Made in Hessen: Globale Industriegeschichten
 9783534300068, 9783534300075, 3534300068

Table of contents :
Cover
Impressum
Ausstellungsimpressum
Vorwort
Inhalt
Einführung
Ingo Köhler/Christina Reinsch: Für die Welt gemacht, in Hessen bewahrt
Christian Kleinschmidt: „Made in Hessen“ – globale Industriegeschichten
Sigrid Ruby: Zur Schau gestellt: Industriedesign „Made in Hessen“
Themen der Ausstellung
Christina Reinsch/Katharina Fuhrhop: Funktionalität auf kleinstem Raum
„Haarer Schütte“
Sell Auftauofen
Amalka Hermann: Effizient ernährt
Zehn Glasgefäße mit verschiedenen Bestandteilen von Mineraldünger
Liebig-Bilder-Serie 902: Geschichte der Masse und Gewichte 5
Ingo Sielaff: Hochspannung in Hessen
Plakat zur Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung, 1891
Braunkohlekraftwerk Borken, Postkarte aus den 1950er Jahren
Bärbel Maul: Konkurrenz belebt das Geschäft?
Zwei Mineralwasser-Krüge, ca. 1866
Kreuzrahmenrad von Adler, ca. 1888
Werbeplakat von Max Bittrof für Opel-Fahrräder, ca. 1928
Franziska Kurt: Meister der Form
Lithographie-Stein mit Mozart-Noten und Konvolut von für den Flachdruck notwendigem Arbeitsmaterial
Christian Neureuther, Zierteller aus Wächtersbacher Steingut, um 1903
Bugholzstuhl 214, Entwurf von Paul Stanoßek, 1960, Esche, schwarz lackiert
Phonogerät „Braun SK 5“, 1958, Holz, lackiertes Metall, Acrylglas
Franziska Kurt: Kleines Land – Große (Heil-)Wirkung
Antidiphterieserum-Apothekerdose, um 1920, Porzellan
Myo-Salvarsan, um 1930, Originalverpackung mit Ampulle und Beipackzettel
Pyramidon, ca. 1925–1960
Katgut A. Jodfreies Steril-Katgut, fein. Firma B. Braun, Originalverpackung vom 11. September 1917
Julia Schopferer: Glück und Geologie
Schmelztiegel und Salbenkruken, 1970er Jahre bis 2021
Polierte Probe des Lahnmarmors der Varietät „Estrellante“
Moderne Fliesen der Firma GAIL Ceramics International GmbH, 2010er Jahre
Kirsten Hauer: Experten für Durchblick
E. Leitz, Fotoapparat Leica IA, 1925
W. & H. Seibert, Mikroskop, 1879
Carl Hensoldt, Fernglas, 1905
Katharina Weick-Joch: Ein Meister im Netzwerken: Justus Liebig
Modell des Liebig-Laboratoriums, 2021
Exsiccator, um 1880
Papaverin, Nachbildung Mitte des 20. Jahrhunderts
Sammelkarte „Horsford’s Bread Preparation“, um 1890
Hendrik Pletz: Moderne Zeiten – neue Materialien
Zwei Broschen aus Elfenbein bzw. thermoplastischem Kunststoff, 1935
KLIKK Besteck-Set 3-teilig und Proben des recycelten Rohmaterials, 2022
Kaleidoskop der Champions
Hendrik Pletz: Kaleidoskop der Champions
Hüte der deutschen Olympiamannschaft der Firma Wegener, 2000
Normbrunnenflasche für Mineralwasser, 2022
Zementsack der Firma Dyckerhoff, um 1880
Heliotrop der Firma Breithaupt, 1843
Heizkessel der Firma Buderus, um 1920
Kautabakdose der Gail’schen Zigarrenfabrik, um 1880
Schreibmaschine „Adler 7“, um 1920
Farbmuster-Fächer für Wursthüllen der Firma Kalle, 2001
Seife der Firma Kappus, um 1970
Motorrad „Regina“ der Firma Horex, 1951
Transportkoffer der Zuse KG mit Bauteilen verschiedener Rechner-Generationen, 1938–1961
Fahrradreifen der Firma Peters Union, um 1912
Funkeninduktor mit Wagnerschem Hammer, um 1950
Plexiglashaube eines Wehrmachtsflugzeugs der Firma Röhm & Haas, um 1940
Modell einer Kondenslokomotive der Firma Henschel, 1953
Dose für Babynahrung der Firma Milupa, 1964
Anilinfarbe der Firma Oehler, um 1890
Anhang
Ausgewählte Literatur
Funktionalität auf kleinstem Raum
Effizient ernährt
Hochspannung in Hessen
Konkurrenz belebt das Geschäft?
Meister der Form
Kleines Land – Große (Heil-)Wirkung
Glück und Geologie
Experten für Durchblick
Ein Meister im Netzwerken: Justus Liebig
Moderne Zeiten – neue Materialien
Danksagung
Backcover

Citation preview

Die Wanderausstellung „Made in Hessen. Globale Industrie-

geschichten“ zeigt bekannte und auch bislang kaum gesehene Erfindungen, die sich aus der Region den Weg in die Welt

bahnten. Ob Mineralwasser oder Medizinpräparate, Keramik

ten Produkte stehen für Erfindergeist, unternehmerische Verve und innovatives Design. Der Begleitband gibt Einblicke in die große Bandbreite hessischer Industrieproduktion im 19. und

20. Jahrhundert. Einführende Texte und ausgewählte Exponate veranschaulichen, wie intensiv die hessische Wirtschaft in die historische Entwicklung einer zunehmend global vernetzten

Welt eingebunden war und ist. Es geht um spektakuläre Erfolgsgeschichten, aber auch um ambivalente Brüche im Zeitalter der Moderne.

made in Hessen · Globale Industriegeschichten

oder Kameras – diese zum Teil bis heute international gefrag-

Hessisches Wirtschaftsarchiv Museumsverband Hessen Christian Kleinschmidt Sigrid Ruby (Hgg.)

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-30006-8

978-3-534-30006-8 Cover Made in Hessen 2023_02_17.indd 1

22.02.23 09:50

Herausgegeben von Hessisches Wirtschaftsarchiv Museumsverband Hessen Christian Kleinschmidt Sigrid Ruby Made in Hessen

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. © 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Wir danken der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen für die Förderung des Begleitbandes.

Redaktion: Christian Kleinschmidt, Ingo Köhler, Marie Moos und Sigrid Ruby Layout, Satz und Prepress: SatzWeise, Bad Wünnenberg Umschlaggestaltung: schreiberVIS, Seeheim, mind the gap! design – Christoph Grundmann, Frankfurt a. M. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in EU Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-30006-8 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-30007-5

Herausgegeben von Hessisches Wirtschaftsarchiv Museumsverband Hessen Christian Kleinschmidt Sigrid Ruby

Made in Hessen Globale Industriegeschichten

AUSSTELLUNGSIMPRESSUM Ein Ausstellungsprojekt von Oberhessisches Museum Gießen Stadt- und Industriemuseum Rüsselsheim Hessisches Braunkohle Bergbaumuseum Borken Haus der Stadtgeschichte Offenbach Hessisches Wirtschaftsarchiv Museumsverband Hessen Projektleitung Dr. Bärbel Maul, Christina Reinsch, Katja M. Schneider, Ingo Sielaff, Dr. Katharina Weick-Joch Projektkoordination Katharina Fuhrhop, Elke Schimanski Kuratorinnen und Kuratoren Katharina Fuhrhop, Kirsten Hauer, Amalka Hermann, Friedhelm Krause, Franziska Kurt, Dr. Bärbel Maul, Dr. Hendrik Pletz, Christina Reinsch, Katja M. Schneider, Dr. Julia Schopferer, Ingo Sielaff, Dr. Katharina Weick-Joch Wissenschaftliche Beratung und Recherche Dr. Ulrich Eisenbach, Prof. Dr. Christian Kleinschmidt, apl. Prof. Dr. Ingo Köhler, Lea Lachnitt, Marie Moos, Prof. Dr. Sigrid Ruby

Kooperation Städtische Museen Wetzlar, Dr. Anja Eichler Förderung Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst / Museumsverband Hessen

Gestaltung und Produktionsmanagement mind the gap! design, Frankfurt am Main Palais 22 Interior Design GmbH, Frankfurt a. M. Studio Schermelleh, PartGmbB Architektur Innenarchitektur, Heusenstamm Ausstellungswebsite Zum Kuckuck GmbH & Co. KG, StudioKrimm, Berlin Exponatfotografie und Reproduktionen Tobias Koch: 6; Thomas Lemnitzer Fotografie: 63, 80, 81, 87–90, 128 unten, 133 rechts; Frank Möllenberg: 64, 67, 68, 75–77, 93–95, 99, 101, 102, 105–107, 109–110, 123–132, 133 links; Braun P&G / Braun Archiv Kronberg: 84; Thonet GmbH: 83; Horst Ziegenfusz: 71

Grußwort des Schirmherrn Ministerpräsident a. D. Volker Bouffier Unser Bundesland Hessen liegt nicht nur im Herzen der Bundesrepublik, es ist auch eng verflochten mit dem weltweiten Austausch von Wissen und Waren – und das nicht erst seit der Begriff „Globalisierung“ in aller Munde ist. Produkte, Marken und Ideen aus Hessen nahmen seit dem Zeitalter der Industrialisierung und teilweise auch schon früher ihren Weg in die Welt. Und bis heute knüpfen viele Unternehmen erfolgreich an den Innovationsgeist vorheriger Generationen an. Seien es Kameras oder Mineralwasser, Designklassiker oder Medizinprodukte, Schneiderkreide oder Kunststoffe – Hessen ist reich an bahnbrechenden, manchmal aber auch unscheinbaren Erfindungen, die bisweilen nur eine kurze Konjunktur erlebten und wieder vom Markt verschwanden. Es ist die Stärke dieser Wanderausstellung „Made in Hessen. Globale Industriegeschichten“, dass sie uns diesen industriekulturellen Reichtum vor Augen führt. Sie begibt sich auf Spurensuche, ausgehend von den Objekten, die in den Museen und Sammlungen hessenweit bewahrt werden. Anhand dieser Zeugnisse unseres industriegeschichtlichen Erbes wird erlebbar, wie vielfältig die dahinterstehenden Geschichten sind. Sie zu erzählen, bedeutet aber auch, die wirtschaftlich-technologischen wie die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Blick zu behalten. Sie bilden die Hintergrundfolie für Erfolge und für deren Schattenseiten. Auch wenn nur ein Ausschnitt aus dem großen Spektrum der bekannten Champions und der unbekannteren, in Produktnischen erfolgreichen Hidden Champions aus Hessen gezeigt werden kann, gilt es eine Bandbreite an Themen und Objekten sowie unerwarteten Verbindungen zu entdecken. Die gezeigten Beispiele führen eindrücklich vor Augen, wie Innovation und Kreativität als Motor für Industrie und Wirtschaft fungieren. Sie gestatten es zudem, Hessen in der Gesamtheit seiner historisch gewachsenen und unter spezifischen Voraussetzungen entstandenen Wirtschaftsregionen kennenzulernen. Mit den beteiligten Institutionen hat sich ein Netzwerk aus Akteuren und Akteurinnen zusammengefunden, die erstmals in dieser Konstellation ein solches

GRUẞWORT

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Ausstellungsprojekt modellhaft in die Tat umgesetzt haben und deren Anliegen es war, diese Schätze zu heben und für eine landesweite Sichtbarkeit zu sorgen. Dieses ist umso wichtiger, als uns ein hessisches Industriemuseum fehlt. Aber immerhin: Die digitale Ausstellung, die sich parallel im Internet findet, bleibt auch dauerhaft erhalten und ist um weitere Produkte der Vergangenheit und vielleicht auch der Zukunft erweiterbar. Ich danke als Schirmherr allen Beteiligten für ihr Engagement und die Initiative zur Aufbereitung dieses spannenden Kapitels hessischer Gegenwart und Vergangenheit. Der Ausstellung, der Publikation und ihren digitalen Ablegern wünsche ich zahlreiche Besucher und Besucherinnen.

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung

Für die Welt gemacht, in Hessen bewahrt. Eine Gemeinschaftsausstellung zu historischen Schätzen der Wirtschaft

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Zur Schau gestellt: Industriedesign „Made in Hessen“ . . . . . . . . . . . . . . .

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Ingo Köhler/Christina Reinsch

„Made in Hessen“ – globale Industriegeschichten Christian Kleinschmidt

Sigrid Ruby

Themen der Ausstellung

Funktionalität auf kleinstem Raum

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Christina Reinsch/Katharina Fuhrhop

Effizient ernährt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Amalka Hermann

Hochspannung in Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ingo Sielaff

Konkurrenz belebt das Geschäft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bärbel Maul

Meister der Form Franziska Kurt

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Kleines Land – Große (Heil-)Wirkung

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Franziska Kurt

Glück und Geologie Julia Schopferer

Experten für Durchblick

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Kirsten Hauer

Ein Meister im Netzwerken: Justus Liebig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Katharina Weick-Joch

Moderne Zeiten – neue Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Hendrik Pletz

Kaleidoskop der Champions

Kaleidoskop der Champions

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Hendrik Pletz

Anhang

Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Einführung

Für die Welt gemacht, in Hessen bewahrt. Ingo Köhler/Christina Reinsch

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Die Debatten um das Wohl und Wehe der Globalisierung sind allgegenwärtig. Mit Schlagworten wie globale Verflechtung, Digitalisierung oder Industrie 4.0 verbinden wir Erfahrungen tiefgreifenden Wandels. Transnationale Waren-, Finanz- und Wissensströme bieten für die Arbeits- und Alltagswelt der Menschen vielfache Chancen, aber auch Herausforderungen. Die Globalisierung entfaltete sich in Pfaden, Wellen und Brüchen schon in der Vormoderne und nahm mit Beginn des Industriezeitalters vor rund 200 Jahren rasant an Fahrt auf. Sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, kann somit Orientierung bieten, um sich der Zukunft zu stellen. Im Verbund mit den Umwälzungen der Industrialisierung traten Phänomene der Globalisierung auch in Hessen früh in Erscheinung. Die Enge der Vormoderne, die Ständegesellschaft des Feudalismus, die territoriale Kleinstaaterei und die provinzielle Wirtschaft des Merkantilismus brachen mit dem Siegeszug von Industrie auf. Mit einem schier grenzenlosen Fortschrittsoptimismus betrachteten private Unternehmerinnen und Unternehmer die Welt als ihr neues Spielfeld. Der ehedem lokale Markt der Landwirtschaft und des Kleingewerbes wurde für sie zu einem globalen Markt der Möglichkeiten, der durch den möglichst freien Austausch von Arbeitskräften, Waren und Wissen Gestalt annehmen sollte. 1 Und wer somit die Geschichte Hessens von der beginnenden Industrialisierung um 1800 über das Zeitalter der Massenproduktion im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bis heute betrachtet, stellt fest: In beständigem Wandel, global beeinflusst, überregional vernetzt und mit innovativem Enthusiasmus gesegnet, sind die Hessinnen und Hessen in allen Landesteilen schon lange. Man mag sich angesichts der auch gegenwärtig vielen offenen Zukunftsfragen mit der Erfahrung aus der Geschichte trösten, dass der Wandel zur Normalität in der Entwicklung der Weltwirtschaft gehört. Sich mit den verwinkelten Pfaden der Wirtschaftsgeschichte auseinanderzusetzen, heißt aber auch, die eigene Position unseres Landes, unserer Regionen, im Prozess der ökonomischen Ver-

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Eine Gemeinschaftsausstellung zu historischen Schätzen der Wirtschaft

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flechtung näher zu bestimmen. Nicht erst seit Beginn der industriellen Moderne ist die global ausgerichtete Wirtschaft ein wichtiger Teil der regionalen Identität Hessens geworden. Und als solche steht sie in einer permanenten Wechselbeziehung mit der Entwicklung von Kultur und Gesellschaft, Wissenschaft und Bildung, Arbeit und Umwelt. 2 Die Macherinnen und Macher der Ausstellung „Made in Hessen. Globale Industriegeschichten“ sind motiviert von der Idee, in kleinen Geschichten aus der Region die großen historischen Linien der Globalisierung einzufangen. Es geht darum, das Werden, Wachsen und Vergehen von heimischen Produkten, Marken und Unternehmen im Licht globaler Vernetzung zu betrachten. Hessen meint dabei das Gebiet des heutigen Bundeslandes und der seit dem Wiener Kongress etablierten hessischen Lande der beginnenden industriellen Moderne. Im Mittelpunkt unserer Darstellung stehen die Dinge, die von hier ihren Weg in die Welt fanden. Wir stellen Objekte aus dem hessischen Wirtschaftsleben der vergangenen zwei Jahrhunderte vor und nutzen die universelle Sprache ihrer Form, ihres Designs und ihrer Funktionsweise, um Sie, liebe Gäste und Lesende, die historische Welt von Produktion und Konsum neu entdecken zu lassen. Wir erzählen die Geschichten hinter den Produkten, stellen die Menschen und ihre Ideen vor, auf denen Erfindungen basierten, die ihnen internationalen Erfolg als Unternehmerinnen und Unternehmer bescherten. Nur selten war es eine Person allein, die eine Vision eines Objektes in die Tat umsetzte. So interessieren uns auch die Netzwerke, aus denen sich das Wissen und das Know-How speiste: die Kontakte zwischen Wissenschaft und Wirtschaft oder das Zusammenspiel von Kunst, Kultur und Funktionsanforderungen im Industriedesign. Gleiches gilt für die Kooperation zwischen Unternehmenden in regionalen Clustern oder auch innerhalb der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Firmenbelegschaften. Oft waren es erst ihre praktischen Fachkenntnisse, die den Ideen auf den Sprung in die Realisierung halfen. Erzählt wird von hessisch-findigen Anpassungsleistungen unter den Vorzeichen globaler Veränderungsprozesse. Einige historische Produkte und Personen werden Ihnen bekannt vorkommen, wie etwa die heute noch weltberühmten Markennamen aus Hessen: Buderus, Braun, Henschel, Leitz, Opel oder Selters. Und natürlich auch bahnbrechende Wissenschaftler und Erfinder wie Emil von Behring, Paul Ehrlich oder Justus Liebig, deren wegweisende Entdeckungen in Hessen zur Marktreife gebracht wurden. Daneben haben wir jedoch auch einige in den Museen und Archiven Hessens verborgene Schätze für unsere Expedition auf den globalen Pfaden der regionalen Wirtschaft zusammengestellt. Oder wussten Sie, dass im frühen

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19. Jahrhundert der Steindruck, die Lithographie, von Offenbach aus das Druckgewerbe revolutionierte? Dass Kunststoff aus dem Odenwald in jedem Haushalt der Wirtschaftswunderjahre zu finden war, Marmorkacheln von der Lahn das Empire State Building in New York zieren, oder dass sich ein Zwieback-Bäcker aus Friedrichsdorf aufmachte, Kleinkinder auf der ganzen Welt gesund zu ernähren? Diese kleinen und großen Geschichten, die uns die Objekte erzählen, machen die Ausstellung aus. Sie liefern neue Perspektiven, um die Verbindungslinien zwischen Regionalität und Globalität neu zu betrachten und dem hessischen Unternehmergeist auf die Spur zu kommen. „Made in Hessen“ verpackt diese historischen Geschichten in Themen-Container, um sie entlang der wichtigsten Entwicklungslinien von Industrialisierung und Globalisierung einzuordnen. Dies spiegelt sich nicht nur in der Ausstellungsgestaltung wider. Auch der Begleitband, den Sie in Händen halten, erzählt Geschichte anhand besonders eindrücklicher Objekte: Er umrahmt die Darstellung mit Eingangstexten, die helfen, das Gesehene zu erklären und in Verbindung zu setzen. Öffnet man auf diesem Wege die Türen der Container, so kommen die maßgeblichen Strukturen und Leitideen des hessischen Unternehmertums, dessen Erfolge, aber auch Rückschläge zum Vorschein. Der zweite Teil visualisiert die lokale Geschichte der Globalisierung anhand von exemplarischen Objekten, die entlang der Themenfelder ausgewählt sind. Anders als in einem klassischen Begleitband, entsteht hier eine eigene Erzählstruktur in ausdrucksstarken Bildern. Das Themencluster Funktionalität auf kleinstem Raum stellt die Rationalisierung als einen dieser Kristallisationspunkte vor. Am Beispiel der Frankfurter Küche und – in weiterer Steigerung – der bis ins Detail optimierten Flugzeugküchen der Firma Sell aus Herborn, zeigt sich, wie der Produktionsbetrieb unter der zeitgenössischen Devise „Zeit ist Geld“ auf Normierung und Effizienz getrimmt wurde – eine Vorstellung, die rasch Einzug in das Alltagsleben hielt und es maßgeblich beschleunigte. 3 Die Idee der Effizienz übertrug sich auch auf die Landwirtschaft, ausgehend von dem Ziel, der Geißel des Hungers Herr zu werden. Ernteausfälle und Mangelernährung quälten die Menschheit seit Jahrhunderten, in der Industrialisierungszeit spitzten sich Hunger und Armut durch ein starkes Bevölkerungswachstum sogar noch zu. Justus Liebig, Universitätsprofessor in Gießen, begründete mit seinen Studien die Agrochemie und ermöglichte damit die Mineraldüngung sowie die Gewinnung von Fleischextrakten. 4 Liebig war selbst kein Unternehmer, aber Wegbereiter einer industrialisierten Landwirtschaft, die praktische Lösungen für die drängende Frage bot, wie die Welt

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Effizient ernährt werden könnte. Mit Wintershall (später K+S) aus Kassel war es zunächst ein hessisches Kali- und Chemieunternehmen, das seine Ideen global vermarktete. Liebig steht als Ein Meister im Netzwerken zugleich für eine enge Verbindung zwischen Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, die seit Beginn der Industrialisierung auch und besonders in Hessen eine wichtige Signatur globaler Modernität bildet. Für die pharmazeutische Industrie agierte der Arzt und Immunologe Emil von Behring in Marburg als akademischer Gelehrter und zugleich Erfinderunternehmer. Seine Impfstoffe gegen Diphterie und Wundstarrkrampf waren sowohl medizinisch innovativ als auch wirtschaftlich erfolgreich. Um die Wende zum 20. Jahrhundert entfalteten sich in und um Hessen enge persönliche Netzwerke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Behring arbeitete bei seinen Entdeckungen etwa eng mit dem Erfinder der Chemotherapie Paul Ehrlich aus Frankfurt a. M. oder mit dem Bakteriologen Robert Koch aus Berlin zusammen. Die Farbwerke Hoechst a. M. förderten die Arbeit der Wissenschaftler, verfügten selbst über eine riesige akademisch geprägte Forschungsabteilung und brachten die Mittel als kommerzielle Produkte in die praktische Anwendung. 5 Wir schauen genau auf diese wissenschaftlich und wirtschaftlich wahrhaft Grenzen sprengenden Wissenscluster, auf deren Basis Hessen als Kleines Land – Große (Heil-) Wirkung erzielte. Die unverzichtbaren Werkzeuge wiederum, die den Forschenden einen unverstellten Blick auf den Kosmos der Naturwissenschaften ermöglichten, stammten gleich um die Ecke aus der Optikindustrie Wetzlar. Hier entstand im Umfeld der Gießener Universität eine Ansammlung feinmechanisch-optischer Werkstätten, die sich als technische Vorreiter in der komplexen Konstruktion von Mikroskopen, später auch von Fernrohren, Messgeräten und Kleinbildkameras etablierten. Leitz und Leica, Hensoldt und Seibert waren die Experten für Durchblick, aber nur die Speerspitzen eines hochspezialisierten und zugleich auf den Weltmarkt orientierten Industriedistrikts, in dem das Know-How in einem komplexen Spannungsfeld von unternehmerischer Kooperation und Konkurrenz zirkulierte. Wirtschaftlicher Erfolg war allerdings kein Selbstläufer, auch dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung und wird unter der Überschrift Konkurrenz belebt das Geschäft? konkretisiert. Unternehmerisches Handeln verband sich schon immer in der Geschichte mit dem Risiko zu scheitern, im Abb. 1: Blick in das Forschungslabor der Cassella Farbwerke Mainkur AG, 1965 (Foto: Hessisches Wirtschaftsarchiv)

