Albrecht von Graefe: Sein Leben und Wirken [Reprint 2018 ed.]
 9783111500102, 9783111134055

Table of contents :
Vorrede
Jagend- und Stadienzeit, 1828 – 1848
Wissenschaftliche Reisen. 1848 – 1850
Berliner Wirkungskreis. 1850 – 1870
Der Schluss

Citation preview

Albrecht von Graefe. Sein

Leben

und

Wirken.

Von

Dr. Eduard Michaelis. A u g e n u r z t in B e r l i n .

Mit A l b r e c l i t v o n G r a e f e ' 9 Bildniss.

B e r l i n .

Druck und Verlag von G. R e i m e r . 1877.

Das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen behält sich der Verfasser vor.

Ein Opfer der Liebe und Freundschaft auf

A l b r e c h t von Graefe's Grab.

V o r r e d e .

Dies ist der erste Versuch einer Lebens-Schilderung A l b r e c h t ' s von Graefe.

Den Beruf zu dieser Arbeit

fand Verfasser darin, dass er der älteste Jugendfreund des Verstorbenen und sein Studiengenosse gewesen, dass er einen Theil seiner wissenschaftlichen Reisen mit ihm gemacht, ihm 12 Jahre hindurch sowohl in der Klinik wie in der Privatpraxis assistirt, und auch nach dem Austritte aus dieser Stellung mit ihm bis zu seinem Tode ununterbrochen in engem persönlichen und Verkehre gestanden hat.

collegialen

Der Verfasser hat einzig und

allein aus eigenen Erinnerungen und Notizen geschöpft; keinerlei ungedruckte Mittheilung stand ihm zu Gebote. Unter diesen Umständen werden sich manche Irrthümer eingeschlichen

haben;

jede sachliche Berichtigung ist

dem Verfasser aufrichtig willkommen.

Das Urtheil von

Zeitgenossen über Zeitgenossen ist der Natur der Sache

— vnr — nach stets mehr oder weniger subjectiv gefärbt.

Der

Verfasser hat sich bemüht, einen möglichst objectiven Standpunkt einzunehmen.

Wie weit ihm dies gelungen,

und ob es ihm geglückt ist, ein treues Bild seines unvergesslichen Freundes zu zeichnen — darüber möge die Stimme der Fachgenossen entscheiden. B e r l i n , im Oktober 1876.

Jagend- und Stadienzeit, 1828 — 1848. A l b r c c h t v o n G r a c f c ist am 2 2 . Mai 1 8 2 8 in Berlin g e b o r e n . In den Stürmen des J a h r e s 1 8 4 8 legte e r , noch nicht 2 0 Jahre a l t , sein Staatsexamen a b ; in das Kriegsjahr 1 8 7 0 , in welchem die Sehnsucht aller Patrioten sich erfüllte, das deutsche Reich glorreicher als j e wieder erstand, fällt sein T o d . Diesen äusseren Verhältnissen entsprechen die verschied e n e n Phasen seines Lebenslaufes: die ruhige Schul- und Studienzeit, die inneren Kämpfe w ä h r e n d d e r wissenschaftlichen Reisejahre 1 8 4 8 — 1 8 5 0 , endlich sein Tod im Zenithe des Ruhmes. Rastlos neues schaffen, an der Spitze jeden Fortschrittes in seiner Wissenschaft stehen, unablässig weiter arbeiten, u n b e k ü m m e r t , ob noch Einzelheiten an den Grundlagen o d e r an den bereits erzielten Resultaten auszufüllen oder zu erweitern seien — das ist die Signatur seines k u r z e n a b e r , thatenreichen Lebens. A l b r c c h t v o n G r a c f c ist u n t e r den angenehmsten Lebensverhältnissen aufgewachsen, und diese sind ihm w ä h r e n d seines ganzen Daseins treu g e b l i e b e n ; die Noth, j a auch n u r die schweren Seiten des Lebens h a t er niemals kennen gelernt. Michaelis,

A . vou Gracfc.

1

Sein Vater Carl F e r d i n a n d von Graefe war erst 2 3 Jalire alt, als er, der ehemalige Assistent R e i f s in Halle, u n d dann als Leibarzt des Herzogs Alexius von A n h a l t - B e r n b u r g d e r Schöpfer des Soolbades „ A l e x i s b a d " im Harz, zum ersten Dirigenten der gegenwärtig unter B. von Langenbeek's Leitung stehenden chirurgischen Universitäts-Klinik, welche zu gleicher Zeit mit d e r Berliner Universität g e g r ü n d e t worden w a r , b e rufen w u r d e . 3 0 J a h r e h i n d u r c h bekleidete er diese Stellung, sein Ruf als L e h r e r und Operateur zog Hundertc von Schülern und Kranken aus allen Gegenden nach Berlin. Von seiner hohen wissenschaftlichen Bedeutung legen neben vielfachen Monographien die grossen S a m m e l w e r k e : das „Encyclopädische W ö r t e r b u c h der medicinischcn W i s s e n s c h a f t e n " und das „ J o u r nal der Chirurgie und A u g e n h e i l k u n d e " , herausgegeben von v. G r a e f e und v. W a l t h e r , welche seiner A n r e g u n g ihr Entstehen verdanken, u n d in denen er seine vielfachen E r f a h r u n g e n niedergelegt hat, beredtes Zcugniss ab. Das reiche Feld seiner augenärztlichcn Thäligkeit schildern getreu die von ihm in den J a h r e n 1 8 1 7 — 1 8 3 3 h e r a u s g e g e b e n e n „Berichte über das klinische-chirurgisch-augenärztlichc Institut der Universität Berl i n . " — „Die Ausziehung des g r a u e n Staares d u r c h d e n a u f w ä r t s g e f ü h r t e n H o r n h a u t s c h n i t t — heisst es im Berichte über die Leistungen des Jahres 1S26 — w u r d e zu B e r l i n w ä h r e n d des November 182G z u m e r s t e n M a l e , u n d z w a r m i t d e m g ü n s t i g s t e n E r f o l g e , a u s g e f ü h r t " . — Ueber „Bildung künstlicher Pupillen", — sagt der Jahresbericht f ü r 1833 — : d i e in P r e u s s c n z u e r s t i n u n s e r e m I n s t i t u t e g e ü b t e u n d von h i e r a u s s e i t 24 J a h r e n vielfach verb r e i t e t e C o r e m o r p b o s c vollzogen wir u. s. w. — Kein, f r o m m e Wiinschc in sich schliesscndcs, oder als Aushängeschild berechnetes P r o g r a m m , sondern eine von Hunderten von Augenzeugen oder vielmehr Theiliichniern bestätigte Thatsache ist es, wenn Carl Ferdinand von Graefe im Jahresberichte für 1827 sagt: „Sämmtliche K r a n k e ( 1 1 3 4 chirurgische und 431 Augen-



3



k r a n k e ) konnten von den Zuhörern genau beobachtet

werden,

da sie, ohne Ausnahme, in den klinischen Stunden behufs^ der Diagnose und Festsetzung des Kurplancs vorgestellt, da ferner alle

wichtigeren

im Verlaufe jedes

einzelnen

Falles

wahrge-

nommenen Veränderungen öffentlich erörtert wurden, j e d e m Klinicistcn Visiten

offen

der Zutritt

stand.

zu den

Zugleich

gewöhnlichen

wurden

die

und da Hospital-

Praktikanten

dem Aufzeichnen der R c c e p t e , bei diätetischen

bei

Verordnungen,

bei Vorbereitungen und Anlegungen von Verbänden, so wie bei Verrichtungen

von Operationen,

unter der nöthigen Auf-

sicht zum s e l b s t s t ä n d i g e n Handeln möglichst hingeleitet."



„In jenen Einrichtungen mag der Grund liegen, dass die Anstalt auch während des verflossenen Jahres von 2 2 0 Zuhörern besucht

ward.

genden

anhergereist und zum Theil von den fremden

Mehrere

derselben

waren

aus entfernten GeRegie-

rungen unmittelbar an die Direktion der Anstalt gewiesen." — Trotz aller seiner unbestrittenen Verdienste hatte der ältere Gracfe

das Unglück, als er am 4 . Juli 1 8 4 0 s t a r b ,

nialen D i e f f e n b a c h ward rasch

den ge-

zum Nachfolger zu erhalten, und —

vergessen.

Und

nicht

er

allein

er

ward vergessen

an der S t ä t t e , die er geschaffen und der er lange Jahre hindurch seine besten Kräfte gewidmet ward es auch die Augenheilkunde. seinem Tode

wurden

wohl

ambulatorisch

behandelt,

hatte,

mit ihm

zugleich

In den ersten Jahren

noch Augenkranke in

doch hörte dies allmälig

und von Augenoperationen verrichtete D i e f f e n b a c h

nach

der Klinik ganz auf, bekannt-

lich nur S c h i e l - und plastische Operationen. E s war somit

dem Vater vom Schicksal

die Erziehung A l b r e c h t ' s

nicht vergönnt,

über dessen zwölftes J a h r hinaus zu

leiten; diese Aufgabe fiel der Mutter, A u g u s t e geb. v o n A l t e n , anheim, welche ihren Gatten eine lange Reihe von Jahren überlebte und den Stolz genoss, Ruhm

alle Wcltlheile

bei weitem

erfüllte

einen Sohn zu besitzen, und

den

des trefflichen

Uberstrahlte. 1 »

dessen Vaters

_

4



Von seinen Geschwistern, zwei B r ü d e r n und zwei S c h w e s t e r n , zu denen allen A l b r e c h t stets die herzlichsten Beziehungen hegte, hing er mit zärtlicher Liebe an seiner ältesten S c h w e s t e r O t t i l i e (Frau v o n T h i l e ) , und diese Liebe, welche von d e r selben mit t r e u e r fast mütterlicher Sorge um sein Wohl w e r k thätig erwiedert w u r d e , h a t ihn w ä h r e n d seines ganzen L e b e n s beglückt und erhoben und auch noch seine letzten S t u n d e n versüsst. Frau v o n T h i l c ist jetzt seinen früh verwaisten Kindern mit derselben T r e u e und Aufopferung eine l i e b e n d e Mutter. Durch guten häuslichen P r i v a t - U n t e r r i c h t gediegen v o r bereitet, absolvirte A l b r e c h t s e h r rasch und glänzend die Gymnasialklasscn. Ihn zeichneten, nach dem Zeugnisse seiner Mitschüler, dieselben geistigen Eigenschaften schon damals aus, welche später sein Wirken so f r u c h t b r i n g e n d machten. Seinen äusserst scharfen Sinnesorganen entsprach der scharfe d u r c h dringende Verstand. Staunen erregend waren seine schnelle Auffassung auch d e r schwierigsten Probleme u n d seine gewaltige Combinationskraft. Langes Grübeln Uber die beste der Varianten eines Schriftsteller-Textes oder mühevolles Aussuchen des besten Satzbaues in einem selbstvcrfasstcn Aufsatze, war nicht seine Sache, ihm kam es n u r auf den geistigen Gehalt einer Schrift a n , ebenso wie er unbedenklich — einen vielleicht nicht ganz corrckten Ausdruck a n w e n d e t e , wenn dieser n u r präcis wiedergab, was er bezeichnet wissen wollte. Das Studium der Mathematik b e h a g t e ihm sehr, weil die P r o b e stets mit absoluter Sicherheit zeigte, dass seine Deduktionen und Schlussfolgerungen die richtigen gewesen seien. W ä h r e n d dieser Schulzeit entwickelte sich bei ihm j e n e hinreissende persönliche Liebenswürdigkeit, welche j e d e n , d e r ihm nahe trat, unauflöslich und f ü r immer in seinen Bann t h a t . Herbst 1 8 4 3 bezog e r , noch nicht IG J a h r e alt, die Berliner Universität. Zu dem selbst gewählten Studium der Medicin war er bereits vorbereitet durch Privat-Unterricht in der

C h e m i e , Physik und Mineralogie, welchen er während der letzten Gvmnasialjahrc in seinem e i g e n e n , kleinen aber wohl eingerichteten Laboratorium von dem b e w ä h r t e n Chemiker Professor R a m m e i s b e r g empfangen hatte. Neben den Koryphäen der Naturwissenschaften, einem M i t s e h e r l i e h , Heinrich Hose, Magnus, Dovc, K u n t h , Lichtenstein, W e i s s , G u s t a v R o s e , P o g g e n d o r f , E r m a n glänzten damals in der medicinischcn Fakultät J o h a n n e s M ü l l e r , D i e f fenbach, Schocnlcin, Ilcckcr, Dusch, Joseph Schmidt, d e n e n sich — als klinischer Lehrer eben so hoch geschätzt wie wegen seiner vernichtenden Kritik gefürchtet — E. W o l f f , und als gediegenster Kenner der allgemeinen wie chirurgischen Anatomie und als b e r ü h m t e r Leiter d e r chirurgischen Operationsübuiigen S c h l c m n i anreihte, w ä h r e n d R o m b e r g in seiner „ P r o p ä d e u t i s c h e n Klinik" die Lehren der Engländer über Nervenkrankheiten durch eigene Untersuchungen f ü r den Unterricht praktisch vcrwcrlhctc. Klinik der Augenkrankheiten verb u n d e n mit Operationen hielt Professor J ü n g k e n im Winter 2 m a l , im Sommer l m a l wöchcntlich neben seiner c h i r u r gischen Klinik im C h a r i t é - K r a n k e n h a u s e . Diese Klinik war vom Tode C a r l E e r d i n a n d ' s fast bis zum Auftreten A l b r e c h t s v o n G r a c f c der einzige Q u e l l , aus welchem die Dcrlincr Studenten Delchrung in der Augenheilkunde schöpfen k o n n t e n , so wie J ü n g k e n während dieser Zeit als «1er alleinige Consulent seiner Collcgen u n d der einzige Rettungsanker aller Derliner Augenkranken erscheint. Die Diagnosen, welche in dieser Klinik gestellt w u r d e n , waren conform der Nomenklatur in dem J ü n g k c n ' s c h c n „ H a n d b u c h e d e r A u g e n h e i l k u n d e " , w c i c h e s , wie in jedes Berliner Medicincrs, so auch in G r a c f e ' s Händen während seiner Studienzeit sich befand. Die j ü n g e r e Berliner Schule bildeten der anatomische Prosektor E r n s t B r ü c k e , die Privatdocentcn Du B o i s R e y m o n d , T r a u b e , L e u b u s c h c r , R e i n h a r d , R c m a k , endlich

R u d o l f V i r c h o w , welcher nach F r o r i e p ' s F o r t g a n g e von Berlin 184G die Prosektur im Charite-Krankenhause ü b e r n o m men hatte und den Berliner Studenten zuerst pathologischanatomische Demonstrationen an frischen P r ä p a r a t e n hielt, w ä h rend J o h a n n e s M ü l l e r in seinem Colleg ü b e r „Pathologische A n a t o m i e " n u r getrocknete u n d in Spiritus a u f b e w a h r t e v o r gezeigt hatte. Ebenfalls hierher zu rechnen ist B o c h m , d e r d u r c h seine Monographie „Ueber das Schielen" die neue Tiichtung b e k u n d e t e , welche die Augenheilkunde bereits, w e n n auch nicht in Berlin und auf den a n d e r e n Preussischen Universitäten, doch sonst überall eingeschlagen h a t t e , und der nach dieser Monographie zu u r t h e i l c n , noch viel zu leisten versprach. Doch wie B ö h m mit der oben erwähnten j u n g e n Berliner Schule w e d e r persönliche noch wissenschaftliche Verbindung unterhielt, so stellte er sich s p ä t e r auch der G r a e f e ' s c h e n Schule feindlich gegenüber, u n d seine nachfolgenden literarischen P r o d u k t e haben den W e r t h nicht mehr, den jene Erstlingsarbeit noch heute besitzt. Die Berliner Studenten in den vierziger J a h r e n unseres J a h r h u n d e r t s waren noch Epigonen von I l e g e l . Auch G r a e f e beschäftigte sich in den beiden ersten Semestern eifrig mit dem Studium I l e g e l ' s c h e r Philosophie. Der glänzenden Dialektik dieses Philosophen, der bis z u r höchsten Spitze getriebenen Ausbildung des formalen Denkens entsprach seine eigene geistige Gewandtheit, ein beliebiges Thema Uber welches er sich gerade unterhielt, nach allen Seiten hin zu beleuchten u n d eine daran seinerseits g e k n ü p f t e Behauptung ernstlich oder zum Zeitvertreib mit w a h r e n o d e r Scheingründcn so b e h a r r lich und schlagend d u r c h z u f ü h r e n , dass es n u r sehr wenige g a b , welche in diesem geistigen Kampfe mit ihm nicht entweder unterlagen oder e r m ü d e t sich selbst f ü r ü b e r w u n d e n erklärten. Neben der Philosophie trieb G r a e f e in dieser Zeit auch noch Mathematik; bald j e d o c h n a h m e n die naturwissenschaftlichen und medicinischen Studien seine ganze Zeit in



7



Anspruch. So weit es m ö g l i c h , vermied G r a c f e rein theoretische Collégien zu h ö r e n , auch hat e r Collegienhefte niem a l s nachgeschriebcn o d e r a u s g e a r b e i t e t ; sein vorzügliches Gedächtniss bewahrte treu, w a s ihm von dem Gehörten sein scharf s i c h t e n d e r Verstand als d e r A u f b e w a h r u n g werth überlieferte, und a n g e s t r e n g t e , ü b e r Nächte sich erstreckende häusliche L e k t ü r e ergänzte vollständig, was er aus den Uörsälcn und Kliniken entweder ganz in seinem Gedächtnisse oder auch auf flüchtig hingeworfenen Notizen heimgebracht hatte. Von den Naturwissenschaften trieb er auch jetzt, wie schon als Gymnasiast eifrig Chemie, Physik und Krystallographie, Botanik und Zoologie hatten weniger Interesse f ü r ihn. In d e r Medicin e r k a n n t e er J o h a n n e s M ü l l e r , S c h ö n l e i n und D i e f f c n b a c h stets mit grösster Dankbarkeit als seine L e h r e r a n ; mit d e r selben h o h e n A c h t u n g u n d A n e r k e n n u n g s p r a c h er v o n S c h l c m m , von dem leider zu f r ü h freiwillig aus seiner Lehrthätigkeit in d e r Charité z u r ü c k g e t r e t e n e n E. W o l f f und von R o m b e r g . Aber mächtiger wie alles a n d e r e regten ihn die Vorträge V i r c h o w ' s a n ; mit Ileisshunger verschlang er die ersten 1 8 4 5 — 47 erschienenen Arbeiten desselben. Ihm, bei dem der treffliche Vater gesorgt hatte, dass schon in der Jugend naturwissenschaftlicher Unterricht an die Stelle unnützen oder verderblichen Zeitvertreibes t r a t , ihm, der d u r c h Begeisterung für das S c h ö n l e i n ' s e h e naturwissenschaftliche System hinlänglich vorbereitet w a r , ihm inusstc der kolossale Fortschritt, der in den V i r c h o w ' s c h c n U n t e r s u c h u n g e n sich geltend m a c h t e , klarer und vollständiger e i n l e u c h t e n , als vielen seiner C o m m i l i t o n c n , die sich n u r g a r zu schwer von der damals immer noch h e r r s c h e n d e n Ontologie in der Medicin losmachen k o n n t e n . Virc h o w ' s Einfluss ist in allen Schriften G r a e f e ' s nachzuw e i s e n , an d e r streng experimentell - physiologischen Methode seiner Untersuchungen und der steten Anlehnung einerseits an die klinische E r f a h r u n g , andererseits an die Resultate exakt a u s g e f ü h r t e r Sektionen.

