Lukian. Gegen den ungebildeten Büchernarren: Ausgewählte Werke [Reprint 2021 ed.] 9783112466926, 9783112466919

162 33 55MB

German Pages 364 Year 2007

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Lukian. Gegen den ungebildeten Büchernarren: Ausgewählte Werke [Reprint 2021 ed.]
 9783112466926, 9783112466919

Citation preview

B I B L I O T H E K D E R ALTEN WELT

LUKIAN

GEGEN DEN UNGEBILDETEN BÜCHERNARREN AUSGEWÄHLTE

WERKE

Übersetzt von Peter von Möllendorfif

Artemis & Winkler

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 Patmos Verlag G m b H & Co. K G Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf/Zürich Alle Rechte vorbehalten. Druck und Verarbeitung: fgb • freiburger graphische betriebe ISBN 3-7608-4121-2 www.patmos.de

INHALT I

Rhetorische Fingerübungen ... und mehr 1 2

Der Tyrannenmörder (3,53) Vorrede: Der Gallische Herakles (1,5)

8 22

II Anmerkungen zur literarischen Ästhetik 1 Über den Saal (1,10) 2 Die Bilder (2,43) 3 Die Verteidigung der Bilder (3,50) 4 An den, der mich einen literarischen Prometheus genannt hat (4,71)

28 43 58 74

III Mythologisches 1 2 3

Gespräche unter Toten (4,77) [Auszüge] . . . . Gespräche unter Meergöttern (4,78) [Auszüge] Gespräche unter Göttern (4,79) [Auszüge] . . .

82 103 m

IV Lobreden(?), Invektiven und Satiren 1 2 3 4

Nigrinos (1,8) Das Gastmahl oder Die Lapithen (1,17) Der Rhetoriklehrer (2,41) Das Schiff oder Die Wünsche (4,73)

124 144 167 184

6

Inhalt

V Zeitkritisches 1 2 3

Gegen den ungebildeten Büchernarren (2,31) . . 210 Verteidigung für einen Fehler bei der Begrüßung (3,64) 228 Von denen, die sich für Geld verdingen (2,36) . . 236

ANHANG Einführung Erläuterungen Literaturhinweise Glossar

273 297 331 333

R H E T O R I S C H E F I N G E R Ü B U N G E N ... UND MEHR

11 DER TYRANNENMÖRDER

In der Absicht, den Tyrannen zu töten, stieg einer zur Akropolis hinauf. Den Tyrannen selbst fand er nicht vor, tötete statt dessen seinen Sohn und ließ das Schwert in der Leiche stecken. Der Tyrann kam hinzu, entdeckte seinen bereits entseelten Sohn und gab sich mit dem gleichen Schwert selbst den Tod. Nun fordert der, der hinaufgestiegen ist und den Sohn des Tyrannen getötet hat, eine Belohnung als Tyrannenmörder.

(i) Zwei Tyrannen habe ich erschlagen, Richter, an einem einzigen Tag, den einen, der schon jenseits, den anderen, der noch mitten in der Blüte seiner Jahre stand und nur allzu bereit war, sein Unrechtserbe anzutreten: So trete ich vor euch und fordere doch nur eine Belohnung für beide. Als einziger unter allen Tyrannenmördern, die es je gab, habe ich auf einen Streich zwei Bösewichter aus dem Verkehr gezogen und den Sohn durch das Schwert, den Vater durch seine zärtliche Sohnesliebe gemeuchelt. Der Tyrann nun hat uns für seine Untaten ausreichend Genugtuung gegeben: Zu Lebzeiten mußte er sehen, wie sein Sohn vorzeitig aus dem Leben gerissen wurde, am Ende seines Lebens sah er sich gezwungen - eine Unglaublichkeit - , selbst sein eigener Tyrannenmörder zu werden. Sein Sohn starb von meiner Hand, und noch im Tode reichte er mir seine Hand zu einer weiteren Bluttat, im Leben war er Helfershelfer, im Tod Mörder seines Vaters, so gut er es vermochte. (2) Ich bin es, der der Tyrannenherrschaft ein Ende gemacht hat, und das Schwert, das alles vollbracht hat, ist mein Schwert! Die Reihenfolge der Tode habe ich umgekehrt und die Art und

DER T Y R A N N E N M Ö R D E R

9

Weise, wie Bösewichter zu Tode kommen, revolutioniert, indem ich denjenigen, der stärker war und sich wehren konnte, selbst getötet, den Alten hingegen meinem Schwert allein überlassen habe. (3) Ich konnte also sicher sein, überreich von euch dafür belohnt zu werden und so viele Geschenke zu bekommen, wie ich Menschen getötet habe, denn ich hatte euch ja doch nicht nur von den Übeln der Gegenwart, sondern auch von der ahnungsvollen Sorge um die Übel der Zukunft erlöst und euch bleibende Freiheit gebracht, ist doch kein Erbfolger im Unrecht mehr übrig. Inzwischen laufe ich jedoch Gefahr, aus eurem Gericht trotz solcher Heldentaten ganz ohne Ehrengeschenk herauszukommen und als einziger des Lohnes beraubt zu werden, den die Gesetze vorsehen, die ich beschützt und bewahrt habe. Dieser mein Gegner hier, so kommt es mir vor, widerspricht mir, nicht, wie er behauptet, aus Sorge um das Gemeinwohl, sondern vielmehr aus Trauer um die Toten und aus Rache an dem, der jenen den Tod brachte. (4) Bitte habt Geduld mit mir, Richter, wenn ich euch in aller Kürze die Zustände unter der Tyrannenherrschaft berichte, obwohl ihr sie ja bestens kennt: Könnt ihr euch doch dann die Größe dieser meiner Wohltat bewußt machen und werdet selbst noch größere Freude empfinden bei dem Gedanken an das, wovon ihr erlöst worden seid. Denn wir hatten nicht, wie es bei anderen schon oft vorgekommen ist, eine einfache Tyrannenherrschaft und die Versklavung durch einen einzigen Mann zu ertragen, und wir mußten auch nicht die Begehrlichkeiten eines einzelnen Herrn erdulden, sondern von allen Menschen, die jemals ein ähnliches Unglück zu ertragen hatten, besaßen allein wir zwei Tyrannen statt einem und wurden nur wir - wir Armen! - zwischen Unrechtstaten zweierlei Art zerrissen. Dabei war der Greis weitaus gemäßigter, milder in seinen Wutausbrüchen, träger in seinen Strafaktionen und weniger

io

RHETORISCHE F I N G E R Ü B U N G E N

willfährig seinem Verlangen gegenüber, als ob sein Alter bereits allzu heftige Ausschläge seiner Affekte verhinderte und die Wünsche seiner Lüsternheit im Zaum hielt. Anfänglich jedenfalls wurde er, wie es hieß, gegen seinen Willen von seinem Sohn zu den Unrechtstaten gepreßt, selbst gar kein tyrannischer Mensch, sondern nur aus Nachgiebigkeit jenem gegenüber. Er übertrieb die Liebe zu seinem Kind - das hat er ja auch jetzt bewiesen - , sein Sohn war sein ein und alles, ihm folgte er, beging jedes Unrecht, das dieser anordnete, bestrafte jeden, den dieser ihm anwies, und war in allem sein Diener. Kurz: Sein Tyrann war der Sohn, dessen Lüsten diente er als Büttel. (5) Der junge Mann ließ ihm, seinem Alter entsprechend, den Vorrang der Ehrenstellung und enthielt sich nur des Herrschertitels, doch war er selbst Herz und Seele derTyrannis: Dadurch gewährleistete er die zuverlässige Sicherheit der Herrschaft und erntete den Nutzen der Unrechtstaten allein. Er war es, der Leibwächter unter Waffen hielt, der die Wachen verstärkte, er war der Schrecken seiner Untertanen, er war es, der Leute, die seiner Herrschaft gefahrlich wurden, vernichtete, er, der die jungen Burschen zwangsrekrutierte, er, der glückliche Ehen zerstörte. Ihm führte man junge Mädchen zu, und was es sonst an Metzeleien, Verbannungen, Konfiskationen, Folterungen und brutalen Ubergriffen gab, das war alles das Werk seines jugendlichen Übermutes. Der Alte hingegen war sein Gefolgsmann, sein Genosse im Unrecht, der die Unrechtstaten seines Sohnes bloß zu loben wußte, kurz: Die Lage war für uns unerträglich geworden. Denn wenn die Gier des Willens an die Macht gelangt, dann kennt sie keine Grenzen des Unrechts. (6) Am meisten machte uns aber Kummer, daß wir wußten, die Sklaverei werde lange, ja ewig dauern, immer wieder werde ein Despot dem anderen die Stadt in die Hand geben, und unser Volk werde ein Erbteil von Bösewichtern sein.

DER T Y R A N N E N M Ö R D E R

Ii

Denn für andere besteht ja keine geringe Hoffnung darin, zu rechnen und einander zu versichern: »Bald wird es ein Ende haben, bald wird er tot sein, nur noch kurze Zeit, und wir werden frei sein!« Unter ihrer Herrschaft jedoch gab es keinen solchen Hoffnungsschimmer, sondern wir mußten mitansehen, wie schon ein Nachfolger in der Herrschaft bereit stand. Deshalb hat keiner von den Adligen und meinen politischen Freunden einen Anschlag gewagt, sondern man hatte den Gedanken an Freiheit ganz aufgegeben, und die Tyrannis schien unüberwindlich, gegen so viele hätte man sich erheben müssen. (7) Mich aber schreckte das nicht, weder habe ich angesichts der Schwierigkeiten der Tat gezaudert noch vor der Gefahr verzagt, nein, allein, allein! bin ich gegen eine so mächtige und zahlenmäßig überlegene Tyrannis hinaufgestiegen, oder besser: nicht allein, sondern zusammen mit meinem Schwert, meinem Verbündeten und anteiligen Mittyrannenmörder, zwar den Tod vor Augen, aber dennoch bereit, die Freiheit aller für meine Vernichtung einzutauschen. Ich stieß auf die erste Wache, ich schlug nicht ohne Mühe die Leibwächter in die Flucht, ich tötete jeden, den ich traf, und vernichtete alles, was sich mir in den Weg stellte, doch dann richtete sich mein ganzes Sinnen und Trachten auf die eigentliche, die wichtigste Tat, auf das Machtzentrum der Tyrannenherrschaft, auf den Grundpfeiler unseres Unglücks: Und als ich zur Festung der Akropolis kam und ihn erblickte, da verwundete ich ihn, obwohl er sich mir entgegenwarf und sich tapfer wehrte, an vielen Stellen und tötete ihn schließlich. (8) Und das war das Ende der Tyrannis und zugleich die Vollendung meiner Heldentat. Von diesem Augenblick an waren wir alle frei, nur der Alte war noch übrig, ohne Waffen, seine Wachen waren ihm genommen, jenen seinen mächtigen Beschützer hatte er verloren, allein war er - einer edlen Hand nicht mehr würdig.

12

RHETORISCHE F I N G E R Ü B U N G E N

Da nun, Richter, überlegte ich folgendermaßen: »Alles ist gut ausgegangen, alles ist vollbracht, alles in Ordnung! Auf welche Weise soll er, der noch übrig ist, seine Strafe finden? Meiner und meiner Rechten ist er nicht würdig, vor allem nicht, wenn er nur als Dreingabe zu einer so herrlichen, kraftvollen und edlen Tat erschlagen wird und damit mein Blutbad am Ende noch verunziert. Nach diesem Ereignis muß ich einen anderen würdigen Henker suchen und darf nicht weiteren Vorteil daraus ziehen! Mit eigenen Augen soll er sehen, bestraft werden soll er, das Schwert soll er dazu bereitliegen haben: Dem trage ich das übrige auf!« So überlegte ich und zog mich zurück. Er aber tat wirklich, was ich vorhergesehen hatte: Er ist selbst zum Tyrannenmörder geworden und hat so mein Stück zu Ende gespielt. (9) Hier stehe ich nun. Ich bringe euch die Demokratie, ich heiße euch in aller Öffentlichkeit, wieder aufzuatmen, und ich verkünde euch die frohe Botschaft: Ihr seid frei! Jetzt schon könnt ihr die Früchte meiner Taten genießen. Leer von Bösewichtern ist, wie ihr seht, die Akropolis, keiner erteilt mehr Anweisungen, ihr könnt Ehrungen verleihen, Prozesse fuhren, Streitigkeiten ausfechten, ganz wie die Gesetze es vorsehen, und all das habt ihr mir zu verdanken und meiner Verwegenheit und diesem einen Mord, nach dem der Vater nicht mehr zu leben vermochte. Hierfür fordere ich nun von euch die schuldige Belohnung, nicht weil ich ein habgieriger und kleinlicher Mensch wäre und auch nicht, weil ich etwa vorhatte, meinem Vaterland eine Wohltat gegen Bezahlung zu erweisen, sondern weil es mir darum geht, meinen Erfolgen durch die Belohnung Dauer zu verleihen und meinen Anschlag nicht dadurch in Verruf geraten und in Ruhmlosigkeit versinken zu lassen, daß er als Fehlschlag und als eines Ehrengeschenkes unwürdig abgeurteilt wird. (10) Der hier tritt gegen mich auf und behauptet, ich handelte unvernünftig, wenn ich eine Ehrung und ein Geschenk

DER T Y R A N N E N M Ö R D E R

begehrte. Ich sei nämlich gar kein Tyrannenmörder, und meine Aktion entspräche auch gar nicht den Gesetzen, sondern meiner Tat fehle etwas, um ein Geschenk dafür fordern zu dürfen. Ich frage ihn also: Was willst du denn noch von mir? Hatte ich nicht den Willen zur Tat? Bin ich nicht hinaufgestiegen? Habe ich nicht getötet? Habe ich nicht befreit? Erteilt etwa jemand noch Anweisungen? Befehle? Stößt da etwa noch ein Despot Drohungen aus? Ist mir etwa einer der Schurken entwischt? Das wirst du nicht behaupten können! Nein, alles ist voll des Friedens, überall regiert das Gesetz, hell strahlt die Freiheit, sicher steht die Demokratie, die Ehen bleiben unangetastet, unsere Söhne leben ohne Furcht, jungen Frauen droht keine Gefahr, die Stadt feiert das Fest ihres gemeinsamen Glücks. Und wem ist das alles zu verdanken? Wer ist es, der dem einen ein Ende gemacht, der das andere geschenkt hat? Wenn es wirklich jemanden auf der Welt gibt, der es zu Recht verdient, an meiner Stelle geehrt zu werden, dann überlasse ich ihm die Ehrengabe und verzichte auf die Belohnung. Habe aber ich allein das alles vollbracht, habe ich mich erkühnt, habe ich die Gefahr auf mich genommen, bin ich hinaufgestiegen, habe ich getötet, habe ich bestraft, habe ich sie die Rache aneinander vollziehen lassen, was redest du dann meine Erfolge schlecht? Warum willst du das Volk zur Undankbarkeit gegen mich aufhetzen? (ii) »Weil du den Tyrannen selbst nicht getötet hast: Das Gesetz verleiht aber die Belohnung dem Tyrannenmörder.« Was macht es denn für einen Unterschied, sag mir, ob ich ihn selbst getötet oder seinen Tod verursacht habe? Keinen, meine jedenfalls ich. Sondern auf dies allein hat der Gesetzgeber geschaut: auf die Freiheit, auf die Demokratie, auf die Erlösung aus schlimmer Not. Dafür sah er Ehrungen vor, das hielt er einer Belohnung für wert, wofür du mir die Urheberschaft nicht absprechen kannst. Wenn ich nämlich

14

RHETORISCHE F I N G E R Ü B U N G E N

denjenigen getötet habe, dessen Tod jenem das Leben verleidet hat, dann ist das so gut, als hätte ich die Bluttat selbst begangen. Mein ist der Mord, sein ist die Hand! Hör also auf mit deinen Haarspaltereien über die Art und Weise seines Endes und frage nicht, wie er starb, sondern, wenn er nicht mehr lebt, ob er durch mich nicht mehr lebt! Wahrscheinlich wirst du gleich auch noch fragen - dir geht es ja nur darum, Wohltäter zu verleumden! - , ob einer nicht mit dem Schwert, sondern mit einem Stein oder Stock oder auf sonst eine andere Weise getötet hat. Was wäre denn, wenn ich den Tyrannen auf seiner Burg ausgehungert und so seinen Tod erzwungen hätte? Würdest du auch in diesem Fall von mir eine eigenhändige Bluttat einklagen, oder würdest du auch in diesem Fall sagen, mir fehle noch etwas, um den Buchstaben des Gesetzes zu erfüllen, und das, wo der Übeltäter einen viel schlimmeren Tod gestorben wäre? Stell nur diese eine Frage, verlange nur dies, laß dich nur davon umtreiben: Wer von den Bösewichtern ist noch übrig, was läßt neuen Schrecken argwöhnen, was erinnert noch an das Unglück? Ist aber alles von Verdachtsmomenten rein, alles friedlich, dann muß man schon ein Miesmacher und Anschwärzer sein, um sich darauf zu versteifen, auf welche Art und Weise die Tat durchgeführt worden ist, und die Belohnung für die große Mühe zu verweigern. (12) Ich meine mich auch daran zu erinnern, daß die Gesetze - falls ich ihren Inhalt nicht durch die lange Sklaverei vergessen habe - zwei Tatbestände des Totschlags vorsehen: wenn einer entweder eigenhändig getötet hat oder zwar nicht selbst tötete und die Tat auch nicht eigenhändig verübt hat, aber den Mord verursacht und angestiftet hat, dann fordert das Gesetz für beide die gleiche Strafe, und das sehr zu Recht: Denn es wollte vermeiden, daß sein Geltungsbereich durch die Zulassung einer eventuellen Straflosigkeit eingeschränkt würde; und im übrigen ist die Frage nach der Art der Tötung

DER T Y R A N N E N M Ö R D E R

IJ

überflüssig. Und da hältst du es für rechtens, einen, der auf diese Weise getötet hat, als Mörder zu bestrafen, und willst ihn keinesfalls freigesprochen wissen, aber einen, der auf genau die gleiche Art und Weise der Stadt eine Wohltat erwiesen hat, den willst du nicht derselben Ehren würdigen, wie sie Wohltäter erhalten? (13) Auch folgendes könntest du ja nicht einwenden, daß ich meine Tat einfach so vollbracht hätte, die Sache aber, ohne daß ich das beabsichtigt hätte, in ganz anderer Weise günstig ausgegangen sei. Denn was hatte ich denn noch zu fürchten, nachdem der Stärkere ermordet dalag? Warum ließ ich das Schwert in der Wunde stecken, wenn ich nicht ganz sicher absah, daß genau das geschehen würde? Es sei denn, du wärst der Meinung, daß der Tote gar kein Tyrann war und auch nicht so genannt wurde, und daß ihr nicht mit Freuden große Belohnungen für seinen Tod gezahlt hättet. Aber das würdest du wohl nicht behaupten wollen. Und dann willst du, wo der Tyrann ermordet daliegt, dem, der die Tat verursacht hat, die Belohnung nicht geben? Wie kann man nur so ein Streithammel und Besserwisser sein! Geht es dich etwas an, wie er zu Tode gekommen ist, jetzt, wo du im Genuß der Freiheit bist, oder meinst du, von dem, der die Demokratie zurückgebracht hat, noch mehr verlangen zu müssen? »Doch stellt das Gesetz«, wie du sagst, »nur die Frage nach der eigentlichen Tat selbst, alle weiteren Umstände läßt es außer acht und mischt sich nicht ein.« Was denn? Hat nicht auch schon einmal jemand, der den Tyrannen vertrieben hat, den Ehrentitel des Tyrannenmörders erhalten? Und das sehr zu Recht! Denn auch er hat ja anstelle von Sklaverei Freiheit geschenkt! Was ich aber getan habe, ist keine Verbannung, ist nicht die Hoffnung auf eine zweite Erhebung, sondern die vollständige Säuberung und die totale Vernichtung der ganzen Familie und die Ausrottung des Übels mitsamt seiner Wurzel.

16

RHETORISCHE F I N G E R Ü B U N G E N

(14) Befragt mich, bei den Göttern, nach dem vollständigen Tathergang, wenn ihr wollt: ob etwas von dem, was das Gesetz vorsieht, ausgelassen ist und ob etwas fehlt von dem, was sich für einen Tyrannenmörder gehört! Zunächst muß die Absicht vorhanden sein, edel und von vaterländischer Gesinnung, bereit, für das Gemeinwohl ein Risiko einzugehen und mit dem eigenen Tod die Rettung vieler zu erkaufen. Habe ich es also hieran fehlen lassen, bin ich weich geworden, oder bin ich, nachdem mein Entschluß gefaßt war, vor irgendeiner der Gefahren, die mir auf dem Weg drohten, zurückgeschreckt? Das kannst du nicht sagen. Bleib also nur bei diesem einen Punkt und mach dir klar, daß allein für meinen guten Willen und für meinen Plan, auch wenn nichts Nützliches dabei herausgekommen wäre, ich hier auftreten und allein aufgrund der Absicht selbst ein Ehrengeschenk als Wohltäter verlangen würde. Hätte ich aber nichts ausrichten können und hätte ein anderer nach mir den Tyrannenmord vollbracht, wäre es dann, sag mir, ein Zeichen von Unvernunft und Unverstand, es mir zu geben? Und erst recht dann, wenn ich sagen würde: »Männer, ich hatte die Absicht, ich hatte den Willen, ich habe es angepackt, ich habe es versucht: Für meine Absicht allein verdiene ich es, geehrt zu werden.« Was würdest du da antworten? (15) Nun sage ich das aber gar nicht, sondern ich bin hinaufgestiegen, ich bin das Risiko eingegangen, ich habe, bevor ich den jungen Mann erschlug, unzählige Schwierigkeiten überwunden. Denn ihr dürft euch nicht vorstellen, daß das alles so einfach und kinderleicht gewesen sei: die Wache auszuschalten, der Leibwächter Herr zu werden und als einzelner so viele Gegner zu verjagen! Vielmehr ist beim Tyrannenmord gerade das fast die größte und wichtigste Aufgabe. Denn nicht der Tyrann selbst ist doch etwas Gewaltiges, Unüberwindliches, unmöglich Niederzuringendes, sondern das, was die Tyrannis bewacht und erhält: Wenn man das

DER T Y R A N N E N M Ö R D E R

17

besiegt, hat man alles erreicht, und der Rest ist nur eine Kleinigkeit. Und in der Tat wäre es mir nicht gelungen, bis zu den Tyrannen vorzudringen, hätte ich nicht zuvor die Wachen und Leibwächter um sie herum überwunden und sie alle vorher besiegt. Ich füge nichts weiter hinzu, sondern bleibe erneut bei diesem einen Punkt: Ich habe die Wache überwunden, die Leibwächter besiegt, den Tyrannen wachenlos, waffenlos, nackt ans Messer geliefert. Hältst du mich dafür der Ehre für würdig, oder verlangst du von mir auch noch den Mord? (16) Wenn du aber auch noch den Mord einforderst, dann fehlt der ebenfalls nicht, und ich stehe hier nicht ohne Blut an meinen Händen, sondern ich habe in einem großen und edlen Gemetzel einen jungen Mann auf dem Zenit seiner Kraft erschlagen, einen, der alle in Angst und Schrecken versetzte, durch den auch jener vor Anschlägen sicher war, aus dem allein er Mut und Zuversicht zog, der ihm viele Leibwächter ersetzte. Ich verdiene also, Dummkopf, keine Belohnung, sondern soll angesichts solcher Taten ungeehrt bleiben? Was wäre denn, wenn ich einen einzigen Leibwächter, was, wenn ich einen Untergebenen, was, wenn ich einen angesehenen Diener des Tyrannen erschlagen hätte? Würde nicht auch das als eine große Tat gelten, mitten auf die Akropolis hinaufzusteigen und inmitten der Waffen einen der Freunde des Tyrannen zu ermorden? Aber jetzt schau dir die Person des Toten an! Er war der Sohn des Tyrannen, mehr noch: Er war ein gefährlicherer und drückenderer Tyrann, ein unerbittlicher Despot, ein grausamerer Zuchtmeister, ein brutalerer Gewalttäter. Aber was das schlimmste war: Er sollte alles erben und übernehmen und unser Unglück in alle Ewigkeit verlängern dürfen. (17) Wollen wir annehmen, ich hätte nur das vollbracht, der Tyrann aber sei entkommen und lebe noch? Tatsächlich: Ich fordere dafür ein Ehrengeschenk! Was sagt ihr? Ihr wollt mir keines geben? Habt ihr nicht auch zu jenem ängstlich

18

RHETORISCHE F I N G E R Ü B U N G E N

aufgeschaut? War er nicht euer Herr? Lastete seine Hand nicht schwer auf euch? War er nicht unerträglich? Nun macht euch folgendes klar, es ist die Hauptsache: Was dieser Mann von mir einfordert, das habe ich, so gut es ging, aufs beste erledigt und den Tyrannen getötet, in einem zweiten Blutbad, nicht einfach so, auch nicht nur mit einem Hieb - nein, das wäre ein allzu erstrebenswertes Ende für ihn gewesen nach solchen Verbrechen - , sondern erst, nachdem ich ihn zuvor durch tiefes Leid gequält und ihm vor seinen Augen das Liebste, was er besaß, gezeigt hatte, wie es bejammernswert dahingestreckt lag, seinen Sohn im besten Alter, gewiß, einen Bösewicht, aber doch auch blühend und seinem Vater so ähnlich, mit Blut und Schmutz besudelt. So verwundet man einen Vater, das ist das Schwert eines gerechten Tyrannenmörders, das ist der Tod, den verrohte Tyrannen verdienen, das ist eine Rache, wie sie für solche Verbrechen angemessen ist! Einem schnellen Tod ohne Kenntnis der Lage, ohne ein solches Bild vor Augen, fehlt alles zu einer würdigen Tyrannenbestrafung. (18) Denn ich wußte genau, Dummkopf, ja, ich wußte genau, und alle anderen wußten es auch, wie sehr er an seinem Sohn hing und daß er ihn auch nicht nur für kurze Zeit hätte überleben wollen. Vielleicht empfinden alle Väter so für ihre Söhne, er aber sogar noch mehr als die anderen, natürlich, sah er doch in ihm den einzigen Beschützer und Bewacher seiner Tyrannis, den einzigen, der für seinen Vater Gefahren auf sich nahm und die Sicherheit der Herrschaft gewährleistete. Daher wußte ich, er würde, wenn schon nicht aus Anhänglichkeit, so doch aus Verzweiflung sofort sterben wollen und sich ausrechnen, daß das Leben keinen Sinn mehr hatte, nachdem ihm die Sicherheit, die der Sohn ihm zu bieten hatte, geraubt worden war. Mit alldem habe ich ihn dicht umzingelt: mit seinem eigenen Wesen, mit seiner Trauer, mit der Verzweiflung, mit der Angst, mit den Befürchtungen

DER T Y R A N N E N M Ö R D E R

19

für die Zukunft. Diese Helfer habe ich mir für den Kampf gegen ihn geholt und ihn in jene seine letzte Überlegung hineingezwungen! Ohne Kinder ist er gestorben, voller Kummer, Jammer, Tränen, überwältigt von einem Leid, das zwar nur von kurzer Dauer war, aber für einen Vater doch genügte. Und das schlimmste: Er starb von eigener Hand, der beklagenswerteste Tod überhaupt und viel schrecklicher, als von der Hand eines anderen zu sterben. (19) Wo ist mein Schwert? Ist es etwa jemandem bekannt? War das etwa die Waffe eines anderen? Wer hat es auf die Akropolis hinaufgebracht? Wer hat es vor dem Tyrannen gezückt? Wer hat es gegen ihn geschwungen? Ach, mein Schwert, Gefährte und Teilhaber meines Erfolgs! Nach so vielen Gefahren, nach so vielen Gemetzeln beachtet man uns nicht und meint, wir hätten keine Belohnung verdient! Wenn ich nur für mein Schwert eine Ehrung von euch verlangen würde, wenn ich sagen würde: »Männer, der Tyrann wollte sterben, und da er sich zu diesem Zeitpunkt ohne Waffen befand, hat ihm mein Schwert diesen Dienst geleistet und so in jeder Hinsicht zum glücklichen Ende, der Freiheit, beigetragen: Dieses Schwert erachtet einer Ehrung und eines Geschenkes für würdig!« Würdet ihr den Herrn eines dermaßen dem Volkswohl dienenden Gegenstandes nicht belohnen? Würdet ihr ihn nicht unter eure Wohltäter einreihen? Würdet ihr das Schwert nicht als Weihgabe im Heiligtum aufstellen? Würdet ihr euch nicht vor ihm wie vor den Göttern zu Boden werfen? (20) Nun stellt euch vor, was der Tyrann vor seinem Ende wahrscheinlich getan, was er gesagt hat! Als ich ihn töten wollte und ihm am ganzen Körper immer neue gut sichtbare Wunden zufügte, auf daß es seinen Erzeuger im Höchstmaß schmerzen, ihm beim ersten Anblick das Herz zerreißen mußte, da schrie er voll Jammer auf und brüllte seinen Erzeuger herbei, nicht als Helfer oder Mitkämpfer - er wußte

20

RHETORISCHE F I N G E R Ü B U N G E N

ja, wie alt und schwach er war - , sondern als Zuschauer der Katastrophe seines Geschlechts. Denn ich machte die Bühne frei und hinterließ als Dichter der ganzen Tragödie dem Schauspieler die Leiche, die Szene, das Schwert und den Rest des Dramas. Der kam herbei und erblickte seinen einzigen Sohn kaum mehr atmend, blutüberströmt, ja in seinem Blute schwimmend und mit vielen tödlichen Wunden, eine neben der anderen - da stieß er einen Schrei aus und rief: »Kind, man hat uns erschlagen, gemeuchelt, tyrannengemordet! Wo ist der Schlächter? Wofür verschont er mich? Wofür spart er mich auf, Kind, der ich doch schon durch deinen Tod getötet worden bin? Oder verachtet er mich, weil ich ein alter Mann bin, und zieht, weil ich Strafe verdient habe, noch durch sein Säumen meine Ermordung in die Länge, zögert meine Erschlagung hinaus?« (21) Mit diesen Worten suchte er nach einem Schwert; denn er selbst war unbewaffnet, weil sich sein ganzer Mut ja auf seinen Sohn stützte. Aber auch daran fehlte es nicht, längst schon war auch das von mir bereitgestellt und für die kommende Heldentat zurückgelassen worden. Aus dem noch blutenden Opfer riß, aus der Wunde zog er das Schwert und sprach: »Eben hast du mich getötet, nun bringe es zu Ende, Schwert! Komm als Trost zu einem leidenden Vater und hilf dieser unglücklichen Greisenhand! Meuchle mich, tyrannenmorde mich und erlöse mich von meinem Leid! Ach wäre ich dir doch als erster begegnet, ach wäre ich doch als erster an der Reihe gewesen, ermordet zu werden! Ich wäre gestorben, aber doch nur als Tyrann, aber doch in der Gewißheit, einen Rächer zu finden. Jetzt sterbe ich kinderlos, als jemand, der nicht einmal einen eigenen Mörder findet.« Und mit diesen Worten versuchte er zitternd sich zu entleiben, doch vermochte er es nicht, er wollte wohl, aber er war zu kraftlos selbst für einen Handlangerdienst zu meiner Heldentat.

DER T Y R A N N E N M Ö R D E R

21

(22) Wie viele Bestrafungen sind das? Wie viele Wunden? Wie viele Tode? Wie viele Tyrannenmorde? Wie viele Belohnungen? Und zuletzt habt ihr alle den jungen Mann daliegen sehen, keine geringe und leicht durchzuführende Tat, den Greis über ihm zusammengesunken und ihr beider Blut vermischt, jene Trankspende für Freiheit und Sieg, das Werk meines Schwertes, und mitten zwischen ihnen das Schwert selbst: So demonstrierte es, daß es seinen Herrn nicht enttäuscht hat, so bezeugte es, daß es mir treu gedient hat. Wäre das von meiner Hand geschehen, wäre es eine geringere Tat gewesen: Jetzt aber strahlt sie hervor durch ihre Originalität. Und derjenige, der die Tyrannis vollständig beseitigt hat, bin ich! Die Tat aber ist auf viele Rollen verteilt, wie im Drama: Protagonist war ich selbst, die zweite Rolle übernahm der Sohn, die dritte der Tyrann selbst - mein Schwert aber diente allen als Requisit.

I 2 VORREDE: DER GALLISCHE HERAKLES [Lukian (1,5)] (1) Den Herakles nennen die Kelten in ihrer Sprache Ogmios, und sie geben dem Gott in ihren Bildern ein ganz befremdliches Aussehen. Bei ihnen ist er ein hochbetagter alter Mann mit einer Stirnglatze und, soweit er noch welche hat, vollkommen grauen Haaren. Seine Haut ist runzlig und sonnenverbrannt wie die von alten Seebären: Man würde ihn eher für einen Charon oder einen Iapetos aus der Welt der Unterirdischen und für alles eher als für Herakles halten. Aber auch in dieser Gestalt verfugt er doch über die Ausrüstung des Herakles, denn er ist in das Löwenfell gekleidet, trägt die Keule in der Rechten, hat sich den Köcher an die Seite gehängt, die Linke weist den Bogen mit aufgezogener Sehne vor: In dieser Hinsicht ist er jedenfalls ganz und gar Herakles. (2) Ich war nun der Auffassung, es geschehe mit der Absicht, die griechischen Götter zu entehren, daß sich die Kelten auf solche Weise an der Gestalt des Herakles versündigten, indem sie sich mit Hilfe des Bildes dafür an ihm rächten, daß er einmal ihr Land angegriffen und ihr Vieh geraubt hatte, als er auf der Suche nach den Herden des Geryonos den größten Teil der westlichen Völker durchstreifte. (3) Was mich allerdings an dem Bild am meisten überrascht hat, habe ich noch nicht gesagt: Jener greise Herakles zieht eine zahlreiche Menschenmenge hinter sich her, alle an den Ohren gefesselt. Als Fesseln dienen ihm feine, aus Gold und Bernstein gefertigte Ketten, die wie die herrlich-

V O R R E D E : DER G A L L I S C H E H E R A K L E S

23

sten Halsbänder aussehen. Und trotz dieser so schwachen Bande denken sie weder ans Weglaufen - sie könnten es leicht - noch halten sie überhaupt dagegen oder stemmen sich, die Füße in den Boden gedrückt, mit dem Körper gegen die Zugrichtung, sondern sie folgen ihm mit strahlenden Gesichtern, in fröhlicher Stimmung und voll des Lobes für den, der sie da zieht, ja sie drängen ihm nach, und ihre Fesseln hängen durch, wollen sie ihn doch sogar überholen, und es sieht so aus, als ob sie sich ärgern würden, bände man sie los. Aber auch mit dem, was mir am verrücktesten vorkam, will ich nicht hinter dem Berg halten: Weil der Maler nämlich nicht wußte, wo er das andere Ende der Fesseln festmachen sollte - in der Rechten hielt Herakles ja schon die Keule, in der Linken den Bogen - , durchbohrte er die Zungenspitze des Gottes und stellte die Sache so dar, als ob sie von dort aus gezogen würden; und zwar dreht er sich dabei zu denen um, die er fuhrt, und lächelt sie an. (4) Ich stand lange Zeit da und betrachtete das Bild mit einer Mischung aus Staunen, Verlegenheit und Verärgerung. Neben mir stand ein Kelte, durchaus nicht unvertraut mit unserer Bildung, wie er durch seine perfekte Beherrschung des Griechischen bewies, ein Kenner, glaube ich, der einheimischen Traditionen. »Ich werde dir, Fremder«, sagte er, »das Rätsel des Bildes lösen, denn du machst den Eindruck, als verwirre es dich sehr! Der Logos - daß Hermes ihn verkörpert, glauben wir Kelten anders als ihr Griechen nicht, sondern wir vergleichen ihn mit Herakles, weil der viel stärker als Hermes ist. Und wenn er als alter Mann dargestellt ist, dann mußt du dich darüber nicht wundern: Denn allein der Logos zeigt die Vollendung seiner Blüte gern im Alter, vorausgesetzt, eure Dichter sprechen die Wahrheit, wenn sie sagen: >Schnell fertig ist die Jugend mit dem Worts hingegen hat das Alter >Klügeres zu sagen als die Jugendan der Spitze die Zungen aller Schwätzer durchbohrt sindLukian< (1,10)] (1) Als Alexander der Große den Kydnos erblickte, diesen schönen und klaren Fluß mit seiner zuverlässigen Tiefe, seiner leichten Strömung, zum Schwimmen verlockend und kühl in der Sommerhitze, da packte ihn so sehr das Verlangen, darin zu baden, daß er, meine ich, nicht einmal dann, wenn sich die Krankheit, die danach ausbrechen sollte, bereits angekündigt hätte, von diesem Bad Abstand genommen hätte: Wer aber einen Saal erblickt, den allergrößten, den wunderschönsten, von strahlendem Licht und funkelndem Goldglanz erfüllt und mit einer Blütenpracht von Malereien ausgestattet, würde den denn etwa nicht das Verlangen packen, in ihm eine Rede zu halten - wenn dies sein Betätigungsfeld wäre - , Ruhm und Ansehen in ihm zu ernten, ihn mit dem Klang seiner Stimme zu füllen, ja nach Möglichkeit gar selbst ein Teil dieser seiner Schönheit zu werden? Oder würde er sich etwa nur eingehend umschauen, um dann voll stiller Bewunderung den Saal in einem Zustand stummer Wertlosigkeit zurückzulassen, ohne ihn anzusprechen, ohne in Verbindung mit ihm zu treten, gerade als ob er keine Stimme besäße oder sich aus Mißgunst zu schweigen entschlossen hätte? (2) Beim Herakles, so würde kein Freund aller Schönheit, kein Liebhaber aller Wohlgestalt handeln: Nein, große Plumpheit, Geschmacklosigkeit, ja schlimmer noch: Banausentum wäre es, sich solcher Herrlichkeiten für unwert zu halten, sich solchen Schönheiten zu entfremden und nicht zu verstehen, daß im

ÜBER DEN SAAL

29

Umgang mit Sehenswürdigkeiten für Gebildete nicht die gleichen Regeln gelten wie für Laien. Denn diesen zwar genügt das Verhalten der Allgemeinheit: bloß zu gucken, herumzuschauen, die Augen wandern zu lassen, den Kopf im Nacken zur Decke zu blicken, mit den Fingern auf alles zu zeigen und stumm zu genießen, aus Furcht, nichts äußern zu können, was des Gesehenen würdig wäre. Wer hingegen das Schöne als gebildeter Mensch anschaut, der würde, glaube ich, sich nicht damit zufrieden geben wollen, die lieblichen Früchte nur mit den Augen zu pflücken, und es nicht ertragen, sprachloser Betrachter der Schönheit zu sein, sondern er wird sich nach Möglichkeit bemühen, bei ihr zu verweilen und dem Anblick durch das Wort zu entsprechen. (3) Diese Entsprechung besteht nun nicht bloß in einem Lob des Saales - denn das hätte sich vielleicht sogar für jenen jungen Burschen aus der Inselprovinz gehört: vom Palast des Menelaos völlig verblüfft zu sein und das Elfenbein und das Gold darin mit den Schönheiten am Himmel zu vergleichen, hatte er doch auf der Erde noch nie etwas anderes Schönes gesehen - , sondern auch in ihm zu sprechen und unter Einsatz der vollendetsten Rhetorik aufzutreten: Auch das sollte wohl ein Bestandteil des Lobes sein. Ich meine, etwas Herrlicheres kann es nicht geben: Der schönste aller Säle, aufgetan zum Empfang von Reden und voll des Lobes und des Preises, gibt wie eine Höhle seinen Widerhall dazu, begleitet das Gesagte, läßt die Stimme länger ausklingen und verweilt auf jedem Satzende, ja mehr noch, er verhält sich wie ein aufmerksamer Zuhörer, der alles, was der Redner sagt, im Gedächtnis behält, ihm applaudiert und seine Worte - eine keinesfalls banausische Gegenleistung - nachspricht, genau wie die Felsen, die sich am Flötenspiel der Hirten beteiligen, indem dessen Klang sich an ihnen bricht und auf sich selbst zurückfällt; die Laien aber glauben, es sei ein Mädchen, das den Singenden oder

}0

A N M E R K U N G E N ZUR LITERARISCHEN ÄSTHETIK

Rufenden antworte, ein Mädchen, das irgendwo in den Schluchten hause und vom Inneren der Felsen aus spreche. (4) Ich jedenfalls meine, daß die Pracht des Saales auch die geistigen Fähigkeiten des Redners erhebt und zum Reden erweckt, als ob das Schauen gleichsam etwas in Gang setze: Denn durch die Augen fließt geradezu etwas Schönes in die Seele, das dann die Worte in eine ihm entsprechende Ordnung bringt und herausgehen läßt. Oder wollen wir glauben, daß zwar der Anblick der Waffen Achills Wut auf die Phryger entfachte und er sich, als er sie zur Probe anlegte, auf den Flügeln der Kampfesgier emporgetragen fühlte, der rhetorische Eifer hingegen aber nicht durch die Schönheit einer Ortlichkeit entfacht werde? Und doch genügten dem Sokrates eine gut gewachsene Platane, eine grüne Wiese und eine klare Quelle unweit des Iiissos: Dort nahm er Platz, ironisierte Phaidros aus Myrrhinus nieder, widerlegte die Darlegungen von Kephalos' Sohn Lysias und rief die Musen an, und er war der festen Überzeugung, sie würden in diese einsame Gegend kommen, um sich mit ihm zusammen an eine Rede über die Liebe zu machen, und obgleich er ein alter Mann war, genierte er sich nicht, junge Mädchen zum gemeinsamen Gesang über die Knabenliebe zu bitten. Und da sollen wir nicht glauben, daß sie zu einem so schönen Ort wie diesem hier auch ungerufen kommen würden? (5) Und in der Tat: Die Musen machen nicht dort Quartier, wo es nur Schatten und schöne Platanen gibt, nicht einmal, wenn du statt der Platane am Iiissos die goldene Platane des persischen Großkönigs anfuhren wolltest. Denn in ihrem Fall trifft die Bewunderung allein die Pracht, Kunst aber, Schönheit, Ergötzen, Ebenmaß, Proportion haben keinen Anteil am Werk und sind dem Gold nicht beigemischt, sondern barbarisch war ihr Anblick, bloßer Reichtum, Neid in den Augen der Betrachter und Seligpreisungen der Besitzer: Wahres Lob aber gab es keines. Denn den

