich sogar einmal bis zum Aufwaschen und Putzen

der Fußböden, wogegen aus Rücksichten der Klugheit eingeschritten werden mußte.

54 So wurde es wohl 9 Uhr, bis Alle im Schulsaal zusammen­ kamen.

Häufige Pausen, mit gemeinsamen Turnübungen ausgefüllt, unterbrachen wohlthätig die Lernzeit.

Nur Marien's Lehrstunden, die erst nach dem Abhören an die

Reihe kamen, duldeten keine Unterbrechung und kannten keine ge­ Sie trug stets frei vor, nach einer Vorbereitung,

naue Zeitgrenze.

die ihr mehr zur eigenen Vertiefung als zur bindenden Richtschnur

diente.

Entwicklung und Details des Vortrags bestimmte die In­

spiration des Augenblicks. Welcher Gegenstand

haben

mochte,

auch

aber

unfehlbar

nahm

den Ausgangspunkt

die Lektion

gebildet

zuletzt eine ethische

Richtung.

Die Mahlzeiten der Zöglinge überwachte sie, sorgte, daß Alles dabei ordentlich zuging, *) besonders aber für gänzliche Sättigung.

Damit Niemand sich scheue, zum zweiten (oder dritten) Mal von einer Speise zu verlangen, gingen die vollen Schüsseln beständig

von Hand zu Hand, so daß man nur zuzulangen brauchte. Prinzipiell ließ Marie immer etwas mehr kochen, als voraussichtlich nöthig

war.

Das

Uebriggebliebene

fand

im

großen

Haushalte schon

Durch den empfangenen Eindruck der

angemessene Verwendung.

Fülle gewöhnten aber die Schülerinnen sich die Gier und das viele Denken an's Effen ab.

Zu demselben Zwecke war von der in

häuslicher Beziehung so bequemen Feststellung eines Wochen-Küchenzettels Abstand genommen.

Was morgen auf den Tisch kommen

sollte, wußte man heute nicht. — Auf diese Weise wurde der Ent­ wicklung vorgenießender Feinschmeckerei*2) vorgebeugt, ohne die unschäd­

liche, ja wohlthätige Freude am Genuß besserer Speisen, die gerne und oft, aber immer ungeahnt, aufgetischt wurden, zu beeinträchtigen. Nach Tisch wurden die Mädchen zunächst mit Nähen, Flicken,

Stopfen beschäftigt, nöthigenfalls darin unterwiesen, unter Vorlesen *) Deutschen Schülerinnen mußten oft anständige Manieren beim Essen erst beigebracht werden; denn in diesem Punkte äußerer Bildung stand damals

die deutsche Sitte, besonders hinter der englischen, weit zurück. 2) Nicht mit Unrecht zählt katholische Sittenlehre die Gourmandise zu

den sieben Todsünden.

55 Novelle.

einer interessanten

Dann ergingen sie sich

eine Zeit­

lang in solchen Spielen, die Geschicklichkeit und Anmuth der Be­

wegung fördern, die Kleineren oft in Fröbel'schen Reigen, an denen sich auch die Großen gerne betheiligten.

In den Partieen lernten

sie dann auf die oben geschilderte Weise bis zum Nachtessen, mit Der Unterricht im Rechnen und Chor­

Pausen für Turnübungen.

gesang fand ebenfalls am Nachmittage statt. x) Jede Klavierschülerin hatte wöchentlich zwei Lehrstunden und täglich eine Stunde zum

Neben, worüber streng Buch geführt wurde. Die dadurch dem allge­ meinen Schulstudium entwendete Zeit mußte durch verdoppelten Fleiß

wieder

eingebracht

werden. — „Ich

habe Clavierstunde gehabt",

war keine Entschuldigung für Lernschulden. Zur Begleichung derselben war der Samstag Nachmittag be­ stimmt, wo keine allgemeine Stunde gegeben, sondern nur repetirt wurde.

Sonntag Nachmittags mußte

erst Jedes

aus seinen Heften die

korrigirten Fehler herausschreiben, worauf das Briefschreiben losging. Einem diskreten und kundigen Auge fiel folgenden Tags die

Aufgabe zu, den erzeugten Wust vor Absendung erst durchzulesen. Eine höchst unerquickliche Arbeit. Gibt es doch nichts Langweiligeres,

Und

als Backfischbriefe.

doch

durfte diese Mühe nicht

gescheut

werden. — Nachlässige Schrift und Satzbildung ließ man nicht durch­ gehen. Entstellte Berichte über mißverstandene Erlebnisse ebensowenig.

Oft auch

ein

gab

an

sich unbedenklicher Passus eines Briefes

schätzbare Winke über die spezielle Behandlung, die der momentane Gemüthszustand der Schreiberin erheischte. An die Eltern durfte man allsonntäglich schreiben, an keine „Freundin" aber

öfter

als

einmal im Monate;

Schonung für die überlastete Censurbehörde, in

angeblich

aus

Wirklichkeit

um

den Mädchen leeres Geschwätz und unreife Schwärmerei abzuge­ wöhnen.

Einlaufende Briefe, die nicht von den Eltern kamen, las

die Vorsteherin erst durch, und entschied, ob sie überhaupt an ihre

Adresse gelangen sollten. Diesen Punkt der Briefcensur?) habe ich absichtlich eingehend *) Auch am Freitage, wo der Zeichnenlehrer kam, fiel Marie Hillebrands

Unterricht

aus.

Aber

an diesem Nachmittage war

Klassisches vorlas. 2) Nur unreifen Schülerinnen gegenüber giltig.

es,

wo sie den Mädchen

56 behandelt, weil sich vielfache Kämpfe daran knüpften.

Deutsche

und französische Familien waren fast ausnahmlos mit' dieser logischen Consequenz der Delegation des Elternrechts einverstanden. Engländerinnen aber gegenüber hatte man einen schwierigeren Stand; hier trat der fundamentale Gegensatz britischer und fest­ ländischer Anschauung zu Tage. Während wir Continentalen den Menschen durch die Erziehung zur Freiheit führen wollen, gilt in England die Freiheit als Erziehungsmittel. Geleugnet soll nicht werden, dqß letztere Methode herrliche Früchte reifen kann; aber

Entartungen beugt sie nicht vor, was doch die erste Pflicht

gewiffenhafter Erziehung ist.

Auf Grund umfassender Erfahrung (habe ich doch im Institut in 34 Jahren an 1200 Mädchen kennen gelernt und das an ihnen Erlebte gewußt) darf ich behaupten, daß die Engländerinnen ent­

weder sehr tüchtig, ernst und strebsam, oder ganz haltlos, ver­ flacht, verflattert, ost verlogen zu uns kamen. Anständiges Mittelgut gab es unter ihnen nicht; auffallend Viele mußten aus der Anstalt, um deren Geist nicht durch sie verderben zu lassen, jäh entfernt werden. Damit dürfte eine Praxis gerichtet sein, welche dem individuellen Zufall Alles überläßt.

Im Sommer verbrachten die Rödelheimerinnen bei günstiger Witterung fast den ganzen Tag im Freien. Als Schul- und Eß­ saal diente da der schattige Platz „unter den Platanen". *) Hier auch gab die Vorsteherin ihre Stunden. Der Vollklang ihrer tief liegenden Stimme kam ohne Anstrengung auch im Freien zu voller Geltung, von Weitem noch so deutlich vernehmbar, daß oft Passanten hinter dem bewachsenen Parkgitter, etwa 25 Meter vom Sitzplatze der Mädchen entfernt, dem Vortrage folgten.

Erst zum Nachtessen kam man an solchen Sommertagen in's Haus, um im Schulsaal mit Handarbeiten, mit Musiziren, Charadenund Gesellschaftsspielen, zuweilen mit den bereits erwähnten kleinen Aufführungen aus dem Stegreife die letzten Abendstunden heiter zu verbringen, bis die Schelle zur Ruhe mahnte. Den Tag schloß wieder ein Choral; die Mädchen wünschten *) Zufällig wurden Ahornbäume (acer platanoides) mit dem hoch­

klingenden Namen bezeichnet.

57 der Vorsteherin gute Nacht,

wobei für eine oder die andere ein

leises Mahnwort abfallen konnte.

In den Schlafzimmern wurden

die jüngeren Kinder von ihren Mütterchen zum Beten angehalten, worauf absolutes Schweigen eintrat, und gesunde Müdigkeit, trotz der harten Betten, rasches Einschlafen bewirkte.

Nur 2—3 ältere Mädchen blieben noch auf, um überall nach Feuer und Licht zu sehen, und gingen erst, nachdem sie über diese „Feuerwoche" der Vorsteherin Bericht erstattet, zu Bette.

Sonntags Vormittags besuchten die Schülerinnen ihre respektiven Kirchen.

Die evangelischen mußten gewärtig sein, nach dem

Inhalte der gehörten Predigt gefragt zu werden. Bald folgte die von Marie Hillebrand ertheilte Religionstunde; sie bestand oft im Vorlesen und Commentiren einer Predigt von hohem ethischen

Gehalt

(Lieblingsautor war Schleiermacher),

in

Deren Text die Vorleserin gar oft ein von ihr selbst mit Bezug­

nahme auf kürzlich vorgekommene Fehler improvisirtes Stück mit

solcher Kunst einwob, daß die Mädchen erst beim Abschreiben der Predigt in ihr „Versheft" die gebrauchte pia kraus entdeckten. H Gewöhnlich aber war eine Stelle aus dem Evangelium der

Text, den sie in ihrer ergreifenden Weise entwickelte.