Diese Methode musste mit zwingender Notwendigkeit dahin führen, an die Stelle des Begriffes vom „Krankheits-Wesen" die Lehre vom „krankhaften Processe" zu setzen, eine Lehre, welche in unserem Jahrhundert zuerst von den Franzosen aufgestellt, dann von der Wiener Schule unter Führung von R o k i t a n s k y und S k o d a weiter ausgebildet worden ist, aber erst durch V i r c h o w und seine Mitarbeiter diejenige allgemeine Geltung erlangt hat, welche sie heutigen Tages besitzt. Das "Archiv für pathologisch« Anatomie und Physiologie und für klinische Mcdicin" wurde von V i r c h o w und R e i n h a r d t im Jahre 1847 gegründet. Bereits zu Anfang des Jahres 1844 war das erste Heft der „Vierteljahrsschrift für die praktische Heilkunde", herausgegeben von der Präger medicinischen Fakultät, crschiencn. Alle in den ersten Bänden dieser Zeitschrift enthaltenen Abhandlungen tragen bewusl und sicher den Stempel der pathologisch-anatomischen Richtung an sich, und bald waren die Namen der Verfasser, eines O p p o l z c r , Jaksch, Ilammernyk, Ditterich, Halla, Löschner, W e i l e r , K i w i s c h von R o t t e r a u , L a n g e , P i t h a , B l a z i n a , A r l t , I l a s n e r von A r t h a , R y b a in Norddeutschland eben so bekannt wie die Namen R o k i t a n s k y und S k o d a . In demselben Jahre 1847, in welches die Gründung des V i r c h o w ' s c h e n Archiv's fallt, erschien ebenfalls in Berlin eine epochemachende Schrift; „E. B r ü c k e Anatomische Beschreibung des menschlichen Augapfels". Seit Z i n n ' s berühmtem Werke: Descriptio anatomica oculi humani iconibus illustrala. Altera vice edita et nccessario supplcmento novisque tabulis aueta, ab Wrisberg, Anatomes professore Goettingense. Gocttingae 1780 — war keine diesen Gegenstand behandelnde Monographie veröffentlicht worden. Daher kam es dass alle in den 30 und 40er Jahren herausgegebenen Lehrbücher der Augenkrankheiten die ersten Capitel der „normalen Anatomie des Auges" widmeten. Dies ist sogar noch mit H e l m h o l t z ' s „Physiologischer Optik" der Fall, welche doch viel später, die erste

-

9

-

Abtheilung im Jahre 1S56, erschien. So wenig traute man den Medicinern die genaue Kcnntniss von dem Baue des edelsten Sinnesorganes zu. Während der letzten Studienjahre begannen bei G r a e f e j e n e inneren Kämpfe, welche erst später in den Reisejahren zur Entscheidung kamen. Er musste mit sich selbst darüber einig werden, ob innere Mcdicin, ob Chirurgie und Augenheilkunde oder ob Augenheilkunde allein später das Feld sein würde, wclehes er mit Vorliebe bebauen wolle. Dass er kein gewöhnlicher praktischer Arzt werden, dass er die akademische Laufbahn einschlagen würde, das stand bei ihm selbst, wie bei dllen, die ihn näher kannten, über allen Zweifel erhaben fest. Aber worin wollte er dociren? Zum inneren Kliniker befähigten ihn seine scharfe Beobachtungsgabe und seine gewaltige Combinationskraft in ungewöhnlichem Grade, aber eine, wohl vom Vater überkommene Neigung zu operativer Thätigkeit überwog, und es schien Anfangs, als solle die Chirurgie der Schauplatz seines zukünftigen Wirkens werden. So blieb es vorläufig wenigstens unentschieden, obwohl in seinem Innern, anfangs vielleicht ihm selbst unbewusst, der Gedanke, speciell Augenarzt, Operateur und Docent der Augenheilkunde zu werden, sich still aber fest eingewurzelt hatte. Von der angestrengten geistigen Thätigkeit G r a c f e ' s , so wie von seinen inneren Kämpfen während dieser Zeit, war äusscrlich nichts zu merken. G r a e f e war ein die Geselligkeit im höchsten Grade liebender, recht von Herzen fröhlicher, zu jedem lustigen Streiche jugendlichen Uebermuthes aufgelegter Student. Vor allem liebte er Männer-Gesang, und Quartett oder Chor begleiteten und würzten fast immer die abendlichen Zusammenkünfte. Einmal wöchentlich, am Sonnabend, dem allgemeinen studentischen „Kneipabende" versammelte er in den Sommermonaten eine Anzahl intimer Freunde und Studiengenossen bei sich auf der schöngelegenen elterlichen Villa im Berliner Thiergarten, und an derselben Stätte, wo bei des Vaters Lebzeiten die feine Welt



10



in geistreichen Gesprächcn sich bewegt h a t t e , tummelte sich jetzt eine m u n t e r e Schaar ausgelassener Musensöhne, die erst, wenn der Morgen graute, das gastliche Ilaus vcrlicsscn um nach d e r Stadt z u r ü c k z u k e h r e n . Am 21. August 1 8 4 7 erhielt G r a e f e aus den Händen des Dekans J o h a n n e s M ü l l e r , desselben, der ihn 4 J a h r e f r ü h e r bei der Fakultät inscribirt hatte, die medicinischc Doktorwürde. Seine Inaugural-Disscrtalion f ü h r t den Titel: de b r o m o e j u s q u e praeparatis, u n d zerfällt in 3 Abschnitte, in eine pars chemica, welche von d e r E n t d e c k u n g des Broms durch Baiard im J a h r e 1 8 2 6 , von den chemischen und physikalischen Eigenschaften und den Verbindungen desselben handelt, in eine pars secunda continens cflectus b r o m i physiologicos, und in eine pars tertia continens eflectus bromi therapeuticos. Im ersten und dritten Abschnitte giebt G r a c f e , w a s er a u s der betreffenden Liter a t u r seiner Zeit gesammelt und gesichtet hat, im zweiten f ü h r t er die folgenden Resultate der sowohl von seinen Vorgängern als von ihm selbst angestellten Versuche an Thieren a u f : 1) A d a u t a e secretioncs et exeretiones, a q u o s a e et opalescentis nec non faecum.

spcciatim

urinac

2) A u g m e n t u m resorptionis quod fortasse solo illo efl'ectu fortasse speeiiiea ctiam virtutc inducitur. 3) Minimae portioncs oppleto ventrículo datae, ita ut cuín ejus parietibus contactum non incant, digestioni h a u d obsunt, imo adaueta cpithelii regeneratione, eam incitant, appetentiam evehunt, faeces molliores r e d d u n t . 4) Majores doses v a s o r u m systema irritant, sanguinis congestiones et inilainmatorias affcctioncs o r g a n o r u m glandulosorum prineipum, hepatis, p u l m o n u m etc. cvocant. 5) In ñ e r v o s kalium b r o m a t u m directo n o n influit, inusculorum actionem infringit spasticaque symptomata h a u d dubie p e r debilitatem irritabilem ciet; nausea, vomituritiones etc. locali tantum effectui d e b e n t u r . 6) Per cutcm q u o q u e absorbetur.



Unter den von

11



ihm aufgestellten Thesen ist eine bemer-

k e n s w e r t : Amaurosis non est morbus sed symptoma. Im Winter l S 4 7 / 4 8 legte er die medicinisehe Staatsprüfung ab,

mit dein Zeugnisse: „Vorzüglich und als O p e r a t e u r " ,

Sommer

1848

das geburtshülfliche

Examen,

welches

im

damals

nocli von den übrigen Prüfungen getrennt war. In demselben S o m m e r 1 S 4 8 wüthete die Cholera in Berlin. Gracfc,

welcher mehreren befreundeten Collegen das Tannin

als wirksames Mittel zur Bekämpfung derselben empfohlen hatte, und dem viele günstige Resultate mitgetheilt wurden, sah sich veranlasst, Tannin

sofort eine kleine B r o c h ü r e

als Heilmittel

gegen

mit dem T i t e l :

„Das

die C h o l e r a " drucken zu lassen.

In späteren Zeiten hat er keinen Werth mehr rarische Erstlingsprodukt gelegt.



auf dieses lite-

Wissenschaftliche Reisen. 1848 — 1850. W e r in den J a h r e n 1 8 4 8 und 1 8 4 9 in Derlin noch S t u d e n t d e r Medicin war und vorwärts strebte, d e r ging zu V i r c h o w nach WUrzburg, wohin derselbe einen höchst ehrenvollen Ruf als o. ö. Professor der Pathologischen Anatomie erhalten hatte, als er gezwungen w u r d e , seines politischen Verhaltens w e g e n , seine Stellung im Berliner Charitekrankcnhausc a u f z u g e b e n . W e r bereits die S t a a t s p r ü f u n g abgelegt h a t t e , und es e r m ö g lichen k o n n t e , d e r ging zu weiterer Ausbildung nach P r a g , Wien und P a r i s . G r a c f c ging im Herbste 1 8 4 8 ebenfalls z u n ä c h s t nach P r a g , welches bei seiner Ankunft noch aller Orten die frischen S p u r e n des I l a y n a u ' s c h e n Bombardements zeigte. Von dort schreibt er an einen F r e u n d in Berlin: „ S e h r gut ist es f ü r uns, dass n a c h dem Bombardement die meisten fremden Mediciner sich a u s P r a g entfernt h a b e n , so dass wir n u r 1 0 — 1 2 s i n d , die an den P r i v a t - K u r s e n Theil n e h m e n . " In einem a n d e r e n , von ihm inspirirten vom 4. Dccember 1848 d a t i r t e n , Briefe heisst e s : „Ganz a n d e r s ist das medicinische Treiben in P r a g als in unserem Berlin. W e l c h ' ein himmelweiter Unterschied zwischen unseren a r r o g a n t e n , i n h u m a n e n Professoren u n d den liebenswürdigen, bescheidenen Primärärzten Prag's, welche meist auch die W ü r d e eines Professors bekleiden. E r l a u b e , dass ich Dir

-

13 —

s o kurz als möglich eine Schilderung von der Liebenswürdigkeit dieser Leute machen darf. Aus den Zeitungen wirst Du ersehen haben, dass O p p o l z e r nach Leipzig berufen worden. Er folgte diesem Rufe mit Freuden, weil er, wie ich glaube, mit Rccht ahnt, dass die hiesige Universität eine czechische Reorganisation erfahren dürfte. Kein Deutscher Docent würde sich in diesem Falle in Prag glücklich fühlen, kein auswärtiger Arzt würde dann noch nach Prag gehen, die inedicinische Wissenschaft würde auf's höchste gefährdet sein. Wegen O p p o l z e r ' s schneller Abreise konnten wir nur einmal Visite mit ihm machen, haben daher auch kein Urtheil über ihn. Nur so viel hörten wir überall, dass man ihn ungern von Prag — sogar auf Czechischer Seite — scheiden sieht. O p p o l z e r ' s Klinik hat Professor J a k s c h übernommen, der bis dahin der medicinchirurgischen Klinik vorgestanden hatte. Durch einen alten Bekannten, Dr. J , aus Hamburg, wurden wir diesem Manne vorgestellt. Er empfing uns sehr freundlich; welch' freundlicher Empfang nicht blos momentan w a r , sondern fortdauerte, j a sogar sich steigerte. Mit ihm machten wir des Morgens die Visiten bei den Kranken, da erst Mitte November die klinischen Vorlesungen beginnen sollen. Bei diesen Visiten zeigte uns Professor J a k s c h stets die interessantesten F ä l l e , besprach diese mit uns, winkte uns herbei, um exquisite auskultatorische Erscheinungen zu hören und dergleichen mehr. Diese für uns im höchsten Grade interessanten Visiten dauerten wenigstens 2 1 / , S t u n d e , zum grossen Verdrusse der Secundärärzte. — Vor Beginn der Kliniken werden die Vorlesungen gehalten. J a k s c h liest gegenwärtig, auf Wunsch seiner Zuhörer über Gehirnkrankheiten, und diese Vorträge sind, da sie auf pathologischer Anatomie basiren, höchst interessant. — Bei der sehr gründlichen Untersuchung der Kranken dominiren die Perkussion und Auskultation; die anderen objectiven Zeichen, und beinahe auch die subjectiven, werden daneben fast ganz vernachlässigt. — Ueberraschend war für uns die Therapie dieser Herren.



14



Ein Theil der Präger Schule, repräsentirt durch H a m m e r n y k , den ersten Schüler S k o d a ' s , giebt principiell nichts, oder h ö c h stens — neben der Regulirung der Diiit, — Narcotica zur L i n derung der S c h m e r z e n ; präsentirt, mehr

der andere T h e i l ,

wendet noch einige Mittel an.

verordnen,

kommt d a h e r ,

dass

durch J a k s c h

re-

Dass letztere nicht

sie selbst

von

vielen

Arzneien keinen Nutzen gesehen haben, und auf die Erfahrung Anderer nichts geben. —

S e h r bedauern wir,

dass aus dem

angekündigten Repetitorium Uber Auskultation und Perkussion bei

dem

geistreichen

Ilammernyk,

(doch

auch

oft p a r a d o x e n )

der jetzt die Klinik von J a k s c h

Professor

übernommen

hat, nichts geworden ist, da derselbe plötzlich nach gereist ist. —

Einen ausgezeichneten,

Kremsier

im höchsten Grade in-

struktiven Kurs über pathologische Anatomie

haben wir beim

Professor D i t t e r i c h a n g e n o m m e n , in welchem nicht nur die täglichen sehr zahlreichen Sektionen, sondern auch die Präparate des Prager pathologisch-anatomischen durchgenommen werden;

Cabinets sehr gründlich

und es ist bekannt,

liche Präparate das Cabinet besitzt. —

des Prof. P i t h a besuchen wir nur selten. viel auf eigene Faust

operirt.

welche vorzüg-

Die chirurgische Klinik Dagegen wird sehr

Durch einen soliden

Contrakt,

den wir mit dem Anatomie-Wärter abgeschlossen haben, werden uns viele Leichen zur Disposition gestellt. geben wir 2 Zwanziger ( 1 3 '/ 4 S g r . ) .

Für einen Cadaver

An 3 0 Leichen

haben

wir bereits Amputationen und Exartikulationen nach S c h l e m m gemacht, an 5 0 etwa die Unterbindungen geübt.

Graefe

be-

sonders beschäftigt sich sehr angelegentlich mit diesen Uebungen, und zwar nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch, indem er operative Anatomie am Kadaver studirt, und sich bemüht, Verbesserungen der S eh lern m'sehen Methode aufzufinden, was ihm auch schon in einigen Fällen (z. B. bei Unterbindung der subclavia) gelungen

ist.

Bei den Unterbindungen

gebrauchen

wir das Messer nur zum Hautschnittc; sonst wird alles unblutig durch Dilatiren

mit der Hohlsonde ausgeführt,

was ungemein



15



praktisch und sehr zu empfehlen ist, indem man hierbei Blutungen aus den Venen vermeidet. — Schliesslich muss ich erwähnen, dass

wir

hier

Ophthalmologe,

auch

Augenheilkunde

treiben.

Der

P r o f e s s o r A r l t , benimmt sich gegen uns mit

einer Höflichkeit und Liebenswürdigkeit, welchc die von J a k s c h wenn möglich

noch

übertrifft.

monstrirt er uns ambulante

Mit unermüdlichem

Eifer

und stationäre K r a n k e ,

de-

theilt er

uns die neuesten Untersuchungen in der Ophthalmologie mit, wobei er sich selbst nicht selten als Phantom hergiebt. petitorium

über Augenkrankheiten

und

G r a e f e bei dem Assistenten A r l t ' s ,

Dr. P i l z ,

der nicht alten Unsinn, sondern

neuesten

und

Untersuchungen

Graefe

(so

diktirt uns

von

die

Sichel

die P i l z ' s e h e n V o r t r ä g e ,

Graefe

hat später

hat

angenommen, Beobachtungen

besonders)

auf diese Weise ein wirklich gutes Tieft a n . " Heftes gelächelt,

Ein Pic-

Augenoperationen

und

vorträgt. legen w i r



oft beim Anblicke dieses

Pilz'schen

doch hat er stets dankbar a n e r k a n n t ,

dass

dieser Curs den Grund zu seinen ophthalinologischcn Kenntnissen gelegt habe —

allerdings

a b e r corrigirt und

geläutert durch

den regen persönlichen Verkehr mit A r l t . E n d e der fünfziger J a h r e sagte G r a e f e auf einer S c h w e i z e r reise wörtlich folgendes 7.11 einem J u g e n d f r e u n d e :

„ W e n n ich

so an unsere ophthalmologischc Lernzeit zurückdenke, sage ich mir immer

wieder,

und I'reund

wie viel

verdanke.

Er

e i n g e f ü h r t , e r hat mir

ich dem guten A r l t hat mich in die

dieselben

als L e h r e r

Augenheilkunde

gediegenen Grundsätze ein-

geprägt, welche er selbst in A u s ü b u n g seiner Spccialität befolgt, e r zuerst hat mir gezeigt, wie ein Augen-Operateur beschaffen sein muss.

Glaube mir, ohne P r a g würden mir Paris und Wien

kaum so viel genutzt h a b e n , j a ich denke, ohne A r l t ich vielleicht garnicht

als Ophthalmologe

würde

nach Berlin zurück-

gekehrt s e i n . " Eine

wahre,

auf

gegenseitiger

beruhende H e r z e n s - F r e u n d s c h a f t

Hochachtung

verband

Graefe

und

Liebe

seit

jener



16



Zeit mit A r l t . So viele persönliche Beziehungen ersteren a u c h mit den b e d e u t e n d s t e n F o r s c h e r n seiner Zeit verknüpften, sein Herz gehörte doch vor allen A r l t ; A r l t war gleichsam seine wissenschaftliche Jugendliebe. Von P r a g ging G r a c f e im W i n t e r 1 8 4 8 / 4 9 nach P a r i s . Auch dort kam er mitten hinein in die socialen Bewegungen, welche das J a h r 1 8 4 8 h e r v o r g e r u f e n h a t t e . G r a e f e h a t niemals sclbstthätigen Antheil an der Politik g e n o m m e n . In einem seiner Pariser Briefe entschuldigt er sich deshalb mit den folgenden W o r t e n : „ s a g e doch D . e r m ö g e mich vorläufig nicht f ü r einen politisch ganz schlappen Menschen h a l t e n ; wenn meine Ueberzeugungen in dieser Beziehung auch sehr weitschichtig sind, so glaube ich — i n n e r h a l b d e r g e s t e c k t e n G r e n z e n — doch ziemlich feste Grundsätze zu h a b e n , f ü r deren Vert r e t u n g ich zu jedem Opfer bereit b i n . " — Die ihn n ä h e r k a n n t e n , wussten wohl, was jene W o r t e : „ i n n e r h a l b der gesteckten G r e n z e n " bedeuteten. Auf die R e d n e r t r i b ü n e zu steigen und dort zu glänzen, sei es, wie die J a h r e 1 8 4 8 und 1 8 4 9 es mit sich brachten, auf öffentlichem H a r k t e , oder sei es im P a r lamente, wohin der politische Strom allmälig geleitet worden, — das war ihm nicht gegeben. Aber in seinem Auftreten als L e h r e r und Arzt, in seinem Kampfe gegen die btireaukratische B e v o r m u n d u n g , welche damals in P r e u s s e n unter R a u m e r eben a u f b l ü h t e , um später u n t e r M ü h l e r zur h e r r l i c h s t e n Entfaltung zu gelangen, zeigte er, dass Freisinnigkeit und Unabhängigkeitsgefühl die G r u n d z ü g e seines Charakters bildeten. Freisinnig, fast bis zur gänzlichen Vernachlässigung der historischen Ucbcrlieferung, waren seine ophthalmologischen Lehren, und gebeugt vor irgend Jemandem h a t e r sich keinen Augenblick in seinem Leben. So vielfach er auch mit den Fürsten d e r Welt, wie mit den Fürsten der Wissenschaft in B e r ü h r u n g gekommen ist, immer trat er ihnen gegenüber mit dem Gefühle hoher persönlicher W ü r d e , und w e d e r ein huldvolles Lächeln noch die scharfsinnigste oder geistreichste Deduktion



17



konnte ihn bewegen, seiner Ucberzeugung

auch nur

um den

kleinsten Theil einer Linie untreu zu werden. In Paris fühlte sich G r a e f e

gleich bei dem ersten

län-

geren Aufenthalte körperlich und geistig so behaglich, dass er während seines kurzen Lebens regelmässig am Ende seiner allj ä h r l i c h e n Ferien-

und Erholungsreisen mehrere Wochen

dort

zubrachtc, und dass ein augenärztlicher Wirkungskreis in Paris fortan das Ideal seiner Wünsche blieb. G r a e f e hatte als Kind die diesem Lebensalter e i g e n t ü m lichen

Krankheiten

starker,

leicht überstanden,

wohl proportionirter,

er war ein

schlanker

Jüngling

knochengeworden,

dessen kräftige Gesundheit die fröhlichen Studentenjahre nicht gefährdet hatten.