ÜBER DEN SAAL

31

Arsakiden ging es nicht um Schönheit, ihre Zurschaustellungen zielten nicht auf Ergötzen ab und es war ihnen nicht um das Lob der Betrachter zu tun, sondern um ihr sprachloses Staunen. Sind die Barbaren doch keine Liebhaber des Schönen, sondern Liebhaber des Reichtums. (6) Die Schönheit dieses Saales aber ist nicht auf Barbarenaugen berechnet, auch nicht für persische Angeberei oder großkönigliche Prahlerei bestimmt; und sie bedarf auch nicht allein eines armen, sondern eines begabten Betrachters, dessen Urteilsvermögen sich nicht auf seine Augen beschränkt, sondern der auch mit dem Verstand begreift, was er sieht. Der Saal ist auf die schönste Seite des Tages ausgerichtet die schönste und mit größter Sehnsucht erwartete Zeit des Tages ist der Morgen - , er nimmt die ersten Strahlen der Sonne auf, sobald sie über den Horizont steigt, und wird bei geöffneten Türen von Licht durchflutet, [ganz wie die alten Baumeister die Heiligtümer auszurichten pflegten]; dazu das wohlproportionierte Verhältnis von Länge zu Breite und von beiden zur Höhe, die großzügige und für jede Jahreszeit passende Bemessung der Fenster: Wie sollte das alles nicht erfreulich sein und Lob verdienen? (7) Darüber hinaus kann man an der Decke die Schlichtheit ihrer Struktur bewundern, die Tadellosigkeit ihrer Ausschmückung und die Angemessenheit der Verarbeitung von Gold, die die Grenzen des Schicklichen wahrt und nicht ohne Not neidische Blicke provozieren will; nein, der Aufwand an Gold entspricht im Verhältnis dem, was auch einer anständigen und schönen Frau genügen würde, um ihre Schönheit augenfälliger zu machen, eine dünne Kette um den Hals oder am Finger ein schmaler Reif, Ohrringe, eine Spange oder ein Band, um die Fülle des Haares zu bändigen und ihr gutes Aussehen gerade soviel zu unterstützen wie ein Purpurstreifen das Kleid. Hetären hingegen, und vor allem die häßlicheren unter ihnen, färben ihr ganzes Kleid

32

A N M E R K U N G E N ZUR LITERARISCHEN ÄSTHETIK

purpurn und schminken sich ihren Hals golden: So jagen sie mit Hilfe bloßer Pracht der Attraktivität hinterher und versuchen das, was ihnen zur Schönheit fehlt, durch äußerliche Reize auszugleichen. Denn sie glauben, ihre Arme würden zugleich mit dem Gold, das auf ihnen funkelt, auch selbst mehr schimmern, die Tatsache, daß ihr Fuß nicht schlank und wohlgeformt ist, werde von einer goldenen Sandale gut kaschiert, und ihr Gesicht werde durch den gleichzeitigen Anblick von glitzerndem Schmuck auch selbst liebreizender. So machen es die Hetären! Eine anständige Frau jedenfalls verwendet nicht mehr Gold, als sie muß und würde sich, meine ich, ihrer eigenen Schönheit auch dann nicht schämen müssen, wenn sie sie nackt zeigen sollte. (8) Dementsprechend bietet also das Dach, oder besser, das Haupt dieses Saales schon von sich aus ein schönes Antlitz, mit Goldschmuck aber ist es nur soweit ausgestattet wie der Nachthimmel mit Sternen: Sie prangen in weiter Entfernung voneinander, und ihre feurigen Knospen sind durch Zwischenräume getrennt. Wäre der Himmel jedoch ganz Feuer, käme er uns nicht schön vor, sondern schrecklich. Und man kann sehen, daß das Gold hier nicht dem Selbstzweck dient und auch nicht nur um des Ergötzens willen über den übrigen Schmuck verstreut ist: Vielmehr glänzt es angenehm und verleiht dem ganzen Saal einen rötlichen Farbschimmer: Trifft nämlich das einfallende Licht auf das Gold und verbindet sich mit ihm, dann blitzen sie sozusagen gemeinsam auf, und der rötliche Schimmer leuchtet doppelt hell. (9) Soweit zur Decke, gleichsam dem Scheitel des Saales, die eines Homers als Lobredner bedürfte, damit er ihn entweder »hochgedeckt« wie das Gemach der Helena oder »funkelnd« wie den Olymp nennte. Die übrige Dekoration, die Wandgemälde, die Schönheit der Farben, die Klarheit, die Treue und Deutlichkeit jedes Details lassen sich gut mit

ÜBER DEN SAAL

33

dem Anblick des Frühlings und einer Blumenwiese in voller Blütenpracht vergleichen - sieht man davon ab, daß jene Blumen verblühen, verwelken, vergehen und ihre Schönheit verlieren, dieser Frühling hier aber ewig dauert, diese Wiese nie verwelkt, diese Blüte nie stirbt: Denn nur der Blick berührt sie, nur das Auge pflückt den Liebreiz ihres Anblicks. (10) Wen würden solche Herrlichkeiten, in solcher Zahl, nicht beglücken, wer würde sich nicht wünschen, sich selbst zu übertreffen und an einem solchen Ort zu sprechen, obwohl ihm klar ist, welche Schande es bedeutet, hinter all dem, was sich dem Auge darbietet, zurückzubleiben? Denn Schönes anzuschauen wirkt im Höchstmaß anziehend. Und das gilt nicht nur für Menschen, sondern auch ein Pferd, meine ich, läuft lieber über einen leicht abfallenden und weichen Grasboden, der seinen Tritt sanft auffangt, seinem Fuß sachte nachgibt und nicht hart gegen den H u f schlägt. Jedenfalls greift es dann im Lauf weit aus, und in seiner völligen Hingabe an die Geschwindigkeit wetteifert es sogar mit der Schönheit des Bodens, (n) Kommt ein Pfau zu Frühlingsbeginn auf eine Wiese, dann, wenn die Blumen so sprießen, daß sie entzückender, ja, wie soll man sagen, blühender und farbenreiner nicht sein könnten, dann spreizt auch er seine Flügel, zeigt sie der Sonne, hebt seinen Schwanz, schlägt sein Rad und präsentiert auf diese Weise seine eigenen Blüten und seiner Flügel Frühling, gerade als ob ihn die Blumenwiese zum Wettstreit herausforderte: Dann dreht er sich und wendet er sich und triumphiert in seiner Schönheit. Ja, bisweilen erstrahlt seine Schönheit noch staunenswerter, wenn seine Farben sich im Sonnenlicht verändern, ohne scharfe Kontraste ineinander übergehen und sich in immer neue schöne Anblicke wandeln. Am häufigsten geschieht das bei den Augen auf den Flügelspitzen, deren jedes einzelne eine Art Regenbogen umspielt: Was eben noch

34

A N M E R K U N G E N ZUR LITERARISCHEN ÄSTHETIK

bronzen schimmerte, das sieht bei der leisesten Neigung golden aus, und was im Sonnenlicht Azur war, das wird, fällt Schatten darauf, zu leuchtendem Grün. So wandelt sich der schöne Schmuck seines Gefieders mit dem Lichteinfall. (12) Daß auch das Meer, wie es sich an einem heiteren und windstillen Tag zeigt, uns leicht herauszufordern und zu heftigem Begehren hinzureißen vermag, das wißt ihr, auch ohne daß es meiner Worte bedürfte; wie sehr einer auch dem Festland verbunden und ohne jede Ahnung von der Seefahrt sein mag, es wird ihn doch oft sehr verlocken, sich auch selbst einzuschiffen und umherzukreuzen und sich weit von der Küste zu entfernen, vor allem dann, wenn er sieht, wie eine Brise leicht das Segel bläht und das Schiff sanft und ruhig schwebend langsam über die Wellen gleitet. (13) Genau so vermag einen nun auch die Schönheit dieses Saales zum Reden zu animieren und während des Redens zu inspirieren und auf jede Weise zu motivieren, Ruhm und Ehre zu erlangen. Davon bin ich wirklich überzeugt, und in dieser Überzeugung bin ich in diesen Saal gekommen, um eine Rede zu halten, von seiner Schönheit gleichsam herbeigezogen wie von einem Zauberrädchen oder einer Sirene, und ich hege die nicht geringe Hoffnung, daß meine Worte, waren sie bislang auch unscheinbar, wie von einem schönen Kleid geschmückt in Schönheit erstrahlen werden. (14) Ein anderer Logos, keineswegs ein unedler, vielmehr ganz im Gegenteil ein sehr edler, wie er sagt, ist mir, während ich sprach, immer wieder ins Wort gefallen und hat ständig versucht, meine Rede zu unterbrechen, und nun, wo ich geendet habe, behauptet er, daß ich lüge und daß er sich wundere, wie ich sagen könne, daß für eine rhetorische Darbietung die mit Bildern und Gold geschmückte Schönheit eines Saales besonders hilfreich sei: Das Gegenteil sei nämlich der Fall. Daher soll er, der Logos, wenn alle einverstanden sind, selbst auftreten und vor euch wie vor Richtern

ÜBER DEN SAAL

35

seine Auffassung verteidigen, daß ein schlichter und unscheinbarer Saal für einen Redner von größerem Vorteil sei. Meine Ausfuhrungen habt ihr ja bereits gehört, so daß ich nicht zweimal über dasselbe zu sprechen brauche; soll also er vortreten und sprechen, und ich will schweigen und ihm für eine kurze Weile Platz machen. (15) Nun also, ihr Herren Richter, sagt der Logos, mein Vorredner hat viele und gewaltige Worte des Lobes für diesen Saal hier gefunden und ihn so durch seine eigene Rede geschmückt, und ich bin so weit davon entfernt, ihn etwa tadeln zu wollen, daß es mir vielmehr angemessen scheint, das, was er ausgelassen hat, noch nachzutragen: Denn je schöner der Saal sich euch präsentiert, desto sperriger wird er sich für die Bedürfnisse eines Redners erweisen. Da jener ja Frauen, Schmuck und Gold erwähnt hat, erlaubt auch mir, zunächst einmal von diesem Beispiel auszugehen: Denn ich behaupte, daß reicher Schmuck schönen Frauen nicht nur nicht zu größerer Schönheit verhelfen kann, sondern sich sogar gegenteilig auswirkt, wenn nämlich jeder, der ihnen begegnet, geblendet von dem Gold und den Edelsteinen nicht das Lob des Tones ihrer Haut, das Lob ihres Blickes, ihres Halses, ihres Armes oder ihres Fingers singt, sondern all das beiseite wischt und statt dessen auf den Karneol, den Smaragd, die Kette oder das Armband starrt. Da dürfte sie sich natürlich ärgern, wenn sie zugunsten ihres Schmuckes übersehen wird und ihre Bewunderer gar keine Zeit haben, sie selbst zu loben, sondern die Betrachtung ihrer Person zur Nebensache machen. (16) Genauso geht es, meine ich, zwangsläufig auch demjenigen, der seine Rede inmitten solch herrlicher Kunstwerke hält: Von der Größe des Schönen wird das, was er zu sagen hat, verdeckt, verdunkelt, hinweggerissen, als ob man eine Lampe in ein mächtiges Feuer würfe oder eine Ameise auf einem Elefanten oder einem Kamel zeigte. Davor muß sich der

)6

A N M E R K U N G E N ZUR LITERARISCHEN ÄSTHETIK

Redner in acht nehmen, und außerdem auch davor, daß er nicht den Klang seiner Stimme verdirbt, wenn er in einem Saal mit so klangvoll hallendem Echo spricht: Er dröhnt und tönt und spricht dagegen, mehr noch, er verdeckt sein Deklamieren, wie es auch eine Trompete mit einer Flöte täte, wenn sie gleichzeitig bliesen, oder wie das Meer mit den Rudermeistern, wenn sie den Männern auf den Bänken ihre Kommandos gegen das Klatschen der Wellen zurufen wollen: Denn die größere Lautstärke übertönt die geringere und läßt sie verstummen. (17) Meiner Meinung nach wirkt sich auch das, was mein Gegner behauptete, daß also ein schöner Saal den Redner anstachelt und noch stärker entflammt, eher gegenteilig aus: Es versetzt ihn nämlich in Angst und Schrecken, es trübt ihm den Verstand und nimmt ihm allen Mut, wenn er sich klar macht, daß es keine größere Schande geben kann als an einem herrlichen Ort keine vergleichbar herrlichen Worte hören zu lassen. Nichts nämlich kann einen Redner so unbarmherzig entlarven wie dieser Saal; wie wenn jemand eine schöne Rüstung angelegt hätte und dann vor allen anderen die Flucht ergriffe: Die Waffen machen es nur um so deutlicher, daß er ein Feigling ist. Ich bin sicher, daß es diese Überlegung war, die den bekannten Redner bei Homer dazu bewog, sich am allerwenigsten um ein schönes Aussehen zu kümmern, ja mehr noch, sich den Anschein eines völligen Dummkopfs zu geben, damit im Vergleich mit seiner Häßlichkeit die Schönheit seiner Worte sich um so unerwarteter zeigte. Im übrigen wird es sich nicht vermeiden lassen, daß auch der Redner sich in Gedanken ständig mit dem beschäftigt, was er sieht, und die Präzision seiner Gedankenfuhrung sich unter dem starken Einfluß und Anspruch der sinnlichen Wahrnehmung auflöst, die ihn abhält, sich auf seine Rede zu konzentrieren. Was kann ihn daher davor bewahren, eine ganz und gar minderwertige

ÜBER DEN SAAL

37

Rede zu halten - widmet sich doch seine Seele dem Lob dessen, was zu sehen ist? (18) Dabei will ich gar nicht davon reden, daß auch die Anwesenden selbst, die sich zum Zuhören versammelt haben, von Zuhörern zu Zuschauern werden, sobald sie in einen solchen Saal kommen, und daß kein Redner in einem solchen Maße ein Demodokos, ein Phemios, ein Thamyris, ein Amphion oder ein Orpheus ist, daß er ihre Aufmerksamkeit vom Schauen abziehen könnte. Nein, ganz im Gegenteil wird jeder, wie es aussieht, sobald er nur über die Schwelle tritt, von so viel geballter Schönheit überwältigt, nicht einmal mehr den Anfang jener Rede oder Vorlesung wahrnehmen, sondern sich ganz und gar den anzuschauenden Dingen zuwenden, es müßte denn einer auf beiden Augen blind sein oder die Vorlesung, wie die Beratungen des Areopags, bei Nacht stattfinden. (19) Daß nämlich die Macht des Wortes für das Sehen kein würdiger Gegner ist, mag auch der Vergleich zwischen Sirenen- und Gorgonenmythos lehren. Denn die Sirenen pflegten durch Lieder und durch schmeichelnde Gesänge die vorübersegelnden Schiffer zu bezaubern und diejenigen, die bei ihnen landeten, auf lange Zeit festzuhalten. Auf jeden Fall bedurfte es für die Erfüllung ihrer Aufgabe eines Aufenthaltes, und es kam vor, daß einer an ihnen vorbeisegelte und ihr Lied überhörte. Die Schönheit der Gorgonen hingegen war gewalttätig und ergriff die Seele dort, wo sie am leichtesten zu packen ist, und daher brachte sie diejenigen, die sie sahen, sogleich aus der Fassung und machte sie stumm; wie der Mythos will und erzählt wird, wurden sie vor Staunen zu Stein. Ich meine deshalb, daß auch seine Ausführungen von vorhin über den Pfau eher meine Argumentation unterstützen: Denn auch beim Pfau liegt der Reiz im Anblick, nicht in seiner Stimme. Und wenn man die Nachtigall oder den Schwan auftreten und singen ließe und mitten in ihrem Ge-

38

A N M E R K U N G E N ZUR LITERARISCHEN ÄSTHETIK

sang den schweigenden Pfau vorführte, dann, da bin ich völlig sicher, würde die Seele ihm zufliegen und auf die Gesänge jener Vögel herzlich gerne verzichten: So konkurrenzlos scheint mir das aus der visuellen Wahrnehmung resultierende Vergnügen zu sein. (20) Und nun werde ich, wenn ihr einverstanden seid, euch einen weisen Mann als Zeugen vorfuhren, der mir sogleich bezeugen wird, daß das, was man sieht, viel beeindruckender ist als das, was man hört. Du, Gerichtsdiener, ruf mir Herodot selbst herauf, den Sohn des Lyxos, aus Halikamaß. Und nachdem er so freundlich war und meiner Aufforderung gefolgt ist, soll er vortreten und sein Zeugnis ablegen; bitte habt Verständnis dafür, daß er mit euch Ionisch spricht, wie er es gewohnt ist. Wahr kündet euch dies der Logos, ihr Herren Richter, und glaubet ihm das, was er über diese Dinge saget, das Sehen vor dem Hören bevorzugend; trifft es sich doch, daß die Ohren weniger vertrauenswürdig sind als die Augen. Hört ihr, was der Zeuge sagt, daß er dem Sehen den Primat zugesprochen hat? Und das mit gutem Grund! Sind doch die Worte geflügelt und, kaum hervorgebracht, schon davongeflogen. Der Reiz dessen hingegen, was man sieht, bleibt immer bestehen und unterwirft sich den Betrachter völlig. (21) Wie sollte nun ein so schöner und allseits bewunderter Saal nicht ein schwieriger Widersacher für einen Redner sein? Und mehr noch: Das größte Problem habe ich noch gar nicht erwähnt! Ihr Richter selbst habt, während wir redeten, die ganze Zeit an die Decke geschaut und die Wände bewundert und euch jedem einzelnen Gemälde zur kritischen Begutachtung zugewandt. Das muß euch nicht peinlich sein: Es ist verzeihlich - ihr seid ja auch nur Menschen! - , gerade im Angesicht so schöner und vielfältiger Sujets. Denn die Verbindung von handwerklicher Präzision,

ÜBER DEN SAAL

39

hohem antiquarischen Interesse und belehrender Erbaulichkeit des Dargestellten ist in der Tat attraktiv und verlangt nach gebildeten Betrachtern. Und damit ihr nicht nur noch dorthin schaut und mich vergeßt, will ich euch nun nach Kräften die Bilder mit Worten malen; denn es wird euch, glaube ich, Freude machen zu hören, was ihr bewundernd betrachtet. Und vielleicht werdet ihr mich ja auch dafür loben und mich meinem Gegner vorziehen, daß ich schildere, was euch erfreut, und es so für euch verdoppele. Macht euch die Schwierigkeit meiner Aufgabe klar: ohne Farbe, Form und Raum solche Bilder zu komponieren! Schlicht und unscheinbar ist ja die Malerei der Sprache. (22) Beim Hereinkommen findet sich rechterhand ein Gemälde, auf dem sich äthiopisches Abenteuer mit argolischem Mythos paart: Perseus tötet das Meerungeheuer und befreit Andromeda, bald wird er sie heiraten und mit ihr davoneilen; ein Abstecher dies auf dem Rückweg von seinem Flug gegen die Gorgonen. Auf kleinstem Raum hat der Künstler vieles dargestellt, die Scheu und die Angst des Mädchens - sie schaut von den Felsen aus auf den Kampf herab - , das von seiner Verliebtheit beflügelte Draufgängertum des jungen Mannes und den Anblick des unbezwingbaren Untiers. Von Stacheln starrend und mit aufgerissenem Maul geht es auf ihn los, Perseus streckt mit der Linken die Gorgo vor, mit der Rechten läßt er das Schwert herabfahren: Und der Teil des Ungeheuers, der die Medusa gesehen hat, ist schon versteinert, der noch lebende Teil hingegen wird Opfer der Sichel. (23) Als nächstes nach diesem Bild ist ein anderes dramatisches Geschehen, eines von äußerster Gerechtigkeit, gemalt, für dessen Sujet sich der Maler meiner Ansicht nach bei Euripides oder Sophokles bedient hat, die ein ganz ähnliches Bild entworfen haben. Die beiden miteinander befreundeten Jünglinge, Pylades aus Phokis und der vermeint-

40

A N M E R K U N G E N ZUR LITERARISCHEN ÄSTHETIK

lieh tote Orestes, dringen heimlich in den Palast ein und töten gemeinsam den Aigisthos. Klytaimestra ist schon ermordet und liegt halbentblößt auf einer Bahre, und die Diener, voller Entsetzen über die Tat, scheinen teils zu schreien, teils halten sie nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau. Der Maler hat bei seiner Darstellung Gefühl für Anstand und Ehre bewiesen, indem er den frevlerischen Aspekt der Tat nur andeutet und als etwas, das bereits geschehen ist, gleichsam im Vorübergehen zeigt, vor allem aber das Zögern der Jünglinge bei der Ermordung des Ehebrechers ausgearbeitet hat. (24) Es folgt ein schöner Gott und ein hübsches Bürschchen, ein erotischer Scherz: Branchos, auf einem Felsen sitzend, hält einen Hasen empor und neckt seinen Hund, der aussieht, als ob er an ihm hochspringt; Apoll steht lächelnd daneben und hat an den beiden seine Freude, an den Nekkereien des Knaben wie am Eifer des Hundes. (25) Danach wieder Perseus, diesmal in dem Abenteuer, das er vor jenem mit dem Meeresungeheuer zu bestehen hatte, die Medusa, der der Kopf abgeschlagen wird, Athena, die den Perseus beschützt. Er besteht das Wagnis, die Tat selbst sieht er nicht, außer dem Bild der Gorgo in seinem Schild: Denn er weiß, was der wahre Anblick kostet. (26) In der Mitte der Wand oberhalb der dem Haupteingang gegenüberliegenden Tür ist ein Tempel der Athena eingelassen; die Göttin ist aus weißem Stein, ihre Haltung nicht feindselig, sondern so wie die einer kriegerischen Göttin im Frieden. (27) Dann nach ihr eine weitere Athena, diesmal nicht aus Stein, sondern wieder ein Gemälde: Hephaistos verfolgt sie verliebt, sie läuft weg, und Ergebnis dieser Verfolgung ist Erich thonios. (28) Hierauf folgt ein weiteres altes Gemälde: Orion, geblendet, trägt den Kedalion, und der zeigt ihm, auf seinen

ÜBER DEN SAAL

41

Schultern, den Weg zum Licht. (29) Helios erscheint und heilt die Verletzung, und Hephaistos beobachtet die ganze Sache von Lemnos aus. (30) Danach kommt Odysseus, vorgeblich wahnsinnig, weil er die Atriden nicht auf ihrem Feldzug begleiten will; ebenfalls anwesend sind die Boten, die gerade ihre Botschaft ausrichten. Die Requisiten seiner Verstellung sind alle glaubwürdig, der Wagen, das ungleiche Gespann, die Absurdität der Handlungen. Und doch wird er durch sein kleines Kind entlarvt: Denn Palamedes, der Sohn des Nauplios, begreift, was da vor sich geht, schnappt sich Telemachos und droht ihn mit vorgehaltenem Schwert zu töten, und so setzt er der Inszenierung des Wahnsinns einen ebenfalls gespielten Wutausbruch entgegen. Odysseus aber nimmt auf diesen Schrecken hin Vernunft an, wird wieder zu einem Vater und läßt das Theater sein. (31) Das letzte Bild zeigt Medea, von Eifersucht durchglüht, wie sie ihre Kinder scheel ansieht und Schlimmes plant: Jedenfalls hält sie schon das Schwert in der Hand, die beiden armen Kleinen aber sitzen lachend da, völlig ahnungslos, und das, obwohl sie das Schwert in den Händen sehen. (32) Seht ihr nicht, ihr Herren Richter, wie all dies den Zuhörer vom Hören ab- und zum Schauen hinlenkt, den Redner aber verlassen dastehen läßt? Ich bin diese Bilder durchgegangen, nicht damit ihr meinen Gegner für einen Draufgänger haltet und ihn, wenn er sich ohne Not an so schwierige Gegenstände gewagt hat, für seine Dreistigkeit verurteilt, ihn ablehnt und auf seiner Rede sitzen laßt, sondern damit ihr ihm um so mehr in seinem Kampf beisteht und seinen Darlegungen wenn irgend möglich mit geschlossenen Augen lauscht, im Bewußtsein der Schwierigkeit seines Unterfangens. Mit Müh und Not könnte es ihm, wenn ihr nicht seine Richter, sondern seine Mitkämpfer wäret,

42

A N M E R K U N G E N ZUR LITERARISCHEN ÄSTHETIK

dann gelingen, daß man ihn der Pracht dieses Saales nicht für gänzlich unwürdig hielte. Und wenn ich eine solche Bitte zugunsten meines Gegners äußere, so wundert euch nicht: Denn weil ich diesen Saal liebe, möchte ich, daß auch derjenige, der in ihm spricht, wer immer es sein mag, Ehre und Ruhm erlangt.

II 2 DIE BILDER [Lykinos (Inc.) und Polystratos (POL.) (2,43)] (1) LYK. Ja, so muß es den Leuten beim Anblick der Gorgo ergangen sein, Polystratos - ich habe die herrlichste aller Frauen gesehen und war so starr vor Staunen, daß nicht viel fehlte und ich wäre, wie im Mythos, zu Stein geworden. POL. Beim Herakles, ein außergewöhnlicher und ungeheuerlicher Anblick, wenn er sogar den Lykinos aus dem Gleichgewicht gebracht hat - eine Frau! Es sind ja sonst eher die Knaben, auf die du so reagierst; da bist du so leicht entflammt, daß man wohl schneller den ganzen Sipylos umsetzen als dich davon abbringen könnte, bei den Schönen zu stehen, mit offenem Mund und oft sogar mit Tränen in den Augen, wie die Tochter des Tantalos. Aber sag mir, wer diese Medusa ist, die einen in Stein meißelt, und woher sie kommt, damit ich sie auch einmal sehen kann. Denn du mißgönnst mir doch, denke ich, ihren Anblick nicht und wirst nicht eifersüchtig, wenn ich sie zusammen mit dir anschaue und dann gleichfalls erstarre. LYK. In der Tat mußt du dir darüber klar sein, daß sie dich, wenn du sie auch nur von weitem erblickst, verstummen und so starr wie ein Standbild dastehen lassen wird. Und doch ist es vielleicht noch einigermaßen harmlos und die Wunde weniger gefahrlich, wenn du sie anschaust sollte aber auch sie d i c h anschauen, wie sollst du dann noch von ihr loskommen? Fesseln wird sie d i c h und dich hinter sich her ziehen, wohin sie will, wie der HeraklesStein das Eisen.

44

A N M E R K U N G E N ZUR LITERARISCHEN ÄSTHETIK

(2) POL. Lykinos, hör auf, monströse Schönheiten zu erfinden, sondern sag mir lieber, wer die Frau ist. LYK. DU glaubst natürlich, ich übertreibe mit meinem Bericht, dabei befürchte ich gerade im Gegenteil, daß ich vor dir als ziemlich schwächlicher Lobredner dastehe, wenn du sie siehst, so viel großartiger wird sie dir vorkommen. Wie dem auch sei, wer sie ist, kann ich dir nicht sagen, aber sie hatte viele Diener dabei, und auch ihre übrige Begleitung war großartig, eine Menge Eunuchen und eine ganze Reihe von Zofen, und insgesamt sah mir die Sache jedenfalls nach mehr als nach einer Privatperson aus. POL. Konntest du denn nicht einmal ihren Namen in Erfahrung bringen? LYK. Nein, das heißt: nur so viel, daß sie aus Ionien kommt. Als sie vorüberging, wandte sich nämlich einer von den Zuschauern zu seinem Nachbarn und sagte: »Solche Schönheiten gibt's in Smyrna! Und es ist auch kein Wunder, wenn die schönste aller ionischen Städte auch die schönste aller Frauen hervorgebracht hat.« Ich hatte den Eindruck, der Sprecher kam selbst aus Smyrna, so sehr brüstete er sich mit ihr. (3) POL. Nachdem du dich da also wirklich wie ein Stein benommen hast und ihr weder nachgegangen bist noch diesen Smyrnäer nach ihr gefragt hast, so beschreibe mir jetzt wenigstens ihr Aussehen so genau wie möglich! Vielleicht erkenne ich sie ja dann. LYK. Ist dir klar, was du da von mir verlangst? Es liegt außerhalb der sprachlichen Möglichkeiten, und ganz bestimmt jedenfalls außerhalb der meinen, ein so wunderbares Bild zu malen, das man schon einem Apelles, einem Zeuxis oder einem Parrhasios kaum zutrauen würde, auch nicht einem Phidias oder einem Alkamenes: Da werde ich nur das Original besudeln mit meinen schwachen Fähigkeiten.

DIE BILDER

45

POL. Trotzdem, Lykinos: Wie sah sie aus? Du gehst ja kein großes Risiko ein, wenn du einem Freund ihr Bild präsentierst, wie genau auch immer deine Zeichnung sein mag. LYK. Und doch, ich denke, es ist sicherer, wenn ich mir einige der alten Meister zur Hilfe rufe, damit sie mir die Frau nachgestalten. POL. Wie meinst du das? Oder besser: Wie sollen sie zu dir kommen, wo sie doch schon so lange tot sind? LYK. Ganz leicht, vorausgesetzt, du wärest bereit, mir eine Frage zu beantworten. POL. Frag nur. (4) LYK. Warst du schon einmal auf Knidos, Polystratos? POL. Allerdings. LYK. Da hast du sicher auch ihre Aphrodite gesehen? POL. Natürlich, beim Zeus, das schönste von allen Werken des Praxiteles. LYK. Und du hast auch die Geschichte gehört, die die Einheimischen von ihr erzählen: Daß sich einer in die Statue verliebte und, nachdem er sich im Heiligtum heimlich hatte einschließen lassen, mit ihr schlief, so gut das mit einer Statue geht. Aber davon ein andermal! Beantworte du mir - da du sie ja kennst, wie du behauptest - jetzt lieber die folgende Frage, ob du auch Alkamenes' >Aphrodite in den Gärten), INVEKTIVEN UND SATIREN

Herr an die Rampe tritt, der andere wiederum von einem Armen zu einem Satrapen oder König wird, der eine der Freund von jenem, der andere sein Feind, und jener wieder ein Flüchtling. Und der Gipfel der Ungeheuerlichkeit ist doch, daß alle, obwohl Tyche doch beständig Zeugnis dafür ablegt, daß sie über die Angelegenheiten der Menschen nur lacht, und eingesteht, daß es hierin keinerlei Sicherheit gibt, tagtäglich darauf starren, nach Reichtum und Macht streben und voll von unerfüllten Hoffnungen durchs Leben gehen. (21) Was ich aber eben sagte, daß einem das Alltagsgeschehen Anlaß zum Lachen und Ablenkung verschaffen kann, das will ich dir jetzt erklären. Denn wie sollten die Reichen nicht lächerlich sein, die ihre Purpurtogen vorfuhren und einem ihre Ringe unter die Nase halten, Geschmacklosigkeiten aller Art begehen und, der neueste Schrei, jeden, dem sie begegnen, mit Hilfe einer fremden Stimme begrüßen, in der Meinung, man müßte damit zufrieden sein, von ihnen bloß angeschaut zu werden; und das gleiche gilt für die höheren Würdenträger, die eine Proskynese erwarten, nicht aus der Ferne und nicht wie bei den Persern, sondern man muß ihnen, wenn man sich genähert und tief verbeugt hat und sich schon in weiter Entfernung innerlich erniedrigt und diese seine seelische Verfassung durch eine entsprechende Körperhaltung zum Ausdruck gebracht hat, die Brust oder die Rechte küssen! - und diejenigen, die nicht einmal das dürfen, schauen zu und platzen vor Neid: Der aber steht da und dehnt die Zeit, in der er betrogen wird, noch freiwillig aus. Immerhin muß ich sie dafür loben, daß sie uns in ihrer allgemeinen Menschenverachtung nicht an ihren Mund lassen. (22) Noch viel lächerlicher als sie sind aber diejenigen selbst, die sie aufsuchen und ihnen ihre Aufwartung machen: Mitten in der Nacht stehen sie auf, laufen in der ganzen Stadt herum, lassen sich von Dienern die Tür vor der

NIGRINOS

Nase zuschlagen und müssen es sich noch gefallen lassen, als >Hunde< und >Schmeichlerpack< und ähnliches tituliert zu werden. Lohn für dieses bittere Satellitendasein ist dann das berühmte Festmahl, eine abgeschmackte Angelegenheit, die ihnen zudem viele traurige Umstände beschert: Wie viel müssen sie da essen, wie viel wider alle Vernunft trinken, wie viel reden, wo sie besser geschwiegen hätten, und zuletzt murrend und mißgelaunt nach Hause gehen oder auf das Essen schimpfen oder die Frechheiten oder den Geiz des Gastgebers bemäkeln. Voll von ihnen sind dann die Gassen, wo sie sich übergeben und sich vor den Bordellen prügeln; und am folgenden Tag müssen die meisten von ihnen das Bett hüten und verschaffen den Ärzten die Gelegenheit zu Krankenbesuchen. Einige von ihnen, das ist das allerneueste, haben sogar fürs Kranksein keine Zeit! (23) Ich finde jedenfalls viel verwerflicher als diejenigen, die sich Schmeicheleien gefallen lassen, die Schmeichler selbst, und fast möchte ich sie für die wahren Schuldigen an deren Arroganz halten. Wenn sie nämlich deren Reichtum bestaunen und ihr Gold in den höchsten Tönen preisen und ihre Antichambres schon am frühen Morgen füllen und sie, sobald sie hereindürfen, wie Herrscher begrüßen, was müssen die dann natürlich denken? Wenn sie sich zusammentäten und sich auch nur eine Zeitlang von dieser Liebedienerei zurückhielten, glaubst du nicht, ganz im Gegenteil würden dann die Reichen zu den Türen der Bettler kommen und flehen, man solle ihr Glück doch bitte nicht ganz ohne Zuschauer und Zeugen und die Pracht ihrer Tafeln und die Größe ihrer Häuser doch nicht ganz überflüssig und wirkungslos verkümmern lassen? Denn so gerne sie reich sind noch lieber wollen sie für ihren Reichtum glücklich gepriesen werden! Ja, so ist es: Ein wunderschönes Haus nützt seinem Bewohner nichts, Gold und Elfenbein sind zu gar nichts gut, wenn sich nicht einer findet, der sie bestaunt. Auf diese Weise

i}6

LOBREDEN(?), I N V E K T I V E N U N D SATIREN

müßte man ihre Macht schmälern und entwerten, indem man ihren Reichtum mit einer Mauer der Nichtbeachtung umgibt. So, wie es jetzt ist, treibt man sie hingegen durch kriecherisches Verhalten in die völlige Unvernunft. (24) Daß nun Leute sich so verhalten, die nicht zur Zunft der Gebildeten gehören und ihre Unwissenheit auch offen zugeben, das mag noch angehen. Daß hingegen auch viele von denjenigen, die sich als Philosophen ausgeben, noch viel lächerlichere Dinge tun, das ist nun wirklich der Gipfel der Ungeheuerlichkeit. Was glaubst du, in was für eine seelische Verfassung ich gerate, wenn ich einen von denen sehe, vor allem einen von den Alteren, mitten in einer Traube von Schmeichlern, wie er für einen von den oberen Zehntausend den Leibwächter spielt und mit denen, die für die Essenseinladungen zuständig sind, Verabredungen trifft, ausgezeichnet vor den anderen und sichtbarer als sie nur durch seine Kleidung? Und worüber ich mich am meisten aufrege, das ist, daß sie nicht auch Kostüm und Maske anlegen, wo sie doch in allem übrigen so perfekt schauspielern, als ob sie auf der Bühne stünden. (25) Denn was sie so im Laufe festlicher Abende in Szene setzen - mit wem von den ach so ehrenwerten Gästen dürfen wir sie da vergleichen? Stopfen sie sich nicht unmäßiger voll als alle anderen, betrinken sie sich nicht viel sichtbarlicher, stehen sie nicht als letzte von allen auf, wollen sie nicht mehr als alle anderen für zu Hause einpacken? Und die Urbaneren unter ihnen versteigen sich sogar dazu, zu singen! Das alles hielt er für lachhaft. Vor allem aber brachte er die Rede auf diejenigen, die philosophische Erkenntnisse für Geld anbieten und die Tugend wie auf dem Markt zum Verkauf ausstellen: Handwerksbetriebe und Trödelläden nannte er ihre Wirkungsstätten, und er verlangte, daß jeder, der die Verachtung des Reichtums predigen wolle, zuerst einmal zeigen müsse, daß er selbst hoch über solchen Din-

NIGRINOS

137

gen wie Einnahmen stehe. (26) Er persönlich führte sein Leben natürlich ganz nach diesen Grundsätzen, indem er nicht nur denen, die danach verlangten, seine Zeit unentgeltlich widmete, sondern auch den Bedürftigen aushalf und jeglichen Uberfluß verachtete, so weit davon entfernt, nach fremdem Gut zu streben, daß er nicht einmal Vorsorge gegen den Verlust und den Niedergang seines eigenen Besitzes traf: So gehörte ihm ein Grundstück in der Nähe der Stadt, und doch hatte er es seit vielen Jahren nicht betreten, ja, er leugnete sogar, irgendeinen Anspruch darauf zu haben, was er, glaube ich, so begründete, daß keines dieser Dinge uns von Natur aus gehört, sondern wir durch Brauch und Weitergabe ihre Nutznießung für unbestimmte Zeit gepachtet haben und daher ein Weilchen als ihre Herren gelten. Und wenn die Frist um ist, dann übernimmt sie ein anderer und freut sich an dieser Bezeichnung. Für diejenigen, die ihn nachahmen wollen, bietet er keineswegs zu verachtende vorbildliche Verhaltensweisen: Zurückhaltung beim Essen und Trinken, maßvolle sportliche Betätigung, eine ehrfurchteinflößende Miene, unauffällige Kleidung, und zu alledem Ausgewogenheit des Denkens und einen sanften Charakter. (27) Denen, die sich ihm anschlössen, pflegte er zu raten, das rechte Handeln nicht aufzuschieben, was die meisten tun, die sich irgendwelche Festund Feiertage als Termin setzen, an denen sie damit beginnen wollen, nicht mehr zu lügen und ihre Pflicht zu tun. Er bestand darauf, daß die Hinwendung zum Rechten keinen Aufschub dulde. Es war klar zu erkennen, daß er auch solche Philosophen verachtete, die es für eine Tugendübung halten, wenn sie die jungen Leute darin drillen, Bedrängnissen und Mühen zu widerstehen; die meisten von ihnen verlangen, sich mit kaltem Wasser zu waschen, andere arbeiten mit Peitschenschlägen, und diejenigen unter ihnen, deren Geschmack etwas raffinierter ist, zerkratzen die Haut mit

138

LOBREDEN*?), INVEKTIVEN U N D SATIREN

einem Schabeisen. (28) Er war nämlich der Ansicht, man müsse diese Härte und Unempfindlichkeit viel eher in den Seelen erzeugen, und wer es sich zum Beruf mache, Menschen vollendet zu erziehen, der müsse einerseits auf ihre seelische, andererseits auf ihre körperliche Befindlichkeit, dann auch auf ihr Alter und ihre früheren Lebensumstände Rücksicht nehmen, damit er nicht daran scheitere, daß er mehr verlange, als sie leisten könnten: Viele seien ja durch solche unvernünftigen Anforderungen sogar schon zu Tode gekommen. Und einen bekam ich auch selbst zu sehen, der, nachdem er die üblen Verhältnisse bei jenen kennengelernt hatte, als er erst einmal die Worte der Wahrheit vernommen hatte, sich ohne einen Blick zurück zu ihm geflüchtet hatte und dem es nun ganz offensichtlich besser ging. (29) Nachdem er mit diesen fertig war, wandte er sich wieder den anderen Menschen zu und sprach eingehend über die Quellen der Verwirrung in dieser Stadt, das Gedränge, die Theater, die Pferderennbahn, die Statuen der Wagenlenker, das Getue um die Namen von Rennpferden und das Gerede darüber, was in allen Gassen zu hören war: Denn die Pferdemanie herrscht tatsächlich überall und hat schon viele Leute ergriffen, die man eigentlich für seriös gehalten hatte. (30) Dann berührte er in seinem Vortrag noch ein weiteres Drama. Es ging um diejenigen Menschen, deren Tun und Trachten nur ums Sterben und Vererben kreist, wobei er hinzusetzte, die Römer würden in ihrem ganzen Leben überhaupt nur ein einziges Mal die Wahrheit sagen, womit er die Ausfuhrungen in ihren Testamenten meinte: Auf diese Weise müßten sie nicht die Folgen ihrer eigenen Wahrhaftigkeit tragen. Als er das sagte, mußte ich plötzlich lachen, weil sie ihre Ungebildetheit mit sich begraben wissen wollen und es erlauben, daß ihre Stumpfsinnigkeit auch noch schriftlich dokumentiert wird: Die einen ordnen an, daß ihre Kleider, die ihnen im Leben am liebsten waren, mit ih-

NIGRINOS

139

nen verbrannt werden sollen, die anderen, daß einige ihrer Diener an ihrem Grab Wache stehen, manche wieder wollen, daß ihre Grabsäulen mit Blumen bekränzt werden naiv noch im Tod. (31) Man müsse sich einmal überlegen, forderte er, was solche Leute wohl in ihrem Leben zustandegebracht hätten, wenn sie derartige Bestimmungen für die Zeit danach träfen! Das seien nämlich genau dieselben Leute, die sich teuerste Speisen auftischen ließen, den Wein beim Gastmahl zum Duft von Krokus und Aromen kredenzten, die mitten im Winter alles mit Rosen füllten und sich an ihrer Seltenheit und Unzeitigkeit freuten, während sie es als billig abtäten, Dinge zu ihrer rechten und natürlichen Zeit zu genießen. Diese Leute seien es auch, die Parfüm tränken. Am heftigsten kritisierte er an ihnen, daß sie nicht einmal mit ihren Wünschen richtig umzugehen wissen, sondern sogar hier gegen alle Regeln verstoßen, jede Grenze überschreiten, von überall her den Luxus ihre Seelen mit Füßen treten lassen, kurz, wie es in der Tragödie und in der Komödie heißt: neben der Tür ins Haus einbrechen. Er nannte das einen Solözismus der Lust. (32) Ganz in diese Richtung ging auch folgende Bemerkung, frei nach Momos: Wie jener nämlich den Gott tadelte, der den Stier erschaffen hatte, weil er ihm nicht die Hörner unter die Augen gesetzt hatte, so beklagte er selbst sich über diejenigen, die sich Kränze aufsetzen: Sie wüßten nicht einmal, wo der Kranz hingehöre. Wenn es nämlich, sagte er, der Duft der Veilchen und Rosen sei, an dem sie ihre Freude hätten, dann müßten sie sich am ehesten unter der Nase bekränzen, möglichst nah bei den Nasenlöchern, damit sie ein Maximum an Genuß einatmeten. (33) Des weiteren verlachte er auch diejenigen, die wer weiß was für einen Aufwand mit den Mahlzeiten treiben, mit einer bunten Vielfalt von Soßen und einer reichen Auswahl an Kuchen; auch die nähmen ja, sagte er, für ein ephemeres

140

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN UND SATIREN

und nur kurz währendes Vergnügen alle möglichen Probleme in Kauf. Er legte dar, daß sie für vier Fingerbreit jede Mühe ertrügen: Länger sei keine menschliche Gurgel. Denn vor dem Hineinbeißen habe man keinen Genuß von seinem Einkauf, und nach dem Essen steige der Genuß ebenfalls nicht mit dem Preis. Es sei also zuletzt die Lust im Eingangsbereich des Körpers, die man für so viel Geld erworben habe. Und wie könne das auch anders sein, fand er, wo sie doch aus Unbildung die wahren und wirklichen Genüsse ignorierten: Deren Kosten übernehme die Philosophie - für diejenigen, die bereit seien, den Weg der Anstrengung zu gehen. (34) Auch über das Verhalten in den Bädern hatte er viel zu sagen, die schiere Masse ihres Kliententrosses, die Übertretungen, die Tatsache, daß sie sich auf ihre Diener stützen und sich beinahe von ihnen tragen lassen, als ob sie Leichen auf dem Weg zum Friedhof wären. Eines schien aber seinen Abscheu in besonderem Maße zu erregen, etwas, das in den Bädern dieser Stadt geradezu landesüblich ist: Einige Diener hätten ihnen vorauszugehen und sie mit lauten Rufen zu mahnen, vor sich auf den Weg zu schauen, wenn sie über eine unebene Stelle hinübermüßten, und sie, der Gipfel der Verrücktheit, daran zu erinnern, daß sie gehen! Er fand es ungeheuerlich, daß sie zwar fur's Essen keinen fremden Mund und keine fremden Hände bräuchten, und ebenso kämen sie beim Hören ohne fremde Ohren aus, daß sie aber, obwohl sie sich bester Gesundheit erfreuen, fremde Augen benötigten, die für sie nach vorn gucken, und daß sie es ertrügen, Stimmen zu hören, die sich für Krüppel und Blinde schicken: Mitten auf dem Markt und am hellichten Tag lassen sich das Leute gefallen, die mit der Führung von Staatsgeschäften betraut sind! (35) Mit diesen und vielen anderen derartigen Ausführungen beendete er seine Rede. Ich hatte ihm die ganze Zeit voller Bewunderung gelauscht, immer in der Angst, er

NIGRINOS

141

würde aufhören. Und als er schließlich fertig war, da ging es mir gerade so wie den Phäaken: Eine ganze Zeit schaute ich ihn wie verzaubert an, dann floß mir, von Betäubung und Schwindel ergriffen, der Schweiß in Strömen herab, und mir blieben, als ich etwas sagen wollte, die Worte im Halse stecken und mir verschlug es die Sprache, mir versagte die Stimme, meine Zunge geriet ins Stolpern, und schließlich brach ich vor lauter Verzweiflung in Tränen aus. Denn seine Worte hatten mich nicht nur oberflächlich und leicht verletzt, sondern die Wunde war tief und lebensgefährlich, und so gut war die Rede gezielt, daß sie sich mir, wenn ich das so ausdrücken darf, in die Seele selbst gebohrt hatte. Wenn denn auch ich eine philosophische Argumentation wagen soll, so denke ich darüber folgendermaßen: (36) Ich glaube, daß sich die Seele eines Menschen mit guten Anlagen am ehesten einem weichen und zarten Ziel vergleichen läßt. Viele Bogenschützen legen in seinem Leben auf sie an, die Köcher voll mit verschiedensten und vielfältigsten Argumenten. Sie können zwar keineswegs alle gut mit dem Bogen umgehen: Vielmehr spannen manche die Sehne gewaltig und schießen viel fester als nötig, und sie treffen zwar, aber ihre Pfeile bleiben nicht im Ziel stecken, sondern durch die Gewalt des Schusses durchbohren sie die Seele und hinterlassen auf ihrem Weg nur eine klaffende Wunde in ihr. Mit den Schüssen anderer wiederum geht es genau umgekehrt: So schwach und kraftlos sind sie, daß die Pfeile oft nicht bis ins Ziel fliegen, sondern die fehlende Spannung sie nach der Hälfte des Weges zu Boden fallen läßt. Kommen sie aber doch ins Ziel, so ritzen sie die Haut nur oberflächlich, schlagen aber keine tiefe Wunde: Es steckte einfach keine Kraft dahinter. (37) Ein guter Bogenschütze jedoch, einer wie Nigrinos, wird erst einmal genau sein Ziel daraufhin in Augenschein nehmen, ob es nicht zu weich oder gar zu hart für den Pfeil ist. Denn es gibt in der Tat

142

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN UND SATIREN

auch Ziele, denen mit Pfeilen nicht beizukommen ist. Hat er sich darüber informiert, dann bestreicht er seine Pfeilspitze nicht mit Gift wie die Skythen und auch nicht mit Feigenmilch wie die Kreter, sondern mit einer langsam wirkenden bittersüßen Substanz, und hat er sie damit eingestrichen, dann schießt er den Pfeil nach allen Regeln der Kunst ab. Und der, mit der rechten Spannung geschossen, bohrt sich ganz in sein Ziel, bleibt darin stecken und gibt den größten Teil der Substanz ab, die sich daraufhin überall in der Seele verteilt. Dann geschieht das, was auch mir passiert ist: Sie lachen und weinen beim Zuhören, während die Substanz allmählich ihre Seele durchströmt. Beinahe hätte ich zu ihm jenes Dichterwort gesagt: »Schieß nur, wenn du ein Licht werden willst ...« Nicht jeder nämlich, der die phrygische Flöte hört, gerät in Verzückung, sondern nur diejenigen, die von Rhea ergriffen sind, und die brauchen bloß die Melodie zu hören, damit ihr Gedächtnis die dazugehörige Empfindung produziert. Genau so geraten auch nicht alle, die den Philosophen lauschen, in Begeisterung und gehen betroffen fort, sondern nur diejenigen, die mit der Philosophie ohnehin schon eine Seelenverwandtschaft: verband. (38) A. Wie wundersam erhaben, ja geradezu göttlich ist das, mein Freund, was du da erzählt hast! Ich hatte nicht gemerkt, daß du dich tatsächlich ganz und gar an Ambrosia und Lotos gesättigt hast. Und so habe auch ich, während du geredet hast, eine merkwürdige Regung in der Seele verspürt, und jetzt ärgere ich mich, daß du aufgehört hast, und bin, um dich zu zitieren, verwundet. Kein Wunder: Du weißt ja, daß die Tollwut nicht nur die packt, die selbst von tollwütigen Hunden gebissen werden, sondern, wenn sie in ihrem Wahnsinn andere in denselben Zustand versetzen, auch diese außer sich geraten. Mit dem Biß geht auch etwas von dem Leiden hinüber, die Krankheit pflanzt sich fort und wandert unaufhaltsam von einem zum anderen.