Athemlos

hingen die Mädchen an ihren beredten Lippen, vergaßen der Welt, der Zeit, ja des Hungers, so daß ich oft wiederholt daran erinnern

mußte, daß zum Leben auch Essen gehört, und daß der Mittagstisch

längst gedeckt war. So spielte sich Woche um Woche ein Leben ab, worin Alles zu den Zwecken der Erziehung einheitlich zusammenwirkte.

XIII. Dem Leser wird, wenn er die Geduld hatte, unserer Detail­

schilderung bis hierher zu folgen, die Frage bereits auf den Lippen schweben: Alles schön und gut! Aber wer sorgte für pünktliche Be*) Direkt« öffentliche Beschämung ward, als schamertödtcnd, von Marien

konsequent gemieden.

Die begangenen Fehler rügte sie stets nur unter 4 Augen

und hielt sie vor Nichtbetheiligten streng geheim.

58 folgung des so weise Angeordneten?

Von Hilfslehrerinnen, von

Aufseherinnen habe ich noch nichts gehört.

Es waren überhaupt in der Nödelheimer Blüthe-, fast möchte ich sagen in der heroischen Zeit des Instituts, keine da. *) Passende

hätten sich auch, wenn gesucht, schwerlich gefunden.

Denn was an

Gewissenhaftigkeit und Selbstaufopferung verlangt werden mußte, war von anderswo Gebildeten nimmer zu erwarten.

und konnten allein leisten die Zöglinge selbst.

Das leisteten

Und wenn in den

Ferien auch an sie die Frage gestellt ward: „Wer gibt denn auf

Euch Acht?" — „Wir selbst!" lautete die stolze Antwort.

„Wir

wollen doch nichts Schlechtes unter uns aufkommen lassen."

Ebenso Charakteristisches erlauschte einmal eine englische Dame. Während sie in unserem Empfangzimmer lesend saß, kam von aus­

wärts eine junge Dame, um ihre jüngere Schwester zu besuchen.

Da sie die Engländerin des Deutschen unkundig hielten, sprachen sie vor ihr ungenirt.

Die Aeltere erzählte von ärgerlichen Vorkömm-

nisien in einer Schule ihrer Vaterstadt, bei denen Mädchen aus

ihnen bekannten guten Familien betheiligt gewesen.

Die Jüngere

theilte aber die Entrüstung der Schwester nicht, sondern sagte:

„So

streng darfst Du nicht sein. Die armen Dinger können nichts dazu. In den Schulen muß man das Schlechte mitmachen, schon um

vor den Anderen Ruhe zu haben; gerade so wie umgekehrt bei

uns (in Rödelheim) es gar kein Verdienst ist, gut zu werden. Man

muß, ob man will oder nicht.

ebenfalls hier keine Ruhe."

Denn die Anderen lasten Einem

Da ist Ihnen, sagte die Engländerin

zu Marien, aus Kindermund das denkbar höchste Lob geworden.

Es war in der That der kleine Nödelheimer Staat ein eigen­

thümliches Gebilde, für dessen Verfassung man vergeblich bei Aristoteles, Macchiavel oder Montesquieu die Definition suchen würde.

Viel

eher hätte sie vorahnend jener Darmstädter Clubredner gegeben, der

1848 als sein Ideal einer Staatsform angäb:

„Eine Republik

mit dem Großherzog an der Spitze!"

Eine Republik war Rödelheim infoferne, als dort vollständige Freiheit waltete.

Denn

frei sein

heißt nicht thun,

man will, sondern freudig thun, was man soll. *) Außer für Musik.

was

59 Der die Republik regierende „Großherzog" war aber Marie

Hillebrand: kein etwa an eine papierne Verfassung gebundener Herrscher, sondern ein allmächtiger Autokrat, der aber nur für das Wohl seiner

Untergebenen lebte und sie zu „guten, glücklichen Menschen" machte.

Ihrem Walten kam wieder zu statten eine jener mysteriösen Gaben, die ich bei Schilderung ihres Wesens bereits erwähnte.

Eine zuweilen ohne jeden äußeren Anlaß über sie kommende

Unruhe und Betrübniß machte sie auf bevorstehendes Unglück gefaßt,

und hat sich stets untrüglich erwiesen. Alle, die ihr längere Zeit näher gestanden, haben es gelegent­

lich

erlebt, wie sie

plötzlich die jeweilige Thätigkeit oder Ruhe

unterbrach, um, gleichsam von magnetischem Impulse getrieben, an

eine Stelle zu eilen, von der, ohne jeden äußeren Anhaltspunkt,

ein Instinkt ihr sagte, daß dort im Augenblicke etwas Unrechtes

geschehe.

So kam sie Vielem auf die Spur und konnte zu rechter

Zeit einschreiten. In der Rödelheimer Zeit (der Epoche ihrer Vollkraft) hatte

sie eine geradezu physische Empfindung von jeder Trübung der sitt­

lichen Atmosphäre in ihrer Umgebung.

Die an ihr gemachte

Wahrnehmung solch eines besonderen,

den meisten Menschen unbekannten Sinnes machte es mir s. Z.

unmöglich, in den allgemeinen Spott, den später O. Iäger's „Seelen­ riecherei" hervorrief, von Herzen einzustimmen.

XIV. Wie mächtig auch Marien's Persönlichkeit, wie tief ihre psycho­

logische Einsicht, wie unermüdlich ihre Sorge war, die Schöpfung solch eines absonderlichen Gebildes wäre ihr schwerlich gelungen ohne einen Umstand, welcher den meisten Schulmännern als unüberwindliches

Hinderniß jedes gedeihlichen Wirkens erschienen sein würde.

Es war nämlich der Eintritt neuer Schülerinnen an

keine bestimmte Zeit des Jahres gebunden.

Als normal

*) In den überangestrengten Jahren ihres Alters ging diese werth- und qualvolle Gabe ihr fast gänzlich verlorm.

60 zu betrachten war ein Zugang

von 3 bis 5 in

einem Monat.

Von dem mächtigen Gesammtleben der Anstalt gleich ergriffen,

wurden diese wenigen rasch assimilirt und waren nach kurzer Zeit, wenigstens an Streben, den „Alten" gleich und geeignet, auf neue Ankömmlinge einzuwirken.

So lange die Zufuhr frischen Bluts in

diesen mäßigen Grenzen blieb, fühlte sich Marie Hillebrand der

Aufgabe unbedingt gewachsen. Es erfüllte sie dagegen mit Besorgniß, wenn zufällig auf einmal viele Neue ihr zugeführt wurden. Da

drohte leicht die Arbeit den helfenden „Alten" über den Kopf zu wachsen, und nur ihrem verdoppelten Eifer, ihrer unbedingten Hin­

gebung gelang es, die Ueberfülle des rohen Stoffes nach und nach

zu bewältigen.

Glücklicherweise war, wie gesagt, solcher Massen-

andrang in Rödelheim selten.

Schlimmer war es später in Neuenhain, als auf einmal zu­ fällig alle „Alteil" fast gleichzeitig austraten.

Mit Hilfe herbei­

gerufener früherer Schülerinnen ward allmälig eine Wiederherstellung des alten Zustandes, doch nur sehr unvollkonimen, erzielt;

doch damals Marie Hillebrand's Kräfte bereits durch keit

unterminirt, itiib

waren

Kränklich­

kam ihre sonst Alles bezwingende Energie

nicht mehr zu voller Entfaltung. Wie dem auch sei, fünfunddreißig Jahre lang hatte auch unter schweren äußeren Krisen die von ihr geschaffene Organisation sich

bewährt, während sie mit Anstellung von Lehrerinnen keine sechs Monate in der ihr eigenthümlichen Weise hätte wirken können. Der ab und zu in der Noth gemachte Versuch scheiterte immer an dem

Umstande, daß diese von außen Berufenen weniger ernst, weniger strebsam waren, als die Kinder, welchen sie vorstehen sollten.

XV.

Eine andere Bedingung ihres pädagogischen Erfolges war das

von Marien nie ausgegebene, oft ausgeübte

Recht rücksichtsloser

Selektion. Mit jedevl Fehler des Zöglings nahm sie es auf, so lange dieser Fehler nicht, ansteckend wirkend, den Gemeingeist der Anstalt schädigte. Durch unermüdliche Geduld und erfinderische Umsicht hat

61 sie Charaktere, die unbezwinglich schienen, doch schließlich in die rechte

Bahn gelenkt und zu tüchtigen Frauen gebildet, welche ehrenvoll in der Welt ihren Platz ausfüllten. Sogar Schwächen, die sonst so­ fortige Entfernung aus den Schulen nach sich ziehen, bestimmten sie nicht unbedingt zum Aufgeben der Erziehung, wenn nur ein Ge­ wissen, ein Sinn für Wahrheit da waren, auf welche man sich

stützen konnte. Erwies sich aber ein Mädchen entweder gründlich verderbt oder unheilbar verzärtelt, oder ließen es die Eltern, deren Einschreiten übrigens nur höchst ungern und in äußersten Fällen in Anspruch genommen wurde, im Nothfall an kräftiger Unterstützung der Er­ zieherin fehlen, so wurden ihnen unverzüglich die Kinder zur Dis­ position gestellt. Ebenso wenig wie die Vorsteherin waren die Familien an das Einhalten fester Kündigungsfristen gebunden. Jederzeit durften sie, wenn mit dem Gewollten unzufrieden, die Mädchen aus dem Institute herausnehmen. War aber einmal, wie oft der Fall, eine Mutter zu längerem Besuche da, so war für dessen Dauer die Autorität der Erzieherin stillschweigend suspendirt, und trat vor dem Natur­ rechte zurück. Bei der Behandlung der Zöglinge fanden spezielle Wünsche der Eltern wenig Berücksichtigung. Im berechtigten Bewußtsein ihrer pädagogischen Ueberlegenheit wies Marie die Zumuthungen väterlicher oder mütterlicher Eitelkeit zurück und weigerte sich, anders als nach eigener Einsicht zu wirken. Fast immer fügte man sich, und man hatte nie Ursache es zu bereuen. Mehr als einmal aber hat Mißachtung ihrer Winke tragische Folgen gehabt.