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Wettbewerb von anderen überholt, kopiert und verdrängt zu werden. Dies galt umso mehr für den Schritt auf die globalen Märkte mit ihrer noch intensiveren Konkurrenz um Produktqualität, Kundengunst, Kosten und Ideen. Viele der bekannten hessischen Unternehmen der letzten 200 Jahre existieren heute nicht mehr oder sind längst – wie Hoechst und Seibert, Wella und der Elektrogerätehersteller Braun, der Versandhauskonzern Neckermann oder Rowenta – von größeren Wettbewerbern übernommen worden. Gerade in der jüngsten Phase der Globalisierung sind Unternehmen selbst zu schlichten Kaufobjekten auf dem globalen Markt der Investments geworden. Auch die Lohnkosten wurden in einem internationalen Wettkampf um die Industrieansiedlung zu einem immer größeren Standortfaktor, sorgten etwa dafür, dass ganze Branchen, wie zum Beispiel die Textilfertigung, aus Hessen und Deutschland verschwanden. Wenn das etablierte Geschäftskonzept durch bessere, innovativere oder günstigere Anbieter übertroffen wird und die Nachfrage schwindet, verlangt der Markt von den Unternehmen sich anzupassen oder abzutreten. 6 Wie sehr die Konkurrenz zugleich Herausforderung und Motivator sein kann, verdeutlicht das Beispiel der hessischen Weltmarke Selters. Als Mineralwasser, dessen Heilwirkung schon im 18. Jahrhundert wissenschaftlich bescheinigt wurde, war die ursprünglich aus einem Brunnenbetrieb aus Niederselters an der Lahn stammende Erfrischung nicht zuletzt aufgrund eines äußerst geschickten Marketings weltweit gefragt. Das Wasser wurde in immer gleichen, schnell erkennbaren Tonkrügen bis nach England oder in die USA geliefert. Selters wurde zum Inbegriff des Mineralwassers, was aber eine Fülle von Nachahmern zunächst aus dem heimischen Umfeld, später aus Sachsen und Preußen, auf den Plan rief. Die Marktführerschaft verwässerte, im wahrsten Sinne des Wortes, als die Konkurrenz mit ähnlichen Werbetechniken und moderneren Brunnen- und Abfüllanlagen den Markt überfluteten. 7 Auch das Fahrrad war Ende des 19. Jahrhunderts Objekt eines intensiven Wettbewerbs zweier schon damals weltbekannter Marken aus Hessen: Auf der einen Seite stand Heinrich Kleyer, der Gründer der Frankfurter Adlerwerke. Er machte das Fortbewegungsmittel in der breiten Gesellschaft populär, in dem er von dem ursprünglichen Hochrad auf die Fertigung der heute gängigen Niederrad-Varianten umstieg. Kleyer brachte das notwendige technische Verständnis mit, um sein neuestes Produkt unter anderem mittels Dunlop-Pneumatikreifen aufzuwerten. Dies machte das Radeln sicherer und bequemer. Auf der anderen Seite agierte Wilhelm Opel aus der bekannten Rüsselsheimer Unternehmerfamilie. Er setzte – wie auch später bei der Automobilherstellung – auf modernste Produktionsstätten und die Serienfertigung, um das Fahrrad als kostengünstiges

Abb. 2: In Indien wird Selterswasser aus Flaschen mit Kronkorken eingeschenkt, 1910 (Foto: Hessisches Wirtschaftsarchiv)

Fortbewegungsmittel zu etablieren. Arbeiteten die beiden Wettbewerber noch zusammen, wenn es darum ging, das Fahrradfahren zum Beispiel durch attraktiven Radsport zu popularisieren, trafen sie auf dem Markt mit ihren unterschiedlichen Geschäftskonzepten einer Qualitäts- bzw. Großserienfertigung hart aufeinander. Beide übertrugen ihre Prinzipien im beginnenden 20. Jahrhundert auch auf Motorräder und Automobile, ein Transfer, der Opel deutlich besser gelang – auch wenn beide Unternehmen bereits seit 1928 bzw. 1957 nicht mehr unabhängig agierten. 8 Wie bei den Quellen der Lahn waren Rohstoffe aus dem hessischen Naturraum gerade an der Schwelle zur Industrialisierung die Grundlage für unternehmerisches Engagement. Glück und Geologie machten Großalmerode in Nordhessen schon seit dem 12. Jahrhundert zum Standort der Tonverarbeitung. Produziert wurde – und wird noch heute – eine bunte Vielfalt an Haushalts- und Industriekeramiken. Reiche Bodenschätze finden sich mit dem sogenannten

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Lahn-Marmor 9 zwischen Weilburg und Wetzlar, der aufgrund seiner besonderen Farbe und Konsistenz zum gefragten Exportschlager avancierte. Seit dem 19. Jahrhundert spezialisierte sich in Gießen die Gail’sche Dampfziegelei und Tonwarenfabrik auf den Vertrieb hochwertiger glasierter Wand- und Bodenfliesen. Sowohl beim Steingut für das Selterswasser als auch bei der Gebäudeund Haushaltskeramik fanden Kunstgewerbe und Industrie zusammen. Ähnlich wie die Netzwerke zur Wissenschaft, waren die Kontakte zu Künstlern und Industriedesignern wichtige Erfolgsfaktoren für eine Reihe hessischer Markenprodukte, die als Meister der Form den Sprung von der kreativen Idee zum Massenprodukt schafften. Kunst schafft Qualität und unverwechselbare Anmutungen, die im globalen Schaufenster des Konsums zu Markenkernen werden können. An der Kinzig im schon östlichen Hessen lockte die Wächtersbacher Steingutfabrik Kreative aus der Darmstädter Künstlerkolonie, um ihre Produkte einzigartig zu gestalten. Die Firma Braun im Taunus setzte sich mit Industriedesign im Bauhausstil gegenüber ihrer weltweiten Konkurrenz auf dem Markt für Unterhaltungselektronik ab. Thonet in Frankenberg sorgte mit einer innovativen Form der Bugholz-Biegung und später der Stahlrohrgestaltung für Designikonen in der Möbelbranche. Kunst, Kultur und Industrie gingen Hand in Hand, vereinten Rationalität, Qualität und Funktionalität in der Formgebung moderner Waren. 10 Oft lag die unternehmerische Idee darin Vorhandenes aus aller Welt neu zu kombinieren. So stammten einige Rohstoffe, die in Hessen verarbeitet wurden, schon früh aus weit entfernten Regionen in Übersee. Der Kolonialismus mit seiner oft so menschenverachtenden Übergriffigkeit in die Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der anderen, ließ schon früh weltumspannende Lieferketten von Rohstoffen und Vorprodukten entstehen, die dann im Herzen Europas in der Produktion zum Einsatz kamen. Ohne Kautschuk aus den Plantagen des Globalen Südens zum Beispiel wären keine Fahrrad- oder Autoreifen richtig ins Rollen gekommen. Im Odenwald gründete sich mit Koziol eine Schnitzerei für Elfenbein, die den rücksichtslos gewonnenen tierischen Rohstoff mit modernen Werkzeugen in Serie zu Dekoartikeln verwandelte. Als die Lieferketten in der Weltwirtschaftskrise 1929 stockte, begann man mit neuartigen Kunststoffen zu experimentieren, die den Modernen Zeiten – neue Materialien und ganz neue Formsprache erlaubte. Ob technisch, wissenschaftlich oder künstlerisch beeinflusst – der wohl wichtigste Grundstoff der industriellen Fertigung war die Gewinnung von elektrischer Energie. Sie trieb die Maschinen an und brachte sicheres und sauberes Licht

Abb. 3: Verpackung von Stuhlteilen für den Export im tschechischen Werk Vsetín der Thonet GmbH, 1914 (Foto: Hessisches Wirtschaftsarchiv)

in die Fabriken und Wohnstuben. So bildete die Industrialisierung nicht zuletzt eine Wegscheide in der Arbeits- und Lebenswelt, weil sie das menschliche Tagewerk vom natürlichen Sonnenzyklus emanzipierte. Strom wurde seit den 1920er Jahren massenweise direkt inmitten Hessens produziert und über die entstehenden Verbundnetze verteilt, wie in Hochspannung in Hessen gezeigt. In Borken wurde raumgreifend Braunkohle abgebaut und verstromt. Die Industrialisierung etablierte hier komplett neue, vielfältig ineinandergreifende Systeme der Erzeugung und Versorgung. Zugleich sind, ähnlich wie in den Verkehrssystemen der Bahn, des Autos oder Flugverkehrs, die Eingriffe in die heimische Natur massiv. In dieser auch heutzutage wieder hoch aktuellen Diskussion über eine weniger ressourcenverzehrende, nachhaltigere Energieerzeugung zeigte die Industrialisierung ihre ganze transformierende Kraft. Die auf diese Weise abgesteckten Themenfelder erheben keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit. Sie repräsentieren Schnittstellen, Pfade und Brüche

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in den Wirkungszusammenhängen der Globalisierung. In ihrer besonderen Vielfalt bildet die Region Hessen einen geradezu idealen historischen Resonanzraum, um die Formen und Folgen des wirtschaftlichen Wandels auf Menschen und Umwelt vor Ort aufzuzeigen. Was hat Hessen aus der Industrialisierung gemacht? Oder auch: Was hat die Globalisierung mit Hessen gemacht? Die hier gezeigten, kurzen Einblicke in Ausstellung und Begleitband ermahnen uns, diese Frage allein schon räumlich differenziert zu betrachten. Denn die Feststellung Sidney Pollards, dass die industrielle Revolution kein flächendeckender Prozess, sondern „ein regionales Phänomen“ gewesen sei, charakterisiert den Befund für das heutige Bundesland Hessen sehr treffend. 11 Hessen bildet nicht einen homogenen Wirtschaftsraum, sondern ist ein Land sehr unterschiedlicher Wirtschaftsregionen. Sie alle haben einen speziellen Charakter, sind Standorte von mehr oder weniger Industrie, haben unterschiedliche historische Traditionen, sind mit verschiedenen Branchen besetzt und von ihnen geprägt. Zudem sind die Grenzen der Wirtschaftsräume fließend und von gegenseitiger Verflechtung durchdrungen. Da ist zum einen der Norden, mit einer starken Maschinenbautradition rund um Kassel, der seinen Wirkungskreis weit hinein nach Niedersachsen und Westfalen hat – eine Entwicklung, die durchaus auch historisch-politisch zu erklären ist. Dann, gewissermaßen als Gegenpol das breit diversifizierte Südhessen mit seinen großen Ansiedlungen der Chemieindustrie, des Fahrzeug- und oft mittelständisch organisierten Maschinenbaus. Mittendrin dann Frankfurt a. M., das sich aus seiner Handelstradition als Messestadt nach und nach vom Industriestandort zu einem globalen Finanz- und Dienstleistungszentrum entwickelte. Drumherum viel Industrie, vermischt mit handwerklicher Tradition wie in der Offenbacher Lederindustrie oder der Hanauer Schmuckfertigung. Im Osten finden sich schließlich die Textil- und Kaliindustrie, im Westen der traditionelle Erzbergbau an Lahn und Dill, deren Protagonisten wie die Isabellenhütte Heusler 12 – eines der ältesten Familienunternehmen Deutschlands überhaupt – es über Jahrzehnte verstanden, sich immer wieder neu zu erfinden. Dazu das gesunde Mineralwasser und die Ton-, Steineund Erdenwerke mit langer Tradition. Ebenso nicht zu vergessen die Inseln der hochgradigen Spezialisierung auf Optik, Gusseisen und Heiztechnik in Wetzlar und der Dillregion sowie die lange Zeit starke Tabakindustrie und der Maschinenbau im Gießener Raum, die als urbane Zentren eine gemeinsame Wirtschaftsregion definieren. 13 Der Ausbau der Infrastruktur, der Verkehrs- und Kommunikationswege, die „Industrialisierung von Zeit und Raum“ 14, welche die Umwälzungen des neuen Zeitalters bis in den entlegensten Winkel trugen,

Abb. 4: Stand der Deutschen Reichsbahn zur Ausstellung „Die Rhein-Mainische Wirtschaft“ in Frankfurt a. M., 1935 (Foto: Hessisches Wirtschaftsarchiv)

gehören ebenso in dieses Gesamtbild wie die einsetzende Agrarmodernisierung, die einschneidende wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche in den ländlichen Regionen Hessens einleitete. Bei so großer Vielfalt ist es ein kompliziertes Unterfangen, die Geschichte der Globalisierung aus nur einer regionalen Perspektive erfassen zu wollen. Die Globalisierung hat das Gesicht Hessens nicht gleichmäßig verändert. Dass sich unsere Geschichten aber dennoch in recht klare Erzählstränge einfügen lassen, hat unsere Projektgruppe in der Idee bestärkt, ein detailreiches Bild mit einigen historischen Quer- und Tiefenbohrungen in die einzelnen Wirtschaftsräume Hessens zeichnen zu können. Den gemeinsamen Ankerpunkt bilden die hier oft erstmalig zur Schau gestellten Objekte. Sie sind nicht nur historische Relikte, sondern sprechende wirtschaftliche Kulturgüter. Sie entstanden über die Jahrzehnte direkt aus den Ideen, dem Gestaltungswillen, dem Geschäftssinn und der Arbeitskraft so vieler Hessinnen und Hessen – seien sie aus der Region stammend, zugezogen oder auch nur temporär dort beheimatet. Für die Welt gemacht, sind all diese Dinge in

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Hessen geboren. Und nun ist es die Aufgabe unserer Generation, sie als historische Artefakte einer so reichen Industriekultur auch in Hessen zu bewahren und öffentlich sichtbar zu machen. Es fällt auf, dass die Musealisierung von Industriekultur in Hessen über die Jahrzehnte ein regionales Thema geblieben ist und es nicht auf die Bühne landesweiter Vorhaben geschafft hat, wie etwa in den klassischen Industrierevieren der Montan- und Schwerindustrie in Sachsen, dem Saarland oder Nordrhein-Westfalen. Zwar formulierten die „Grundlinien eines Konzepts der hessischen Museumsentwicklung“ aus dem Jahre 1981, es sei die „Errichtung eines hessischen Industriemuseums zu prüfen“, doch der Fortgang gestaltete sich zäh. Der Hessische Museumsverband begründete in diesem Fahrwasser eine Arbeitsgruppe zur Erstellung eines Museumskonzepts für die „Geschichte der Industrialisierung in Hessen“ und startete in Zusammenarbeit mit dem Museum Rüsselsheim einen Vorläufer unseres aktuellen Vorhabens in Form einer Wanderausstellung zu Denkmälern der Industrie und Technik. 15 Da diese Vorhaben in den Kinderschuhen stecken blieben, ist es umso wichtiger, der dezentralen Struktur in Hessen Sichtbarkeit zu verleihen. Hierzu haben schon sehr früh die Initiativen „Industriekultur Rhein Main“, später dann auch das Netzwerk „NINO“ in Nordhessen und das Netzwerk Industriekultur Mittelhessen beigetragen. Mit der „Kunststoffstraße“ und der Route der Arbeits- und Industriekultur gibt es ergänzende landkreisbezogene Aktivitäten in DarmstadtDieburg und Marburg. Aus dem Nebeneinander entwickelt sich zusehends ein Miteinander, nach außen mittlerweile sichtbar über den gemeinsamen Internetauftritt „Industriekultur Hessen“. 16 So sehr Industriekultur in Hessen damit durch den Austausch und die Zusammenarbeit der Akteure und Akteurinnen vor Ort belebt wird, so sehr steht und fällt sie mit genau diesem Engagement und den jeweiligen äußeren Rahmenbedingungen. Gibt es für bauliche Hinterlassenschaften immerhin denkmalrechtliche Schutzvorgaben, so gilt dieses nicht für museale Sammlungsbestände. Ihr Wohl und Weh hängt oft von ihren Bewahrern ab, nicht selten sind es ehrenamtlich geführte Einrichtungen, deren Fortbestand angesichts fehlender finanzieller wie auch personeller Ressourcen häufig alles andere als sicher ist. Jüngstes Beispiel hierfür ist etwa das Eisenkunstgussmuseum Hirzenhain. 17 Es sind aber auch immer wieder kommunal getragene Museen mit gewerblichem oder industriekulturellem Profil die in den Fokus öffentlicher Spardebatten rücken, wie etwa in Immenhausen oder Heringen. 18 Andere haben es aus eigener Kraft von einer kleinen Initiative zu einem Museum auf stabilen Fundamenten geschafft, entweder – wie in Dillenburg –

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mit Schützenhilfe lokaler Wirtschaftsbetriebe und der Industrie- und Handelskammer, welche sich zur Gründung des Wirtschaftsgeschichtlichen Museums Villa Grün zusammenfanden, oder wie im Fall Hattersheims, erst nach zwanzigjähriger Durststrecke, die nun mit der Eröffnung im Frühjahr 2023 enden wird. 19 Ebenso positiv zu bewerten ist, dass Hessen nun seit rund dreißig Jahren über ein regionales Wirtschaftsarchiv in Darmstadt verfügt. Der von den hessischen Kammern der Wirtschaft gemeinsam getragene Verein hat sich zu einem renommierten Dokumentationszentrum für die hessische Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte entwickelt. Das Wirtschaftsarchiv ist allzu oft der rettende Hafen für wertvolle Unternehmensakten und Nachlässe führender Unternehmerpersönlichkeiten unseres Landes. Gleichwohl sind bei weitem nicht alle dieser durch Archive und Museen bewahrten Kulturgüter der Wirtschaft für die Öffentlichkeit zugänglich. Vieles schlummert im Verborgenen, harrt der Erfassung, Restaurierung und Beforschung. Mit dem Ziel, diesen Sammlungen öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen und sie für wirtschaftliche und kulturelle Bildung aktiv nutzbar zu machen, haben sich unter dem Dach des Museumsverbandes Hessen und unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten a. D. Volker Bouffier Kuratorinnen und Kuratoren aus heimischen Stadt-, Industrie- und Regionalmuseen, das Hessische Wirtschaftsarchiv sowie Wirtschafts- und Kunsthistorikerinnen der Universitäten Gießen und Marburg zu einem bislang einmaligen Modellprojekt zusammengefunden. Sie stehen allerdings nur stellvertretend für eine Vielzahl von regionalen Geschichtsvereinen, kleineren Firmen-, Stadt- und Heimatmuseen sowie öffentlich nicht zugänglichen Sammlungen, die in oft ehrenamtlicher, mühevoller Arbeit das Gedächtnis der hessischen Wirtschaftsgeschichte lebendig halten. Ihre Sammlungsschwerpunkte bilden das Handwerk, das Kunstgewerbe und die Industrie. Die Geschichte und Geschichten, die sie in ihrem Fundus haben, repräsentieren oft viel mehr als nur ihr direktes lokales Umfeld. Die Verbundausstellung verschafft ihnen eine Bühne sowohl im physischen wie auch erstmals im digitalen Raum. Denn begleitend zu der Wanderausstellung lädt eine Internetseite dazu ein, Innovationen aus Hessen entlang von Themen, Objekten und unerwarteten Verbindungen zu entdecken. Sie soll als digitales Schaufenster auch nach Ausstellungsende stetig um Industriegeschichte, Produkte und Ideen „Made in Hessen“ erweitert werden. Ob nun digital oder vor Ort neugierig geworden, der Besuch unserer Ausstellung „Made in Hessen“ möchte Ihnen einen Anstoß geben, sich im nächstgelegenen Museum einmal vertiefend mit der lokalen

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Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte auseinanderzusetzen und vor der eigenen Haustür noch genauer nach den Spuren von Industrie und Globalität zu suchen. Wir haben einmal für Sie nachgezählt: Es gibt in Hessen allein über fünfzig Technik- und Gewerbemuseen. Die Bandbreite reicht von Besucherbergwerken über Handwerks-, Werkstoff- und Branchenmuseen bis hin zu unternehmenshistorischen Sammlungen einzelner Firmen. Daneben verfügen weitere über hundert Stadtmuseen über spezielle Dauerausstellungen zur Handwerks- und Industriegeschichte. Für den kompletten Überblick hilft Ihnen der digitale Museumsführer „www.museen-in hessen.de“ des Museumsverbandes Hessen, wo Sie nach Schwerpunkten und Orten recherchieren können und Auskünfte zu Öffnungszeiten, Angeboten und Sonderausstellungen erhalten.