NIGRINOS

143

B. Auch dich hat also die Sehnsucht gepackt. Gibst du es zu? A. Allerdings, und ich muß dich sehr bitten, auch für mich über Heilungsmöglichkeiten nachzudenken. B. Dann gibt es keinen anderen Weg, als das Rezept des Telephos zu befolgen. A. Welches Rezept? B. Zu dem zu gehen, der dich verletzt hat, und von ihm unsere Heilung zu erbitten.

IV 2 DAS G A S T M A H L O D E R D I E L A P I T H E N [Philon (PHI.) und Lykinos (LYK.) (1,17)] (1) PHI. Ihr sollt euch ja gestern bei Aristainetos' Fest prächtig amüsiert haben, erzählt man, Lykinos: philosophische Diskussionen und einen handfesten Streit darüber, und wenn Charinos nicht gelogen hat, dann gab es sogar Verletzte, und die Feier hat ein blutiges Ende genommen. LYK. Und woher, Philon, wußte Charinos davon? Er war bei dem Fest doch gar nicht dabei. PHI. Er behauptete, er habe es von Dionikos, dem Arzt, gehört. Und Dionikos war, glaube ich, persönlich unter den Gästen. LYK. In der Tat. Allerdings war er nicht von Anfang an dabei und auch nicht bei allen Ereignissen, sondern er kam später, als die Schlacht schon beinahe voll im Gange war, kurz vor den ersten Verletzungen. Ich frage mich daher, ob er eine genaue Schilderung liefern konnte, wo er doch gar nicht mitbekommen hat, woran sich ihre Streitsucht entzündete, die dann in einem Blutbad geendet hat. (2) PHI. Genau deshalb, Lykinos, hat uns Charinos auch empfohlen, uns an dich zu wenden, wenn wir hören wollten, was wirklich passiert sei und wie alles im einzelnen vonstatten gegangen sei. Auch Dionikos selbst habe nämlich gesagt, daß er persönlich zwar nicht bei allem dabei gewesen sei, du aber wüßtest über alles, was passiert sei, genau Bescheid und würdest dich auch an die eigentliche Unterhaltung erinnern, weil du kein nachlässiger, sondern ein aufmerksamer Zuhörer solcher Gespräche bist. Nun fang schon

DAS GASTMAHL ODER DIE LAPITHEN

145

an und kredenze uns dieses höchst festliche Mahl: Ein festlicheres kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen, und zwar vor allem deshalb, weil wir in friedlicher Nüchternheit und ohne Blutvergießen außer Reichweite der Geschütze tafeln werden, gleichgültig ob es alte Männer waren, die bei Tisch über die Stränge schlugen, oder junge, die alle der Wein dazu verführte, Ungehöriges zu sagen oder zu tun. (3) LYK. Taten allzu jugendlichen Leichtsinns waren das, Philon, und da verlangst du von mir, ich solle sie der Öffentlichkeit preisgeben und in allen Einzelheiten erzählen: Taten, die in Rausch und Trunkenheit begangen wurden, wo es doch besser wäre, sie dem Vergessen anheim zu geben und sich auf den Standpunkt zu stellen, daß das alles das Werk des Gottes, des Dionysos, ist, der es kaum ertragen kann, wenn einer nicht in seine Mysterien eingeweiht ist und seinen Orgien fernbleibt! Paß also auf, daß du nicht in den Geruch gerätst, ein übler Charakter zu sein mit deiner Forderung nach einem detaillierten Bericht über derartige Dinge, die man besser zusammen mit der Feier hinter sich läßt. Denn »ich hasse«, sagt auch schon das Dichterwort, »erinnerungsfreudige Zecher«. Und auch Dionikos hat nicht recht daran getan, dem Charinos das alles auszuplaudern und die abgestandenen Reste ihres Besäufnisses über die Herren auszuschütten - Philosophen immerhin. Nein, geh, so etwas will ich nicht erzählen. (4) PHI. Du zierst dich, Lykinos! Aber vor mir hättest du doch nicht so zu tun brauchen, weil ich sehr wohl weiß, daß du noch viel mehr darauf erpicht bist zu erzählen, als ich zu hören, und ich glaube fast, du würdest dich, wenn dir die Zuhörer ausgingen, ebenso gern an eine Säule oder an eine Statue wenden und alles an einem Stück ohne Luft zu holen heraussprudeln. Ich wette, wenn ich mich jetzt verabschieden will, dann wirst du mich nicht gehen lassen, bevor ich mir nicht alles angehört habe, sondern du wirst mitgehen

146

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN UND SATIREN

und mir nachlaufen und bitten und betteln. Und dann bin ich an der Reihe, mich zu zieren. [Zu einem Dritten:] So wenn du magst, wollen wir gehen und jemand anderen danach fragen. [Zu Lykinos:] Und du behalte deine Erzählung für dich! LYK. Nun werd doch nicht gleich wütend! Ich erzähle ja schon, wo du mich so sehr bittest! Aber daß du es ja nicht groß weitersagst! PHI. So wie ich Lykinos kenne, wirst du das selbst besser erledigen und es noch vor mir allen Leuten erzählen, so daß du mich gar nicht dafür brauchst. (5) Aber sag mir zuerst: Hatte euch Aristainetos zur Hochzeit seines Sohnes Zenon eingeladen? LYK. Nein, es war seine Tochter Kleanthis, die er dem Sohn des Eukritos zur Frau gab - du weißt schon: Vater Geldverleiher, Sohn Philosophiestudent. PHI. Beim Zeus, ein ausnehmend hübsches Bürschchen, aber er ist doch noch ein zarter Junge und kaum alt genug, um zu heiraten! LYK. Einen passenderen hatte er aber nicht, glaube ich. Und weil der einen ordentlichen Eindruck machte, sich zur Philosophie hingezogen fühlt und außerdem der einzige Sohn des reichen Eukritos ist, da hat er ihm vor allen anderen den Vorzug als Bräutigam gegeben. PHI. Eukritos' Geld - da nennst du keinen kleinen Grund! Jetzt aber, Lykinos: Wer waren die Gäste? (6) LYK. Warum sollte ich dir die übrigen alle aufzählen? Die Vertreter von Philosophie und Rhetorik hingegen, von denen du, glaube ich, in erster Linie hören willst, waren der alte Stoiker Zenothemis und mit ihm Diphilos, genannt >LabyrinthMaßstab< mit Blick auf die Geradheit seiner Anschauungen. Bei seiner Ankunft machten ihm alle Platz und begrüßten ihn wie einen von den Mächtigen, kurz: der Herrgott auf Besuch, das war's, daß der vielbestaunte Ion gekommen war. (8) Schon wurde es Zeit, sich auf den Klinen niederzulassen, es waren beinahe alle da; auf der rechten Seite der Eintretenden nahmen die Frauen das ganze Liegesofa ein, ziemlich viele waren es, und unter ihnen die Braut, sorgfältigst verschleiert, von den Frauen schützend umgeben. Gegenüber der Tür lagen all die übrigen, jeder nach seinem Rang. (9) Den Frauen gegenüber lagen zuerst Eukritos, dann Aristainetos. Dann gab es eine Diskussion, ob nun zuerst Zenothemis der Stoiker seinem Alter entsprechend folgen solle oder Hermon der Epikureer: Denn er war Priester der Dioskuren und entstammte der ersten Familie der Stadt. Doch Zenothemis löste diese Aporie: »Aristainetos,« sagte er, »wenn du mich hinter diesem Hermon da auf den zweiten Platz verweist, einem, um kein anderes Schimpfwort zu gebrauchen, Epikureer, dann lasse ich dich mit deinem ganzen Symposion hier stehen und gehe.« Mit diesen Worten rief er schon nach seinem Sklaven und sah aus, als wolle er den Raum verlassen. Da sagte Hermon: »Dann setz dich eben auf den ersten Platz, Zenothemis; allerdings hätte es

148

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN U N D SATIREN

dir gut zu Gesicht gestanden, einem Priester Platz zu machen, wenn schon aus keinem anderen Grund, wie sehr auch immer du den göttlichen Epikur verachtest.« - »Daß ich nicht lache,« sagte Zenothemis, »ein Epikureer - und Priester!« und mit diesen Worten nahm er Platz, nach ihm dann trotzdem Hermon, dann Kleodemos der Peripatetiker, dann Ion und unterhalb von ihm der Bräutigam, dann ich, neben mir Diphilos und unterhalb von ihm sein Schüler Zenon, dann der Rhetor Dionysodoros und der Grammatiker Histiaios. (10) PHI. Potztausend, Lykinos, geradezu ein Musenheiligtum beschreibst du da, ein Symposion von fast ausschließlich weisen Männern, und ich muß den Aristainetos wirklich für seine Entscheidung loben, zu einem großen und wichtigen Fest anstelle anderer Leute die Weisesten der Weisen einzuladen, eine Blütenlese der jeweiligen Schulen, und nicht die einen schon, aber die anderen nicht, sondern alle ohne Unterschied. LYK. Er gehört eben, lieber Freund, nicht zu diesen Allerweltsreichen, sondern die Bildung liegt ihm am Herzen, und er verbringt die meiste Zeit seines Lebens mit diesen Leuten. (n) Nun, das Essen verlief zuerst ganz ruhig, und die Speisenfolge war abwechslungsreich. Aber ich denke doch, das muß ich dir nicht alles aufzählen, die Brühen und die Kuchen und die übrigen leckeren Sachen: von allem im Uberfluß. Indessen beugte sich Kleodemos zu Ion: »Siehst du den Alten«, sagte er - er meinte Zenothemis, ich hörte nämlich zu - , »wie er sich mit den Köstlichkeiten vollstopft, wie er sich seinen Umhang mit Suppe bekleckert, und was er alles seinem Sklaven hinter sich gibt: Und er glaubt, die anderen würden es nicht merken, aber er denkt nicht an die in seinem Rücken! Zeig das auch mal dem Lykinos, damit er Zeuge ist!« Ich brauchte aber Ions Hinweis gar nicht, hatte ich es doch schon viel früher bemerkt, da ich von meinem

DAS GASTMAHL ODER DIE LAPITHEN

149

Platz aus alles gut überblicken konnte. (12) Kaum hatte Kleodemos das gesagt, da platzte uneingeladen der Kyniker Alkidamas herein, jenes bekannte Scherzwort auf den Lippen, wonach »ungerufen erschien Menelaos«. Die meisten fanden das unverschämt und unterbrachen ihn mit naheliegenden Entgegnungen: »Töricht handelst du, Menelaos«, skandierte der eine, der andere: »Nur Agamemnon, dem Sohne des Atreus, behagte das gar nicht«, und brummelten noch weitere zur Situation passende und elegante Bemerkungen in ihre Bärte: Offen zu reden traute sich allerdings keiner, denn sie fürchteten sich vor Alkidamas, der eben wirklich ein »Meister im Schlachtruf« ist und von allen Hunden der lärmendste Kläffer. Deshalb hielten ihn auch alle für eine bedeutende Persönlichkeit, und er jagte jedermann gewaltige Angst ein. (13) Aristainetos wollte ihn auf einen Sessel neben Histiaios und Dionysodoros komplimentieren, aber er sagte: »Zum Teufel damit! Sessel und Liegen sind was für Weiber und Schlappschwänze wie euch, die ihr euch da auf diesem weichen Lager ausstreckt, ach was: fläzt, und es euch, auf Purpur gebettet, schmecken laßt. Ich hingegen ziehe es vor, im Stehen zu essen und dabei im Speisesaal auf und ab zu gehen. Und sollte ich müde werden, dann lege ich mich auf meinen Mantel und stütze mich auf den Ellbogen, wie Herakles auf den Bildern.« - »Aber bitte doch«, sagte Aristainetos, »wenn es dir so lieber ist.« Und so spazierte Alkidamas von nun an während des Essens im Kreis herum und wechselte wie die Skythen stets zur fetteren Weide, immer auf den Spuren der Speisenträger. (14) Allerdings arbeitete er sogar beim Essen, indem er zwischendrin Überlegungen zu Tugend und Schlechtigkeit anbrachte und sich über die goldenen und silbernen Gedecke mokkierte. So fragte er etwa den Aristainetos, was er denn mit so vielen großen Weinkelchen wolle, wo es doch Becher aus Ton ebenso täten.

150

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN UND SATIREN

Aristainetos brachte Alkidamas - er wurde allmählich lästig - für den Augenblick zum Schweigen, indem er dem Diener ein Zeichen gab, ihm einen ordentlichen Pokal mit mehr Wein und weniger Wasser zu reichen. Und er war der Meinung, da eine wirklich gute Idee gehabt zu haben, nicht ahnend, was für schlimme Ereignisse dieser Pokal auslösen sollte. Alkidamas packte ihn, hielt für einen kurzen Moment lang den Mund, und warf sich dann auf den Boden, wo er liegenblieb, halbentblößt, wie er es angedroht hatte, den Ellbogen aufgestützt, den Pokal in der Rechten, wie die Maler Herakles bei Pholos darstellen. (15) Auch bei den anderen Gästen kreiste der Becher jetzt unaufhörlich, man prostete einander zu und unterhielt sich, Lichter wurden hereingebracht. Da sah ich in all dem Getriebe den Diener, der bei Kleodemos stand, einen hübschen Mundschenk, verstohlen lächeln - ich soll ja wohl, denke ich, auch alles erzählen, was sich am Rande des Festes ereignete, vor allem, wenn es sich um delikatere Dinge handelt - , und gleich ließ ich ihn nicht mehr aus den Augen, um herauszufinden, warum er lächelte. Kurz daraufkam er nach vorn, um Kleodemos' Schale entgegenzunehmen, der aber streichelte seinen Finger und drückte ihm, glaube ich, mit der Schale zwei Drachmen in die Hand. Der Diener lächelte wieder, als er ihm den Finger streichelte, allerdings bemerkte er, glaube ich, die Münzen nicht: So entglitten sie seinen Fingern und fielen geräuschvoll zu Boden, was die beiden erröten ließ, und zwar ziemlich. Die Gäste unmittelbar daneben fragten sich, wem die Münzen gehören könnten, denn der Diener bestritt, sie verloren zu haben, und Kleodemos, an dessen Platz das Geräusch zu hören gewesen war, tat so, als ob er sie nicht hätte fallen lassen. Nun, man wandte sich darüber anderen Dingen zu und vergaß die ganze Sache: Es hatten ohnehin nicht sehr viele mitbekommen, außer einem, wie mir schien: Aristainetos. Der ließ nämlich

DAS GASTMAHL ODER DIE LAPITHEN

151

kurz darauf den Diener sich diskret entfernen und befahl zu Kleodemos einen von den schon älteren und kräftigen, einen Esel- oder Pferdetreiber. J a , so ging diese Angelegenheit also aus, und es hätte für Kleodemos reichlich peinlich werden können, wenn sie bei allen Gästen die Runde gemacht hätte und nicht sofort von Aristainetos im Keim erstickt worden wäre, der den Ubermut der Zecher bestens im Griff hatte. (16) Der Kyniker Alkidamas, bereits angetrunken, erkundigte sich nach dem Namen der Braut, bat mit lauter Stimme um Ruhe und sagte dann, zu den Frauen gewandt: »Auf dein Wohl, Kleanthis, bei Herakles, meinem Herrn und Meister!« Als darüber alle lachen mußten, sagte er: »Ihr lacht, Abschaum, wenn ich bei unserem Schutzgott Herakles auf das Wohl der Braut trinke? Ihr solltet doch sehr genau wissen: Wenn sie nicht den Pokal aus meiner Hand nimmt, wird sie niemals so einen Mann zum Sohn haben wie ich einer bin, wehrhaft und unerschrocken, freimütig und klug, und so kräftig gebaut.« Und mit diesen Worten entblößte er sich noch weiter, bis zu den Lenden, worüber die Gäste erneut lachen mußten. Da stand er zornig auf, blickte angriffslustig und wild um sich, und es war leicht zu sehen, daß er gleich keinen Frieden mehr halten würde. Und er hätte wohl auf der Stelle jemandem eins mit dem Stock übergezogen, wäre nicht genau im rechten Moment ein gewaltiger Kuchen hereingebracht worden: Als er den sah, bezähmte er sich, vergaß seine Wut und schlug sich, ihm nachwandernd, weiter den Wanst voll. (17) Die meisten waren jetzt schon stark angeheitert, und der Speisesaal hallte wider von ihren lauten Unterhaltungen: Dionysodoros, der Rhetor, deklamierte irgendwelche von seinen Reden, eine nach der anderen, und sonnte sich in der Bewunderung der hinter ihm aufwartenden Diener; der Grammatiker Histiaios, der neben ihm lag, rezitierte Ge-

IJ2

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN UND SATIREN

dichte und vermischte dabei Verse von Pindar, Hesiod und Anakreon, so daß daraus ein einzelnes Lied entstand, das fürchterlich komisch war, vor allem aber, gerade als ob er das Kommende vorausgesagt hätte, diese Verse: »Sie ließen ihre Schilde zusammenstoßen«, und »gleichzeitig schrieen sie da vor Schmerz und vor Jubel«. Zenothemis hingegen las währenddessen aus einem Buch mit kleiner Schrift vor, das er sich von seinem Diener hatte geben lassen. (18) Als nun bei den Servierern, wie es normal ist, eine kleine Verzögerung eintrat, befahl Aristainetos, der sich etwas ausgedacht hatte, um auch in der Zwischenzeit keine schlechte Stimmung und Langeweile aufkommen zu lassen, den Spaßmacher herein und forderte ihn auf, etwas Lustiges zum Besten zu geben oder vorzufuhren, damit die Gäste noch fröhlicher würden. Und herein kam ein häßlicher Kerl mit kahlgeschorenem Schädel, nur auf dem Scheitel hatte er noch ein paar Haare, die aufrecht standen. Der fing an zu tanzen, wobei er sich verdrehte und verrenkte, um noch witziger auszusehen, danach deklamierte er mit rhythmischem Klatschen und in ägyptisierendem Tonfall anapästische Verse, und schließlich ließ er ein paar Witze auf die Anwesenden vom Stapel. (19) Die übrigen Gäste lachten, wenn er sie neckte; als er aber auch dem Alkidamas einen Scherz dieser Art an den Kopf warf (er nannte ihn >maltesisches SchoßhündchenHornHaufen< oder dem >SchnitterEr vergaß es, oder dachte nicht daran, gewaltig war er verblendet in seinem Mute.« und Euripides: >Das ist das Land Kalydon, der Peloponnes Gegenüber, mit seinen glücklichen Feldern.> und Sophokles: >Ein Schwein, ein gewaltiges Ding, zu den Feldern des Oineus Sandte die Tochter der Leto, die fernhintreffende Göttin.« (26) Nur ein paar Beispiele von vielen habe ich dir angeführt, damit du merkst, was für einen Mann du übergangen hast, um dafür Diphilos zu bewirten, und ihm deinen Sohn anzuvertrauen, natürlich: Er ist dem Bürschchen ja sehr zu-

ij6

LOBREDEN(?), I N V E K T I V E N U N D SATIREN

getan, und sie verkehren miteinander voller Hingabe. Wäre solcher Klatsch nicht unter meinem Niveau, dann könnte ich mehr erzählen, und wenn es dich interessiert, kannst du dir vom Pädagogen Zopyros bestätigen lassen, daß es stimmt. Aber man soll ja keine Hochzeit stören und auch nicht andere Leute verleumden, und schon gar nicht mit so häßlichen Vorwürfen. Und wenn Diphilos es auch verdient hätte, wo er mir schon zwei Schüler abspenstig gemacht hat, so werde ich aber doch aus Liebe zur Philosophie schweigen. (27) Ich habe diesem Diener aufgetragen, für den Fall, daß du ihm ein Stück Schweinebraten oder Hirschfleisch oder Sesamkuchen für mich als Entschuldigung für das entgangene Essen mitgibst, es nicht anzunehmen, damit es nicht so aussieht, als hätte ich ihn eigens zu dem Zweck geschickt.« (28) Während dieser Lesung, lieber Freund, lief mir vor lauter Scham der Schweiß hinunter, und ich wäre am liebsten, wie man so schön sagt, in den Erdboden versunken, als ich sah, wie die Gäste bei jedem Satz lachten, vor allem diejenigen, die Hetoimokles kannten, einen schon ergrauten und ehrwürdig aussehenden Mann. Da wunderten sie sich nun, daß sie gar nicht gemerkt hatten, was für einer er wirklich war, und daß sie sich durch seinen Bart und sein ernstes und strenges Gesicht hatten täuschen lassen. Denn ich glaube, Aristainetos hatte ihn nicht aus Unachtsamkeit übergangen, vielmehr hätte er wohl nie zu hoffen gewagt, daß Hetoimokles eine Einladung annehmen oder sich für so etwas hergeben würde. Und so hatte er es nicht für der Mühe wert gehalten, es auch nur zu versuchen. (29) Als nun der Diener endlich fertig vorgelesen hatte, da wandten sich die Blicke aller Gäste auf Zenon und Diphilos, die vor Schreck ganz blaß geworden waren und deren hilflose Gesichter die Vorwürfe des Hetoimokles bestätigten; Aristainetos hingegen war ganz verstört und innerlich

DAS GASTMAHL ODER DIE LAPITHEN

157

aufgewühlt, forderte uns aber trotzdem zu trinken auf, versuchte schmallippig lächelnd, den Vorfall vergessen zu machen, und schickte den Diener mit den Worten weg, er werde sich darum kümmern. Kurz danach stand auch Zenon auf und zog sich unauffällig zurück, nachdem sein Pädagoge ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen gegeben hatte, er solle auf Anordnung seines Vaters verschwinden. (30) Kleodemos hatte schon die ganze Zeit nur auf eine passende Gelegenheit gewartet - er wollte sich nämlich mit den Stoikern anlegen und platzte beinahe, weil er keinen rechten Anlaß finden konnte - , und jetzt, wo der Brief gewissermaßen den Startschuß gegeben hatte, sagte er: »Solche Früchte verdanken wir dem edlen Chrysipp, dem herrlichen Zenon und dem Kleanthes: unseliges Geschwätz, ewige Fragereien und philosophisches Posieren, aber eigentlich sind sie fast alle Leute wie Hetoimokles. Schaut euch diesen Brief an, ganz der eines ehrwürdigen Greises, und am Ende ist Aristainetos Oineus und Hetoimokles Artemis! Beim Herakles, nein, was für schöne Segenswünsche, und wie passend für ein Fest!« (31) »Allerdings, beim Zeus!« sagte Hermon, der oberhalb von ihm lag. »Hetoimokles hat, denke ich, läuten hören, daß bei Aristainetos ein Schwein auf den Tisch kommen sollte, und daher hielt er es für nicht unangebracht, die Sprache auf den kalydonischen Eber zu bringen. Aber, bei Hestia, Aristainetos, schick dem Alten nur schleunigst seinen Teil am Erstlingsopfer, bevor er am Ende noch vor Hunger eingeht wie Meleager. Andererseits sollte ihm das doch nichts ausmachen: Chrysipp hielt so etwas ja für gleichgültig.« (32) »Ihr redet von Chrysipp?« fragte Zenothemis ziemlich laut und richtete sich auf. »Ihr nehmt einen einzigen Mann, der nicht einmal regelgerecht philosophieren kann, Hetoimokles den Scharlatan, zum Maßstab, um Denker wie Kleanthes und Zenon zu beurteilen? Wer seid ihr denn, daß ihr euch so zu reden traut! Hast du

158

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN U N D SATIREN

denn nicht, Hermon, den Statuen der Dioskuren die Lokken abgeschoren, weil sie aus Gold waren? Dafür wirst du noch büßen, wenn du dich erst in den Händen des Henkers befindest. Und du, Kleodemos, hast du es nicht mit der Frau deines Schülers Sostratos getrieben und hast die peinlichsten Folgen tragen müssen, als man dich ertappt hat? Wollt ihr also nicht still sein, wo ihr genau wißt, was ihr auf dem Kerbholz habt?« - »Immerhin mache ich nicht bei meiner eigenen Frau den Zuhälter«, antwortete Kleodemos, »so wie du, und ich habe mir auch nicht von einem ausländischen Schüler sein Reisegeld anvertrauen lassen und dann bei der Athena Polias geschworen, ich hätte es nie bekommen, und ich verleihe mein Geld auch nicht auf vier Prozent, und ich gehe meinen Schülern auch nicht an die Gurgel, wenn sie ihre Studiengebühren nicht pünktlich zahlen.« »Du wirst aber nicht abstreiten wollen«, sagte Zenothemis, »daß du dem Kriton für seinen Vater Gift verkauft hast.« (33) Und mit diesen Worten schüttete er ihnen, er hatte nämlich gerade seinen Kelch in der Hand, seinen restlichen Wein, fast noch die Hälfte, ins Gesicht. Auch Ion, der daneben saß, bekam seinen Anteil ab, und verdient hatte er es durchaus. Hermon beugte sich vor, um sich den Wein vom Kopf zu wischen, und rief die Anwesenden zu Zeugen an für das, was man ihm angetan hatte. Kleodemos, der keinen Weinkelch hatte, drehte sich zu Zenothemis um, bespuckte ihn und packte ihn mit der Linken am Bart, um ihm eine runterzuhauen, und er hätte den Alten umgebracht, wenn Aristainetos ihm nicht die Hand festgehalten hätte, über Zenothemis hinübergestiegen wäre und sich zwischen sie gelegt hätte, damit sie, mit ihm als Sperrmauer, Frieden halten mußten. (34) Währenddessen, Philon, gingen mir die verschiedensten Gedanken durch den Kopf, zuerst jener naheliegende, daß ein großes Wissen zu überhaupt nichts nutze ist, wenn

DAS GASTMAHL ODER DIE LAPITHEN

'59

man nicht auch sein Leben zum Besseren hin ordnet: Jedenfalls mußte ich mitansehen, wie diese Leute, großartig im Formulieren, sich zum Gespött machten, wenn es ans Handeln ging. Dann fragte ich mich, ob vielleicht wahr ist, was viele Leute sagen, daß die Bildung diejenigen, die immer nur in ihre Bücher und auf die Gedanken darin starren, vom Weg der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes abbringt. Jedenfalls waren hier so viele Philosophen versammelt, und das Schicksal wollte es, daß darunter nicht ein einziger ohne Fehl zu sehen war, sondern die einen taten Peinliches, die anderen gaben noch Peinlicheres von sich. Dabei konnte ich das, was hier vor sich ging, noch nicht einmal auf den Wein schieben, wenn ich daran dachte, was Hetoimokles, nüchtern und mit leerem Magen, geschrieben hatte. (35) Eine verkehrte Welt also! Die Privatleute unter den Gästen verhielten sich ordentlich, so wie es sich für ein Fest gehört; man konnte sehen, daß sie weder betrunken über die Stränge schlugen noch sich gehen ließen. Sie lachten nur und schauten, glaube ich, voller Verachtung auf die anderen, die sie zuvor immer bewundert hatten, solange sie aufgrund ihres Auftretens gedacht hatten, es seien bedeutende Menschen. Hingegen vergaßen die weisen Männer jede Zurückhaltung, beschimpften einander, schlugen sich die Bäuche voll, grölten herum und wurden handgreiflich miteinander. Der herrliche Alkidamas pinkelte sogar mitten in den Saal, ohne sich vor den Frauen zu genieren. Und mich erinnerte - dieser Vergleich ist wirklich mehr als treffend - das, was sich bei diesem Gelage abspielte, sehr an die Geschichte von Eris, wie sie die Dichter erzählen: Sie soll ja, weil sie nicht zum Hochzeitsfest des Peleus eingeladen worden war, den Apfel zwischen die Tischgesellschaft geworfen haben, woraus dann ein so gewaltiger Krieg, der vor Troja, hervorgegangen war. Und Hetoimokles, so kam es mir vor, war wahrlich mit seinem Brief, den er wie einen Apfel in un-

160

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN U N D SATIREN

sere Mitte geworfen hatte, für nicht geringere Katastrophen als die der Ilias verantwortlich. (36) Denn auch nachdem Aristainetos sich zwischen sie gelegt hatte, hörten Zenothemis und Kleodemos nicht auf, sich hartnäckig weiterzuzanken. Vielmehr sagte Kleodemos: »Für jetzt soll es genügen, wenn ihr als Dummköpfe entlarvt werdet, aber morgen will ich euch so in die Schranken weisen, wie es sich außerdem noch gehört. Antworte mir daher, Zenothemis, du oder der Tugendbold Diphilos, wie es kommt, daß ihr den Gelderwerb als gleichgültig bezeichnet, aber an nichts anderes denkt als bloß daran, wie ihr noch mehr anhäufen könnt, und euch deswegen immer an die Reichen haltet und Geld zu Wucherzinsen verleiht und Studiengebühren erhebt, und warum ihr die Lust verabscheut und die Epikureer anklagt, selber aber, wenn es euch nur Lust bereitet, die schlimmsten und peinlichsten Dinge tut und mit euch geschehen laßt und euch schon ärgert, wenn man euch nicht zum Essen einlädt. Lädt man euch aber ein, dann eßt ihr so viel, und so viel gebt ihr euren Dienern ...« und mit diesen Worten versuchte er die Stofftasche an sich zu reißen, die der Sklave des Zenothemis hielt und die mit den verschiedensten Fleischsorten gefüllt war, und beinahe hätte er sie aufgemacht und das Fleisch auf den Boden geworfen, aber der Sklave ließ nicht los und hielt kräftig dagegen. (37) Und Hermon sagte: »Bravo, Kleodemos! Sollen sie doch mal erklären, wieso sie die Lust anklagen, aber selbst mehr als alle anderen auf Lustgewinn aus sind.« - »O nein, sag du doch, Kleodemos«, antwortete Zenothemis, »wie du dazu kommst, den Reichtum nicht für etwas Gleichgültiges zu halten.« - »Nein, du!« Und so ging es einige Zeit hin und her, bis endlich Ion sich vorbeugte, so daß man ihn besser sehen konnte, und sagte: »Schluß jetzt! Wenn ihr wollt, werde ich ein Thema stellen, das euch zu Reden animieren soll, wie sie dieses festlichen Anlasses würdig sind. Ihr sollt

DAS GASTMAHL ODER DIE LAPITHEN

161

sprechen und einander zuhören, ohne euch zu zanken, ganz genau so, wie auch bei unserem Piaton der größte Teil der Zerstreuung und Unterhaltung von den Reden herrührte.« Die Gäste waren alle sehr angetan, insbesondere Aristainetos und Eukritos, die hofften, auf diese Weise würden die Unannehmlichkeiten endlich ein Ende haben. Aristainetos kehrte sogar an seinen alten Platz zurück in der Hoffnung, jetzt sei wieder Friede eingekehrt, (38) und zugleich wurde uns der sogenannte >letzte Gang< serviert, ein Vogel für jeden, Schweinefleisch, Hase, Bratfisch, Sesamkuchen und Knabberzeug, und das alles durfte man auch mit nach Hause nehmen. Es stand aber nicht eine Platte mit Essen vor jedem, sondern Aristainetos und Eukritos hatten eine zusammen auf einem Tisch, und jeder von beiden sollte das nehmen, was sich auf seiner Seite befand; Zenothemis der Stoiker und Hermon der Epikureer hatten genauso eine gemeinsame Platte, dann der Reihe nach Kleodemos und Ion, nach ihnen der Bräutigam und ich; Diphilos bekam Essen für zwei serviert, denn Zenon hatte ja das Fest verlassen. Und merk dir das genau, Philon, denn auch das wird für meinen Bericht noch wichtig sein. PHI. Ich merke es mir, versprochen! (39) LYK. Nun also Ion! »Wenn ihr wollt, rede ich als erster«, sagte er. »Ich sollte vielleicht«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »angesichts der Anwesenheit solcher Männer über die Welt der Ideen und der immateriellen Dinge sprechen und über die Unsterblichkeit der Seele. Um aber zu vermeiden, daß mir diejenigen widersprechen, die nicht nach dieser Doktrin philosophieren, werde ich gebührende und passende Worte zur Ehe sagen. Das beste wäre nun, man würde überhaupt nicht heiraten wollen und würde statt dessen auf Piaton und Sokrates hören und Knaben lieben. Denn nur diese allein könnten doch auf dem Pfad der Tugend zur Vollendung gefuhrt werden. Wenn man aber schon

i6z

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN U N D SATIREN

Frauen heiraten muß, dann sollten die Frauen, wie es schon Piaton für richtig hielt, allen gemeinsam sein, denn dann wären wir allen Eifer los.« (40) Uber diese Ausfuhrungen mußten alle lachen, entsprachen sie doch nicht ganz den Erfordernissen der Situation. »Hör auf«, sagte Dionysodoros, »uns die Ohren mit solchem barbarischen Gerede vollzuleiern! Wo und bei wem sollten wir wohl hierfür das Wort >Eifer< finden?« - »Du mußt gerade das Maul aufreißen, du Abschaum!« sagte Ion, und Dionysodoros pöbelte entsprechend zurück. Da sagte der treffliche Histiaios, der Grammatiker: »Seid still! Ich werde euch nämlich jetzt ein Hochzeitslied vorlesen.« (41) Und schon fing er zu lesen an, und zwar die folgenden elegischen Verse, wenn ich mich recht erinnere: In Aristainetos' fürstlichem Hause wuchs und gedieh Kleanthis, die göttliche Frau, und keine war schöner als sie. Unter allen anderen jungen Frauen ragt sie heraus, Besser als Aphrodite, ja als Helena sieht sie aus. Bräutigam, sei mir gegrüßt, bester von Deinen Gefährten: Besser bist Du als Nireus, als Thetis' Achill, die Geehrten. Wieder und wieder und wieder wollen wir dies Lied für Euch singen, Zu Eurer Hochzeit den Hymnos als Ständchen Euch bringen. (42) Nachdem, wie nicht anders zu erwarten, man auch über dieses Lied gelacht hatte, war es an der Zeit, die Reste für zu Hause einzupacken, und so nahmen sich Aristainetos und Eukritos jeder das, was vor ihm lag, ich das meine und Chaireas das, was ihm gehörte, und genauso Ion und Kleodemos. Diphilos wollte jedoch auch Zenons Portion mitnehmen, denn Zenon war ja weggegangen, und behauptete, das

DAS GASTMAHL ODER DIE LAPITHEN

163

sei alles ihm allein serviert worden. Er kämpfte mit den Dienern, und sie zogen an dem Vogel und ließen nicht locker, als ob es jedem von ihnen darum ginge, den Leichnam des Patroklos zu sich herüberzuziehen, und schließlich wurde Diphilos besiegt und mußte loslassen, worüber die Gäste vor Lachen brüllten, vor allem deshalb, weil er danach so beleidigt war, als ob ihm das schlimmste Unrecht geschehen sei. (43) Hermon und Zenothemis lagen auf einer Kline, wie ich erzählt habe, Zenothemis weiter oben, Hermon unterhalb von ihm. Ihnen hatte man alles übrige in gleicher Menge serviert, und sie packten es friedlich ein; der Vogel, der vor Hermon lag, war allerdings (rein zufällig, glaube ich) ein klein wenig fetter: Aber auch die hätten sie, jeder seinen, einpacken sollen. Da ließ Zenothemis - paß gut auf, Philon, jetzt kommen wir nämlich zum Höhepunkt der Ereignisse - , Zenothemis, sagte ich, ließ seinen Vogel los und griff nach dem, der vor Hermon lag, weil der, wie gesagt, fetter war. Aber Hermon hielt ihn fest und wollte nicht zulassen, daß Zenothemis mehr haben sollte als er. Lautes Gezeter, dann fielen sie übereinander her, droschen einander die Vögel ins Gesicht, packten sich gegenseitig am Bart und riefen um Hilfe, Hermon den Kleodemos, Zenothemis Alkidamas und Diphilos, und die Herren ergriffen Partei, die einen für diesen, die anderen für jenen, außer Ion: Der wahrte strikte Neutralität. (44) Die anderen jedoch kämpften, ineinander verkeilt. Da griff sich Zenothemis einen Pokal, der vor Aristainetos auf dem Tisch gestanden hatte, schleuderte ihn auf Hermon, »und schoß an jenem vorbei, eine andre Bahn nahm das Geschoß«, und spaltete dem Bräutigam den Schädel, die Wunde war ordentlich tief. Da kreischten die Frauen los, und die meisten sprangen aufs Schlachtfeld, vorne weg die Mutter

164

LOBREDEN(i), INVEKTIVEN U N D SATIREN

des Bürschchens, als sie das Blut sah. Auch die Braut fuhr hoch, in höchster Angst um ihn. Bei all dem zeichnete sich Alkidamas als Kampfgenosse des Zenothemis aus und zertrümmerte mit seinem Knüppel dem Kleodemos den Schädel, dem Hermon zermalmte er den Kiefer, und er verwundete einige Diener, die ihnen zu helfen versuchten. Ihre Gegner ließen sich allerdings nicht so leicht in die Flucht schlagen, im Gegenteil! Kleodemos bohrte dem Zenothemis mit gestrecktem Zeigefinger das Auge aus, packte ihn an der Nase und biß sie ihm ab, und Hermon warf den Diphilos, der zur Unterstützung des Zenothemis herbeigeeilt war, kopfüber von der Kline herunter. (45) Bei dem Versuch, sie zu trennen, wurde auch Histiaios, der Grammatiker, verwundet, indem er, glaube ich, von Kleodemos, der ihn für Diphilos hielt, einen Tritt in die Zähne bekam. Da lag er nun, der Arme, und »spie noch Blut«, ganz wie bei seinem Homer. Kurz, ein gewaltiges Durcheinander und Geheule. Die Frauen flatterten um Chaireas herum und schrieen und jammerten, die übrigen Gäste versuchten zu schlichten. Das größte Übel von allen stellte Alkidamas dar, der, nachdem er sich nun einmal zum Herrn des Schlachtfeldes gemacht hatte, auf jeden, der ihm in den Weg kam, eindrosch. Und viele wären zu Boden gegangen, da kannst du sicher sein, wenn er nicht seinen Knüppel zerbrochen hätte. Ich drückte mich aufrecht an die Wand und beobachtete alles, ohne mich einzumischen, wohl belehrt durch das Beispiel des Histiaios, wie riskant es ist, in einer solchen Situation vermitteln zu wollen. Lapithen und Kentauren hättest du nun hier sehen können, umgekippte Tische, Blut in Strömen, Pokale im Flug. (46) Zuletzt kippte Alkidamas die Lampe um und stürzte alles in tiefe Dunkelheit, wodurch die Sache natürlich nur um so schlimmer wurde. Denn so schnell hatten sie kein anderes Licht zur Hand, und viele schreckliche Dinge geschahen

DAS GASTMAHL ODER DIE LAPITHEN

165

in der Dunkelheit. Als endlich jemand kam und Licht brachte, ertappten wir Alkidamas dabei, wie er gerade die Flötenspielerin auszog und vergewaltigen wollte, und Dionysodoros wurde bei einer anderen lustigen Sache erwischt: Ihm fiel nämlich beim Aufstehen ein Pokal aus dem Mantel. Er redete sich dann damit heraus, Ion habe ihn aufgehoben und ihn ihm in der Aufregung gegeben, damit er nicht verloren ginge, und Ion, rührend besorgt, bestätigte das. (47) So endete schließlich dieses tränenreiche Gastmahl doch noch in Gelächter über Alkidamas, Dionysodoros und Ion. Die Verwundeten wurden auf Bahren hinausgetragen; es ging ihnen schlecht, vor allem dem alten Zenothemis, der mit einer Hand seine Nase, mit der anderen sein Auge betastete und schrie, er sterbe vor Schmerzen, so daß Hermon, obwohl er selbst auch nicht gut dran war - zwei Zähne waren ihm ausgeschlagen worden - , das als Zeugenaussage gegen die stoische Philosophie nahm: »Denk daran, Zenothemis«, sagte er, »daß du den Schmerz für etwas nicht Gleichgültiges hältst!« Der Bräutigam wurde, nachdem Dionikos seine Wunde verarztet hatte, nach Hause gebracht, mit einem Verband um den Kopf; man hatte ihn auf den Wagen gelegt, auf dem er die Braut hätte heimführen sollen - ein bitteres Hochzeitsfest hatte der Arme gefeiert! Auch um die anderen kümmerte sich Dionikos, so gut er konnte, und sie wurden zum Schlafen nach Hause gebracht, wobei sich die meisten noch auf der Straße erbrachen. Alkidamas hingegen blieb, wo er war. Sie konnten den Kerl nicht hinausschaffen, nachdem er sich erst einmal quer über die Kline geworfen hatte und eingeschlafen war. (48) Das, werter Philon, war das Ende des Gastmahls, oder besser noch, ich zitiere jenen bekannten tragischen Schlußvers:

166

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN UND SATIREN

In vielen Gestalten erscheint das Werk der Unsterblichen, Vieles, was wir nie gehofft, fuhren die Götter zu Ende, Vieles Gehoffte ward nicht vollzogen. Denn in der Tat: Auch dies ging ganz gegen die Erwartung aus. Das jedenfalls habe ich gelernt: Daß es nicht ungefährlich ist, mit solchen Philosophen zu speisen, wenn man selbst kein Durchsetzungsvermögen besitzt.