Im Anfänge der 1860er Jahre ward zu uns ein hübsches, hochbegabtes, liebenswürdiges Mädchen, fast noch ein Kind, ge­ bracht; Marie Hillebrand, die sich liebevoll für diese Schülerin interessirte, nahm bald mit Schrecken wahr, wie viel Schaden vor­ zeitige und einseitige Pflege eines hervorragenden Talents in der jungen Seele bereits angerichtet. Das liebliche Geschöpf hatte eine herrliche, zu Herzen gehende Stimme, und es war von den Eltern der Fehler begangen worden, diese schöne Anlage noch im zarten Alter ausbilden zu wollen. Nur noch für Singen hatte das arme Kind Sinn, vergaß darüber sich und Alles.

62 Den Eltern stellte Marie entschieden vor, wie gefährlich diese

Einseitigkeit sei, erklärte, dem Kinde müsse vor allen Dingen ein ernster Seeleninhalt beigebracht werden, und es sei nothwendig, das

Singen fast ganz wegfallen zu lassen.

Das junge Mädchen hatte

zur Erzieherin schon Liebe und Vertrauen genug gefaßt, um dem Gebote sich zu fügen.

Die elterliche Eitelkeit aber verweigerte das

verlangte Opfer und nahm das Töchterchen wieder nach Haus.

Da

durfte es der beseligenden Neigung ungetheilt wieder fröhnen, uni

nach einiger Zeit der Nacht des Wahnsinnes, wovor die große Er­ zieherin gewarnt hatte, unrettbar zu verfallen. Später sollte die Tochter einer hochgebildeten, aber verarmten Familie im Institute zur Lehrerin

ausgebildet werden,

worauf

Marie Hillebrand, mit eigenen materiellen Opfern, gern einging. Bald ward ihr jedoch klar, das arme Köpfchen reiche zu solcher

Arbeit nicht aus, und der Mutter gegenüber schränkte sie das ge­ gebene Versprechen dahin ein, daß sie nur darauf eingehen könne,

aus dem Mädchen eine zuverlässige, brauchbare Nursery-govemess zu machen.

Dem Gelehrtenhochmuth war solcher Gedanke uner­

träglich, und Frau Professor brachte das verkannte Genie in einer

schweizerischen Anstalt unter, deren Leitung sich zu höherer Ausbil­

dung bereit erklärte. Triumphirend

ließ

uns eine Zeit lang die Mutter lobende

Berichte über Fähigkeiten und Leistungen der Tochter zukommen, bis auf einmal die Nachrichten ausblieben. Endlich aber sahen wir,

von Schmerz entstellt, die arme Frau hereinwanken.

sie, Marien Abbitte zu thun,

Es drängte

nachdem sie das unglückliche Opfer

ihres geistigen Hochmuthes eben erst iu's Irrenhaus gebracht hatte. Aber eine zweite Tochter hatte sie noch, und an dieser sollte

das bei der ersten unmöglich Gefundene erreicht werden.

Wieder

erklärte Marie, unter dem ausdrücklichen Vorbehalt sub beneficio

inventarii, sich auch zu diesem Versuche bereit. Das Mädchen war von unverkennbarer geistiger Begabung, aber

derselben in

bedenklichem Maße sich bewußt.

Ihr Gemüth

vor Umnachtung zu schützen, hielt die Erzieherin eine Gewaltkur

dringend geboten, und verlangte von der Mutter die Ermächtigung, das Mädchen längere Zeit hindurch nur in minimalem Grad geistig

63 zu beschäftigen.

Sie sollte zu den von ihr verachteten häuslichen

Arbeiten, auch bescheidenster Art, angehalten werden; fleißig nähen,

stopfen,

für Ordnung sorgen, in

der Küche und bei der Pflege

jüngerer Kinder helfen*) u. s. w.; kurz, ein schlichter einfacher Sinn

sollte ihr als Gegengewicht beigebracht

schnappen

des

einseitig

entwickelten

werden,

Geistes

um das Ueber-

zu verhüten.

Neue

Empörung des Mutterstolzes; das von der Erzieherin verkannte (ja

vielleicht insgeheim beneidete) Genie ward solch erniedrigender Behandlung entzogen. —

in der Schweizer

gödie.

Anstalt)

Und

die

nun wiederholte sich schon

einmal

(ebenfalls

abgespielte Tra­

Wieder einmal stand vor uns, eine gespensterhafte Niobe,

die unglückliche Mutter, die Hände ringend in vergeblicher Reue.

Auch diese Tochter war im Irrenhaus, unheilbarem Größenwahn

verfallen.

Die andere dagegen,

bei der nur Ueberarbeitung des

schwachen Gehirns Krankheitsursache gewesen, erholte sich nach und

nach wieder und konnte geheilt entlasten werden. Bei diesen zwei letzteren Fällen stand erbliche Belastung außer

Zweifel. Diese Ueberzeugung hatte jedoch Marie Hillebrand nicht vom Versuche mit den zwei Mädchen abgeschreckt.

War sie doch

nicht auf die heute, dank den Nachtretern des großen Darwin,

jedem Flachkopfe so geläufig gewordene Doctrine von der Vererbung eingeschworen, hielt fest an dem ebenfalls Darwinschen Prinzip der individuellen Variation und glaubte, daß einfichtsvolle Behandlung auch gegen die schlimmsten Ueberkommenheiten viel vermag.

Und wer sollte es wagen, der Erziehung solche heilende Macht abzusprechen? Wer hat es erprobt, wie weit das Machtbereich indi-

vidualisirender Sorge reicht?

Wer kennt überhaupt diese Sorge?

Wie selten ist sie im Leben in ihrem vollen Umfang anzutreffen? Wie Wenige sind daher in der Lage, ihr Walten zu beobachten! Ich habe bei Marie Hillebrand Wunder dieser Sorge erlebt.

Durch den großen pädagogischen Ruf Marien's wurden öfters Familien bestimmt, ihr versuchsweise Mädchen, bei welchen der Aus-

bruch von Gemüthskrankheiten befürchtet ward, zu übergeben.

Die

x) Hier sei bemerkt, daß die körperliche Sorge für die klemm Kinder den sie bemutternden älterm Schülerinnen oblag. Nie kam an die Kinder die Hand eines Dienstboten.

64 Aufgabe ward von ihr meist glücklich gelöst, wenn nur die erzieh­

liche Einwirkung

lange genug ununterbrochen

blieb.

Heilkräftig

erwies sich besonders das mächtige Zusammenleben und Zusammen­ streben, von dessen Strudel die Mädchen unwillkürlich ergriffen und vom verderblichen Sinnen und Brüten über sich selbst abgezogen

wurden. In einem Briefe von Marie an eine Jugendfreundin finde ich

darüber folgende interessante Stelle:

„Du wirst dich gefreut haben, Th. so frisch und gesund „wieder zu sehen.

Sie hatte sich in der letzten Zeit besonders

„gemacht, wurde zusehends theilnehmender und heiterer. — Wenn „ich sie in die Ferien gehen ließ, so glaubte ich, ohne Nachtheil

„für sie, ihren Eltern damit einen Gefallen zu thun. Doch wäre

„es, wie sich jetzt herausstellt, besser unterblieben. — Sie schien „so

zufrieden

zu sein!

Um so überraschender war uns ihre

„Weigerung wieder zu kommen.1) Und doch kann ich mir es er„klären. Th. ist außerordentlich passiv und willenslahm; sie konnte

„sich hier einer Einwirkung nicht entziehen, welche sie zwang, sich „zu überwinden und aus sich herauszugehen. Nun ist es natürlich, „daß,

von diesem

Einfluß entfernt, ihr träges,

träumerisches

„Wesen sich scheut und sträubt, sich demselben wieder zu unter-

„werfen.

Und doch ist es für ihren Zustand ganz nothwendig,

„daß ihr Geist und Gemüth aufgerüttelt werden; sie geht sonst

„der traurigsten Zukunft entgegen „Aehnlich war es anfangs mit I. H. Diese aber, bei der

„unmittelbar Gefahr der Geistesstörung vorlag, ließen wir anderthalb „Jahre lang nicht aus unseren Händen, und durch geistige Ent„wicklung, der auch sie zuerst widerstrebte, ist sie ein in jeder „Hinsicht gesundes und zufriedenes Geschöpf geworden.2) Es thut

„mir sehr leid, daß es mit Th. so gekommen.