Anmerkungen Torp, Cornelius, Weltwirtschaft vor dem Weltkrieg. Die erste Welle ökonomischer Globalisierung vor 1914, in: Historische Zeitschrift 279/2004, S. 561–609. 2 Hierzu ausführlich: www.industrie-kultur-hessen.de. 3 König, Wolfgang, Maschinisierung, Massenproduktion, Rationalisierung. Zur Produktentstehung im 19. Jahrhundert, in: Christian Kleinschmidt/Jan Logemann (Hg.), Wirtschaft und Konsum. Konsum im 19. und 20. Jahrhundert (Handbücher zur Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1), Berlin/München/Boston 2021, S. 165–190. 4 Brock, William H., Justus von Liebig. Eine Biographie des großen Naturwissenschaftlers und Europäers, Braunschweig 1999; Teuteberg, Hans-Jürgen, Die Rolle des Fleischextrakts für die Ernährungswissenschaften und den Aufstieg der Suppenindustrie. Kleine Geschichte der Fleischbrühe, Stuttgart 1990. 5 Schreier, Anna E./Wex, Manuela, Chronik der Hoechst Aktiengesellschaft 1863–1988, Frankfurt a. M. 1990. 6 Köhler, Ingo/Rossfeld, Roman (Hg.), Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2012. 7 Eisenbach, Ulrich, Mineralwasser. Vom Ursprung rein bis heute. Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Mineralbrunnen. Bonn 2004, S. 62–68 u. 173–75. 8 Schneider, Hermann, Fünfundsiebzig Jahre Adler. 90 Jahre Tradition, Hoppenstedts Wirtschafts-Archiv, Darmstadt 1970. 9 Siehe https://museen-in-hessen.de/de/museen/lahn_marmor_museum (zuletzt abger. 18. 10. 2022). 10 Mang, Karl, Thonet Bugholzmöbel. Von der handwerklichen Fertigung zur industriellen Produktion, Wien 1982; Gebrüder Thonet GmbH (Hg.), Thonet. Geschichte einer Möbelmarke, Frankenberg 1994; Schreiber, Karl, Vom Aderlaßbecken zum Botschaftsgeschirr. Wachsen und Werden der Wächtersbacher Steingutfabrik, in: Heimat-Jahrbuch des Kreises Gelnhausen 222, 1965, S. 87–89. 11 Pollard, Sidney (Hg.), Region und Industrialisierung, Göttingen 1980, S. 12. 1

Isabellenhütte Heusler KG, Über 500 Jahre Kupferhütte auf der Nanzenbach, Dillenburg 2003. 13 Banken, Ralf, Hessen vorn? Die Entwicklung der hessischen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, in: Bernd Heidenreich/Angelika Röming (Hg.), Das Land Hessen. Geschichte – Gesellschaft – Politik, Stuttgart 2014, S. 204–210. 14 Schivelbusch, Wolfgang, Geschichte der Eisenbahnreisen. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 1981. 15 Hessischer Museumsverband e. V. (Hg.), 60 Jahre Hessischer Museumsverband. Eine Chronik, Kassel 1988, S. 34, ab S. 61 sind zudem die „Die Grundlinien eines Konzepts zur hessischen Museumentwicklung" abgedruckt. Zur Wanderausstellung siehe: Mitteilungen, Ein Journal des Hessischen Museumsverbandes, 1/1987, S. 37–40. 16 Siehe http://www.industriekultur-hessen.de (zuletzt abger. 14. 11. 2022). 17 Siehe https://www.fr.de/rhein-main/wetterau/kunstguss-museum-sucht-investor-1100 6521.html (zuletzt abger. 14. 11. 2022). 18 Zu Immenhausen u. a.: https://www.hna.de/lokales/hofgeismar/immenhausen-ort842 74/glasmuseum-immenhausen-soll-saniert-werden-9722822.html. Zu Heringen: https:// www.hna.de/lokales/rotenburg-bebra/heringen-ort56535/museum-heringen-bangt-umzuschuss-von-20-000-euro-10869019.html (beide zuletzt abger. 14. 11. 2022). Ein Sanierungszuschuss vom Bund für das ursprünglich gar nicht als Museum konzipierte Gebäude hat mittlerweile die Situation entschärft. 19 Zur Villa Grün siehe: http://www.museumsverein-dillenburg.de/villagruen.html. Das Hattersheimer Museum wird auf dem ehemaligen Sarotti-Areal eröffnet https://www.fr. de/rhein-main/main-taunus-kreis/hattersheim-ort87439/hattersheim-sarotti-undkelten-im-neuen-stadtmuseum-91062609.html (beide zuletzt abger. 14. 11. 2022). 12

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„Made in Hessen“ – globale Industriegeschichten Christian Kleinschmidt

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„Made in Hessen“ – die Herkunftsbezeichnung erinnert an den Urtyp des Gütesiegels „Made in Germany“ aus dem Jahr 1887. Dabei handelte es sich zunächst um alles Andere als eine Qualitätsbezeichnung, sondern – ganz im Gegenteil – um eine aus Großbritannien kommende Stigmatisierung deutscher Hersteller. Deren Produkte sollten auf dem umkämpften Weltmarkt als billige und schlechte Massenware gekennzeichnet werden. Ziel dieser Maßnahme war es, britische Produkte vor der aufstrebenden deutschen Konkurrenz zu schützen. Erst allmählich sollte sich dies ändern, etwa auf der Weltausstellung 1893 in Chicago, wo deutsche Produkte und Produktionsverfahren mit hohen Qualitäts- und Sicherheitsstandards in Verbindung gebracht wurden und in der Folgezeit international einen guten Ruf genossen. 1 Es ist dies eine der „globalen Industriegeschichten“, die uns verdeutlichen, dass die Phase der Hochindustrialisierung durch eine zunehmende internationale Verflechtung, durch weltweite Wirtschaftskontakte, Technologie- und Kapitaltransfer sowie auch durch globale Migrationsflüsse gekennzeichnet war. Insofern sprechen wir hier bereits auch von einer ersten Globalisierungsphase vor dem Ersten Weltkrieg. 2 Und von Beginn an gab es auf regionaler und nationalstaatlicher Ebene auch schon in dieser Zeit einige Widerstände gegen diese Globalisierung. Protektionistische Abschottung sollte vor der wachsenden Konkurrenz schützen. „Made in Germany“ und die erste Globalisierungsphase fallen also zeitlich zusammen und markieren den Aufstieg des Deutschen Kaiserreichs zu einer weltweit führenden Wirtschaftsmacht, die stark vom Außenhandel geprägt war und zugleich als bedrohlicher Wettbewerber wahrgenommen wurde. „Made in Hessen“ ist demgegenüber ein Lehnbegriff, dessen Herkunft nicht eindeutig zu klären ist, der aber vermutlich Ende des 20. oder zu Beginn des 21. Jahrhunderts auftauchte. Er greift die Erfolgsgeschichte des Gütesiegels „Made in Germany“ auf, stellt sich in dessen Tradition und bezeichnet damit international erfolgreiche hessische Produkte und Unternehmen, die auch von einer sie begleitenden Wirtschaftspolitik profitieren. 3 Das gilt auch für den Begriff der „HessenChampions“, ebenfalls ein Lehnbegriff, der an die „Hidden Champions“ erinnert, also vornehmlich kleinere und mittlere Unternehmen

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(KMU), die sich zumeist in Nischen-Marktsegmenten zu Weltmarktführern entwickelt haben. Sie bilden bis heute eine wichtige Säule des hessischen und auch des deutschen Außenhandels und der Wirtschaft insgesamt. Hessen, und hier insbesondere die Rhein-Main-Region, weist eine der höchsten Raten an „Hidden Champions“ in Deutschland auf. Der Begriff „HessenChampions“ bezeichnet konkret den „Innovations-und Wachstumspreis des Landes Hessen“, der 1999 vom Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen, der Vereinigung hessischer Unternehmerverbände (VhU) und der Mittelständischen Beteiligungsgesellschaft Hessen mbH (MBG H) vergeben wird. 4 Diese wirtschaftspolitischen Aktivitäten stehen in der Tradition des Slogans „Hessen vorn“ des ehemaligen Ministerpräsidenten Georg August Zinn, der im Landtagswahlkampf 1962 auf eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung des Landes Hessen verwies und damit auch Aspekte einer identitätsstiftenden Wirtschaftspolitik ansprach. 5 Tatsächlich gehört Hessen nach dem Zweiten Weltkrieg zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Bundesländern und kann auch schon vor 1945 – anders als das benachbarte und ursprünglich stark agrarisch geprägte Bayern – auf eine lange Tradition etwa der Eisen- und Stahlherstellung, des Erz- und Braunkohlebergbaus, der Textil-, Chemie- und Maschinenbauindustrie sowie der optischen Industrie – zurückblicken. Diese Industrien waren stark international ausgerichtet. 6 Wofür steht „Made in Hessen“ in diesem langen Zeitraum, der nicht nur die jüngeren Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts in den Blick nimmt, sondern bis in die erste Globalisierungsphase Ende des 19. Jahrhunderts zurückschaut? Welches waren die „HessenChampions“ des Kaiserreichs und des frühen 20. Jahrhunderts? Welche Produkte stellten sie her und wie konnten sie sich erfolgreich auf dem Weltmarkt behaupten? Zugleich möchten wir aber auch fragen, welche Rückwirkungen die Einbindung in globale Wirtschaftsströme auf die Unternehmen hatte und welche negativen Auswirkungen damit verbunden waren. Nicht erst in jüngster Zeit diskutieren wir die Tatsache, dass Globalisierung kein linearer, zielgerichteter Prozess ist, der für alle beteiligten Akteure ausschließlich positive Auswirkungen hat und grundsätzlich eine „Win-Win“-Situation darstellt. Globalisierung bedeutet auch, dass Wirtschaft und Unternehmen einem weltweiten Wettbewerb und vulnerablen Entwicklungen ausgesetzt sind, mit vielfältigen Chancen und Risiken. Letztere können eben auch in einem Verdrängungswettbewerb begründet liegen, mit erheblichen Verlusten, krisen- und kriegsbedingten Unterbrechungen von Lieferketten, wie wir sie jüngst im Zuge der „Corona-Krise“ oder des Ukraine-Kriegs erleben, die in letzter Konsequenz

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auch mit der Liquidierung von Marktteilnehmern und in der Folge in Arbeitslosigkeit sowie weitergehenden „Kollateralschäden“ enden können. Diese rufen nicht selten Gegenreaktionen hervor. In der Wirtschaftsgeschichte beobachten wir dementsprechend unterschiedliche Phasen der Internationalisierung und der Globalisierung der Wirtschaft, der Öffnung und der Abschließung von Märkten und Volkswirtschaften, wobei schon die erste Globalisierungsphase heftige Gegenbewegungen zur liberalen Marktöffnung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorrief. In der Phase der Hochindustrialisierung ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die ja zugleich auch eine Hochphase der Nationsbildung, des Imperialismus und des Kolonialismus ist, bemühte sich vor allem die führende Industrienation und die zugleich stärkste Weltmacht, Großbritannien, um eine zunehmende weltwirtschaftliche Integration durch eine sukzessive Abschaffung der weltweiten Zölle. Dies geschah in Gestalt des sogenannten Cobden-Chevalier-Vertrags im Jahr 1860, dem sich nach und nach weitere Industrienationen anschlossen. Zusammen mit der Entstehung des Goldstandards als weltweitem Währungssystem, der allmählichen Angleichung von Maß- und Gewichtseinheiten, neuen Transport- und Kommunikationstechnologien (u. a. Telegraph, Telefon, Eisenbahn, Schiffsbau und Hafeninfrastrukturen) kam es zu einer weltwirtschaftlichen Integration, die zugleich die weltweite Konkurrenz der Industrienationen und Großunternehmen deutlich machte. Als Reaktion darauf sahen sich in Deutschland insbesondere die Eisen- und Stahlindustrie als auch die Landwirtschaft zunehmend bedroht und forderten von der Reichsregierung Schutzmaßnahmen, die diese unter Führung des Reichskanzlers Bismarck auch in Form der sogenannten Schutzzölle im Jahr 1879 gewährte. Zwei Jahrzehnte nach der globalisierungsfreundlichen Initiative zur Abschaffung der Zölle im weltweiten Handelsverkehr entstand so eine interessengeleitete protektionistische Gegenbewegung, die in den folgenden Jahrzehnten noch weiter befördert wurde. In diesem Zusammenhang sind in erster Linie die beiden Weltkriege zu nennen. Kriege bedeuten zum einen eine in der Regel gewaltsam angestrebte Abschottung oder Abtrennung von Staaten, Regionen und folglich auch Märkten, etwa durch See- und Handelsblockaden. In Deutschland, das traditionell stark von Rohstoffzufuhren abhängig war, hatte dies erhebliche Auswirkungen auf die Neuordnung der Kriegswirtschaft. 7 Zum anderen entschlossen sich die kriegführenden Parteien in Erwartung zukünftiger Auseinandersetzungen zu einer stärkeren Eigenversorgung. Durch möglichst hohe und Unabhängigkeit von an-

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deren sollte die eigene Güterproduktion gesichert werden. Zu den Anstrengungen einer Autarkiewirtschaft zählte wiederum die Herstellung von Ersatzstoffen. Das lässt sich für den Ersten Weltkrieg beobachten. Damals wurden etwa schlecht verfügbare ausländische Rohstoffe wie Salpeter (Düngemittel) oder Metalle durch neue Verfahren der Chemieindustrie (Haber-Bosch-Verfahren zur Herstellung von Stickstoff) sowie heimische Metalle und aus dem Ausland importierte Textilfasern wie Baumwolle und Seide durch Kunstseide, Nesselstoffe oder Papiergarne ersetzt. 8 Die Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkriegs lässt sich auch als ein falsch verstandener Lernprozess aus dem Ersten Weltkrieg verstehen, wobei die kriegsvorbereitende Abkopplung vom Weltmarkt noch konsequenter im Sinne einer Autarkiepolitik verfolgt und spätestens 1936 mit dem „Zweiten Vierjahresplan“ umgesetzt wurde. Dabei ging es vor allem darum, die deutsche Kriegswirtschaft von ausländischen Erzeinfuhren unabhängig zu machen, indem verstärkt inländische Eisenerze für die Stahlindustrie verhüttet wurden. Ein weiterer Schwerpunkt bestand in der Substitution von Erdöl, welches bislang aus der Region des Nahen Ostens hatte importiert werden müssen und somit im Einflussgebiet der alliierten Mächte lag. Statt Erdöl verarbeiteten deutsche Unternehmen fortan synthetischen Treibstoff auf der Basis heimischer Stein- und Braunkohle, wobei unterschiedliche technologische Verfahren zur Anwendung kamen. Schließlich benötigten die Wehrmacht sowie die Luftwaffe große Mengen an Gummi zur Reifenherstellung, welches bislang ebenfalls vornehmlich auf Erdölbasis hergestellt worden war. Autarkiewirtschaftliche Maßnahmen bestanden ab 1936 in der Produktion von synthetischem Kautschuk. Auf der Basis heimischer Steinkohle wurde nun in neu errichteten Anlagen, unter anderem in Schkopau und Marl, das sogenannte „Buna“ (Kurzbezeichnung für Butadien und Natrium als Grundlage für synthetischen Kautschuk) hergestellt. 9 Das Darmstädter Unternehmen Röhm & Haas produzierte u. a. Plexiglas für Rüstungsgüter wie etwa Flugzeugkanzeln auf der Basis heimischer Kohlevorkommen. Dementsprechend galt es, mit den heimischen Ressourcen und insbesondere mit heimischen Energieträgern wie Braun- und Steinkohle sparsam umzugehen (s. Abb. 1). Eine stärkere Unabhängigkeit von der Einfuhr ausländischer Rohstoffe konnte allerdings nur unter erheblichem technischem und finanziellem Aufwand so zumindest in einigen Bereichen erzielt werden. Allerdings lagen die Kosten der heimischen Produktion oftmals über dem Weltmarktniveau, und die Konzentration auf Eigenentwicklungen ohne Inanspruchnahme ausländischen Know-hows führte zur Abkopplung von internationalen und globalen Wissenspotentialen und zur

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Abb. 1: Kohlenklau Quartettspiel. Propaganda für den sparsamen Umgang mit dem heimischen Energieträger Kohle (Foto: Hessisches Braunkohle Bergbaumuseum Borken)

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Entstehung einer „technologischen Lücke“, die nach Kriegsende den Anschluss deutscher Technik an internationale Standards erschwerte. 10 Das Ende des Zweiten Weltkriegs markiert insofern eine weltwirtschaftliche Zäsur, als es nun darum ging, die Lehren aus Protektionismus, Zollpolitik, Autarkie- und Kriegswirtschaft zu ziehen und eine neue weltwirtschaftliche Ordnung aufzubauen, die geleitet von den Ideen des Freihandels und Liberalismus im Prinzip an die erste Globalisierungsphase anknüpfte. Dies geschah nicht zuletzt durch die Gründung neuer Institutionen wie dem „General Agreement on Tariffs and Trade“ (GATT, 1947), welches zum Ziel hatte, die hohen Zollsätze allmählich wieder zurück zu fahren. Weiterhin sind die Gründung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu erwähnen, die Finanzierungsinstrumente für langfristige Entwicklungs- und Aufbauprojekte zur Verfügung stellten und damit dem Welthandel neue Liquidität verschaffen sollten. Ein ungehinderter globaler Wirtschaftsaustausch sollte sich trotzdem nach 1945 zunächst nicht etablieren, weil die Welt im Zeitalter des Kalten Kriegs in zwei wirtschaftliche, politische und militärische Großräume geteilt war, einen westlichen Block unter Führung der USA und der NATO mit der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sowie der EFTA (European Free Trade Association) einerseits und einen östlichen Block unter Führung der Sowjetunion, dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und dem Militärbündnis des Warschauer Pakts andererseits. Diese Blöcke betrafen indirekt auch die Länder des Globalen Südens, die sich in der Phase der Dekolonisierung seit den 1950er/60er Jahren als „Entwicklungsländer“ dem einen oder anderen Block zuordneten. Erst mit der „Wende“ um 1989/90 und der Auflösung der Blöcke waren die Voraussetzungen für eine zweite Globalisierungsphase gegeben. 11 Und erst jetzt konnten wieder die Mechanismen einer Globalisierung wirksam werden, die als „zunehmende internationale Integration von Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkten, die unmittelbar verursacht wird durch die wachsende Mobilität von Produktion und Produktionsfaktoren, und zumindest mittelbar von dem technologischen Wandel und von Veränderungen in der staatlichen Wirtschaftspolitik getragen sind.“ 12 (Richard Tilly). Hier bewegen wir uns dann bereits in den 1990er Jahren, die man getrost als weltwirtschaftliche Zäsur bezeichnen kann. Wie lassen sich nun die hessische Wirtschaft und hessische Unternehmen in diesem langfristigen Prozess zweier Globalisierungsphasen verorten? An welche Unternehmen und Produkte denken wir, wenn wir von „Made in Hessen“ sprechen? Welche traditionsreichen Hersteller und bekannte Marken fallen uns in dem Zusammenhang, vielleicht als Erstes, ein – und wofür stehen diese?

Abb. 2 Der japanische Kronprinz Akihito zu Besuch bei Leitz in Wetzlar im Jahr 1965 (Foto: Hessisches Wirtschaftsarchiv)

Beginnen wir mit einem Blick auf die aktuellen „Top 100“-Unternehmen in Hessen. Dabei handelt es sich um die größten Unternehmen des Landes, gemessen an der Zahl der Beschäftigten. An der Spitze stehen Unternehmen der Medizintechnik und der Pharmaindustrie wie Fresenius und Fresenius Medical Care, das US-Unternehmen Abbott GmbH, B. Braun und Merck. Dahinter rangieren unter anderen die Lufthansa sowie die Commerzbank und die Deutsche Bank. 13 Abgesehen von Abbott handelt es sich um Unternehmen, die aus Hessen stammen und in der Region eine langjährige Geschichte aufweisen, was vor dem Hintergrund der wechselvollen Wirtschaftsgeschichte seit der Industrialisierung, den Kriegen und Krisen sowie zweier Globalisierungsphasen keineswegs selbstverständlich ist. Denn auch Unternehmen haben einen Lebenszyklus. „Es ist davon auszugehen“, so der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe, „dass Unternehmen periodisch in existenzielle Krisen geraten, ihr dauerhaftes Überleben also gerade nicht gesichert ist. Dass Unternehmen diese Krisen – zumindest zum Teil –

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gleichwohl überleben, ist ein historisches Phänomen, das sich aus theoretischen Überlegungen nicht erschließt.“ 14 Man wird also genau hinschauen müssen, welche Unternehmen über einen langen Zeitraum erfolgreich existiert haben, warum sie sich am (Welt-)Markt behaupteten oder auch nicht. Bekannte hessische Unternehmen mit klangvollen Namen wie etwa die Adlerwerke in Frankfurt a. M. sind vom Markt verschwunden. Andere, wie zum Beispiel die Hoechst AG, wurden zwar aufgelöst, sind aber danach in größeren Strukturen global agierender Konzerne aufgegangen. Wieder andere wie die Firmen Leitz und Leica (Leitz Camera) wurden in unterschiedliche Subunternehmen aufgeteilt, verließen zum Teil ihren ursprünglichen Standort (hier Wetzlar) und kehrten nach einiger Zeit wieder dorthin zurück. Es handelt sich insofern um ganz individuelle Unternehmensgeschichten, die als Erfolgs- oder auch Misserfolgsgeschichten die hessische Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte im globalen Kontext seit der Industrialisierung auszeichneten. Dabei interessieren uns in der Ausstellung „Made in Hessen“ nicht nur die bekannten Unternehmen und ihre Produkte, sondern gerade auch die kleinen und mittleren sowie die „vergessenen“ Unternehmen, die das industriekulturelle Erbe des Landes mitgeprägt haben. Das wiederum wird durch die Sammlungsbestände zahlreicher vor allem kleinerer Museen und historische Schauplätze bewahrt, denen damit oftmals eine identitätsstiftende Funktion zukommt. „Made in Hessen“ – das sind also nicht nur die millionenfach produzierten Opel-Automobile aus Rüsselsheim, die Leica-Kameras und Leitz-Mikroskope aus Wetzlar, der Selters-Sprudel, der längst Eingang in unsere Alltagssprache gefunden hat („Sekt oder Selters“), die Rasierapparate oder Musikgeräte von Braun, die weltweit nicht nur für deutsche bzw. hessische Qualität, sondern auch für modernes Industriedesign stehen, oder der Name Liebig, der noch immer mit Fleischextrakt, Tütensuppen und Kunstdünger in Verbindung gebracht wird – benannt nach dem berühmten Chemiker, der mit seinen Erfindungen die Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion revolutionierte. „Made in Hessen“, so möchten wir zeigen, steht auch für weniger bekannte Namen oder Produkte, die gleichwohl weltweit von Bedeutung waren oder es noch immer sind, wie etwa Lahnmarmor, Gail’sche und Wächtersbacher Keramik oder Flugzeugküchen des Herstellers Sell. Marmor wird bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts an der Lahn gewonnen. Die Orte Schupbach und Villmar entwickelten sich zu Zentren einer regelrechten Marmor-Industrie, die das Gestein mit großen Drahtseilsägen abbaute. Mehr als 100 kleinbetrieblich organisierte Steinbrüche lieferten den Marmor für repräsen-

Abb. 3: Verwaltungsgebäude Rinn & Cloos. Mosaik zum Tabakimport aus Mittel- und Südamerika in der Zeit des Kolonialismus (Foto: Christine Krienke)

tative Bauten im In- und Ausland, so etwa für das nahegelegene Weilburger Schloss, den Berliner, Würzburger und Mainzer Dom sowie für die Eremitage in Sankt Petersburg und das New Yorker Empire State Building. Die kleinen, mit wenig Kapital ausgestatteten Unternehmen waren jedoch schon Mitte des 19. Jahrhunderts international kaum noch wettbewerbsfähig und wurden vorübergehend stillgelegt, bis dann 1892 die Firma „Dyckerhoff & Neumann KG“ einige Produktionsbereiche zusammenführte. Vor dem Ersten Weltkrieg arbeiteten dort etwa 150 Beschäftigte. Bis in die 1970er Jahre konnte die Produktion aufrechterhalten werden, bevor eine rückläufige Konjunktur im Jahr 1976 zur Einstellung des Abbaus zwang. 1989 wurde allerdings noch einmal ein Steinbruch in der Nähe von Villmar zur Gewinnung von Lahnmarmor für Restaurierungszwecke in Betrieb genommen. 15 In zahlreichen Regionen Deutschlands und auch Hessens gab es Tonvorkommen, die zu unterschiedlichen Zwecken genutzt wurden. An der Kinzig wurde im Jahr 1832 die Steingutfabrik Wächtersbach gegründet. Sie stellte Gebrauchskera-