IV 3 DER

RHETORIKLEHRER

[2,41] (1) Du fragst mich, mein Junge, wie du denn wohl ein Redner werden und es so aussehen lassen kannst, als verkörpertest du diesen heiligen und über alle Maßen ehrenvollen Namen >Sophist), INVEKTIVEN UND SATIREN

Adel zu kommen. (3) Sei jedoch unbesorgt und verzage nicht angesichts der Größe deiner Hoffnungen, in der fälschlichen Meinung, du müßtest vorher noch unzählige Mühen auf dich nehmen. Denn ich werde dich keinen steinigen, steilen und schweißtreibenden Weg fuhren, so daß du auf der Mitte erschöpft umkehren mußt, denn dann würde ich mich ja von all den anderen, die ihre Schüler auf dem gewöhnlichen Weg führen, dem langen, stark ansteigenden, ermüdenden und für die meisten hoffnungslosen Weg, kein bißchen unterscheiden. Vielmehr ist gerade dies das Besondere an meiner Unterweisung, daß du auf einem überaus angenehmen und zugleich kurzen Weg, der für Pferde geeignet ist und sanft ansteigt, mit großem Behagen und in aller Bequemlichkeit durch blühende Wiesen und herrlich schattige Stellen hindurch nach einem gemütlichen Spaziergang, ohne auch nur einen Tropfen Schweiß vergossen zu haben, oben am Gipfel ankommen und deine Beute ohne Ermüdung erjagt haben, ja, beim Zeus, dich zu einem heiteren Picknick niederlassen wirst, mit guter Aussicht von ganz oben auf all diejenigen, die, schon ganz außer Atem, den anderen Weg genommen haben, bereits den ersten Anstieg über schwer zugängliche und schlüpfrige Felsen kaum bewältigen können, immer wieder Hals über Kopf hinunterfallen und sich an den harten und spitzen Felsen viele Verletzungen holen. Du hingegen bist längst oben, trägst einen Kranz auf dem Haupt, bist der glücklichste Mensch von allen und wirst von der Rhetorik schon nach kurzer Zeit mit allen guten Dingen gesegnet - gerade daß du sie nicht im Schlaf bekommen hast. (4) In der Tat, eine große Versprechung! Aber bitte, beim Zeus Philios, mißtraue mir nicht, wenn ich beanspruche, dir all dies als überaus leicht erreichbar und zugleich über alle Maßen angenehm zu präsentieren. Hat denn nicht Hesiod nur ein paar Blätter am Helikon gepflückt, und sofort wan-

DER RHETORIKLEHRER

delte er sich vom Hirten zum Dichter, der, von den Musen begeistert, die Geschlechter der Götter und Helden besang? Und da soll es unmöglich sein, jemanden in kürzester Zeit zum Redner zu befördern - eine Profession, die doch weit unterhalb der dichterischen Wortgewalt steht - , wenn man den schnellsten Weg dorthin kennt? (5) Ich will dir daher von dem Einfall eines Kaufmanns aus Sidon erzählen, der nicht verwirklicht wurde und demjenigen, dem er vorgetragen wurde, keinen Nutzen einbrachte, und zwar nur deshalb, weil er nicht daran glauben wollte. Zu dieser Zeit herrschte Alexander bereits über die Perser - er hatte nach der Schlacht von Arbeloi Dareios entthront - , und die Boten mit seinen Befehlen mußten das Reich in alle Richtungen durcheilen. Der Weg von Persien nach Ägypten war lang; denn man mußte die Berge umgehen, sich dann durch Babylonien hindurch bis nach Arabien begeben, danach durch weite Wüstengebiete fahren, bis man endlich in Ägypten ankam: hundert lange Tagesmärsche für einen kräftigen Mann! Das war nun für Alexander ein Ärgernis, weil er von Unruhen unter den Ägyptern gehört hatte, aber seinen Satrapen nicht schnell genug seine Ansichten und Beschlüsse hierzu übermitteln konnte. Da sagte der Kaufmann aus Sidon zu ihm: »Ich verspreche dir, König, daß ich dir einen kurzen Weg von Persien nach Ägypten zeigen kann. Wenn man nämlich diese Berge überschreitet, was nur drei Tage dauert, dann ist man sofort in Ägypten.« Und das war auch so. Nur glaubte es Alexander nicht, sondern hielt den Kaufmann für einen Betrüger. So ist es immer: Erstaunliche Versprechungen glauben die Leute nicht. (6) Mach es nicht so wie sie! Probier es aus, und du wirst sehen, daß dich nichts daran hindern wird - fliegst du nur von Persien übers Gebirge nach Ägypten schon nach nicht mal einem ganzen Tag ein Redner zu sein. Zuerst will ich dir aber wie jener Kebes mit Hilfe eines

170

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN U N D SATIREN

Bildes die beiden Wege ausmalen; es sind nämlich zwei, die zur RHETORIK fuhren, in die du meinem Eindruck nach sehr heftig verliebt bist. So soll sie also auf einem hohen Gipfel sitzen, wunderschön anzusehen und mit einem hübschen Gesicht, in der Rechten das Horn der Amaltheia, das überquillt vor Früchten aller Art. Auf ihrer anderen Seite meine ich den REICHTUM stehen zu sehen, ganz aus Gold und begehrenswert. Auch RUHM und STÄRKE sollen neben ihr stehen, und überall dicht um sie herum sollen, in der Gestalt kleiner Putten, die KOMPLIMENTE flattern. Wenn du schon mal ein Gemälde des Nil gesehen hast - ihn selbst auf einem Krokodil oder auf einem Nilpferd, von denen es ja viele in ihm gibt, und um ihn herum lauter lustige kleine Kinder, die Ägypter nennen sie >Däumlinge< - : Genau so sehen auch die KOMPLIMENTE aus. Und nun kommst du heran, der Liebhaber, und es drängt dich natürlich, möglichst schnell oben zu sein, damit du sie nach dem Aufstieg gleich heiraten kannst und all dies dir zufällt: Reichtum, Ruhm, Komplimente. Von Rechts wegen gehört das ja alles dem angetrauten Ehemann. (7) Und wenn dann das Gebirge näherkommt, dann verzweifelst du anfänglich am Anstieg, und das Ganze macht auf dich denselben Eindruck wie der Berg Aomos auf die Makedonen: an allen Flanken steil abfallend, schlichtweg nicht einmal für Vögel leicht zu überfliegen, und man bräuchte schon einen Dionysos oder einen Herakles, wenn man ihn einnehmen wollte. So kommt es dir zuerst vor. Nach einiger Zeit erkennst du dann zwei Wege. Genauer gesagt, ist der eine ein schmaler, dorniger und steiniger Pfad, der viel Durst und Schweiß verspricht - Hesiod ist mir ja schon zuvorgekommen und hat ein sehr genaues Bild von ihm gezeichnet, so daß ich gar nicht gebraucht werde. Der andere ist breit, von Blumen und Quellen gesäumt, so, wie ich es eben schon beschrieben habe, um dich nicht mit zu häufigen Wiederholungen

DER RHETORIKLEHRER

171

aufzuhalten, der du in der Zeit schon ein Redner sein könntest. (8) Nur so viel will ich noch sagen, daß es auf dem steinigen und steilen Weg nicht viele Spuren von Wanderern gibt, und wenn überhaupt, dann sind sie schon sehr alt. Auch ich armer Tropf bin auf diesem Weg hinaufgestiegen und habe mich so geplagt, was gar nicht nötig gewesen wäre; aber den anderen Weg meinte ich schon von weitem, auch ohne ihn zu gehen, in seiner Art klar abschätzen zu können, weil er glatt und ohne Windungen verlief. Ich war ja noch jung, und deshalb vermochte ich nicht zu sehen, was besser für mich gewesen wäre, sondern ich glaubte, der berühmte Dichter spreche die Wahrheit, wenn er sage, aus den Mühen erwachse das Gute. Aber das stimmte nicht: Jedenfalls muß ich sehen, daß die meisten es weiter als ich gebracht haben, weil sie in der Wahl der Worte und der Wege glücklicher waren. Am Anfang, ich weiß es genau, wirst du dich ganz hilflos fühlen; du fragst dich ja schon jetzt verzweifelt, welchen Weg du einschlagen sollst. Was du jetzt tun mußt, um ganz leicht zum Gipfel aufzusteigen, ins Glück zu gelangen, zu heiraten und von allen bestaunt zu werden, das will ich dir sagen; schlimm genug, daß ich selbst betrogen worden bin und mich habe plagen müssen. Für dich soll alles ungesät und ungepflügt wachsen, wie in den Zeiten des Kronos. (9) Sogleich wird ein kräftiger Mann auf dich zukommen, ein robuster Typ, mit forschem Gang, mit sonnengebräunter Haut, mit männlichem und wachem Blick: der Führer für jenen steinigen Weg. Der Nichtsnutz wird dir ein paar Tiraden vorschwätzen, dich auffordern, ihm zu folgen, dir die Spuren des Demosthenes, des Piaton und ein paar anderer Leute zeigen, große Fußabdrücke, größer als die der Menschen von heute, meistenteils aber schon verwittert und undeutlich nach der langen Zeit, und er wird behaupten, du würdest das Glück finden und der rechtmäßige Ge-

lyi

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN U N D SATIREN

mahl der RHETORIK werden, wenn du dich auf deiner Wanderung an ihnen orientiertest und dich wie die Seiltänzer verhieltest. Wenn du aber auch nur ein wenig daneben trätest oder vom Weg abkämest oder dein Gewicht zu sehr auf die eine Seite verlagertest, dann würdest du vom richtigen Weg, dem Weg ins Hochzeitsbett, herabstürzen. Darauf wird er von dir verlangen, jenen alten Männern nachzueifern, und dir abgedroschene Musterreden vorlegen, die gar nicht leicht zu imitieren sind, genau wie die Werke der alten Bildhauerschule, des Hegesias und der Künstler im Umfeld von Kritios und Nesiotes, gedrängt, sehnig, hart und von präzisester Linienführung. Arbeit, schlaflose Nächte, Wassertrinkerei, Beharrlichkeit: Das wird er als notwendige und unhintergehbare Voraussetzungen bezeichnen, ohne sie könne man den Weg nicht durchstehen. Am allerärgerlichsten ist, daß er dir auch den kompletten Zeitaufwand für die Wanderung darlegen wird, viele Jahre, die er nicht nach Tagen oder Monaten, sondern nach ganzen Olympiaden zählt, so daß du schon beim Zuhören müde wirst und aufgibst und dich von jener Hoffnung auf Glück ganz verabschiedest. Davon abgesehen läßt er sich all diese Unannehmlichkeiten gut bezahlen, aber er wird dich wohl nicht fuhren, ohne vorher kräftig abzukassieren. (10) Das wird er sagen, der altmodische Aufschneider aus Olims Zeiten. Er wird dir die Leichen vergangener Epochen zur Nachahmung vorlegen und dich auffordern, längst begrabene Reden wieder auszuscharren, als ob sie wer weiß was seien, und es dem Sohn eines Schwertfabrikanten und einem anderen Sohn, dem von irgendeinem Lehrer namens Atrometos, gleichzutun, dabei herrscht Friede, und weder rückt Philipp heran noch erteilt Alexander Befehle, für welchen Fall deren Werke ja seinerzeit von Nutzen schienen, und er hat keine Vorstellung davon, was für ein schneller, bequemer, schnurgerader Weg jetzt seit neuestem zur Rhe-

DER RHETORIKLEHRER

173

torik führt. Du aber laß dich nicht überreden und achte gar nicht auf ihn, damit du dir unter seinem Einfluß nicht den Hals brichst oder vor lauter Arbeit am Ende noch vorzeitig alterst. Nein, wenn du wirklich verliebt bist und baldigst mit der Rhetorik Zusammensein möchtest, solange du noch im Vollbesitz deiner Kräfte bist, damit sie sich auch für dich interessiert - vorwärts!, sag diesem Supermann mit dem dichten Brusthaar Lebewohl und laß ihn, keuchend und verschwitzt, seinen Aufstieg selbst machen und alle hinauffuhren, die ihm auf den Leim gehen. (11) Begib dich zum anderen Weg. Dort wirst du viele andere vorfinden, darunter einen sehr klugen und sehr schönen Mann, mit schwingendem Gang, gebogenem Hals, fraulichem Blick, einer Stimme wie Honig, einen Mann, der nach Parfüm duftet und sich nur mit der Fingerspitze am Kopf kratzt und sein schon schütteres, aber noch lockiges und schwarzes Haar sorgfältig frisiert, die Eleganz in Person, jeder Zoll ein Sardanapal, ein Kinyras, ja Agathon persönlich, du weißt schon, der charmante Tragödiendichter! Ich sage das, damit du ihn an diesen Merkmalen erkennst und damit du so einen Ausbund an Göttlichkeit, so einen Liebling der Aphrodite und der Chariten, nicht übersiehst. Aber was sage ich? Selbst wenn du die Augen geschlossen hättest und er träte zu dir, öffnete seinen hymettischen Mund und sagte etwas mit seiner bekannten Stimme, würde dir sofort klar werden, daß er nicht einer von uns ist, die wir die Frucht des Feldes verzehren, sondern ein Wesen aus einer anderen Welt, das sich von Tau oder Ambrosia nährt. Begib dich zu ihm und überantworte dich ihm! Im Handumdrehen wirst du ein Redner sein, angesehen und ohne alle Mühe ein, wie er es nennt, König der Rede, der mit eigener Hand das Viergespann der Sprache lenkt. Er wird dich unter seine Fittiche nehmen und dir zuerst beibringen ach, das soll er dir lieber selbst sagen; (12) lächerlich, daß ich

174

LOBREDEN(>), INVEKTIVEN U N D SATIREN

an der Stelle eines solchen Redners sprechen soll, ich, ein vielleicht ganz ungeeigneter Schauspieler für eine derart bedeutende Rolle: Nicht, daß ich am Ende stolpere und gar noch den Helden selbst beschädige, dessen Rolle ich spiele. Er würde sich also ungefähr so durch sein, soweit noch vorhanden, Haar fahren, sein bekanntes feines und sanftes Lächeln aufsetzen und sagen - wobei er der Thais aus der Komödie, einer Malthake oder einer Glykera mit der Lieblichkeit seiner Stimme Konkurrenz machen würde: Ein tiefes männliches Organ haben nur Bauern, aber doch nicht ein eleganter und begehrenswerter Redner! (13) Also, er wird, in tiefster Selbstbescheidenheit, folgendes sagen: »Dich hat doch wohl nicht etwa, mein Lieber, der Pythier zu mir geschickt und mich den besten Redner genannt, wie er dem Chairephon, als er ihn befragte, den Mann bezeichnete, der unter den damaligen Menschen der weiseste war? Wenn's denn das nicht war, sondern dich mein Ruhm hierhergelockt hat und du gekommen bist, weil du gehört hast, wie alle von meinen Erfolgen und Leistungen mit größter Betroffenheit, voller Lob, in tiefem Erstaunen und in aller Demut sprechen, so wirst du sogleich selbst erkennen, vor was für einem göttlichen Manne du stehst. Erwarte nicht, daß du etwas sehen wirst, was sich mit diesem oder mit jenem vergleichen ließe: Nein, selbst einen Tityos, einen Otos oder einen Ephialtes wird das, was sich dir enthüllen wird, weit übertreffen, so gigantisch, so ungeheuerlich ist es. Denn du wirst erleben, daß ich alle anderen so laut übertöne wie die Trompete die Klarinetten, die Zikaden die Bienen und die Chöre ihre Vorsänger. (14) Da du ja auch selbst ein Redner werden willst und das von keinem anderen leichter lernen könntest, so befolge nur, mein Augenstern, was ich dir sage, und mach mir eifrig alles nach, und die Gesetze, an die zu halten ich dich heiße, beachte mir auf den Buchstaben genau! Nun mach dich

DER RHETORIKLEHRER

175

schon auf den Weg und zögere nicht und rege dich nicht auf, wenn du nicht zuvor in all das vor der Rhetorik liegende Geheimwissen eingeweiht worden bist, womit die übliche Propädeutik den Dummköpfen und Nichtsnutzen mit viel Mühe auf den Weg hilft: Nichts davon wirst du brauchen! Nein, geh - wie das Sprichwort sagt - mit ungewaschenen Füßen drauflos, das Ergebnis wird deshalb nicht schlechter sein, auch wenn du, wie es heutzutage ganz normal ist, noch nicht einmal schreiben kannst. Ein Redner ist über so etwas längst hinaus! (15) Ich werde dir zuerst sagen, welche Ausrüstung du selbst von zu Hause für die Reise mitbringen und wie du dich verproviantieren mußt, damit du möglichst schnell durchkommst. Dann werde ich dir persönlich einiges zeigen, während du schon auf dem Weg bist, einiges weitere werde ich dir auch als gute Ratschläge mitgeben, und noch vor Sonnenuntergang werde ich dich zu einem Redner machen, der alle anderen übertrifft, zu einem Redner, wie ich selbst einer bin, unbestreitbar Anfang, Mitte und Ende von allen, die Redner sein wollen. Als wichtigstes pack nun Dummheit ein, dann Dreistigkeit und dazu Draufgängerei und Frechheit. Zurückhaltung, Anstand, Bescheidenheit, Erröten laß zu Hause: Sie nützen nichts und schaden nur deinem Zweck. Hingegen ein möglichst lautes Organ, eine schamlose Singstimme und eine Art zu gehen wie die meine! Das alles ist unbedingt erforderlich und oft schon allein ausreichend. Dein Gewand sei blütenbunt oder weiß, ein Produkt aus den Schneiderwerkstätten Tarents, das den Körper durchscheinen läßt, Frauenhalbschuhe aus Attika mit vielen Schlitzen oder Stiefel aus Sikyon mit weißen Filzapplikationen, außerdem viele Diener und stets ein Buch in der Hand. (16) Diese Dinge mußt du selbst beisteuern; was das übrige betrifft, so schau her und hör zu, während du dich

176

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN U N D SATIREN

schon auf den Weg machst! Ich will dir nun die Gesetze darlegen, an die du dich halten mußt, damit dich die RHETORIK erkennt und willkommen heißt und sich nicht wegdreht und dich davonjagt wie einen Uneingeweihten, der ihre intimen Geheimnisse ausspähen will. Zuallererst mußt du dich um dein Außeres kümmern und um ein hübsches Gewand, dann solltest du fünfzehn oder höchstens zwanzig attische Wörter auswählen, perfekt einüben und immer griffbereit vorne auf der Zunge tragen - Wörter wie >manch, drauf, doch wohl nicht etwa, sei ihm wie ihm wolle, mein Teuersten und dergleichen - und sie wie Puderzucker über jede Rede streuen. Laß dich nicht stören, wenn alles andere nicht zu ihnen paßt, nicht von derselben Art ist oder sogar einen Mißton ergibt. Nur das Purpurgewand muß schön und bunt sein, auch wenn du drunter ein flauschiges Ziegenfell trägst. (17) Dann trage einige abseitige und fremdartige Wörter, die bei den Alten nur selten belegt sind, zusammen und habe sie griffbereit, um sie auf die Anwesenden abzufeuern. Denn dann werden die Blicke der Menge auf dir ruhen, sie werden dich bewundern, und deine Bildung wird ihnen über allen Begriff gehen, wenn du >sich abstriegeln< für >sich abschaben« sagst und für >in der Sonne liegen< >ein Sonnenbad nehmenKaution< ein >Angeld< nennst und die >Dämmerung< zum >Frühlicht< machst. Bilde ab und zu auch selbst ein paar neue und merkwürdige Ausdrücke und erhebe es zum Gesetz, denjenigen, der sich gut auszudrücken versteht, als >gutwortig< zu bezeichnen, den Verständigen als >Klughirn< und den Pantomimentänzer als >handklugmanch< und ein >doch wahrlichWehe! Ich bin verloren«, schlag dir auf die Schenkel, röhre und spucke beim Reden und geh hinternschwingend auf und ab. Und wenn sie dir keine Komplimente machen, werd' böse und beschimpfe sie, und wenn sie aufstehen, weil es ihnen so peinlich ist, und schon den Saal verlassen wollen, befiehl ihnen, sich hinzusetzen, kurz: Sei ein Diktator! (20) Damit die Menge auch deine schiere Verbosität bewundert, fang beim Kampf um Troja an oder, bei Zeus, auch bei der Hochzeit von Deukalion und Pyrrha, wenn du willst, und laß deine Rede bis zur Gegenwart wandern. Es werden nur wenige sein, die dich durchschauen, und die werden meistens aus Gutmütigkeit schweigen; und sollten sie doch eine Bemerkung machen, wird man glauben, sie täten es aus Neid. Die meisten werden jedoch dein Außeres, deine Stimme, deine Art dich zu bewegen, dein Auf- und Abschreiten, dein Singen, den Halbschuh und natürlich dein >manch< toll finden, und wenn sie dann noch sehen, wie du schwitzt und keuchst, dann werden sie gar nicht anders können, als dich für einen gewaltigen Rhetorikathleten zu halten. Zumal die Tatsache, daß du aus dem Stegreif sprichst, dich für manches entschuldigt und von den meisten Leuten außerordentlich bewundert wird. Daß du also nur ja nichts publizierst oder etwa vorbereitet sprichst: Damit wärest du in aller Deutlichkeit überfuhrt. (21) Deine Freunde sollen vor Begeisterung ständig von ihren Sitzen aufspringen und sich für die ganzen Abendesseneinladungen revanchieren, indem sie dir hilfreich die Hand hinstrecken, wenn sie merken, daß du kurz davor

DER RHETORIKLEHRER

179

bist, in die Knie zu gehen, und sie sollen dir Gelegenheit verschaffen, dir in den Pausen, die durch ihre Bravorufe entstehen, die Fortsetzung deiner Rede auszudenken. Darum mußt du dich allerdings wirklich gut kümmern: einen C h o r von Vertrauten zu haben, der dein Solo begleitet. Dies beachte während deiner Rede. Hinterher verhülle dein Haupt und laß dich heimbegleiten wie von einer Eskorte von Leibwächtern, wobei du beim Gehen noch einmal laut alles, was du gesagt hast, Revue passieren läßt. Und begegnest du jemandem, so erzähle ihm Wunderdinge über dich und lobe dich selbst über den grünen Klee und geh ihm auf die Nerven: >Wer ist schon der Paianier verglichen mit mir?« und >Ein einziger von den Alten könnte vielleicht mit mir mithalten«, und so weiter. (22) Jetzt hätte ich beinahe das Wichtigste und für deinen Erfolg Unentbehrlichste vergessen: Lach alle anderen Redner aus! Sollte jemand eine schöne Rede halten, dann laß es so aussehen, als habe er sich mit fremden Federn geschmückt; kann man ihn leicht kritisieren, dann laß kein gutes Haar an ihm. Komm bei öffentlichen Vorträgen immer als letzter, das fällt nämlich auf. Und sind alle still, so formuliere dein Kompliment auf so abstruse Weise, daß du die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf dich ziehst und ihnen so unangenehm bist, daß ihnen allen speiübel wird von deiner vulgären Ausdrucksweise und sie sich die Ohren zuhalten. Mach nicht so oft Gesten der Zustimmung, das ist billig, und steh nicht auf, höchstens ein- oder zweimal. Laß möglichst immer ein feines Lächeln sehen und mach deutlich, daß dir die Rede nicht gefällt. Für Kritik gibt es stets reichlich Anlässe, wenn man das Gehör eines professionellen Verleumders besitzt. Im übrigen nur Mut! Draufgängertum, Frechheit, allzeit eine Lüge griffbereit und ein Eid auf den Lippen, Neid auf alles und jeden, Haß, Lästerei und leicht glaubliche Ver-

180

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN U N D SATIREN

leumdungen - schon bald wirst du in aller Munde sein und überall im Rampenlicht stehen. (23) Soweit zu deinem öffentlichen Erscheinungsbild. Was dein Privatleben betrifft, so solltest du dir alles erlauben, Glücksspiel, Trinkorgien, Hurerei, Ehebruch, oder jedenfalls damit angeben, auch wenn du's gar nicht tust, und es allen erzählen und ihnen hinter vorgehaltener Hand Briefe zeigen, die, natürlich, von deinen weiblichen Bewunderern stammen. Du mußt ein schöner Mann sein wollen, und es muß dir daran gelegen sein, daß der Eindruck entsteht, die Frauen schwärmten für dich: Die meisten Leute werden auch daraus Rückschlüsse auf deine rhetorischen Fähigkeiten ziehen, als ob nämlich dein Ruf bis in die Frauengemächer gedrungen sei. Ach ja, und noch eins: Geniere dich nicht, wenn man glaubt, daß auf der anderen Seite auch Männer in dich verliebt seien, wo du doch schon einen Bart trägst und, bei Zeus, bereits eine Glatze hast. Es sollte trotzdem ruhig auch ein paar Männer geben, die aus diesem Grund deine Gesellschaft suchen; gibt es sie nicht, tun's auch die Diener. Denn auch hiervon profitierst du sehr für dein Auftreten als Redner: Du wirst frecher und dreister. Siehst du nicht, wieviel geschwätziger die Frauen sind und wie formidabel sie schimpfen können, viel besser als Männer? Mach es also nur wie die Frauen - dann wirst du auch hierin die anderen übertreffen. Und natürlich mußt du dich depilieren, am besten den ganzen Körper oder sonst jedenfalls die bekannten Zonen. Dein Mund stehe unterschiedslos für alles offen, und deine Zunge leiste ihre Dienste für die Reden und für alles, was sie sonst noch vermag. Sie vermag aber nicht nur Solözismen und Barbarismen zu produzieren und auch nicht nur zu schwatzen, Meineide zu schwören, zu schimpfen, zu verleumden und zu lügen, sondern bei Nacht auch noch weitere Tätigkeiten zu verrichten, vor allem dann, wenn du bei so vielen Affären mit deiner

DER RHETORIKLEHRER

181

Kraft nicht mehr nachkommst. Deine Zunge muß jedenfalls alles können, sie muß eben potenter werden und darf sich vor nichts sträuben. (24) Wenn du das, mein Junge, gut verinnerlichst - das schaffst du: nichts davon ist doch schwer - , dann wage ich guten Mutes zu behaupten, daß du schon bald zu einem Grad der Vollendung als Redner gelangen wirst, der dem meinen gleicht. Was die Zukunft betrifft, so brauche ich dir nicht zu sagen, welche Vorteile dir die R H E T O R I K binnen kurzem verschaffen wird. Du siehst es an mir, der ich von einem Vater aus kleinen Verhältnissen abstamme, der zwar ein freier Bürger war, aber doch nicht ganz richtig, weil er oberhalb von Xoi's und Thmuis als Sklave gedient hatte, und von einer Mutter, die in einem kleinen Seitengäßchen als Näherin arbeitete. Da ich meine Schönheit für nicht ganz unscheinbar hielt, lebte ich zuerst, um für mein nacktes Auskommen zu sorgen, bei einem armseligen und knickrigen Liebhaber. Nachdem ich aber erst einmal diesen Weg erblickt und herausgefunden hatte, wie überaus leicht er zu gehen ist, und mich durchgeboxt hatte, bis ich ganz oben war - denn die Ausrüstung, von der ich eben sprach, stand mir ja, liebe Adrasteia, vollständig zur Verfügung, die Dreistigkeit, die Dummheit, die Frechheit - , seit dieser Zeit heiße ich erstens nicht mehr Potheinos, sondern trage den gleichen Namen wie die Söhne von Apoll und Leda. Zweitens lebte ich dann bei einer alten Frau und ließ mir von ihr den Bauch füllen, indem ich so tat, als sei ich in ein siebzigjähriges Weib verliebt, das gerade noch vier Zähne hatte, und die mit Goldverdrahtung. Aber meiner Armut wegen ertrug ich diese beschwerliche Mühe, und die schalen Küsse aus der Totenkiste ließ mir der Hunger mehr als süß vorkommen. Daraufhin wäre ich beinahe ihr Universalerbe geworden, hätte nicht so ein verdammter Diener ausgeplaudert, daß ich Gift für sie gekauft hatte. (25) Obwohl ich

182

LOBREDEN(?), I N V E K T I V E N U N D SATIREN

kopfüber aus dem Haus geworfen wurde, fehlte es mir dennoch auch danach nicht am Nötigsten. Nein, man hält mich im Gegenteil für einen Redner, und vor Gericht erweise ich mich als jemand, der seine Klienten meistens im Stich läßt und den Dummköpfen verspricht, ihnen die Richter in die Hände zu spielen. Meine Prozesse verliere ich zwar meistens, die Palmwedel an meiner Haustür sind aber trotzdem immer grün und mit Kränzen umwunden: Die brauche ich nämlich als Köder für meine unglücklichen Opfer. Aber auch, daß mich alle hassen, daß ich überall bekannt bin für meinen abgrundtief schlechten Charakter und vorher noch für meine abgrundtief schlechten Reden und daß man mit dem Finger auf mich zeigt und sagt: >Das ist er, die Verworfenheit in Person !< - all das scheint mir kein geringer Erfolg. Soweit mein Rat für dich, bei der Aphrodite der Sinnlichkeit! Vor langer Zeit habe ich ihn auch mir selbst gegeben, und ich bin mir dafür heute noch dankbar.« (26) Das wäre es. Mit diesen Worten wird er enden, der hochedle Mann. Wenn du tust, was er sagt, dann darfst du dich schon so gut wie angekommen wähnen an dem Ziel, zu dem es dich von Anfang so sehr gezogen hat, und nichts wird dich hindern, wenn du seinen Anweisungen folgst, in allen Gerichtssälen der Herrscher zu sein, beim Volk in hohem Ansehen zu stehen, beliebt zu sein und zu heiraten, und zwar nicht so ein altes Weib aus der Komödie, wie dein Gesetzgeber und Lehrmeister, sondern die schönste aller Frauen: die RHETORIK. So daß du dann das bekannte Bild vom geflügelten Wagen, auf dem sein Lenker dahinfährt, mit besserem Recht auf dich selbst anwenden kannst als Piaton auf Zeus. Und ich - niedrig und nichtswürdig, wie ich ja bin - werde euch aus dem Weg treten und es aufgeben, mich der RHETORIK nähern zu wollen, besitze ich doch nichts von dem, was euch für sie attraktiv macht. Mehr noch: Ich

DER RHETORIKLEHRER

183

habe schon aufgegeben, so daß ihr hiermit kampflos zu Siegern erklärt werdet und alle Bewunderung erntet. Vergeßt nur nicht, daß euer Sieg über mich nicht auf eurer Geschwindigkeit beruht, weil ihr euch etwa als schneller erwiesen hättet, sondern darauf, daß ihr den leichtesten aller Wege beschritten habt: den abwärts.

IV 4 DAS S C H I F F O D E R D I E W Ü N S C H E [Lykinos, Timolaos, Samippos, Adeimantos (4,73)] (1) Lykinos (£.). Habe ich nicht schon immer gesagt, daß eher ein stinkender Leichnam im Freien den Geiern entgeht als ein erstaunlicher Anblick dem Timolaos, und wenn er dafür ohne Luft zu holen bis nach Korinth laufen müßte? So schaulustig bist du und so resolut, wenn es um derartige Angelegenheiten geht. Timolaos (T.). Was hätte ich denn tun sollen, Lykinos, wo ich gerade nichts zu tun hatte und dann hörte, ein so gewaltiges und über die Maßen großes Schiff liege im Piräus vor Anker, einer von den Getreidetransportern, die von Ägypten nach Italien fahren? Ich glaube, auch ihr beide, du und der Samippos hier, seid zu keinem anderen Zweck aus der Stadt gekommen, als um das Schiff zu sehen. L. Allerdings, und Adeimantos aus Myrrhinus begleitete uns, aber ich habe keine Ahnung, wo er jetzt in der Menge der Gaffer abgeblieben ist. Bis zum Schiff waren wir noch zusammen und auch noch, als wir an Bord gingen, ich glaube, du, Samippos, gingst vorneweg, hinter dir war Adeimantos, nach ihm kam ich, mit beiden Händen an ihn geklammert, und er hat mich an der Hand über den ganzen Laufsteg geführt, weil ich Schuhe anhatte, während er barfuß war. Aber seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen, weder drinnen noch seit wir wieder draußen sind. (2) Samippos (5.). Weißt du, Lykinos, wo er uns verlassen hat? Das war, glaube ich, als dieses hübsche Bürschchen aus dem Unterdeck spaziert kam in seinem sauberen Leinenge-

DAS SCHIFF ODER DIE W Ü N S C H E

185

wand, die Haare auf beiden Seiten der Stirn nach hinten zu einem Zopf gebunden. Wenn ich den Adeimantos richtig einschätze, dann hat er, glaube ich, bei diesem feinen Anblick dem ägpytischen Schiffsbauer, der uns durch das Schiff führte, die Gefolgschaft aufgekündigt und ist mit Tränen in den Augen stehen geblieben, wie üblich. Was Liebesdinge betrifft, hat er ja nahe am Wasser gebaut. L. Dabei kam mir der Bursche gar nicht so schön vor, Samippos, daß er jemanden wie Adeimantos erschüttern könnte, dem in Athen so viele schöne junge Männer nachlaufen, alle von edler Geburt, die sich gefällig zu artikulieren wissen, mit dem Flair der Palaistra: Bei deren Anblick Tränen zu vergießen ist kein Zeichen von Gewöhnlichkeit. Aber der hier ist ja nicht nur schwarzhäutig, sondern er hat auch wulstige Lippen und viel zu dünne Beine, und er sprach nachlässig, hastig und flüchtig, zwar Griechisch, aber doch so, daß Akzent und Intonation sein Heimatland verrieten. Und sein Haar sowie sein nach hinten zusammengedrehter Zopf machen deutlich, daß er nicht von freier Geburt ist. (3) T. Das Haar so zu tragen ist aber bei den Ägyptern, Lykinos, ein Zeichen edler Abkunft. Alle freigeborenen Kinder flechten sich dort bis ins Ephebenalter das Haar zum Zopf, genau andersherum als unsere Vorfahren, die es gerade für schön hielten, daß alte Männer das Haar zu einem Schopf hochbanden, der mit einer goldenen Spange in Gestalt einer Zikade zusammengehalten wurde. S. Gut, daß du uns an die Ausführungen des Thukydides im Proöm seines Werkes erinnerst, Timolaos, wo er über unser früheres Wohlleben bei den Ioniern spricht, als die Menschen damals gemeinsam zur Gründung von Kolonien auswanderten. (4) L. Aber jetzt fällt mir ein, Samippos, wo uns Adeimantos verloren gegangen ist: Als wir nämlich ewig lange

186

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN UND SATIREN

beim Mast stehenblieben und hinaufschauten und die Lederschichten zählten und staunend zusahen, wie der Matrose an den Wanten hochkletterte und dann oben, ohne zu stolpern, auf der Rah entlanglief, die Hände an den Tauen. 5. Du hast recht. Was sollen wir jetzt tun? Hier nach ihm Ausschau halten, oder willst du, daß ich nochmal aufs Schiff gehe? T. Auf keinen Fall! Wir wollen losgehen! Wahrscheinlich ist er hier schon vorbei, wenn er sich schnell auf den Rückweg in die Stadt gemacht hat, als er uns nicht mehr finden konnte. Andernfalls kennt Adeimantos ja den Weg, und wir müssen uns keine Sorgen machen, daß er sich ohne uns verläuft. L. Paßt auf, daß es nicht unhöflich wirkt, wenn wir, ohne auf unseren Freund zu warten, den Heimweg antreten! Aber wir wollen uns trotzdem auf den Weg machen, wenn Samippos das ebenfalls für richtig hält. 5. Unbedingt, wenn wir die Palaistra noch offen finden wollen. (5) Aber nebenbei bemerkt: Was für ein Schiff! Der Schiffsbauer behauptete, seine Länge betrage hundertzwanzig Ellen, seine Breite mehr als ein Viertel davon, und vom Deck bis zum Kiel, an der tiefsten Stelle bei der Pumpe, seien es neunundzwanzig Ellen. Im übrigen: Was für ein Mast, und was für eine Rah er trägt, und von was für Brassen er gehalten wird, und wie das Heck mit seiner sanften Krümmung und mit seiner goldenen Gans als Galionsfigur aufragt, und ihm gegenüber ganz entsprechend der Bug hoch nach vorne auskragt, mit dem Namen der Gottheit, auf den das Schiff getauft ist, Isis, auf beiden Seiten, und der ganze übrige Schmuck, die Bilder und das feuerrote Toppsegel, und davor die Anker und Winden und Flaschenzüge und Heckkajüten - das hat auf mich alles einen unbeschreiblichen Eindruck gemacht. (6) Und die Matrosen - ganze Heerscharen! Es hieß, das Schiff habe so viel Getreide gela-

DAS SCHIFF ODER DIE W Ü N S C H E

187

den, daß es ausreiche, alle Einwohner Attikas ein Jahr lang zu ernähren. Und das alles hat ein kleines, altes Männchen heil in den Hafen gebracht, das so ein großes Ruder auf einer ganz dünnen Ruderstange dreht. Man hat ihn mir nämlich gezeigt, so ein Lockenkopf mit Stirnglatze, Heron heißt er, glaube ich. T. Er soll ein Meister seines Fachs sein, sagen die Leute von der Besatzung, und sich auf See besser auskennen als Proteus. (7) Habt ihr gehört, wie sie das Schiff hierher gebracht haben, was ihnen auf der Fahrt passiert ist und wie der Stern sie gerettet hat? L. Haben wir nicht, Timolaos, aber jetzt würden wir es gerne hören. T. Der Kapitän hat es mir selbst erzählt, ein braver und umgänglicher Mann. Er sagte, nachdem sie von Pharos aus bei gar nicht starkem Wind in See gestochen seien, hätten sie am siebenten Tag den Akamas erblickt, dann habe der Wind auf West gedreht und sie quer hinüber nach Sidon getrieben, von dort seien sie bei ziemlichem Sturm am zehnten Tag durch den Aulon zu den Chelidoneai gekommen, und dort wären sie dann beinahe alle ertrunken. (8) Weil ich auch selbst schon einmal an den Chelidoneai vorbeigesegelt bin, weiß ich, wie hoch das Meer dort geht, und vor allem bei Südwestwind, wenn er leicht auf Süd dreht; genau da, wo die Grenze zwischen pamphylischem und lykischem Meer verläuft und wo das Wasser, von vielen Strömungen aufgewühlt, sich an der Landspitze bricht - die Felsen sind vom Wasser rasiermesserscharf und nadelspitz geschliffen und furchtbare Wellen macht und gewaltig donnert und die Wogen oft bis zur Klippe hochschlagen. (9) Genau so habe es sie auch erwischt, sagte der Kapitän, und das auch noch bei Nacht und völliger Dunkelheit. Aber die Götter hätten sich von ihrem Jammergeschrei erweichen lassen und ihnen an der lykischen Küste ein Feuer gezeigt, so daß sie die Ge-

188

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN UND SATIREN

gend identifizieren konnten, und einer der Dioskuren habe einen helleuchtenden Stern auf die Mastspitze gesetzt und das Schiff nach Backbord aufs offene Meer hinaus gesteuert, als es gerade in Richtung der Klippe getragen wurde. Nachdem sie nun einmal ganz vom Kurs abgekommen waren, seien sie von dort aus durch die Agäis gesegelt und, gegen den Passatwind kreuzend, am siebzigsten Tag nach ihrer Abfahrt von Ägypten gestern im Piräus vor Anker gegangen, so weit abseits von ihrem eigentlichen Kurs. Hätten sie, wie es eigentlich richtig gewesen wäre, Kreta steuerbord liegen lassen und wären an Malea vorbeigefahren, dann wären sie jetzt schon in Italien. L. Beim Zeus, so wie du es erzählst, muß der Heron ja ein toller Steuermann sein oder besser ein Altersgenosse des Nereus, wenn er so weit von seiner Route abgekommen ist. (10) Aber was ist das? Ist das da vorn nicht Adeimantos? T. Allerdings, Adeimantos höchstpersönlich! Wir wollen nach ihm rufen! Adeimantos, dich meine ich, den Mann aus Myrrhinus, den Sohn des Strombichos! L. Eins von beiden: Entweder ist er böse auf uns, oder er ist taub. Denn das ist Adeimantos, niemand sonst. Ich kann ihn schon ganz genau erkennen, mit seinem Gewand und seinem Gang und seinem kurzen Haarschnitt. Wir wollen einen Schritt zulegen, damit wir ihn einholen! - (n) Wenn wir dich nicht am Mantel packen und zu uns herumdrehen, Adeimantos, wirst du uns nicht rufen hören, sondern du siehst aus wie jemand, der intensiv nachdenkt und, den Eindruck machst du, in Gedanken ein nicht geringes und nicht leicht zu lösendes Problem wälzt. Adeimantos (A.). Nichts Kompliziertes, Lykinos, sondern ein ganz läppischer Gedanke, der mir während des Gehens kam, ist schuld daran, daß ich euch überhört habe, so sehr habe ich mich mit meinem ganzen Verstand auf ihn konzentriert.