Alles war in so

„gutem Gange, und persönlich hatten wir sie Alle lieb gewonnen." Nach der in diesem Briefe bekundeten Fülle psychologischer

Einsicht und dem von mir bisher Gesagten wird es Niemanden *) Th. stand bereits in einem Alter, wo sich gegen ein Mädchen kein auto­

ritativer Zwang mehr üben läßt. ’) und geblieben. I. R.

65 wunder nehmen zu hören, daß zu dem, seiner Zeit vielgelesenen Roman von Frau Wilhelmine v. Hillern „Ein Arzt der Seelen", Marie Hillebrand, obwohl der Dichterin nur indirekt bekannt, Modell

gesessen hat. Bei der Krankenpflege war sie hellsehend; ihrem Blicke ent­

ging auch das geringste Symptom des Uebels nicht.

Simulation

aber erkannte sie sofort. So beschämte sie einst einen hochangesehenen

Frankfurter Arzt (der kleinlich genug war,

es ihr nachzutragen)

durch die entschiedene Behauptung, daß die Tobsucht, die sich bei

einer erst vor ganz Kurzem eingetretenen Schülerin eingestellt hatte, nur ein Manöver sei, um aus der Anstalt zu kommen. „Das ver-

„dorbene Mädchen, sagte sie, gebe ich seinem Vater zurück, und „nach Erreichung dieses ihres Zwecks wird sie sogleich wieder ge-

„sund sein."

Trotz aller Entrüstung

der hohen

medizinischen

Autorität stellte sich nach wenigen Tagen heraus, daß Marie Hillebrand richtig gesehen hatte. Ein bedeutender

und

berühmter Arzt, der

uns seine zwei

Töchter anvertraute, wußte sie mit nicht unbedenklichen, von ihm

selbst stammenden Lungenzuständen behaftet, und gab zu ihrer kör­ perlichen Behandlung gleich bei deren Eintritt seine Vorschriften. Marie erklärte jedoch sofort dem Freunde unumwunden, sie würde

sich daran nicht kehren, sondern ein ganz anderes Kur-Verfahren an­ wenden. — „Meinetwegen", sprach er, „in einem Winter werden

Sie nichts unwiederbringlich verderben. Im Frühjahr aber behalte

ich mir vor, Ihre medizinischen Resultate zu prüfen, und finde ich

dieselben nicht befriedigend, so brauche ich Ihnen nicht zu sagen, daß ich meine Kinder aus Ihren Händen nehme." — Als er nach

Ablauf des Winters seine Töchter wieder untersucht hatte, erklärte er, die affizirt gewesenen Stellen nicht mehr finden zu können.

Nur aus der früheren Aufzeichnung wüßte er noch, wo das Uebel gesessen habe.*)

Bei nicht ansteckenden, leichten Krankheiten hatten die Schülerinnen die Patientin zu besorgen. Ein oder zwei Mädchen setzten sich mit 0 Es war dies fast der einzige Fall,

wo Marie Hillebrand

von

einem

Arzte verziehen ward, gegen ihn medizinisch Recht gehabt zu haben. Freilich war der Mediziner hier zugleich ein zu Dank verpflichteter Vater.

66 ihren Büchern und Schularbeiten in's Krankenzimmer, holten selbst Alles Nöthige herbei und führten in der Pflege die Anordnungen der Vorsteherin oder des Arztes aus. Eine Schulung, welche Allen

in ihrem späteren Leben zu statten kam?)

Auch wurden sie gewöhnt, in gesundheitlicher Beziehung auf einander Acht zu geben. „Frl.

Wie oft kam Eine mit der Meldung:

Marie, die oder die sieht schlecht aus; es muß ihr etwas

fehlen!"

Der Fall wurde gleich untersucht und, meist ohne Arzt,

kurirt. Die „Kranke" kam gewöhnlich in's Bett, und die vorliegende kleine Erkältung, Uebermüdung oder Körperverstimmung war bis

zum nächsten Morgen verschlafen.

Auf diese Weise ward der all­

mählichen Entwicklung nicht nur ernster Krankheiten, sondern auch

einer nur zu oft auftretenden geistigen Seuche, die ich „Aerztesucht"

nennen will, vorgebeugt.

Bemerkte Marie in der Lehrstunde bei einem besonders zarten Mädchen Zeichen der Abspannung, so hütete sie sich wohl vor ängstigendem Forschen; vielmehr verwirrte sie das Kind absichtlich durch ein paar

schwierige Fragen, und scherzend hieß es dann: Heute bist du aber

ganz ausnehmend dumm und nicht zu brauchen.

Hier hast du

nichts zu thun. Gehe in's Bett und schlafe dich gescheidt. Durch diese stete Vorsorge wurden kaum glaubliche Resultate

erreicht. So kam es vor, daß unser sogenannter „Hausarzt" unser Haus in dreizehn Monaten nicht als Arzt betrat; und außerdem

hatte er Jahre lang im Institute nur verstauchte Füße und des­

gleichen zu behandeln, so daß, als ich einmal ein Mädchen mit verletztem Finger in seine Sprechstunde brächte, er verächtlich aus­ rief: „Ach so! wieder ein Fall von Eurer Extremitätenpraxis!" Bei ernsten Krankheiten wurde natürlich der Doktor gerufen.

Aber unzählig sind die Fälle, wo Marie Hillebrand sich mit Recht

seinen Anordnungen widersetzte.

Und einige Mädchen könnte ich

nennen, die sie durch diese Widersetzlichkeit vom Tode gerettet hat.

Es war daher keine beneidete Ehre, der Arzt ihres Institutes zu heißen. x) Es schreibt mir eine frühere Schülerin, die zum Berufe der Kranken­ pflege sich ausgebildet hat:

„Als ich den Cursus durchmachte,

fand sich,

daß

ich fast alles Praktische schon wußte, und das hatte ich nur Fräulein Marie zu

verdanken."

67

Bedenkt man freilich, wie ohnmächtig und prinzipienlos bis vor wenigen Dezennien die innere Therapie war, so wird es leicht begreiflich erscheinen, wie eine geistvolle, aufmerksam und scharf

beobachtende Frau, der ohnehin, wie wir in dem biographischen Theil dieser Schrift

gesehen,

anatomische und

physiologische Kenntnisse

nicht fehlten, gegen den praktischen Arzt oft Recht behalten konnte.

Wie wirksam ihre allgegenwärtige Sorge für's körperliche Wohl der Schülerinnen war, besagt die Thatsache, daß wir seit der 1866er Typhusepidemie, die uns aus Rödelheim vertrieb, bis zum Eingehen

des Instituts, Ende 1890, bei einem durchschnittlichen Stande von 50— 60, meist im empfänglichsten Alter befindlichen Mädchen, nicht einen einzigen Todesfall zu beklagen hatten. Und doch lag Marien

die wohlfeile Vorsicht ferne, Pflege zu schicken.

gefährlich Kranke ihren Eltern zur

In dem Hause, wo sie erkrankt waren, wurden

sie gesund gepflegt. Vielleicht noch höher ist anzuschlagen die geistige Frische und Lebensfreudigkeit, worin die Mädchen aufwuchsen. Trotz der langen

Dauer der sehr intensiven Arbeit war kein Anzeichen von „Ueber-

bürdung" ihnen je anzumerken. Diese Pest heutiger Schulen möchte ich daher, vorbehaltlich besierer Belehrung, theils der Ueberlastung der Programme mit interesselosem

Stoff, theils

dem

Ungeschick

mancher Lehrer zuschreiben. Obwohl unsere Mädchen ungemein viel lasen und schrieben, wurden sie bei uns nie kurzsichtig.

Brillen trugen nur Solche,

die damit behaftet eingetreten waren.

Diese Gesunderhaltung der

Sehkraft,

wie

auch

das

rasche Verschwinden

etwa mitgebrachter

Bleichsucht (ein Leiden, das im Institute selbst nicht zur Entwicklung kam) war, nebst der individualisirenden Sorge der Vorsteherin, auch

wohl dem

wohlthätigen

Einfluß

der

gesummten Lebensweise zu

verdanken.

XVI. Hiermit sei die Schilderung des Wirkens im Institut abge­

schlossen.

Als Frucht desselben steht da die Thatsache, daß die von

Marie Hillebrand gebildeten Schülerinnen sich durchgängig als tüch­ tige Haushälterinnen, wie als muthige, heiter-ernste Frauen in jeder

68 Stellung und Lage bewährt haben; ihren Männern mitstrebende, mitdenkende Freundinnen und Lebensgenossinnen von bescheidenen

Ansprüchen, ihren Kindern verständige, energische und geschulte Erzieherinnen.

Auch

die relativ

sehr Wenigen,

die unvermählt

blieben, haben in der Welt ihren Platz ehrenvoll ausgefüllt.

Als

ein den ehemaligen Rödelheimerinnen (und Neuenhainerinnen) ge­ meinsamer und typischer Charakterzug wird mir ferner von einem älteren Freunde,

der Gelegenheit gehabt hat,

derselben kennen zu lernen,

in der Welt viele

bezeichnet: Die Fähigkeit, für ernste

Gespräche der Männer sich zu interessiren, wobei sie, der Grenzen

des eigenen Wissens klar sich bewußt, einfach und ohne Scheu über

nicht ganz Verstandenes Erklärung sich erbitten. Allen aber gemeinsam ist eine von jeder Schwärmerei freie

Verehrung und Dankbarkeit gegen ihre große Erzieherin.