Nur grosse Empfindlichkeit gegen kalte Luft

war ihm e i g e n , und eine gewisse Reizbarkeit welche er nach einer Chlor-Explosion ratorium

zurückbehalten

hatte.

das milde Pariser Klima

den

des Kehlkopfes,

in seinem

Iu beiden

Privat-Labo-

Beziehungen

übte

wohlthätigsten Einfluss auf sein

körperliches Befinden aus. Auch in geistiger Beziehung fühlte sich G r a e f e sofort in Paris heimisch.

Der in französischer Sprache crtheilte Unter-

richt a u f dem Gymnasium, welches er besuchte, hatte ihn von Jugend auf mit der Sprache und der Literatur des französischen Volkes vertraut gemacht.

Obwohl in seinem Innern durch und

durch dcutsch, und von glühendster Liebe zu seinem deutschen Vaterlande erfüllt, ward er doch durch die französische Eigenthümliclikeit des savoir faire und savoir vivre — ausdrückte —

im

höchsten

Grade

angenehm

wie

er sich

berührt.

Die

Liebenswürdigkeit, welche die Pariser Gesellschaft im Umgänge zeigt, entsprach seiner eigenen persönlichen Liebenswürdigkeit. Die französische schnelle Beweglichkeit des Geistes, der esprit, waren

ihm sympathischer,

vieler deutchen Gelehrten. ihn umtobenden Leben griffen, sich selbst, Michaelis

als

beschauliche

Existenz

so

wollte er greifen, und — hat er ge-

aber noch

A . von Graefe.

die

Aus dem vollen, ihn umgebenden, viel mehr seinen Mitmenschen 2

-

18



zum Nutzen u n d Ileil. Dazu k a m , in spccicll medicinischcr Hinsicht, der Unterschied zwischen Paris und Berlin, ein U n t e r schied, wie er greller nicht sein k o n n t e . In Berlin ein einzig e s , dem Unterrichte gewidmetes K r a n k e n h a u s , welches d e m Militär g e h ö r t e , u n d in welchem w ä h r e n d G r a c f c ' s S t u d i e n zeit diejenigen Studirenden d e r M e d i a n , welche nicht das Glück h a t t e n , den militärärztlichen Bildungsanstalten, der Pepiniere und der Militär-Akademie a n z u g e h ö r e n , nur als geduldete E i n dringlinge b e t r a c h t e t w u r d e n . Ob ihnen Gelegenheit w a r d , etwas zu seilen u n d zu l e r n e n , o d e r nicht, das hing einzig und allein von dem guten Willen und d e r persönlichen Liebenswürdigkeit d e r dirigirenden Aerzte, d. h. der Stabsärzte, und ihrer Assistenten, der Charite-Chirurgen, ab. Dagegen in Paris eine Fülle trefflich eingerichteter Hospitäler mit überreichlich sich darbietendem Material, dessen fast uneingeschränkte Benutzung jedem S t u d i r e n d e n , vor allem aber jedem fremden Arzte mit nicht hoch genug a n z u e r k e n n e n d e r Liberalität d a r geboten w u r d e . Auch die physiologischen und chemischen Laboratorien dieser Stadt bildeten einen merkwürdigen Gegensatz zu dein historisch gewordenen — Corridore des Berliner Univcrsitätsgebäiidcs, mit welchem sich Du B o i s R e y m o n d bis auf den heutigen Tag hat bcliclfen müssen. Ein Brief G r a c f e ' s , Mitte Mai in Paris geschrieben und an einen J u g e n d f r e u n d und Collegen in Berlin gerichtet, möge f ü r den Mcdiciner wie f ü r den Menschen G r a e f c als werthvollcs Bruchstück einer Autobiographie dienen. „ . . . . Du weisst, dass ich m a s e r n k r a n k , o d e r richtiger mascrnreconvalcscent b i n , und der status virium ist noch ein so kläglicher, dass ich mich f ü r jede Viertelstunde des Schreib e n s eine halbe S t u n d e in horizontaler Lage auf dem Sopha a u s r u h e n muss. Eigentlich ist n u n dies sehr natürlich, wenn ich erwäge, dass ich nach zwölftägigem Unwohlsein resp. achttägigem Bettliegcn, vorgestern zum ersten Male aufgestanden b i n , aber Du kennst von Alters h e r meine lächerliche Uuge-

-

19



d u l d , w e n n ich mich bei meinen Beschäftigungen an die „ G e b r e c h e n des Herrn von c o r p u s s t o s s e . " — Das soll mich a b e r nicht a b h a l t e n , Dir einige Mittheilungen aus unserem Pariser L e b e n zu m a c h e n . " I. W i s s e n s c h a f t . Paris ist f ü r die Mehrzahl der Mens c h e n nicht zum Arbeiten geschaHen, weil es an wirklich wissenschaftlichen Anregungen a r m , dagegen sehr reich an Zers t r e u u n g e n aller Al t ist. Du weisst n u n aber, Dein alter F r e u n d G r a c f e ist ein etwas verrücklcr K e r l ; sein Vergnügen besteht in einem richtigen L ' h o m b r e , resp. W h i s t , und vor allem in dem fidelcn Umgange mit liebgewonnenen Menschen; aus sog e n a n n t e n B e k a n n t s c h a f t e n , gesellschaftlichen Vergnügungen, und den üblichen Zerstreuungen m a c h t er sich nicht viel. Kann er nicht seine wahren F r e u n d e h a b e n , so begnügt er sich ganz gern mal auf eine Zeit lediglich mit dem Genuss, den er in seinen Studien findet. So in Paris. Nur das N o t wendigste wird a n g e s e h e n . Mache ich alle die Concertc, Bälle, Theater m i t , so ist es mit dem gesammten Studiren aus, und da es mich iin G r u n d e nicht a n s p r i c h t , so bleibt d e r Katzenj a m m e r nicht aus, Ich ziehe es vor, die letzten 14 Tage oder 3 Wochen vor der Abreise rite zu durchbummcln und alles zu sehen. Also geochst wird in Paris sehr scharf. Ich gehe nun die Gegenstände meiner Tliätigkeit kurz durch. 1. Von der i n n e r e n M e d i c i n mache Dir keine Vorstellungen. In den Kliniken verbummelt man ohne Vortheil die Zeit. Die Diagnose ist nicht so exaet wie in Prag, die Therapie nicht so rationell wie in Berlin — Vorträge breit, leer — Studenten in Unmasse — K r a n k c n b c o b a c h t u n g und Untersuchung meist u n möglich. Ich beschränke mich daher darauf, all' die hiesigen A b t e i l u n g e n und Persönlichkeiten init ihren Methoden u. s. w. in einem 2 oder 3 mal wiederholten Besuche m e h r der Curiosität wegen kennen zu lernen. Die Kliniken von B o u i l l a u d , C h o m c l , P . o s t a n sind wenig instruktiv, P i o r r y ist ganz vorrückt. — Am liebsten gehe ich noch zu L o u i s , obwohl 2*



20



derselbe stets heiser ist, kein Wort spricht. Demnach beschäftigt mich die innere Medicin direet nur ein oder zwei mal die Woche in den Frühstunden von 8 — 1 0 Uhr. 2. Etwas vort e i l h a f t e r ist der Besuch der c h i r u r g i s c h e n Säle. Das liegt nicht etwa in der Vorzüglichkeit der Professoren und Einrichtungen, sondern lediglich in der Natur des Materials, das ja meist nur eine Okularinspektion und höchstens Palpation erfordert, welche natürlich eher zu verrichten sind als eine genaue innere Untersuchung. Da das Material der Chirurgie in den 20 Hospitälern vereinzelt und zerstückelt liegt, so ist im Grunde auf jeder einzelnen Klinik auch nicht mehr zu sehen, als bei uns. Deshalb besuche ich von den Chirurgen regelmässig nur M a l g a i g n e , welcher viel originelles und interessantes benutzt; die anderen werden nur frequentirt, wenn grosse Operationen in Bänken sind oder Raritäten in den Sälen liegen, was man aber von den Bekannten bald erfahrt. Die Franzosen operiren gut, verbinden schlecht. — 3. Die Hauptsache in Paris besteht offenbar im Studium der sogenannten medicinischen S p e c i a l i t ä t e n . Hierin kann man enorm viel sehen und lernen, aus dein einfachen Grunde, weil in denselben das Princip der grössten Conccntration herrscht und auch die Specialisten verhältnismässig gründlicher sind als die cncyclopädischen französischen Gelehrten. Ich habe es schon nach wenigen Wochen hinlänglich erkannt, dass hierin die eigentliche pointc von Paris besteht. a. O b e n a n s t e h t d a s A u g e n f a c h . Die Kliniken von S i c h e l und D e s m a r r e s besuche ich beide regelmässig. Die crstcre ist drei mal wöchcntlich ( j e ( J e s m a l 4 Stunden), die letztere fünf mal (jedesmal 3 Stunden). Bei S i c h e l ist das Material enorm. Jedesmal kommen circa 4 0 — 5 0 neue und 2 0 0 — 3 0 0 alte Kranke. Diese Fülle des Materials giebt allein seiner Klinik Werth, denn seine Vorträge sind breit, langweilig, inhaltleer und gleichen mehr dem Geschwätzc eines alten Weibes als wissenschaftlichen Expositionen. Von Operationen sieht

-

21



man beinahe n u r Extraktionen von C a t a r a c t ( 2 - 3 pro Woche) u n d von fremden Körpern bei ihm. Als Diagnostiker ist er firm, h a t viel Routine, gehört a b e r sowohl in seinen nosologischen als therapeutischen Ideen ganz d e r alten B e e r - J ä g e r schen Schule an. — Bei D e s m a r r e s ist das Material weit geringer; es kommen jedesmal 6 — 8 n e u e und 5 0 — 6 0 alte Kranke. Dagegen sind seine Vortrüge interessanter, seine Ideen und Verfahrungsweisen neu und lehrreich. F r ü h e r Schüler von S i c h e l ist er jetzt sein Gegner u n d Rival; Apostat der ß e e r ' s c h e n Schule nimmt er dem Auge die ganze esoterische Verfassung, die alle Heiligkeit u n d Unantastbarkeit, um mit ihm auf das allerkühnste u n d stellenweise roheste umzugehen. Er glaubt der Schöpfer d e r örtlichen Chirurgie des Auges z u s e i n ; Cautcrisiren, Scarificiren und P r a r a c e n t e s i r e n sind die Faktoren seiner Behandlung, und in der That sind die Resultate oft Uberraschend. Die Lehre von den specifischen Ophthalmien verpönt e r ; alle Vorsichten nach Operationen hält er f ü r u n n ü t z . Die künstlichen Pupillen, deren e r in der W o c h e 1 0 — 1 2 macht, werden poliklinisch verrichtet, so d a s s die Kranken ganz f r ö h lich nach Ilause spazieren. Ueberhaupt wird bei ihm rasend operirt. In der letzten W o c h e verging kein Tag ohne 3 — 4 Operationen. Sein dechiremcnt centrifuge ist allerdings eine prachtvolle Methode. Er hat eine grosse manuelle Fertigkeit, u n d einige Operationen, wie das Umwenden der Augenlider u n d das Katheterisiren der T h r ä n e n p u n k t e macht er wirklich mit taschenspiclcriger Fertigkeit. Ein gediegenes Urtheil ü b e r den ganzen Menschen w ü r d e mich zu sehr a u f h a l t e n ; so viel a b e r steht fest, dass man bei ihm u n d seinen Methoden ausserordentlich viel beobachten und praktisch gewinnen kann, und dass man hier eine Frechheit erlangt, mit dem Ange umzugchen, wie wohl an keinem zweiten Orte. Ausserdem hat seine Klinik gegen die S i c h e l ' s c h e noch a n d e r e wesentliche Vortheile: sie ist b e q u e m e r e i n g e r i c h t e t , weniger gefüllt, man sitzt hier, w ä h r e n d m a n dort steht u. s. w. Sodann ist man bei ihm



22

-

weit selbstthätigcr; alle Diagnosen, Kurvorschläge werden von den Zuhörern gemacht; die geübteren verrichten Operationen und vertreten i h n , da er gewöhnlich fortgeht, ehe 1 / i d e r Kranken absolvirt sind. Ich gehöre seit einer Reihe von W o c h e n zu seinen Auscrwählten, weil ich Interesse für die Sache habe. Somit bekomme ich viele Operationen zu verrichten und v e r trete ihn beinahe regelmässig, wobei ich mich natürlich sehr zusammennehmen muss, da die Anwesenden beinahe alle S p c cialisten sind. — So viel vom Augeilfach. Im h6pital St. Louis liegen ß. H a u t k r a n k h e i t e n . 5 — 6 0 0 Hautkranke, und man kann auch hierin viel lernen. Die hiesigen Professoren gehören natürlich der alten ß i e t t schcn Schule an, welche doch eigentlich eine wesen- und sinnlose Nomenclalur ist. Schadet aber nichts, die Leute haben enorme routinc, und hat man sich erst in e i n System eingearbeitet, so ist es nicht schwer, nachher die unzwcckniüssigen Vorstellungen und Bezeichnungen mit besseren zu vertauschen. Ich widme den ganzen Montag von 8 — 1 2 Uhr den Hautkrankheiten. Die ersten 2 Stunden sind den Krankenvisiten, die 2 letzten den Consultationcn bestimmt, zu denen auch meist 3 — 4 0 0 Menschen kommen. Dieses Studium werde ich wohl bald an den Nagel hängen, da ich nieinen Zweck bereits übermässig erreicht. Ich glaube nämlich, dass die D i c t t ' s c h e Behandlung der Dermatosen das unwissenschaftlichste, unnaturgemässeste Ding ist, was es in der Medicin giebt. Auf unwesentlichen Grundlagen gebaut, auf widernatürlichen T r e n nungen fussend, zufällige Unterschiede urgirend, sachlichc übergehend, hat dieses System blos durch sein historisches Recht sich praktisch eingebürgert. Von der I l c b r a ' s e h e n Lehre in W i e n verspreche ich mir mehr. Mir kam es nur darauf an, zu s e h e n und in den mechanischen Schlendrian der systematischen Klassifikation zu kommen. Das ist erreicht. Nur in einigen Formen der syphilitischen Exantheme fühle ich mich noch recht unsicher; die studire ich aber lieber bei R i c o r d .

-

23



Die Haupt-Dermatologen in St. Louis: G i b c r t , C a z e n a v e , D e v e r g i e , C a z i n sind alle unmittelbare Schüler von B i c t l . f . S y p h i l i s . Unter allen Franzosen ist R i c o r d offenb a r d e r genialste, originellste. Denke Dir einen Menschen, d e r nie geht, sondern immer halb tanzt halb r e n n t , stets lacht, nie ein böses Gesicht macht, der nie ein ernstes W o r t spricht, s o n d e r n n u r Witze macht, den j e d e r einen H a n s w u r s t nennen w ü r d e , wenn er nicht durch eine e i g e n t ü m l i c h e Liebenswürdigkeit u n d Originalität Alle f ü r sich g e w ö n n e . R i c o r d lebt wie ein F ü r s t , bringt jedes J a h r circa 8 0 — 1 0 0 , 0 0 0 Thlr., welche e r e i n n i m m t , d u r c h , und ist der p o p u l ä r s t e Mensch in Paris. E r hält ein Collcg, worin er seine ganze scharfe und geistreiche Lehre, die freilich in Paris m e h r Gegner als irgendwo anders h a t , in einer continuirlichen Kette von Witzen vorträgt. Es sind immer gutmiithige, harmlose, kindliche, nie satyrische Witze, welche auf Kosten von Persönlichkeiten g e m a c h t werden. Seine Kranken tragen ihn auf Händen. In den Sälen herrscht ein spasshafter, höchst familiärer Ton. Jeder Patient hat A n s p r u c h auf einen W i t z ; b e k o m m t R i e o r d an seinem Bette keinen zu S t a n d e , so r u f t er ganz einfach „ R i c o r d " ohne Titel und Z u s ä t z e ; R i c o r d erscheint und macht einen Witz. Ich möchte, um den Mann zu charakterisiren, Dir mal so 1 0 0 seiner Witze e r z ä h l e n , doch geht dies n i c h t , weil-seine ganze Erscheinung mit dazu gehört. Die Syphilis h a b e ich in Paris eigentlich erst k e n n e n g e l e r n t ; ich glaube, dass man in Berlin ziemlich wenig davon versteht. Jeden Morgen bringe ich im hopital d u midi beim Assistenten von R i c o r d z u , d e r uns einen famosen Curs giebt. Dreimal in der Woche stellt er uns die neuen Kranken v o r , und wir üben uns in diagnostischer Bez i e h u n g ; dreimal trägt er u n s am K r a n k e n b e t t e das R i c o r d ' sehe System v o r ; — Ausserdem folge ich R i c o r d ' s Vorlesungen. Ricord ist wohl zu dogmatisch, um nicht in einzelne I r r t h ü m e r zu v e r f a l l e n , a b e r die Hauptsachen sind wahr, und damit hat er sein Feld auf den S t a n d p u n k t wisssenschaftlicher