DAS SCHIFF ODER DIE W Ü N S C H E

189

L. Welcher Gedanke? Nur heraus damit, wenn es nichts ganz Geheimes ist. Du weißt doch, wir sind eingeweiht und können schweigen. A. Es ist mir aber peinlich, euch das zu erzählen: So kindisch wird euch meine Überlegung vorkommen. L. Es handelt sich doch wohl nicht etwa um eine Liebesangelegenheit? Auch das würdest du uns ja keineswegs als Uneingeweihten ausplaudern, sondern vielmehr als Leuten, die selbst geradezu bei loderndem Fackellicht eingeweiht wurden. (12) A. So etwas ist es nicht, du Verrückter, sondern ich malte mir gerade aus, wie es wäre, wenn ich reich wäre eben das, was man so als Luftschlösser bezeichnet, und ihr habt mich auf dem Höhepunkt von Reichtum und Luxus angetroffen. L. Geteiltes Glück, doppeltes Glück, wie es schön passend heißt, also leg deinen Reichtum mal gleich in die Mitte. Es ist ja nur richtig, daß Adeimantos' Freunde an seinem Wohlleben teilhaben. A. Ich habe euch gleich nach dem Betreten des Schiffes aus den Augen verloren, nachdem ich dich, Lykinos, sicher abgeliefert hatte. Während ich nämlich die Dicke des Ankers maß, wart ihr plötzlich - ich weiß nicht wohin - verschwunden. (13) Nachdem ich mir trotzdem alles angeschaut hatte, fragte ich einen der Matrosen, wieviel das Schiff seinem Besitzer im Durchschnitt pro Jahr einbringe. Der sagte mir: »Zwölf attische Talente, knapp gerechnet.« Als ich nun von dort nach Hause ging, überlegte ich mir: Angenommen, einer der Götter ließe das Schiff plötzlich meins sein, was für ein herrliches, glückseliges Leben ich beginnen würde. Meinen Freunden würde ich es gut gehen lassen, manchmal würde ich selbst auf große Fahrt gehen, manchmal auch meine Angestellten schicken. Dann hatte ich mir von jenen zwölf Talenten schon ein Haus an einer guten

190

LOBREDEN(>), INVEKTIVEN U N D SATIREN

Stelle, ein wenig oberhalb der Poikile, gebaut und dafür das von meinem Vater am Iiissos verkauft, und ich kaufte Diener und Kleider und Wagen und Pferde. Eben nun war ich schon auf See, von allen Mitreisenden gepriesen, die Mannschaft fürchtete mich, gerade daß sie mich nicht für einen König hielt. Und während ich noch Anweisungen für die Fahrt erteilte und aus der Ferne auf den Hafen zurückschaute, da kamst du, Lykinos, hast meinen Reichtum versenkt und mein Boot, das vom Wind meiner Wünsche getrieben, so schön in Fahrt war, zum Kentern gebracht. (14) L. Dann verhafte mich doch, mein werter Herr, und laß mich zum Strategen verbringen wie einen Piraten oder Seeräuber, weil ich einen so schlimmen Schiffbruch verursacht habe, und das an Land und auf dem Weg vom Piräus in die Stadt. Aber nun paß mal auf, wie ich dich über den Unfall hinwegtrösten werde. Nimm an, du besitzt fünf Schiffe, wenn du willst, schönere und größere als das ägyptische und, was das wichtigste ist, unsinkbare, und die sollen dir jedes gleich fünfmal pro Jahr aus Ägypten Getreideladungen liefern - dann wirst du, bester aller Kapitäne, für uns zweifellos unerträglich sein. Wenn du nämlich, der du unser Rufen schon überhört hast, als du nur dieses eine Schiff dein eigen nanntest, fünf Schiffe bekämest, noch dazu alles unsinkbare Dreimaster, dann würdest du deine Freunde, das liegt auf der Hand, gar nicht mehr wahrnehmen. Dir also eine gute Reise, mein Lieber! Wir bleiben im Piräus und fragen alle Reisenden aus Ägypten oder Italien, ob einer irgendwo das riesige Schiff des Adeimantos, die Isis, gesehen hat ... (15) A. Siehst du! Deshalb wollte ich nicht sagen, woran ich gerade gedacht hatte. Ich wußte ja genau, daß ihr meinen Wunsch auslachen und verspotten würdet. Ich will daher einen Augenblick stehenbleiben, bis ihr weitergegangen seid, und dann wieder auf meinem Schiff davonsegeln. Ich

DAS SCHIFF ODER DIE W Ü N S C H E

191

spreche viel lieber mit den Matrosen, als mich von euch auslachen zu lassen. L. Das kommt nicht in Frage! Wir bleiben bei dir und schiffen uns mit dir zusammen ein. A. Ich gehe zuerst an Bord und ziehe den Laufsteg ein. L. Dann schwimmen wir eben neben euch her. Du glaubst doch wohl nicht, daß du einfach so solche Schiffe bekommst, ohne sie zu kaufen oder selbst zu bauen, wir aber nicht von den Göttern die Fähigkeit erbitten werden, viele Stadien lang schwimmen zu können, ohne zu ermüden? Dabei, als es neulich nach Ägina zum Fest der Hekate ging, weißt du noch, in was für einer Nußschale wir Freunde da alle zusammen für vier Obolen pro Person hinübergefahren sind? Und da hattest du gegen unsere Anwesenheit bei der Fahrt nichts einzuwenden, jetzt aber bist du böse, wenn wir mit dir zusammen an Bord gehen wollen, und willst zuerst an Bord gehen und den Laufsteg einziehen? Dir ist wohl dein Frühstück zu gut bekommen, Adeimantos, und du spuckst nicht in deinen Bausch, und du vergißt wohl, wer du bist, Du Kapitän! So sehr hat dich dein Haus, das du an einem schönen Punkt der Stadt gebaut hast, erhoben und die Menge deiner Diener. Aber, mein Guter, denk bitte daran, bei Isis, uns auch diese kleinen eingelegten Nilfische aus Ägypten mitzubringen oder Parfüm aus Kanopos oder einen Ibis aus Memphis, und, wenn es dein Schiff aushält, auch eine von den Pyramiden! (16) T. Genug gespaßt, Lykinos! Siehst du nicht, wie du den Adeimantos hast erröten lassen, indem du sein Schiff unter der Wellenflut deines Gelächters begraben hast, so daß an ein Ausschöpfen nicht mehr zu denken ist und es den eindringenden Wassermassen nicht mehr standhalten kann? Da uns ja noch ein gutes Stück Weg bis zur Stadt bleibt, wollen wir ihn durch vier teilen, und jeder soll auf den Sta-

192

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN U N D SATIREN

dien, die ihm zufallen, von den Göttern erbitten, was er will. So vergessen wir unsere Müdigkeit und gleichzeitig werden wir das Vergnügen haben, uns sozusagen mit einem überaus angenehmen Traum unserer Wahl zu beschäftigen, solange wir wollen, und das wird uns gut tun. Jeder ist selbst für das Maß seines Traumes verantwortlich, und von den Göttern wollen wir annehmen, daß sie uns alles gewähren werden, auch wenn es eigentlich unwahrscheinlich ist. Und was das wichtigste ist: Das Ganze wird demonstrieren, wer vom Reichtum und von seinem Wunsch den besten Gebrauch machen würde, denn es wird deutlich machen, wie er sich verhalten würde, käme er zu Reichtum. (17) 5. Schön, Timolaos, ich bin dabei und werde mir wünschen, was ich für richtig halte, wenn ich dran bin. Wenn Adeimantos auch Lust hat - aber ich glaube, ihn brauchen wir gar nicht zu fragen, er ist ja noch mit einem Bein auf seinem Schiff. Aber Lykinos muß auch einverstanden sein! L. Ach, laßt uns ruhig reich sein, wenn das besser ist. Es soll nicht so aussehen, als mißgönnte ich euch euer gemeinsames Glück. A. Wer soll anfangen? L. Du, Adeimantos, und dann nach dir der Samippos hier, dann Timolaos, und ich will nur ungefähr das halbe Stadion vor dem Dipylon für meinen Wunsch in Anspruch nehmen, und das, obwohl ich ein möglichst schnelles Tempo anschlagen werde. (18) A. Mein Schiff werde ich auch jetzt nicht verlassen, sondern, wenn das überhaupt möglich ist, auf meinen Wunsch noch eins draufsetzen. Und Hermes, der Gewinnbringer, soll zu allem gnädig nicken! Das Schiff sei also mein mitsamt allem, was sich auf ihm befindet, der Ladung, den Kaufleuten, den Frauen und der Besatzung. S. Du vergißt, daß noch etwas anderes in dem Schiff dir gehört, der größte Schatz von allen.

DAS SCHIFF ODER DIE W Ü N S C H E

193

A. Du meinst den Jungen mit den langen Haaren, Samippos. Der gehört mir auch! Die ganze Weizenladung, die darin ist, soll vollständig, Korn für Korn, zu Goldmünzen werden, alles Dareiken. (19) L. Warum das denn, Adeimantos? Dein Schiff wird untergehen, Weizenkörner und die gleiche Anzahl Goldmünzen haben nicht dasselbe Gewicht. A. Nun sei mal nicht neidisch, Lykinos! Wenn du mit Wünschen dran bist, dann kannst du den Pames da ganz aus Gold für dich haben, und ich werde nichts dazu sagen. L. Aber ich habe das nur zu deiner eigenen Sicherheit getan, damit ihr nicht alle mitsamt dem Geld zugrunde geht. Was euch betrifft, so mag das ja in Ordnung sein, aber das hübsche Bürschchen, der arme Kerl, wird ertrinken, weil er nicht schwimmen kann. T. Keine Sorge, Lykinos! Denn Delphine werden ihn auf ihren Rücken an Land tragen. Oder glaubst du, irgend so ein Kitharöde sei von ihnen gerettet worden und habe den gerechten Lohn für sein Lied bekommen, und die Leiche eines anderen Jungen sei ganz ähnlich auf einem Delphin zum Isthmos gebracht worden, der neuerworbene Diener des Adeimantos hingegen würde auf einen solchen liebevollen Delphin verzichten müssen? A. Du, Timolaos, bist genau wie Lykinos und legst mit Spöttereien nach. Dabei war es deine Idee! (20) T. Es wäre besser, du würdest es etwas glaubhafter machen und einen Schatz unterm Bett finden, damit du nicht mit der Schwierigkeit konfrontiert wirst, das Gold vom Schiff in die Stadt zu schaffen. A. Du hast Recht! Es soll also ein Schatz ausgegraben werden unter dem steinernen Standbild des Hermes, das bei uns im Hof steht, tausend Scheffel Goldmünzen. Sofort als erstes muß gemäß Hesiods Regeln ein Haus her, damit ich so wohne, daß es jedem ins Auge sticht, und schon habe ich

194

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN UND SATIREN

alle Ländereien um die Stadt herum aufgekauft, außer denen, wo es nur Steine und Thymian gibt, und alle Strandgrundstücke in Eleusis und auch ein paar am Isthmos wegen der Wettspiele, falls ich dann mal zu den Isthmien reisen will, und die Ebene von Sikyon, und überhaupt soll einfach alles in Griechenland, wo es schattige Bäume, viel Wasser und reiche Früchte gibt, schon bald dem Adeimantos gehören. Aus goldenen Tellern speisen wir, und die Trinkgefaße sind nicht so leicht wie die des Echekrates, sondern jedes bringt zwei Talente auf die Waage. (21) L. Wie wird denn dann der Weinschenk ein so schweres Trinkgefäß kredenzen, wenn es randvoll ist? Wirst du, ganz ohne Anstrengung natürlich, aus seiner Hand nicht einen Pokal, sondern ein Ding, so schwer wie Sisyphos' Stein, entgegennehmen? A. Mensch, laß meinen Traum ganz! Wenn du nicht still bist, werde ich auch ganze Tische zu Gold machen, und Speisesofas werde ich zu Gold machen, und die Diener dazu! L. Paß nur auf, daß sich dir nicht wie dem Midas auch Essen und Trinken in Gold verwandeln und du in all deinem Reichtum jämmerlich umkommst, vernichtet vom Hunger des Überflusses! A. Du kannst ja deins glaubhafter gestalten, Lykinos, gleich, wenn du mit wünschen dran bist. (22) Außerdem will ich purpurne Gewänder und einen Lebensstil, wie er schwelgerischer nicht vorstellbar ist: ein über alle Maßen angenehmer Schlaf, Besuche der Freunde, ihre Bitten, alle ducken sich vor mir und liegen mir zu Füßen, einige gehen morgens vor meiner Tür auf und ab, unter ihnen auch Kleainetos und Demokrates, die allbekannten, und wenn sie herankommen und verlangen, vor den anderen eingelassen zu werden, dann sollen da sieben Türhüter stehen, hünenhafte Barbaren, und ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen, so wie sie es jetzt selbst machen. Ich aber, wenn's mir Spaß

DAS SCHIFF ODER DIE W Ü N S C H E

195

macht, werde meinen Auftritt wie den Aufgang der Sonne gestalten und einige von denen nicht einmal mit einem Blick streifen; wenn aber ein Armer dabei ist, wie ich vor dem Schatzfund einer war, werde ich den willkommen heißen und ihn auffordern, nach dem Bad pünktlich zum Essen zu kommen. Die Reichen werden vor Neid platzen, wenn sie meine Wagen, meine Pferde und meine ungefähr zweitausend schönen Sklaven sehen, jeweils die Blüte aus jedem Jahrgang. (23) Dann Essen aus goldenem Geschirr - Silber ist billig und unter meinem Niveau! - , eingelegter Fisch aus Spanien, Wein aus Italien, Ol ebenfalls aus Spanien, frischer Honig von hier, und Speisen aus aller Herren Länder und Schweine und Hasen und alles, was Flügel hat, Geflügel aus Phasis, Pfau aus Indien, Hahn aus Numidien. Die das alles zubereiten, sind Meisterköche in Sachen Desserts und Saucen. Und wenn ich nach einem Pokal oder einer Schale verlange, um jemandem zuzuprosten, dann darf der, wenn er ausgetrunken hat, auch das Gefäß mitnehmen. (24) Die jetzt Reichen werden im Vergleich zu mir Bettler wie Iros und ( . . . ) sein, was sonst, und Dionikos wird bei der Prozession nicht mehr seine Silberplakette oder seinen Pokal vorführen, vor allem dann nicht, wenn er meine Diener mit so viel Silber sieht. Für die Stadt hätte ich folgende Vergünstigungen vorgesehen: die Verteilung von monatlich hundert Drachmen pro Bürger, pro Metöken die Hälfte, als allgemeine Verschönerungsmaßnahmen den Bau von Theatern und Bädern, das Meer soll bis zum Dipylon reichen und irgendwo da soll ein Hafen entstehen, indem das Wasser durch einen großen Graben herangeführt wird, damit mein Schiff in der Nähe ankern und vom Kerameikos aus gesehen werden kann. (25) Von euch, meinen Freunden, würde ich dem Samippos durch meinen Verwalter zwanzig Scheffel Goldmünzen auszahlen lassen, dem Timolaos fünf Choiniken, dem Lykinos eine Choinix, und die gestrichen, weil er

196

LOBREDEN(?), INVEKTIVEN U N D SATIREN

die ganze Zeit dazwischenquatscht und mir meinen Wunsch vermiest. Dieses Leben wollte ich leben, in unausdenklichem Reichtum, in Luxus und grenzenlosem Vergnügen. Ich habe gesprochen, und Hermes soll es mir Wirklichkeit werden lassen! (26) L. Weißt du, Adeimantos, daß dieser ganze Reichtum an einem ganz dünnen Faden hängt und daß, wenn der reißt, alles perdu ist und dir von deinem Schatz nur Kohlen bleiben? A. Wie meinst du das, Lykinos? L. Weil nicht abzusehen ist, mein Bester, wieviel Lebenszeit dir als Reicher bleibt. Wer weiß denn, ob du nicht, während noch der goldene Tisch vor dir steht, bevor du zugreifen und den Pfau oder den Hahn aus Numidien probieren kannst, dein Seelchen aushauchen und diese Welt verlassen mußt und alle diese guten Dinge nur den Geiern und Raben hinterläßt? Soll ich dir mal all die Leute aufzählen, die, bevor sie ihren Reichtum genießen konnten, eines plötzlichen Todes starben, oder auch ein paar andere, die zwar am Leben blieben, aber von einer neidischen Gottheit all ihres Besitzes beraubt wurden? Du hast ja wohl auch schon einmal von Kroisos und Polykrates gehört - die waren viel reicher als du, und doch verließ sie all ihr Glück binnen kürzester Frist. (27) Aber um dir auch diese Leute zu ersparen: Glaubst du, daß deine Gesundheit garantiert und gesichert sein wird? Siehst du denn nicht, wie viele von den Reichen vor lauter Schmerzen elend dahinvegetieren, die einen, die nicht einmal mehr laufen können, andere, die blind sind oder schreckliche Leibschmerzen haben? Denn daß es dir so geht wie dem reichen Phanomachos und du wie er das Leben einer kränklichen Frau führen mußt, das würdest du dir nicht wünschen, auch nicht für den doppelten Reichtum, das weiß ich genau, auch wenn du es leugnen solltest. Ich lasse beiseite, was alles an intriganten Nachstellungen mit

DAS SCHIFF ODER DIE W Ü N S C H E

197

dem Reichtum verbunden ist, all die Räuber, sowie Neid und Haß von vielen Seiten. Siehst du, wieviel Arger dir dein Reichtum verursachen wird? A. Immer bist du gegen mich, Lykinos! Und deshalb wirst du nicht mal mehr die kleine Choinix bekommen, weil du mir meinen Wunsch bis zum Schluß madig machst! L. Schon ganz der Stil der meisten reichen Leute, daß du diesen Rückzieher machst und dein Versprechen widerrufst! Aber nun mach schon, Samippos, wünsch' du dir etwas! (28) 5. Ich werde mir - ich stamme ja vom Festland, aus Mantineia in Arkadien, wie ihr wißt - kein Schiff erbitten, das ich meinen Mitbürgern ja nicht vorfuhren könnte. Ich will aber auch nicht mit den Göttern schachern und einen Schatz und abgezähltes Geld verlangen. Vielmehr vermögen die Götter ja alles, auch Dinge, die exorbitant zu sein scheinen, und das von Timolaos aufgestellte Wunsch-Gesetz besagte, man solle mit seinen Forderungen nicht zurückhaltend sein, da sie nichts abschlagen würden. Ich wünsche mir also, König zu werden, nicht so einer wie Philipps Sohn Alexander oder Ptolemaios oder Mithridates waren oder wer sonst seine Königsherrschaft bloß von seinem Vater geerbt hat, sondern ich möchte zuerst mit einer Räuberbande anfangen, mit etwa dreißig Kameraden und Mitverschworenen, die mehr als vertrauenswürdig und zu allem bereit sind, dann sollen bald schon dreihundert weitere, einer nach dem anderen zu uns stoßen, dann tausend und kurze Zeit später schon zehntausend, insgesamt ein Heer von an die fünfzigtausend Schwerbewaffneten und rund fünftausend Reitern. (29) Und ich bin ihr gewählter Anfuhrer, deswegen von allen bevorzugt, weil sie mich für den geeignetsten Mann halten, Menschen zu führen und die Dinge im Griff zu haben. Diese Art der Herrschaft halte ich ja doch schon für deutlich besser als die der anderen Könige, weil ich vom Heer aufgrund meiner Leistungen dazu bestimmt worden

198

LOBREDEN(?), I N V E K T I V E N U N D SATIREN

bin, nicht als Erbe eines anderen, der sich den Thron mühsam erarbeitet hat. Denn so eine Erbschaft kommt in ihrer Art dem Schatz des Adeimantos sehr nahe, und das Ganze ist nicht annähernd so angenehm, als wenn man weiß, daß man seine Herrschaft aus eigener Kraft erworben hat. L. Au weia, Samippos, da wünscht du dir nichts Geringes, sondern das Bedeutendste von allen Glücksgütern: das Kommando über so ein gewaltiges Heer, von den funfzigtausend als der mit Abstand Beste angesehen und ausgewählt. So einen tollen König und General hat Mantineia ohne unser Wissen hervorgebracht und großgezogen! Na dann mal los - regiere, kommandiere deine Soldaten, ordne deine Reiterei und deine schildtragenden Mannen! Ich würde gern wissen, wohin ihr, eine so große Truppe, euch aus Arkadien wenden oder zu welchen unglücklichen Menschen ihr zuerst kommen werdet. (30) 5. Hör zu, Lykinos, oder besser noch, wenn du magst: Komm mit uns! Ich ernenne dich zum Kommandeur meiner fünftausend Kavalleristen! L. Ich danke dir für die große Ehre, mein König, und verneige mich vor dir nach persischem Brauch und vollziehe den Fußfall, die Hände hinter dem Rücken, voller Ehrerbietung für deine Tiara, die hoch aufragt, und für deine Krone. Aber mach bitte einen von diesen starken Kerlen hier zum Kavalleriekommandeur! Denn ich bin schrecklich ungebildet, was Pferde angeht, und bin überhaupt bisher noch nie geritten. Deshalb habe ich große Angst, daß ich, wenn der Trompeter zum Angriff bläst, beim ersten Ton vom Pferd falle und in dem Gewimmel unter so vielen Hufen zerstampft werde, oder auch, daß mein Pferd, wenn es zum Heldentum neigt, sich in die Zügel verbeißt und mich mitten in die Feinde davonträgt, oder daß man mich auf dem Sattel wird festbinden müssen, wenn ich oben bleiben und die Zügel in der Hand behalten soll.

DAS S C H I F F O D E R D I E W Ü N S C H E

199

(31) A. Ich werde deine Reiter anfuhren, Samippos, und Lykinos soll den rechten Flügel übernehmen! Ich verdiene es ja wohl, von dir mit dem höchsten Kommando betraut zu werden, wo ich dir so viele Scheffel Goldmünzen geschenkt habe. 5. Wir wollen die Reiter selbst befragen, Adeimantos, ob sie dich als Anfuhrer akzeptieren! Wer dafür ist, Reiter, daß Adeimantos das Kommando erhält, hebe die Hand! A. Wie du siehst, Samippos, sind alle dafür. 5. Also gut, kommandiere du die Reiterei, und Lykinos soll den rechten Flügel übernehmen! Timolaos hier wird auf dem linken Flügel stehen. Ich stehe in der Mitte, wie es bei den persischen Großkönigen Brauch ist, wenn sie selbst (bei der Schlacht anwesend sind). (32) Nun wollen wir aber endlich durch das Bergland auf dem Weg nach Korinth vorrücken, unter Gebeten zum königlichen Zeus. Und wenn wir dann in Griechenland schon alles unterworfen haben denn es wird ja niemand die Waffen gegen uns erheben, wo wir so zahlreich sind, sondern die Herrschaft fällt uns kampflos zu - , dann wollen wir die Trieren besteigen, die Pferde in die Pferdetransporter verladen - in Kenchreai lagern ausreichender Proviant, Schiffe in genügender Zahl und alles übrige - und dann wollen wir die Ägäis Richtung Ionien überqueren. Dann wollen wir dort der Artemis opfern, problemlos die mauerlosen Städte einnehmen, Militärgouverneure in ihnen zurücklassen und Richtung Syrien vorrücken, erst durch Karien, dann durch Lykien, Pamphylien, das Land der Pisider sowie durch das Küsten- und das Bergland Kilikiens, bis wir zum Euphrat gelangen. (33) L. Mich, wenn es dir recht ist, mein König, laß als Satrap von Griechenland zurück. Ich bin nämlich ein Feigling und möchte gar nicht gern so weit von zu Hause weg! Hingegen machst du mir den Eindruck, als wolltest du gegen die Armenier und die Parther ziehen, kriegerische Völker, die

200

LOBREDEN*?), INVEKTIVEN UND SATIREN

mit Pfeil und Bogen umzugehen wissen. Vertraue daher lieber jemand anderem den rechten Flügel an, und laß mich als eine Art Antipatros an der Spitze von Griechenland zurück, damit mich nicht einer mit einem Pfeiltreffer in die ungedeckten Körperteile durchbohrt, mich, den unglücklichen Kommandanten deines Heeres vor Susa oder Baktra. 5. Du entziehst dich dem Aufgebot, Lykinos, du Feigling! Das Gesetz sieht für offenkundige Fälle von Fahnenflucht die Enthauptung vor! Komm schon - jetzt, wo wir schon am Euphrat sind, der Fluß überbrückt ist, hinter uns alle Gegenden, durch die wir gekommen sind, sich ruhig verhalten und die von mir über jedes Volk gesetzten Unterfuhrer alles im Griff haben, andere unterdessen sogar schon unterwegs sind, um Phönizien, Palästina und Ägypten auf unsere Seite zu bringen, setze du als erster mit deinem rechten Flügel über, dann komme ich und nach mir der Timolaos hier; und du, Adeimantos, bring als Nachhut die Reiterei! (34) Und auf dem ganzen Weg durch Mesopotamien tritt uns kein Feind entgegen, sondern freiwillig übergeben uns die Menschen sich und ihre Burgen, und schon ziehen wir, überraschend vor Babylon eingetroffen, in ihren Mauerring ein und sind Herren der Stadt. Der Großkönig, der sich gerade in der Gegend von Ktesiphon aufhält, hat von unserem Aufmarsch gehört, rüstet sich daraufhin, nach Seleukia gelangt, zur Schlacht, für die er das Aufgebot möglichst vieler Reiter, Bogenschützen und Schleuderer verfugt. Jetzt also melden unsere Späher, daß das Heer schon in einer Kampfstärke von rund einer Million Soldaten aufmarschiert ist, davon zweihunderttausend berittene Bogenschützen, obwohl die Armenier, die Bewohner der kaspischen Küste und die aus Baktra noch gar nicht eingetroffen sind, sondern nur die aus der Nachbarschaft und den Vorstädten des Reiches. So leicht bietet er Heerscharen solcher Größe auf! Nun ist also der Augenblick gekommen zu überlegen, was wir tun sollen.

DAS SCHIFF ODER DIE W Ü N S C H E

20I

(35) A. Meiner Meinung nach müßt ihr, die Infanterie, Richtung Ktesiphon abziehen, wir aber, die Kavallerie, hier bleiben, um Babylon zu schützen. S. Kneifst du jetzt auch, Adeimantos, wo die Gefahr näher rückt? U n d was schlägst du vor, Timolaos? T. Mit dem ganzen Heer gegen die Feinde vorzurücken und nicht abzuwarten, bis sie besser gerüstet sind, wenn erst von allen Seiten ihre Bundesgenossen eintreffen! Nein, wir wollen die Feinde angreifen, solange sie noch auf dem Weg sind. 5. Wohl gesprochen! U n d was meinst du, Lykinos? L. Ich werd's dir sagen! Da wir von unserem kräftigen Marsch müde sind, nachdem wir morgens zum Piräus hinuntergelaufen sind, nun auch schon wieder ungefähr dreißig Stadien hinter uns haben und jetzt zur vollen Mittagszeit die Sonne herabgleißt, meine ich, wir sollten uns hier bei der umgestürzten Säule unter die Olivenbäume setzen und eine Rast einlegen. Danach stehen wir auf und gehen noch das letzte Stück bis zur Stadt. 5. Ja, glaubst du denn, du bist noch immer in Athen, wo du doch gerade, mitten in einer Menge von Soldaten, in der Ebene vor den Mauern Babylons sitzt und über die Kriegführung berätst? L. Ich vergaß! Ich hatte gedacht, ich sei wach und nüchtern und sollte dir dementsprechend meine Meinung sagen. (36) 5. (zu T.) Also vorwärts, wenn du meinst! Und daß ihr nur ja in der Gefahr brave Männer seid und der stolzen Gesinnung eurer Väter keine Schande macht! Da haben wir schon die erste Feindberührung. Die Losung sei also >EnyaliosPseudo< rangiert. (21) Und was Wunder, wenn dir so etwas passiert, du törichter und ungebildeter Mensch, und du dich beim Gehen in die Brust wirfst und Gang, Haltung und Blick dessen nachmachst, mit dem du dich so gerne vergleichst, wo doch sogar, wie man erzählt, König Pyrrhos von Epiros, der im übrigen ein bewundernswerter Mann war, sich einmal von Schmeichlern in Sachen Ähnlichkeit so weit verfuhren ließ, daß er fest glaubte, er sehe dem berühmten Alexander ähnlich? Und doch, wie es die Musiker ausdrücken würden, lagen zwei Oktaven dazwischen: Denn ich habe schon einmal Pyrrhos' Bild gesehen. Gleichwohl war er felsenfest davon überzeugt, er gleiche Alexander wie ein Ei dem anderen. Aber nun habe ich dem Pyrrhos bitteres Unrecht getan, indem ich dich in diesem Punkt mit ihm verglichen habe. Das folgende hingegen dürfte auch für dich gut passen. Als es nämlich so um Pyrrhos stand und er felsenfest davon überzeugt war, da gab es keinen, der ihm nicht zugestimmt und seine Gefühle geteilt hätte, bis endlich eine alte Frau in Larissa, eine Fremde, ihm die Wahrheit sagte und ihn von seiner Dummheit heilte. Pyrrhos zeigte ihr nämlich Bilder von Philipp, Perdikkas, Alexander und anderen Königen und fragte sie, wem er äh-

222

ZEITKRITISCHES

nele, fest überzeugt, sie werde auf Alexander kommen; sie jedoch konnte sich lange nicht entscheiden und sagte dann: »Fröschl, dem Koch« - denn es gab in Larissa einen Koch namens Fröschl, der dem Pyrrhos ähnlich sah. (22) Wem von all den Wüstlingen, die mit Tänzern und Pantomimen herumziehen, du nun gleichst, wüßte ich nicht zu sagen, daß dich aber, was diese Ähnlichkeit des Erscheinungsbildes betrifft, alle für das O p f e r einer an Wahnsinn grenzenden Sinnestäuschung halten, das weiß ich genau. U n d das ist kein Wunder, wenn du, der du dich so gar nicht auf genaues Abbilden verstehst, den Gebildeten ähnlich sehen willst und denen Glauben schenkst, die dir ein derartiges Lob zollen. Aber was rede ich? Der Grund für deine Bibliomanie liegt doch auf der Hand, auch wenn es aufgrund meiner geistigen Trägheit noch nicht lange her ist, daß ich ihn verstanden habe. Schlau ausgedacht hast du dir das, meinst du jedenfalls, und keine geringen H o f f n u n g e n setzt du darauf, wenn nämlich der Kaiser das erführe, ein kluger M a n n mit einem großen Faible für die Bildung. Wenn er über dich hören würde, daß du Bücher kaufst und in großen Mengen sammelst, dann, so meinst du, wirst du bald alles von ihm erwarten dürfen. (23) Aber, du geiler Bock, glaubst du wirklich, er habe einen so gewaltigen Mandragorarausch, daß dies zwar zu seinen O h r e n gelangt, er hingegen nicht weiß, was für ein Leben du bei Tage führst, was für Sauforgien du feierst, wie deine Nächte aussehen und wie alt und was für Leute deine Bettgenossen sind? Weißt du nicht, daß der Kaiser viele O h r e n und Augen besitzt? Wobei deine Lebensumstände so offenkundig sind, daß sogar Blinde und Taube sie kennen: D u brauchst ja nur den M u n d aufzumachen, du brauchst dich nur z u m Baden auszukleiden, das heißt, du wirst dich natürlich, mit Verlaub, nicht selbst auskleiden; wenn dich also nur deine Diener auskleiden, was, glaubst

GEGEN DEN UNGEBILDETEN BÜCHERNARREN

223

du, passiert dann? Werden dann nicht all die Unsäglichkeiten deiner Nächte offenbar werden? Und dann sag mir bitte noch folgendes: Wenn Bassos, euer Sophist, oder der Flötenspieler Batalos oder Hemitheon, der Wüstling aus Sybaris, der euch auch eure herrlichen Gesetze gegeben hat - daß man eine glatte Haut haben und sich, auch gegenseitig, die Härchen auszupfen muß - , wenn einer von denen sich jetzt das Löwenfell umwürfe und mit einer Keule herumspazierte, wofür, glaubst du, würden ihn die halten, die ihn sähen? Etwa für Herakles? Nein, wenn sie nicht gerade solche Triefaugen hätten, daß man mit dem Schleim ganze Töpfe füllen könnte. Es sind doch unzählige Details, die deutlich gegen diese Äußerlichkeiten sprechen würden: der Gang, der Blick, die Stimme, der gebogene Hals, das Harz, das Bleiweiß und das Rouge, mit denen ihr euch schminkt, kurz: Ganz wie es in dem alten Sprichwort heißt, könntest du leichter fünf Elefanten unter der Achsel verstecken als einen Wüstling. Da würde nun schon Herakles' Löwenfell so einen nicht verbergen, und du meinst, du könntest dich mit einem Buch tarnen? Nein, das funktioniert nicht! Alles übrige, woran man euresgleichen erkennt, wird dich verraten und entlarven! (24) Überhaupt scheinst du dir nicht im klaren darüber zu sein, daß man gute Hoffnungen nicht bei den Buchhändlern suchen darf, sondern daß man sie aus sich selbst und aus seiner täglichen Lebensführung schöpfen muß. Glaubst du denn, die Kopisten und Editoren Atticus und Kallinos werden für dich als öffentliche Verteidiger und Zeugen auftreten? Mitnichten, sondern sie werden sich als rohe Menschen erweisen, die dich, wenn die Götter es wollen, vernichten und in die äußerste Armut treiben werden! Gleich und sofort mußt du also zu Verstand kommen, diese deine Bücher und mit ihnen zusammen dieses dein neugekauftes Haus einem der Gebildeten verkaufen und den Skia-

224

ZEITKRITISCHES

venhändlern wenigstens einen Teil deiner hohen Schulden zurückzahlen. (25) Denn das ist ja auch so ein Punkt: Auf diese zwei Dinge bist du ganz versessen, den Erwerb teuerer Bücher und den Kauf schon beinahe erwachsener und kräftiger Burschen - da bist du ganz fanatisch hinterher. Aber als armer Mann kannst du unmöglich beides haben. Schau daher einmal, was für ein heilig Ding guter Rat ist. Ich lege dir nämlich nahe, dich von den für dich unnützen Belastungen zu befreien und deine ganze Pflege der anderen Krankheit zuzuwenden und diese Bediensteten zu kaufen, damit du nicht, wenn dir das Personal ausgeht, freie Männer kommen lassen mußt, die dann, wenn sie dich verlassen haben, ohne vollständig bezahlt worden zu sein, gefahrlos ausplaudern können, was ihr nach dem Ende des Trinkgelages so zu treiben pflegt, ganz nach Art der Abscheulichkeiten, die erst neulich der Strichjunge postfestum über dich erzählt hat, wobei er sogar Bißwunden herumzeigte. Und ich könnte dir gar die Leute, die damals zugegen waren, als Zeugen dafür beibringen, wie wütend ich wurde und wie ich ihn beinahe verprügelt hätte, so nahe ging mir deine Verunglimpfung, vor allem, als er noch einen Zeugen nach dem anderen herbeizitierte, die ähnliches zu berichten wußten und alle das gleiche erzählten. Also, mein Lieber, spar das Geld und sieh zu, daß du solche Sachen zu Hause und in aller Ruhe machen und mit dir machen lassen kannst! Sie ganz zu lassen - wer könnte dich dazu wohl bringen? Auch ein Hund, hat er sich einmal angewöhnt, an Leder zu nagen, wird das nicht mehr bleibenlassen. (26) Aber das andere ist leicht: keine Bücher mehr zu kaufen. Du bist doch hinreichend gebildet, du besitzt genügend Weisheit. Du führst die gesamte klassische Bildung im Munde, du kennst die ganze Historie, die ganze Rhetorik, die Schönheiten und die Fehlerhaftigkeiten der Sprache, die richtige Verwendungsweise des Attischen: Ein Ausbund an Weis-

GEGEN DEN UNGEBILDETEN BÜCHERNARREN

225

heit, ein Gipfel der Bildung bist du, dank deiner riesigen Bibliothek. - Was sollte mich daran hindern, mir mit dir meine Zeit zu vertreiben, da du ja so gerne betrogen wirst? (27) Gerne würde ich dich auch fragen, wo du doch so viele Bücher hast, welche von ihnen du am liebsten liest. Die Werke Piatons? Die des Antisthenes? Archilochos' Gedichte? Oder die des Hipponax? Oder hast du für die alle gar nichts übrig, sondern nimmst am liebsten die Redner zur Hand? Dann sag mir: Liest du auch Aischines' Rede gegen Timarchos? Oder weißt du das alles und kennst sie alle genau, die Redner, steckst aber dafür mitten in der Lektüre des Aristophanes und des Eupolis? Hast du auch die Baptai gelesen, das ganze Drama? War das, was dort steht, nicht ein Schlag ins Gesicht für dich, bist du beim Lesen nicht rot geworden? Am meisten fragt man sich verwundert, in welchem seelischen Zustand du dich befinden magst, wenn du zu den Büchern greifst, mit was für Fingern du in ihnen blätterst. Wann liest du? Bei Tag? Aber noch nie hat dich jemand dabei gesehen. Dann also bei Nacht? Entweder nachdem du deinen Leuten ihre Aufträge erteilt hast, oder bevor du mit ihnen sprichst? (28) Nein, bei Kotys, ich beschwöre dich, riskiere nichts Derartiges mehr, laß die Bücher, und kümmere dich nur um deine Angelegenheiten! Ach, sogar um die lieber nicht, sondern denke voll Scham und Reue an die Phädra des Euripides, wie sie voller Verärgerung über die Frauen sagt: »Auch die Dunkelheit, ihre Mitwisserin, furchten sie nicht, auch nicht die Gemächer des Hauses, daß sie einmal etwas erzählen könnten.« Wenn du aber fest entschlossen bist, in dieser deiner so vergleichbaren Krankheit zu verharren, gut, dann geh, kauf Bücher, schließ sie zu Hause ein, und ernte den Ruhm deines Besitzes! Und das soll dir genug sein! Aber faß sie nicht an, lies sie nicht, vergewaltige nicht mit deiner Zunge die Worte der Alten und ihre Werke, die dir doch gar nichts getan haben.

226

ZEITKRITISCHES

Ich bin mir im klaren, daß mein Gerede vergebene Liebesmüh ist und ich, wie das Sprichwort sagt, versuche, einen Neger weißzuwaschen. Du wirst sie ja doch weiterhin kaufen und sie zu nichts nutzen und dich zum Gespött der Gebildeten machen, denen der Gewinn genügt, den sie nicht aus der Schönheit der Bücher und auch nicht aus ihrer Kostbarkeit, sondern aus den Worten und aus der Bedeutung des Geschriebenen ziehen. (29) Du aber glaubst, du könntest deine Unbildung heilen und sie mithilfe dieses schönen Scheins verbergen und die Leute seien völlig perplex von der Größe deiner Bibliothek, und weißt doch nicht, daß unter den Ärzten es die Scharlatane genauso machen wie du, indem sie sich nämlich elfenbeinerne Pillendöschen und silberne Schröpfköpfe machen lassen und Skalpelle aus Gold: Wenn sie sie aber auch benutzen müssen, dann wissen sie noch nicht einmal, wie herum sie sie halten müssen. Und dann tritt einer von den ausgebildeten Ärzten auf, mit einer schön scharfen, im übrigen rostigen Lanzette und befreit den Kranken von seinen Schmerzen. Um einen noch lächerlicheren Vergleich für deinen Fall anzuführen: Schau dir mal die Barbiere an, und du wirst sehen, daß die Könner unter ihnen ein Schermesser, einige kleinere Messer und einen mäßig großen Spiegel haben, die Nichtskönner und Laien hingegen eine Menge Messerchen und riesige Spiegel präsentieren, ohne jedoch damit ihre Ahnungslosigkeit kaschieren zu können. Und was dann passiert, ist wirklich komisch: Die Leute lassen sich nämlich im Laden nebenan die Haare schneiden, richten sich aber vor ihren riesigen Spiegeln die Frisur. (30) So magst auch du einem anderen, der sie braucht, die Bücher leihen, selbst aber weißt du sie nicht zu benutzen. Dabei hast du noch nie jemandem ein Buch geliehen, sondern du verhältst dich wie ein Hund, der in der Futterkrippe liegt und zwar selbst nichts von der Gerste frißt, aber das Pferd, das sie fressen könnte, auch nicht heranläßt.

G E G E N DEN UNGEBILDETEN BÜCHERNARREN

227

So weit meine offenen Worte an dich, für heute nur zu deinen Büchern! Uber dein übriges verachtenswertes und schimpfliches Verhalten sollst du ein andermal mehr zu hören bekommen!

V 2 VERTEIDIGUNG FÜR E I N E N FEHLER BEI D E R B E G R Ü S S U N G [3.64] (1) Es ist schwierig, als Mensch dem Übergriff eines Gottes zu entgehen, und noch viel schwieriger, sich eine Verteidigungsrede auszudenken für einen ganz unerwarteten und von einem Gott gewollten Fehler. Beides ist mir jetzt passiert, der ich, als ich zu dir kam, um dir meinen morgendlichen Gruß zu entbieten, und das übliche und gebräuchliche Wort, nämlich >Freude!< (chairein), hätte sagen sollen, mich vergaß, ich Goldkind, und dir >Gesundheit!< (hygiainein) wünschte, was zwar auch ein frommer Wunsch ist, aber eben zum falschen Zeitpunkt. Wie es typisch für mich ist, wurde ich sofort rot und wußte vor Verlegenheit nicht mehr ein noch aus. Die Anwesenden meinten teils, ich hätte danebengegriffen, wie es auch wahrscheinlich war, teils, ich sei eben schon älter und redete Unsinn, teils, ich hätte noch einen Kater von meinem gestrigen Rausch - nur du nahmst das, was passiert war, sehr nachsichtig auf und deutetest nur mit einem feinen Lächeln an, daß du meinen Schnitzer bemerkt hattest. Ich hielt es daher für passend, für mich selbst eine kleine Trostschrift zu verfassen, um nicht zu traurig über meinen Fehler zu sein und es nicht für irreparabel zu halten, wenn ein alter Mann, in Anwesenheit so vieler Zeugen, einen solchen Verstoß gegen den Comment begeht. Einer Verteidigungsschrift für meine Zunge bedurfte es hingegen nicht, wie ich meine, ist ihr Ausrutscher doch immerhin zu einem Segenswunsch für dich geraten.