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mik her, also ein Massenkonsumgut, welches in Haushalten zum Einsatz kam, die sich teures Porzellan nicht leisten konnten. Ähnlich wie der Lahnmarmor wurden die Wächtersbacher Produkte zunächst in der Region vertrieben und erlangten insbesondere durch ihre Jugendstilprodukte und die Kooperation mit der Darmstädter Künstlerkolonie nationale und internationale Aufmerksamkeit. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Wächtersbacher Keramik in ganz Europa und den USA vertrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das Unternehmen zum größten Keramikhersteller der Bundesrepublik, doch gelang es langfristig nicht, sich gegen die nationale (z. B. Villeroy & Boch) sowie internationale Konkurrenz durchzusetzen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde das Unternehmen an die Könitz Porzellan GmbH verkauft, die vom Sohn des Porzellanherstellers Philip Rosenthal, Turpin Rosenthal, geleitet wird. Produziert wird heute noch am Standort Unterwellenborn in Thüringen sowie in China und Thailand, längst nicht mehr in Hessen. Die Produktion in Wächtersbach wurde eingestellt und ein Großteil des Inventars bei Auktionen versteigert. 16 Das Unternehmen ist insofern ein Opfer der Globalisierung und erlitt ein ähnliches Schicksal wie der traditionsreiche Porzellanhersteller Rosenthal, der 2009 Insolvenz anmelden und alle seine Produktionsstätten, Markenrechte und Patente verkaufen musste. Auch die Gail’schen Werke in Gießen, die über zwei Standbeine verfügten, waren von Beginn an in globale Wirtschaftszusammenhänge integriert, existierten über fast zwei Jahrhunderte und mussten am Ende doch ihre Produktion in der Region einstellen. Gießen und Heuchelheim (Rinn & Cloos) waren seit Beginn des 19. Jahrhunderts Zentren der deutschen Tabakindustrie. Tabak war eine Kolonialware, die aus den europäischen Kolonien sowie aus Südamerika und den USA bezogen wurde (s. Abb. 3). So auch von dem aus Dillenburg stammenden Kolonialwarenhändler Georg Philipp Gail, der nicht nur mit Tabak handelte, sondern diesen auch in Eigenregie verarbeitete. Er eröffnete 1812 eine erste Fabrik in Gießen und sein Sohn Georg Wilhelm Gail produzierte seit 1850 sogar in den USA. 17 Ende des 19. Jahrhunderts engagierten sich die Gail’schen Werke auch im Bereich der Tonverarbeitung und Dampfziegelei. In der Folgezeit exportierte das Unternehmen Baukeramikprodukte in zahlreiche europäische Staaten und insbesondere nach Russland und verlagerte Anfang der 1970er Jahre einen Großteil der Produktion nach Brasilien. Ende der 1990er Jahre wurde auch die Produktion in Gießen eingestellt, und im Jahr 2002 übernahm die Griechische Piräus-Bank mit dem Unternehmer Iordanis Papassimeon Teile der Konkursmasse. Fliesen des Unternehmens Gail Architek-

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Abb. 4: Infrastruktur der Globalisierung. Flughafen Frankfurt Main (Foto: Hessisches Wirtschaftsarchiv)

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tur-Keramik GmbH, unter anderem für das olympische Schwimmbecken in Peking 2008, wurden seitdem nicht mehr in Gießen produziert. Nach wirtschaftlichen Schwierigkeiten kam es wenige Jahre später abermals zur Namensänderung der Firma in Gail Ceramics International GmbH, die trotz umfangreicher Umstrukturierungen und Produktionsverlagerungen den ursprünglichen Namen Gail bewahrte. 18 Die Marke überlebte gewissermaßen das Unternehmen, das weiterhin für hohe Qualität und langjährige Erfahrung bei der Keramikproduktion steht. Die Wege der Globalisierung sind oft sehr verschlungen. Das gilt auch für das Beispiel der Flugzeugküchen von Sell. Der Ingenieur Werner Sell hatte ab 1929 berufliche Erfahrungen beim Flugzeughersteller Junkers in Dessau gesammelt und war bis 1944 bei der Abteilung Industrieplanung des Reichsluftfahrtministeriums angestellt, bevor er nach dem Krieg sein eigenes Unternehmen für die Produktion von Fertighäusern gründete, in denen auch Stahlküchen verbaut wurden. Dieses Unternehmen brachte Sell dann 1963 in die Burger Eisenwerke in Herborn ein, die wiederum selbst fünf Jahre zuvor mit ihrer Marke „Juno“ von Buderus als Buderus Sell GmbH übernommen worden waren. Bereits seit den 1920er Jahren hatte es Bordküchen in Luftschiffen gegeben, und Sells Idee bestand nun darin, solche auch in Tragflächen-Flugzeuge einzubauen. 1930 meldete er ein entsprechendes Patent an. Da die zivile Luftfahrt in den USA bereits zu dieser Zeit eine deutlich größere Rolle spielte als in Deutschland, wurde die erste Sell-Bordküche 1935 in einer amerikanischen „DC-3“ installiert. Die erste Flugzeugküche für die Lufthansa lieferte Sell 1954 für eine viermotorige „Super Constellation“. Sell produzierte schließlich „Galleys“, das ist die internationale Bezeichnung für Flugzeugküchen, mit kompletten Servicekonzepten vom Catering bis zur Kochstelle für unterschiedliche Airlines und Flugzeugtypen weltweit. Die Sell GmbH entwickelte sich zu einem Weltmarktführer, zu einem „Hessen Champion“, der an zwei Standorten in Herborn sowie in Homberg/Ohm produzierte. Die Zahl der Beschäftigten stieg bis zur Jahrtausendwende auf über 1200 Mitarbeiter, die bis dahin etwa 25 000 Flugzeugküchen hergestellt hatten. Die Buderus Sell GmbH wurde im Jahr 1997 von der britischen Firma „Britax International“ übernommen und schließlich 2010 an die französische Zodiac Group weiterverkauft. 19 Die Marken Juno und Sell sind bis heute ein Begriff. Die Flugzeugküchen und die Flugzeuge verweisen schließlich auf den Frankfurter Flughafen, der größte deutsche und einer der größten europäischen Flughäfen und seinerseits Ausdruck der Globalisierung (s. Abb. 4). Im Jahr 2020 exportierten hessische Unternehmen Waren im Wert von 61 Mrd. Euro, ein Groß-

Anmerkungen Radkau, Joachim, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute, Frankfurt a. M. 2008, S. 164, 226. 2 Pfister, Ulrich, Globalisierung und Weltwirtschaft, in: Hans-Ulrich Thamer (Hg.), WBG Weltgeschichte Bd. VI. Globalisierung 1880 bis heute, Darmstadt 2010, S. 288–299; Hungerland, Wolf-Fabian, Lampe, Markus, Globalisierung und Außenhandel, in: Ulrich Pfisterer/Jan-Ottmar Hesse/Mark Spoehrer/Nikolaus Wolf (Hg.), Deutschland 1871. Die Nationalstaatsbildung und der Weg in die moderne Wirtschaft, Tübingen 2021, S. 335–358. 3 Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung. Ressourceneffizienz in Hessen. Praxisbeispiele und Fördermöglichkeiten, hg. von Hessen Trade & Investment GmbH, Wiesbaden 2017. Vgl. hier das Beispiel der Carus GmbH & Co. KG mit dem Verweis auf „Lampen Made in Hessen“, S. 18 (file:///C:/Users/Benut1

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teil davon auch über den Frankfurter Flughafen, der damit Hessens Tor zur Welt ist. Der Exportanteil hessischer Unternehmen liegt heute (2022) bei 55 % und damit über dem Bundesdurchschnitt. Einen besonders hohen Exportanteil weist die hessische Chemieindustrie (72 %) auf, gefolgt von der Pharmaindustrie (63 %) und dem Maschinenbau (60 %). Die Außenwirtschaftsbeziehungen betreffen allerdings nicht nur den Export, sondern auch die Einfuhr von Produkten, wobei gerade in Krisenzeiten deutlich wird, dass umfangreiche Lieferketten die globalen Verflechtungen empfindlich stören und entsprechende negative Auswirkungen auf die heimische Industrie haben können. Zu befürchten ist, dass sich dann der Vorteil der überproportionalen Exportorientierung der hessischen Wirtschaft zu einem Nachteil umkehrt und deren Entwicklung unter dem Bundesdurchschnitt liegen könnte. 20 „Made in Hessen“ steht für die zunehmende Einbindung der Hessischen Wirtschaft und Unternehmen in globale wirtschaftliche Zusammenhänge seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. An ausgewählten Beispielen unterschiedlicher Branchen und Unternehmensgrößen verweisen wir einerseits auf die Verflechtung hessischer Unternehmen seit der ersten Globalisierungsphase, auf Fragen der Wissensgenerierung und der Gewinnung von Rohstoffen und Ressourcen sowie die damit verbundenen Erfolge auf dem Gebiet des Handels, des Exports und von Direktinvestitionen, aber auch auf negative Begleiterscheinungen wie Kolonialismus, krisen- und kriegsbedingte Zäsuren, Brüche und Gegenbewegungen in Form von Protektionismus, Abschließungen vom Weltmarkt, Autarkiebestrebungen sowie – in jüngster Zeit – auf die Unterbrechung von Wertschöpfungs- und Lieferketten, die die Anfälligkeit einer stark außenwirtschaftlich ausgerichteten Volkswirtschaft verdeutlichen.

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zer01/Downloads/ressourceneffizienz_in_hessen_online_version-1.pdf). Letzter Zugriff: 18. 3. 2022. 4 https://www.hessen-champions.de/ (letzter Zugriff: 18. 3. 2022). 5 Hardach, Gerd, Kontinuität und Wandel. Hessens Wirtschaft seit 1945, Darmstadt 2007, S. 72 f.; zu Georg August Zinn s. jüngst Beier, Gerhard (Hg.), Hessen vorn: Die Biographie des Hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn, Bonn 2021. 6 Hardach, Kontinuität und Wandel, S. 133–148; Kleinschmidt, Christian, Industriepolitik als Herausforderung. Ansätze einer vergleichenden zeithistorischen Landes-Wirtschaftsgeschichte, in: Sabine Mecking (Hg.), Landeszeitgeschichte =Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 70 (2020), S. 55–77. 7 Boldorf, Marcel, Außenhandel und Blockade, in: ders. (Hg.), Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg, Berlin, Boston 2020, S. 479–519. 8 Scherner, Jonas, Metallbewirtschaftung, in: Marcel Boldorf (Hg.), Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg, Berlin, Boston 2020, S. 81–85; van de Kerkhof, Stefanie, Textilindustrie, in: Marcel Boldorf (Hg.), Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg, Berlin, Boston 2020, S. 282 ff. 9 Tooze, Adam, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, S. 243–288. 10 Siehe z. B. Kleinschmidt, Christian, Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950–1985, Berlin 2002, S. 121–172. 11 Pfister, Globalisierung und Weltwirtschaft, S. 311–336. 12 Tilly, Richard, Globalisierung aus historischer Sicht und das Lernen aus der Geschichte (Kölner Vorträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 41), Köln 1999, S. 9. 13 https://www.berufsstart.de/unternehmen/bundesland/hessen-top-100.php (letzter Zugriff: 22. 3. 2022). 14 Plumpe, Werner, Die Unwahrscheinlichkeit des Jubiläums – oder: warum Unternehmen nur historisch erklärt werden können, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2003/1, S. 152. 15 Kirnbauer, Thomas, Nassauer Marmor oder Lahnmarmor – ein weltweit bekannter Naturwerkstein aus Deutschland, in: Schriftenreihe der deutschen Gesellschaft für Geowissenschaften, Heft 59 (2008), S. 187–218; Künzler, Klaus, Der historische Bergbau des Lahngebiets, Weilburg 2010, S. 35 f.; Volk, Otto, Marmorindustrie. Die Marmorbrüche von Vilmar, in: Christian Kleinschmidt/Otto Volk (Hg.), Industriekultur an Lahn und Dill, Niederselters 2013, S. 61 f. 16 Sparkassen Kulturstiftung Hessen-Thüringen (Hg.), Wächtersbacher Steingut: Die Sammlung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, 2001; French, Lilo und Heinz: Wächstersbacher Steingut, Königstein am Taunus 1978; Schmuckstücke aus Keramik für den Alltag, von Luise Glas-Lotz, FAZ 22. 5. 2007 (https://www.faz.net/aktuell/ rhein-main/region-und-hessen/schmuckstuecke-aus-keramik-fuer-den-alltag-1435798. html), letzter Zugriff am 22. 3. 2022. 17 Brake, Ludwig: Die wirtschaftliche Bedeutung der Tabakindustrie. In: Oberhessischer Geschichtsverein Gießen e. V. (Hg.): Alles blauer Dunst? Zigarrenindustrie im Gießener Raum. Gießen 2004. S. 56–59, hier S. 56; Brake: Zigarrenfabrikanten. Vgl. Brake, Ludwig, Die wirtschaftliche Bedeutung der Tabakindustrie. in: Oberhessischer Geschichtsverein Gießen e. V. (Hg.), Alles blauer Dunst? Zigarrenindustrie im Gießener Raum. Gießen 2004, S. 56–59, hier S. 53.

Ferger, Michael, Gail’sche Tonwerke, Gießen (https://www.industriekultur-lahn-dill.de/ gailsche-tonwarenfabrik-gie), letzter Zugriff: 22. 3. 2022. 19 Kleinschmidt, Christian, Küchen-Champions. Ein wirtschafts- und sozialhistorischer Beitrag zur hessischen Landes-Küchen-Geschichte und zugleich ein verspäteter Beitrag zum Bauhaus-Jubiläum, in: Lutz Vogel et al. (Hg.), Mehr als Stadt, Land, Fluss. Festschrift für Ursula Braasch-Schwersmann, Neustadt an der Aisch 2020, S. 256–260. 20 Die hessische Außenwirtschaft. Zahlen, Trends, Netzwerke, hg. vom Hessischen Industrie- und Handelskammertag, o. J., S. 4–6. (https://www.hihk.de/blueprint/servlet/ resource/blob/5158598/df47d3460ad3e7b8bb672028519710b9/broschuere-hessischeaussenwirtschaft-2021-data.pdf). Letzter Zugriff 22. 3. 2022; Köhler, Manfred, Hessen rutscht 2023 tiefer in die Krise als Deutschland insgesamt, in: faz.net, 28. 10. 2022 (https:// www.faz.net/aktuell/rhein-main/wirtschaft/hessen-rutscht-2023-tiefer-in-die-krise-alsdeutschland-insgesamt-18422012.html). Letzter Zugriff 31. 10. 2022. 18

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Zur Schau gestellt: Industriedesign „Made in Hessen“ Sigrid Ruby

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Im Sommer 1851 gab es im Londoner Hyde Park die Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations zu sehen. Sie war die erste in einer langen Reihe sogenannter Weltausstellungen, die fortan alle paar Jahre in den großen europäischen Metropolen und bald auch in Übersee stattfanden. Im Rahmen dieser populären, viele Besucherinnen und Besucher anziehenden Großveranstaltungen wurden die kulturellen und wirtschaftlichen Errungenschaften der teilnehmenden Nationen präsentiert, vor allem neueste technische Entwicklungen, aber auch bildkünstlerische und kunsthandwerkliche Produkte. Die Weltausstellungen, die jeweils aufwendiger Vorbereitungen bedurften und deren Geländebedarfe ganze Stadtviertel transformierten, waren wichtige Drehscheiben des Handels und des Wissens. Sie standen in der Tradition der neuzeitlichen Messen und Gewerbeschauen, besaßen nun aber, im Zeitalter der Industrialisierung, ganz andere Dimensionen. 1 Im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren die großen Weltausstellungen nicht nur das Resultat, sondern auch ein wesentlicher Motor vielfältiger, westlich dominierter Globalisierungsprozesse, die nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche erfassten: Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Verkehr, Kommunikation, Kunst und Kultur. Der besondere Beitrag der Weltausstellungen lag in ihrer Eigenschaft als Spektakel, als ein Fest für die Sinne, begründet. In den großräumigen Hallengebäuden, die – wie der Londoner „Kristallpalast“ – mit ambitionierter Architektur das Zentrum der Ausstellung bildeten, ebenso wie in den in üppigen Parkanlagen platzierten Länderpavillons gab es Dinge und Menschen von überall her zu sehen. Zahllose Produkte konnten angefasst und begutachtet, Formen und Motive, Materialien und Oberflächen, Gerüche und Geschmäcker unmittelbar erfahren werden. Der sinnliche Reiz des Neuen und auch Fremden ermöglichte eine abwechslungsreiche Erkundung der Welt im Kleinen. Die Weltausstellungen führten im Wortsinn vor Augen, dass Formfragen eine nicht nur repräsentative, sondern auch und vielleicht sogar vor allem wirtschaftliche Bedeutung hatten. Die ästhetische Gestaltung des Produkts, seine erkennbare Rückbindung an funktionale Anforderungen, an nationale oder lokale Traditionen und an künstlerische Kreativität, war Gegenstand intensiver Debat-

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ten und forderte Handwerk und Industrie gleichermaßen heraus. Vor dem Hintergrund dieser historischen Gemengelage geht es in der Ausstellung „Made in Hessen“ und in dem hier vorliegenden Begleitband auch darum, die ästhetischen Qualitäten der Exponate zu erfassen und zu kontextualisieren. Präsentiert werden aus Hessen stammende, in der Region entwickelte oder gefertigte Güter, die international erfolgreich waren bzw. sind und das Bundesland als einen bedeutsamen Player in den unterschiedlichen Globalisierungsphasen erscheinen lassen. Unweigerlich stellt sich hier die Frage nach einer repräsentativen Spezifik, das heißt nach gestalterischen Eigenarten, Formen und Motiven, die zum Erfolg hessischer Produkte beitrugen oder beitragen sollten. „Made in Hessen“ greift damit ein Thema auf, das auch für die historischen Weltausstellungen wichtig war. Diese strebten zwar, und das gilt insbesondere für die Great Exhibition von 1851, einen nachgerade enzyklopädischen Charakter an. Von Anfang an waren diese Produktschauen aber auch von einer erheblichen Spannung zwischen Nation und Internationalismus getragen. Homogenisierende und fragmentierende Tendenzen griffen ineinander und bestärkten sich wechselseitig. Die beteiligten Kolonial- und Industrienationen sahen sich, wie auch bei der ab 1895 ausgerichteten Kunst-Biennale in Venedig und den 1896 in Athen neu aufgelegten Olympischen Spielen, sowohl im Austausch als auch im Wettbewerb miteinander. Auf den Weltausstellungen hatten sie sich mittels ihrer Kultur- und Wirtschaftsgüter gegen die internationale Konkurrenz zu behaupten, nach innen wie nach außen. Der repräsentative Anspruch war ein doppelter und latent widersprüchlicher: Zum einen wollte man fortschrittsorientiert, innovationsfreudig und anpassungsfähig erscheinen und durch die Kooperation mit Fertigungs- und Handelspartnern in anderen Ländern neue Märkte erschließen. Zum anderen sollten nationale Eigenheiten und regionaltypische Prägungen klar erkennbar bleiben – im Sinne einer Herkunftsbezeugung („Made in …“), die dem Selbstverständnis der Ausstellenden zulieferte und die Attraktivität vieler Waren steigerte. Das komplexe Mit- und Nebeneinander transnationaler, nationaler und lokaler Ebenen, daran geknüpfter Ansprüche, Interessen und Erfahrungen kennzeichnet den Globalisierungsprozess bis heute. In der Forschung hat sich dafür der Begriff „Glokalismus“ bzw. „Glokalisierung“ etabliert. 2 Die historischen Weltausstellungen waren Keimzellen und frühe Schauplätze dieses Phänomens, denn in ihnen verband sich die Wahrnehmung globaler Zusammenhänge mit dem Staunen über das Besondere und (vermeintlich) Lokalspezifische. Dabei erschienen Exponate aus dem technischen Bereich und aus industrieller Fertigung als

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mehr oder minder ortlose, global einsetzbare Errungenschaften, die vorzugsweise in nüchternen Hallen präsentiert wurden. Hingegen standen im Handwerksbetrieb hergestellte Konsumgüter eher für die Verbundenheit mit lokalen Traditionen, Materialien und Fertigkeiten. Sie bedienten stärker individualisierte Nutzungszusammenhänge und Luxusbedürfnisse. Für ihre Zurschaustellung dienten neben den großen Kunstgewerbeabteilungen vor allem die seit der Pariser Weltausstellung 1878 mit ihrer Rue des Nations zum Standardrepertoire avancierten Länderpavillons. Dabei handelte es sich um vermeintlich national- oder regionaltypische, in der Regel temporäre Ausstellungsarchitekturen, in denen immer wieder auch repräsentative volkstümliche Artefakte und Werke der Hochkunst (Malerei, Skulptur etc.) gezeigt wurden. Eine weitere Attraktion zur Unterhaltung der Besucherscharen waren die ethnographischen Dörfer (vgl. Abb. 1), die ebenfalls nicht nur einer Nationalisierung bzw. Regionalisierung traditioneller Kulturen, sondern auch deren Folklorisierung, das heißt Vermarktung und politischen Instrumentalisierung Vorschub leisteten. 3 Das auf den Weltausstellungen Gezeigte befeuerte in den westlichen Industrienationen geführte Kulturdebatten. Vor allem in Großbritannien mit der maßgeblich durch William Morris vorangetriebenen Arts and Crafts-Bewegung, aber auch in den deutschsprachigen Ländern und andernorts wurde angeregt diskutiert, inwiefern die durch industrielle Fertigung ermöglichte Massenproduktion insbesondere von Konsumgütern nicht nur eine Entwertung der heimischen handwerklichen Arbeit und der individualkünstlerischen Gestaltung bedeutete, sondern auch der ästhetischen Erziehung abträglich war. Demgegenüber propagierte der österreichische Architekt und Publizist Adolf Loos eine Abkehr vom schmückenden Ornament zugunsten einer rein funktionsorientierten Gestaltung, die bald zum Markenzeichen modernen Industriedesigns wurde. Einen für den Zusammenhang wichtigen Debattenbeitrag leistete auch der österreichische Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Alois Riegl. In seiner Schrift Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie (1894) verwandte er sich – auch angesichts entsprechender Entwicklungen auf den Weltausstellungen – gegen die Folklorisierung regionaltypischer Kulturgüter. Riegl schlug eine wirtschaftsgeschichtlich fundierte Definition von „Volkskunst“ vor, die er als lokale, traditionelle Praktiken scharf abgrenzte von der „allgemeinen Kunstgeschichte, die nichts anderes ist als die Geschichte der internationalen Kunstentwicklung“ 4. Diese „Universalkunst“ werde durch interkulturelle Begegnungen und Austauschbeziehungen vorangetrieben, während die „absterbende Volkskunst“ 5 ihre Zukunft im historischen Museum habe. Tatsächlich waren mit dem Museum of Manufactures in

„Made in Hessen“ geht es nicht um eine Zurschaustellung „des Hessischen“, sondern von in Hessen gefertigten Industrieprodukten, die auch, wenn nicht vor allem aufgrund ihrer formalen Gestaltung besonders erfolgreich waren und es zum Teil immer noch sind. Herausragende und deshalb in der Ausstellung mit Exponaten vertretene Beispiele liefern die Firmen Thonet und Braun sowie die Wächtersbacher Steingutfabrik. Der aus Boppard am Rhein stammende Schreiner und Firmengründer Michael Thonet hatte ab etwa 1830 mit dem Biegen von Holz experimentiert. 1851 erfolgte auf der Londoner Weltausstellung der erste internationale Auftritt, unter anderem mit einer Garnitur geschwungener Sitzmöbel und Tische aus Buchenholz, für die Thonet mit einer Bronzemedaille ausgezeichnet wurde. 6 Zu dem Zeitpunkt war das Unternehmen bereits nach Wien übergesiedelt, und wenige Jahre später löste die industrielle Herstellung von Serienprodukten die handwerklich gefertigten Einzelstücke ab. Diesbezüglich Maßstäbe setzte das 1859 entwickelte, aus nur sechs Einzelteilen bestehende Modell Nr. 14, die Urform des Wiener Kaffeehausstuhls, mit kreisrundem Sitzrahmen und geschwungener Rückenlehne aus zwei Bugholzbögen. Sigfried Giedion erkannte darin eine „durch Serienproduktion gereinigte Form“ 7. Tatsächlich handelte er sich bei Thonets Sessel Nr. 14 um ein qua Herstellungstechnik, Materialbehandlung und Formfindung für die industrielle Fertigung und den effizienten Vertrieb ideal geeignetes Produkt (vgl. Abb. 2), das wegen seines günstigen Preises auch als „Drei-Gulden-Sessel“ bezeichnet wurde und folglich für breite Gesellschaftskreise erschwinglich war. 8 Thonet hatte 1856 eine erste Fabrik im mährischen Abb. 1: „Das Deutsche Dorf“ auf der World’s Columbian Exposition 1893 in Chicago, aus: Über Land und Meer, Jg. 35, 70, 1893, S. 947

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London (gegr. 1852; heute Victoria & Albert Museum), dem k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien (gegr. 1863; heute Museum für Angewandte Kunst) und dem Deutschen Gewerbe-Museum zu Berlin (gegr. 1867) erste nationalstaatlich geförderte Häuser eröffnet worden, die umfangreiche Sammlungen als Inspirationsquellen für die kunstgewerbliche und industrielle Fertigung bereithielten. Eine Abgrenzung „moderner“ Entwürfe von eher als „volkskundlich“ oder „ethnographisch“ zu etikettierenden Vorlagen war ein wichtiges Thema in dieser Konsolidierungsphase sowohl der Museumslandschaften als auch der universitären Disziplinen.