24



Klarheit gebracht. Man kanu ihn auch n u r in Paris k e n n e n lernen, da seine W e r k e alle n u r vereinzeltes enthalten, w a s e r zum Theil jetzt selbst desavouirt. 6 . K i n d e r k l i n i k bei T r o u s s e a u , 2 mal wöchentlich. Man sieht pompöse Fälle u n d hört s e h r rhetorische aber mit P a r a doxen gespickte Vorträge. Trousseau ist aber doch w o h l d e r erste unter den lebenden Kinderärzten, und man kann bei i h m in den verschiedenen F o r m e n d e r meningitis i n f a n t u m , d e r Exantheme, diphtheritis u. s. w. reiche Erfahrungen s a m m e l n . Ich bin im Allgemeinen s e h r z u f r i e d e n , obgleich ich mir d a selbst meine morbillos geholt h a b e und gehe regelmässig h i n . Alle diese Sachen beschäftigen mich n u r Vormittags, d. h . bis gegen 4 Uhr, dann wird gegessen, und darauf beim Kaffee ein Bummelstündchen nebst Cigarre abgehalten. Dies d a u e r t bis 6 resp. GVt Uhr. Abends lese ich ziemlich constant, und da ich sehr viel lese, glaube ich die französische medicinischc Liter a t u r ziemlich vollständig zu k e n n e n . Augenheilkunde, P h y siologie, H a u t k r a n k h e i t e n , Syphilis, materia medica sind die Ilauptgegenständc m e i n e r Lectiirc. — Von Zeit zu Zeit — o b wohl sehr selten — wird ein Whist mit einem beliebigen Collcgcn g e m a c h t ; es ist recht h ü b s c h , aber an den alten, w e n n auch noch so bummligen, Berliner Whist reicht es doch nicht an. Mitunter gehe ich auch Abends a u s , doch ist dies eine Ausnahme. — Nun schliesse ich mein Blättchen, dessen f u r c h t b a r e s Geschmiere wohl zum grossen Theilc unleserlich ist, mit den herzlichsten Grilssen an all die lieben Freunde, mit welchen Du hoffentlich in lebhaftem Verkehre stehst. — Denkt Ihr denn auch d a r a n , dass d e r Tag der Ankunft meines Briefes u n g e fähr mit dem z u s a m m e n f ä l l t , * ) wo Ihr f r ü h e r den alten Genossen gemeinschaftlich mit E u r e m F r ü h g r u s s e zu erfreuen

*) Es ist der 22. Mai, sein Geburtstag, an dem seit Frühjahr 1844 ein kleiner Kreis seiner intimsten Freunde ihn in aller Frühe auf dem schon oben erwähnten Landsitze seines Vaters „der Finkenhecrd" genannt,



25



pflegtet? Nun diesmal hat er von der Höhe seines Finkenh e e r d i g e n Geburtstagsbettes heruntersteigen müssen, und k o m m t g a n z bescheiden mit seinen Zeilen als alter treuer F r e u n d zu Euch getippelt. Es ist mir gewissermassen eine G e n u g l h u u n g , Euch zu d e m Tage schreiben zu k ö n n e n . Geistig bei Euch w e r d e ich wahrhaftig s e i n , und w e n n d e r Puls irgend r u h i g geht, soll Euer Bild auf meinem weinbekränzten Freudentische stehen. Ich h a b e neulich, als ich k r a n k •war, geträumt, einer von Euch w ü r d e h e r k o m m e n ? Nun w a r u m n i c h t ? Ich will 'mal dem T r a u m e glauben und mich freuen. Die Gelegenheit hierher ist j a so leicht. Seid Ihr 'mal h i e r , so lebt Ihr bei uns, h a b t keine Kosten, und ein Heidenjubel w ä r ' s w a h r l i c h . — Lasset Euch n u r ja nicht einfallen E u r e Briefe zu f r a n k i r e n ; die Briefe sind meine liebsten Ausgaben und ich w ü n s c h t e mein halbes Geld an die Post zu t r a g e n . " — W e n n übrigens G r a e f c a u s den bezeichneten G r ü n d e n die Klinik von D e s m a r r e s der von S i c h e l vorzog, so schätzte und liebte er doch letzteren persönlich s e h r , wie am besten a u s dem warmen Nachrufe h e r v o r g e h t , welchen er dem Verstorbenen im 14. J a h r g a n g e seines „Archivs f ü r Augenheilkunde" w i d m e t e , und welcher also lautet: Wir sind versichert, dass diese A b h a n d l u n g * als die letzte Veröffentlichung des um die Wissenschaft so hoch verdienten Verfassers den Lesern des Archivs b e s o n d e r s theuer sein wird. Zu den hervorragenden E i g e n t ü m l i c h k e i t e n S i c h e l ' s gehörte gerade die innige Durchd r i n g u n g eines umfassenden empirischen Wissens und einer historischen Gelehrsamkeit, wie wir sie u n t e r unseren F a c h genossen n u r selten vertreten finden. Es scheint schon in dieser Beziehung nicht o h n e Bedeutung, dass S i c h e l seine öffentmit Quartett-Gesang zu begrüssen und zu beglückwünschen gewohnt war. Eine Lithographie, (Uesen Freundeskreis darstellend, begleitete ihn auf seinen Reisen. *) Historische Notiz über die Operation des grauen Staars durch die Methode des Aussaugens oder der Aspiration. Von Dr. S i c h e l in Paris.



26



liehe Thätigkcit gerade mit einer Arbeit geschlossen h a t , welche die Entwicklungsgeschichte d e r Augenheilkunde nahe b e r ü h r t . Aber noch eine h ö h e r e B e d e u t u n g gewinnt der Hinblick auf diese Arbeit, wenn wir d a r a n erinnern, wie nahe vor dem Abschlüsse seiner irdischen L a u f b a h n der Verfasser die letzten Federstriche an derselben machte. G e r d t s hart vor dem Ausgange seines tödlichen L e i d e n s , an das Lager gefesselt, oftmals von peinigenden Schmerzen h e i m g e s u c h t , verrichtete er die Corrckturcn und s a n d t e u n s dieselben in Begleitung eines Briefes z u , d e r mit den W o r t e n sehloss: „Ich danke Ihnen herzlich f ü r Ihre Nachfrage nach meinem Befinden. Es geht mir au fond herzlich schlecht; aber so lange der Kopf noch klar ist, bin ich oben a u f , d e n n ich kann a r b e i t e n u n d das war stets das Glück meines L e b e n s . " Kaum 2 Wochen, nachdem diese Worte geschrieben, hatte die Ophthalmologie einen ihrer treuesten Arbeiter verloren, welchen begeisterte Liebe zur Wissenschaft durch alle P h a s e n des Lebens geleitet, und dessen Geist sie, wie es am besten aus jenen Worten erhellt, in einer b e w u n d e r u n g s w ü r d i g e n Weise gestählt uud geschützt hatte. Im Namen d e r Redaktion A. von G r a c f c . In einem dritten Pariser Briefe aus späterer Zeit schreibt G r a e l ' e , dass ihn augenblicklich die experimentelle P h y s i o l o g i e fast ausschliesslich in Anspruch n e h m e , und von dieser wiederum speciell der Diabetes-Stich, die inlracranicllcn Ncrveadurchschneidungen, und die U n t e r s u c h u n g e n ü b e r die Wirkung der Augenmuskeln. Unter den letzteren seien' es „namentlich die schiefen A u g e n m u s k e l n , ü b e r deren physiologische u t d pathologische Verhältnisse noch sehr viel Unklarheit h e r r s c h e ' . Das Material, welches Q r a e f e in dieser Beziehung vorfanJ, bestand in den Angaben von S z o k a l s k y , D e s m a r r c s , J a c o b , B o w m a n und R u e t e . S z o k a l s k y * ) g e b ü h r t das Verdienst, *i D e l'influence des muscles obliques de l'oeil sur la vision et de lair paralysie. Paris 1840. Mémoire adressé à la Société de médecine de Gard.



27



zuerst in exakter Weise die Erscheinungen welche die L ä h m u n g des m. trochlearis darbietet, beobachtet und beschrieben zu h a b e n . Den Höhenunterschied und die Schiefheit der Doppelbilder giclt er an, doch sind seine Beobachtungen nicht wissenschaftlich zu verwerthen, da er von der irrigen Ansicht ausgeht, dass d e r Drehpunkt des Auges am hinteren Ende der Sehaxc liege. D e s m a r r c s thcilt in seinein Traité théorique et pratique des maladies des yeux. Paris 1847, les maladies des muscles de l'oeil folgendennassen e i n : A) Paralysie de la troisième paire de nerfs ou m o t e u r oculaire c o m m u n ( d o n n a n t le mouvement au muscle droit i n t e r n e , au supérieur et à l'inférieur, au petit oblique et au muscle élévateur de la paupière supér i e u r e , fournissant encore la racine motrice q u i , sortant de la partie antérieure du ganglion o p h t h a h n i q u e , constitue les filets ciliaires d'où dépendent les m o u v e m e n t s de l'iris). B) P a ralysie de la sixième paire ou m o t e u r oculaire externe. C) Paralysie de la quatrième paire ou du pathétique. D) Paralysie simultanée de la troisième, de la sixième et de la quatrième paire de nerfs cérébraux. — Auch er beschreibt den H ö h e n u n t e r schied und die Doppelbilder, jedoch ganz wie S z o k a l s k y , ohne dessen irrige Angaben in Bezug auf j e n e n zu verbessern, und ohne die Doppelbilder g e n a u e r zu untersuchen. Dagegen lässt er die Rollbcwcgungen des Auges, nicht wie S z o k a l s k y um die S e h n c r v e n a x e , s o n d e r n um die Schaxc geschehen. — Dann folgt J a c o b , bei dein es auffallend "bleibt, dass er, der zuerst seine Aufmerksamkeit auf den Trochlcaris-Zug bei Ocul o m o t o r i u s - L ä h m u n g e n lenkte, diesen Muskel nach oben, den obliquus inferior nach unten wirken lässt. — Auch B o w m a n n beobachtete einige Fälle von Trochlcaris-Lähmung u n g e f ä h r in der S z o k a l s k y ' s e h e n Weise. — Im höchsten Grade bedeutend f ü r j e n e Zeit ist die Schrift von P i u c t e : „ U n t e r s u c h u n g e n und E r f a h r u n g e n Uber das Schielen und seine Heilung." Göttingen 1 8 4 1 . „ A u s seinen Beobachtungen Uber die E r k r a n k u n g e n der schiefen Muskeln — sagt er



28



— werde es klar, dass der Obliquus sup. die Pupille nach u n t e n und a u s s e n , und der Obliquus inf. nach o b e n und a u s s e n wälzt." Historisch erwähnt er dann, dass diese Ansicht schon A l b i n , S o e m m e r i n g , und in neuerer Zeit I l u c c k (1838) ausgesprochen haben, und dass die angegebene Wirkung des Obliquus sup. von J. M ü l l e r und K r a u s e , die des inf. von R o s e n n i ü l l c r bestätigt worden sei. In Bezug auf den sup. stimme R o s e n m i i l l e r mit W e b e r Uberein, welcher behaupte, dass der sup. die Pupille schräg abwärts und einwärts wälze. Vom Obliquus inf. glauben M i i l l e r , W e b e r , B e l l , K r a u s e , dass er die Pupille schräg aufwärts und einwärts rolle. Betrachtet man — so schlicsst R u e t e diese Uebersieht — die Lage, den Ursprung, die Insertion der Muskeln genau, und vergleicht man hiermit die möglichen Drehungsaxen, so findet man, dass A l b i n , S ü m m c r i n g , l l u e c k Recht haben. — S. 50 1. c. sagt R u e t e unter der Ueberschrift: „Bewegliches Schielen mit einem Auge durch fehlerhafte Wirkung eines der schiefen Augenmuskeln": „Durch die abnorme Verkürzung des einen der schiefen Augenmuskeln und durch die Erschlaffung des anderen bildet sich eine Art des Schietens aus, die m a n d e m K r a n k e n n i c h t a n s i e h t und d e r e n Z e i c h e n b l o s s in d e r s u b j c c t i v c n W a h r n e h m u n g s s p h ä r e d e s K r a n k e n l i e g e n . Bis jetzt — (1841) — ist allein von l l u e c k ein solcher Fall beschrieben. Auch ich habe Gelegenheit einen Fall zu beobachten, wo der Mensch mit dem linken Auge durch eine zu starke Anspannung des Obliquus sup. schielt. — Die bei diesen Arten des Schielens vorkommenden Symptome sind höchst interessant. Ungeachtet die Sehaxe des schielenden Auges so wenig von ihrer, mit der Sehaxe des gesunden Auges correspondirenden Richtung abweicht, dass das Auge für den Beobachter eine scheinbar normale Stellung hat, s o sieh t d e r K r a n k e doch alle G e g e n s t ä n d e d o p p e l t , und z w a r e r s c h e i n e n d i e D o p p e l b i l d e r , s o w o h l die d e r h o r i z o n t a l als v e r t i k a l vor dem A u g e g e l e g e n e n ,

-

29



s c h i e f . Dabei ist die Sehkraft des schielenden Auges, welches ü b r i g e n s die durch die g e r a d e n Muskeln vermittelten Bewegungen s c h e i n b a r ganz übereinstimmend mit d e n e n des gesunden Auges m a c h t , g e s c h w ä c h t , u n d das richtige A u g e n m a a s s , beim Betrachten d e r Gegenstände mit beiden Augen g e t r ü b t . " — Von einem gleichzeitigen H ö h e n u n t e r s c h i e d e , der Muskelwirkung e n t s p r e c h e n d , sagt R u c t c nichts. Die f ü r alle diese Verhältnisse massgebenden Versuche von D o n d e r s k a n n t e G r a e f c damals noch nicht, sondern e r f u h r von ihnen erst einige J a h r e s p ä t e r , als, wie er selbst sagt (Archiv Bd. I. Abth. 1. S. 3 1 ) „ein glücklicher Zufall ihn in L o n d o n mit D o n d e r s z u s a m m e n f ü h r t e . " S c h i e l - O p e r a t i o n e n von D i c f f e n b a c h a u s g e f ü h r t , thcils mit glücklichem, theils mit unglücklichem Erfolge, hatte G r a e f e schon w ä h r e n d seiner Studienzeit in Berlin gesehen. Bekanntlich durchschnitt D i c f f e n b a c h den betreffenden Muskel in seiner Totalität, so dass, wo die völlige Durchschneidung gelungen w a r , stets Secundärschielcn, d. h. fehlerhafte Stellung des operirten Auges in entgegengesetzter Richtung folgen musste, und n u r in den F ä l l e n , wo — gegen den Willen des Operateurs — einzelne Fasern stehen geblieben w a r e n , ein glücklicher Erfolg sich d a r b o t . Auch R u c t c (1. c. S. 108 seq.), in dem G r a e f e ü b e r Schielopcrationen n a c h l a s , schildert die Operation, wie er sie a u s f ü h r t e , f o l g e n d e r m a a s s c n : „Nachdem d e r b u l b u s von einem Gehülfen vermittelst eines Häkchens genügend abgewendet ist, bildet der Operateur mit d e r Pincctte, die in der linken Hand gehalten wird, am U e b e r g a n g der conjunctiva bulbi zur m e m b r a n a semilunaris eine F a l t e , die er so n a h e als möglich am b u l b u s mit der S c h e e r e , deren Spitze vom b u l b u s a b g e w a n d t sein muss, durchschneidet. Hierauf zieht der Gehülfe, auf Befehl des Operateurs, den b u l b u s noch m e h r nach aussen, und der Operateur macht noch einige Schnitte in das d a r u n t e r liegende Zellgewebe, indem er sich mit der convexen Fläche



30



d e r S c h c c r c n a h e a m b u l b u s h ä l t , w o d u r c h d e r Muskel b i o s gelegt w i r d .

S o b a l d d e r Muskel frei daliegt, wird die g e f u r e h t e ,

auf die F l ä c h e g e b o g e n e S o n d e u n t e r ihn g e s c h o b e n , u n d s e l b e , sobald er vom U r s p r ü n g e an n a c h hinten seitliche B e w e g u n g e n Das

dereinige

mit d e r S o n d e v o m b u l b u s g e t r e n n t ist,

auf d e r S o n d e mit d e r durchschnitten.

durch

auf die S c h n e i d e

gebogenen

Scheere

auf d e m b u l b u s sitzen g e b l i e b e n e S t ü c k

w i r d jetzt mit d e r P i n c e t t e gefasst u n d mit d e r auf d a s Blatt gebogenen Scheere abgeschnitten. schlicsst R u e t e —

überzeuge

was verbesserte Richtung

man

Nach d e r O p e r a t i o n — sich

d e r Pupille

und

des bulbus d a v o n , dass „ a l l e F a s e r n seiner

Sehne

durchschnitten

d u r c h die s c h o n freiere

Bewegung

des Muskels

sind.1'



so et-

Das

oder

Schielen

selbst theilt R u e t e ein in ein „bewegliches", Strabismus,

und

ein „ u n b e w e g l i c h e s " , luscitas,

das

und erwähnt

ausdrücklich

D o p p e l s e h e n S c h i e l e n d e r , o h n e j e d o c h Uber Lage u n d Verhältniss d e r Doppclbilder g e n a u e r e s

anzugeben.

S e h r treffend c h a r a k t e r i s i r t D e s m a r r e s

in seinem T r a i t é

etc. etc., P a r i s 1 8 4 7 das, w i e . G r a e f e es s p ä t e r n a n n t e , e i n f a c h e , c o n c o m i t i r e n d e S c h i e l e n . E r s a g t (I. c . p. 7 8 1 s e q . ) : un caractère

d i s t i n g u e le s t r a b i s m e

l'oeil sain est caché, v e r s l'objet q u ' o n

s i m p l e : ce q u e

dès

que

l'oeil dévié se dirige s a n s a u c u n e f f o r t

p r é s e n t e au m a l a d e .

Ce c a r a c t è r e est f o r t

i m p o r t a n t , puisqu'il s e r t à r e c o n n a î t r e q u e la déviation du g l o b e n ' e s t d u e ni à u n e t u m e u r

du g l o b e

c o m m e un

stapliylôme

p o s t é r i e u r de la s c l é r o t i q u e p a r exemple, ni à u n e t u m e u r 5 ; von M. '/, 4 auf ' / , „ ; von M. •'/,, auf M. ' / 5 , w ä h r e n d ü b e r h a u p t Fälle geringerer Z u n a h m e nicht registrirt w u r d e n ; f e r n e r , dass in fast allen Fällen prismatische, resp. concav-prismatische Gläser v o r d e r Operation mit unzureichendem Erfolge g e b r a u c h t w a r e n , endlich, dass die Arbeit, allerdings meist mit Unterstützung prismatischer Gläser, n a c h d e r Operation mindestens in demselben Umfange und derselben Dauer gestattet wurde, als es vor der Operation geschehen w a r . " — »Wie diese Zahlen l a u t e n , e r giebt sich der f ü r die Lehre höchst wichtige Schluss, dass die S t ö r u n g des l a t e r a l e n G l e i c h g e w i c h t s ein ü b e r a u s wichtiges Moment für die F o r t s c h r i t t e der Myopie ab giebt." Die E r k l ä r u n g f ü r das Zustandekommen dieser „ S t ö r u n g des lateralen Gleichgewichts" findet G r a e f e in der bei solchen Myopen stets v o r h a n d e n e n „ f o r c i r t e n C o n v e r g e n z a r b e i t " , und k o m m t in Bezug auf die Heilwirkung der tenotomie zu folgenden S c h l ü s s e n : „Halten wir in der Hauptsache f e s t : a) dass die Abhängigkeit des dynamischen Auswärtsschielens von progressiver Myopie n u r eine bedingte ist, b) dass die Bedingungen d e r Abhängigkeit durch Eingriffe in die Muskul a t u r zu modificiren s i n d , c) dass die Beseitigung deshalb eine wesentlich zweckmässige ist, weil die Gleichgewichtss t ö r u n g , sei sie inducirt o d e r f ü r sich b e s t e h e n d , jedenfalls

— wieder übt."

eine

schädliche

150



Rückwirkung

auf

die

Myopie

aus-

— D o n d e r s sagt in seinem Werke „Die Anomalien der R e -

fraktion und Accommodation des A u g e s " S . 3 3 3 :

„ E s scheint

mir angemessen, an dieser Stelle auf einige Thatsachen, welche im Allgemeinen auf E i n s c h r ä n k u n g d e s G e s i c h t s f e l d e s B e zug haben, hinzuweisen.