EIN FEHLER BEI DER B E G R Ü S S U N G

229

(2) Zu Beginn meiner Schrift hatte ich das Gefühl, ich würde es mit einem ganz unlösbaren Problem zu tun bekommen, mit der Zeit aber präsentierte sich mir doch eine ganze Reihe von Argumenten. Sie will ich aber nicht darlegen, bevor ich nicht einige Tatsachen über die Begrüßungsformeln >Freude!Wohlergehen!< (euprdttein) und >Gesundheit!< vorausgeschickt habe. »Freude !< ist die alte und ursprüngliche Form der Begrüßung, nicht nur am Morgen und auch nicht nur bei der ersten Begegnung am Tag, sondern man verwendete sie auch, wenn man sich erstmals kennenlernte, wie in »Freude, Herrscher dieses Landes hier von Tiryns!« und auch, wenn man sich nach dem Mahl zum Gespräch beim Wein wandte, wie Odysseus in »Freude, Achilleus! An reichlicher Speise mangelst du nicht«, als er ihm die aufgetragene Botschaft vortrug; und schließlich auch dann, wenn man voneinander schied, wie in »Freude! Nicht sterblich bin ich für euch mehr, sondern ein unsterblicher Gott.« Einen eigenen Zeitpunkt für diese Begrüßung gab es nicht, man bediente sich ihrer auch nicht wie jetzt nur am Morgen, insbesondere da man sie sogar in den unglücklichen und ach so verhaßten Momenten verwendete, wie beispielsweise der Polyneikes des Euripides kurz vor seinem Tod: »Freude! Mich umfängt nun Dunkelheit!« Sie war schließlich auch nicht nur Zeichen für eine freundliche Beziehung, sondern auch für den Augenblick, wo man sich anfeindete und nichts mehr miteinander zu tun haben wollte. Hier bedeutet der Ausdruck >Freude, und zwar für immer!Freude!< seinen letzten Atemzug. Zu Beginn seines Briefes, den er von Sphakteria aus schickte, setzte der Athener Demagoge Kleon vor die frohe Botschaft von dem dortigen Sieg und der Gefangennahme der Spartiaten ebenfalls ein >Freude!FreudeWohlergehen!< ein, als Zeichen dafür, daß es beiden, Körper und Seele, gut gehe, und in einem Brief an Dionysios macht er ihm den Vorwurf, daß er in einem Gedicht auf Apoll den Gott mit >Freude!< begrüßt habe: Das sei des Pythiers unwürdig und zieme sich, geschweige denn für Götter, auch nicht für rechtschaffene Menschen. (5) Der göttliche Pythagoras nun hat es zwar nicht für notwendig gehalten, uns selbst etwas von seinen Lehren schriftlich zu hinterlassen, nach dem Zeugnis des Okellos aus Lukanien, des Archytas und seiner anderen Schüler jedoch schrieb er zu Beginn seiner Briefe weder >Freude!< noch Wohlergehen!Gesundheit!< anzufangen. Alle seine Nachfolger jedenfalls setzten, wenn sie einander Briefe schrieben, in denen es um etwas Wichtiges ging, gleich an den Anfang die Aufforderung >Gesundheit!GesundheitGesundheit!< stecke auch >Wohlergehen !< und >Freude!Freude!< auch >Gesundheit!< gegeben. Es gibt auch Pythagoreer, die, bei Zeus, die >VierGesundheit!< oft am Anfang von Reden finden. So steht in »Sei wohlauf und freue dich sehr!« klug vor dem Freuen noch das Gesundsein. Bei Alexis heißt es: »Wohlergehen! Mein Herr, du kommst zur rechten Zeit!«, bei Achaios: »Hier bin ich, habe Gewaltiges getan. Dir Gesundheit!« und bei Philemon: »Gesundheit erbitt' ich als erstes, Wohlergehen danach, / als drittes Freude, dann: keine Schulden mehr zu haben!« Wie formuliert der Verfasser des Skolions, das auch Piaton erwähnt? »Gesund sein ist das beste, das zweite ist, ein edler Mann zu sein, das dritte Reichtum.« Freude erwähnt er hier überhaupt nicht, gar nicht zu reden von jenem Skolion, das jeder kennt und das in aller Munde ist: »Gesundheit, Ehrwürdigste aller seligen Götter, bei dir will ich wohnen für den Rest meines Daseins!« Wenn also die Göttin Gesundheit die ehrwürdigste ist, dann muß man auch ihre Gabe, das Gesundsein, allen anderen Gütern voranstellen. (7) Ich könnte dir unzählige weitere Zitate aus Dichtern, Schriftstellern und Philosophen beibringen, die dem Gruß

ZEITKRITISCHES

>Gesundheit!< den Vorzug geben, aber ich will das sein lassen, damit mir mein Essay nicht zur kindischen Geschmacksverirrung gerät und ich Gefahr laufe, Nagel mit Nagel auszutreiben. Statt dessen nutze ich die Gelegenheit, aus meiner Erinnerung einige für diese Gelegenheit passende Beispiele aus der alten Geschichte hinzuzusetzen. (8) Als Alexander zur Schlacht bei Issos antreten sollte, da betrat morgens, wie Eumenes aus Kardia in seinem Brief an Antipatros schreibt, Hephaistion sein Zelt und - sei es, daß er sich vergaß, sei es, daß er, wie ich, einen Augenblick lang verwirrt war, sei es, daß gar ein Gott es ihm in den Mund legte - sagte das gleiche wie ich: »Gesundheit! König, es ist Zeit, sich zur Schlacht aufzustellen!« Und als die Anwesenden irritiert waren über diese merkwürdige Begrüßung und Hephaistion vor Scham beinahe gestorben wäre, sagte Alexander: »Das ist ein gutes Vorzeichen. Denn es verspricht mir, daß wir heil aus der Schlacht zurückkehren werden!« (9) Als die Schlacht gegen die Galater unmittelbar bevorstand, hatte Antiochos Soter einen Traum. Er meinte, Alexander trete zu ihm und befehle ihm, dem Heer >Gesundheit!< als Kampflosung auszugeben, und unter dieser Losung errang er jenen berühmten großen Sieg. (10) Ptolemaios, der Sohn des Lagos, drehte in einem Brief an Seleukos die Reihenfolge ganz offen um und begrüßte ihn zu Beginn seines Schreibens mit >Gesundheit!Lebewohl!< ein >Freude!Freude!< sagt, nur von einem glückverheißenden Beginn, im Grunde handelt es sich um ein Gebet; die Aufforderung >Gesundheit!< hingegen bewirkt etwas Nützliches, ruft sie doch in Erinnerung, was alles zum Gesundsein beiträgt, und sie formuliert nicht nur ein Gebet, sondern auch eine Anweisung. (13) Was denn? Steht nicht auch in dem Instruktionsbuch, das ihr immer vom Kaiser bekommt, dies als erste Anweisung: Daß ihr nämlich auf eure Gesundheit achten sollt? Und sehr zu Recht. Denn seid ihr nicht gesund, so seid ihr auch zu nichts anderem zu gebrauchen. Aber auch ihr selbst, wenn ich denn ein wenig von der Sprache der Römer verstehe, antwortet auf eine Begrüßung im Gegenzug oft mit dem Wort für »Gesundheit!« {salve).« (14) Nun meine ich all dies nicht so, als ob ich mit Vorbedacht das >Freude!< weggelassen und mit Absicht durch

2

34

ZEITKRITISCHES

>Gesundheit!< ersetzt hätte, sondern so, daß mir das zwar gegen meinen Willen passiert ist - ich würde mich ja lächerlich machen, wenn ich euch befremden wollte und die verschiedenen Tageszeiten der Begrüßungen vertauschen würde - , (15) ich aber den Göttern danke, daß mein Fehler eine andere, so viel verheißungsvollere Vorbedeutung gewonnen und sich sozusagen als Ausrutscher zum Guten erwiesen hat. Vielleicht war ich ja nur das Werkzeug einer göttlichen Inspiration, und Asklepios und Hygieia haben dir durch meinen Mund Gesundheit versprochen. Wie soll mir das denn ohne göttliche Einwirkung passiert sein, der ich zuvor in meinem langen Leben noch nie Opfer einer solchen Verwirrung geworden bin. (16) Wenn nun für das, was geschehen ist, auch eine Verteidigungsrede nach Menschenmaß erforderlich ist, dann ist es nicht verwunderlich, daß ich, der ich mich darum bemühe, in allen wichtigen Dingen deine Anerkennung zu gewinnen, von diesem meinem heftigen Wunsch überwältigt in meiner Verwirrung genau das Gegenteil erreicht habe. Vielleicht könnten einem auch die vielen Soldaten den klaren Verstand rauben, ebenso die Drängier und die Leute, die nicht warten können, bis sie mit dem Begrüßen an der Reihe sind. (17) Aber wenn auch die anderen den Vorfall auf meine Dummheit, mangelnde Bildung oder Verrücktheit schieben, so nimmst du ihn, das weiß ich ja, als Zeichen meiner Bescheidenheit und Einfachheit und als Zeichen eines Herzens, in dem weder Krämertum noch Sophisterei einen Platz haben. So ist ja auch übergroße Zuversicht in diesen Fällen nicht weit entfernt von Unverfrorenheit und Frechheit. Möge ich nie einen solchen Fehler begehen, und wenn doch, so möge er sich zum Segen wenden! (18) Zur Zeit des Augustus jedenfalls soll so etwas einmal passiert sein. Er hatte gerade ein gerechtes Urteil gefällt und einen Menschen, der zu Unrecht verleumdet worden war,

EIN FEHLER BEI DER B E G R Ü S S U N G

235

von einem schweren Vorwurf freigesprochen. In seiner Dankbarkeit rief der Mann mit lauter Stimme: »Ich danke dir, Kaiser, für dieses schlimme und ungerechte Urteil!« Die Männer um Augustus erbosten sich und hätten den Kerl am liebsten in kleine Stücke gerissen, doch jener sagte: »Beruhigt euch wieder! Nicht auf seine Zunge, sondern auf sein Herz muß man schauen.« Das waren seine Worte. Prüfst du nun mein Herz, so wirst du lauter freundschaftliche Gefühle darin finden, prüfst du aber meine Zunge, so hat auch sie zum Segen gesprochen. (19) An diesem Punkt angelangt, sollte ich im Gegenzug wahrscheinlich Angst bekommen, es könnte so aussehen, als hätte ich meinen Fehler absichtlich begangen, um diese Verteidigung verfassen zu können. Ach würden doch, liebster Asklepios, meine Worte so aussehen, daß man sie nicht für eine Verteidigung hielte, sondern für die Einleitung zu einer Deklamation!

V

3

VON DENEN, DIE SICH FÜR GELD V E R D I N G E N [2,36]

(1) Ja, was soll ich dir zuerst, mein Freund, was zuletzt berichten, wie man so sagt, über all das, was diejenigen tun oder über sich ergehen lassen müssen, die eine bezahlte Stelle annehmen und in ihren Freundschaften mit den Reichen und Mächtigen einer harten Prüfung unterzogen werden - wenn man dieses ihr Sklavendasein denn als Freundschaft bezeichnen darf? Ich weiß ja über vieles, wenn nicht beinahe alles Bescheid, was ihnen widerfährt, allerdings nicht, weil ich mich etwa, bei Zeus, selbst dem unterzogen hätte: So weit ist es noch nicht mit mir gekommen, und so weit, ihr Götter, soll es auch nicht kommen. Doch haben viele von denen, die in solche Lebensumstände geraten sind, sich mir anvertraut. Die einen, noch immer mitten drin in dieser üblen Situation, klagten, was sie alles zu erdulden hätten, die anderen, gleichsam entflohene Sträflinge, erinnerten sich nicht ohne Vergnügen an ihre Mühen und Plagen: Ihr Vergnügen bestand allerdings darin, die Umstände im einzelnen nachzurechnen, denen sie da entkommen waren. Vertrauenswürdiger waren für mich diese letzteren, hatten sie doch sozusagen die Initiation vollständig durchlaufen und alles von Anfang bis Ende mitangesehen. Nicht ohne Interesse und Anteilnahme hörte ich ihren Berichten zu, wie Leuten, die von einem Schiffbruch und ihrer unerwarteten Rettung erzählen: In Scharen findet man sie bei den Heiligtümern, wo sie, den Kopf kahlgeschoren, in allen

VON D E N E N , DIE SICH FÜR GELD V E R D I N G E N

237

Einzelheiten von dritten, alles vernichtenden Wellen, von Stürmen und Vorgebirgen, vom Stranden und von brechenden Masten und Rudern berichten, und wie dann zuguterletzt die Dioskuren erschienen sind - die treten ja in diesen Tragödien immer auf - oder irgendein anderer dem ex machina, der auf der Mastspitze Platz nahm oder beim Ruder stand und das Schiff an irgendein sanftes Ufer steuerte, wo das Schiff landen konnte, um dann in aller Ruhe auseinanderzubrechen, während sie selbst ungefährdet von Bord gehen konnten, dank der Gunst und des Wohlwollens der Gottheit. Nun schmücken diese Leute zwar ihre langen Geschichten aus schierer Existenznot dramatisch aus, damit sie von einem größeren Publikum eine milde Gabe erhalten, das sie für nicht nur unglücklich, sondern auch für gottgeliebt hält. (2) Diejenigen hingegen, die von den häuslichen Stürmen und dritten Wellen, besser, bei Zeus, fünften und zehnten Wellen, wenn man das so sagen darf, erzählen und davon, wie sie anfangs hineinsegelten, als das Meer noch heiter und ruhig schien, und was sie während der ganzen Fahrt erlebten - wie sie Durst hatten, wie ihnen übel war, wie sie vom Salzwasser überspült wurden, und wie zuletzt ihr unglückliches Schiffchen an einem Felsen unter der Wasseroberfläche oder einem steilen Felszacken zerschellte und sie, die Armen, nackt und unter Verlust all ihrer Habe schwimmend ihr Leben, nicht mehr, retten konnten - : In dieser Lage selbst wie auch später, als sie davon erzählten, hatte ich den Eindruck, daß sie das meiste verschwiegen, weil sie sich schämten, und daß sie es, so gut sie konnten, vergessen wollten. Ich jedoch habe sowohl dies alles als auch das übrige, was nach meinen Überlegungen und Schlußfolgerungen mit derartigen Arbeitsverhältnissen verbunden ist, gesammelt und werde nicht zögern, es dir, mein lieber Timokles, alles im Detail zu berichten. (3) Ich meine nämlich schon lange

238

ZEITKRITISCHES

zu wissen, daß du auf ein solches Leben spekulierst. Zum erstenmal habe ich das bemerkt, als einmal die Rede auf derartiges kam und einer der Anwesenden diese Art des Lohnerwerbs anpries und behauptete, es sei dreimal vom Schicksal gesegnet, wer nicht nur die besten Römer zu seinen Freunden zählen, teure Abendessen ohne Eigenbeitrag genießen, in einem schönen Haus wohnen und mit allen Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten und geschwellter Brust in einer, mit ein bißchen Glück, von Schimmeln gezogenen Kutsche verreisen dürfe, sondern obendrein auch noch für die Freundschaft und alle diese Wohltaten gar nicht schlecht bezahlt werde: Solchen Menschen wachse wirklich alles ungesät und ungepflügt. Als du dies und entsprechendes Weiteres hörtest, sah ich, wie du große Augen machtest und mit sehr weit aufgerissenem Mund nach dem Köder schnapptest. Damit ich für meinen Teil später meine Hände in Unschuld waschen kann und du mir nicht vorwerfen kannst, ich hätte dich sehenden Auges nicht daran gehindert, so einen dicken Haken mitsamt dem Köder hinunterzuschlukken, und ich hätte ihn nicht, bevor er dir im Halse steckte, herausgezogen und hätte dich nicht einmal vorgewarnt, sondern hätte erst abgewartet, bis ich sah, wie du fest an der Angel hingst und zappeltest und gewaltsam an Land gezogen wurdest, und dann, als es nichts mehr nutzte, daneben gestanden und geweint: Damit du mir das alles nicht irgendwann vorhältst - ein sehr treffender Vorwurf, wenn er erhoben wird, und einer, dem ich mich nicht mit der Ausrede entziehen könnte, daß es ja noch kein Unrecht ist, dich nicht vorhergewarnt zu haben - , laß dir alles von Anfang an erzählen, und paß auf das Netz und die Ausweglosigkeit der Reusen auf, jetzt, wo du noch in Ruhe außerhalb bist, nicht erst, wenn du schon drinnen steckst und dich in einen Winkel drückst, und fühle mal mit der Hand die Rundung des

VON D E N E N , DIE SICH FÜR GELD V E R D I N G E N

239

Hakens und wie sich die Widerhaken nach hinten krümmen und die Spitzen des Dreizacks, du kannst auch mal die Wangen aufblasen und es an ihnen ausprobieren: Kommt es dir nicht auch so vor, als ob sie richtig scharf sind, unentrinnbar, schmerzhaft in der Wunde stecken, brutal ziehen und sich überhaupt nicht mehr ausspucken lassen - und dann trag mich in die Liste der Feiglinge und infolgedessen Hungerleider ein, mach dir selbst Mut, und nichts wie ran an die Beute, wenn du magst, und schluck wie die Möwe den Köder gleich ganz hinunter. (4) Meine Ausfuhrungen werden sich insgesamt zwar vielleicht an dich richten, allerdings geht es nicht nur um euch, die ihr euch mit Philosophie beschäftigt, auch nicht um diejenigen, die sich in ihrem Leben schon ernsthafter auf eine Schulrichtung festgelegt haben, sondern auch um die Grammatiklehrer, die Rhetoren und Musiklehrer und überhaupt um all die, die in den Bildungsdisziplinen eine bezahlte Stelle suchen. Die Vorgänge wiederholen sich meistens und ähneln einander jeweils; dennoch ist es klar, daß gerade dies, daß es keine Unterschiede gibt, für Philosophen zwar keine Sonderbehandlung darstellt, aber daß es für sie doch besonders ehrenrührig ist, wenn sie genauso behandelt werden wie die anderen und ihnen ihre Arbeitgeber nicht mit mehr Respekt begegnen. Für alles, was meine Untersuchung zutage fördern wird, darf man nun am meisten diejenigen verantwortlich machen, die austeilen, an zweiter Stelle aber diejenigen, die einstecken: Ich jedenfalls trage keine Schuld, es sei denn, man hielte Wahrhaftigkeit und Offenheit für strafwürdig. Was hingegen den übrigen Pöbel betrifft, wie beispielsweise Sportlehrer und Parasiten, Laien, Kleingeister und von daher Unterschicht, lohnt es sich nicht, sie von solchen Positionen abzuhalten; sie würden sich auch gar nicht überzeugen lassen, und es ist auch keinesfalls angebracht, ihnen Vorwürfe zu machen, daß sie von ihren Brötchengebern

240

ZEITKRITISCHES

nicht lassen wollen, auch wenn sie noch so sehr unter ihnen leiden: Sie sind an solche Beschäftigungen gewöhnt und nicht zu gut für sie. Im übrigen gäbe es für sie auch kein anderes Betätigungsfeld, auf das sie sich hinorientieren könnten, sondern wenn man ihnen dieses nähme, so stünden sie augenblicklich ohne Gewerbe da und säßen faul und überflüssig herum. Es geht ihnen also eigentlich wohl gar nicht schlecht, und man sollte ihren Arbeitgebern nicht unterstellen, sie mißhandelten sie, wo sie doch nur, wie man so sagt, in den Nachttopf pinkeln. D e n n v o n A n f a n g an lassen sich diese Leute genau zu dem Zweck, sich mißhandeln zu lassen, in den Häusern einstellen, und ihr Beruf besteht darin, das, was dort vor sich geht, zu ertragen und auszuhalten. Hingegen fühlt man für die Gebildeten, v o n denen ich eben sprach, zu Recht Arger, und es ist einen Versuch wert, sie so gut es geht - auf andere Wege zu führen und zu befreien. (5) Ich tue daher ein gutes Werk, wenn ich zunächst einmal die Gründe, die manchen dazu bewegen, in ein solches Leben einzutreten, einer Prüfung unterziehe und nachweise, daß sie weder zwingend noch unabweisbar sind. D e n n auf diese Weise werden ihnen ihre Verteidigungsargumente schon im Vorfeld entzogen und damit die erste Voraussetzung für ihre freiwillige Sklaverei. Die meisten schieben vor, sie seien bedürftig und es fehle ihnen am Nötigsten, in der Meinung, damit sei bereits ein hinreichender Vorwand gegeben, zu desertieren und in eine solche Karriere zu wechseln, und sie finden, es genüge zu behaupten, daß man es ihnen nachsehen müsse, wenn sie dem Schlimmsten im Leben, der Bedürftigkeit, zu entkommen suchten. Da haben sie dann gleich den Theognis griffbereit; sehr beliebt ist sein >Jeden Mann schlägt die Armut in FesselnDas hat uns gerade noch gefehlt, daß wir sogar hinter solchen Neuankömmlingen zurückstehen müssen< und >In Rom werden überhaupt nur diese Griechen noch etwas; was ist denn an ihnen, daß sie uns ständig vorgezogen werden? Sie glauben doch wohl nicht, sie seien mit ihrem unsäglichen Gerede wer weiß wie nützlich?< Und ein anderer: >Hast du nicht gesehen, wieviel er getrunken hat, wie er alles, was serviert wurde, auf seinen Teller geschaufelt und runtergeschlungen hat? Kein Benehmen, der Mann, so ein Nimmersatt, hat sich wahrscheinlich noch nicht mal im Traum an weißem Brot satt gegessen, auch nicht an Vögeln aus Numidien und Phasis, von denen er uns gerade mal die Knochen übrig gelassen hat.< Und noch ein dritter sagt: >Ihr Nichtsnutze, in nicht mal ganz fünf Tagen werdet ihr ihn hier bei uns sitzen sehen und genau so jammern hören. Jetzt wird er zwar wie ein neues Paar Schuhe geehrt und betan, wenn er aber erst einmal eingelaufen und schmutzbespritzt ist, dann fliegt er ohne Erbarmen unters Speisesofa, genauso verwanzt wie wir.< Solche Sprüche über dich wandern von einem zum anderen, und irgendwo stricken einige von ihnen wohl auch schon an Intrigen gegen dich. (18) Du stehst im Mittelpunkt des Symposions, im Mittelpunkt der meisten Gespräche. Weil du aber, da du nicht daran gewöhnt bist, von dem Wein, der leicht ins Blut geht, mehr als genug getrunken hast, geht es dir gar nicht gut, der Bauch zwickt schon die ganze Zeit, aber weder sähe es gut aus, wenn du so früh gingest, noch kannst du gefahrlos bleiben. Das Trinken zieht sich hin, ein Gespräch gibt das andere, Schauspiel folgt auf Schauspiel - er will dir ja alles zeigen, was er hat - : keine geringe Strafe, und du nimmst nicht wahr, was aufgeführt wird, du bekommst nicht mit, wenn ein allseits sehr ge-

VON D E N E N , DIE SICH FÜR GELD VERDINGEN

251

schätzter Bursche singt oder auf der Kithara spielt, aber notgedrungen applaudierst du, während du im Stillen betest, ein Erdbeben möge das Haus einstürzen lassen oder der Ausbruch eines Feuers gemeldet werden, damit dieses Trinkgelage einmal ein Ende finde. (19) Das also, mein Freund, war dein erstes und zugleich dein schönstes Festessen, in meinen Augen allerdings nicht angenehmer als Thymian und weißes Salz, die ich in Freiheit, wann ich will und soviel ich will, genießen kann. Um nun das saure Aufstoßen danach und das nächtliche Erbrechen zu übergehen: Am nächsten Morgen müßt ihr euch über dein Gehalt einigen, wie hoch es sein soll und an welchen Terminen im Jahr es dir jeweils ausbezahlt werden soll. In Anwesenheit von zwei oder drei Freunden hat er dich einbestellt, bietet dir einen Platz an und beginnt folgendermaßen: >Unsere Lebensverhältnisse hast du ja nun schon kennengelernt, daß es hier schlicht und ohne viele Umstände zugeht, ganz undramatisch, eher bodenständig und wie bei einfachen Leuten. Tu also einfach so, als ob uns aller Besitz gemeinsam gehörte. Es wäre ja auch zum Lachen, wenn ich dir mein Wichtigstes, meine Seele oder, bei Zeus, die Seelen meiner Kinder< - wenn er Kinder hat, die Unterricht brauchen - »anvertrauen wollte, dich aber nicht auch über meinen übrigen Besitz verfugen ließe. Da wir aber einmal einen Betrag festsetzen müssen - ich kann zwar die Bescheidenheit und Unabhängigkeit deines Wesens sehen und bin mir bewußt, daß du nicht wegen des Gehalts in mein Haus gekommen bist, sondern um anderer Vorzüge willen, nämlich des Wohlwollens wegen, das ich für dich hegen werde, und des Ansehens wegen, das du bei allen genießen wirst: Dennoch sollten wir einen Betrag festsetzen - , sag du selbst, wieviel du willst, wobei du, mein Lieber, auch an die Geschenke denken solltest, die ich dir natürlich an den jährlichen Festtagen machen werde. Auch solche Dinge sollten

ZEITKRITISCHES

wir nicht vergessen, auch wenn wir sie jetzt nicht im einzelnen vereinbaren; es gibt ja viele derartige Anlässe im Jahr, wie du weißt, und in Anbetracht dessen mußt du mit deiner Lohnforderung natürlich ein bißchen heruntergehen. Ohnedies sollten gebildete Leute wie wir ja über solchen Dingen wie Geld stehen.« (20) Mit diesen Worten, die deine H o f f n u n g e n schwer erschüttert haben, hat er dich sich schon gefügig gemacht. D u hattest zwar die ganze Zeit vorher v o n Talenten und Unmengen Geld geträumt, von ganzen Landgütern und Mietshäusern, doch nun wirst du dir allmählich über seinen filzigen Geiz klar. Nichtsdestoweniger wedelst du mit dem Schwanz zu seinen Versprechungen und glaubst, dieses »Aller Besitz gehört uns gemeinsam« werde sich als garantiert wahr erweisen. D u weißt nicht, daß solche Bekundungen ihm »zwar die Lippen benetzten, den Gaumen jedoch nicht benetzten«, und zu guter Letzt überläßt du es aus lauter Bescheidenheit ihm. Er wiederum will sich nicht festlegen und fordert daher einen seiner anwesenden Freunde auf, sich als Vermittler einzuschalten und einen Betrag zu nennen, der für ihn keine zu große Belastung darstelle, der er ja auch noch in anderen Bereichen so hohe Aufwendungen machen müsse, aber auch für den Empfänger des Gehalts nicht zu gering sei. Der Freund also, ein rüstiger Alter, der mit Schmeicheleien v o n klein an aufgewachsen ist, sagt: >Daß du nicht v o m Glück mehr gesegnet wärest als jeder andere in dieser Stadt, könntest du wohl nicht behaupten, guter M a n n , hast du doch vor allem das bekommen, was sich viele heiß wünschen, ohne es gleichwohl v o n Tyche jemals zu erhalten. Ich meine damit, daß du für würdig befunden worden bist, seine Gesellschaft, seine Gastfreundschaft genießen zu dürfen und in den ersten und höchsten Haushalt von allen im römischen Imperium aufgenommen worden zu sein. Das ist mehr als alle Talente des Kroisos, als aller

VON DENEN, DIE SICH FÜR GELD V E R D I N G E N

253

Reichtum des Midas, wenn du weißt, was Mäßigkeit ist. Da ich viele Leute höchsten Ansehens kenne, die, selbst wenn sie noch draufzahlen müßten, nur um des Ruhmes willen das Leben dieses Mannes teilen und mit ihm als seine offensichtlichen Freunde und Gefährten gesehen werden wollten, weiß ich nicht, wie ich dich für dein Los angemessen selig preisen soll, der du für so ein Glück sogar noch ein Gehalt bekommen wirst. Ich meine, wenn du kein Prasser bist, dann reicht ungefähr .. .< - und nun nennt er einen sehr geringen Betrag, sehr gering nicht zuletzt auch verglichen mit deinen früheren Hoffnungen. (21) Nichtsdestoweniger mußt du dich damit zufrieden geben. Denn jetzt gibt es kein Entkommen mehr, du zappelst schon im Netz. Du wirst also den Mund halten und dir den Zügel anlegen lassen, und am Anfang wirst du dich gut an ihm fuhren lassen, weil er nicht sehr zieht und dir auch nicht die Haut aufreibt, bis du dich am Ende unversehens an ihn gewöhnt hast. In der Folge nun beneiden dich die Menschen, weil sie von draußen sehen, wie du dich sozusagen innerhalb der Absperrung aufhalten und ungehindert ein- und ausgehen darfst und einer von den wichtigen Leuten drinnen geworden bist. Hingegen vermagst du immer weniger zu sehen, weswegen sie dich für glücklich halten sollten, es sei denn, du bist ein Optimist, machst dir selbst etwas vor und bist stets bereit zu glauben, die Zukunft werde besser werden. Die Dinge gehen ganz anders, als du dir vorgestellt hast, und die Angelegenheit verläuft eher, wie das Sprichwort sagt, ä la Mandrobulos, indem sich alles zunehmend verringert und zurückentwickelt. (22) Langsam und allmählich, gleichsam als ob du jetzt im Dämmerlicht erste Konturen erkennst, fängst du an zu begreifen, daß jene goldenen Hoffnungen nichts anderes als goldschillernde Seifenblasen waren: hingegen schwer, real, nicht abzuschütteln und pausenlos die Mühen.

2

54

ZEITKRITISCHES

>Welche sind das?< wirst du mich vielleicht fragen. >Ich kann gar nicht einsehen, was an solchen Stellungen mühsam sein soll, und ich verstehe nicht, was du eigentlich mit den ermüdenden und unerträglichen Umständen meinst.« Nun, so hör mir zu, mein braver Mann! Du solltest allerdings nicht nur prüfen, ob es bei der Sache ermüdende Umstände gibt, sondern auch auf all das, was Schande macht, erniedrigt und überhaupt nach Sklaverei klingt, nicht nur mit halbem Ohr hinhören. (23) So mache dir zunächst klar, daß du dich von diesem Tag an nicht mehr für frei und edelgeboren zu halten brauchst. Wisse nämlich, daß du all das, deine Abstammung, deine Freiheit, deine Vorfahren, jenseits der Schwelle zurücklassen wirst, wenn du dich mit dem Betreten des Hauses in eine derartige Dienstbarkeit verkaufst. Denn die FREIHEIT wird nicht mit dir zusammen eintreten wollen, der du hineingehst, um so unedle und niedrige Tätigkeiten zu verrichten. Du wirst ein Sklave sein, auch wenn du diese Bezeichnung nicht gerne hören wirst, und nicht nur eines, sondern vieler Herren Sklave, das läßt sich nicht vermeiden, und du wirst schuften wie ein Tagelöhner, mit hängendem Kopf, von morgens bis abends und für einen Schinderlohn. Und weil du nicht von Kind an zusammen mit Frau KNECHTSCHAFT großgeworden bist, bist du ein Spätlerner, der erst weit im Erwachsenenalter ihr Schüler wird, und so wirst du dich nicht mit Ruhm beklekkern und deinem Herren auch nicht viel wert sein. Denn immer wieder schleicht sich die Erinnerung an die Freiheit heran und verdirbt dich, läßt dich bisweilen etepetete sein und deshalb in der Knechtschaft schlecht wegkommen. Nun glaubst du vielleicht, es genüge, damit du für einen Freien giltst, die Tatsache, daß du nicht der Sohn von Pyrrhias oder Zopyrion bist und auch nicht wie ein Bithynier vom Herold mit lauter Stimme verkauft worden bist. Aber wenn du dich, mein Bester, am Tag des Neumonds unter

VON DENEN, DIE SICH FÜR GELD V E R D I N G E N

255

Pyrrhias und Zopyrion mischst und genau wie die anderen Diener deine Hand ausstreckst und jene Summe, was auch immer dein Einkommen ist, in Empfang nimmst: Das ist die Versteigerung. Einen Herold brauchte es ja nicht für einen Mann, der sich selbst versteigert hat und der sich lange Jahre darum bemüht hat, einen Herrn für sich zu gewinnen. (24) Du Auswurf! würde ich dann noch hinzusetzen, und insbesondere zu jemandem, der Philosoph zu sein behauptet: Wenn dich ein Pirat auf See überfallen oder ein Räuber dich entführt und verkauft hätte, dann würdest du dich beklagen, wie wenig du das Unglück verdienst, in das du geraten bist, oder wenn sich jemand deiner bemächtigen, dich als Sklave bezeichnen und dich abführen würde, dann würdest du zu den Gesetzen schreien und dich wer weiß wie aufführen und wüten und unaufhörlich mit lauter Stimme >Himmel und Götter< brüllen - aber jetzt hast du dich in einem Alter, wo es sogar, wenn du von Geburt an Sklave wärst, an der Zeit wäre, nach Wegen in die Freiheit zu suchen, mitsamt allen deinen Qualitäten und deiner ganzen Klugheit für ein paar Obolen eilends selbst verkauft und hast dich auch vor jenen zahlreichen Ausfuhrungen des guten und wertvollen Piaton, des Chrysipp, des Aristoteles kein bißchen geniert, die die Freiheit loben, die Knechtschaft hingegen tadeln? Und schämst du dich denn gar nicht, mit Speichelleckern, Müßiggängern und Spaßmachern auf eine Stufe gestellt zu werden, unter so vielen Römern als einziger durch deinen griechischen Philosophenmantel als Fremder aufzufallen, die Sprache der Römer fehlerhaft zu stammeln, und darüber hinaus an lärmenden Festessen mit vielen Gästen teilzunehmen, einem bunt zusammengewürfelten Haufen, der größtenteils aus üblen Figuren besteht? Du sitzt unter ihnen, drechselst primitive Komplimente und trinkst ohne jedes Maß. Morgens stehst du auf ein Glockensignal hin auf, schüttelst die süßesten Träume ab,

z56

ZEITKRITISCHES

rennst auf und ab, den Dreck von gestern immer noch an den Beinen. Waren dir wirklich die Bohnen oder das wilde Gemüse so völlig ausgegangen, fehlte es dir so ganz und gar an Quellen mit kaltem Wasser, daß es in deiner Hilflosigkeit so weit mit dir gekommen ist? Nein, es liegt auf der Hand, daß es nicht die Gier nach Wasser und nach Bohnen, sondern die nach Kuchen, gebratenem Fleisch und lieblich duftendem Wein ist, die dich festhält: Der Angelhaken hat dich, wie beim Seewolf, genau an der richtigen Stelle durchbohrt, nämlich an deinem Gierschlund. Die Strafe für deine Naschhaftigkeit folgt auf dem Fuße, und wie die Affen machst du dich mit einem Ring um den Hals für die anderen zum Gespött, während du selbst im Luxus zu leben meinst, weil du dich an Feigen satt fressen kannst. Deine Freiheit und deine edle Abkunft sind zusammen mit deinen griechischen Phylen- und Phratriegenossen perdu und vollständig vergessen. (25) Man könnte ja noch zufrieden sein, wenn mit der ganzen Situation nur die Schande verbunden wäre, statt für einen Freien für einen Knecht gehalten zu werden, die Mühen aber nicht mit denen der echten Knechte zu vergleichen wären. Aber sieh einmal, ob deine Aufträge wirklich so viel weniger anstrengend sind als die eines Dromon und eines Tibeios. Der ursprüngliche und eigentliche Grund, warum er dich aufgenommen hat - er strebe nach Bildung und Belehrung, sagte er - , der ist ihm ganz egal. Wie sagt das Sprichwort: Was haben Esel und Lyra miteinander zu tun? Ja, in der Tat - siehst du das nicht? - , sie schmelzen dahin vor lauter Verlangen nach der Weisheit Homers, nach der Wortgewalt des Demosthenes, nach der Erhabenheit Piatons, und entfernt einmal einer aus ihren Seelen die Goldmünzen, das Silber und all die Gedanken, die sie darauf wenden, dann bleibt nichts übrig als Aufgeblasenheit, Nachlässigkeit, Wollust, Ausschweifung, Gewaltbereitschaft

VON DENEN, DIE SICH FÜR GELD V E R D I N G E N

257

und Ungebildetheit. Hierfür braucht er dich nun zwar überhaupt nicht, weil du aber einen langen Bart hast und einen ehrfurchteinflößenden Anblick bietest und deinen griechischen Mantel in so ordentlichen Falten trägst und weil alle wissen, daß du ein Grammatiker, ein Redner oder ein Philosoph bist, findet er, daß es ihm gut steht, wenn sich auch so jemand unter seine Begleiter und seine Ehrengarde mischt. Denn dadurch sieht es so aus, als interessiere er sich brennend für griechische Gelehrsamkeit und sei überhaupt eine wahrer Freund der Bildung. Du läufst mithin Gefahr, mein Braver, daß man statt deiner großartigen Darlegungen deinen Bart und deinen Mantel entlohnt. Es ist also unerläßlich, daß du stets mit ihm zusammen gesehen wirst und deshalb niemals fehlen darfst, sondern dich morgens gleich nach dem Aufstehen inmitten seiner Dienerschaft sehen läßt und dich nicht unerlaubt von der Truppe entfernst. Und er klopft dir ab und zu auf die Schulter und schwätzt mit dir, was ihm gerade so durch den Kopf geht: So demonstriert er allen, denen ihr begegnet, daß er nicht einmal auf der Straße die Musen vernachlässigt, sondern die Muße des Spaziergangs zu einem gutem Zweck verwendet. (26) Du Armer aber läufst herum, mal schnell, mal langsam, immer bergauf und bergab - so ist die Stadt nun mal, wie du weißt - , kommst ins Schwitzen und gerätst außer Atem, und während er sich drinnen mit einem seiner Freunde, dem Ziel seines Weges, unterhält, hast du nicht einmal einen Platz zum Hinsetzen und liest in deiner Verzweiflung das Buch, das du mitgebracht hast, im Stehen. Wenn dann, ohne daß du etwas zu essen oder zu trinken bekommen hättest, die Nacht hereinbricht, säuberst du dich mühsam und gehst zu einer völlig unmöglichen Zeit, gegen Mitternacht, zum Festessen, wo du unter den Anwesenden längst nicht mehr vergleichbare Ehre und Ansehen genießt, sondern wann immer jemand Neues hinzukommt,

258

ZEITKRITISCHES

heißt es eins weiter nach hinten mit dir. Und so liegst du bei Tisch, in die allerhinterste Ecke verbannt, nur noch als Zeuge von all den Gerichten, die an dir vorübergetragen werden; wie die Hunde nagst du die Knochen ab, wenn sie sich überhaupt bis zu dir verirren, oder - wenn die, die vor dir liegen, sie übersehen haben - die harten Malvenblätter, mit denen man die Speisen garniert, die du jedoch vor lauter Hunger gerne als Beilage essen wirst. Auch an anderen Bösartigkeiten besteht kein Mangel. Als einziger bekommst du kein Ei - es ist ja wirklich nicht nötig, daß du immer dasselbe bekommst wie die Ausländer und Fremden: das wäre ja ganz unvernünftig - und auch dein Vogel entspricht nicht den anderen Vögeln, sondern der deines Nachbarn ist dick und fett, deiner hingegen ein halbes Küken oder eine knochige Ente: ein entehrender Schlag ins Gesicht. Oft, wenn ein Gedeck für einen Gast fehlt, der plötzlich noch eingetroffen ist, räumt der Diener dir deines weg und stellt es schnell ihm hin, wobei er dir zumurmelt: >Du gehörst ja zum Haus.< Wenn in der Mitte des Saales ein dickbauchiges Schwein oder ein Hirsch zerteilt wird, dann mußt du auf jeden Fall den Vorschneider auf deiner Seite haben oder dich mit der Prometheusportion zufrieden geben: Knochen im Fettmantel. Daß vor dem Gast, der oberhalb von dir liegt, die Schüssel so lange stehenbleibt, bis er sich satt gegessen hat, an dir aber so schnell vorbeigereicht wird: Welcher freie Mann könnte das ertragen, und hätte er nur soviel Galle in sich wie ein Hirsch? Und dabei habe ich noch gar nicht erwähnt, daß, während die übrigen Gäste den lieblichsten und ältesten Wein genießen, du als einziger eine dickflüssige Plörre zu trinken bekommst, wobei du noch darauf achten mußt, stets aus einem silbernen oder goldenen Pokal zu trinken, damit du nicht durch seine Farbe als ein so ungeehrter Gast entlarvt wirst. Und wenn es wenigstens von dem bis zum Abwinken

VON D E N E N , DIE SICH FÜR GELD V E R D I N G E N

259

zu trinken gäbe! Aber da kannst du nun lange fragen, der Diener scheint einfach taub zu sein. (27) Verdruß bereitet dir vieles, mehr als viel, ja beinahe alles, besonders beispielsweise, wenn dich eine Tunte oder ein Tanzlehrer an Ansehen überholt oder so ein Männlein aus Alexandria, das Ioniker drischt. Wieso solltest du auch genauso viel wie Leute gelten, die bei solchen erotischen Tändeleien Hilfestellung geben und in ihrem Gewand Briefe bestellen? So liegst du dann also in einem Winkel des Festsaals, machst dich vor lauter Scham ganz klein und ächzst und stöhnst und bemitleidest dich und gibst Tyche die Schuld, die dich nur mit so wenig Charme benetzt hat. Du wärest gerne ein Dichter, glaube ich, ein Dichter von Liebesliedern, oder würdest gern wenigstens die Lieder eines anderen in der rechten Weise vortragen können. Denn du siehst ja, was man tun muß, um vorgezogen zu werden und Beachtung zu finden. Du kämest sogar damit zurecht, einen Magier oder Seher geben zu müssen, einen von der Sorte, die millionenschwere Erbschaften, Ämter und unglaubliche Reichtümer versprechen. Denn auch denen, du siehst es ja, geht es gut in ihren freundschaftlichen Beziehungen zum Hausherrn, und sie werden hoch geschätzt. Eine von diesen Rollen würdest du gerne spielen, um nicht verachtet und überflüssig zu sein; aber nicht einmal darin bist du Pechvogel überzeugend. So mußt du dich also ducken und schweigend ausharren, leise vor dich hin jammernd und von allen vernachlässigt. (28) Wenn dir ein Diener ins Ohr wispert, daß du als einziger dem kleinen Sklaven der Herrin bei seinem Tanz oder bei seinem Spiel auf der Kithara nicht applaudiert hast, dann ist das eine Sache, die leicht schlimme Folgen haben kann. Du mußt also, durstig wie ein gestrandeter Frosch, lauthals schreien, immer darauf bedacht, daß du dich unter allen den Bravorufern als Anführer hervortust, und du soll-

z6o

ZEITKRITISCHES

test auch öfter einmal, wenn die anderen still sind, selbst ein besonders fein gedrechseltes Lob spenden, das die schmeichlerische Absicht überdeutlich erkennen läßt. Daß jemand, der Hunger und, bei Zeus, auch Durst hat, sich parfümieren und bekränzen soll, das ist auch ziemlich lustig. Du siehst dann aus wie die mit Opfern behängte Grabstele eines frisch verstorbenen Toten. Auch über die gießt man ja Duftessenzen und bekränzt sie, während man selbst trinkt und das vorbereitete Essen verspeist. (29) Wenn dein Arbeitgeber obendrein zur Eifersucht neigt und seine Kinder hübsch oder seine Frau jung sind und du von Aphrodite und den Chariten nicht völlig verlassen bist, dann läßt sich die Lage kaum beruhigen, und es kann daraus durchaus eine ziemlich gefährliche Situation entstehen. Die Ohren und Augen des Großkönigs sind zahlreich, und sie sehen nicht nur die Wahrheit, sondern sie erfinden auch immer noch etwas hinzu, damit es nicht heißt, sie schliefen. Wie bei den persischen Festen mußt du also mit gesenktem Kopf bei Tisch liegen, immer in der Angst, daß dich ein Eunuch einer der Nebenfrauen des Großkönigs einen Blick zuwerfen sieht, während ein anderer Eunuch die ganze Zeit mit gespannten Bogen nur darauf wartet, den zu bestrafen, der gesehen hat, was er nicht hätte sehen dürfen, indem er ihm mitten beim Trinken einen Pfeil in die Zähne schießt. (30) Nun hast du das Mahl verlassen und ein bißchen geschlafen. Beim Hahnenschrei fährst du hoch und sprichst: >Ach ich armer und elender Wicht, wie schön waren doch früher meine Tage, die längst vergangen sind, die Freunde, das sorglose Leben, Ausschlafen nach Wunsch, Spaziergänge ohne Leine - in was für einen Abgrund habe ich mich da, und auch noch mit vollen Segeln, gestürzt! Wofür, ihr Götter? Und was ist schon dieses großartige Gehalt? Hätte ich mir denn nicht mehr als das auf andere Weise verschaf-