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Abb. 2: Demonstrationskiste aus Plexiglas von etwa einem Kubikmeter Inhalt, beinhaltet 36 demontierte 14er Thonet Sessel (aus: Vegesack, Das Thonet Buch, 1987, S. 60)

Koritschan errichtet, wo es reiche Buchenholzvorkommen gab. Ein gut organisiertes Filial- und Vertriebssystem in ganz Europa sowie, ab 1873, in den Vereinigten Staaten beförderte die steigende Nachfrage und machte weitere Produktionsstätten erforderlich. Für die Eröffnung einer Fabrik auch im hessischen Frankenberg/Eder 1889 sprachen sowohl die waldreiche Umgebung, billige Arbeitskräfte und der bevorstehende Eisenbahnanschluss als auch der Umstand, dass das Deutsche Reich Einfuhrzölle auf Importwaren verhängt hatte, um seine

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eigene Industrie zu schützen. 9 In dem vormals strukturschwachen Frankenberg, das durch die Fabrikansiedlung einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte, wurde somit vor allem für den deutschen Markt produziert. Grundlage war die in Wien entwickelte Palette von Bugholzmöbeln, die ab 1929 um Stahlrohrstühle nach Entwürfen von Mart Stam, Marcel Breuer, Anton Lorenz und anderen erweitert wurde. In nationalsozialistischer Zeit bot das hessische Werk der Gebrüder Thonet zudem „Bauernsessel und Modelle im altdeutschen Stil“ an – offenbar nur für den Vertrieb innerhalb des Reichs. Laut Katalogblatt stammten die „eigenen und fremden Entwürfe“ von dem der Deutschen Arbeitsfront (DAF) unterstellten Amt „Schönheit der Arbeit“. 10 Faktisch handelte es sich um schmucklose Holzstühle mit rechteckiger Sitzfläche und trapezförmiger, aus vier Stäben geformter Rückenlehne (vgl. Abb. 3). Ein konkreter Bezug zu landestypischer Hausindustrie ist nicht erkennbar, aber mit der Etikettierung als „Bauernsessel“ im „altdeutschen Stil“ wurde eine Verankerung im regionalen Brauchtum und Handwerk behauptet. Nach dem Zweiten Weltkrieg griff die von Georg Thonet, einem Urenkel des Unternehmensgründers, übernommene Gebrüder Thonet AG in Frankenberg die Formensprache der frühen Wiener Jahre erfolgreich wieder auf und machte sie zum Markenkern des Unternehmens (s. S. 82–83, Bugholzstuhl 214, Entwurf Paul Stanoßek, 1960). 11 Der Kaffeehausstuhl, ein frühindustrielles Massenprodukt, gilt heute als Klassiker und Design-Ikone. Er transportiert das Flair der modernen europäischen Großstadtkultur, und das hat, der seriellen Fertigung zum Trotz, heute auch seinen Preis. Mit der Wiederaufnahme eines historischen Verkaufsschlagers aus dem eigenen Haus bekräftigte Thonet seinen Status als Vorreiter und Experte des modernen Industriedesigns, dem nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr Bedeutung als Wirtschaftsfaktor beigemessen wurde. 12 Die zunächst in Frankfurt a. M., dann in Kronberg im Taunus ansässige Elektrogeräte-Firma Braun setzte ab den frühen 1950er Jahren auf eine konsequente Integration von Formgestaltung, Produktentwicklung und -vermarktung nach dem Vorbild des historischen Bauhaus. Beiden Unternehmen – Thonet und Braun – gelang es, Form- und Traditionsbewusstsein wertschöpfend einzusetzen und mit ihren wiedererkennbaren Markenprodukten weltweit nachgefragt zu sein. Die funktionalistische Ästhetik der sogenannten „Braun-Linie“ geht maßgeblich auf die Zusammenarbeit mit der 1953 gegründeten Hochschule für Gestaltung in Ulm zurück. 13 Die in den ersten Jahren von dem Architekten Max Bill geführte HfG Ulm bot eine industrieorientierte Designausbildung und erhielt von der Firma Braun zahlreiche Gestaltungsaufträge. Prägende Entwerfer von Unterhaltungselektronik und Haushaltselek-

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Abb. 3: Thonet-Katalogblatt, um 1940 (aus: Hackenschmitd/Thillmann, Bugholz, vielschichtig, 2020, S. 63)

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trogeräten der Marke Braun waren Hans Gugelot und, ab Mitte der 1950er Jahre, Dieter Rams und Reinhold Weiss (vgl. S. 84, Phonosuper SK 5, Entwurf Hans Gugelot, Dieter Rams und Wilhelm Wagenfeldt, 1958). Mit der Einrichtung eigener Abteilungen für Form- und Produktgestaltung, denen ab 1960 der Kunsthistoriker und Theaterregisseur Fritz Eichler vorstand, erklärte das Unternehmen das Industriedesign zu einer tragenden Säule des Geschäfts und seiner internationalen Ambitionen. Das entsprach durchaus dem Zeitgeist und den volkswirtschaftlichen Interessen der jungen Bundesrepublik. Auf Beschluss des Bundestages war schon 1951 der Rat für Formgebung (German Design Council) mit Sitz in Darmstadt, später Frankfurt a. M., ins Leben gerufen worden. Zusammen mit weiteren einschlägigen Fördereinrichtungen sollte er dazu dienen, „die bestmögliche Form deutscher Erzeugnisse sicherzustellen“ 14. In dem Rahmen erfuhr die häufig sogenannte ‚gute Form‘ die größte Wertschätzung. Damit war eine rationale, funktionalistische, nüchterne und ‚ehrliche‘ Produktgestaltung gemeint, deren wesentlicher Bezugspunkt das Bauhaus der Zwischenkriegszeit war. Speziell in Hessen gab es mit der „Frankfurter Küche“ (1926; vgl. S. 61–63) von Margarete Schütte-Lihotzky und den Automobil-Entwürfen von Walter Gropius für die Adler-Werke in Frankfurt a. M. wichtige Vorläufer. Die Gründung des Verbands deutscher Industriedesigner (VDID) im Jahr 1959 konsolidierte den Nachkriegstrend und stärkte neuerlich die Berufsgruppe. Ein VDID-Gründungsmitglied war Günter Kupetz, der 1971 die Normbrunnenflasche (vgl. S. 124) entwarf und als einer der ersten Professoren für Industriedesign an die Gesamthochschule Kassel berufen wurde. Schon lange bevor sich die Firma Braun wegen Formfragen mit der HfG Ulm verband, hatten hessische Unternehmen den Kontakt mit innovativen Künstlern und Kunstschulen gesucht, um ihre Produkte gut aussehen zu lassen und dann auch besser im In- und Ausland verkaufen zu können. Ein prominentes Beispiel ist die 1832 im kurhessischen Schlierbach gegründete Wächtersbacher Steingutfabrik. Schon unter der Leitung des Chemikers Max Roesler 1874 bis 1890 hatte die Produktion einen merklichen Qualitätssprung vom einfachen Gebrauchsgeschirr zum gehobenen Kunstgewerbe für den gesamten Haushalt gemacht, und das Unternehmen war damit zum führenden Steingutproduzenten im Deutschen Reich aufgestiegen. Im frühen 20. Jahrhundert setzte der Zeichner und Kunstkeramiker Christian Neureuther diese Entwicklung fort. 15 Sein Engagement für Wächtersbach fiel zeitlich zusammen mit der von Ernst Ludwig Großherzog von Hessen und bei Rhein auf der Darmstädter Mathildenhöhe angesie-

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delten Künstlerkolonie, die der hessischen Wirtschaft neue gestalterische Impulse geben und damit ihre Konkurrenzfähigkeit auf den internationalen Märkten erhalten sollte. 16 Ernst Ludwig war von der Arts and Crafts-Bewegung und dem internationalen Jugendstil inspiriert und überzeugt davon, dass sich das im Ausland gering geschätzte Niveau der Güter „Made in Germany“ 17 durch eine gezielte Förderung der Künste und vor allem des Kunstgewerbes würde steigern lassen. Zu dem Zweck lud der Großherzog nicht nur namhafte Architekten, Entwerfer und Kunsthandwerker in seine Kolonie und zur Arbeit auf der Mathildenhöhe ein. Er unterstützte auch repräsentative, weit über die Grenzen Hessens hinaus Aufmerksamkeit findende Ausstellungen auf dem Gelände und ließ in Darmstadt hauseigene Manufakturen und Ausbildungsstätten einrichten. Christian Neureuther hatte frühzeitig Kontakt mit der 1899 etablierten Künstlerkolonie und gründete 1901 ein keramisches Atelier in Schlierbach, das 1903 als eigenständige „Kunstkeramische Abteilung“ der Steingutfabrik eingegliedert wurde. Inspiriert vom Darmstädter Jugendstil und anderen zeitgenössischen Kunstströmungen entwarfen Neureuther und seine Mitarbeiter Wandteller, Vasen, Schalen und andere Ziergefäße für die Fabrikproduktion (vgl. S. 81, Christian Neureuther, Zierteller, um 1900). Hinzu kamen Vorlagen von Künstlern der Mathildenhöhe, die von Wächtersbach diverse Keramikobjekte und Geschirre fertigen ließen, um sie als Teil von Modelleinrichtungen in Ausstellungen zu präsentieren. 18 Wichtige Entwerfer waren Joseph Maria Olbrich, Hans Christiansen und Albin Müller. Einen maßgeblichen Impuls für das Wiederaufleben von Zierfigürchen, die nun erschwinglich waren und den bürgerlichen Haushalt schmückten, gab die Großherzogin Eleonore. 1910 ließ sie in Wächtersbach sogenanntes „Wohlfahrtssteingut“ fertigen und förderte damit sowohl das Schlierbacher Unternehmen als auch die Mütter- und Säuglingsfürsorge in Hessen. Die Modelle lieferte der gelernte Goldschmied Ernst Riegel und leistete damit eine „in Formgebung, Farbgestaltung und Glasur materialgerechte Erneuerung“ der Kleinplastik aus Steingut. 19 Für seine Figuren-Entwürfe griff Riegel auch verschiedene Trachten, vor allem die Schwälmer Tracht aus Oberhessen auf (vgl. Abb. 4) und verband so das moderne, industriell hergestellte Kunstgewerbe mit der regionalen Volkskunst. Mit der Gründung der Darmstädter Künstlerkolonie 1899 hatte Ernst Ludwig auch auf die internationale Bühne gezielt und tatsächlich binnen kurzer Zeit eine starke Präsenz des Großherzogtums bei den großen Weltausstellungen und anderen wichtigen Schauplätzen erwirkt. 20 Schon im Jahr 1900, bei der Weltausstellung in Paris, erzielte Joseph Maria Olbrich, der Spiritus rector der Künstlerkolonie, mit seinem bis ins Detail durchkomponierten „Darmstädter Zimmer“

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Abb. 4: Ernst Riegel: Hessische Bäuerin in Festtagstracht, 1904, Wächtersbacher Steingut, Höhe 25 cm (Dauerleihgabe der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Vonderau Museum Fulda, Inv.Nr. LV 56/IV Ea 939, Foto: Vonderau Museum Fulda)

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einen durchschlagenden Erfolg. Das Ensemble war in der deutschen Kunstgewerbeabteilung zu sehen, beinhaltete neben den von Olbrich entworfenen und von der Darmstädter Firma Julius Glückert gefertigten Möbeln auch dekorative Arbeiten von Ludwig Habich, Rudolf Bosselt, Paul Huber und Peter Behrens und begeisterte die internationale Fachwelt. Weitere erfolgreiche Ausstellungsauftritte, unter anderem in Turin 1902, bei den Weltausstellungen in St. Louis 1904 und Brüssel 1910, festigten Darmstadts Ruf als Nährboden moderner Formensprache und Produktgestaltung. Der Kunsthistoriker Paul Sigel spricht von einer „‚Marke‘ für Innovationsimpulse mit internationaler Strahlkraft“, als die sich „Darmstadt“ und der „Darmstädter Stil“ seit der Pariser Weltausstellung durchgesetzt hätten. 21 Es wäre noch zu erforschen, inwiefern der Darmstädter Erfolg, an dem auch die Wächtersbacher Steingutfabrik einen Anteil hatte, das internationale Parkett für weitere Produkte „Made in Hessen“ ebnete. Innerhalb des Großherzogtums gab die Künstlerkolonie wichtige Impulse, auch für lange schon in der Region verankerte, traditionelle Handwerke und Gewerbe, denen der aufgeschlossene Großherzog und die von ihm protegierte Künstlerschaft zum Schritt in die Moderne verhelfen wollten – mit mehr oder weniger Erfolg. Die auf der Mathildenhöhe 1908 präsentierte Hessische Landesausstellung für Freie und Angewandte Kunst war ein Fanal in diese Richtung (vgl. Abb. 5). Sie versammelte Kunst, Kunstgewerbe und Industrieprodukte „Made in Hessen“ auf eine bislang nicht gesehene Weise. Dieser historischen Binnenschau setzt die aktuelle Ausstellung eine global geweitete Perspektive entgegen, die hessische Kunst- und Industriegeschichten mit der Welt verbindet und im Mittel der Exponate anschaulich macht. Der Wächtersbacher Jugendstil, der klassische Kaffeehausstuhl und der moderne „Schneewittchensarg“ von Dieter Rams sind ebenso „Made in Hessen“ wie international zu Hause. Ihr besonderer Bezug zu Hessen ergibt sich weniger aus der formalen Gestaltung als aus günstigen Umständen am historischen Entstehungsort. Neben reichlich natürlichen Ressourcen (Holz, Ton, Arbeitskräfte) brauchte es eine Unternehmensführung, die den Wert des Designs und von Designern erkannte.

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Abb. 5: Friedrich Wilhelm Kleukens/Hof- und Buchdruckerei Heinrich Hohmann, Darmstadt, Plakat für die Hessische Landesausstellung für Freie und Angewandte Kunst, 1908 (Institut Mathildenhöhe, Städtische Kunstsammlung Darmstadt, Foto: Gregor Schuster)

Anmerkungen Die Literatur zum Phänomen Weltausstellung ist reichhaltig und umfangreich. Aus der vorhandenen Fülle hier nur der Hinweis auf den Forschungsbericht von Alexander C. T. Geppert, Welttheater. Die Geschichte des europäischen Ausstellungswesens im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht, in: Neue politische Literatur 2002(1), S. 10–61. S. a. Alexander C. T. Geppert, Weltausstellungen, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2013–06–20. URL: http://www.ieg-ego.eu/gepperta-2013-de URN: urn:nbn:de:0159–2013052109 [2022–10–02]. 2 Vgl. Roland Robertson, Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 192– 220. 3 Siehe auch Paul Sigel, Exponiert. Deutsche Pavillons auf Weltausstellungen, Berlin 2000. Ethnographische Dörfer dienten auch der Zurschaustellung und Exotisierung von Menschen, Architekturen und Gegenständen aus den Kolonien. 4 Alois Riegl, Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie. Berlin 1894, S. 2. Riegl spricht in dem Zusammenhang auch von „Universalkunst“ 5 Ebd. S. 32. 6 Zu Michael Thonet und der Firma Thonet vgl. Alexander von Vegesack, Das Thonet Buch, München 1987; Gerhard Bott (Hg.), Sitz-Gelegenheiten. Bugholz- und Stahlrohrmöbel von Thonet, AK Germanisches Nationalmuseum 29. 11. 1989–18. 2. 1990, Nürnberg 1989; Alexander von Vegesack (Hg.), Thonet. Pionier des Industriedesigns. 1830–1900, AK Vitra Design Museum 30. 9. 1994–26. 03. 1995, Weil am Rhein 1994; Sebastian Hackenschmidt/Wolfgang Thillmann, Bugholz, vielschichtig. Thonet und das moderne Möbeldesign, Basel 2020. 7 Sigfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte (1948), Frankfurt a. M. 1982, S. 535. 8 Vgl. Wolfgang Thillmann, Thonet im 19. Jahrhundert, in: Hackenschmidt/Thillmann, Bugholz, vielschichtig, Basel 2020, S. 22–47, hier S. 32–38. 9 Ebd. S. 38. Zu Thonet in Frankenberg siehe auch Fritz Werner Haver, 100 Jahre Thonet Frankenberg. Festschrift, Marburg [1989]. 10 Zu diesem kunstgeschichtlich noch zu wenig erforschten Amt vgl. Chup Friemert, Produktionsästhetik im Faschismus. Das Amt „Schönheit der Arbeit“ von 1933–1939, München 1980. 11 Vgl. Heimo Keindl, Die Thonet-Unternehmen in Österreich und Deutschland nach 1945, in: Hackenschmidt/Thillmann, Bugholz, vielschichtig, Basel 2020, S. 64–78, hier S. 66–70. 12 Vgl. François Burkhardt, Design in der Bundesrepublik Deutschland, in: Heinz Fuchs/ François Burkhardt, Produkt Form Geschichte. 150 Jahre deutsches Design, AK Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart, Berlin 1988, S. 68–93. Für einen nach wie vor guten und deshalb mehrfach wiederaufgelegten Überblick zur Geschichte des Designs in Deutschland siehe Gerd Selle, Design-Geschichte in Deutschland. Produktkultur als Entwurf und Erfahrung, Köln 1987. 13 Zu Firma Braun und Industriedesign vgl. Hans Wichmann, Mut zum Aufbruch. Erwin Braun 1921–1992, München 1998; Industrie Forum Design Hannover (Hg.), Dieter Rams, Designer, Die leise Ordnung der Dinge, Göttingen 1990; Sophie Lovell, Dieter Rams: As 1

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Little Design as Possible, London 2011; Hans Wichman (Hg.), Systemdesign. Bahnbrecher Hans Gugelot 1920–1965, München 1984. S. a. Burkhardt, Design, S. 74–78. 14 Beschluss des Bundestages 1951, zit. nach: Bernd Meurer/Hartmut Vinçon, Industrielle Ästhetik. Zur Geschichte und Theorie der Gestaltung, Gießen 1983, S. 173. Vgl. Selle, Design-Geschichte, S. 248 f.; Burkhardt, Design, S. 83. 15 Zur Wächtersbacher Steingutfabrik vgl. Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen/ Thomas Wurzel (Hg.), Wächtersbacher Steingut. Die Sammlung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Frankfurt a. M. 2001; Heinz und Lilo Frensch, Wächtersbacher Steingut, Königstein i. T. 1978. 16 Zur Darmstädter Künstlerkolonie vgl. die sehr gute Überblicksdarstellung von Renate Ulmer, Jugendstil in Darmstadt, Darmstadt 1997. 17 Vgl. den Beitrag von Christian Kleinschmidt in diesem Band, S. 27. 18 Vgl. Renate Ulmer, Die Wächtersbacher Steingutfabrik und der Jugendstil, in: Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen/Thomas Wurzel (Hg.), Wächtersbacher Steingut, 2001, S. 47–53. 19 Ekkehard Schmidberger, Figürliches Steingut, in: Sparkassen-Kulturstiftung HessenThüringen/Thomas Wurzel (Hg.), Wächtersbacher Steingut, 2001, S. 57–63, hier S. 60. 20 Vgl. Paul Sigel, „Most charming examples“. Beiträge der Darmstädter Künstlerkolonie auf internationalen Ausstellungen um 1900, in: ICOMOS Nationalkomitee der BRD (Hg.): „Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze Stadt!“ Die Künstlerkolonie auf der Darmstädter Mathildenhöhe, Berlin 2017, S. 69–80. 21 Ebd. S. 79.

Themen der Ausstellung

Funktionalität auf kleinstem Raum Christina Reinsch/Katharina Fuhrhop

61 FUNKTIONALITÄT AUF KLEINSTEM RAUM

Mit fortschreitender Industrialisierung übertrug sich das Streben nach einem möglichst effizienten Einsatz von Ressourcen von der industriellen Fabrikproduktion auf den privaten Bereich. So wurde die Küche im frühen 20. Jahrhundert zum Ort wissenschaftlicher Studien nach dem Vorbild des US-amerikanischen Ingenieurs Frederick Winslow Taylor. Ziel war es, platzsparende Lösungen zu entwickeln, Produktionskosten zu senken und die Hausarbeit zu erleichtern. Das prominenteste Beispiel für Normierung und Rationalisierung im häuslichen Bereich ist die sogenannte Frankfurter Küche. Sie gilt als Urtyp der modernen Einbauküche. Entwickelt wurde sie von der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky für die Wohnungen des Stadtplanungsprogramms das Neue Frankfurt. Das Bauvorhaben war sozial motiviert. Daher wurden die Baukosten und damit die Mieten möglichst klein gehalten. Der Schlüssel hierzu: Eine einfache Ausstattung, kleiner Wohnraum und Serienproduktion. Kern dieser funktionalen Wohnungen war die Küche, die nun nicht mehr Wohnraum, sondern Arbeitsplatz war. Bei der Küchenentwicklung nutzte Schütte-Lihotzky Taylors Methoden: Sie maß die Wegstrecke, die in einer Wohnküche täglich zurückgelegt wurde, sowie die Zeit, die eine Hausfrau für einzelne Tätigkeiten benötigte. Dann optimierte sie den Raum und gab Instruktionen, wie darin effizient gearbeitet werden konnte. Fast zeitgleich beschäftigte sich der Ingenieur Werner Sell mit den Ideen der typisierten und zweckmäßigen Arbeitsküche. Sell kam 1933 als technischer Direktor der Burger Eisenwerke nach Herborn. Er nutzte das vorhandene KnowHow im Bereich der Kochherde der Marke Juno und entwickelte eine funktionale Stahleinbauküche mit sogenanntem „Kühlherd“, einer Kombination aus Herd und Kühlschrank. Als in den direkten Nachkriegsjahren die erhoffte Nachfrage ausblieb, brachte Sell seine Firma 1963 in die Burger Eisenwerke ein. Der Marktdurchbruch gelang ihm schließlich in einem Produktionszweig mit internationaler Ausrichtung: Der Entwicklung einer Flugzeugküche neuen Typs für den wachsenden transatlantischen Luftverkehr seit den späten 1950er Jahren. Verbaut in Flugzeugen zahlreicher internationaler Airlines, reisen Flugzeugküchen aus Herborn bis heute um die Welt.