Einige Kenntnisse Uber diesen Gegen-

stand besitzen wir schon seit langer Zeit.

Mariotte

entdeckte

den nach ihm benannten blinden Fleck, und diese Entdeckung hat seiner Zeit grosses Aufsehen erregt und zu verschiedenen Theorieen

Veranlassung

gegeben.

wurde viel darüber verhandelt.

Auch

in

der letzten Zeit

Bestimmungen

seiner Grösse

und Lage hatten schon zu der Annahme geführt, dass er der Nervenpapille entspreche, bevor ich noch zeigte, dass das kleine Bild einer F l a m m e ,

welches

durch den Augenspiegel

genannte Stelle geworfen wird,

auf die

wirklich so lange dem unter-

suchten Auge unsichtbar b l e i b t , als es nicht die Grenzen der Papille überschreitet. feld

F e r n e r war bekannt, dass das Gesichts-

mitunter stellenweise fehle:

und von Visus dimidiatus. zu

sein,

wenn

ich

man

ausspreche,

tische

Untersuchung

feldes

bei

Praxis

eingeführt

sprach

von

Hemiopie

I c h g l a u b e j e d o c h im der

amblyopie

dass

eine

Beschränkung

zuerst

wurde."

von

Rechte

systemades

v. G r a e f e

Sehin

die

Diese Worte sind

ein voll-

gültiges Zeugniss für die bahnbrechende Thätigkeit

Graefe's

auch auf diesem Gebiete. bezüglichen

Den

Untersuchungen

ersten Anstoss

zu den dies-

hatte im J a h r e 1 8 5 4 ein K r a n k -

heitsfall bei einem jungen Mädchen in den Entwickelungsjahren gegeben, klagte,

welche dass

anstosse."

über

„sie Eine



Abnahme

genaue

Prüfung

Gesichtsfeld-Beschränkung o h n e Von

nun an ward

bei

der Sehkraft

und

zumal in der Dämmerung ergab



überall

concentrische

ophthalmoskopischen

j e d e r Klage

darüber

Befund.

über amblyopische

Be-



151



schwerden das Gesichtsfeld methodisch untersucht, und jede Abweichung von der Norm g r a p h i s c h d a r g e s t e l l t . Eine grössere Arbeit G r a e f e ' s Uber diese Verhältnisse erschien bereits im Jahre 1856 im Archiv (Bd. II. Th. 2 S. 258 ff.) unter dem Titel: „Ueber die Untersuchung des Gesichtsfeldes bei amblyopischen Affektionen." „Ich hege die Absicht — heisst es in derselben — auf einen Punkt aufmerksam zu machen, welcher, wie ich glaube, bisher nicht mit dem Eifer und der Strenge für die Diagnostik benutzt worden ist, wie er es verdient: ich meine die P r ü f u n g d e s G e s i c h t s f e l d e s . — Klagt ein Patient Uber Abnahme der Sehkraft, so wendet man sich gewöhnlich zunächst an die F e s t s t e l l u n g d e r S e h s c h ä r f e . — Mit der Bestimmung der c e n t r a l e n Sehschärfe sind wir aber noch keineswegs Uber das S e h v e r m ö g e n des Patienten im Reinen. Es beruht der zweite d u r c h a u s e b e n s o w i c h t i g e Theil der Untersuchung in der P r ü f u n g d e s G e s i c h t s f e l d e s , oder, wenn man will, in der Bestimmung des Umfanges und der Modalität des e x c e n t r i s e h e n Sehens. — Es giebt eine Reihe von Krankheiten, die sich lange Zeit hindurch nur durch V e r ä n d e r u n g e n d e s e x c e n t r i s c h e n S e h e n s bekunden, und erst in ihren letzten Stadien zu wachsender Undeutlichkeit des c e n t r a l e n Sehens führen. Ja die Beschwerden der Kranken selbst würden uns oft unverständlich sein. Man findet Kranke, welche die grössle Mühe haben, sich auf der Strasse zu führen, aber die feinste Schrift lesen können. Bei der Untersuchung erklärt sich dies so, dass sie eben das centrale Sehen beinahe in vollkommener Integrität besitzen, während ihnen das excentrische Sehen in hohem Masse beengt ist. Beispielsweise Tdhre ich einen Menschen a n , der als blinder Musikant auf den Strassen Berlin's umhergeht, auch wirklich ohne Führer nicht fortzukommen im Stande ist, und dennoch die Schrift No. 4 der J ä g e r ' s c h e n Schriftproben entziffert. Die Ocffnung



152



, „ , . . .. 1 7 4 " (horizontal) t des Sehraumes beträgt bei ihm statt — . „ , „ , wie :——1 6 0 ° (vertical) 1 0 ° (horizontal) beim Gesunden, ungefähr — 0 — , oder, um es 1 0 ° (vertikal) anschaulicher zu s a g e n , sein Gesichtsfeld, in l ' / t ' A b s t a n d g e m e s s e n , hat ungefähr die doppelte Grösse eines Handtellers. Ist das e x c e n t r i s c h e Sehen aufgehoben, so entgehen alle Eindrücke, die nicht genau in der Sehaxenrichtung liegen, es ist unmöglich, Hindernisse beim Gehen genügend zu vermeiden u. s. w. — „Gehen wir im Normalzustande von einer senkrechten Stellung der Sehaxe auf die Angesichtsiläche a u s , so können w i r die Grenzen des Gesichtsfeldes nicht nach allen Seiten hin bestimmen, weil nach i n n e n und nach o b e n der Nasenrücken und der Orbitalrand das Gesichtsfeld beengen. Die ä u s s e r e (Schläfen-) Grenze wird ungefähr durch eine die Hornhautmitte tangirende Linie bestimmt; allenfalls dürfte die Grenze um einiges mehr nach vorn liegen, sich aber j e d e n falls von einem senkrechten Verhalten zur Sehaxe nicht mehr als Z . 3 0 — ¿.5° entfernen. Nach u n t e n ist das Gesichtsfeld nicht ganz so ausgedehnt. Wir müssen unsern Fuss schon ziemlich weit vorstrecken, damit er für die genannte Stellung der Sehaxe und aufrechte Haltung des Körpers sichtbar wird. Es macht hier die Grenzlinie des excentrischen Sehens mit der Sehaxe nur ungefähr einen ¿ . 7 8 ° — S 2 ° . Um die o b e r e Grenze zu bestimmen, müssen wir die Sehaxe so weit nach unten richten, dass das excentrische Bild des Orbitalrandes verschwindet, wobei es -sich erweiset, dass die Verhältnisse ganz symmetrisch mit denen nach unten sind. Die i n n e r e Grenze ist am schwierigsten zu bestimmen, weil wir die Sehaxe sehr stark nach aussen wenden müssen, damit der Nasenrücken verschwindet. Eine solche forcirte Wendung hat für den Sehakt etwas peinliches, und verringert die Deutlichkeit der excentrischen Wahrnehmung, weshalb es wohl scheint, als



153



wenn die Tragweite des Gesichtsfeldes nach innen etwas geringer wäre als nach aussen. Abstrahiren wir von diesem unerheblichen Unterschiede, so ist der s e n k r e c h t e Durchschnitt des normalen Sehraumes etwas k l e i n e r als der horizontale. Ersterer giebt eine Oeffnung im Mittel von 160®, der letztere dagegen von 174°. Als Ausgangspunkt filr die Bestimmung der Oeffnung wurde der vordere Pol des bulbus gewählt, welchem man jedoch ohne Schaden den Kreuzungspunkt der Richtungsstrahlen substituiren k a n n , da die Entfernungen stets ziemlich gross waren." — „Eine eigentliche M e t h o d e , die Grenzen des Gesichtsfeldes zu bestimmen, ist k a u m e r f o r d e r l i c h , es handelt sich lediglich um controlirende Versuche, aus denen man das Mittel zieht. Man lässt z. B. ein beliebiges auf die Tafel gezeichnetes Gesichtsobjekt markiren, und sorgt vor Allem dafür, dass die Sehaxe unverrückt auf dasselbe gerichtet bleibt. Alsdann entferne man ein anderes Gesichtsobjekt allmälig aus der Sehaxenricbtung gegen die Grenzen des Gesichtsfeldes hin, macht dabei stets kleine seitliche Bewegungen, weil sich hierbei die Eindrücke mehr einprägen, und lässt die Stellung markiren, in welcher dasselbe unsichtbar wird. Um sich gegen Nachbilder, unverlässliche Angaben u. s. w. zu schützen, lässt man es in dieser Stellung wiederholentlich auftauchen und verschwinden, und die äusserste Stellung, in welcher hierüber eine sichere Rechenschaft gegeben wird, wird definitiv als die Grenzstellung verzeichnet. Das excentrische Gesichtsobjekt muss gross, gut beleuchtet aber wo möglich nicht glänzend und stark reflectirend sein." — „Ist die Beschränkung hochgradig, so halte man im Abstände einiger Fuss von dem Kranken eine Tafel, in deren Mitte ein Gesichtsobjekt fixirt ist. Die Fläche der Tafel sei durch zwei Systeme von senkrecht sich kreuzenden Linien in viele kleine Quadrate abgetheilt, welche numerirt sind. Während nun der Patient das centrale Gesichtsobjekt fixirt, bringt man ein Kreide-



154



Stückchen successive durch die verschiedenen Quadrate hindurch gegen die Peripherie der Tafel h i n , und notirt die Zahl des Quadrats, in welchem das Kreidestück verschwindet. In je mehr Richtungen hin dieser Versuch wiederholt wird, desto genauer ergiebt sich die Form des Gesichtsfeldes, und man kann dieses entweder gleich oder später verzeichnen. Um hieraus einen Schluss auf die Oeffnung des Gesichtsfeldes zu machen, ist es nur nothwendig, die Entfernung des Auges von der Tafel zu notiren, und möchte es am gerathensten sein, für praktische Zwecke hierbei eine Gonstante zu nehmen. Die meisten Gesichtsfelder, welche wir bei Auablyopieen verzeichnen, wurden bei einer Tafeldistanz von 1 ' / , ' gemessen." — „Nächst der A u s d e h n u n g des Gesichtsfeldes beschäftigt uns die D e u t l i c h k e i t d e s e x c e n t r i s c h e n S e h e n s . " — „Drittens haben wir die U n t e r b r e c h u n g e n d e s G e s i c h t s f e l d e s zu berücksichtigen." — „Wir wenden uns nun zu den U r s a c h e n der verschiedenen erörterten Anomalieen des Gesichtsfeldes. Was zunächst die B e s c h r ä n k u n g e n des Gesichtsfeldes anbetrifft, so kommen dieselben vor bei N e t z h a u t k r a n k h e i t e n , bei C h o r i o i d a l k r a n k h e i t e n und bei P a r a l y s e d e s O p t i c u s aus e x t r a o k u l a r e n Ursachen." — „Besonders lehrreich für die Sehnervenphysiologie sind die h e m i o p i s c h e n Beschränkungen bei C e r e b r a l l e i d e n . Nicht selten ereignet es sich, dass auf den beiden Augen die eine Hälfte des Gesichtsfeldes fehlt, und zwar kommen zahlreiche Fälle vor, wo auf dem r e c h t e n Auge die r e c h t e , auf dem l i n k e n auch die r e c h t e , oder umgekehrt auf b e i d e n Augen die l i n k e fehlt, während es n i c h t gar häufig vorkommt, dass auf dem r e c h t e n Auge die r e c h t e Hälfte, auf dem l i n k e n Auge die l i n k e Hälfte fehlt." — „Wenn wir die betreffenden Fälle genauer studiren, insonderheit die Übrigen Krankheitssymptome recht sorgfältig aufnehmen, so finden wir in denselben allerdings einen



155



sprechenden Beleg für die durch die neuere Anatomie gut begründete Lehre von der S e m i d e c u s s a t i o n d e r S e h nerven." — „ U n d e u t l i c h k e i t des e x c e n t r i s c h e n S e h e n s nach bestimmten Richtungen hin — kann hervorgebracht werden: 1) durch Trübungen derbrechenden Medien; 2) durch Krankheiten der Netzhaut, retinitis apoplectica, B r i g h t ' s c h e Entartung, verschiedenartige Exsudativprocesse; 3 ) Eine sehr wichtige Rolle spielen hierbei Veränderungen in der Chorioidea. — Die a l l e r g r ö s s t e d i a g n o s t i s c h e D i g n i t ä t erreicht die Anomalie des Gesichtsfeldes offenbar beim c h r o n i s c h e n G l a u c o m und bei jenen demselben sehr nahe stehenden Formen von Amaurosen, die wir bei alten Leuten mit sehr rigiden Arterien finden." — „ U n t e r b r e c h u n g e n d e s G e s i c h t s f e l d e s zeigen sich bei Glaskörperopacitäten, bei Krankheiten der Netzhaut, bei ChorioidalVeränderungen, bei centralen Leiden. Doch giebt es noch manche Unterbrechungen, f ü r w e l c h e z u r Z e i t jede Erklärung fehlt." — Wie Uberall, hat G r a e f e mit gewohnter Genialität auch Tür diese Lehre die Grundzüge angegeben; es blieb aber immerhin noch ein weites Feld übrig für die Bearbeitung der Details. Er selbst kommt auf dieses Thema zurück im 4. Jahrgange des Archivs (Bd. IV. Abth. 2 S . 2 5 0 ) in einer kurzen Abhandlung, welche den Titel führt: „Exceptionelles Verhalten des Gesichtsfeldes bei Pigmententartung der Netzhaut." „Die functionellen Störungen, heisst es dort, bei P i g m e n t e n t a r t u n g d e r N e t z h a u t sind so characteristisch, dass wir in der Regel den ophthalmoskopischen Befund mit Sicherheit voraussehen können. Es ist besonders die, schon in den ersten Perioden des Uebels hervortretende N a c h t b l i n d h e i t in Gemeinschaft mit der c o n c e n t r i s c h e n Verengung des Gesichtsfeldes, welche das charakteristische Symptomgepräge con-

-

156



stituirt. In Betreff des letzteren ist noch hervorzuheben, dass, verhältnissmässig zu den geringen Dimensionen des Gesichtsfeldes, das centrale Sehen lange Zeit gut erhalten bleibt, so dass Individuen, deren Gesichtsfeld bis auf eine Oeffnung von 15°, 10° und darunter reducirt ist, noch häufig feine Schrift lesen. Es ist dies von d i f f e r e n t i e l l - d i a g n o s t i s c h e r Wichtigkeit im Vergleich mit C e r e b r a l - A m a u r o s e n , bei welchen in der Regel bedeutende Verengungen des Gesichtsfeldes bereits von einer namhaften Herabsetzung der centralen Sehschärfe begleitet werden. A m a u r o s e n m i t S e h n e r v e n e x c a v a t i o n zeigen allerdings zuweilen auch bei sehr vorgerückter Verengung des Gesichtsfeldes noch eine gute centrale Sehschärfe. Allein ich habe dann nur höchst ausnahmsweise (2 oder 3 mal) beobachtet, dass das Gesichtsfeld c o n c e n t r i s c h verengt w a r ; in allen übrigen Fällen hatte es eine s c h l i t z f ö r m i g e Form, und zwar so, dass der Fixirpunkt in der Nähe der inneren Grenze des Schlitzes lag." — „Neuerdings sind mir zwei Fälle von Pigmententartung der Netzhaut vorgekommen, in welchen das Gesichtsfeld eine höchst eigenthümliche Form darbot, wie ich sie bisher nur bei Amblyopieen aus extraokularer Ursache gesehen habe. Das centrale Sehen war gut erhalten, nächst dem Fixirpunkte ein kreisförmiger Bereich von 6° resp. 20° Oeffnung, innerhalb dessen die Sehschärfe sich relativ gut erwies. Um diesen Bereich herum befand sich eine ringförmige Zone, innerhalb der jede Wahrnehmung fehlte, und jenseits der das excentrische Sehen in dem einen Falle wieder vollkommen gut, in dem anderen mässig herabgesetzt war." — „Sehr schwer zu deuten ist «ine solche r i n g f ö r m i g e F u n c t i o n s a u f h e b u n g , wenn wirklich dem Uebel eine vom Gefässapparate ausgehende Atrophie zu Grunde liegt. Man begreift es in der That nicht, wie hier die peripherischen Theile wieder zur Leitung kommen sollen, wenn die gefässtragenden, als leitend angenommenen,

— inneren

Netzhautlagen

sind.

Wir

der

hoffen

Donders*) sind."

durch hier

pathologischen

157



die P i g m e n t a b l a g e r u n g

auf

weitere

Anatomie,

gegebenen

nachdem

Uberall

die

dankbar

entfaltete

„Hoffnung" sich

in

wurde

den

Netzhaut

und

erfüllt;

nächsten

pathologisch - anatomischen

begrilsst

eine

Jahren,

von

worden

deren V e r w e r t h u n g

für

reiche deren

Veränderungen

der

Aderhaut

diesbezüglichen

trägen

Erfahrungen

in

einer

Uber Amblyopie und A m a u r o s e

durch

seinen

amblyopischer

pille,

1) durch

Bestandes,

3)

durch

zunächst

im

durch

das

gelitten,

P r o g n o s e quoad

ü b e r die B e d e u -

der von

caecitatem

Prüfung

der

trischen

Sehens.

Grad, hohem steht

betrifft,

in w e l c h e m Belange oben

Gesichtsfcldgrenzen Es hat

ist; an und

durch

des

Aussehen

die E n t w i c k e l u n g s w e i s e

dass

veröffent-

allgemeinen

genaue Würdigung

die F u n c t i o n s s t ö r u n g e n

leugnen,

Sehschärfe

2)

wird

Vor-

1865).

heisst es daselbst —

Afifektionen

drei Dinge geleitet, tionellcn

von

welche er

damaligen F a m u l u s Dr. E n g e l h a r d t

„ U n s e r Urtheil —

der oft

wiederum

Reihe

zusammen,

l i c h e n Hess (Monatsblätter f. Augenheilkunde tung

die und

bildete.

F ü n f J a h r e vor seinem T o d e stellte a u c h G r a e f e seine

Literatur

Objekt

die E r k l ä r u n g

dunklen klinischen K r a n k h e i t s - S y m p t o m e

nicht

seitens

neulich



Diese

Was

zerstört

Aufschlüsse

der

des so die

funcPa-

Uebels. lässt

sich

centrale

allein

für die

eine

genaue

des

excen-

nämlich die E r f a h r u n g zur G e -

n ü g e h e r a u s g e s t e l l t , dass die zu p r o g r e s s i v e r E r b l i n d u n g

ten-

direnden

des

Ge-

Undeutlichkeit

des

Formen

sichtsfeldes, peripheren

resp.

sich

frühzeitig

durch

durch

piädominirende

S e h e n s kennzeichnen.