VON DENEN, DIE SICH FÜR GELD V E R D I N G E N

261

fen können und wäre doch noch frei und unabhängig? Nun aber ist das Sprichwort wahr geworden, ein Löwe an einem Bindfaden bin ich, werde hin- und hergezerrt, und, was am allertraurigsten ist, ich weiß nicht, wie man sich Beachtung verschafft, und es gelingt mir noch nicht einmal, beliebt zu sein. Ich bin ja in solchen Dingen ein blutiger Laie, und erst recht, wenn ich mich mit Männern vergleichen lassen muß, die das zu ihrem Beruf gemacht haben. Und somit bin ich ein Langweiler und ein Partyschreck und kann sie noch nicht einmal zum Lachen bringen. Ich verstehe, daß mein Anblick keine Freude für ihn ist, vor allem, wenn er mal so richtig über die Stränge schlagen möchte - dann wirke ich finster auf ihn. Und überhaupt kann ich mich ihm gar nicht anpassen. Wenn ich nämlich meine respektgebietende Haltung bewahre, dann bin ich in seinen Augen ein Spielverderber, gerade, daß er nicht vor mir davonläuft. Lächle ich hingegen und mache ein strahlendes Gesicht, dann verachtet er mich gleich und spuckt vor mir aus. Das Ganze ist so, als wenn jemand eine tragische Maske anlegte, um dann eine Komödie zu spielen. Uberhaupt, was für ein anderes Leben werde ich Nichtsnutz denn für mich selber leben, wenn ich mein gegenwärtiges für jemand anderen lebe?< (31) Während du noch so mit dir selber sprichst, ertönt die Glocke, und du mußt in die alte Mühle zurück und herumlaufen und herumstehen, und vorher mußt du dich noch zwischen den Beinen und in den Kniekehlen eincremen, wenn du bei der Arbeit durchhalten willst. Dann wieder ein ähnliches Abendessen, wieder zur selben Zeit. Deine Lebensweise hat sich gegenüber deinem früheren Dasein ins Gegenteil verkehrt, der wenige Schlaf, das Schwitzen und die Erschöpfung untergraben allmählich schon deine Gesundheit und bilden Schwindsucht, Lungenentzündung, Beinschmerzen oder die gute alte Fußgicht aus. Trotzdem hältst du durch, obwohl du in vielen Fällen lieber das Bett

262

ZEITKRITISCHES

hüten solltest, aber das erlaubt man dir nicht: Krankheit gilt als Ausflucht und Pflichtvergessenheit. Aus all diesen Gründen bist du ständig blaß und siehst beinahe so aus, als würdest du gleich tot umfallen. (32) Soweit zum Leben in der Stadt. Wenn du auch mal irgendwohin mit verreisen mußt - , nun, alles andere lasse ich aus: Daß du oft, wenn es regnet, als letzter ankommst - auch beim Wagen hast du nämlich das große Los gezogen! - und warten mußt, bis es keinen Platz mehr in der Herberge gibt und man dich mit dem Koch oder dem Kammerdiener der Herrin zusammenstopft, und man dir noch nicht mal reichlich Stroh aufschüttet. (33) Aber nichts hält mich zurück, dir die wirklich ziemlich witzige Geschichte zu erzählen, die mir Thesmopolis erzählt hat, du kennst ihn doch, den Stoiker. Sie ist ihm selbst passiert, und es läßt sich durchaus annehmen, daß dasselbe auch einem anderen passieren könnte. Er hatte eine Stellung bei einer reichen Frau, die in Saus und Braus lebte, eine von den wichtigen Persönlichkeiten der Stadt. Als sie nun auch einmal verreisen mußte, da passierte ihm, wie er erzählte, schon gleich am Anfang etwas außerordentlich Komisches, nämlich folgendes: Man habe ihm, immerhin einem Philosophen, nämlich als Reisegenossen so eine Tunte in den Wagen gesetzt, einen von denen, die sich die Beine epilieren und den Bart rasieren; den verehrte sie sehr, wie könnte es anders sein. Übrigens nannte er mir auch den Namen der Tunte: Schwälbchen habe man ihn genannt. Das war ja also nun schon einmal ein dolles Ding, einen alten Mann mit strengem und ernstem Gesicht und grauem Bart - du weißt doch, was Thesmopolis für einen langen und respekteinflößenden Bart hat! - neben jemanden zu setzen, der sich schminkt, der einen Augenbrauenstift benutzt, der mit den Augen klimpert und den Hals schief hält, nicht eine Schwalbe, bei Zeus, sondern eher eine Art gerupfter Bartgeier. Und hätte Thesmopolis ihn nicht

VON D E N E N , DIE SICH FÜR GELD VERDINGEN

263

sehr gebeten, dann hätte er sich sogar mit dem Haarnetz auf dem Kopf zu ihm gesetzt. Im übrigen mußte er den ganzen Weg über eine Menge an Unannehmlichkeiten ertragen, weil die Tunte ständig vor sich hinsummte und -trällerte und, wenn er ihn nicht zurückgehalten hätte, wahrscheinlich auch noch auf dem Wagen getanzt hätte. (34) Er habe dann noch einen anderen ähnlichen Auftrag bekommen. Die Frau ließ ihn kommen und sagte: >Thesmopolis, sei so gut, tu mir einen großen Gefallen, ohne zu widersprechen und ohne dich lange bitten zu lassen!< Als er natürlich alles zu tun versprach, da sagte sie: >Ich bitte dich um folgendes. Ich sehe ja, wie vertrauenswürdig du bist, wie aufmerksam, wie zärtlich: Bitte nimm mein Hündchen, du weißt doch, die Myrrhine, zu dir in den Wagen und paß gut auf sie auf und kümmere dich darum, daß ihr nichts abgeht. Die arme ist hochträchtig und kurz vor der Niederkunft. Diese verfluchten unbotmäßigen Diener vernachlässigen ja sogar mich selbst auf der Reise, geschweige denn, daß sie sich um sie kümmern. Du würdest mir wirklich einen großen Gefallen tun, das kannst du mir glauben, wenn du auf mein allerliebstes Herzenshündchen aufpassen würdest.< Sie bat so sehr und beinahe unter Tränen: Thesmopolis versprach es also. Eine ziemlich witzige Szene, das Hündchen, das dicht unter dem Bart aus dem Mantel hervorspitzte und ihn immer wieder anpinkelte - das hat Thesmopolis allerdings lieber ausgelassen - , mit hoher Stimme kläffte - so sind sie ja, diese Schoßhündchen aus Malta - , den Philosophenbart ableckte, am liebsten dann, wenn sich darin noch ein Rest der Suppe vom Vorabend befand. Und die Tunte, sein Reisegenosse, der bisweilen nicht ohne einen gewissen Esprit auch die anderen Gäste beim Symposion bespöttelte, sagte, als er einmal auch auf Thesmopolis einen Witz losließ: >Über Thesmopolis kann ich nur das eine

264

ZEITKRITISCHES

sagen, daß er sich v o m Stoiker, der er früher war, jetzt z u m Kyniker gemausert hat.< (35) Ich erfuhr noch, daß das Hündchen schließlich seinen W u r f in Thesmopolis' Mantel zur Welt gebracht hatte. So haben sie auf Kosten ihrer Angestellten ihren Spaß, schlimmer noch: so tun sie ihnen jede Schmach an, wobei sie sie in kleinen Schritten an ihre Ubergriffe gewöhnen. Ich kenne einen Redner, einen v o n der bissigen Sorte, der einmal auf Aufforderung während des Festessens gar nicht ungebildet deklamierte, ja sogar in sehr dichter und gedrechselter Sprache. Da lobte man ihn sehr, weil er unter Trinkenden seine Redezeit nicht nach der Wasseruhr, sondern nach Weinamphoren bemessen ließ, und dieses Wagstück, so hieß es, nahm er für zweihundert Drachmen auf sich. N u n mag das vielleicht alles so noch in Ordnung sein. Wenn der Reiche aber dichterische oder schriftstellerische Ambitionen hegt und beim Mahl seine Schöpfungen vorträgt, dann, gerade dann mußt du dich vor lauter Bravorufen und Applaus zerreißen und dir immer wieder neue Wendungen für deine Komplimente ausdenken. Es gibt auch welche, die möchten für ihre Schönheit bewundert werden und müssen deshalb unbedingt Adonis und Hyakinthos genannt werden, obwohl mancher von ihnen eine ellenlange Nase im Gesicht trägt. Machst du ihm aber kein Kompliment, dann giltst du als Neider und Intrigant und gehst sofort und geradewegs in die Steinbrüche des Dionysios. Außerdem müssen sie unbedingt weise und große Redner sein, und auch wenn sie gerade einen schlimmen Sprachschnitzer verbrochen haben, duften ihre Reden gerade deshalb nach Attika und Hymettos, und in Zukunft hat jeder so und nicht anders zu reden. (36) Indes läßt sich das Verhalten der Männer vielleicht noch ertragen. Die Frauen - auch die Frauen finden das ja gleichermaßen hochattraktiv, ein paar Intellektuelle gegen

VON D E N E N , DIE SICH FÜR GELD V E R D I N G E N

265

ein Gehalt um sich zu haben und als Teil ihres Gefolges; es gibt kaum ein Juwel, mit dem sie sich lieber geschmückt sehen, als wenn es heißt, wie intellektuell und philosophisch gebildet sie seien und daß sie Lieder dichten, die fast an Sappho herankommen auch die Frauen umgeben sich deshalb mit bezahlten Rhetoren, Grammatikern und Philosophen, zuhören aber - ja, wann? das ist auch so ein Witz tun sie ihnen nur beim Schminken und Frisieren oder beim Essen; sonst haben sie ja keine Zeit dafür. Oft kommt mitten in den Ausfuhrungen des Philosophen die Zofe herein und reicht ihrer Herrin einen Brief ihres Galans; jene Darlegungen über die Keuschheit müssen dann eben warten, bis sie ihm geantwortet hat und sich wieder der Vorlesung widmen kann. (37) Wenn einmal nach langer Zeit die Kronia oder die Panathenäen anstehen und dir ein armseliges Festmäntelchen oder ein durchlöchertes Chitönchen als Geschenk geschickt wird, dann muß es einen großen und aufwendigen Geleitzug dafür geben. Der erste Bote, der den Herrn gerade erst laut darüber hat nachdenken hören, eilt der guten Nachricht voraus und zieht, nachdem er seine Vorausankündigung losgeworden ist, mit einem nicht kleinen Trinkgeld wieder ab. Am folgenden Morgen kommen dreizehn, die es bringen, und jeder erzählt ausführlich, wie oft er es ins Gespräch gebracht habe, wie er ihn daran erinnert habe und wie er, als man ihm die Wahl überließ, das noch etwas schönere ausgesucht habe. Sie alle bekommen etwas und verlassen dich wieder, wobei sie sich noch darüber mockieren, daß du nicht mehr gegeben hast. (38) Dein Gehalt selbst liegt bei zwei oder vier Obolen, und wenn du es einforderst, hält man dich für beschwerlich und lästig. Damit du es überhaupt bekommst, mußt du ihm persönlich um den Bart gehen und ihn anflehen, bemühen mußt du dich auch - das ist allerdings eine ganz andere

266

ZEITKRITISCHES

Form der Bemühung ... - um den Wirtschafter; auch den Berater und Freund solltest du nicht vernachlässigen. Und das, was du dann bekommst, schuldest du schon dem Kleiderladen, dem Arzt oder einem Schuster. So sind dir ungeschenkt die Geschenke und ohne Nutzen. (39) Der Neider sind viele, und allmählich finden auch Verleumdungen ihren Weg zu den Ohren des Mannes, der unterdessen Bemerkungen, die gegen dich gerichtet sind, schon gar nicht ungern anhört. Er sieht ja, wie dich die fortwährenden Anstrengungen aufgerieben haben, daß du mühsam zum Dienst gehumpelt kommst und deine Kräfte dich verlassen haben, und wie die Gicht von dir Besitz ergreift. Was an dir vielversprechend und lohnend war, das hat er vollständig abgeerntet, deine fruchtbarsten Jahre ebenso wie die Zeit deiner blühendsten Gesundheit hat er vernichtet und dich zu einem löchrigen Wischlappen gemacht. Und jetzt hält er Umschau, auf welchem Misthaufen er dich möglichst schnell entsorgen kann und wie er jemanden anderen, der den Anstrengungen gewachsen ist, statt deiner ins Haus aufnehmen kann. Entweder wirft man dir jetzt vor, du habest dich mal an einen seiner jungen Diener herangemacht oder du, ein alter Mann, würdest die Zofe seiner Frau, ein junges Mädchen, verfuhren, oder irgend etwas anderes dieser Art, und dann wirst du bei Nacht und Nebel Hals über Kopf hinausgejagt und mußt, den Mantel über den Kopf, hinaus aus dem Haus, mittellos und mutterseelenallein, und zusätzlich zu deinem Alter hast du auch noch die schönste Gicht; was du früher einmal wußtest, das hast du in all den Jahren verlernt, und dann hast du dir auch ein Ränzlein angefressen, ein übles Ding, das sich weder füllen noch erweichen läßt. Denn der gierige Schlund verlangt seine gewohnten Mahlzeiten und wird böse, wenn er sich das abgewöhnen soll. (40) Jemand anderer stellt dich jetzt wohl tatsächlich nicht mehr ein, weil du über das passende Alter hinaus bist

VON D E N E N , DIE SICH FÜR GELD V E R D I N G E N

267

und alt gewordenen Pferden gleichst, von denen sich nicht einmal mehr die Haut noch verwerten läßt. Hinzu kommt, daß die deiner Verstoßung folgende üble Nachrede zur Übertreibung neigt und daher aus dir einen Ehebrecher oder Zauberer oder etwas anderes derartiges macht. Dem Ankläger, auch wenn er schweigt, schenkt man Glauben, du als Grieche hingegen bist ein Leichtfuß und hast eine natürliche Neigung zu jeder Art von Verbrechen. Wir sind ja alle so, glauben sie, und ich kann das auch gut verstehen. Ich meine nämlich den Grund für die schlechte Meinung zu kennen, die sie von uns haben. Denn viele von uns, die in ihre Haushalte eingetreten sind, haben ihnen, um ihre sonstige Nutzlosigkeit zu kaschieren, Orakel, Zaubertränke, Liebeszauber und Bannsprüche gegen ihre Feinde versprochen und behauptet, dafür seien sie ausgebildet; zu diesem Zweck wickeln sie sich in ihre Philosophenmäntel und lassen sich ziemlich bedeutend wirkende Bärte stehen. Natürlich hegen sie ähnliche Verdächtigungen gegen uns, wenn sie sehen, daß diejenigen, die sie für die besten hielten, solche Leute sind, und vor allem dann, wenn sie sich deren schmeichlerisches Getue bei den Festessen und beim sonstigen Zusammensein anschauen und ihr kriecherisches Gehabe, das nur auf Gewinn zielt. (41) Sind sie sie endlich los, dann hassen sie sie, verständlicherweise, und sie suchen sie auf jede Weise von Grund auf zu vernichten, wenn sie können. Sie denken sich nämlich, daß sie die zahlreichen Geheimnisse ihres Wesens und ihrer Lebensweise ausplaudern werden, kennen sie sie doch genau und haben sie nackt gesehen. Das schnürt ihnen nun vor Angst die Kehle zu. Denn sie gleichen alle sehr diesen wunderschönen Büchern: Außen haben sie goldene Knäufe und purpurne Einbände, in ihrem Innerem aber findet man Thyestes, der seine Kinder verschmaust, oder Odipus, der mit seiner Mutter schläft, oder Tereus, der zwei Schwestern

268

ZEITKRITISCHES

gleichzeitig heiratet. Sie sind genauso, prächtig und angesehen, innen aber verbergen sie unter ihrer purpurnen Oberfläche ganze Tragödien; und wenn du sie aufschlägst, dann stößt du in jedem von ihnen auf ein nicht unbedeutendes Drama des Euripides oder des Sophokles, außen jedoch ist duftender Purpur und die Knäufe sind aus Gold. Da sie sich dessen vollauf bewußt sind, argwöhnen sie voller Haß, ob nicht einer, der ihren Haushalt verläßt, sie aufgrund seiner intimen Kenntnis zum Helden einer Tragödie machen und die dann allen vortragen wird. (42) Doch will ich dir wie der bekannte Kebes ein Bild eines solchen Lebens zeichnen, damit du es dir anschauen und dir überlegen kannst, ob du eintreten sollst. Gern hätte ich die Hilfe eines Apelles, eines Parrhasios oder eines Aetion für meine Zeichnung in Anspruch genommen: Da es aber heutzutage unmöglich ist, einen solchen vorzüglichen Maler und Meister seiner Kunst zu finden, werde ich dir das Bild, so gut es geht, in Form einer Skizze präsentieren. So sollen nun auf der Leinwand große, vergoldete Propyläen erscheinen, die nicht unten in der Ebene liegen, sondern weit oberhalb auf einem Hügel, und der Aufstieg dauert lange und ist steil und schlüpfrig, so daß die Wanderer, wenn sie sich schon fast am Gipfel wähnen, oft noch einen Fehltritt tun und abstürzen. Drinnen sitze REICHTUM höchstpersönlich, ganz aus Gold, wie es scheint, und von vollendet liebreizender Gestalt, sein Liebhaber aber, der mit Mühe den Anstieg bewältigt hat und sich dem Tor nähert, soll voller Staunen auf das Gold starren. Ihn heiße HOFFNUNG willkommen, eine Frau mit ebenfalls hübschem Gesicht und in einem bunten Kleid, und führe ihn, der noch ganz verblüfft am Eingang steht, hinein. Von hier an gehe HOFFNUNG zwar stets voraus, es sollen ihn aber andere F r a u e n ü b e r n e h m e n , BETRUG u n d K N E C H T S C H A F T , u n d i h n

der PLACKEREI überantworten. Die traktiert den Armen lan-

VON D E N E N , DIE SICH FÜR GELD V E R D I N G E N

269

ge Zeit und überantwortet ihn schließlich dem ALTER: Da kränkelt er aber schon und ist welk und blaß. Zuletzt packt i h n GEWALT u n d t r e i b t i h n i n d i e A r m e d e r V E R Z W E I F L U N G .

Von diesem Augenblick an fliege HOFFNUNG davon und werde unsichtbar, und er werde hinausgeworfen, und zwar nicht mehr durch die goldene Vorhalle, durch die er hereinkam, sondern durch einen versteckten Hinterausgang: ein nackter, fettleibiger, bläßlicher Greis, der mit der einen Hand seine Scham bedeckt, während er sich mit der Rechten selbst an die Gurgel geht. Bei seinem Abgang komme ihm REUE entgegen, unter nutzlosen Tränen, die den Armen noch mehr vernichten. Damit sei das Bild vollendet. Du, mein bester Timokles, schau es dir jetzt genau und in allen Einzelheiten an und denke eingehend darüber nach, ob es gut für dich wäre, das Bild durch diese Tore zu betreten, durch jene rückwärtige Tür aber in Schimpf und Schande hinausgejagt zu werden. Was du aber auch immer tust, denk an das Wort des Weisen: »Die Schuld liegt nicht beim Gott, sondern bei dem, der die Wahl trifft.«

ANHANG

EINFÜHRUNG »Ich hatte vor kurzem aufgehört, die öffentlichen Schulen zu besuchen, und das Alter, wo der Knabe sich in den Jüngling verliert, beinahe erreicht, als mein Vater mit seinen Freunden zu Rate ging was für eine Profession er mich lernen lassen sollte. Die meisten erklärten sich sogleich gegen das Studieren; es erforderte, meinten sie, große Mühe, lange Zeit und nicht geringen Aufwand; es gehörten schon ziemlich glänzende Glücksumstände dazu; die unsrigen seien gering und bedürfen vielmehr einer schleunigen Abhilfe. Wenn ich ein Handwerk erlernte, so würde ich mich gar bald durch meine Kunst selbst ernähren können und nicht nötig haben, so ein großer Bursche wie ich schon sei, des Vaters Brot zu essen; ja, es würde nicht lange währen, so würde ich meinem Vater selbst zum Tröste sein und ihn durch meinen Erwerb unterstützen können.« (Lukian, Der Traum i) Der junge Mann, dessen einzuschlagender Bildungsweg hier - in der einzigartigen Gesamtübertragung Lukians durch Christoph Martin Wieland - v o n Freunden und Familienangehörigen diskutiert wird, folgt d e m wohlmeinenden Ratschlag und geht bei seinem Onkel in eine Steinmetzlehre. D o c h der Einstieg mißlingt: Schon am ersten Tag zerbricht er eine wertvolle Steinplatte, wird v o m Meister durchgeprügelt und läuft weinend nach Hause. In der Nacht hat er einen Traum: »Zwei Frauenspersonen faßten mich zu gleicher Zeit bei den Händen und zogen mich jede mit solcher Gewalt und Heftigkeit aufihre Seite, daß sie mich, weil keine die Schande haben wollte nachzugeben, beinahe darüber in Stücke zerrissen hätten. Bald wurde die eine Meister und hatte michfast ganz in ihrer Gewalt, bald darauffand ich mich wieder in den Armen der anderen. Beide schrien gewaltig aufeinander ein: Er ist mein, ich habe ein älteres Recht an ihm und laß ihn mir nicht nehmen! - Ergeht dich nichts an, du bemühst dich vergeblich, ihn mir wegzunehmen! Die erstere hatte ein arbeitsames und männliches Aussehen, ihre Haare waren schmutzig, ihre Hände voller Schwielen, ihr Rock hoch aufgeschürzt,

2

74

ANHANG

ihre ganze Person mit Kalk bestäubt; kurz, sie sab geradeso aus wie mein Onkel, wenn er Steine polierte. Die andere hingegen war eine Frau von feiner Gesichtsbildung, von edlem Anstand und zierlich gekleidet." Die beiden Traumfrauen einigen sich darauf, daß jede in einem eigenen Plädoyer ihre Vorzüge vorstellen soll. Die Arbeiterin ist die Steinmetzkunst. Sie verspricht dem jungen Mann ein Leben im Sinne des alten Ratschlags >Bleibe daheim und nähre dich redliche Die andere hingegen lockt ihn mit dem folgenden Angebot in ihre Arme: »Ich, mein Sohn, bin die Bildung. ... Folgst du mir, so werde ich dich vor allen Dingen mit allem, was die edelsten Menschen der Vorwelt Bewunderungswürdiges gesprochen, getan und geschrieben haben, und überhaupt mit allem, was wissenswert ist, bekannt machen; insbesondere aber werde ich dein edelstes Teil, dein Herz, mit Mäßigung, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Sanftmut, Billigkeit, Klugheit und Standhaftigkeit, mit der Liebe zum Schönen und mit Streben nach jeder Vollkommenheit zieren; denn diese Tugenden sind der Seele wahrer unvergänglicher Schmuck. Es soll dir nichts verborgen sein, was ehemals Denkwürdiges geschah, noch was jetzt geschehen muß; ja, du wirst durch mich sogar das Künftige vorhersehen: mit einem Worte, ich will dich in allen göttlichen und menschlichen Dingen, und zwar in kurzer Ztit, vollständig unterrichten." (Lukian, Der Traum 9.10) Da die Bildung dem Jüngling am Scheidewege auch noch mit nationalem und internationalem Ansehen, Reichtum und Macht als Resultat einer bei ihr zu absolvierenden Erziehung winkt und diese noch nicht einmal viel Lebenszeit beanspruchen soll, liegt auf der Hand, für wen er sich entscheidet. Bildung, griech. Jtaiôeia, und die Frage, wie man sie erwirbt und wie man sie zu leben hat, sind Themen, die den im 2. Jahrhundert nach Christus schreibenden Syrer Lukian aus Samosata in einem großen Teil seines umfangreichen Œuvres immer wieder beschäftigt haben. Den Grund fur diese Präokkupation hat man seit den 1980er Jahren recht

EINFÜHRUNG

275

eigentlich zu verstehen begonnen, als man in der Forschung Bildung als einen zentralen Faktor im soziopolitischen Gefiige der römischen Kaiserzeit erkannte. Paideia avanciert demnach seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert zunehmend zu einem Statussymbol der griechischsprachigen lokalen Oberschichten: Nur durch seine Bildung erweist ein Grieche, zumal wenn er sich noch eines entsprechenden familiären Hintergrundes und finanzieller Unabhängigkeit erfreuen kann, daß sein Anspruch auf Teilhabe an der politischen Macht legitim ist, nur durch seine Bildung erlangt er eine Autorität, die nicht nur in seinem lokalen Wirkungskreis, sondern auch in der römischen Provinzialverwaltung und schließlich am Hof der römischen Kaiser anerkannt wird. Es nimmt daher nicht wunder, daß die Intellektuellen dieser Zeit einander heftig befehden und sich gegenseitig Echtheit und Qualität ihrer Bildung bestreiten, daß sie eingehend darüber diskutieren, was im Mittelpunkt und was am Rande eines Bildungskanons zu stehen hat. Es erstaunt unter diesen Umständen auch nicht, daß Bildung bisweilen nur vorgetäuscht wird und daß es im ureigensten Interesse wirklich Gebildeter liegt, sich um die Entlarvung solcher Scharlatane zu bemühen. Die schillerndsten literarischen Verarbeitungen solcher Auseinandersetzungen hat uns Lukian hinterlassen. Paideias Angebot, das sie dem jungen Mann in seinem Traum macht, umfaßt zweierlei. Zum einen geht es um Wissen, und zwar vor allem um ein Wissen von der Vergangenheit, von dem, was, wie sie sagt, »die edelsten Menschen der Vorwelt Bewundernswürdiges gesprochen, getan und geschrieben haben«. Ein solches Wissen erwirbt man vor allem durch Lektüre von Werken der literarischen und historiographischen Tradition, und in der Tat ist intensive Lektüre in der Kaiserzeit eine, wenn nicht die bedeutsamste Quelle des Bildungswissens. Allerdings nimmt Paideia auch

2/6

ANHANG

eine Wertung vor: Nur das Bewunderungswürdige, das Wissenswerte, die Taten und Worte der edelsten Menschen dürfen Gegenstand der Bildung sein, und das bedeutet, daß aus der Fülle des Überlieferten eine sorgfältige und mit klaren, hierarchisierenden Wertungen operierende Auswahl getroffen, ein Kanon erstellt werden muß. Zum wichtigsten Bezugspunkt griechischer kaiserzeitlicher Gebildeter wird hier nun die belletristische, die rhetorische sowie die im weitesten Sinne historiographische Literatur der vorhellenistischen Epoche, also von Homer im späten 8. bis zu Demosthenes im 4. Jahrhundert v. Chr. Bei der Rezeption dieser Texte geht es dabei keineswegs nur darum, ihre Inhalte aufzunehmen und zu reaktualisieren (mimesis), sondern in hohem Maße auch um ihre sprachliche Aneignung: Der kaiserzeitliche Gebildete bedient sich in seinen gebildeten Äußerungen einer Sprache, die stark überformt ist durch den Einfluß der somit nun als klassisch empfundenen Literatur des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., vorzugsweise derjenigen, die zum Sprachraum Athens und Attikas gehört. Neben diesem spezifischen, am besten mit dem Schlagwort >Rhetorik< zu charakterisierenden Wissen ist aber in den Augen Paideias ein zweiter Bereich mindestens ebenso wichtig: die ethische Ausbildung: Es geht ihr, so sagt sie, um nicht weniger als um »Mäßigung, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Sanftmut, Billigkeit, Klugheit, Standhaftigkeit und die Liebe zum Schönen«, also um die Aneignung und Verinnerlichung eines werteorientierten Denkens. Damit beansprucht Paideia ein pädagogisches Feld, dessen systematische Bestellung in der paganen Antike grundsätzlich der Philosophie vorbehalten war. Selbstverständlich konnte man eine solche umfassende Systematik ebenfalls durch Lektüre der einschlägigen Klassiker der klassischen, hier auch der hellenistischen Philosophenschulen von den Sokratikern bis Epikur kennenlernen. Allerdings war es damit

EINFÜHRUNG

277

kaum getan. Denn ein ethisches Wissen bedeutet ja, daß die eigene Lebensführung von jenen Werten durchdrungen, nach ihnen ausgerichtet werden muß. Das geht nicht ohne einen geeigneten Lehrer, ja mehr noch, einen ständigen Begleiter, der seinen Zögling beobachtet und korrigierend in sein Leben eingreift: Es bedarf also eines Erziehers, im emphatischen Sinne des Wortes. Während der rhetorische Unterricht zum normalen schulischen Programm eines jungen Mitgliedes der Oberschicht gehörte, blieb der Gang zum Philosophielehrer denen vorbehalten, deren Eltern oder die selbst, als Erwachsene, auf eine solche theoretisch fundierte Vervollkommnung ihrer Persönlichkeit Wert legten. Der Philosoph, der im allgemeinen die Richtung einer der großen Schulen (Epikur, Stoa, Piatonismus, Peripatos) vertrat, stand in einem quasi zentrifugalen Verhältnis zur zeitgenössischen Gesellschaft und sah es als seine Aufgabe an, sozusagen von ihrem Rand aus falsche Einstellungen beim einzelnen wie in der Gemeinschaft zu tadeln und so auf Besserung hinzuwirken. Diese seine selbstgewählte und mit Verzichten verbundene Distanz bewirkte dabei, daß die Gesellschaft einer solchen, ihr grundsätzlich kritisch gegenüberstehenden Instanz überhaupt einigen Einfluß einzuräumen bereit war. Entsprechend wirkte der Philosoph auf seine Schüler vor allem vermittels seiner Persönlichkeit und der Glaubwürdigkeit, der Autorität und dem Charisma, mit denen er seine Ratschläge zur Lebensführung untermauern konnte. In einigen Fällen erlangten Philosophen den Nimbus eines Weisen, ja eines >heiligen Mannesidealen< Exponenten: den Sophisten. Aus wohlhabender Familie stammend und mit den Erfordernissen der Paideia eingehend vertraut, personifizierte er die klassizistische Bildung, insbesondere ihre literarrhetorische Seite, in Reinform. Er reiste durch die Städte der Oikumene und hielt vor einem oft großen und durchaus auch sachkundigen Publikum deklamatorische Prunk- und Schaureden (epideixeis), in denen das Ideal der mimesis der klassischen Literatur, nun aber ohne realpolitischen Anlaß oder Zweck, zur Perfektion gesteigert vorgeführt wurde. Der Begriff des >KonzertrednersBetrachter< mit einem Bild zu konfrontieren, das er zwar eingehend beschreibt, aber nicht versteht, das ihn also vor ein Rätsel stellt. Als zweite Figur tritt dann ein Erklärer, ein Hermeneut, auf, der das Rätsel löst, das Bild deutet. Anschaulichkeit wird dabei durch die Inszenierung der Prozesse des Wahrnehmens, Verstehens und Beschreibens erreicht; zugleich bietet diese Herangehensweise die Möglichkeit, den medialen Unterschied von Sprache und Bild zu hinterfragen, der darin besteht, daß der Text die Elemente des Bildes in eine narrative Sequenz einschreibt, also etwas leistet, was das Bild an sich und für sich genommen nicht leisten kann. Solche Reflexionen stehen im Zentrum der Frage nach dem Wesen und den Möglichkeiten der Paideia. Denn die Qualität der verbalen Reaktion auf die Konfrontation mit einem schönen Monument - ob dies ein Kunstgegenstand oder ein literarischer Text der klassischen Tradition ist kann durchaus die Güte der Bildung des Sprechers anzeigen. Dies ist Thema des ersten Textes des zweiten Abschnitts. In Uber den Saal (II 1) heißt es schon eingangs, daß

EINFÜHRUNG

283

ein Gebildeter, der über einige Routine im öffentlichen Reden verfuge, ein Monument wie einen architektonisch vollendet konstruierten und mit reichem und erlesenem Bilderschmuck ausgestatteten Saal durch eine Rede in ihm würdigen müsse, nicht hingegen wie ein Laie bloß anstaunen dürfe. Dabei stellt der Hinweis auf die harmonische Konstruktion des Saales einerseits, seine Ausstattung mit Bildern andererseits schon a priori zumindest implizit eine ästhetische Affinität zwischen Visualität und Verbalität her: Der Konstruktion des Raumes entsprechen eine elaborierte Syntax und ein harmonischer Aufbau des Textes, den Bildern die sorgfältige Semantik - all dies sind Themen, die seit jeher in der Stiltheorie eine wichtige Rolle spielen. Doch tritt hier eine neue und aufregende Frage in den Blick, welche Korrespondenzen es nämlich zwischen Bildern und Worten jenseits der klassischen Verhältnisse von Illustration und Deskription geben könne. Was Bilder und was Worte jeweils für sich genommen zu leisten vermögen und auf welche Weisen sie miteinander in Wechselwirkung treten können, wird in diesem Text von zwei Sprechern kontrovers, jedoch ergebnisoffen diskutiert, da eine abschließende Festlegung vermieden wird. Dies sollte man im Sinne eines Strebens nach einer aktiven Deutungstätigkeit des Rezipienten verstehen: Lukian liefert seinen Rezipienten keine fertigen Ergebnisse seines Denkens, sondern fordert sie auf, ihre eigene Bildung zu den präsentierten Positionen ins Verhältnis zu setzen: Erst aus einer solchen Eigentätigkeit entsteht ja Paideia, die eben nicht als bloßer passiver Wissensspeicher aufgefaßt werden darf. Uberhaupt spricht Lukian über die Frage, welche ästhetische Leistungsfähigkeit Sprache insgesamt besitzt, sehr gern in der Form einer wie auch immer gearteten Gegenüberstellung von Text und Bild. Das wird vor allem deutlich in dem Schriftenpaar Die Bilder (II 2) und Die Verteidigung der Bilder

284

ANHANG

(II 3). Ausgangspunkt ist hier der Versuch des Lykinos, seinem Freund Polystratos die Schönheit einer vorbeigehenden Adligen zu beschreiben. Zu diesem Zweck konstruiert er ein sprachliches Puzzle von Verweisen auf klassische weibliche Skulpturen., dessen Angemessenheit als ästhetisches Ensemble dann auf vielfältige Weise ergänzt, aber auch hinterfragt und diskutiert wird. Nicht nur die Fähigkeit der Sprache, Wirklichkeit abzubilden, sondern auch die Fähigkeit der Kunst zur Produktion und Reproduktion von Schönheit steht hier auf dem Prüfstand. Wenn Lukian dabei auf der Sprache als einem nachahmenden Zeichensystem insistiert, so steht dies natürlich in engem Zusammenhang mit der zentralen Bildungstechnik der mimesis der als idealschön und ideal-vollendet geltenden klassischen Literatur und Kunst und mit Überlegungen, wie sich diese >Nachahmung< selbst vervollkommnen und weiterentwickeln läßt. Dies ist eine Problematik, die in Texten der Kaiserzeit nicht selten, allerdings oft mehr implizit als explizit vermittels der Auseinandersetzung mit Bildern erörtert wird; zu nennen wären etwa Achilleus Tatios und Longos, die die Handlungen ihrer Romane aus der Betrachtung eines Bildes hervorgehen lassen, oder Flavius Philostratos, der in seinen Bildern eine ganze Galerie beschreibend durchschreitet.

Lukian

knüpft hier also an den ästhetischen Diskurs seiner Zeit an. Unter solchen Prämissen wird natürlich >Originalität< kritisch betrachtet: Erfindung v o n noch nie Dagewesenem, paradigmatisch-thematische

Innovativität gilt jedenfalls in

dieser Epoche nicht wie heute als bereits grundsätzlich positives Merkmal v o n Kunst. Lukian spielt diese konzeptionelle Debatte exemplarisch in seinem kurzen Traktat An den, der mich einen literarischen Prometheus genannt hat (II 4) durch und vertritt ausdrücklich die Meinung, daß schierer Einfallsreichtum als Wert an sich hinter der ästhetischen Qualität eines Kunstwerkes weit zurücktritt. Mit >ästheti-

EINFÜHRUNG

285

scher Qualität ist dabei mimetische Exzellenz gemeint, die disparate sprachlich-stilistische wie rhetorische und gedankliche Qualitäten der imitierten Gegenstände in ästhetisch spannungsvollen Kombinationen noch zu steigern vermag. Seinen eigenen Beitrag hat Lukian selbst dabei vor allem im Erschaffen eines bisher nie dagewesenen Hybridgenres - des komischen Dialogs als einer Synthese aus Komödie und philosophischem Gespräch - gesehen. Repräsentative Exemplare dieser neuen Gattung sind etwa Das Gastmahl (IV 2) oder Das Schiff (TV 4), in denen das Dialogische die Führung übernimmt, oder Texte wie Gespräche unter Toten (III 1), deren elementare Struktur eher der dramatischen Gattung Komödie nachempfunden ist. Die Gespräche unter Toten, die hier in einer Auswahl von neun (von insgesamt 30) Gesprächen den dritten Abschnitt einleiten, lassen ohne jede narrative Rahmung und auch, sieht man von den kurzen, nur die dramatispersonae nennenden Titeln ab (deren Originalität fraglich ist), ohne jeden Paratext in kleinen, oft nur eine halbe Seite langen Miniaturdramoletten Gestalten des griechischen Mythos, aber auch historische Persönlichkeiten und bisweilen sogar Zeitgenossen auftreten. Diese Kleinstdramen verfugen nicht eigentlich selbst über einen Plot, sondern wirken eher wie Ausschnitte aus einem mitgehörten Gespräch, das aber oft dramatischen Charakter gewinnt, wenn der Rezipient sich raumzeitliche Aspekte vorstellen muß, und diese Notwendigkeit besteht sehr häufig, etwa weil das Gespräch an einem bestimmten Ort vorgestellt wird, der bestenfalls aufgerufen, nicht aber in Form einer Beschreibung präsentiert wird. Endgültig Bühnencharakter zeigen die Gespräche dann, wenn, wie in III 1.7, eine große Zahl von Personen einbezogen ist, ein Ortswechsel (Fahrt in Charons Nachen) stattfindet oder es zu begleitenden Handlungen (Ablegen von Gepäck, Rasur des Philosophen) kommt. Thema nahezu aller

286

ANHANG

Gespräche ist die Ankunft oder der Aufenthalt der genannten Gestalten im Hades, wo ihr Leben oder auch ihre aktuelle Einstellung dazu geprüft und meistens als falsch erwiesen und verhöhnt wird. Der phantastische Handlungsort >Unterwelt< stellt hier ebenso wie das Moment des personengebundenen Spotts und der teilweise derben Beschimpfungen eine deutliche Bezugnahme auf die attische Komödie des 5. Jahrhunderts v. Chr. dar (man denke beispielsweise an die Frösche des Aristophanes). Da sich die Auseinandersetzungen aber um die ethisch richtige Einstellung zu Leben und Sterben, um die Bewertung von Lebensleistungen und um moralisch angemessenes Verhalten drehen, ist zugleich auch ein Element der philosophischen Anweisung zum rechten Leben integriert. In der Tat läßt sich hier also literarhistorisch von einer Hybridgattung sprechen. Von der Gattung her eng verbunden mit den Gesprächen unter Göttern sind zwei weitere Textcorpora Lukians, die hier ebenfalls durch Auszüge repräsentiert sind: die Gespräche unter Meergöttern (III 2) und die Gespräche unter Göttern (III 3). Mit den Gesprächen unter Toten haben sie die quasi paratext- und rahmenlose Dialogform gemeinsam: Als Rezipienten belauschen wir nun nicht Verstorbene, sondern unsterbliche Götter, die sich zufällig ergebende Gespräche zusammenfuhren. Dem gewandelten Personal entsprechend steht hier kaum je eine ethische Fragestellung im engeren Sinne im Zentrum, und auch die komische Perspektive konzentriert sich letztlich darauf, diese höheren Wesen einer anderen, allen Kümmernissen doch eigentlich entrückten Welt plötzlich in nur allzu bekannte, geradezu menschlich scheinende Streitereien und Eifersüchteleien und in die uns so gewohnten Alltagssorgen, gewissermaßen in Standardsituationen von Erotik, Trauer, Schmerz und Tod verwickelt zu sehen. Lukians Raffinesse besteht darin, vertraute Motive des Mythos so zu präsentieren, daß sie

EINFÜHRUNG

287

alles Hehre und Abgehobene verlieren: Die Götter werden sozusagen zu unseren Nachbarn, ihre Welt verschmilzt mit unserer Welt. Das aber läßt sich nun ebensogut als Abwertung der göttlichen Wesen wie als Aufwertung des menschlichen Daseins lesen. Effekt der Gespräche unter Meergöttern wie der Gespräche unter Göttern ist daher eine Annäherung von menschlicher und göttlicher Ebene, nicht etwa, wie Lukian im Laufe seiner Rezeption immer wieder vorgeworfen wurde, eine Satire auf die Götter: Denn wenn wir über die Götter, wie sie sich uns hier vorstellen, lachen wollen, dann muß dieses Lachen in allererster Linie uns selbst und unserem eigenen Leben gelten. Diese Komik verbindet sich mit einer weiteren Eigenheit der Gespräche, die mit ihrer beschriebenen dramatischen Perspektive zusammenhängt. Der in ihnen jeweils verhandelte Mythos wird nämlich auf thematische Mikroeinheiten reduziert: Nie - wie es eben geht, wenn man fremde Gespräche belauscht - erfahren wir Rezipienten die >ganze< Geschichte, stets müssen wir den größten Teil des zum Verständnis dieser mythischen Vignetten nötigen Bildungswissens selbst liefern. Der Rezipient verbindet also beim Lesen seine Bildungs- und seine Alltagserfahrung miteinander, er überformt sein alltägliches Dasein durch mythische Bilder und reichert sein mythologisches Wissen durch seine Lebenserfahrung an. Hier geschieht mithin etwas für das Verständnis der soziokulturellen Dynamik von paideia höchst Bedeutsames. Wenn nämlich Bildung eben keine Rolle oder Maske ist, die man zu bestimmten Gelegenheiten tragen, aber auch ablegen kann, sondern ein konstituierendes Moment des gesamten Lebensvollzugs darstellt und die Wahrnehmung des Gebildeten von sich selbst und von seiner Stellung in der Welt bestimmt, dann tragen die Gespräche zum Erreichen dieses Bildungsideals insofern bei, als sie die von den pepaideumenoi im Leben gespielten Rollen und erlebten Si-