„Haarer Schütte“ Aluminiumschütte der Firma Haarer, zwischen 1926 und 1931 (ernst-may-gesellschaft e. V., Frankfurt a. M.)

FUNKTIONALITÄT AUF KLEINSTEM RAUM

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Als Teil der standardisierten Kücheneinrichtung gehörte ein Schrank mit Aluminiumschütten zur Grundausstattung der Frankfurter Küche. Entworfen von der Firma Haarer aus Hanau dienten die Schütten als Aufbewahrungsgefäße für trockene Lebensmittel wie Linsen und Gerste. Wie die Frankfurter Küche im Großen waren auch ihre fest eingebauten Möbel im Kleinen nach Effizienzkriterien entwickelten worden. Die Haarer Schütten wurden aus wenigen Teilen schnell und günstig in Serie produziert. Sie waren, wie alle Einrichtungsgegenstände, auf Widerstandsfähigkeit und Langlebigkeit ausgelegt. Durch ihr leichtes Material konnten die Schütten einfach mit einer Hand benutzt werden. Zugleich waren sie pflegeleicht und hygienisch, ein Anspruch, den die Architektin der Küche an den gesamten Raum stellte. Aus diesem Grund war die nur 6,5 Quadratmeter große Küche auch räumlich vom Wohnbereich getrennt. So sollten Dreck und Essensgerüche aus dem Rest der Wohnung ferngehalten werden. Einer umfassenden Öffentlichkeitsarbeit war es zu verdanken, dass sich die Idee der funktionalen Arbeitsküche in der Welt verbreitete, auch wenn die Schütte sich in heutigen Küchen nicht durchgesetzt hat. Das Konzept der Frankfurter Küche wurde vor allem in den USA und Schweden aufgegriffen, weiterentwickelt und verbreitete sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Einbauküche bzw. Schwedenküche auch in Deutschland über Frankfurts Grenzen hinaus. (KF)

Sell Auftauofen produziert für die Fluggesellschaft „Garuda Indonesia“, um 1970 (Wirtschaftsgeschichtliches Museum Villa Grün, Dillenburg)

FUNKTIONALITÄT AUF KLEINSTEM RAUM

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Werner Sell baute als Mitglied der Geschäftsführung der Burger Eisenwerke in den 1950er Jahren die Großküchensparte erfolgreich aus. 1955 hob die erste Flugzeugküche an Bord einer Lufthansamaschine ab, 1960 waren schon hundert Flugzeuge internationaler Airlines damit ausgestattet und die Firma Sell eine vor vier Produzenten weltweit. Um das Gewicht zu minimieren, wurde spezielles Leichtmetall verbaut und jede Küche nach individuellen Wünschen der Fluggesellschaften gefertigt – mit einem Platzbedarf von maximal zehn Quadratmeter. Zu den entscheidenden Neuerungen gehörten der Juno-Auftauofen für vorher tiefgefrorene Gerichte und eine elektrische Spezialkaffeemaschine, wodurch erstmals eine große Zahl an Passagieren mit warmen Speisen in der Luft versorgt werden konnte. (CR)

Effizient ernährt Amalka Hermann

65 EFFIZIENT ERNÄHRT

Mit der Industrialisierung wurden Produktionsabläufe immer effizienter und schneller. Auch die Lebensmittelindustrie wurde vom Effizienzgedanken erfasst, um die Ernährung für eine wachsende Bevölkerung zu sichern und Hungersnöten sowie Mangelernährung entgegenzuwirken. Wissenschaftler*innen und Forscher*innen arbeiteten daran, Produkte haltbarer zu machen und Produktionsmöglichkeiten zu beschleunigen sowie preiswerte Ersatzprodukte, etwa bei stark steigenden Fleischpreisen, zu entwickeln. Zahlreiche daraus resultierende Entdeckungen und Erfindungen prägen noch heute unser Leben: So wäre zum Beispiel eine effiziente Landwirtschaft ohne Mineraldüngung nicht denkbar. Die praktische Anwendung der Lehre Justus Liebigs führte zur Vervielfachung der Ernteerträge. Brühwürfel und Tütensuppen gehen ebenfalls auf Liebig zurück, dessen Fleischextrakt der Vorläufer dieser Produkte ist. Liebigs Fleischextrakt entwickelte sich in Europa zum Exportschlager.

Zehn Glasgefäße mit verschiedenen Bestandteilen von Mineraldünger, 2002 (Liebig-Museum und -Laboratorium, Gießen)

EFFIZIENT ERNÄHRT

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Im Jahr 1840 erschien Liebigs Studie Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie, in der er seine Mineralstofftheorie und deren praktische Anwendung darlegte. Liebigs Grundgedanke war, dass es einen Nährstoffausgleich geben muss. Da die Pflanzen dem Boden Nährstoffe entziehen, müssten diese durch Düngung zurückgegeben bzw. wieder angereichert werden, um einen langfristigen Ertrag zu gewährleisten oder diesen zu steigern. Bei den hier zu Demonstrationszwecken in Gläsern abgefüllten Mineraldüngerbestandteilen handelt es sich um Knochenmehl, Guano, Superphosphat, Kalirohsalze, Chilesalpeter, Mischdünger, Thomasphosphat, Kalkstickstoff, Branntkalk und kohlesauren Kalk.

Liebig-Bilder-Serie 902: Geschichte der Masse und Gewichte 5. Wage in einem chemischen Laboratorium (17. Jahrh.), 1914–1917, 73 � 112 mm (Oberhessisches Museum Gießen) Liebig beschäftigte sich intensiv mit der Frage, wie tierische Rückstände sinnvoll weiterverarbeitet werden können, und es gelang ihm, Fleischbrühe in Pulver umzuwandeln. 1865 gründete der deutsche Ingenieur Georg Christian Giebert „Liebig’s Extract of Meat Company Limited“ (LEMCO) im südamerikanischen Uruguay. Dort konnte der Extrakt aufgrund der niedrigen Fleischpreise kostengünstig und großindustriell produziert werden. Liebig war der Leiter der wissenschaftlichen Abteilung und in Deutschland für die Qualitätskontrolle zuständig. Ab 1872 wurden gezielt Sammelbildchen genutzt, um den Fleischextrakt international zu vermarkten. Die „Liebig Company“ gilt deshalb als ein Pionier auch auf dem Gebiet des Marketings.

Hochspannung in Hessen Ingo Sielaff

69 HOCHSPANNUNG IN HESSEN

Im Jahr 1891 bewies der Ingenieur Oskar von Miller auf der Elektrotechnischen Ausstellung in Frankfurt a. M., dass es möglich ist Strom über weite Entfernungen zu transportieren. Das erfolgreiche Experiment befeuerte den Siegeszug der Elektrizität und die Industrielle Revolution. Jetzt war es möglich, auch abgelegene Industriestandorte in kleineren Städten mit Strom für ihre Maschinen zu versorgen, so dass sie für den Weltmarkt produzieren konnten. Die Elektrizität hielt zudem Einzug in die privaten Haushalte. In der Folgezeit entstanden vielerorts Großkraftwerke – in Frankfurt a. M., Kassel, am Edersee und im Jahr 1922/23 im nordhessischen Borken. Hier nutzte man Braunkohle zur Erzeugung elektrischer Energie. Das Kraftwerk trug maßgeblich dazu bei, die Main-Weser-Region zu elektrifizieren. Es entwickelte sich schnell zu einem Knotenpunkt in dem entstehenden überregionalen Stromverbundnetz. Zunächst hatte es nur kleinräumige, lokale Leitungsnetze gegeben. Ab dem Jahr 1929 verband eine preußische „Stromsammelschiene“ die Großkraftwerke Borken und Hannover. Diese Überlandleitung wurde später Teil des nationalen deutschen Hochspannungsnetzes. Heute ist sie wichtiger Bestandteil des europäischen Stromverbundnetzes. Am Beispiel des Großkraftwerks Borken lassen sich die wichtigsten Entwicklungslinien der Energiepolitik des 20./21. Jahrhunderts im Detail nachzeichnen. Ein Nachteil bei dem Verbrennen fossiler Energieträger ist, dass klimaschädliche Treibhausgase entstehen, die zur Erderwärmung beitragen. Schon jetzt zeigen sich die globalen Auswirkungen des Klimawandels auch in unserer Region. Die deutsche Regierung hat daher den Ausstieg aus der Kohleverstromung beschlossen. Fossile Energie soll durch regenerative Energien ersetzt werden. Mit der Energiewende stehen wir heute vor einer ähnlichen Aufgabe wie unsere Vorfahren vor hundert Jahren. Während sie das Stromnetz aufbauten, muss es jetzt komplett umgestaltet werden – eine Jahrhundertaufgabe. Das heutige Umspannwerk Borken ist als eine der modernsten Anlagen Europas bereits Teil dieser Entwicklung.

HOCHSPANNUNG IN HESSEN

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Plakat zur Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung, 1891 Lithografie und Druck von J. C. Metz nach einem Entwurf von Frank Kirchbach, 1891 (Historisches Museum Frankfurt) Die griechische Göttin des Lichts reckt eine Lampe in den Himmel, die hell erstrahlt. Ihr zu Füßen liegt der Titan Prometheus. Der Göttervater Zeus ließ ihn als Strafe dafür, dass er den Menschen das Feuer gebracht hatte, an einen Felsen ketten. Wenn man sich das Plakat genau ansieht, sind die Ketten gebrochen. Prometheus ist frei. Es scheint, als ob der Titan im 19. Jahrhundert nun einen zweiten Frevel begangen hat. Symbolisiert durch die Blitze des Zeus in seiner rechten Hand, hat er den Menschen die Elektrizität geschenkt – jene unsichtbare Kraft, die Lampen zum Leuchten und Licht in die Dunkelheit bringt.

Braunkohlekraftwerk Borken, Postkarte aus den 1950er Jahren (Preußen Elektra/Archiv Hessisches Braunkohle Bergbaumuseum Borken) Das Großkraftwerk verfeuerte von 1923 bis 1991 etwa 66 Millionen Tonnen Braunkohle und erzeugte damit 58 Millionen Kilowattstunden Strom. Zum Zeitpunkt seiner höchsten Ausbaustufe versorgte es über 600 000 Menschen mit elektrischer Energie. Die Grundlage bildete der Eingriff in den Naturraum durch den Abbau des größten hessischen Braunkohlevorkommens.

Konkurrenz belebt das Geschäft? Bärbel Maul

73 KONKURRENZ BELEBT DAS GESCHÄFT?

Schon im 18. Jahrhundert stieg Niederselters im Taunus zum Weltmarktführer unter den Mineralwasserbrunnen auf. Zum Erfolg trugen Ärzte und Wissenschaftler bei, die dem Wasser eine besondere Heilwirkung zuschrieben. Eine umfassende chemische Analyse lieferte 1868 Remigius Fresenius. Das wissenschaftlich untermauerte Qualitätsversprechen, der frühe internationale Erfolg und der Bekanntheitsgrad des Wassers machten es zu dem vielleicht ältesten Markenartikel der Welt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging Niederselters die Marktführerschaft allerdings verloren. Ein Grund war sicher das mittlerweile starke Feld der Konkurrenten, die sich gegenüber technischen Innovationen zum Teil offener zeigten als die Brunnenbetreiber im Taunus. Die Marke Opel steht heute für das Automobil, mit den Adlerwerken verband man im 20. Jahrhundert zuallererst Schreibmaschinen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konkurrierten die beiden hessischen Fabrikanten aber mit einem ganz anderen innovativen Produkt um die Gunst des Publikums – mit dem Fahrrad. Es war Heinrich Kleyer, der Gründer der Adlerwerke in Frankfurt a. M., der das endlich zur Produktionsreife gelangte Hochrad ab 1880 in Deutschland populär machte. Zur gleichen Zeit hielt die Familie Opel, die in Rüsselsheim im großen Stil Nähmaschinen herstellte, Ausschau nach einem neuen Produkt. Als zweites Erzeugnis, das Konjunkturschwankungen im Saisonbetrieb abfedern konnte, eignete sich auch für sie das Fahrrad. Im Fahrradboom schossen in Deutschland neue Fabriken wie Pilze aus der Erde. Während Kleyer vor allem auf die technische Optimierung seines Produkts setzte, legte Opel größten Wert auf moderne Produktionsstätten und Serienfertigung, um sich im Wettbewerb zu behaupten. 1893 waren Niederräder mit Luftbereifung der letzte Schrei auf der Weltausstellung in Chicago, wo die beiden Konkurrenten Seite an Seite die deutsche Fahrradindustrie vertraten. Auf der Galerie des Transportation Building, der Ausstellungshalle für die mobilen Träume der Zeit, präsentierten beide Firmen nur wenige Meter voneinander entfernt ihre besten Produkte.

Zwei Mineralwasser-Krüge, ca. 1866 (Stadt- und Industriemuseum Rüsselsheim / Selters-Museum in Niederselters)

KONKURRENZ BELEBT DAS GESCHÄFT?

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Bis zur Erfindung einer neuen Glasschmelztechnik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde nicht nur das Mineralwasser aus Selters im Taunus in Tonkrügen in alle Welt geliefert. Die Krüge der meisten Brunnen glichen sich wie ein Ei dem anderen. Allein die auf die Flasche aufgebrachten Stempel kennzeichneten – wenn sie wahrheitsgemäß verwandt wurden – den Inhalt und markierten den Unterschied. Der rechts abgebildete Krug aus Oberselters lässt sich nur an einem kleinen Detail im Stempel von dem Krug mit dem Original-Selterswasser unterscheiden: Der Ortsname Selters ist um ein „O“ (für Oberselters) ergänzt. Verschiedene Brunnenbetriebe kaperten den großen Namen: Kam das echte Selterswasser aus Nieder- oder Oberselters, aus Löhnberg-Selters an der Lahn, war es Selzer aus Großkarben oder künstliches Selterswasser aus Neustadt in Sachsen? Wer wollte hier noch den Überblick behalten?

Kreuzrahmenrad von Adler, ca. 1888 (Firma Buch + Müller, Meinerzhagen) Bereits seit 1886 stellte Adler Nieder- bzw. Sicherheitsräder her. Sein Kreuzrahmenrad baute er nach den Plänen eines englischen Herstellers in Lizenz. Aus dem Hochrad, einem ursprünglich für ein bürgerliches Publikum produzierten Sportgerät, wurde dank technischer Neuerungen mehr und mehr ein massentaugliches Fortbewegungsmittel. Bald kamen Räder aus Adlers eigener Entwicklung zu seiner Produktpalette hinzu. Mit diesen Modellen konnte er sich selbst auf der wichtigsten Fahrradmesse, der Stanley-Show in London, sehen lassen. „Made in Germany“ stand bei Adler-Fahrrädern nicht für billige Nachahmerprodukte, sondern für Wertarbeit und konterkarierte so die Absicht, die sich mit der Kennzeichnungspflicht deutscher Produkte auf dem englischen Markt verband.

Werbeplakat von Max Bittrof für Opel-Fahrräder, ca. 1928 (Stadt- und Industriemuseum Rüsselsheim)

77 KONKURRENZ BELEBT DAS GESCHÄFT?

Mit der Einführung der Fließbandfertigung 1923 stieg Opel zur größten Fahrradfabrik der Welt auf. Die Massenproduktion am Fließband diente auch als Verkaufsargument. Für die firmeneigene Plakatwerbung wurde unter anderem der ausgebildete Graphikdesigner Max Bittrof engagiert.

Meister der Form Franziska Kurt

79 MEISTER DER FORM

Hessen ist die Heimat zahlreicher Unternehmen, die mit der Gestaltung von Alltagsdingen, etwa von Geschirr, Elektroartikeln, Möbeln und Druckerzeugnissen, das Verständnis von Industriedesign geprägt haben. Auf der Grundlage produktiver Ideen und im Wissen um die Bedeutung von Formfragen schufen sie Markenprodukte, die zum Teil bis heute weltweit nachgefragt sind. Die wichtigsten Informationen kurz zusammengefasst: Alois Senefelder genügte am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Beobachtung eines Blattabbildes auf einem Kalkstein, um den Steindruck zu erfinden, der die Grundlage für moderne Flachdruckverfahren bildete und den späteren Werbedruck ermöglichte. Der Tischler Michael Thonet wiederum begann in den 1820er Jahren mit der Technik des Holzbiegens zu experimentieren. Bald entwarf er Möbelstücke aus schichtenverleimten Serienteilen. Die industrielle Herstellung im großen Stil, vor allem von Stühlen und nun in verbesserter, patentgeschützter Bugholztechnik, begann um 1855 in Wien. In den folgenden Jahrzehnten wurden viele Fabriken in Betrieb genommen, 1889 auch im hessischen Frankenberg. Die beiden Weltkriege zerschlugen den europaweiten Firmenkomplex. Nur das Frankenberger Werk stellt bis heute Thonet-Produkte her und ist mit neuen Möbeln in alter Tradition erfolgreich. Bei Gebrauchs- und Ziergeschirr aus Keramik war die Wächtersbacher Steingutfabrik in Schlierbach herausragend und trug mit kreativen Entwürfen auch zum internationalen Jugendstil bei. Schon Max Roesler, Leiter des Unternehmens von 1874 bis 1890, hatte gezielt Designer für die Zuarbeit ausbilden lassen. Das kunstkeramische Atelier von Christian Neureuther setzte diese Tradition im frühen 20. Jahrhundert fort und machte den modernen Ornamentstil zum Markenzeichen der Steingutfabrik. Später war in der Elektronikbranche die in Frankfurt a. M. ansässige Firma Braun mit gut gelösten Formfragen erfolgreich. Sie brachte ab den 1950er Jahren diverse Haushalts- und Phonogeräte auf den Markt, deren schlichtes, funktionalistisches Industriedesign neue ästhetische Standards setzte und der Marke zu internationaler Bekanntheit verhalf.

Lithographie-Stein mit Mozart-Noten [moderne Reproduktion aus der Druckwerkstatt im Bernardbau, Offenbach a. M.] und Konvolut von für den Flachdruck notwendigem Arbeitsmaterial (Haus der Stadtgeschichte, Offenbach a. M.) Alois Senefelder entdeckte 1797/98 das chemische Druckverfahren der Lithographie mit Solnhofer Natursteinplatten. Bereits 1800 ließ der Offenbacher Musikverlag André dann die erste kommerziell produzierende Werkstatt durch Senefelder einrichten. Johann Anton André hatte 1799 von Mozarts Witwe Constanze das handschriftliche Werk des Komponisten erworben und konnte so die Mozart-Noten in hohen Auflagen herstellen und vertreiben. Bald wurden Filialen in Paris und London eröffnet. Die Weiterentwicklung zur Chromolithographie ermöglichte den Druck von farbigen Verpackungen und Werbematerialien. Die Lithographie revolutionierte den Umgang mit Bildern, welche nun viel preiswerter und in hoher Auflage produziert werden konnten. Das Steindruckverfahren gilt als Wegbereiter des heutigen Offsetdrucks.

Christian Neureuther, Zierteller aus Wächtersbacher Steingut, um 1903 (Sammlung Berting, Brachttal) Der Kunstkeramiker Christian Neureuther und seine Werkstatt versorgten die Wächtersbacher Steingutfabrik mit kreativen Entwürfen für die industrielle Produktion. Während die Vorlagen die handgemalte Signatur des Künstlers tragen, sind die für den Verkauf bestimmten Produkte mit der Marke der Kunstabteilung gestempelt. Bei diesem Zierteller verband Neureuther das Motiv des Nachtfalters mit stilisierten Pflanzenelementen zu einem symmetrischen Dekor in der Art des Darmstädter Jugendstils.

MEISTER DER FORM

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Bugholzstuhl 214, Entwurf von Paul Stanoßek, 1960, Esche, schwarz lackiert (Thonet GmbH, Frankenberg an der Eder) Der aus lackiertem Eschenholz gefertigte Bugholzstuhl geht auf eine Idee von Paul Stanoßek zurück, der nach dem Zweiten Weltkrieg Betriebsleiter im Frankenberger Werk war. Stanoßek griff mit diesem Modell den 1859 entworfenen und als Designklassiker geltenden Wiener Kaffeehausstuhl Nr. 14 wieder auf. Wie schon im 19. Jahrhundert setzte Thonet auch in der Nachkriegszeit auf die produktionstechnischen Vorteile eines modularen Holzbausatzes, der eine serielle Fertigung und einen effizienten Vertrieb ermöglichte.

Phonogerät „Braun SK 5“, 1958, Holz, lackiertes Metall, Acrylglas (Braun P&G / Braun Archiv, Kronberg i. T) Bei der Gestaltung dieses freistehenden Funktionsmöbels waren gleich mehrere Designer beteiligt. Der Gesamtentwurf stammt von Hans Gugelot und Dieter Rams, die Plattenspielereinheit von Wilhelm Wagenfeld, während die Typographie der Skalen im Bedienfeld sich an Vorgaben von Otl Aicher orientiert. Das schmucklose Gerät repräsentiert das rationale Markendesign der Firma Braun, die damit langlebige Formstandards etablierte. Die von Rams erdachte Plexiglashaube brachte dem Plattenspieler den Spitznamen „Schneewittchensarg“ ein – im Land von Grimms Märchen ein höchst passender Titel…

Kleines Land – Große (Heil-)Wirkung Franziska Kurt

85 KLEINES LAND – GROẞE (HEIL-)WIRKUNG

Deutschland galt Anfang des 20. Jahrhunderts als „Apotheke der Welt“. Die Durchbrüche in der chemischen Forschung, gepaart mit den industriellen Produktionsmöglichkeiten, hatten die Entwicklung der Medizin massiv beeinflusst und vorangetrieben. Es gab nun erstmals standardisierte Arzneimittel und Narkotika. Vermehrt kamen auch anorganische Stoffe und darauf basierende Herstellungs- und Therapieverfahren zum Einsatz. Auch die globale Vernetzung der Wissenschaft führte zu bahnbrechenden Entdeckungen, von denen viele in Hessen getätigt wurden. Bedeutende Forscher wie Robert Koch, Emil von Behring und Paul Ehrlich, die unter anderem durch die Farbwerke Hoechst gefördert wurden, tauschten sich fachlich aus und entwickelten gemeinsam lebenswichtige Impfstoffe und andere Medikamente, die bald international im Einsatz waren. So konnten im Ersten Weltkrieg mit den neuen Immunisierungsmitteln erfolgreich Tetanus und Cholera behandelt werden. Emil von Behring, der zuvor bereits einen Impfstoff gegen Diphterie entwickelt hatte, trug deshalb im Volksmund auch den Namen „Retter der Kinder und Soldaten“. Die erweiterten Behandlungsmöglichkeiten erforderten eine breite Palette an neuen medizintechnischen Hilfsmitteln. Dazu gehörten sowohl steriles Verbandsmaterial als auch Kanülen, also feine Hohlnadeln, mit denen die verflüssigten Medikamente in den Blutkreislauf injiziert werden konnten. Die Firma B. Braun im hessischen Melsungen ist heute Weltmarktführer für Medizintechnik und medizinisches Bedarfsmaterial. Ihre Produkte – Kanülen, Handschuhe, Desinfektionsmittel, Spritzen etc. – sind heute in Krankenhäusern rund um den Globus zu finden.