Es

ist

Einengung

a u c h bei e i n e r zu-

*) A. f. A. Bd. I I I . Abth. 1 S. 139 ff. „Beiträge zur pathologischen Anatomie des Auges" von F. C. D o n d e r s (Fortsetzung): 2) Pigmentbildung in der Netzhaut.



158 —

nehmenden Atrophie der nervösen Elemente a priori begreiflich, dass die von dem nutritiven und functionellen Centrum abgelegensten Regionen zuerst unterliegen, und dass dann gewissermaassen ein succcssives Absterben auf centripetalem Wege erfolgt." „Wenn hiernach der Nachweis von Defecten oder Herabsetzungen im peripherischen Sehen fllr die Deutung von eminenter Wichtigkeit ist, so müssen wir die diagnostischen Mittel dieselben aufzufinden, möglichst verfeinern. Die Durchmusterung der Gesichtsfeldperipherie bei gewöhnlicher Tagesbeleuchtung ist unzureichend, um kleinere Mängel aufzudecken. D i e s e l b e m u s s im d u n k e l e n Z i m m e r b e i e i n e r e i n heitlichen B e l e u c h t u n g vor sich gehen. Wo es sich um volle Genauigkeit handelt, bediene man sich z. B. der g r a d u i r t e n L e u c h t s c h e i b e , mit welcher auf 100 eingestellt (und natürlich in bestimmtem Abstände von dem Papier) ein vor dem Patienteu gehaltenes mattschwarzes Papier beleuchtet wird. Die Grenzen des Gesichtsfeldes werden durch weisse Kugeln eruirt, welche an schwarzen Stäben befindlich, vom Fixirpunkte allmälig abgerückt werden. Handelt es sich um die Distinctionsyvinkel im excentrischen Sehen, so befinden sich die Kugeln an zwei Spitzen eines geschwärzten Cirkels." „Der Befund bei dieser oder einer äquivalenten Untersuchung der Gesichtsfeldperipherie spaltet sich in 3 Hauptkategorien : 1) Die Verhältnisse des peripheren Sehens sind vollkommen identisch mit denen eines gesunden Auges. 2) Es findet eine Herabsetzung des peripheren Sehens statt, jedoch in einer nach allen Richtungen hin gleichmässigen und verhältnissmässig zur centralen Sehstörung sehr untergeordneten Weise. 3) Die Störung des excentrischen Sehens ist ungleichmässig, z. B. nur nach einer Richtung, resp. vorwaltend in



159 —

gewissen Richtungen vorhanden, dehnt sich über den Gesichtsfeldrahmen bereits in die Continuität des Gesichtsfeldes aus und tritt auch in gradueller Beziehung aus ihrem zur Störung der Sehschürfe untergeordneten Verhältnisse heraus." „In dem ersteren Falle bezeichnen wir die Gesichtsfeldperipherie als a b s o l u t n o r m a l , im zweiten als r e l a t i v n o r m a l , im dritten als a n o m a l . " „Bei einer a b s o l u t n o r m a l e n Gesichtsfeldperipherie (1) handelt es sich n i e m a l s um progressive Atrophie, d. h. um eigentliche Amaurose, sofern anders das Uebel bereits irgend eine typische Höhe erreicht hat." „Ist das Gesichtsfeld r e l a t i v n o r m a l (2), d. h. findet eine gleichmässige (allseitige) Abschwächung in der peripheren Zone statt, welche verhältnissmässig zur Störung von S. irrelevant erscheint, so ist die B e d e u t u n g noch eine z w e i felhafte." „Ist endlich die Gesichtsfeldperipherie a n o m a l (3), so drängt sich der V e r d a c h t einer d e l e t ä r e n Form näher auf; allein es würde unendlich zu weit gegangen sein, wenn man über alle hierher gehörigen Zustände sofort den Stab brechen wollte. Es kommt zunächst noch wieder auf die Modalität der Gesichtsfeldbeschränkung, sodann auf die Verhältnisse derselben zur centralen Sehschärfe, drittens auf das Aussehen der Papille, viertens auf die Entwickelungsweise des Uebels an." — Eine logische und mit den Thatsachen im Einklänge stehende Definition der althergebrachten Ausdrücke hebetudo visus, amblyopia und amaurosis wurde ebenfalls erst durch die Erfindung des Augenspiegels möglich. Von G r a e f e ' s präciser Beschreibung eines Theiles der unler der CollectivBezeichnung hebetudo visus zusammengeworfenen pathologischen Zustände des Auges ist bereits die Rede gewesen. Eben so präcis geschieht in der oben angezogenen Arbeit Uber Amblyopie und Amaurose die Umschränkung des Begriffs



160



„amblyopische Affectionen" durch den in einer Anmerkung gebrachten Zusatz: „Wir schliessen bei dieser Bezeichnung selbstverständlich alle Sehstörungen aus, welche durch m a teriell w a h r n e h m b a r e V e r ä n d e r u n g e n der b r e c h e n den Medien, der i n n e r e n A u g e n h ä u t e sowie durch neuroretinitis und embolie erzeugt werden." Weiter heisst es dort: „Ausser den Beschränkungen der centralen und excentrischen Sehschärfe hat man noch mancherlei Dingen in den Functionen n m b l y o p i s c h e r Augen einen Werth für die p r o g n o s t i s c h e Deutung beigelegt. Besonders geschah dies in der v o r o p h t h a l m o s k o p i s c h e n Zeit, wo man die a m b l y o p i e in d e m j e t z i g e n S i n n e d e s W o r t e s von den Leiden der inneren Membranen, den Sehnervenentzdndungen und selbst theilweise von den Trübungen der brechenden Medien nicht mit Sicherheit zu unterscheiden wusste." — „Es ist eine Errungenschaft der Ophthalmoskopie, nicht allein durch Ausschluss anderweitiger intraokularer Erkrankungen der a m b l y o p i s c h e n K r a n k h e i t s g r u p p e bestimmte Grenzen gesteckt, sondern auch in der Papille des Sehnerven Kriterien von hoher Bedeutsamkeit für die einzelnen Fälle gefunden zu haben. V i e r eng mit einander zusammenhängende und zum Theil sich gegenseitig bedingende Charaktere sind es, welche unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen: a) die F a r b e n V e r ä n d e r u n g , b) die O p a c i t ä t , c) die A u s h ö h l u n g , und d) die G e f ä s s v e r s c h m ä l e rung." — „Wie es den ophthalmoskopischen Befunden vielfach ergangen ist, dass man nämlich an deren Auftreten maasslose, unter der klinischen Erfahrung bald wieder zerrinnende Consequenzen geknüpft, so ist es auch der atrophischen Entartung der Papille ergangen. Man hat aus deren Existenz geradezu auf die Gegenwart eines zur Erblindung mit Nothwendigkeit führenden Processes geschlossen, und insofern dieselbe gewissermaassen als materielles Substrat der Amaurose be-

— schrieben. auf

das

Gegen

161

diese

Identificirung

entschiedenste

vergessen,

— müssen

protestiren.

dass es absolut unmöglich

ist,

Man hat einem

wir dabei

Sehnerven

anzuseilen, ob die atrophische Entartung progressiv oder stationär ist, während doch eben hierin der Kernpunkt der Sache liegt.

Nur

gemeinschaftlich

mit

dem

functionellen

B e f u n d e und mit der E n t w i c k e l u n g s w e i s e sind derartige Schlussfolgerungen erlaubt." „Der dritte Hauptpunkt,

desUcbels



auf welchen unser Urtheil über

amblyopische Aft'ectionen zu begründen ist, liegt in dem wickelungsmodus

und

Zunächst kommen p l ö t z l i c h e blicken,

Stunden

Störungen

oder

in Form

Ent-

den begleitenden Symptomen. oder r a s c h

wenigen

Tagen)



( d . h . in Augensich

entwickelnde

von scharf abschneidenden

Gesichtsfeld-

beschränkungen hemiopischer oder concentrischer Form, ferner von

centralen Scotomen,

-vor. was

und auch

von totalen Erblindungen

Es war früher eine Gewohnheit in der Pathologie alles, plötzlich

auftrat, mit hämorrhagischen Ergüssen in Ver-

bindung zu bringen, und so ist es auch diesen Zuständen ergangen.

Allein nur für die g l e i c h s e i t i g e n Ilemiopieen dürfte

Apoplexie im anatomischen Sinne des Wortes als Ursache abzurufen sein, und auch diese Ilerleitung hat ihre Ausnahmen. Wo es sich um doppelseitige centrale Scotome, um plötzliches Erblinden

eines oder beider Augen handelt, ist eine hämor-

rhagische Ursache s e l t e n annehmbar. deren

Sitz

schwer

zu l o k a l i s i r e n ,

Wir wüssten

auch

ohne über die bis-

herigen Ergebnisse der pathologischen Anatomie in verwegener Weise hinwegzugehen. —

Wenn solche Zustände

nach Blut-

brechcn, nach gastrischen Zuständen, nach akuten Exanthemen beobachtet werden, so bleibt der Zusammenhang — für jetzt —

unerklärt. —

weisen

bilden

Diese plötzlichen oder raschen

der gewöhnlichen

gegenüber nur die Ausnahme."

allmäligen

EntstehungsEntwickelung



„Von besonderer Wichtigkeit ist der Entwickelungsmodus Michnelis, A. voll Oracfc.

11



162



bei den E i n e n g u n g e n d e s G e s i c h t s f e l d e s . Es sei zunächst hinsichtlich der h c m i o p i s c h e n Beschränkungen erw ä h n t , dass, abgesehen von apoplektisehen u n d cnccphalitischcn Z u s t ä n d e n , dieselben zuweilen durch i d i o p a t h i s c h e und zwar t r a n s i t o r i s c h e Leiden eines S e h n e r v c n t r a k t u s herbeigeführt werden. Gewöhnlich b e r u h e n diese auf syphilis; in einzelnen Fällen aber wirken räthselhafte Ursachen im Nervensystem, die auch der weitere Verlauf und die Genesung nicht enthüllt." — „ F ü g e n wir noch einige Bemerkungen ü b e r die W e s e n h e i t d e r A m a u r o s e n hinzu. Wo man intraokulare Ursachen bei Sehstörungen nicht erkenn!, wird in der Regel von c e r e b r a l e r A m a u r o s e oder s p i n a l e r A m a u r o s e gesprochen. Bei den gutartigen, der Rückbildung fähigen Amblyopieen h a n delt es sich um Abweichungen der Circulation und Innervation, f ü r welche die pathologische Anatomie durchschnittlich keine n e n n e n s w e r t h e n Aufschlüsse ergiebt. Aber auch f ü r die z u r progressiven E r b l i n d u n g mit Desorganisation der Papille f ü h r e n d e n Formen gelingt es keineswegs immer palpable P r o cesse in den Centraiorganen vorzufinden. Der gewöhnliche Befund ist Atrophie der Faser- und Ganglienschicht der Netzh a u t , gleichzeitig Atrophie der optici, wclche zuweilen am chiasma abschneidet, in anderen Fällen sich hinter demselben fortpflanzt, und mit atrophischen V e r ä n d e r u n g e n in den thalamis und d e r Vierhügelgegcnd paart. Wenn hiernach der amaurotische Process an sich n u r als eine progressive Atrophie des S e h n e r v e n n e t z h a u t t r a k t u s aufzufassen ist, von der es noch nicht einmal feststeht, ob sie einen centripetalen oder centrifugalen Verlauf nimmt, so lässt sich doch nicht leugnen, dass diese partielle Atrophie sich in einen» namhaften Bruchtheile der Fälle mit diffuseren E r k r a n k u n g e n im centralen Nervensysteme paart, so dass sie bald als der .weitere Ausläufer dieser letzteren aufzufassen ist, bald aber auch den ersten Bezirk bezeichnet, von welchem a u s sich das Leiden vor-



163



breitet. Besonders interessant ist der Z u s a m m e n h a n g p r o g r e s s i v e r A m a u r o s e einmal mit p a r a l y t i s c h e r Psyc h o s e , u n d sodann mit g r a u e r D e g e n e r a t i o n d e r l l i n t c r s t r ä n g c . " •—• Ueber „ c e n t r a l e S c o t o m e " — ein Krankheitszustand, dessen genaue Beschreibung sich auch erst seit G r a e f e in d e r o p h t h a l m o l o g i s c h e n L i t e r a t u r f i n d e t — giebt derselbe in der oben bezeichneten Schrift, a n k n ü p f e n d an einen in der Klinik vorgestellten F a l l , die folgenden Aufschlüsse: „Die functioncllc U n t e r s u c h u n g zeigt zunächst sichtsfeldperipherie beiderseits vollkommen n o r m a l , die Sehschärfe links auf ' / 3 0 , rechts auf circa '/,„

die Gcdagegen

reducirt, und zwar auf G r u n d c e n t r a l e r S c o t o m e , w e l c h e mit e i n e r O c f f n u n g von 8 — 1 0 ° die G e s i c h t s f e l d m i t t e behaften. Bei gewöhnlicher Beleuchtung wird es dem P a tienten s c h w e r , diese Scotome a b z u g r e n z e n , bei gedämpfter L a m p e n b e l e u c h t u n g a b e r gelingt dies vortrefflich, und es lässt sich beweisen, dass die eben angegebene Sehschärfe eine e x c e n t r i s c h e ist, indem Patient innerhalb der centralen Scotome n u r dunkle quantitative Lichtcmplindung hat. Bei der ophthalmoskopischen U n t e r s u c h u n g zeigt s i c h , d a s s , wenn mit dem Planspiegel ein kleines Flammenbildchen auf die Region der fovea centralis g e b r a c h t w i r d , dasselbe n u r einen dunklen Lichtschein erweckt. Die Scotome sind von einer ringförmigen Zone undeutlichen Sehens umgeben, welche nach innen breiter ist als nach d e r Schläfenscitc." -— „Der Augenspiegel weist bei n o r m a l e n brechenden M e d i e n u n d M e m b r a n e n eine physiologische Excavation (hier mir einen kleinen Bezirk nach aussen von dem Gefässaustritt beiladend) ausserdem aber eine u n l e u g b a r e weisse E n t f ä r b u n g d e r Papille durch S c h w u n d der kleineren Gcfasse und durch leichte Opacificirung des Gewebes n a c h , mithin einen gewissen Grad atrophischer Degeneration." — 11 *



164



„ I n besondere Verlegenheit gerathen w i r , uns über die Diagnose genauer auszusprechen. Die pathologische Anatomie hat für derartige Fälle centraler Scotome noch keinen Boden geliefert, und auch die klinische Beobachtung giebt unseren Anschauungen nur unbestimmte Richtung. Das beiderseitige Vorkommen beim Mangel sonstiger centraler Erscheinungen hat mit Vorliebe den Bedacht auf einen Vorgang im chiasma nervorum opticorum gelenkt; allein ich muss bekennen, dass diese Vermuthung gerade hier wenig plausibles hat. Wenn wirklich eine materielle Ursache, wie Apoplexie oder Gewebsstörung im chiasma ihren Sitz hätte, so schiene mir die Symmetrie der Störung vollends unerklärlich. Viel annehmbarer erscheint es mir, dass in dem cerebralen Ende der Sehnerven eine umschriebene Krankheitsursache obwaltet, und d a s s fiir diese Regionen die sonst für paarige Sinnesorgane herrschende und in den äusseren Theilen des Auges oft so frappante symmetrische Tendenz sich bethätigt. Allein welche Störung haben wir im Näheren anzurufen? Wegen des urplötzlichen Auftretens von Scotomen hat man an hämorrhagische Ursachen gedacht. Hiergegen spricht indessen schon die circumscriptc Ausdehnung der Störung und die allmäligere Entwickelung in anderen sonst analogen Fällen. Ferner sieht man diese Zustände niemals im Verband mit anderen hämorrhagischen Hirnkrankheiten, und constatirt deren Vorkommen gerade an jüngeren Patienten, wo die hauptsächlichsten prädisponirenden Ursachen für Ilirnhämorrhagieen fehlen, relativ am häufigsten. Nicht unmöglich, dass es sich um circulatorische Anomaliecn anderer Natur durch Erregung in umschriebenen Bezirken der vasomotorischen Nervenbahn oder überhaupt um functionellc (moleculare?) Leitungsunterbrechung handelt, für deren erstes Auftreten wir nicht im Stande sind eine palpable materielle Ursache nachzuweisen. Die spätere Degeneration der Papille spricht nicht gegen diese Annahmen, da sie wahrscheinlich als Consecutiverscheinung aufzufassen ist. Leiten wir das



165



Uebel von vasomotorischen Killflüssen ab, so w ü r d e sich hieraus das symmetrische Auftreten in den centralen Enden beider S e h n e r v e n in ungezwungener Weise e r k l ä r e n . Desgleichen w ü r d e es hierbei erklärlich sein, dass man die Bildung centraler Scotome zuweilen nach erschöpfenden allgemeinen Krankheiten mit anderen Zeichen f ü r vasomotorische Leiden o d e r auch nach Gemüthsaffekten mit cutanen Anodynieen b e o b achtet." — Auch auf die so häuflg bei Schielenden, a b e r auch sonst nicht selten vorkommende anaesthesia retinae, oder, wie G r a e f e sie praktischer n a n n t e , „amblyopie aus N i c h t g e b r a u c h " eines Auges bei normaler Sehkraft des anderen, auf ihre Immunität gegen atrophische Degeneration, und auf die bezügliche Therapie d u r c h methodische A n w e n d u n g entsprechender Convexgläser, e n t w e d e r ohne oder nach v o r h e r g e g a n g e n e r Tenotomie — zuerst aufmerksam gemacht zu h a b e n , ist wiederum G r a e f c ' s unbestrittenes Verdienst. — Wie mächtig nachwirkend diese G r a e f e ' s c h e n Anregungen w a r e n , zeigt ein Blick auf die zahlreichen F o r s c h e r , welche seitdem g e r a d e diesen Theil der Ophthalmologie cultivirt haben, u n d auf den reichen Schatz wichtiger B e f u n d e , welchen die Wissenschaft ihren U n t e r s u c h u n g e n verdankt.