Ueber

die Einzelfehler, womit Marie Hillebrand sich und ihren Interessen so viel schadete, vollkommen klar, hört man sie doch bei jeder Ge­

legenheit sich auf deren Lehren und Beispiel berufen. — „Wie recht „hatte Frl. Marie, Dies und Jenes zu sagen, wie richtig war

„bei ihr diese oder jene Einrichtung!" sind Worte, die ich gar oft

aus

dem Munde dieser Frauen höre!

Am häufigsten

aber

heißt es: Daß ich dies ertragen, dies durchführen konnte, verdanke ich nur der Erziehung, die ich von ihr empfangen!

Eine unauslöschliche Spur hat also jenes vierzigjährige Wirken

besonnener Idealität in Seele und Leben vieler Frauen hinterlassen!

XVII. Das ist gewiß viel.

Sollte es jedoch Alles sein?

Ich glaube

es nicht. Wahre Kraft kann vielfach umgewandelt werden, nimmermehr

aber verloren gehen.

Und so erscheint das von Marie Hillebrand

Geleistete geeignet und berufen, in der pädagogischen Gährung der Gegenwart ein Element der Klärung abzugeben.

In einer Zeit,

wo Schulreform von allen Seiten verlangt und von der Schule

selbst auf verschiedenen Wegen redlich angestrebt wird,

müßte es mit Wundern zugehen, wenn Großes, das nicht Phantasie-

69

gebilde geblieben, sondern in greifbarer Lebenswirklichkeit dagewesen ist, von fachmännischer Seite keine Beachtung fände. Marie Hillebrand hat das Ideal der den ganzen Menschen erfassenden und fördernden Jugendbildung nicht nur ausgestellt, sondern in vierzigjähriger Thätigkeit dessen Durch­ führbarkeit praktisch dargethan. Und in einem dem ihrigen verwandten Sinn, wenn auch unter unzähligen, von den Verhältnissen wie von den Individualitäten der Wirkenden bedingten Ab­ weichungen, ist das hohe Ziel zu erstreben, die Schule zu einer nicht blos unterrichtenden, sondern wirklich erziehenden, charakterbildenden Anstalt zu machen. So sei denn der zweite Theil vorstehender Schrift, worin die­ jenigen von Marie Hillebrand's ehemaligen Schülerinnen, die am längsten ihr nahe gestanden und sie am besten verstanden haben, ein getreues Bild ihres Wirkens erkannten, der Aufmerksamkeit auch pädagogischer Kreise in aller Bescheidenheit empfohlen!

Ende.

Anhang. Aus Marie Hillebrand's Briefen.

Amorbach, im Sommer 1838. Meine beste Mutter! Ich danke Dir herzlich für Deine Briefe,

auf die ich so lange gewartet habe, und die mich so sehr gefreut. So warst Du denn wieder einmal eine Woche so leidend? Arme, gute Mutter, wie betrübt es mich, wenn ich höre, daß es nicht besser gehen will. Die Reise macht Dir auch schon Sorgen. Geh', steh' doch die Dinge leichter an. Was ist's denn, auf 4 Wochen zu verreisen, besonders für Dich, die Du von Natur das Talent hast, so schnelle und gute Anordnungen zu treffen? Sei doch eben so schnell, liebe Mutter, in Deinem Entschluß, und Alles geht gut.

Wegen der Mägde mache Dir keine unnöthigen Sorgen. Auf jeden Fall würde ich dem Gretchen einige Zeit während Deiner Abwesen­ heit Urlaub geben .... Daß ich bis Herbst hier bleiben will, davon habe ich kein Wort gesagt! Du weißt wohl, liebe Mutter, wie

gerne ich zurückkomme, um Dir nach meinen Kräften zu helfen, die Vorbereitungen zu erleichtern. — Den Lärm brauchst Du hier nicht zu fürchten; Onkel Joseph geht schon in ein paar Tagen von hier weg ... die Kinder bleiben wohl noch einige Zeit hier, aber

diese sind so still und so geschickt, daß Du nur Deine Freude an ihnen haben wirst. Freue Dich nur, liebe Mutter, recht herzlich auf Dein Hiersein, und trübe Dir's nicht im Voraus durch dumme Gedanken. Ich bitte Dich, verjage kleinliche Sorge aus Deinem Kopf und denke nur daran, welche vergnügte Ferien Du mit Deiner Familie in dem schönen Amorbach verleben willst . . . Am folgenden Tag. Vorhin sind Tante und Onkel nach Würzburg abgereist und lassen uns für einige Tage allein. Es war eine schnell verabredete

72 Reise und sie wird deßhalb auch eine recht vergnügte sein.

Liebe

Mutter, wie wirst Du denn den heutigeil Tag verbringen? Hoffent­

lich bist Du heiter und ruhig und hast heute Abend einen guten Tag gehabt. Wie wünsche ich Dir solche! Ich wollte, ich könnte Dir sie

aus meinem Leben geben, wie gerne würde ich sie entbehren! Wer

weiß? vielleicht sind schon die Fremden bei Euch, und Du mußt die honneura machen.

Arme Mutter, wenn ich an Deine Nerven

denke, so dauerst Du mich, wie interessant es auch wäre, diese Sente kennen zu lernen ....

Amorbach, den 5. Juni 1838. Liebe Mutter!

Es ist 10 Uhr, und ich komme von einer Partie auf den Amorsbrunn, will aber doch noch den Abend benutzen, um Dir zu

sagen, wie ich bisher gelebt. haben wir!

Liebe Mutter, wie viel Vergnügen

Aus einer Gesellschaft in die andere, wir können uns

gar nicht erholen; es bekömmt mir aber recht gut.

Heute waren

wir sehr lustig; sind herumgesprungen und haben Späße gemacht; gestern Morgen sind wir mit Herrn B. und

haben

oben

auf Gotthard

Chocolade gefrühstückt.

Eine eben

gestiegen

so

schöne

Partie haben wir vorige Woche mit Herrn St. auf die Wilden­

Wie schön es aber dort war, kann ich Dir nicht

fels gemacht.

Die ganze

beschreiben.

Natur war noch

so

frisch, die Sonne

so klar, und die letzten Berge noch in Nebel eingehüllt, es war ein

herrlicher

Du wärst

Mittag

Anblick,

und

entzückt gewesen

sind

wir

auf den

ich

und

habe

gleich

gewiß

Schafhof

an

gesund

eingeladen,

Euch

gedacht.

geworden. und

Den

Sonntag

Morgen um 4 Uhr gehen wir nach Biiltenberg, um den König von Baiern dort zu sehen,

er speist auf dem Schlosse zu Mittag

und wer weiß, ob ich noch einmal in meinem Leben Gelegenheit habe, einen König zu sehen. — Aber, liebe Mutter, ich spreche immer von meinen Vergnügungen, ich versichere Dich, ich könnte Dir acht

Tage davon erzählen. — Könnte ich Dir nur die Hälfte davon schicken, wie glücklich wäre ich.

hätte Dich eben einmal hier!

Du gute Mutter, ich wollte, ich Deinen langen Brief, für den ich

73

Dir herzlich danke,

habe ich richtig erhalten, es hat mich Alles

darin gefreut, nur nicht, daß Du glaubst, ich hätte den Hermann*) vergessen zu grüßen. Bei meinen Geschwistern habe ich auch immer

an ihn gedacht, wie konnte ich denken, daß Ihr es nicht verstanden? Er wird es gewiß gewußt haben. — Grüße ihn diesmal recht herzlich. Von Robertson habt Ihr Briefe erhalten? Der arme Mensch

dauert mich, schreibe ihm nur recht bald und sage ihm auch meine herzlichen Grüße. Onkel Heres ist schon seit 8 Tagen in Carlsruhe,

Tante ist wohl und läßt Dich grüßen, wie auch alle Verwandte. Grüße den Vater von ganzem Herzen, danke ihm für seine freund­

lichen Zeilen, die mich so sehr gefreut haben. Meinen Geschwistern, Clementinen, Engländern und Freundinnen schicke ich viel Freund­ liches.

Du gute Mutter, verzeih' mein schnelles Schreiben, ich bin

wirklich schläfrig.

Montag schreibe ich Dir ordentlich.

Du bist wohl und heiter, liebe Mutter, sei es nur!

Ich hoffe.

Dies bittet

von ganzem Herzen

Deine treueste Tochter Marie.

Amorbach, den 11. Juli 1838.

Schon lange, liebe Mutter, warte ich vergebens auf Briefe. Du bist doch nicht unwohl, oder ist Euch sonst Etwas begegnet?

Ich hoffe, es sind nur Spaziergänge und Arbeiten, die Dich vom

Schreiben abhalten. Liebe Mutter, sei so gut, und schreibe mir recht bald. Du weißt, wie ich mich freue, wenn ich einen Brief von Dir bekomme, sage auch meinen Geschwistern und Cameron, sie sollten mir bald schreiben. — Von Miltenberg sind wir Sonntag Abend um

halb elf zurückgekehrt, wir haben dort viele Abenteuer erlebt, und ich werde diesen Tag gewiß nie vergeffen.

Wie wir den Morgen

erwachten, war der ganze Himmel mit Regen umzogen und ver­ sprach uns tüchtiges Regenwetter. Du kannst Dir unsere Betrüb­ niß denken, als wir unsere Partie so zu Wasser werden sahen. Bis 12 Uhr waren wir unschlüssig, ob wir fahren sollten oder bleiben.