KLEINES LAND – GROẞE (HEIL-)WIRKUNG

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Antidiphterieserum-Apothekerdose, um 1920, Porzellan (Sammlung Rosak, Frankfurt a. M.) Der Militärarzt und einstige Assistent von Robert Koch, Emil von Behring, forschte ab 1890 unter anderem mit Paul Ehrlich an einem Heilmittel gegen Diphterie und Tetanus. Behrings Forschungen basierten auf Blutserum und der Gewinnung von Antikörpern aus dem Blut infizierter Tiere. Ab 1894 gelang ihm der erfolgreiche Einsatz eines ersten Präparats gegen Diphterie. 1901 erhielt Behring den neu etablierten Nobelpreis für Medizin und baute mit dem Preisgeld die Behringwerke in Marburg auf.

Myo-Salvarsan, um 1930, Originalverpackung mit Ampulle und Beipackzettel (Sammlung Rosak, Frankfurt a. M.) Der Mediziner Paul Ehrlich arbeitete ab 1891 für Robert Koch in Berlin. 1899 wechselte er nach Frankfurt a. M. und widmete sich dort der chemotherapeutischen Forschung. Er prüfte in Reihenversuchen die Reaktion von Krankheitserregern auf chemische Substanzen. Grundlage dafür war die sogenannte Vitalfärbung, das heißt die Einfärbung von Zellen mit Anilin-Farben der Farbwerke Hoechst. 1910 brachte das Unternehmen mit „Salvarsan“ das erste chemotherapeutische Medikament auf den Markt, das zunächst vor allem gegen die Syphilis eingesetzt wurde.

Pyramidon, ca. 1925–1960 (Sammlung Rosak, Frankfurt a. M.) Der Hauptwirkstoff des fiebersenkenden und entzündungshemmenden Medikaments „Pyramidon“ wurde von den Farbwerken Hoechst entdeckt und erstmals 1893 vermarktet. Auch heute ist er noch in über 200 Medikamenten zu finden. „Pyramidon“ war eines der ersten Präparate, das in die Massenherstellung ging. Es konnte bei Erkältungen, Kopfschmerzen und Zahnschmerzen verabreicht werden und war fester Bestand jeder Hausapotheke. An den verschiedenenen Logos auf den Verpackungen lässt sich die Firmengeschichte ablesen: MLB (= Meister Lucius & Brüning) 1900–1920, Bayer I. G. Farbenindustrie 1925–1945, Farbwerke Hoechst AG 1952–1974.

Katgut A. Jodfreies Steril-Katgut, fein. Firma B. Braun, Originalverpackung vom 11. September 1917 (Haus der Stadtgeschichte, Offenbach a. M.) Julius Braun hatte 1839 die Rosen-Apotheke in Melsungen im Schwalm-Eder-Kreis gekauft. Seine Söhne studierten bei Robert Bunsen in Marburg und Carl Fresenius in Gießen. Im hauseigenen Labor entwickelten sie Medizinbedarf wie Pflaster und anderes Verbandsmaterial. 1882 folgte die Trennung von Apotheke und pharmazeutischem Handel, und 1908 begann die industrielle Produktion. Grundstein für den wirtschaftlichen Erfolg der Firma war das sterile Katgut aus Hammeldarm, mit dem Wunden vernäht wurden, was die Operationstechnik völlig veränderte.

Glück und Geologie Julia Schopferer

91 GLÜCK UND GEOLOGIE

Manchmal ist Erfolg eine Sache des Glücks – und der cleveren Nutzung vorhandener Rohstoffe. Natürliche Ressourcen, wie etwa Sand, Kalkstein oder Ton, gibt es in Hessen reichlich. Ihr Abbau war lange vor der Zeit der Industrialisierung ein wichtiger Bestandteil der hessischen Wirtschaft. Auch heute gibt es noch viele aktive Abbaustellen, allerdings halten die hiesigen kleinräumigen Lagerstätten dem globalen Wettbewerb oft nicht mehr stand. In manchen Fällen spricht zudem der Naturschutz gegen eine Nutzbarmachung von Rohstoffvorkommen. In der Vergangenheit waren natürliche Ressourcen – hier beispielhaft an drei Materialien gezeigt – Ausgangspunkt für die Entstehung heimischer Industrien, die weltweit erfolgreiche Exportschlager hervorbrachten. Der Ton aus dem nordhessischen Großalmerode etwa besitzt eine so hohe Qualität, dass er seit über 800 Jahren der Herstellung von feuerfesten Keramiken dient, wie sie etwa in der Glasherstellung oder in der Edelmetallverarbeitung benötigt werden. Einer besonderen geologischen Formation der Lahnmulde verdanken wir einen polierbaren Kalkstein, der als Lahnmarmor berühmt wurde. Heute wird er zwar nicht mehr als Schmuckstein abgebaut, fand aber weltweiten Absatz, als herrschaftliches Bauen und prachtvolle Innenausstattungen in Mode waren. Die „Gail’sche Dampfziegelei und Tonwarenfabrik“ aus Gießen steht für den entscheidenden Unternehmergeist, den es braucht, um die vorhandenen Bedingungen bestmöglich zu nutzen. Für eine gesamte Region Motor der Industrialisierung, zieren Gail’sche Kacheln heute Gebäude auf der ganzen Welt.

Schmelztiegel und Salbenkruken, 1970er Jahre bis 2021 (Glas- und Keramikmuseum Großalmerode)

GLÜCK UND GEOLOGIE

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Die verschiedenen Eigenschaften der Tonvorkommen waren Ausgangspunkt für ganze Industriezweige in der „Stadt des Tons“. Seit dem 12. Jahrhundert wurde der Ton aus Großalmerode wegen seiner Hitzebeständigkeit zu Glashäfen und Schmelztiegeln verarbeitet. Die hohe Belastung, der die Tiegel ausgesetzt sind, macht sie zum Verbrauchsartikel – eine gute Voraussetzung für ihre Massenproduktion. Ein weiteres Produkt aus dem rohen Fettton ist die Schneiderkreide, mit der Schnittmuster auf Stoffe gezeichnet werden. Noch heute wird sie aus Hessen in die ganze Welt exportiert. Den wasserundurchlässigen Töpferton der Region nutzte man zur Herstellung von Irdenware wie Dachziegeln und Mineralwasserflaschen.

Polierte Probe des Lahnmarmors der Varietät „Estrellante“ (Sammlung Axel Becker, Schupbach) Der sogenannte Lahn- oder Nassauische Marmor, ein hochverdichteter Kalkstein, wurde spätestens seit dem 16. Jahrhundert in mehreren Orten der Lahnmulde abgebaut. Je nach Fundort besitzt der Stein unterschiedliche Maserungen und Farben. Die Anbindung der Lahnregion an das Eisenbahnnetz begünstigte die große internationale Nachfrage, die den Lahnmarmor vor allem im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltberühmt machte. Die Varietät „Estrellante“ wurde beispielsweise 1931 im Foyer des New Yorker Empire State Buildings verbaut. Auch in der Eremitage in Sankt Petersburg, im Kreml und in U-Bahn-Stationen in Moskau, im Bahnhof Haydarpaşa in Istanbul und im Palast des Maharadschas in Tagore fand der Lahnmarmor Verwendung.

Moderne Fliesen der Firma GAIL Ceramics International GmbH, 2010er Jahre (Oberhessisches Museum Gießen) Um neben der Fabrikation von Tabakwaren ein zweites Firmenstandbein zu schaffen, investierte Wilhelm Gail in die Gießener Tonvorkommen – ein durchaus gewagter Schritt. 1891 gründete er dort die „Gail’sche Dampfziegelei und Tonwarenfabrik“. Neben Dachziegeln exportierte die Firma am Ende des 19. Jahrhunderts bereits europaweit glasierte Wand- und Fußbodenplatten. Heute ist Gail ein Spezialist für Industrie- und Schwimmbadkeramik: von 1956 in Melbourne über Sydney 2000 bis Peking 2008 sind insgesamt neun Olympische Schwimmbäder mit Gail’schen Fliesen ausgekleidet. 1972 hatten die Erben der Firma die Produktion nach Brasilien verlegt. Nach zahlreichen Eigentümerwechseln wurde der Betrieb in Gießen 2009 endgültig stillgelegt.

Experten für Durchblick Kirsten Hauer

97 EXPERTEN FÜR DURCHBLICK

Wetzlar zählt neben Jena zu den wichtigsten Standorten der optischen Industrie in Deutschland. Die Branche kennzeichnet ein enges Zusammenspiel zwischen wissenschaftlicher Forschung und industrieller Produktion. Daher sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie der Facharbeiteranteil traditionell überproportional hoch. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich rund um Wetzlar ein Cluster optischer Unternehmen heraus. Neben kleinen und mittelständischen Betrieben entstanden stark exportorientierte Großunternehmen, die rasch zu Global Players der Branche wurden. Der Aufstieg begründet sich in einer hohen Dichte von Innovationen, die durch zahlreiche Patentanmeldungen aus Wetzlar belegt sind. Die Ursachen der räumlichen Konzentration sind vielfältig. Wichtige Impulse stammten aus dem Umfeld des traditionsreichen Militärstandorts. Mehr noch profitierte Wetzlar von der Nähe zur Gießener Universität. Zu ihr bestand ein ausgeprägtes Beziehungsgeflecht, in dem insbesondere Bakteriologie und Mikroskopentwicklung zusammenfanden. Mechaniker und Optiker der alteingesessenen Betriebe eröffneten nach ihren Lehr- und Studienjahren in der Region oft eigene Firmen. Diese Ausgründungen vergrößerten stets das Know-how, förderten die Spezialisierung der Unternehmen und erweiterten den Kreis an hochqualifizierten Arbeitskräften. Spätere Gründungsphasen sind Anfang der 1920er Jahre, nach 1945 und in den 1990er Jahren nachweisbar. Diese „Spin-Offs“ nutzten bewusst die Vorteile des Standorts, an dem sich über Jahrzehnte das Wissen aus Forschung und Produktion ansammelte sowie ein enges Netz aus Zuliefererbetrieben und Bildungsinstitutionen entstand, die bis heute den Optikcluster Wetzlar prägen.

E. Leitz, Fotoapparat Leica IA, 1925 (Städtische Museen Wetzlar)

EXPERTEN FÜR DURCHBLICK

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Präzise Serienproduktion erlernte Ernst Leitz in der Uhrmacherei. Als er 1869 das Unternehmen von Carl Kellner übernahm, wurden komplexe Komponenten aus Mechanik, Optik und Chemie frei verfügbar. Auf dieser Basis entwickelte das für seine Mikroskope bekannte Unternehmen nun auch Kleinbildformatkameras zur Massentauglichkeit. Die aus einer Testserie hervorgegangene Leica I Modell A war ein Verkaufsschlager der Jahre 1925 bis 1936. Fotograf*innen auf der ganzen Welt greifen seither auf Leica-Apparate zurück. Die Affinität des Leica-Erfinders Oskar Barnack zur Kinotechnik wirkt nach: Blockbuster aller Art sind noch heute „Shot with Leitz“.

EXPERTEN FÜR DURCHBLICK

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W. & H. Seibert, Mikroskop, 1879 (Städtische Museen Wetzlar) Die Firmengründer Wilhelm und Heinrich Seibert spezialisierten sich auf optische Forschungsinstrumente. Der Mikrobiologe Robert Koch schätzte ihre Mikroskope. Sie ermöglichten ihm den Blick auf Tuberkel-Bazillus und Milzbranderreger. Führend wurde Seibert mit einem Vergleichsmikroskop, das die gleichzeitige Betrachtung zweier Proben ermöglichte und rasch international gefragt war. Das Unternehmen setzte dabei Ideen des russischen Geologen Alexander Inostranzew und des deutschen Chemikers Wilhelm Thörner kommerziell um. Das Unternehmen ging 1917 in den Leitz-Werken auf.

Carl Hensoldt, Fernglas, 1905 (Städtische Museen Wetzlar) Carl Hensoldt entwickelte Mikroskope, vor allem aber Ferngläser und optische Messgeräte, die in der Astronomie, bei der Geodatierung oder der Jagd zum Einsatz kamen. Es dominierte die Militäroptik. Schon vor 1914 lieferte Hensoldt weltweit Feldstecher, Zielfernrohre und Entfernungsmesser an die Heere und profitierte dann vom Rüstungsboom der Weltkriege. Nach dem Ausscheiden der Familie übernahm die Carl Zeiss Gruppe 1928 das Unternehmen. Nach zahlreichen Besitzwechseln nutzt heute die Hensoldt AG den traditionsreichen Markennamen und produziert weiterhin optoelektrische Rüstungsgüter.

Ein Meister im Netzwerken: Justus Liebig Katharina Weick-Joch

103 EIN MEISTER IM NETZWERKEN: JUSTUS LIEBIG

Ohne Schulabschluss und ohne abgeschlossene Apothekerausbildung, aber mit Experimentierfreude und Erfindergeist wurde Justus Liebig mit nur 21 Jahren Chemieprofessor in Gießen. Das von ihm gegründete Laboratorium der Universität wurde innerhalb kurzer Zeit weltberühmt. Die kreative Atmosphäre zog schnell internationale Wissenschaftler an, die das Studium bei Liebig aufnahmen, die sich hier untereinander austauschten und zum Teil bahnbrechende Ideen entwickelten – aus heutiger Sicht also eine echte ‚Denkfabrik‘ und ein gigantisches Netzwerk. Viele der eigenen Entwicklungen Liebigs prägten die Chemie in allen Lebensbereichen: Der Fünf-Kugel-Apparat ist aus keinem Labor wegzudenken und bis heute ein zentraler Bestandteil des Logos der American Chemical Society. Babybrei geht auf Liebigs Rezept der Säuglingsnahrung zurück, die Pharmazie verdankt ihm und seinen Studenten zahlreiche medizinische Wirkstoffe, und er fand eine Möglichkeit, Spiegel nicht mit Amalgam, sondern mit Silber herzustellen. In seinem Labor und dem später eingerichteten Hörsaal fand experimenteller Unterricht statt, ein Ansatz, der die Art der Lehre in den Naturwissenschaften nachhaltig prägte. Zudem wurde Liebig als Ratgeber immer wieder um Impulse gebeten, wie die archivierten Briefwechsel belegen, so dass ausgehend von seinem Labor in Gießen Entwicklungen ihren Lauf nahmen, die weltweit Einfluss hatten.

Modell des Liebig-Laboratoriums, 2021 (Swen Richert, 52, Gießen)

EIN MEISTER IM NETZWERKEN: JUSTUS LIEBIG

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Von 1819 bis 1821 als Wachhaus einer Gießener Kaserne gebaut und schon kurze Zeit später geräumt, richtete Liebig hier ab 1824 das Chemische Laboratorium der Universität ein. Er selbst lebte in einer Wohnung über dem Labor, hatte sein Studierzimmer neben dem Versuchsraum und ließ zudem einen Saal für Experimentalvorführungen bauen. Es war ein Ort der Diskussion und des Ausprobierens, der an Universitäten weltweit einen guten Ruf genoss. Studierende aus aller Welt kamen für das praktische Arbeiten nach Gießen und entwickelten später Medikamente, Analysegeräte oder Fertignahrungsmittel. Das Modell bildet den historischen Bau, der sich bis auf den heutigen Tag weitestgehend originalgetreu erhalten hat, im Maßstab 1 : 35 ab.

EIN MEISTER IM NETZWERKEN: JUSTUS LIEBIG

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Exsiccator, um 1880 (Gerätesammlung im Archiv der Hochschule Fresenius) In dem verschließbaren Glasgefäß (Durchmesser 12 cm) wurden Feststoffe getrocknet, um sie wasserfrei zu wiegen. Das Gerät ist grundlegend für die quantitative Analyse, wie sie der Wiesbadener Analytiker Carl Remigius Fresenius in seinem 1848 gegründeten Labor durchführte. Das Labor wurde nach Liebigs Vorbild eingerichtet. Analyseergebnisse des „Instituts Fresenius“ sind noch heute auf vielen Lebensmitteln zu finden, beispielsweise auf den Wasserflaschen von Selters.

Papaverin, Nachbildung Mitte des 20. Jahrhunderts (Merck Corporate History, Darmstadt)

EIN MEISTER IM NETZWERKEN: JUSTUS LIEBIG

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Justus Liebig und Emanuel Merck teilten ab den 1820er Jahren Forschungsideen, Wissen und eine enge Freundschaft. Merck hatte 1826 mit der industriellen Herstellung des Schmerzmittels Morphium den Grundstein für sein weltweit agierendes Unternehmen gelegt. Liebig konnte durch sein Netzwerk gute Kontakte in die Gelehrtenwelt vermitteln, während Merck besondere Materialien für Liebigs Labor bereitstellte. Mercks Sohn Georg Franz studierte ab 1847 in Gießen und entdeckte den krampflösenden Pflanzenwirkstoff Papaverin. Große Flaschen wie dieses zwanzig Zentimeter hohe Exemplar wurden zur Repräsentation angefertigt – auch damals spielte die Vermarktung von Produkten eine wichtige Rolle.

Sammelkarte „Horsford’s Bread Preparation“, um 1890 (Oberhessisches Museum Gießen) Der amerikanische Wissenschaftler Eben Norton Horsford forschte von 1844 bis 1847 im Gießener Labor. Hier experimentierte Liebig seit 1830 mit einem Treibmittel, um die verderbliche Hefe zu ersetzen und Brot haltbarer zu machen. Zurück in Harvard richtete Horsford ein Labor nach Liebigs Vorbild ein. Schließlich gelang ihm um 1856 mit seinem „baking powder“ eine erfolgreiche Mischung. Er tauschte sich weiterhin mit Liebig aus, der später versuchte, seine eigene Mischung an Bäcker zu verkaufen. In Deutschland wurde Backpulver als Massenware erst 1903 mit Dr. Oetkers Portionstütchen erfolgreich. Heute ist es in Küchen auf der ganzen Welt zu finden.

Moderne Zeiten – neue Materialien Hendrik Pletz

111 MODERNE ZEITEN – NEUE MATERIALIEN

Die Geschichte des Menschen und seiner Zivilisationen ist auch eine Geschichte der Werkzeuge und Werkstoffe. Am Beispiel der Firma Koziol aus Erbach im Odenwald lassen sich Veränderungen der Produktion wie auch der verwendeten Materialien der vergangenen hundert Jahre aufzeigen. 1927 gründete Bernhard Koziol eine Elfenbeinmanufaktur, in der dekorative Accessoires geschnitzt und gedrechselt wurden. Er knüpfte damit an eine handwerkliche Tradition an, die Graf Franz I. zu Erbach-Erbach schon Ende des 18. Jahrhunderts in der Region angesiedelt hatte. Später, vor allem aufgrund der Weltwirtschaftskrise 1929, wurde der koloniale Rohstoff Elfenbein zu teuer, und so begann die Firma Koziol mit dem Kunststoff Galalith zu experimentieren, dessen massive Stangen wie Elfenbein bearbeitet werden konnten. 1935 veränderte sich dann aber alles, denn Koziol installierte die erste Spritzgussmaschine für thermoplastischen Kunststoff. Durch den gleichzeitigen Wandel von Werkzeug und Werkstoff konnten Produkte in nie dagewesener Geschwindigkeit und zu einem sehr günstigen Preis produziert werden. Das neue Material Kunststoff eröffnete einen nahezu unendlichen Möglichkeitsraum für alle nur denkbaren Formen und Produkte. Bis in die 1970er Jahre produzierte das Unternehmen unzählige preiswerte Massenprodukte, zumeist Souvenirartikel, die aus ganz Europa in Auftrag gegeben wurden. Auch wenn sich Koziol ab den 1980er Jahren vom anonymen Dienstleister zum selbstbewussten Lifestyle-Unternehmen wandelte, blieb der Werkstoff bis in die 2010er Jahre stets der gleiche. Nach ersten Pilotprojekten 2012 intensivierte Koziol die Entwicklung neuer und nachhaltiger Materialien. Zusammen mit verschiedenen Kooperationspartner*innen entstanden innovative Kunst- und Verbundstoffe, die mittlerweile in verschiedenen Produktreihen erhältlich sind.

Zwei Broschen aus Elfenbein bzw. thermoplastischem Kunststoff, 1935 (Koziol-Museum, Erbach)

MODERNE ZEITEN – NEUE MATERIALIEN

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Diese beiden Möwen, die als Schmuck auf Anstecknadeln montiert wurden, sehen einander zum Verwechseln ähnlich. Dabei sind ihr Ausgangsmaterial und ihre Herstellungsweise grundverschieden. Mit der Einführung der Spritzgussmaschine 1935 und der damit verbundenen Möglichkeit einer preiswerten Massenproduktion aus Kunststoff setzte Koziol die traditionellen Elfenbeinwerkstätten in der Region gehörig unter Druck. Schnell fand sich in der Bevölkerung der passende Name für die neue Produktionsanlage: „Deiwelsmaschine“ (Teufelsmaschine).

MODERNE ZEITEN – NEUE MATERIALIEN

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KLIKK Besteck-Set 3-teilig und Proben des recycelten Rohmaterials, 2022 (koziol »ideas for friends GmbH, Erbach) Das für den Freizeitbedarf und Outdoor-Aktivitäten konzipierte Besteck-Set besteht aus einem zirkulären Kunststoff, einem Verbund von recycelten Speiseölen und Holzfasern aus Resten von Forstpflege und Papierindustrie. Seit den 1980er Jahren etablierte sich Koziol als Marke auch und gerade für Endverbraucher*innen. Mit dem wachsenden Erfolg kamen auch die Neider und mit ihnen die Plagiate. Eine Fälschung des Bestecks KLIKK wurde 2022 mit dem Schmähpreis „Plagiarius“ ausgezeichnet. Neben der minderwertigeren Ausführung gegenüber dem Original unterscheidet sich die Kopie insbesondere im verwendeten Material.