Wie bei seiner operativen Thätigkeit, so in der T h e r a p i e ü b e r h a u p t war G r a c f e Eklektiker in d e r besten Bed e u t u n g des Wortes. Es ist bereits e r w ä h n t worden, dass er in der frühesten Periode seiner Berliner Wirksamkeit vorwiegend den französischen Vorbildern folgte. Die A n w e n d u n g des lapis mitigatus, der Scarificationen, der Gebrauch des atropinutn sulphuricum, die Application des Heurteloup'schen künstlichen Blutegels, datiren aus jener Zeit. Um das letztere Instrument, welches damals in Berlin gänzlich u n b e k a n n t w a r , nicht sofort durch ungeschickte Ilände bei Aerzten und Laien in Misscredit zu b r i n g e n , unterzog sieh G r a c f e selbst mit seinen ersten Assistenten der zeitraubenden Application desselben, bis ein der Klinik attachirter IleilgehUII'e sie ablösen konnte. In der bereits mehrfach eitirten Schrift, „ U e b c r Amblyopie und Amaur o s e " (S. 196 ff.) hat G r a e f e die lndicationen f ü r die Anwend u n g des künstlichen Blutegels genau präcisirt, und durch die E i g e n t ü m l i c h k e i t der Wirkung desselben lnotivirt. Es heisst d o r t : „ W a s die ßlutentleerungen betrifft, so ist es (hier) besonders w i c h t i g , r a s c h e A u s s t r ö m u n g e n z u e r z i e l e n . Dies veranlasste mich einst, die Application der H e u r t e l o u p ' schen Blutegel gerade für die Behandlung der congesliven Amblyopicen zu v e n v e r t h e n , und hat die hierauf gegründete Methode unter den Praktikern zahlreiche Nachahmung gefunden." „Es k o m m t dabei w e s e n t l i c h auf die T e c h n i k d e r A p p l i c a t i o n a n . Ist der betreffende Chirurg, den m a n



167



damit b e t r a u t , nicht eingeübt in wenigen Minuten einen Cyliinler zu füllen, so fällt damit auch d e r Vortheil. (Es sei bei dieser Gelegenheit b e m e r k t , dass die I l e u r t c l o u p ' s c h e n Blutegel, so ausgezeichnete Dienste sie bei congestiven Amblyopiee» und bei chronischen Aderhautkrankheiten leisten, in der Therapie der ä u s s e r e n Ophthalmieen den natürlichen Blutegeln bedeutend nachstehen. Iii d e r T h a t kommt es bei den letzteren weit mehr auf die verlängerte Suction u n d auf die continuirliche Ausströmung des Blutes als auf die Rapidität dieser letzteren an.). Die Applicationen müssen des Abends g e m a c h t w e r d e n , so dass die Nachtruhe bald darauf folgt. Es ist f e r n e r f ü r viele Fälle wünschenswert!), dass der Patient den nächsten Tag darauf völlig r u h i g im dunklen Zimmer verbringe. Da die Erlässlichkeit dieser Vorsicht sich n u r aus einer minutiösen Berücksichtigung d e r individuellen Umstände ergiebt, so m a g sie lieber d u r c h w e g eingehalten werden Es h ä n g t deren Werth von der Reizbarkeit der Kopfcirculation, o d e r , w e n n man will, der vasomotorischen Nerven, ab. Wo dieselbe gross ist, folgt der jedesmaligen Application eine E r r e g u n g , welche sich in allerlei Sensibilitätsstörungen, zuweilen in subjectiven Lichtcrscheinungen und auch wohl in einem geringen Sinken der Sehschärfe kennzeichnet. Diese Periode d e r „ R e a c t i o n " , welche n u r a u s n a h m s w e i s e den folgenden Tag ü b e r d a u e r t , soll bei vollkommener K ö r p e r r u h e und strenger Lichtentziehung abgewartet w e r d e n . — Die Applicationen, bei d e n e n jedesmal 2 — 1 Unzen Blut zu entleeren s i n d , w e r d e n j e nach der Constitution der Kranken und Dauer der Reactionsperiode in Abständen von 4, ü, 8 Tagen wiederholt. Die g e n a u e P r ü f u n g der Schschärfc u n m i t t e l b a r vor und zwei Tage nach den Applicationen (also nach abgelaufener Reactionsperiode) entW o z w e i , höchstens drei scheidet Uber die Wiederholung. Applicationen ohne jeden Einfluss auf die Sehschärfe geblieben sind, stehe man von dem Verfahren ab. Aber auch, wo ein deutlicher Einlluss zu Stande k o m m t , empfehle ich im Falle

-

168

-

passiver Kopfeongestionen nicht eine zu häufige Wiederholung, obwohl natürlich die constitutioncllen Verhältnisse im einzelnen Falle entscheiden müssen. Die in der Praxis so vielfach ventilirte F r a g e , ob man Blutentleerungen den k r a n k e n Organen möglichst n a h e oder entfernter instituiren s o l l , h ä n g t neben der Modalität d e r Blutentleerung besonders von dem Grade der Erregbarkeit a b , und n u r mit der bezüglichen Reserve ist die Frage in ersterem Sinne zu entscheiden. Bei O p h t h a l m i e n w i r d h ä u f i g g e s ü n d i g t , indem man Blutegel in einer Nälie des Auges legen sieht, die sich mit der Erregbarkeit des Organcs und der umgebenden Gebilde nicht verträgt." — Seine A n s c h a u u n g ü b e r die heilbringende Wirkungsweise des Atropinum sulphuricum spricht G r a e f e bereits im ersten Bande des Archivs (Bd. I. T h . 1 S. 2 2 3 ) in der Arbeit: „Ueber die d i p h t h e r i s c h e Conjunctivitis u. s. w . " a u s , indem er bei E r w ä h n u n g der im Verlaufe dieser Affection auftretenden geschwürigen Hornhautprocesse sagt: „ E s ergeht f ü r den P r a k t i k e r , wenn es sich um die Unterstützung der I l o r n h a u t regeneration handelt, folgende Indikation: den Druck, der auf den Geschwürsgrund w i r k t , möglichst herabzusetzen, oder, da diese Druckwirkungen sich allseitig a u s d e h n e n , den Gesammtd r u c k , den die contenta bulbi auf das continens üben, möglichst zu b e s c h r ä n k e n . Dies ist die Absicht, in welcher ich unter solchen Verhältnissen die Einträufelungen von atropinum sulphuricum a n w e n d e , weil ich mich durch Experimente an Thieren und durch Beobachtungen an Menschen überzeugt zu haben glaube, dass dieses Mittel, wie ähnliche mydriatica, nicht blos auf die P u p i l l e , sondern gleichzeitig auf den S p a n n u n g s grad der Muskelkräfte wirkt. Gern gestehe ich, dass nicht die Kenntniss von dieser Wirkungsweise mich auf die t h e r a peutische A n w e n d u n g des Mittels b r a c h t c , s o n d e r n dass ich gerade in u m g e k e h r t e r Weise Uebcrzeugung gewann. Als ich nämlich das Mittel zu andern Zwecken, besonders um die iris



169



von einem pcrforirendcn Geschwüre möglichst weit abzuhalten, in Anwendung zog, war mir die günstige Wirkung auf die Begrenzung des Hornhautleidens auffallend gewesen, und hatte mich zu weiteren Untersuchungen v e r a n l a s s t . " — Bekannt ist, welche allgemeine A n w e n d u n g dieses Mittel seitdem in der ophthalmologischen Therapie gefunden hat. Die Behandlung übler Zufälle nach operativen Eingriffen, sowie das Auftreten der diphtheritis conjunctivae, führten G r a e f e naturgemäss zur H a n d h a b u n g d e r strengsten und umfassendsten Antiphlogose. Hierzu gehörten in erster Reihe Aderlass, Eis- oder kalte U m s c h l ä g e , Blutegel, ,und die — für das nordische Klima wenigstens — unentbehrlichen Quecksilber-Präparate. Ueber die W i r k u n g der letzteren äusserte sich G r a e f e wiederholt dahin, dass er g r o s s e Dosen des Calomel n u r als ein sicheres und gutes Abführmittel, kleinere a b e r , sowie die entsprechenden des Sublimat und der g r a u e n Salbe als die Plasticität des Blutes vermindernd, und insofern als entzündungswidrig betrachte. Die Verbindungen des Jod und Quecksilber wandte G r a e f e bei den schweren Formen d e r secundärcn Syphilis, welche sich in Augen-Aß'ectionen gleichzeitig ä u s s e r t e n , a n ; bekanntlich ist seine Verordnung des h y d r a r g y r u m bijodatum r u b r u m in Verbindung mit Jod gleichsam Magistral-Formel g e w o r d e n . Die Narcotica gab G r a e f e von vorn herein stets in s o g r o s s e n Dosen, dass er der schmerzstillenden Wirkung völlig sicher sein konnte. Späterhin w u r d e der innere Gebrauch derselben vollständig durch die subcutanen Injectionen verdrängt. Das weite, und trotz aller Verbesserungen in der Technik der Untersuchung und trotz vorgeschrittener Diagnostik noch immer dunkle Gebiet der Amblyopieen gab G r a e f e reichlich Gelegenheit zu experimentellen therapeutischen Versuchen aller Art. Und er benutzte diese Gelegenheit redlich, aber in der ihm eigenthümlichen Weise. Die Statistik galt ihm nichts,



170



wenn sie sich nicht auf sehr grosse Zahlenreihen stützte, und wenn nicht die schärfste Kritik über die Resultate der Experimente u n d Untersuchungen wachte. Die Erfüllung des ersten Postulats machte ihm die Massenhaftigkeit des seiner Klinik zu Gebote stehenden Materials leicht — s e i n e therapeutischen Experimente stützten sich stets auf h u n d e r t e von Fällen; s e i n e Kritik war aber eben so streng gegen die Resultate eigener wie gegen die fremder Forschung, lind bei der absoluten Oelfentlichkeit seiner klinischen und gesammten augenärztlichen Thätigkeit, die so weit ging, dass er sogar sein Privat-Kranken-Material zu Lehrzwecken in ausgedehntes t e r , freilich f ü r die Betreffenden nicht immer angenehmster Weise verwendete, hätte ein absichtlicher Irrthum nicht lange verborgen bleiben können. Als heilbringend bei Amblyopieen dunklen Ursprunges bewährte sich G r a e l ' e neben den bereits erwähnten örtlichen Blutenticerungen vermittelst des I l e u r t e l o u p ' s c h e n künstlichen Blutegels zunächst die „diaphoretische Methode." Hierüber sagt er selbst (I. c. S. 198 Ii.): die diaphoretische .Methode führten wir, nach dem Vorgange vieler älterer Praktiker, meist durch das decoclum Zittmanni aus, nicht als ob den einzelnen Ingredienzien dieses componirtcn Trankes irgend eine specifisclie Wirkung zuzuschreiben sei, sondern weil derselbe ein durch die E r f a h r u n g als vortrefflich erprobtes diaphoreticum an die Hand giebt. Es w u r d e deshalb auch n u r das erwärmte decoctum fortius f r ü h m o r g e n s im Bette v e r a b r e i c h t , die Wirkung auf die Haut d u r c h Einhüllung in wollene Decken, eventuell noch durch Fliederthee gesichert, dagegen keine erhebliche diätetische B e s c h r ä n k u n g , wie sie sonst bei Z i t t m a n n Kuren üblich ist, auferlegt, auch bei milder Witterung ein Spaziergang in den Nachmittagsstunden erlaubt. Neuerdings sind wir mit der Ordination des Z i t t m a n n ' s c h e n Dekokts etwas z u r ü c k h a l t e n d e r g e w o r d e n , seitdem wir in gut eingerichteten r ö m i s c h e n B ä d e r n ein f ü r die ärztliche Praxis



171



überhaupt unschätzbares Mittel erhalten h a b e n . —• Die erste Veranlassung zur Benutzung der römischen Bäder bei Ainblyopieen mit passiven Kopfcongestionen gab mir ein Patient, der, nachdem er eine Z i t t m a n n - K u r mit n u r massigem Resultate d u r c h g e b r a u c h t , sich selbst von seiner Amblyopie vollständig heilte durch den Aufenthalt in dem fast 4 0 ° warmen Siederaum einer Zuckerfabrik. — So erhebliche Vorlheile die römischen Bäder u n t e r den meistens hier zur Sprache kommenden Verhältnissen gegenüber den russischen Bädern b i e t e n , so haben sie natürlich auch ihre Contra-Indikationen, zu denen theihveise activere Congestivzustände, besonders aber Herzleiden, Nierenleiden, apoplectische Anlage und übertriebene circulatorische Erregbarkeit g e h ö r e n . " — In einer Schlussbemerkung fügt G r a e f e folgende, für alle Zeiten beherzigenswerthe W o r t e h i n z u : — „ d a r a u s , dass diese Methode (römische Bäder u. s. w.) sich hier wirksam erwiesen h a t , d a r f k e i n e s w e g s e i n a u s s c h l i e s s l i c h e s Kurverfahren bei s o l c h e n Amblyopieen gemacht werden. Nirgends bedarf es mehr eines individualisirenden Studiums als bei den Amblyopieen, und es ist ein wahrhafter Unfug, wenn die Aerzte nach einmaliger und flüchtiger Besichtigung derartigen Patienten allemal einen weit in die Zukunft reichenden Rath zu geben sich vermessen. Die circulatorischen U n o r d n u n g e n , um die es sich hierbei bandelt, können aus den verschiedensten Quellpunkten spriessen, und es ist eine gefährliche Einseitigkeit, sie mit Vorliebe von einem bestimmten Organleiden, z. B. von der Leber oder dein Darnikanal oder von einer bestimmten Unordnung in der Lebensweise herzuleiten. Untcrleibsleiden spielen zwar eine ursächliche Rolle, und sieht man dementsprechend von Mineralq u e l l e n , wie M a r i e n b a d , Kissingen, Homburg, und geeigneten Falles von Karlsbad günstige W i r k u n g e n ; im allgemeinen aber binden — Dank dem hypochondrischen Zeitgeistc — die Unterleibsfunctionen in zu exclusiver Weise die Aufmerk-



172



samkeit der Aerzte. Die für amblyopisehe Zustände enorm wichtigen Functionen der Haut u n d der Nieren haben sich unter anderem Uber j e n e Bevorzugung wesentlich zu beklagen. W ä h r e n d ängstlicher Bedacht ü b e r den R h y t h m u s und das Gewicht der Stuhlgänge b r ü t e t , werden j e n e wichtigsten Regulatoren der Circulation als nebensächliche Dinge kaum beachtet. Auch die alltäglichen G e w ö h n u n g e n , in denen die sich cumulirenden Ursachen von Circulationsstörungen n u r allzuhäufig wurzeln, werden von den Aerzten öfters nicht mit genügender Schärfe d u r c h m u s t e r t , und von den Patienten als selbstverständlich zu wenig hervorgehoben. Von dein Schlaf wird in der Regel n u r wenig g e s p r o c h e n , wenn er nicht auffallend gestört ist, und doch bildet ein guter und regelmässiger Schlaf das w a h r e Labsal der unaufhörlich thätigen Sehnerven. Hier h a n d e l t es sich also recht sorgfältig zu s u c h e n , und das g e f u n d e n e recht umsichtig und v o r u r t e i l s frei zu würdigen, um ein glücklicher Arzt zu s e i n . " — Schliesslich möge noch e r w ä h n t w e r d e n , dass G r a e f e auch die Mittel, welche die in n e u e r e r Zeit sich immer m e h r ausbildende p h a r m a c o p o e a elegans darbietet, trefllich zu h a n d haben wusste. Wie seine Diagnose: „difficultates n e r v o s a e " , welche einein ü b e r m ü t h i g e n Scherze ihr Dasein verdankte, treffend den „ P u n k t " bezeichnete, aus dem das „ewig Weh' und Ach" zu k u r i r e n sei, so wusste auch seine Therapie in der Privatpraxis sich sehr wohl den individuellen Eigenheiten zu accotnmodiren, o h n e dass d e r beabsichtigte Heilzweck hierdurch im mindesten beeinträchtigt w u r d e . — W e r G r a e f e ' s o p e r a t i v e r T h ä t i g k e i t in seiner Blüthezeit beiwohnte, mochte nicht a h n e n , wie s c h w e r es ihm geworden w a r , j e n e h o h e technische Vollendung zu erreichen, welche ihn auszeichnete. Die „ l ä c h e r l i c h e U n g e d u l d " , wie er sein lebhaftes T e m p e r a m e n t in dem wiedergegebenen Pariser Briefe nennt, liess ihn in d e r ersten Zeit seines Berliner Wirkens zuweilen u n m u t h i g Pincette u n d Messer hinwerfen, wenn

— nicht

der

173

Operations-Effekt

T a g e trat.

AllmSlig ward



sofort in

gewünschter

Form

er ruhiger und kaltblütiger,

zu

keine

unvorhergesehene Störung erschreckte ihn mehr, gab ihm im Gegentheil Gelegenheit zu jenen geistvollen impromptus, welche in einer kurzen Spanne Zeit mehr Belehrung dies

die

bieten erstaunt

gelehrtesten

vermögen.

und

Wer

ihn

fleissigsten

gewährten, als

Sammelwerke

aber genauer k a n n t e ,

je der

zu war

Uber die wahrhaft furchtbare geistige K r a f t , mit der

e r in seiner langen Krankheit sich auch bei den zahlreichsten Operationen

aufrecht

erhielt.

e r aus dem

Operationszimmer,

Von Zeit zu Zeit machte

verschwand

sich eine Morphium-

Injektion, und operirte weiter, wie in gesunden Tagen.



Nächst seiner Privatklinik und nächst dem Archive bildeten die Berliner ärztlichen Vereine das F o r u m , auf welchem G r a e f c die neuen ophthalmologischen Lehren verkündete, und f ü r deren weitere Verbreitung nach Kräften zu wirken suchte. Neben den älteren medicinischen Gesellschaften, der 11 u f e l a n d ' s c h e n u . s. w., halte sich in Berlin am 10. December 1844 eine n e u e gebildet: „ d i e Gesellschaft f ü r wissenschaftliche Medicin", deren ausgesprochener Zweck die „ F ö r d e r u n g wissenschaftlich-praktischer B e s t r e b u n g e n " w a r , u n d deren Sil/.ungs-Protokolle vom J a h r e 1 8 5 0 ab in G ö s c h e n ' s „Deutscher Klinik" veröffentlicht w u r d e n . In der Sitzung vom 16. August 1 8 5 2 war G r a e f e als Gast anwesend, und w u r d e , in Anknüpfung an einen Vortrag Uber „ d i e physiologischen und therapeutischen Wirkungen continuirlichcr und intermittirender S t r ö m e " , welchen der b e w ä h r t e Elektro - T h e r a p e u t Dr. M o r i t z M e y e r hielt, interpellirt: „ o b er einige E r f a h r u n g e n ü b e r die Wirkungen der Elektricität bei Behandlung von Augenkrankheiten gesammelt h a b e ? " G r a e f c , sich auf die zahlreichen in seiner Klinik angestellten Versuche b e r u f e n d , erklärte, „ e r habe g e f u n d e n , dass bei wirklichen H o r n h a n t narben die Elektricität so wenig f r u c h t e , wie alle a n d e r e n therapeutischen Agentien." Auf eine weitere Bemerkung „russische Acrzte hätten bei Pferden den Staar durch Elektricität aufgelöst", erwiederte G r a e f e , „ e r halte es f ü r möglich, aber die Einwirkung sei so b e d e u t e n d , dass oft eine



175

vollständige Chorioiditis f o l g e ; in

Petersburg

hnbc,

seien

ganz

in

einen

die V e r s u c h e , w e l c h e

dieser B e z i e h u n g

in letzter Zeit d u r c h

in V e r r u f

bruar 1853



gekommen."

hielt G r a e f e ,

Vortrag

über



bei

Crussel

Menschen

angestellt

die vielen t r a u r i g e n In

Folgen

d e r S i t z u n g vom 2 1 . F e -

b e r e i t s als Mitglied d e r Gesellschaft,

„Prismatische

Brillen,

als

Beitrag

zur

Orthopädie des A u g e s " , n a c h d e m e r z u v o r 3 K r a n k e vorgestellt h a t t e , und z w a r einen mit t e t a n u s

traumalicus

des linken

A u g e s b e h a f t e t e n j u n g e n Mann v o n 2 3 J a h r e n , an w e l c h e m die s u b c u t a n e D u r c h s c h n e i d u n g

des

n. supraorbitalis

mit

er Er-

folg v e r r i c h t e t hatte, und zwei F ä l l e von „ L ä h m u n g des O c u l o m o t o r i u s , von denen der eine zugleich eine L ä h m u n g des o b e r e n schiefen A u g e n m u s k e l s d a r b o t , d e r a n d e r e n i c h t . " Patienten

wurde

zunächst

s u p . das A u g e nach » i n t e n a u s d e r A r b e i t von B u s c h und

innen."

lich

ausgesprochenen



bewiesen,

„dass

und a u s s e n

der

obliquus

rolle, und n i c h t ,

hervorzugehen scheint, nach

In d e r s e l b e n Wunsch

Sitzung wurde des

Professor

a u f den

wie oben

brief-

Stromeyer

Kiel z u r P r ü f u n g s e i n e r T h e o r i e der „ E n t s t e h u n g in F o l g e e i n e r P a r a l y s e

An diesen m.

in

der S c o l i o s i s

der I n s p i r a t i o n s m u s k e l n " eine C o m m i s -

sion g e w ä h l t , w e l c h e r n e b e n

du B o i s - U c y m o n d ,

T r a u b e und von L a n g e n b e c k

Biihring,

auch G r a e f e angehörte.