Die Meisten

stimmten zu Ersterem und so setzten wir uns denn

muthig in einen Leiterwagen, in dem uns Säcke zum Sitzen dienten. *) Bruder der Mutter.

74 Du hättest uns sehen sollen, wir waren 12 Mädchen, Herr B.

und Herr von T. waren unsere Ritter und saßen im Hintergrund. Kaum waren wir in der Hälfte der Stadt, von der Straßenjugend begleitet, als wir ein Stück von unserem Wagen verloren, und unser Rad eben auslaufen wollte. Wir mußten uns aufhalten und als wir Amorbach hinter uns hatten, überfiel uns ein fürchterlicher Regen, der auch den ganzen Tag anhielt. Mit Regenschirmen, die wie ein Dach über uns gespannt waren, und naß und schmutzig hielten wir unseren Einzug in Miltenberg. Beim Onkel fanden wir ein gutes Unterkommen und nachdem wir uns gestärkt und erholt hatten, gingen wir den König zu empfangen. Die Stadt war sehr schön hergerichtet, mit Blumen und blau und weißen Fahnen ge­ schmückt, die Landwehr aufgestellt und Frau H. mit ihren Kindlein, herrlich geputzt, an der Schloßpforte, um den König hinaufzuführen. Kanonen wurden gelöst, Trommeln geschlagen und die königlichen Wagen fuhren an. Der König, ein mageres Männchen, war sehr freundlich, hatte beständig mit dem Kopfe genickt, daß man glaubte, er habe die Gicht, und hie und da ein paar freundliche Worte

fallen lassen. Die Königin ist aber wirklich eine hübsche Frau und zeichnete sich durch ihr freundlich würdevolles Betragen aus. Prinzen und Prinzessinnen folgten dem Zug. — Wir trieben uns auf der Straße herum, und waren dem König immer ziemlich nahe. Drei Stunden hielt er sich in dem Schloß auf, wir standen an einer Thüre und er mußte an uns vorüber gehen. Er näherte sich uns und fing ein Gespräch über das Wetter an, erst im Allgemeinen,

dann wandte er sich an die Bertha, fragte sie nach ihrem Namen, Geburtsort und dem Stand ihres Vaters, und als er hörte „Ge­ heimer Conferenzrath", verbeugte er sich tief und zog den Hut ab. Mutter, es war wirklich köstlich, er konnte sich gar nicht trennen, der ganze Zug mußte halten. So haben wir denn unseren Zweck erreicht. — Nach der Abfahrt des Königs gingen wir auf die Burg, um die Anstalten zu sehen. Dort fanden wir Frau H. berauscht von der Huld des Königs. Er hat sie selbst zur Tafel geführt,

sie zeigte uns das Sopha, auf dem sie mit ihm gesessen, das Lied, das sie ihm gesungen; kurz, es war riihrend, die beglückte

Frau zu sehen. Wir hatten Alle das Ansehen von triefenden Nixen und Wassernymphen, aber was ertrügt man nicht Alles um eines

75

Königs willen? Unsere Hüte sind Invaliden geworden. Tante Louise muß die Wunden heilen; wir tragen einstweilen den Schmuck ver­ gangener Zeiten; frage einmal die Clementine,

wie es um das

Antiken-Cabiuet auf den Kleiderschränken aussieht. Der meinige hat einen Kopf wie eine Trommel, sie nennen mich nur den Tambour,

Bertha uiib Marie sehen aus wie Derwische.

Aber, liebe Mutter,

ich sehe, daß ich mich ganz in der Königsgeschichte vergessen habe. Du weißt aber, von was das Herz voll ist, geht der Mund über,

drum hast Du auch Alles wißen müssen. — Wie geht Dir's denn, liebe Mutter, bei der großen Hitze? Gehst Du Abends spazieren?

Wie sind

Deine Gedanken?

Sei

heiter,

gute Mutter, und lebe

ruhig fort, dann wird's auch immer besser.

Ich hoffe, daß mir

Dein nächster Brief recht viel Gutes von Dir sagt.

Wie bin ich

so glücklich, wenn ich Dich wohl und vergnügt weiß.

Dein Wille

vermag viel, folge ihm nur immer. leben

beinahe

Eßt Ihr viel Obst?

Wir

nur von Kirschen, das Pfund kostet nur einen

Kreuzer, wie viel bei

Euch?

Mich interessirt Alles von

Euch.

Schreibe mir nur recht genau . . .

Sonntag, den 15. Juli 1838. Deinen Brief, liebe Mutter, habe ich vorgestern erhalten. Du kannst Dir denken, wie sehr ich mich gefreut, da ich mich so lange

danach gesehnt.

Die Nacht zuvor träumte mir, Du und Lottchen

hättet geschrieben; den Abend bekam ich wirklich Eure Briefe und,

wie eigen! — es waren dieselben, die ich im Traume gelesen. Der Inhalt war mir bekannt, ich wußte jedes Wort darin, und auch

Vaters Zeilen hatte ich schon im Schlafe gesehn, und ihm herzlich dafür gedankt.

Ist das nicht Seelensympathie? Du schreibst so gut,

so herzlich, liebe Mutter, Deine Worte haben mir so wohlgethan,

daß ich so gerne bei Dir sein möchte, um Dir dafür zu danken.

Du sagst, ich könnte Dich nur im Aeußerlichen beleidigen — Du hättest mir nichts Innigeres sagen können, es gibt kein seligeres

Gefühl, als sich gekannt und geliebt zu wissen und dies bin ich so ganz von Dir, liebe Mutter, wie danke ich Dir dafür! Ich habe

Dich aus Deinen Briefen wieder recht erkannt, Dein liebes Gemüth

76 und Dein unendliches Leiden.

Daß es aber auch gar nicht besser

wird! Ich kann Dir nur immer sagen, bezwinge Deine Gedanken, und treibe sie aus wie einen bösen Geist.

Dies ist wohl leicht

gesagt und ich sehe wohl ein, wie schwer es Dir sein wird. Dich

frei zu machen, und wie sehr es Dich in anderer Hinsicht wieder Aber, liebe Mutter, es ist doch gewiß nur das einzige

angreift.

Mittel, Dich gesund zu machen.

Nun ' werde ich schon wieder ge­

Onkel Joseph, Tante Minna und Therese B. sind gekommen.

stört.

Letztere hat mit uns innige Freundschaft geschlossen, sie ist entsetzlich

reich und läßt ihr Geld sehr glänzen.

Nächstens gibt sie eine ganz

große Herren- und Damengesellschaft auf der Pulvermühle, in der

werden

soll.

Kein Vergnügen

bei

dieser Hitze!

Wie

schön singt die Tante! ich höre sie vom gelben Stübchen

aus.

aufgeführt

Wärest Du nur da, und könntest mit mir genießen.

Ihre Stimme

ist so voll, so rein, es ist eine Lust! Nun lebe wohl, gute Mutter,

bald komme ich wieder zu Dir! Montag, den 16. Juli'1838. Heute, liebe Mutter, will ich meinen Brief fertig schreiben,

damit Du ihn endlich erhältst.

Gottlob! es regnet.

Nun ist man

ein ganz anderer Mensch, als bei der furchtbaren Hitze.

War's

denn bei Euch auch so arg heiß? Das Wetter, liebe Mutter, war

auch gewiß mit Schuld, Deine Angegriffenheit zu vermehren. wird Dir's auch wohler sein.

wiß auch viel von der Hitze leiden müssen. herzlich.

Nun

Wie geht's dem Vater? Er hat ge­

Grüße ihn doch recht

Bleibt nur bei Eurem Vorsatz, hierher zu kommen, es

ist hier ganz wie für Dich geschaffen, die Natur beruhigt

und

tröstet, und man fühlt sich hier so heimisch und in sich selbst zu

Haus. spät.

Wann gehen denn die Ferien

an?

Hoffentlich

nicht zu

Nun bin ich beinahe sechs Wochen hier, und, liebe Mutter,

ich unterwerfe mich ganz Deinem Willen.

Mache Du es mit dem

Vater aus, ohne Rücksicht auf mich zu nehmen. — Du schreibst, ich sollte Dir von den Mädchen erzählen; ich habe sie wirklich recht lieb

und obgleich

beide

ganz verschiedene

Charaktere haben,

so

könnte ich doch mir nicht sagen, welche mir die liebste wäre. Marie

hat mir einen angenehmeren Eindruck gemacht, als ich glaubte. Sie ist stiller als ihre Schwester und man muß sie näher kennen.

77 Sie hat das beste Gemüth, geht auf

UM sie recht zu beurtheilen.

Alles ein, und thut Einem immer gern etwas zu lieb.

Es ist

schade, daß sie soviel gelesen hat, sie hat zu bestimmte Ansichten

und läßt sich nicht davon abbringen.

Ich glaube aber wohl, daß

Du ihr auch recht gut sein mußt.

Bertha hat das angenehniste

Aeußere, ist lebhafter als ihre Schwestern, und geht ganz ihren Sie ist einzig in ihrer Art.

Man hat sie bald er­

kannt, und doch ist sie nicht oberflächlich.

Ich freue mich, wenn

eigenen Weg.

Du sie siehst, sie gefällt Dir gewiß. Laß Dir einmal die Geschichte

von Herrn Sohn von der Clementine erzählen. — Was Du mir von Robertson sagst, habe ich selbst gefunden, als ich

meinen Brief

durchgelesen, ich versichere Dich aber, daß ich nicht mehr dabei ge­ dacht als ausgedrückt habe.