Kaleidoskop der Champions

Kaleidoskop der Champions Hendrik Pletz

119 KALEIDOSKOP DER CHAMPIONS

Die Menge an Produkten, die aus Hessen in die Welt ziehen, ist kaum zu überschauen. Sie reicht von Dingen, die kaum aus dem Alltag wegzudenken sind, geht über Technologien, welche nur eingefleischte Spezialistinnen und Spezialisten kennen, und endet bei Basisinnovationen, die Gütern aus der ganzen Welt innewohnen. Eine Auswahl zu treffen, heißt deswegen immer auch, etwas weglassen zu müssen. Die hier gezeigten Objekte stehen für die Bandbreite hessischen Schaffens – teilweise in Vergessenheit Geratenes, teilweise Skurriles, teilweise bis heute die Warenwelt prägend. Jedes Unternehmen und Produkt erzählt eine Geschichte, ist mit ganz vielen anderen Geschichten aus dem hessischen Wirtschaftsleben verwoben und sehr oft Teil eines sich globalisierenden Marktes. Wo fängt man an, wo hört es auf? Der Einstieg kann überall sein, denn hebt man nur einen Stein auf, so finden sich immer neue Verzweigungen und Verbindungen. Dies gilt besonders für die Suche nach den Wegen, die die Marken aus unseren Landen um die ganze Welt genommen haben. Hessens Exportschlager bilden ein unsichtbares Netz aus Ideen und Unternehmer*innengeist, grenzüberschreitendem Austausch und Kooperation, Zufällen und überraschenden Anekdoten, deren Erzählung hier nicht endet, sondern immer weiter geht …

KALEIDOSKOP DER CHAMPIONS

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Hüte der deutschen Olympiamannschaft der Firma Wegener, 2000 (R. & M. Wegener GmbH & Co. KG, Lauterbach) Strenggenommen beginnt die Geschichte der Firma Wegener bereits 1817 in Hamburg. Ihren Weg auf die Köpfe dieser Welt fanden die Hüte aber erst mit dem Umzug 1884 nach Lauterbach. Über 40 Jahre trugen die deutschen Olympioniken die Hüte aus dem Vogelsberg, aber auch die Polizei und die Schweizer Bahnmitarbeitenden erhielten durch sie erst den letzten modischen Schliff.

KALEIDOSKOP DER CHAMPIONS

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Normbrunnenflasche für Mineralwasser, 2022 Seit 1971 wird der Durst der Deutschen aus Abermillionen Exemplaren der sogenannten Normbrunnenflasche gestillt. Der Entwurf stammt von Günter Kupetz, der 1969 als Designdozent der Gesamthochschule Kassel den Gestaltungswettbewerb für eine Mehrwegflasche der Genossenschaft Deutscher Brunnen gewann. Seitdem perlt auch die Verpackung unseres Wassers.

Zementsack der Firma Dyckerhoff, um 1880 (Verschönerungs- und Verkehrsverein Biebrich am Rhein e. V. mit Museum Biebrich) Die Geschichte der modernen Architektur ist ohne Zement nicht denkbar. Mit der Gründung der „PortlandCement-Fabrik Dyckerhoff & Söhne“ im Jahr 1864 in Wiesbaden erhielten die Visionen der Moderne ihre Substanz. „Portland“ verweist auf die Farbe eines Kalksteins aus England, woher auch die Idee stammte, die hier in Hessen umgesetzt wurde. Die stete Weiterentwicklung des Werkstoffs begleitet unser Bauen und Wohnen bis heute.

KALEIDOSKOP DER CHAMPIONS

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Heliotrop der Firma Breithaupt, 1843 (Geodätische Sammlung der Justus-Liebig-Universität Gießen) Als Carl Friedrich Gauss in den 1820er Jahren begann Norddeutschland zu vermessen, setzte er auf das technische Wissen der Firma Breithaupt. Das 1762 von Johann Christian Breithaupt in Kassel gegründete Unternehmen widmet sich bis heute der Entwicklung von Präzisionsmessgeräten – sei es Über- oder Untertage.

KALEIDOSKOP DER CHAMPIONS

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Heizkessel der Firma Buderus, um 1920 (Buderus Zentralheizungsmuseum Lollar)

Kautabakdose der Gail’schen Zigarrenfabrik, um 1880 (Oberhessisches Museum Gießen)

1731 begann Johann Wilhelm Buderus in Eigenregie Eisengusswaren im oberhessischen Laubach zu produzieren. Das Kerngeschäft waren Herd- und Ofenplatten zum Kochen und Heizen. Die Eisenbahn lieferte ab 1862 das Koks für die Verhüttung an die Lahn und brachte die Waren von hier auf den europäischen Markt. Mit dem späteren Bau von Gliederkesseln und Radiatoren bereitete Buderus den Weg für die Entwicklung der modernen Zentralheizung.

Während andere Regionen mit hohen Steuern, starker Konkurrenz oder dem französischen Tabakmonopol rangen, versprach Gießen ideale Voraussetzungen für die Tabakproduktion – auch mit Blick auf die vielen Studierenden und Soldaten in der Stadt. Und tatsächlich expandierte die 1812 gegründete Gail’sche Zigarrenfabrik in großen Schritten bis hin nach Baltimore in den USA.

KALEIDOSKOP DER CHAMPIONS

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Schreibmaschine „Adler 7“, um 1920 (Stadt- und Industriemuseum Rüsselsheim) Ausgehend von der englischen „Empire“, führte 1901 die „Adler 7“ aus dem Frankfurter Gallus die Maschinentechnik in die Büros und Redaktionen ein. Die Schreibmaschine rationalisierte im Wortsinn das Schreiben und veränderte die Arbeit bis zum heutigen Tag. Selbst moderne PCs beginnen ihre Tastaturen mit den Buchstaben Q W E R T Z , weil man bei ihren mechanischen Vorgängern das Verhaken der Typenarme verhindern wollte.

KALEIDOSKOP DER CHAMPIONS

128 Farbmuster-Fächer für Wursthüllen der Firma Kalle, 2001 (Stadt- und Industriemuseum Rüsselsheim) Wenn heutzutage das Geschenk zum Valentinstag in Zellophan gebettet wird, denkt wohl niemand an Wurst. Dabei ist dies der Ursprung der „Nalo“-Wursthüllen. Mit der Erfindung eines nahtlosen Schlauchs durch die Fima Kalle aus Wiesbaden im Jahr 1929 begann eine globale Revolution nicht nur in der Lebensmittel-, sondern in der gesamten Verpackungsindustrie.

Seife der Firma Kappus, um 1970 (Haus der Stadtgeschichte, Offenbach a. M.) Im 19. Jahrhundert siedelten sich in Offenbach a. M. Industriebranchen an, die aufgrund ihres Geruchs nicht in Frankfurt a. M. toleriert wurden. Dies betraf die Leder- wie auch die Chemieindustrie. Und so kam es, dass 1848 Martin Kappus dort die „M. Kappus Feinseifen- und Parfümeriefabrik“ gründete, die viele Jahrzehnte lang eines der führenden Unternehmen der Branche war.

Motorrad „Regina“ der Firma Horex, 1951 (Städtisches historisches Museum, Bad Homburg) Als ein Konservenfabrikant namens Fritz Kleemann die Aktienmehrheit einer Motorenfabrik erwarb, klang das wie eine eigenartige Idee. Mit der Erfindung der Horex „Regina“ 1949, einem Motorrad, das für einen fairen Preis gute Leistung und noch mehr Chrom versprach, bewies der Bad Homburger den Kritikern das Gegenteil und machte sie zu einem echten „Renner“.

KALEIDOSKOP DER CHAMPIONS

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KALEIDOSKOP DER CHAMPIONS

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Transportkoffer der Zuse KG mit Bauteilen verschiedener Rechner-Generationen, 1938–1961 (Stiftung Konrad-Zuse-Museum Hünfeld) Nach dem ersten Prototyp im elterlichen Wohnzimmer und späteren Weiterentwicklungen unter Kriegsbedingungen erhielt Konrad Zuse 1949 von der ETH Zürich den Auftrag (s)einen Computer zu bauen. Noch im selben Jahr gründete er die Zuse KG in Neukirchen in der Rhön. Von hier lieferte er den Z4 nach Zürich, den ersten kommerziellen Computer der Welt.

Abb. links: Fahrradreifen der Firma Peters Union, um 1912 (Wolfgang-Bonhage-Museum Korbach) Industrialisierung heißt auch immer Transport – und der beginnt bei den Rädern, die Waren und Menschen bewegen. Der Gummiwarenfabrikant Louis Peter erkannte den Bedarf und begann Ende der 1880er Jahre mit der Produktion von Vollgummireifen. Mit der Fusion der Peters Union AG und der Continental AG 1929 spezialisierte sich das Korbacher Werk auf Fahrradbereifung.

Abb. rechts: Funkeninduktor mit Wagnerschem Hammer, um 1950 (Johann-Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt, Institut für Didaktik der Physik) Als Philipp Johann Wagner am 25. Februar 1837 im Physikalischen Verein Frankfurts den „elektromagnetischen Hammer“ vorstellte, war nicht absehbar, was diese beinahe schon banale Konstruktion in sich hat. Der sogenannte Wagnersche Hammer war nie ein eigenständiges Produkt, sondern findet sich auf der ganzen Welt bis heute als Bauteil in unzähligen Dingen wieder – zum Beispiel in der Türklingel.

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Plexiglashaube eines Wehrmachtsflugzeugs der Firma Röhm & Haas, um 1940 (Firmenarchiv Koziol, Erbach) Es begann mit einem Unfall. Ein Mitarbeiter der Firma Röhm & Haas vergaß 1933 auf der Fensterbank eine Flasche mit Methylmethacrylat. Das Tageslicht löste eine Reaktion aus, welche die Flasche zerstörte und einen transparenten Block zurückließ. Das Acrylglas war geboren. Noch im selben Jahr wurden die ersten Scheiben unter dem Markennamen Plexiglas verkauft. Ein Tochterunternehmen brachte das Patent schon wenig später in die USA.

Modell einer Kondenslokomotive der Firma Henschel, 1953 (Henschel-Museum + Sammlung e. V., Kassel) Sei es Kanone, sei es Dampfkessel, der Schlüssel liegt im Eisenguss. Dies dachte sich der Geschützgießer Georg Christian Carl Henschel, als er mit der Firma Henschel & Sohn 1816 begann nach englischem Vorbild Dampfmaschinen zu bauen. Mit dem Aufkommen der Eisenbahn erkannte sein Sohn den neuen Markt und ließ 1848 eine erste Dampflok produzieren. Bis 1905 folgten über 7000 weitere.

Dose für Babynahrung der Firma Milupa, 1964 (Stadt- und Industriemuseum Rüsselsheim)

Anilinfarbe der Firma Oehler, um 1890 (Haus der Stadtgeschichte, Offenbach a. M.)

Die Frage was „das Kleine“ denn heute isst, begleitet alle Eltern. Der tägliche Brei kommt nicht aus dem Nichts, schnell muss er gehen und natürlich gesund sein. Die Firma Milupa – ein Kunstwort aus dem Namen der Firmengründers Emil Louis Pauly – gab und gibt seit ihrer Gründung 1921 im hessischen Friedrichsdorf immer neue Antworten auf diese Frage.

Ernst Sells 1842 in Offenbach a. M. gegründete Destillerie stellte nicht nur Teer und Asphalt her. Nach langem Experimentieren gelang es ihm, gemeinsam mit dem Gießener Chemiker August Wilhelm Hoffmann aus den Abfallprodukten der Teerherstellung Anilin zu extrahieren – der Grundstoff für synthetische Farben. Sells Nachfolger Karl Gottlieb Oehler erkannte das Potential und baute das Unternehmen ab 1850 zu einem reinen Farbwerk um, das die moderne Welt bunter machte.

KALEIDOSKOP DER CHAMPIONS

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Anhang

Ausgewählte Literatur Funktionalität auf kleinstem Raum

Effizient ernährt Judel, Günter Klaus, Die Geschichte von Liebigs Fleischextrakt: Zur populärsten Erfindung des berühmten Chemikers, in: Spiegel der Forschung 20 (2003), S. 6–17. Schwedt, Georg (Hg.), Justus von Liebig. Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie, Berlin 2021.

137 AUSGEWÄHLTE LITERATUR

Flagmeier, Renate, Die Frankfurter Küche. Eine museale Gebrauchsanweisung, Berlin 2013. Heisinger, Josef (Hg.), Das wirtschaftsgeschichtliche Museum Villa Grün: ein Führer durch die Ausstellung und durch die Wirtschaftsgeschichte des Raumes um Dillenburg, Dillenburg 2001. Kleinschmidt, Christian, Küchen-Champions. Ein wirtschafts- und sozialhistorischer Beitrag zur hessischen Landes-Küchen-Geschichte und zugleich ein verspäteter Beitrag zum Bauhaus-Jubiläum, in: Lutz Vogel u. a. (Hg.), Mehr als Stadt, Land, Fluß. Festschrift für Ursula Braasch-Schwersmann, Neustadt an der Aisch 2020, S. 256–260. Klemp, Klaus/Wagner K, Matthias (Hg.), Das Neue Frankfurt und die Frankfurter Küche, Frankfurt a. M. 2020. Meyer, Martin/Peters, Ursula, Revolution im Haushalt: „die Frankfurter Küche“, in: MonatsAnzeiger/Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Nr. 276 (2004), S. 6– 9. Noever, Peter (Hg.), Die Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky: die Frankfurter Küche aus der Sammlung des MAK – Österreichisches Museum für Angewandte Kunst, Wien, Berlin 1992. Schäfer, Christoph, Werner Sell, in: Magistrat der Stadt Wetzlar (Hg.), Tüftler & Talente. 150 Jahre technische Innovationen in Mittelhessen. Wetzlar 2004. Vaupel, Bettina, Eine Kulturgeschichte der Küche, in: Monumente – Das Magazin der Deutsche Stiftung Denkmalschutz, 2017, https://www.monumente-online.de/de/ ausgaben/2017/6/kulturgeschichte-kuechen-herde-und-oefen.php [letzter Zugriff: 18. 10. 2022].

Hochspannung in Hessen

AUSGEWÄHLTE LITERATUR

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Historisches Museum Frankfurt am Main, „Eine neue Zeit…!“ Die Internationale Elektrotechnische Ausstellung 1891. Katalog zu einer Sonderausstellung anlässlich des 100. Jahrestages der Internationalen Elektrotechnischen Ausstellung, Frankfurt a. M. 1991. Patte, Hans-Joachim, Das Braunkohlekraftwerk Borken in Hessen. Geschichtlicher Rückblick auf sieben Jahrzehnte Bau und Betrieb, Kraftwerkstechnik und Stromerzeugung aus Braunkohle am Standort Borken in Hessen, Borken (Hessen) 2000. Schönhut, Horst, Nordhessischer Braunkohlenbergbau. Die Grube Altenburg in Borken (Hessen), hg. vom Magistrat der Stadt Borken, Borken (Hessen) 2002. Stier, Bernhard, Staat und Strom – Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890–1950, Limitierte Sonderedition der PreussenElektra AG, Hannover 1999.

Konkurrenz belebt das Geschäft? Eisenbach, Ulrich, Mineralwasser. Vom Ursprung rein bis heute. Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Mineralbrunnen. Bonn 2004. Franke, Jutta, Illustrierte Fahrradgeschichte. Materialien für Verkehr und Technik Berlin, Berlin 1987. Fresenius, Remigius, Chemische Untersuchung der wichtigsten Nassauischen Mineralwasser, VIII, Die Mineralquelle zu Niederselters, Wiesbaden 1868. World’s Columbian Exposition, Chicago, Official Catalogue, Exhibition of the German Empire, Von Germany. Reichskommission, Weltausstellung in Chicago, Chicago 1893. Zabel, Norbert/Caspary, Eugen, Geschichte des Mineralbrunnens Niederselters. Deutschlands bekanntester Gesundbrunnen 1536–2013. Niederselters 2013.

Meister der Form Braun GmbH (Hg.), 90 Jahre Braun (1921–2011), Kronberg im Taunus 2011. Museums- und Geschichtsverein Brachttal e. V. (Hg.), Wächtersbacher Steingut. Die ersten Jahre, Brachttal 2017. Thillmann, Wolfgang (Hg.), Perfektes Design. Thonet Nr. 14, Bielefeld 2015. Internationale Senefelder-Stiftung (Hg.), Geschichte der Lithographie und Steindrucktechnik. 40 Jahre Internationale Senefelder-Stiftung in Offenbach, Frankfurt a. M. 2011.

Kleines Land – Große (Heil-)Wirkung

Glück und Geologie Becker, Axel/Wabel, Willi, Vom Tropenriff zum Denkmal. 400 Jahre Schupbacher Marmor, Beselich 2021. Geschichtsverein Großalmerode e. V. (Hg.), Industriekultur in Großalmerode. Führer durch das Glas- und Keramikmuseum, Großalmerode 2009. Hessisches Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie (Hg.), Mineralische Rohstoffe in Hessen. URL: https://www.hlnug.de/themen/geologie/rohstoffe/ mineralische-rohstoffe-in-hessen (Stand: 15. 12. 2022).

Experten für Durchblick Belz-Hensoldt, Christine (Hg.), 200 Jahre Moritz Hensoldt – Ein Leben für die Optik. Festschrift zu seinem 200. Geburtstag am 11. November 2021, Wetzlar 2021. Berg, Alexander/Kellner, Carl, Zum hundertsten Todestag des Begründers der optischen Industrie in Wetzlar, Wetzlar [1955]. Industrie- und Handelskammer Wetzlar (Hg.), 100 Jahre Optik und Feinmechanik in Wetzlar. 1849–1949, Wetzlar 1949. Kühn-Leitz, Knut (Hg.), Ernst Leitz II. „Ich entscheide hiermit: Es wird riskiert“ … und die Leica revolutionierte die Fotografie, Wetzlar 2014. Porezag, Karsten, Hensoldt, Band I: Familien- und Gründungsgeschichte bis 1903, Wetzlar 2001.

139 AUSGEWÄHLTE LITERATUR

Bäumler, Ernst, Die Rotfabriker. Familiengeschichte eines Weltunternehmens, München 1988. Gerste, Ronald D., Die Heilung der Welt. Das Goldene Zeitalter der Medizin 1840– 1914, Stuttgart 2021. Linton, Derek S., Emil von Behring. Infectious Disease, Immunology, Serum Therapy, Philadelphia 2005.

Ein Meister im Netzwerken: Justus Liebig Busse, Neill: Der Meister und seine Schüler. Das Netzwerk Justus Liebigs und seiner Studenten, Studia Giessensia Bd. 2, Hildesheim 2015. Schwedt, Georg: Liebig und seine Schüler – die neue Schule der Chemie, Heidelberg 2002.

140 AUSGEWÄHLTE LITERATUR

Moderne Zeiten – neue Materialien Kleinschmidt, Christian, „Marmor, Stein und Eisen bricht …“ – Westdeutschlands Aufbruch ins Kunststoffzeitalter, in: Technikgeschichte 68 (2001) Nr. 4, S. 355– 372. Hausen, Josef/Oelkers, Woldemar, Kunststoffe. Entstehen, Eigenschaften, Verarbeitung, Anwendung, Hamburg 1971. Koziol, ideas for friends, Erbach 2002. Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (Hg.), Schrecklich schön. Elefant – Mensch – Elfenbein, München 2021. Hegemann, Hans-Werner, Der Elfenbeingraf. Franz I., regierender Graf zu ErbachErbach, geb. 29. Okt 1754, gest. 8. März 1823, in: Die Kunst und das schöne Heim 87, 1975, S. 331–335.

Danksagung

Arbeitsgemeinschaft Die Moderne Küche e. V. (AMK), Mannheim Brachttal-Museum des Museums- und Geschichtsvereins Brachttal e. V. Braun P&G, Braun Archiv, Kronberg im Taunus Buderus Zentralheizungsmuseum, Lollar Busch & Müller KG, Meinerzhagen Deutsche Lufthansa AG, Historisches Archiv, Frankfurt am Main Deutsches Hugenotten-Museum, Bad Karlshafen DFF - Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt am Main dpa Picture-Alliance Dr. Paul Wolff & Tritschler e. K., Historisches Bildarchiv, Offenburg Ernst Leitz-Stiftung, Wetzlar ernst-may-gesellschaft e. V., Frankfurt am Main Gail Ceramics International GmbH, Pohlheim Gießener Allgemeine Zeitung Glas- und Keramikmuseum Großalmerode des Geschichtsvereins Großalmerode e. V. Heiner und Christiane Gunia, Brachttal-Schlierbach Henschel-Museum + Sammlung e. V., Kassel Hessischer Rundfunk, Dokumentation und Archive, Frankfurt am Main Hessisches Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie, Wiesbaden Historisches Museum Frankfurt am Main Hochschule Fresenius, Archiv und Gerätesammlung, Idstein Impfzentrum Offenbach Industriekultur Mittelhessen e. V., Gießen Johann-Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Didaktik der Physik Justus-Liebig-Universität Gießen, Geodätische Sammlung Klaus-Dietrich und Marlies Keßler, Lindenhof Keramik-Museum Streitberg

141 DANKSAGUNG

Wir danken allen, die mit ihren Leihgaben und der Bereitstellung von Reproduktionen, Informationen, Hinweisen und Nutzungsrechten das Ausstellungsprojekt „Made in Hessen. Globale Industriegeschichten“ ermöglicht haben. Vielen Dank für Ihre Unterstützung!

DANKSAGUNG

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koziol »ideas for friends GmbH, Erbach Kultur- und Geschichtsverein Niederselters e. V. Laura J. Gerlach, www.bibliothek-der-frankfurter-kuechen.de, Frankfurt am Main Leica Microsystems GmbH, Wetzlar Liebig-Museum und -Laboratorium, Gießen Merck Corporate History, Darmstadt Museum Biebrich für Heimat- und Industriegeschichte des VVB e. V., Biebrich am Rhein Museum Wiesbaden – Hessisches Landesmuseum für Kunst und Natur R & M. Wegener GmbH & Co. KG. Lauterbach Rolf Beck, Gießen Rosemarie Schade, Concordia University, Montreal Sammlung Axel Becker, Schupbach Sammlung Ulrich Berting Brachttal Sammlung Rosak, Frankfurt am Main Sammlung Swen Richert, Gießen Sammlung Werner Schmidt, Gießen Selterswassermuseum, Niederselters Stadtarchiv Dillenburg Stadtarchiv Großalmerode Stadtarchiv Offenbach am Main Stadtmuseum Michelstadt Städtische Museen Wetzlar Städtisches historisches Museum, Bad Homburg Stiftung Konrad-Zuse-Museum, Hünfeld Stiftung Lahn-Marmor-Museum, Villmar TenneT TSO GmbH, Bayreuth Thonet GmbH, Frankenberg Universität für angewandte Kunst, Wien Universitätsbibliothek der Justus-Liebig-Universität Gießen Universitätsbibliothek der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Wassermuseum Löhnberg der Gemeinde Löhnberg Werkbundarchiv – Museum der Dinge, Berlin Wirtschaftsgeschichtliches Museum Villa Grün des Dillenburger Museumsvereins e. V. Wolfgang-Bonhage-Museum, Korbach

Die Wanderausstellung „Made in Hessen. Globale Industrie-

geschichten“ zeigt bekannte und auch bislang kaum gesehene Erfindungen, die sich aus der Region den Weg in die Welt

bahnten. Ob Mineralwasser oder Medizinpräparate, Keramik

ten Produkte stehen für Erfindergeist, unternehmerische Verve und innovatives Design. Der Begleitband gibt Einblicke in die große Bandbreite hessischer Industrieproduktion im 19. und

20. Jahrhundert. Einführende Texte und ausgewählte Exponate veranschaulichen, wie intensiv die hessische Wirtschaft in die historische Entwicklung einer zunehmend global vernetzten

Welt eingebunden war und ist. Es geht um spektakuläre Erfolgsgeschichten, aber auch um ambivalente Brüche im Zeitalter der Moderne.

made in Hessen · Globale Industriegeschichten

oder Kameras – diese zum Teil bis heute international gefrag-

Hessisches Wirtschaftsarchiv Museumsverband Hessen Christian Kleinschmidt Sigrid Ruby (Hgg.)

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-30006-8

978-3-534-30006-8 Cover Made in Hessen 2023_02_17.indd 1

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