Von

dieser Zeit an datirt das w a h r h a f t collegialc und w a h r h a f t f r e u n d s c h a f t l i c h e V e r h ä l t n i s G r a e f e ' s zu T r a u b e beck,

das

ohne

jede Störung

bis

In d e r S i t z u n g vom 2 1 . März 1 8 5 3 Meyer

in B e z u g

mit L ä h m u n g denselben heilt

nach

gesehen

gestellt des

dem

inneren

tuosen

„er ge-

vollkommen

Die D i a g n o s e

auf

lokale

sei

Apoplexie

die K u r h a b e in w i e d e r h o l t e r Blutegels,

Gebrauche

Fomenlationcn

Kranken dass

Kur

und

künstlichen

bestand.

dreiwöchentlichen

habe.

gewesen,

tion

vorgestellten

n. o c u l o i n o t o r i u s und t r o e h l e a r i s ,

einer

Langen-

b e m e r k t e dann Dr. M o r i t z

a u f den von G r a e f e

des

und v o n

zu s e i n e m T o d e

Arteriotomie

des J o d k a l i u u i

bestanden."



und

der

Applica-

Teniporalis,

zuletzt in

Spiri-



176 —

In der Sitzung vom 27. Juli 1853 gab G r a e f e „die versprochenen Bemerkungen über die Operation des Schielens und deren Nachbehandlung." In diesem Vortrage entwickelte er kurz und präcis alle diejenigen Grundsätze, welche ihn bei seinen Schieloperationen leiteten, und welche er — wie bereits erwähnt worden — später im Archiv ausführlich dargelegt hat, wobei er noch besonders auf die „Faden-Operation" aufmerksam machte. Obgleich sich keine Discussion e r h o b , nur der Vorsitzende der Gesellschaft „im Namen derselben fiir diesen Vortrag dankte, n a m e n t l i c h w e i l d e r s e l b e e i n e O p e r a t i o n w i e d e r zu E h r e n b r i n g e , die b e i den meisten Aerzten so s e h r in M i s s c r e d i t gekomm e n s e i " — erblickte doch G r a e f e so viele zweifelnde Physiognomieen unter seinen Zuhörern, dass er sofort den Antrag stellte: die Gesellschaft wolle eine Commission zur Begutachtung dieser Operation niedersetzen. Diesem Antrage wurde zugestimmt und die Commission e r n a n n t , zu deren Mitgliedern auch Dr. W i l m s , Oberarzt im Krankenhause Bethanien, ein Freund und Studiengenosse G r a e f e ' s , gehörte. Dieser Commission stellte G r a e f e aus seiner klinischen und Privatpraxis ein reiches Material zu Gebote, operirte viele Wochen hindurch die einschlägigen Fälle nur in ihrem Beisein, gab den Mitgliedern derselben jede nur irgend gewünschte Auskunft und jede Gelegenheit, sich von dem Heilungsprocesse und der Nachbehandlung durch eigene Prüfung fortlaufend zu überzeugen, und hatte schliesslich die Genugthuung, in dem der Gesellschaft abgestatteten Commifsionsberichte seine Verdienste um die Schieloperation im vollsten Maasse anerkannt und gewürdigt zu sehen. Dieser Bericht, welcher wörtlich in G o e s c h e n ' s Deutscher Klinik No. 5, 6, 7 und 8 des Jahrganges 1855 abgedruckt i s t , beginnt mit einem sehr eingehenden und delaillirten Abrisse der Geschichte der Schieloperation von D i c f f e n b a c h an:, zählt dann mit gleicher Ausführlichkeit die von der Commission



177



untersuchten und in ihrer Gegenwart operirten Fälle auf, und endet mit den folgenden Schlusssätzen: „Fassen wir nun die Resultate unserer Beobachtungen zusammen, so müssen wir zuvörderst hervorheben, dass wir eine direkte gefährliche Folge der Operation, sei es eine Blutung, eine heftige oder lange anhaltende Entzündung, sei es endlich ein entstellendes Schielen nach der entgegengesetzten Seite, in keinem der von uns verfolgten Fälle wahrgenommen haben. Im Gegentheil war der operative Eingriff in allen Fällen so leicht, dass die Kranken nur wenige Tage das Bett zu hüten und antiphlogistisch behandelt zu werden brauchten; die Conjunctiva-Wunden heilten in 2 — 5 Tagen, und nur selten stellten sich knopfartige Wucherungen ein, gegen welche indessen eine specielle Behandlung, selbst nach den Faden - Operationen, nicht erforderlich war. Dieselben schwanden vielmehr nach 8 — 1 4 Tagen von selbst, ohne sich aufzuwulsten und polypenähnliche Excrescenzen zu bilden, wie man sie wohl dann zu sehen pflegt, wenn ein an der sclerotica zurückgebliebener Muskelstumpf sich degenerirt. Auch die Rothe, der Bindehaut an der Operationsstelle war immer nur unerheblich und von kurzer Dauer, ohne die Anwendung adstringirender Augenwässer zu erheischen. Was die beabsichtigte Besserung in der Stellung der Augen betrifft, so ist uns, wie schon bemerkt, eine solche Abweichung nach anderer Seite, dass dadurch ein entstellendes Schielen bewirkt würde, nicht vorgekommen. Es trat zwar nach der Durchschneid ung des Rectus internus in einzelnen Fällen (9, 13, 14, 15, 19) eine leichte Divergenz bei gewissen Richtungen der Sehaxen ein (besonders beim Blick nach oben), indessen verschwand dieser Excess in der Wirkung der ersten Operation vollständig während der gymnastischen Nachbehandlung. Die Convergenz, welche noch in einigen Fällen zurückgeblieben war (12, 16, 17), wurde meistens als ein erwünschter Beweis der ungeänderten BewegMichaelis,

A . von Graefe.

12

— lichkeit

nach

innen

178



nach geschehener

Rectus internus begrüsst,

und

Durchschneidung

die Aufhebung dieses

des

Schön-

heitsfehlers theils der gymnastischen Nachbehandlung überlassen, theils

einer

Ausnahme

späteren einiger

Operation

weniger

vorbehalten.

Fälle

überall

Denn eine

da

mit

vollkommen

richtige Stellung der Augen erreicht worden ist, kann die Behauptung

als erwiesen betrachtet werden,

dass,

durch einmalige, so doch durch mehrmalige des contrahirten

Muskels

oder

durch

wenn

nicht

Durchschneidung

Ausführung

derselben

Operation an dem anderen Auge ein richtiger Stand der Sehaxen

zu

flüssige

erzielen

Lust

ist.

Es ist nämlich keineswegs eine über-

am Operiren darin zu erblicken,

dass der Ope-

rateur die Tenotomie an beiden Augen verrichtet, wenn auch nur eins das vorzugsweise schielende ist, denn einerseits prävalirt der Strabismus beim Schielen beider Augen immer auf Einem,

dann

aber

ist

es keineswegs richtig, dass nach der

Operation des einen Auges sich das andere von selbst gerade stelle, endlich

ist der günstige Erfolg gesicherter, wenn man

die gewünschte Operationswirkung weil die Operation

auf beide Augen vertheilt,

dann auf keinem

von beiden so excursiv

zu sein braucht, als wenn sie an einem allein geübt würde. Aus diesen Gründen ist bei den vorstehend angeführten Fällen von Strabismus alternans und fast bei allen von Strabismus incongruus

die Operation auf

beiden Augen verrichtet.

Kann

man daher die richtige Stellung der Augen als eine in allen Fällen erreichbare Wirkung der Operation bezeichnen, so folgt schon hieraus,

dass

die

durch

das Schielen

als solches be-

dingte Entstellung durch die Operation aufzuheben sein muss. W a s diejenige Entstellung betrifft, welche von dein Einsinken der caruncula l a c r i m a l i s ,

von

dem Herabsinken

des unteren

Augenlides und dadurch bedingten tieferen Stande eines Auges, von leichteren Graden des exophthalmos a b h ä n g t ,

so ist die-

selbe gewöhnlich doch weit geringer, als der Strabismus, und lassen sich

diese Uebelstände ebenfalls in den meisten Fällen



179



durch eine geeignete Nachbehandlung beseitigen. Der mit Strabismus divergens in Folge zu excessiver Durchschneidung des rectus internus complicirte exophthalmos wird übrigens, wie die beiden letzten Fälle (22, 2 3 ) zeigen, durch die Geradestellung der Augen wesentlich gebessert, und kann wesentlich dadurch unmerklich gemacht werden, dass eine harmonische Hervortreibung beider bulbi hergestellt wird ( 2 3 ) . Die Beweglichkeit der Augen darf ferner durch die Operation nur gewinnen, nicht leiden, und in der That sehen wir an allen unseren Beobachtungen, dass die Beweglichkeit höchstens um 2 Linien hinter dem Normalen zurückgeblieben ist, überall aber zugenommen hat. Was ferner den Einfluss der Operation auf das Sehvermögen betrifft, so haben sich unsere Untersuchungen nur auf solche Fälle beschränkt, in denen eine Störung des Sehvermögens Folge oder Complication des Strabismus war, denn als ein Heilmittel der amblyopie als solcher wird jetzt wohl von Niemandem mehr die Durchschneidung der Augenmuskeln ausgeführt. Das Doppeltsehen zunächst ist unbedingt durch die Operation zu heben, denn es beweiset, dass das Sehvermögen auf beiden Augen noch normal ist, und verschwindet bei richtiger Stellung der Sehaxen vollkommen (Fall 5). Nach der Operation eintretende Diplopie ist durch eine consequente gymnastische Nachbehandlung zu heben. Auch das von Incongruenz der Netzhäute abhängige Doppeltsehen verschwindet nach der Operation, muss aber einer besonderen Behandlung unterworfen werden (7, 10). Die Sehweite und die Deutlichkeit des Sehens hat sich fast in allen von uns beobachteten Fällen gesteigert, und bei einigen ist sogar in das vorher völlig amblyopische Auge ( 2 3 ) wieder einiges Sehvermögen zurückgekehrt. Auf sehr alte Leucome der Hornhaut haben wir einen resorbirenden Einfluss der Operation, wie auch wohl behauptet worden ist, nicht wahrgenommen, dennoch

12*



180



aber ist auch in solchen Fällen die Entstellung gemindert worden ( 2 1 ) , ohne freilich von einer erheblichen Besserung des Sehvermögens begleitet gewesen zu sein. Sollen wir schliesslich ein Urtheil über den Werth der Schieloperation abgeben, so lässt sich dieses in folgenden Sätzen zusammenfassen: 1) Die Operation vermag, unter richtiger Vorausberechnung ihrer Endwirkung, in a l l e n Fällen von Schielen ohne Ausnahme, eine wesentlich gebesserte, wo nicht vollkommen richtige Stellung des Augapfels zu erzielen. Weder Strabismus fixus, directus, noch paralyticus bildet eine Contra-Indication. 2) Grösse, Richtung und Ort des Bindehautschnittes, Umfang der Ablösung des Muskels von der Bindehaut der sclerotica und der T e n o n ' s c h e n Kapsel können so combinirt werden, dass die Operationswirkung gleich Null oder übermässig gross wird. 3) Von dem wesentlichsten Einflüsse auf den Erfolg ist die Nachbehandlung durch Augengymnastik und Brillen. 4) Die Besserung der Fixation, der Accommodation und der Deutlichkeit des Sehens wird in allen Fällen erreicht, in welchen die amblyopie noch nicht bis zu einem sehr hohen Grade gediehen ist. Selbst Incongruenz der Netzhäute verbietet die Operation nicht, muss aber Gegenstand einer besonderen Nachbehandlung sein. Wenn bei sehr umfänglichen Hornhauttrübungen bereits Aberration der Sehaxen stattfindet, so kann der kosmetische Zweck erreicht werden, doch ist die Besserung des Sehvermögens nicht zu erwarten. Schliesslich ist es der Commission eine angenehme Pflicht, den Antrag an die verehrte Gesellschaft zu stellen, dieselbe wolle dem Herrn v. G r a e f e einen Dank votiren für seine unermüdliche Bereitwilligkeit in der Beschaffung der für die Berichterstattung nothwendigen Operationsfälle." — Der Name G r a e f e als Vortragender erscheint noch oft



181



in den Protokollen der „Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin" bis zur Auflösung derselben. Die Stürme des Jahres 1848 hatten auch die Berliner Aerzte, wenigstens die jüngeren, aufgerüttelt, etwas ernstliches zu thun zur Wahrung ihrer Standes- und materiellen Interessen. So bildete sich im Jahre 1849*) „zur Beförderung des ärztlichen Gemeinsinnes, zur Wahrung der Standesehre und der Gerechtsame der Standesgenossen, sowie zur Besprechung wissenschaftlicher Gegenstände" die „Association Berliner Aerzte." Am 19. Februar 1858 nahm die Association, unter Abänderung ihrer Statuten, die Bezeichnung „Verein Berliner Aerzte" a n , und traten nunmehr die wissenschaftlichen Bestrebungen in den Vordergrund. Unter G r a e f e ' s Vorsitz entwickelte sich der Verein auf das kräftigste, so dass ihm Ausgangs der fünfziger Jahre bereits 175 Mitglieder angehörten. Die Sitzungs-Protokolle wurden in der „Allgemeinen medicinischen Central-Zeitung" veröffentlicht. Die „Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin" und der „Verein Berliner Aerzte", von gleichem Streben beseelt und geleitet, erkannten bald, dass ihre Verschmelzung im allgemeinen Interesse geboten sein dürfte, um ein regeres Zusammenleben der Collegen hervorzurufen und für die Aerzte Berlin's eine erhöhte Bedeutung zu erlangen. Sie vereinigten sich, indem sie sich aller Sonderinteressen entkleideten, zu einer gemeinsamen Körperschaft, der „Berliner medicinischen Gesellschaft", welche ihre erste Sitzung am 31. Oktober 1860 hielt, und durch eine Rede B. v. L a n g e n b e c k ' s eröffnet wurde. Nachdem V i r c h o w die auf ihn gefallene. Wahl abgelehnt hatte, wurde G r a e f e Vorsitzender der Gesellschaft und blieb es bis zu seinem Tod. Auch der H u f e l a n d ' s c h e n ärztlichen Gesellschaft gehörte er später als Mitglied an. *) R i g l e r .

Das medicinische Berlin, S. 376 ff.

— Bereits

zu Anfang

Schüler G r a e f e ' s , Wirkungskreis



des Jahres

1857

fühlten

die ersten

welche sich einen eigenen augenärztlichen

ges6haffen

Theile ebenfalls stand,

182

hatten,

und denen

zum

grössten

ein bedeutendes Kranken-Material zu Gebote

das Bedürfniss,

sowohl

mit

ihrem Lehrer

wie auch

unter einander periodisch zusammen zu kommen, um brennende wissenschaftliche Fragen

mündlich

zu besprechen,

und

sich

durch ungestörten Austausch der Meinungen gegenseitig anzuregen.

Mit gewohnter Lebhaftigkeit

ging G r a e f e auf diesen

Plan, sobald er ihm mitgetheilt wurde, ein, und schlug Heidelberg

als Versammlungsort,

tätsferien vor.

Bot nun

4 . September 1 8 5 7

als Zeit aber die Herbst-Universi-

die

erste Versammlung vom 2. bis

durch die Uberwiegende Herzlichkeit und

Innigkeit

der

das Bild

eines Familien - Congresses

Beziehungen

zwischen

den Anwesenden

mehr

so war die

zweite

Versammlung an denselben Tagen des Jahres 1 8 5 8 —

schon

in äusserer Erscheinung



dar,

ein wissenschaftlicher Congress,

dem beizuwohnen einzelne selbst

eine weite Reise nicht

scheut hatten,

eine

und an

dem

sich

aus Heidelberg selbst betheiligten. den letzteren war H e l m h o l t z ,

grosse

Anzahl

ge-

Gäste

Der hervorragendste unter

dem am Schlüsse der Sitzungen

von den versammelten Ophthalmologen ein silberner Pokal mit entsprechender Inschrift als Ausdruck aufrichtiger Hochachtung, Verehrung

und

Dankbarkeit

kurzen Dankesrede

überreicht

betonte H e l m h o l t z ,

öffentliche Anerkennung

sei,

welche

des Augenspiegels zu Theil werde.

wurde. dass

In

seiner

dies die erste

ihm für die Erfindung

Aus diesen Versammlungen

bildete sieh Anfang der sechziger Jahre die „Ophthalmologische Gesellschaft", welche jährlich an demselben Orte und zu derselben Zeit tagt,

und ihre Sitzungs-Protokolle ebenfalls jähr-

lich erscheinen lässt.



Sowohl auf dem ersten „Periodischen internationalen ophthalmologischen

Congresse"

im

auf dem zweiten im Jahre 1 8 6 2

Jahre 1 8 5 7

in

Brüssel,

in Paris war G r a e f e

wie einer



183



der Vorsitzenden; auf dem dritten im Jahre 1 8 6 7 ebenfalls in Paris abgehaltenen wurde er einstimmig zum ersten Präsidenten des Congresses erwählt, und ist der im Drucke erschienene Compte rendu der Sitzungen mit seinemund H e l m h o l t z ' s Bildnisse geschmückt. So durchaas befriedigt G r a e f e die jährlichen Heidelberger Versammlungen verliess, so wenig entsprachen — wiederholten mündlichen Aeusserungen von ihm zufolge — die auf jenen Congressen zu Tage getretenen wissenschaftlichen Ergebnisse dem grossen Aufwände von Mühe und Zeit, welche dieselben an die Theilnehmer stellten. Im höchsten Grade bezeichnend ist in diesem Sinne die Rede, mit welcher er die Sitzungen des dritten Congresses eröffnete, und welche also lautete:*) Messieurs! J e commence par remercier,' au nom de la science, les nombreux confrères, accourus des points les plus éloignés de l'Europe, pour apporter le tribut de leur savoir et de leur expérience à une branche des connaissances médicales qui, heureusement, n'a plus ses preuves à faire. Mais, le temps dépensé dans de si longs voyages doit doubler le prix de celui qui reste à mettre en oeuvre. J e conjure donc les membres du Congrès d'avoir devant les yeux ce prix inestimable du temps et de se rappeler constamment l'importance de l'assemblée devant laquelle ils parlent. J e les engage à être aussi empressés â ouvrir les trésors de leur expérience et de leurs méditations que sevrer sur la communication des détails superflus. A ces fins, ils devront se montrer judicieux dans le choix de leurs sujets, sobres dans la manière de les traiter, habiles à mettre en lumière les points principaux, concis dans le développement des questions. Pour moi, Président, gardien du temps de tous, j e m'im*) Congrès Périodique International d'Ophthalmologie. Compterendu etc. etc. 3 e Session. 2