Hast Du ihm schon geschrieben? Nach

Rödelheim habe ich geschrieben. Wie geht's dort? Ist der Hochzeits­ tag bestimmt? Wie geht's Frau C. und der Pröbstin? Die herz­

lichsten Grüße von der Großmutter, dem Onkel Joseph und seiner Frau und allen Verwandten.

Ich grüße unser ganzes Haus

und Bekannte, und Lottchen danke ich für seinen Brief, es

besser wie die Andern, die nicht schreiben.

ist

Dich umarme ich von

Herzen, und bin

Deine treueste Tochter.

Gießen, den 23. Sept. 1842. Liebe gute Mutter!

Eben erhielt ich die Nachricht, daß Ihr Homburg verlaffet

und ich beeile mich zu schreiben, damit unser herzlicher Gruß Euch in

Rödelheim

empfange. . . Bei uns

geht

es fortwährend gut.

Wir leben nach gewohnter Weise, und sind zufriedenen Gemüths.

Ed. hat uns am Samstag verlassen und Christine*) am Sonntag. Nachdem

sie Hermanns

sonntägigen

Besuch

und

Sannchen

auf

Montag abbestellt und mir die Sorge des Hauses auf die Seele

gebunden hatte, wanderte sie, inr schönsten Staate und mit dem alten seidenen Regenschirm unterm Arm, mit hohem Anstand der

Heimath zu.

Sie wollte schon gestern wieder kommen, denn sie

*) Die alte Köchin.

78 versicherte mich, das Haus könne sie nicht entbehren. Wahrscheinlich hat sie aber das schlechte Wetter abgehalten, und erst heute wird uns das

Glück des Wiedersehens.

Ich höre sie schon wieder im

Geiste und empfinde, daß ich Nerven habe. — Gern hätte ich Euch schon früher für Eure Briefe gedankt, aber einige Theegesellschaften und fleißiges Arbeiten an Clementinen's Sacktuch hielten mich da­ von ab.

Einmal war ich nämlich zu L.'s

anderes Mal zu Frau U-

eingeladen

und

ein

Diese lebt ganz in Vorbereitungen für

die Reise nach Mainz, die sie mit Fräulein v. P. machen wird.

Sie haben schon einige Conferenzen deßhalb gehalten, damit die

seidenen Kleider nicht zerdrückt werden, und der

geschont bleibt.

schöne Kopfputz

Es ist recht possierlich mit anzuhören itnb gäbe

Stoff zu einem Lustspiel, denn natürlich werden weder Person, noch

Kleider und Piltz im Festgedränge bemerkt, uild der gute Mensch wird wieder im süßen Wahn beglückt. ... Ich freue mich, Euch

bald wieder zu sehen unb dann, liebe Mutter, wollen wir ein recht vergnügtes Lebeil führen.

Nicht wahr? Wie die Lerchen in der

Du singst u>ld ich höre Dir zu. Bis dahin lebt recht wohl.

Luft.

Grüßt u. s. w.

PS. So ist sie denn glücklich wieder da! Und ich habe Recht

gehabt.

Meine Nerven! meine Ohren! Er ist unaufhaltsam, der

Strom der Rede.

„So schlechtes Wetter, so viel zu tragen gehabt,

daß sie den Kopf nicht mehr fühlt" (und ganz Stimure geworden

ist).

O süße Himmelsmelodie!

Frankfurt, Februar 1845.

Lieber Vater!

Die Freude, die Du mir durch Deine lieben Zeileil bereitet, war ganz eigen — man sagt, daß die höchste Freude auch ein

Gefühl von Wehmuth in sich trage, daß das Herz etwas empfinde,

was es nur empfinden und nicht verstehen samt. So war es mir — ich war von Freude durchdrungen und doch habe ich mich gesehnt. Vielleicht nach Licht, dessen Schein

mir

nahe war.

Ja, guter

Vater, Licht und immer mehr Licht soll es werben in mir, damit

die dunkeln Stellen, die da kommen, hell werden. Denn wie können

79

wir ruhig gehen, wenn wir den Weg nicht sehen? Und mit diesem

Lichte, das mir die Gefahr verringert, sehe ich auch das Schöne am Himmel unb auf Erden.

Wird's einmal ausgelöscht, so hat's

doch hell gebrannt und im kleinen Kreise beleuchtet. lieber Vater.

Also ruhig,

Ich will dem Lichte Nahrung geben, daß es ruhig

brennt und wärmt, nicht lodert und glimmt; und in diesem stillen Lichte erscheinst Du mir gar freundlich als mein lieber, guter Vater,

den Gott mir lange erhalten möge!

Daß der Frühling wieder uns entgegenkommt, freut mich gar sehr.

Ich

weiß,

wie Du den blühenden Jüngling

so

herzlich

empfängst und an seiner Seite das Stück Weg verjüngt zurücklegst.

So wollte ich denn, daß er diesmal Dich besonders freundlich an der Hand führe, und Dir viel von seinem Wesen mittheile. ihm kommst Du ja hierher, und

Mit

er wird schon vorausgeeilt sein,

um Dir Deinen Aufenthalt freundlich zu gestalten. Ich wollte. Du

bildetest Dir ein, die Natur schmücke sich Dir zu Gefallen und

Dienste; bei jedem Blick und Schritt; und ich sehe Dich dann in Gedanken mit ihr im Innersten sympathisirend aus ihren Fluren

nach Wieseck wandeln. — Kurz, ich wünsche Dir das Beste und Reinste; in welcher Weise es dich besuchen soll, will ich dem Himmel

überlassen . . . Nun lebe wohl, lieber Vater.

Es grüßt Dich und

Alle von Herzen

Deine Tochter Marie.

Marly le Roi, 26. Juni 1846. Herzlichen Dank, lieber Vater, für Deinen Brief und Dank

dem Himmel, daß Ihr wohl und vergnügt seid! Thut nur Alles

zu Hause zu Eurem Glück und Frieden .... Ich muß in meinem letzten Briefe sehr lamentabel gewesen sein, weil Du glaubst, daß mich fremdes Joch drücke.

Es wäre undankbar gegen Gott und

die Menschen hier, meint ich eine solche Empfindung hätte.

Nur

die Sehnsucht nach Euch und die Sorge um Euer Wohlsein machen

mir zuweilen mein Hiersein drückend.

Bis jetzt

habe

ich mein

80 Weggehen noch nicht bereut, und auch in den traurigsten Stunden

hat mir desseil Gewinn zu deutlich vor Augen gestanden. Die Ge­ wißheit, daß ich mich künftig und unter allen Verhältniffen auf mich verlassen kann, ist für mich ein köstlicher Schatz.

Auch der

kleine Schüler macht mir Freude ... Ich glaube, daß mich die Eltern nicht gerne gehen lassen, aber ich denke: kommt Zeit, kommt

Bis jetzt habe ich ihnen noch

Rath.

nichts

So ruhig

gesagt.

mein Leben im Winter war, so geräuschvoll ist es jetzt um mich

her.

Die Menschen erscheinen wie Schattenbilder vor meinen Augen

und ich habe unter ihnen schon manche Gestalt gefunden, die ich länger festgehalten

gerne

hätte . . . Bleibt Ihr ganz ruhig zu

Hause? Leider kann ich noch nicht leisten, was ich möchte, sonst

wüßte ich, wohin Ihr ginget.

Der Aufenthalt in Paris H war

theurer, als ich anfangs geglaubt, und ich habe die Erfahrung gegemacht,

daß

mich

äußerliche

Entbehrungen

gewiß

nie

Nun möchte ich nur fragen um Näheres.

werden

ist Tante S. bei Euch.

Dann grüßt sie herzlich.

geniren Vielleicht

War Tante E.

in Ems? So scheint ihr Unwohlsein im Winter doch von Bedeutung

gewesen zu sein.

Sie hat mir sehr lange nicht geschrieben. — Daß

Ihr auf Deinem Geburtstage, liebe Mutter, so freundlich meiner gedacht, habe ich mit Freude gelesen, auch ich habe ihn gewiß

nicht weniger gefeiert; auf stiller Fahrt in offenem Wagen durch schöne Gegend war es meinen Gedanken so leicht, bei Euch zu

sein. — Und nächstes Jahr? Gott weiß es! Mit jedem Schritt in die Zukunft wird

mir die Gegenwart wichtiger, und ich möchte

gerne meine Tage wie Perlen, alle gleich und schön, aneinander reihen;

aber bis jetzt habe ich's

zu keinem schönen

Geschmeide

gebracht.

Unsere Bubens

sind brav,

lauten

die letzten Nachrichten.

Gottlob! Möchten sie doch mit unerschütterlichem Ernst die Wahr­ heit erfassen:

Nur für Mühe verkaufen die Götter das Glück. —

Grüße sie herzlich von mir und, wenn sie wollen, so will ich sie

gerne bei meiner Rückkehr mit meinen Stunden quälen. — Ein

*) Vor Antritt der Stelle. (Der Herausgeber.)

2) Marien'? Brüder.

81 junger Mann aus gebildeter Familie muß jetzt die neuen Sprachen

ordentlich können. Andere gesehen.

In Frankreich wird darauf mehr als auf alles

Dein Gruß von Nina^) kam so frisch aus ihrem

Grüße sie, ihren

Garten, daß ich dessen Lüfte zu fühlen meinte.

Mann, ihr Kind und Alles, was mir lieb und werth ist, tausend

Mal.

Auch Lottchen^) und die Großmutter in Wiesbaden . . .

Nun lebet Alle wohl.

Seid vergnügt und gesund.

liebe Mutter, nicht zu sehr an in der Haushaltung.

Strenge Dich, Bist Du mit

Deinen neuen Mägden zufrieden? Was machen Frau M.? rc. ?c.

Rödelheim, 20. Sept. 1866. An Frau Hähnisch! Heute

morgen

erhielt ich

Deines

Schwagers

Brief.

Ich

dachte mir, daß es ihm so zu Muthe sein müßte und doch hat mich der Einblick in sein verwaistes

Inneres tief erschüttert. —

Danke ihm für seinen Brief, sage ihm, daß ich es wohl zu schätzen

wußte, daß er mir die Tiefe seines Schmerzes gezeigt, der wie das Glück der Liebe auch ein Heiligthum ist. Nur aus dem Schmerz

selber kann ihm Trost und Friede werden; jetzt wird die Erinnermlg an die Verlorene grausam sein Gemüth zerreißen; später wird sie

beschwichtigend auf die brennende Wunde wirken; und dann wird

sie allein ihn tröstend durch's Leben begleiten.

Verzeih', liebe I.,

daß ich beim Tode Mariens nur des Schmerzes Deines Schwagers

gedenke. Wohl weiß ich, was Du in der treuen Schwester, was wir alle in dem reinen, guten Wesen verloren. Allein unwillkürlich

wendet der blos Verwundete den Blick zum Sterbenden hin und ver­ gißt des eigenen Schmerzes.

Will hat sein Lebensglück zu Grabe

getragen, und es ist so selten, das wahre Glück! und wer es gehabt und wem es genommen, der sehnt sich danach wie das verlassene

Kind nach der Mutter ...

*) Marim's Schwestern.

82

Neuenhain, 31. 12. 1874. An dieselbe.

. . . Wohl mar das alte Jahr ein schweres, allein Ende gut, Alles gut, und so müssen wir vor Allem wünschen, daß auch das

folgende uns erhalten möge, was wir in liebender Sorge erfaßt... Wir feiern wieder unsere stille Zeit; es sind unsere Sabbathstage,

die durch den fußhohen Schnee noch sicherer vor Störung geworden. — An Frau Emilie St. haben wir eine recht liebe Freundin ge­ wonnen, sie ist nunmehr die vierte im Bunde. Und willst Du Dir

uns im Genusse häuslichen Glücks vorstellen, so denke Dir, wie wir

alle vier gespannt den von Hrn. Roland vorgelesenen Erzählungen

O. von Horn's folgen; und wenn meine Pulse bei gefahrvoller Lage des Helden schlagen, so beruhigt man mich mit der unum­ stößlichen Wahrheit, daß die kleinen Büchelchen ja immer gut aus­ gehen. Den Armen an Geist wird das Himmelreich; das ist unser

Trost, wenn wir so gar zu kindlich bescheiden sind ...

An eine ehemalige Schülerin nach dem plötzlichen Tode ihres Gatten.

Liebes Kind! — Viel

lieber

käme ich

selbst zu Dir, um

Dich durch einen Händedruck meiner innigsten Theilnahme zu ver­ sichern. Das geschriebene Wort steht so kalt solch schwerem Unglücke

gegenüber.

Hast Du doch Deine Herzens- und Lebensfreude hin­

geben müssen und ist der Kummer darum so tief, wie Dein Gliick

groß war. Mit welchem Schmerz wirst Du Deine armen Kinder an's Herz drücken, in ihnen den Verlust doppelt fühlen, — und

doch auch die Quelle des Trostes! Goethe sagt: „Das Herrlichste, das die Erde zu bieten hat, ist die Frau, die Vater und Mutter zugleich sein kann."

Du wirst Dich gewiß bestreben, das Deinen

Söhnen zu sein, und redlichem Bemühen fehlt nie der Segen. Möge Dir in Deinen Kindern der Hingeschiedene wieder auferstehen und Du in der Sorge, sie nach seinem Vorbilde zu erziehen, eine, wenn

auch schwere, doch trostvolle Lebensaufgabe finden! — Wie glücklich

würde die arme E. im Besitz eines Kindes sein! — Kein Opfer

ist ja einer Mutter zu schwer, und je inniger sie den Vater geliebt.

83 desto größer die Hingabe an die Pfänder seiner Liebe. — Ich bitte

Dich, Deiner Mutter, Deiner Schwester und Deinen Schwieger­ eltern das Theilnehmendste zu sagen. Weiß ich doch, mit welcher Liebe letztere an ihren Kindern gehangen und mit welchen Opfern

sie dieselben zu tüchtigen Menschen herangezogen. Möge auch ihnen in den Enkeln der vortreffliche Tohn wieder gegeben werden. —

Mit herzlichem Kuß und Gruß

Deine alte Freundin M. Hillebrand.

Neuenhain, 1875.

Neuenhain, 13. 5. 79.

An Frau Höhnisch! Da ich weiß, welch herzlichen Antheil Ihr an Allem nehmt,

was uns widerfährt, so beeile ich mich Euch mitzutheilen, daß

unsere Schülerinnen I. O. und E. B. das Examen in Wiesbaden glücklich bestanden haben.

Man scheint mit ihnen besonders zu­

frieden gewesen zu sein, wenigstens haben sich die Herrn Examina­ Gottlob, daß es so ausgefallen!

toren sehr günstig ausgesprochen.

— Nun macht sich auch das Wetter, und die Zeit rückt heran, wo

wir Euch wieder sehen dürfen.

Mit bestem Gruß rc.

Neuenhain, 5. 2. 80.

An dieselbe.

... ©o wäre denn wieder einmal mein Geburtstag über­ standen. Sei froh, daß Du kein Institut hast! Eine wahre Muster­ karte von Genüssen bietet ein solcher Tag, und man ist froh, wenn Alles nach Wunsch abgelaufen ist.

diesmalige Fest klassisch.

In dieser Beziehung war das

Niemand ist stecken geblieben.

Concert,

Theater und Tafel, alles vortrefflich, sogar die Bedienung ließ nichts zu wünschen übrig, was bei uns viel sagen will . . . Ihr habt

Recht,

daß Ihr Euch

gegen das Altwerden

stemmt.

An

Jahren alt zu werden, das kann man mit dem besten Willen nicht ändern — aber im Sinn, an Theilnahme für das, was außer

84 uns ist, dürfen wir nicht absterben; wer da erkaltet, um den ist es geschehen.---------

Neuenhain, 15. 3. 84. An dieselbe.

Wie es Dir geht, so auch mir. was das bei mir zu Existenzfrage.

Die leidigen Augen!

sagen hat, weißt

Du,

Und

es ist quasi eine

Für Deine freundliche Theilnahme herzlichen Dank.

Wir arbeiten und sorgen immer weiter, und danken Gott, daß wir es können ...

Neuenhain, 3. 2. 85. An dieselbe.

. . . Dank, den besten, für Deine Wünsche und herrlichen Worte. Schwatze doch nicht von Geschenken! Sind wir denn dumme

Kinder!

Ich meine denn, wir wären alt genug, kindisches Wesen

abzulegen. Ich verbiete Dir, mir noch irgend entwas zu schenken,

was einen Werth unter 20,000 Mk. hat. Komme aber recht bald;

das wird mich freuen ....

1891.

An dieselbe.

Das Schreiben ist mir, meiner Augen wegen, verboten, aber ich benutze den stillen Nachmittag, wo Alles ausgeflogen ist, um

ein paar Zeilen an Dich zu schreiben. Bitte, sage mir doch, wie es Deinem Schwager geht. — Ich muß so viel an ihn denken; sein Schicksal ist so hart^) und er trägt es mit solchem Helden­

muth!

Und wie geht es Dir und den Deinen? . .

harter Winter.

Es war ein

Gottlob, daß er so weit überwunden ist. — Ich

war krank, viele, viele Wochen lang, und bin noch nicht ganz wieder hergestellt. Da habe ich viel gedacht an die entschwundene Zeit und

an die, die dahingegangen und die man lieb gehabt.--------*) Der blinde und kranke, aber int vollen Besitze seiner Geisteskräfte be­

findliche Mann hatte so eben seine geliebte Tochter verloren.

85 Soden, den 11. August 1892. An dieselbe.

So wäre auch dieser große Dulder endlich erlöst!

Die Nach­

richt von seinem Tod hat mich sehr erschüttert, obgleich ich sagen

mußte: Gottlob, daß endlich seine Stunde geschlagen!

Kannst Du

mir noch etwas über seine letzten Tage sagen? . . .

Nun hat es

aufgehört zu schlagen, das starke geduldige Herz! ...

Es pocht,

liebe Julie, auch unsere Stunde ist nicht mehr ferne. Immer kleiner

wird der Kreis und das bischen Leben besteht nur noch im Denken

an den Tod.

Werden wir uns noch einmal wieder sehen?

Die

Aussicht rückt immer ferner. . . . August 1892. ... Es gereichte mir zu großem Troste, noch etwas Näheres

über ihn zu hören.

Wie groß war er in seinem Leiden! ohne

Klage, ohne Hoffnung ist er hingegangen ....

Was macht sein

Sohn? Bleibt die treue Pstegerin bei ihm? Du siehst, ich möchte immer mehr wissen.