288

ANHANG

tuationen mit denen der Figuren des Bildungsmythos ineinssetzen und so ihre Bildungserinnerung in ihre Lebenserinnerung integrieren. Von hier aus, dem Rezipienten als Gestalter seines eigenen Lebens in und mit der Paideia, läßt sich eine Brücke zum vierten Abschnitt schlagen. Er enthält vier Texte, die vier verschiedene Typen von Bildungsträgern präsentieren und ihr Versagen inszenieren. Denn weder der Philosoph Nigrinos (Nigrinos (IV i)) noch seine Kollegen, die sich zum Hochzeitsmahl im Haus des reichen Aristainetos versammeln (Das Gastmahl oder Die Lapithen (IV 2)), noch der modernistische Rhetor, der sich anschickt, einen neuen Adepten zu unterrichten (Der Rhetoriklehrer (IV 3)), noch schließlich die drei ganz normalen Bürger wie Du und Ich, die beim Anblick eines großen und reich beladenen Getreidefrachters in schwärmerisches Träumen geraten und einander ihre innersten Wünsche nach Reichtum und Macht gestehen (Das Schiff oder Die Wünsche (IV 4), haben die Bildung, die sie in ihrem Leben bisher erworben haben, so tief verinnerlicht, daß sich ihre Weltsicht und ihre Lebensführung unangefochten daran orientieren würden und sie in souveräner Selbstbeherrschung, den Verlockungen der Welt lächelnd überlegen, durchs Leben gingen. Gleichwohl gießt Lukian nicht nur einfach von der hohen Warte des selbst unangreifbaren Satirikers seinen Spott über Mitmenschen aus, die den hohen ethischen wie intellektuellen Normen der Paideia nicht gerecht werden. Die Figuren, aus deren Perspektive erzählt, der Tadel geäußert wird - im Gastmahl und im Schiff ist es der bereits erwähnte Lykinos - , sind selbst keineswegs Lichtgestalten. So ist beispielsweise ihre Kritik und vor allem die Art und Weise, in der sie sie vortragen, pädagogisch unproduktiv. Der zynische Haßausbruch etwa des Rhetorikers im Rhetoriklehrer gegen seine Konkurrenz wird an deren Defiziten nichts ändern, da er

EINFÜHRUNG

289

selbst nicht klar macht, worin denn eigentlich seine eigenen Qualitäten bestehen, die er nicht nur nicht hinterfragt, sondern auch gar nicht recht darlegt. Genauso hält Lykinos im Schiff seinen Freunden gegenüber selbst raffiniert so lange mit seinen eigenen Wunschvorstellungen zurück, bis die Gruppe vom Piräus in die Stadt zurückgekehrt ist und auseinandergeht: Er selbst hat sich also keiner Kritik aussetzen müssen, hat es vermieden, seine Vorstellungen - und bestünden sie denn tatsächlich in kynischer Autarkie und Wunschlosigkeit - auf den Prüfstand der anderslautenden communis opinio stellen zu lassen. Ein Sympathieträger oder wenigstens ein wirklicher Denkhelfer wie der mit seinem Namen ja aufgerufene Sokrates (s.o.) ist er jedenfalls in diesem Text nicht, und auch im Gastmahl, in dem die Auseinandersetzungen der betrunkenen Philosophen schließlich in eine wilde Schlägerei münden, bleibt er nur stiller und konsternierter Beobachter, ohne an die geistige Souveränität des Sokrates in dem hier aufgegriffenen großen Vorbildtext, Piatons Symposion, auch nur ansatzweise anzuknüpfen. In all dem mag man eine gewisse selbstironische Abgründigkeit erblicken, gleichwohl weniger des Lykinos als vielmehr seines Autors Lukian, der, indem er diese Figur gerade so erschafft, deutlich macht, daß er nicht als moralischer Richter oder auch nur als moralische Autorität aufzutreten gedenkt. Vergleichbar ironisch wird im Nigrinos der Berichterstatter präsentiert: Sein Defekt besteht darin, der unerträglichen und verbosen Selbstbeweihräucherung des Philosophen mit falsch verstandenem Respekt auf den Leim zu gehen und zu allen selbstgerechten Übertreibungen des Meisters stets nur gläubig zu nicken. Zwischen diesen Bildungshaltungen muß der Leser am Ende selbst seinen Weg finden, bekommt die richtige Art und Weise einer im emphatischen Sinne >gebildeten< Lebensführung nicht auf dem Silbertablett serviert, sondern

290

ANHANG

ist aufgefordert, sich seiner eigenen Urteilskraft und seines eigenen Gestaltungsvermögens zu bedienen. Zugleich präsentiert sich Lukian in dieser Textauswahl auch als brillanter und vielseitiger Stilist, der seine Darstellung in feinen literarischen Abstufungen - dem Bericht (Nigrinos), der äußerst lebhaften indirekt dialogischen Wiedergabe eines Geschehens (Gastmahl), der pamphletistischen Invektive (Rhetoriklehrer), dem partiell dramatisierten Gespräch (Schiff) - zu inszenieren weiß. Weniger an den polaren Paradigmen - an den extremen Exponenten der Paideiakultur wie dem >Philosoph< oder dem >Sophist< - orientierte Figuren, sondern eher die >A11tagsgebildetenKleinigkeitDiatribe< an. Mit diesem Begriff bezeichnet man die ungefähr seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert geläufige populärphilosophische Erörterung (die in der Tat später bei der Entstehung der christlichen Predigt Pate gestanden hat) von Fragen der lebensnahen Moral, wobei sich der Vortragende zumeist einer oft derben, drastisch-plakativen und lebhaften Darstellungsweise bediente. Fast alle Präsentationsverfahren, die Lukian hier in reichem Maße zur Anwendung bringt, hat er dort schon vorgefunden, für seine weniger schulphilosophisch gebundenen als vielmehr allgemein den Stand des lohnabhängigen Gebildeten betreffenden Darlegungen adaptiert, dabei eingehend ausgearbeitet und schließlich, vergleicht man diesen Text mit den erhaltenen Diatribenresten, umfassend ästhetisch perfektioniert: Kurze, parataktische Sätze; Pointenbildung; rhetorische Fragen; eingestreute Anekdoten; dialogische Elemente; fingierte Einwürfe; Auftritte allegorischer Figuren; ironische Darstellungsweise; Verwendung bekannter Zitate; rasche Häufung von Argumenten anstelle eingehender Vertiefung. Ein bedeutender Vertreter dieser Gattung war im dritten vorchristlichen Jahrhundert Menippos aus Gadara, dessen Schriften zwar nicht erhalten sind, den Lukian aber als Dialogteilnehmer in den Gesprächen unter Toten (III i) auftreten und Positionen vertreten läßt, die vorzüglich zu den üblichen Themen der Diatribe Reichtum und Armut, Bedeutung von Ruhm, Glück und Unglück, Vorbereitung auf den Tod - passen. Nichtsdestoweniger muß man sich hüten, Lukian solcher Auslassungen wegen zu einem Romkritiker und Sozialsatiriker reinsten Wassers zu erklären. Es geht bei ihm selten ohne eine selbstironische Geste ab, und auch im Falle dieses

EINFÜHRUNG

m

Textes sollte der Leser wissen, daß Lukian in einem weiteren Text, der Verteidigungsrede (Apologia; nicht in diesem Band), geradezu eine Gegendarstellung zu seiner hier vorgebrachten Schelte verfaßt hat. Die hier schon mehrfach konstatierte Lukianische Denkfigur, daß Kritik immer auch Selbstkritik ist und daß die satirische Attacke von dem Wissen um die eigene Fragwürdigkeit nie absehen kann, muß also auch für ein angemessenes Verständnis dieses Textes berücksichtigt werden. Lukian ist mithin in erster Linie ein eminenter Gebildeter seiner Zeit, ein vorzüglicher pepaideuménos, dessen Einfluß auf seine zeitgenössische Bildungskultur insgesamt eher indirekt in seiner literarrhetorischen Innovativität, nämlich der gekonnten und gewagte ästhetische Konstruktionen entwerfenden Mimesis der literarischen Tradition in ihrer ganzen Breite bestanden haben dürfte. Dies setzt einen Leser voraus, der nicht nur passiv genießend rezipiert, sondern die ihm zugewiesene aktive Rolle annimmt, damit seine eigene Paideia einbringt und sie auf diese Weise zugleich formt und entwickelt. Dies zeigt sich gerade auch an der literarischen Invention, auf die Lukian, wie dargelegt, besonders stolz war: Die Kombination von Komik und Philosophie war von der Sache her zu seiner Zeit nicht neu, seine spezifische literarische Ausgestaltung dieser >serio-komischen< Tradition hingegen war es durchaus, und es war, wie der Literarische Prometheus deutlich formuliert, diese Zugehörigkeit zu einer ästhetischen Avantgarde, der Lukian sein Renommé verdanken wollte. Auch seine meist implizit gegebene Ästhetik und Poetik darf als avanciert angesehen werden, wie etwa in seiner Diskussion der spezifischen Leistungsfähigkeit von Sprache und Bild in den beiden BilderDialogen deutlich wird, wo er Fragen von Medialität und Intermedialität streift, die auch in den heutigen Geisteswissenschaften ein hohes Maß an Aktualität besitzen.

294

ANHANG

Lukian hat im Humanismus und in der Renaissance zu den meistgelesenen antiken Schriftstellern gehört. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfuhr er aus unterschiedlichen Gründen - ihm wurde seine scheinbar mangelnde political correctness vorgeworfen, er wurde (wie die gesamte Literatur seines Zeitalters) als literarisch epigonal und oberflächlich kritisiert und verächtlich gemacht; aber auch antisemitische Ressentiments lassen sich ab und an zwischen den Zeilen lesen - eine starke Abwertung. Erst seit den 50er, dann verstärkt seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist Lukian mitsamt seiner Epoche zunehmend wieder ins Blickfeld der wissenschaftlichen Öffentlichkeit getreten, mit einem vorläufigen Höhepunkt in den späten 90er Jahren. Die vorliegende Ubersetzung einer Auswahl seiner Schriften versucht, auf verschiedene Weise dem in der altertumswissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Autor und seiner Epoche erreichten Wissensstand gerecht zu werden. In den Erläuterungen werden insbesondere Anspielungen auf die literarische Tradition möglichst häufig nicht nur nachgewiesen, sondern es wird versucht, Lukians ausgefeilte Technik sichtbar zu machen, die darin besteht, auch den ursprünglichen Kontext einer Anspielung in seine Darstellung indirekt miteinzubeziehen. D e n n es zeigt sich ja gerade hier, daß die Lektüre einen gewissermaßen mitkonstruierenden Leser verlangt. Das ausfuhrlich gehaltene Glossar soll nicht nur bei Lukian genannte Orte und Personen identifizieren, sondern kann auch als eine Art kleines >Wörterbuch des gebildeten Wissens< gelesen werden, das Lukian bei seinen zeitgenössischen Lesern offensichtlich voraussetzen durfte. Die Übersetzung selbst schließlich versteht sich nicht eigentlich als dokumentarisch, sondern unternimmt den Versuch, dem gedrängten, pointierten, engagierten und doch immer eleganten Stil Lukians im Deutschen gerecht zu werden. Lukians Epoche war geprägt von einer Kultur des Lesens, aber

EINFÜHRUNG

m

auch des Vortrags, der Diskussion, des Gesprächs, kurz: von einer Kultur intensiver Mündlichkeit, und auch sie ist ein durchgängiges stilistisches Merkmal der Texte Lukians. Dies wiederzugeben hat sich daher auch der Ubersetzer verpflichtet gefühlt.

ERLÄUTERUNGEN In den Übersetzungen sind mit

. . ) Stellen bezeichnet, wo

im überlieferten Text Ergänzungen notwendig sind, mit [ . . . ] Stellen, wo Text aus der Uberlieferung gestrichen werden sollte.

I

R h e t o r i s c h e Fingerübungen ... u n d m e h r

i

Der Tyrannenmörder 1 Mittyrannenmörder: Es ist ein Zeichen für Lukians ironisches Spiel mit der Gattung der sophistischen Epideixis (Gelegenheitsrede), daß er vermittels solcher, die Fiktion sprengender, Begriffe, wie sie im Text noch mehrfach auftauchen (20, 21), die Geläufigkeit des Deklamationsthemas >Tyrannenmord< (s. Einleitung) witzig aufs Korn nimmt. 8 Henker: Hier ist gegen MacLeod mit Burmeister und Jacobitz ör||nov äXXov netä xryv oi)ndelikate< und interessante Erzählung; vgl. Das Gastmahl 2 (in diesem Band IV 2). 16 bis zur Sättigung durchtränkt: Hier zitiert Polystratos Piatons >Färbergleichnis< aus Staat 4,429d~43ob: Um gesetzestreue Bürger heranzuziehen, bedarf es einer eingehenden vorherigen Erziehung durch Musik und Gymnastik, ebenso wie Wolle, die gefärbt werden soll, vorbereitet werden muß, damit die Farbe sich später nicht auswäscht. 17 Olympier: Gemeint ist der athenische Staatsmann Perikles. 18 Dichterin von Lesbos: Gemeint ist Sappho. was Sokrates an ihr rühmte: In Piatons Gastmahl initiiert Diotima Sokrates in das Wesen der wahren Erotik, die sich von der Liebe zum schönen Körper zur Liebe zur Idee des Schönen aufschwingt. 22 jenes homerische Wort: Anspielung auf Homer, Ilias 9,389 f. Homer: Zitat aus Homer, Ilias 1,115. 3

Die Verteidigung der Bilder 3 Kothurne: Theaterschuhe mit hoher Sohle, die den Schauspielern mehr Größe und dadurch bessere Sichtbarkeit verschafften. 7 Maß: Der Gedanke, daß in allen menschlichen Bereichen ein bestimmtes Maß an Größe, Ausdehnung und Intensität nicht über-

ZU A N M E R K U N G E N Z U R L I T E R A R I S C H E N Ä S T E H T I K 301

schritten werden darf, um nicht der Selbstüberschätzung (Hybris) zu verfallen, ist zentral für das gesamte griechische Denken. 8 Göttin auf Knidos ...: Gemeint sind Praxiteles' und Alkamenes' Kultbilder der Aphrodite, die Lykinos in Die Bilder 4 zur Beschreibung der schönen Panthea heranzieht. am Ende des Buches: Hier spielt Lukian mit dem fiktionalen Status der Bilder. Denn tatsächlich war es Polystratos gewesen, der in Die Bilder 21 diese Qualitäten der Panthea gepriesen hatte. Somit betrachtet er aus der Perspektive der Verteidigung der Bilder sein Auftreten im Rahmen der Bilder als das einer literarischen Figur aus der Feder des Lykinos. Erzähltheoretisch läßt sich daher bei einer solchen Verschränkung der narrativen Ebenen von einer Metalepse sprechen; vergleichbar ist Polystratos' Argumentation in 12. 10 Schub: Die Sentenz ist klassisch bei Horaz, Epistulae 1,10,42 f. belegt. Es ist durchaus denkbar, daß Lukian auch bei einem lateinischen Autor geschöpft hat. Das Bild wird in 18 wieder aufgegriffen. 11 ob es wahr ist: Frauen hatten keinen Zutritt zur Altis von Olympia. Daher kann Panthea die Richtigkeit dieses Gerüchts nicht selbst überprüfen. Hellanodiken: Aufseher der Sportwettkämpfe in Olympia und Nemea. Sie prüften die Qualifikation der Kämpfer und fungierten als Kampfrichter. 12 angemessener Abstand: Hier spielt Polystratos möglicherweise auf einen Vergleich an, der Ausgangspunkt für den Entwurf von Piatons Staat ist: In 2,368d schlägt Sokrates dort vor, die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit erst an einem großen Gebilde wie dem Staat zu erörtern, bevor man sich an ein kleines Gebilde wie die menschliche Seele wage, und vergleicht diese Vorgehensweise mit dem Betrachten von kleinen und großen Buchstaben aus der Ferne. 14 Neid der Götter: Ein im griechischen Denken mit der Vorstellung von Maß und Hybris (s.o. zu 7) verbundenes Konzept, dem gemäß die Götter menschliche Überheblichkeit nicht dulden und streng bestrafen. Zeus: Gemeint ist das von Phidias geschaffene Standbild des Zeus von Olympia in Elis, das als eines der sieben Weltwunder galt. 15 Anklagerede: Im folgenden greift Lukian erneut auf das rhetorische Modell der Gerichtsrede zurück; s.o. zu Uber den Saal 14. Es wird hier mit der für Lukian ebenso bedeutsamen Theatermetaphorik verbunden (16). Wasseruhr: Die Klepsydra (>WasserdiebHomerpeitscherFlöte< bezeichnete - aulos ist ein klarinettenähnliches Blasinstrument mit zwei Röhren. 5 philosophischer Dialog: Hiermit ist der Dialog in der Tradition der Sokratiker (Piaton, Aischines u.a.) gemeint. Komödie: Gemeint ist die sogenannte Alte attische Komödie des ausgehenden 5. Jh.s v. Chr. mit ihren Hauptvertretern Aristophanes, Eupolis und Kratinos. 6 Anapäste: V. a. im Drama geläufiges Versmaß aus zwei Kürzen und einer Länge. Grübler ...: Anspielung auf die Verspottung des Sokrates in Aristophanes' Wolken 225 ff. 7 bei dem bleiben: Der griechische Satz ist ein iambischer Trimeter u n d kombiniert daher das Versmaß der Komödie mit dem philosophischen Inhalt. Damit ist ein Bezug zur sogenannten Neuen Komödie des Menander (spätes 4. Jh. v. Chr.) hergestellt, der einen vergleichbaren Weg beschritten hatte; auf vergleichbare Formulierungen aus dessen Œuvre könnte eventuell der vorangehende Satz anspielen.

III 1 l

Mythologisches Gespräche unter Toten

Diogenes und Polydeukes 1 Hund: Die philosophische Doktrin der Kyniker, der >Hündischen«, leitete ihren N a m e n von ihrer anspruchslosen - vgl. das Faß, das ihr Begründer Diogenes bewohnte - und zugleich absichtlich öffentlich anstößigen Lebensweise ab. Satrapen: Dies war die offizielle Bezeichnung der Gouverneure der Verwaltungseinheiten (Satrapien) des persischen Reiches. Bohnen: Wolfsbohnen (Lupinen) waren ein Armeleute-Essen, was zur selbstgewählten kynischen Lebensform paßt. Zugleich galt in pythagoreischer Anschauung die Wolfsbohne als mit der Unterwelt u n d ihren Bewohnern verbundene Pflanze u n d unterlag daher einem Speiseverbot. D a ß Diogenes hier aufgefordert wird, seinen Ranzen mit Bohnen zu füllen, kann daher auch als Spitze gegen die pythagoreische Doktrin mit ihrer Lehre v o n der Metempsychose (Reinkarnation) verstanden werden: Der Tod ist end-

ERLÄUTERUNGEN

3°4

gültig; vgl. Von denen, die sich für Lob verdingen i (in diesem B a n d V 3).

Ei aus einem Sühneritus: In Sühne-/Reinigungsriten verwendete man u.a. Eier, weil sie, wie einige andere Substanzen auch, die spezifische Verunreinigung absorbieren sollten. In einzelnen Kulten war daher den Priestern der Verzehr von Eiern nicht gestattet; bisweilen galten auch sie als mit der Unterwelt verbunden. 2 Hörner und Krokodile: Hier handelt es sich um zwei »aussichtslose Fragen« (Aporien) aus der Logiklehre der stoischen Philosophie, deren Bearbeitung unter anderem der Denkschulung diente. Hömer: Alles, was du nicht verloren hast, hast du [1. Prämisse] H o r n e r hast du nicht verloren [2. Prämisse] - Also hast du Hörner [Schlußfolgerung]. Krokodil: Ein Fangschlußverfahren, das eine endgültige Entscheidung nicht erlaubt, an einem praktischen Beispiel gut erläutert bei

Gellius, Attische Nächte 5,10,1-16. den jungen Leuten: D e r Ubersetzung liegt Bekkers Konjektur Toi)5 VEOU5 statt dem überlieferten t ö v votjv zugrunde. 3 eine einzige Obole: M a n legte den Toten eine O b o l e (die kleinste griech. M ü n z e ) als Fahrgeld für C h a r o n in den M u n d . 2.

Anklage der Toten

1 Unfug: D e r mit plütos, Reichtum, zu assoziierende Name des Herrschers der Unterwelt legt die Deutung nahe, daß Menippos Pluton unterstellt, mit den ehemals Reichen zu sympathisieren. 2 Erkenne dich selbst: Spruch eines der Sieben Weisen, mit goldenen Lettern in den Apollon-Tempel zu Delphi eingraviert. Menippos und Kerberos 2 spielte er den Mutigen: Anspielung a u f Piatons Bericht in sein e m Dialog Phaidon über Sokrates' Tod, insbesondere auf den langen Unterweltsmythos, den Sokrates seinen Freunden erzählt (.Phaidon i 0 9 b - H 4 d ) und den er damit beschließt, der Tod sei eine Befreiung aus dem Gefängnis des Körpers und daher ein ersehnter Augenblick, für den man jedes Risiko a u f sich n e h m e n könne (n4c-d).

3.

Menippos und Tantalos 2 ungemischte Nieswurz: Helleborus officinalis Salisb. und niger L., ein starkes Mittel, das bei Fällen von Melancholie und M a n i e gegeben wurde, üblicherweise in starker Verdünnung. 4.

ZU M Y T H O L O G I S C H E S

3°5

5.

Menippos und Chiron 2 du hättest tun sollen: Die hier propagierte Lebensweise entspricht vollständig dem in der kynischen Philosophie vertretenen Ideal autarker Bedürfnislosigkeit, wie es Menippos und Diogenes vertraten. 6.

Zenophantos u n d Kallidemides 1 Parasit: Schnorrertum, auch wie hier in Verbindung mit Erbschleicherei, ist ein bei Lukian häufig erhobener Vorwurf; zu einer Lebenskunst baut er es ironisch in seiner Abhandlung Vom Parasiten oder Schnorrertum ist eine Kunst aus. Der zeitgenössische soziale Hintergrund dürfte nicht zuletzt im Klientelwesen zu suchen sein, das Menschen unterschiedlicher Stellung eng aneinander band. 2 untergeschobener Toter: »Untergeschoben« (hypobolimaiot) werden üblicherweise neugeborene uneheliche Kinder. Die Pointe des Begriffs besteht hier darin, daß in der Antike das Unterschieben vor allem aus erbrechtlichen Erwägungen juristisch verfolgt wurde, während hier durch das Unterschieben ein Erbbetrug gerade verhindert wird; zudem wird eine Handlung, die üblicherweise gleich nach der Geburt stattfindet, hier umgekehrt ans Lebensende versetzt. 7.

C h a r o n , Hermes und verschiedene Tote 5 Verkündigungen deiner Siege: Der hinter dieser Formulierung stehende Gedanke ist wohl, daß die Seele auch durch allzu hohes Selbstbewußtsein affiziert, >belastet< wird, wie es dadurch entsteht, wenn man seine Leistungen in alle Himmel gehoben hört. Vgl. Hermes' Ausführungen zu Kraton in 6. 6 wiegt schwer: Vgl. A n m . zu 5. 7 Siegeszeichen: Ein tropaion war ein M o n u m e n t , das der Sieger einer Schlacht aufstellte, um den Punkt zu markieren, an dem sich die Feinde zur Flucht gewandt (trepesthai) hatten. 9 Bart: Ein exuberanter Bart war im späten 2. Jh. n . C h r . Bestandteil der intellektuellen Selbststilisierung. Bei Lukian, aber auch bei anderen Autoren dieser Zeit, wird er entsprechend oft zum Symbol von Prätention. Z u m Wandel der Intellektuellenphysiognomie vgl. Zanker (1995). Schmeichelei: Mit diesem Vorwurf reiht Menippos den Philosophen unter die Parasiten; vgl. oben Anm. zu III 1.6.1. 10 Antithesen ...: Verschiedene Stilfiguren. Antithese: Gegenüberstellung; Isokolon: silbengleiche Satzabschnitte; Periode: der kunst-

ERLÄUTERUNGEN

voll aufgebaute und gestaltete Satz; Barbarismos: die Verwendung fremdsprachlicher oder dialektaler Wörter. 12 zum Tod gedrängt: Nach Diogenes Laertios 6,100 erhängte sich Menippos. 13 begraben: Gemeint ist, daß Menippos selbst ein einfaches Begräbnis für überflüssigen Ballast hält und es vorzieht, daß sein Leichnam von Hunden und Raben gefressen wird. Räder und Steine und Geier: Anspielungen auf die unterweltlichen Bestrafungen großer mythischer Verbrecher: Ixion (Rad), Sisyphos (Stein), Tityos (Geier). 8.

Minos und Sostratos 2 Schwert: Zu diesem quasi-personifizierenden Umgang mit dem Schwert vgl. den Tyrannenmörder (in diesem Band 11). 9.

Alexander, Hannibal, Minos und Scipio 1 Vorrang: Die gesamte im folgenden geschilderte Auseinandersetzung ist ein Pastiche des Dichterstreits in Aristophanes' Komödie Die Frösche von 405 v. Chr. Dabei entspricht Alexander dem Aischylos, Hannibal dem Euripides und Scipio dem Sophokles. 3 Homer zu rezitieren: Anspielung auf Alexanders Selbststilisierung nach dem Vorbild des Homerischen Achill. von einem Libyer: Der Grieche Minos erweist sich bereits hier als voreingenommen gegenüber dem Nicht-Griechen Hannibal. 4 Vernichtung der Thebaner: Alexander vernichtete Theben im Jahr 335 v. Chr. nach dessen Aufstand im Gefolge der Ermordung Philipps II. im Jahr zuvor. 5 meinen Freunden geholfen: Hier nimmt Alexander eine in der griechischen Lyrik der archaischen Zeit vielfach formulierte aristokratische Maxime für sich in Anspruch, der gemäß es einen wahren Mann auszeichnet, seinen Freunden zu helfen und seinen Feinden zu schaden; damit gibt er seiner Idealität einen traditionellen Unterbau. 2 1.

Gespräche unter Meergöttern

Doris und Galateia 5 Touristen verspeist: Eine Anspielung auf die Homerische Episode (Odyssee 9,106 ff.), in der Polyphem sechs Gefährten des Odysseus verspeist, bevor er von ihm überlistet wird; vgl. 2. Kyklop und Poseidon. Der hier mit >Touristen< übersetzte griechische Begriff ist

ZU MYTHOLOGISCHES

307

xenoi und stellt ebenfalls eine Anspielung auf die genannte OdysseeEpisode dar, in der sich Odysseus vergeblich b e m ü h t , den Kyklopen davon zu überzeugen, daß er schützenswerte >Gastfreunde< vor sich habe; zugleich bedeutet xenos auch >Fremderlebenswichtige< P r o p h e z e i h u n g . 2 was auch du schon getan hast: H i e r m i t ist angespielt a u f Z e u s ' gewaltsame U s u r p a t i o n der K ö n i g s h e r r s c h a f t u n t e r d e n G ö t t e r n d u r c h die Ü b e r l i s t u n g seines Vaters K r o n o s . Hephaistos: I n Aischylos' Prometheus in Fesseln (s. A n m . z u 1) war es gerade H e p h a i s t o s , der P r o m e t h e u s a n d e n K a u k a s u s s c h m i e d e n mußte. 2.

Zeus u n d Hermes 1 Io: Vgl. h i e r m i t Gespräche unter Meergöttern III 2 ) 4 . 3.

(in d i e s e m B a n d

Zeus u n d Ganymedes 3 Ambrosia und Nektar: D i e N a h r u n g der Götter. D i e e t y m o l o gische B e d e u t u n g der b e i d e n Begriffe b e z o g s c h o n die A n t i k e a u f >UnvergänglichkeitHundBilder^-Dialogen, Millennium 1, 2004, 1-24 Heinz-Günther Nesselrath, Lucian's Introductions, in: D. A. Russell (Hg.), Antonine Literature, Oxford 1990, m-140 Thomas Schmitz, Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit, München 1997 Simon Swain, Hellenism and Empire. Language, Classicism, and Power in the Greek World AD 50-250, Oxford 1996

332

ERLÄUTERUNGEN

Barbara Szlagor, Verflochtene Bilder. Lukians Porträtierung göttlicher Männer, Trier 2005 Paul Zanker, Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst, M ü n c h e n 1995

GLOSSAR Abradatas: in Xenophons Kyrupaideia 4-7 erwähnter König von Susiana, Gemahl der Panthea; zu ihrer tragischen Geschichte vgl. ebd. Achaier: homerische Bezeichnung für die vor Troja versammelten Griechen. Achaios: attischer Tragiker der 2. Hälfte des 5. Jh.s; von ihm sind nur Fragmente überliefert. Achill: Sohn des Peleus und der Nereide Thetis, bedeutendster gr. Held vor Troja. Adonis: schöner Hirtenjüngling phönizischer Herkunft, Geliebter der Aphrodite. Adrasteia: Beiname der Rachegöttin Nemesis, bestraft die menschliche Selbstüberschätzung. Aetion: gr. Maler der Spätklassik, Vertreter der Vierfarbmalerei, malte u.a. die Hochzeit von Alexander d. Gr. und Roxane. Agamemnon: Ehemann Klytaimestras, Vater des Orestes. Nach Helenas Entfuhrung versammelte er mit seinem Bruder Menelaos eine panhellenische Streitmacht und zog nach Troja. Agatbon: attischer Tragödiendichter (um 445-um 401 v. Chr.), in Piatons Gastmahl als ausnehmend schöner und begehrenswerter Mann präsentiert. Agave: Mutter des thebanischen Königs Pentheus, die ihren Sohn in bakchantischem Wahnsinn zerreißt. Agenor: König von Sidon, der seine Söhne auf die Suche nach seiner von Zeus entführten Tochter Europa schickte. Agina: Insel im Saronischen Golf. Aigisthos: verführte Klytaimestra, überfiel ihren Gatten Agamemnon nach der Heimkehr von Troja, ließ ihn erschlagen und heiratete Klytaimestra. Nach siebenjähriger Herrschaft über Mykene wurde er von Orestes und Pylades getötet. Aischines: 1) aus Sphettos, Schüler des Sokrates, verfaßte (wie Piaton) nicht erhaltene Dialoge, in denen Sokrates als Gesprächsfiihrer auftrat. Sieben davon - darunter eine Aspasia - gaben angeblich Sokrates' Charakter besonders treffend wieder. 2) athen. Redner (390-um 315 v. Chr.), Anhänger des Makedonen Philipp II. und politischer Gegner des Demosthenes.

334

GLOSSAR

Aischylos: um 525-456 v. Chr., ältester der drei großen attischen Tragiker, zu denen neben ihm Sophokles und Euripides gezählt werden. Akamas: Vorgebirge auf Zypern. Akropolis: seit 3000 v.Chr. von Herrschern besiedeltes Areal Athens, seit etwa 1300 v. Chr. von einer Abwehrmauer umgeben. Seit dem 7.-6. Jh. v. Chr. Kult- und Feststätte Athens mit bis heute sieht- und nachweisbaren Schatzhäusern und Tempelanlagen. Aktaion: Sohn des Aristaios und der Autonoe, von Artemis in einen Hirsch verwandelt und von ihren Hunden zerfetzt, weil er die Göttin beim Baden erblickt hatte. Alexander der Große: 356-323 v. Chr., makedon. König seit 336, Sohn von Philipp II. und Olympias. Sein Erzieher war der griechische Philosoph Aristoteles. 331 schlug er die Perser unter der Führung von Dareios III. und besiegelte so den Untergang des persischen Reiches. Er starb an einem Fieber. Alexandria: Stadt an der Nordküste Ägyptens, von Alexander d. Gr. 331 v. Chr. gegründet, später Sitz des Herrscherhauses der Ptolemäer. Alexis: aus dem unteritalischen Thurioi stammender Dichter der attischen Mittleren Komödie (4. Jh. v.Chr.). Alkamenes: Bildhauer aus Athen oder Lemnos (ausgehendes 5. Jh. v. Chr.), Erschaffer der »Aphrodite in den Gärten«. Alkmene: Zeus nahm die Gestalt ihres Mannes Amphitryon an und zeugte mit ihr Herakles. Amalthe(i)a: Nymphe, die Zeus mit der Milch einer Ziege ernährte, oder aber Name der Ziege selbst. Das von Zeus mit Blumen und Früchten gefüllte Horn der Ziege gilt bis heute als Symbol für Fruchtbarkeit und Überfluß. Amazonen: Kriegerisches Frauenvolk, das mit Bogen und Speer kämpfte. Die Amazone war ein Werk des Bildhauers Phidias. Ammon: als Zeus-Ammon in Griechenland verehrter urspr. ägyptischer Orakelgott. Auch Hannibal soll sich an ihn gewandt haben. Amphion: Sohn der Antiope und des Zeus, aus Böotien, Erfinder der Leier und der Musik. Amphitrite: Nereide und Gattin Poseidons, der sie beim Tanz am Strand von Naxos raubt. In der bildenden Kunst auf einem Delphin dargestellt, wohl in Anlehnung an das Mythologem ihrer Flucht vor Poseidon in die Meerestiefe und den Verrat durch einen Delphin.

GLOSSAR

335

Anakreon: griechischer Lyriker (Ende 6. Jh. v. Chr.), v.a. bekannt für seine Liebeslyrik. Andromeda: Tochter des Aithiopenkönigs Kepheus und der Kassiepeia. Um Kepheus' Land vor einem Seeungeheuer zu befreien, sollte sie ihm geopfert werden, wurde jedoch von Perseus befreit. Anterior: vornehmer Trojaner und Gemahl der Priesterin Theano. Er beherbergte Odysseus und Menelaos in seinem Haus, als sie Verhandlungen um die Rückgabe Helenas führten. Antiochos Soter: Antiochos I. (324-261 v. Chr.) siegte über die Galater, die er weiter in Phrygien siedeln ließ; er erhielt daher den Beinamen »Soter« (Retter). Antipatros: makedonischer Feldherr unter Philipp II. und Alexander d. Gr., der ihm während des Feldzuges gegen Persien die Statthalterschaft im europäischen Teil seines Reiches überließ. Antipoden: Als A. (»Gegenfußler«) wurden Menschen bezeichnet, die >uns< auf der anderen Erdhalbkugel gegenüberstehen^ Antisthenes: Begründer der philosophischen Richtung des Kynismus (um 450-365 v. Chr.). Aornos: Bergfestung am Indus, angeblich zuerst von Herakles und 328 v. Chr. von Alexander d. Gr. erobert. Apelles: 2. Hälfte des 4. Jh.s v. Chr., bedeutender gr. Maler; neben seiner Porträts von Alexanders d. Gr. v.a. berühmt für eine »Aphroditehr anadyomene«. Aphrodite: griechische Göttin der Schönheit und des Begehrens; Praxiteles schuf ein berühmtes Kultbild für ihr Heiligtum auf Knidos. Apoll: Sohn des Zeus und der Leto, Zwillingsbruder der Artemis, Gott der Heilkunst, der Weissagung und der Musik, der Künste und der Dichtung. Ihm war die Orakelstätte in Delphi geweiht. Arbela/Arbeloi: Stadt im östlichen Assyrien am Verbindungsweg zum iranischen Hochland. 331 v. Chr. Schauplatz der Schlacht von Gaugamela, in der Alexander d. Gr. den Perserkönig Dareios III. endgültig besiegte. Archilochos: gr. Lyriker (7. Jh. v.Chr.), verfaßte Elegien sowie Spott- und Schmähgedichte in Jamben. Archytas: pythagoreischer Philosoph und Mathematiker aus Tarent (L Hälfte 4. Jh.s v. Chr.). Areopag: Altes athenisches Adelsgericht, das seit 462/461 v. Chr. nur noch für die Blutgerichtsbarkeit zuständig war. Ares: Sohn des Zeus und der Hera, repräsentiert als Gott des Krieges Kraft und Brutalität. Arete: Gattin des Phaiakenkönigs Alkinoos.

336

GLOSSAR

Argos: Vieläugiger Wächter der Io. Aristophanes: bedeutender Dichter der alten attischen Komödie (um 445-385 v. Chr.), Verfasser von ca. vierzig Dramen, von denen elf erhalten sind, darunter Die Vögel und Die Wolken. Aristoteles: griechischer Philosoph (384-322 v.Chr.), Schulgründer des Peripatos, Lehrer Alexanders d. G. Arkadien: Region der mittleren Peloponnes. Arsakiden: nach Arsakes I. benanntes parthisches Herrschergeschlecht. Artemis: Tochter von Zeus und Leto, Zwillingsschwester des Apollon, jungfräuliche Göttin der Jagd und der wilden Tiere, ausgestattet mit Pfeil und Bogen. Sie steht auch den Frauen bei der Geburt bei. Artemision: Nordkap der Insel Euboia; 480 v. Chr. Ort einer Seeschlacht der Perserkriege. Asklepios: Gott der Heilkunde, Sohn des Apollon und einer Sterblichen. Die Heilkunst erlernte er von dem Kentauren Chiron. Aspasia: zweite Frau des Perikles, mit beachtlichem politischen Einfluß. Assyrien: Land, das dem nördlichen Teil des Irak entspricht und das Areal vom Tigris im Osten bis zum Zab im Norden umschließt. Asteropaios: Sohn des Pelagon, Führer der mit Troja verbündeten Paioner; von Achill getötet; vgl. Homer, Ilias 21,136-204. Ate: Tochter des Zeus, vom Olymp auf die Erde verbannt, Ursache menschlicher Verblendung. Das Bild der Ate, wie sie über die Köpfe der Sterblichen hinwegschreitet, entwickelt Homer, Ilias 19,90 ff. Athena: jungfräuliche Tochter des Zeus und der Metis, aus Zeus' Kopf geboren; sie beschützte Perseus bei seinem Kampf gegen die Medusa. Atbena Polias: Der Beiname der Athena verweist auf die Funktion der Göttin als Beschützerin der Stadt (Polis) Athen. Athos: Berg auf dem östlichen Finger der makedonischen Halbinsel Chalkidike, die Xerxes 480 v.Chr. zur Erleichterung der Schiffahrt durchstechen ließ. Ätna: Vulkan an der Ostküste Siziliens. Die Antike versetzte in sein Inneres die Werkstätte des Hephaistos und der Kyklopen. Atreus: König von Mykene, Vater von Agamemnon und Menelaos. Atriden: Nachkommen des Atreus (Agamemnon, Menelaos, Orestes), galten wegen der Taten des Tantalos, des Pelops und des Atreus als verfluchtes Geschlecht.

GLOSSAR

337

Atrometos: Vater des athen. Redners Aischines. Attika: Landschaft im Südosten Mittelgriechenlands; Hauptort Athen. Attikos: Bei Lukian ist nicht der Freund Ciceros gemeint, sondern der zeitlich nicht näher zu bestimmende Herausgeber der Attikianä, von Abschriften, die den Ruf besonderer Zuverlässigkeit genossen. Attisch: Dialekt des Altgriechischen, der in Attika gesprochen wurde. Der attische Dialekt des 5. und 4. Jh.s v. Chr. galt in Lukians Zeit als Norm des klassischen Griechisch. Augustus: 63 v.Chr.-i4 n.Chr., erster röm. Kaiser. Als Gaius Octavius in Rom geboren, wurde er später von Caesar adoptiert. Nach 27 v. Chr. erhielt er den Ehrentitel Augustus. Seine Herrschaft führte zu einer anhaltenden Zeit inneren Friedens. Aulon: Meerenge zwischen Kilikien und Zypern. Babylon: Hauptstadt von Babylonien, ca. 90 km südl. des heutigen Bagdad. Babylonien: Königreich in Mesopotamien, an Euphrat und Tigris. Bakchen: posthum aufgeführte Tragödie des Euripides über von Dionysos in Ekstase versetzte Frauen (Bakchen, Bacchantinnen, Mänaden) und den Tod des Dionysos-Gegners Pentheus. Baktrien: antike Landschaft im NO des Iran mit der Hauptstadt Baktra. Baptai: um 416 v. Chr. aufgeführte Komödie des Eupolis über Orgien im Dienst der Göttin Kotys. Bellerophontes: B., Enkel des Sisyphos von Korinth, wird von Stheneboia, der Gattin des Proitos von Tiryns, bei ihrem Mann verleumdet, weil er ihre Liebe zurückwies. Der König sendet ihn mit einem Urias-Brief zum Iobates von Lykien, der B. auf drei Abenteuer ausschickt, die er besteht. Weil er sich jedoch auf dem geflügelten Roß Pegasos zu den Göttern emporzuschwingen versucht, endet er im Wahnsinn. Bithynier: Einwohner Bithyniens, einer Landschaft im NW Kleinasiens. Branchos: von Apoll geliebter Hirte, dem der Gott die Gabe der Weissagung verlieh; angeblich Gründer des Orakels von Didyma. Briseis: Kriegsgefangene des Achill, die um den toten Patroklos trauerte. Briseus: Vater der Briseis, die Achill in der Ilias als Ehrengeschenk aus der Beute erhält.

33»

GLOSSAR

Cadiz: siehe Gadeira. Capua: wichtigste Stadt des nördlichen Kampaniens, übte auf Hannibals Truppen im Winterquartier verweichlichenden Einfluß aus (Strabo, Geogr. 5, 250). Chairephon: Freund und Bewunderer des Sokrates. Seine Frage, ob es einen weiseren Menschen als Sokrates gebe, wurde von dem Orakel in Delphi verneint. Sokrates selbst erklärte sich die Antwort damit, daß er sich stets bewußt sei, daß er nichts wisse, und genau dies die Voraussetzung für die Erlangung von Weisheit sei. Chariten: drei Töchter des Zeus und der Nymphe Eurynome, Göttinnen der Anmut, die den Menschen Schönheit und Frohsinn brachten. Sie erscheinen oft im Gefolge der Aphrodite und entsprechen den Grazien der römischen Mythologie. Charmoleos: wahrscheinlich fiktive Figur in III 1.7. Charon: Fährmann der Unterwelt, der die Seelen der Toten gegen ein Entgelt von einer Obole über die Unterweltflüsse zum Tor des Hades bringt. Die Fahrtkosten werden dem Toten bei seiner Bestattung ins Grab mitgegeben, gewöhnlich im Mund. Cbelidoneai: fünf Felseninseln vor der Küste Lykiens (SW Kleinasiens), berüchtigt wegen Untiefen. Chimaira: mythisches Mischwesen aus Löwe, Schlange und Ziege. Chios: Insel im Ägäischen Meer vor der Westküste der Türkei. Chiron: heilkundiger Kentaur, lebte am Pelion, Erzieher vieler Heroen, darunter Achills. Chrysipp: griech. Philosoph (um 280-207 v. Chr.), Leiter der Stoa in der Nachfolge des Kleanthes. Seine umfangreichen Schriften entfalten die Lehren der Stoa in logischer und systematischer Form. Daidalos: myth. Baumeister, Künstler und Erfinder aus Athen. Von König Minos auf Kreta festgehalten, erfand er für sich und seinen Sohn Ikaros Flügel aus Wachs und Federn. Ikaros stürzte während des Fluges aus Unachtsamkeit ins Meer. Damasias: nur bei Lukian erwähnter Athlet. Damoxenos: Athlet, evtl. identisch mit einem gleichnamigen Ringer, den Pausanias' Beschreibung Griechenlands 8,40,3 erwähnt. Daphne: Von Apoll begehrt, verwandelte sie sich auf der Flucht vor dem Gott in einen Lorbeerbaum. Dareios: 1) Dareios I., König von Persien, Begründer der Dynastie der Achaimeniden, führte erstmals die Perser 480 v.Chr. gegen Griechenland.

GLOSSAR

339

2) Dareios III., König von Persien. Von Alexander d. Gr. 333 v. Chr. bei Issos und 331 bei Gaugamela geschlagen. Deinias: geläufiger gr. Eigenname; hier eine von Lukian erfundene Persönlichkeit. Delphi: Stadt in der gr. Landschaft Phokis. Das Orakel von Delphi und seine Seherin, die Pythia auf dem Dreifuß, waren dem Apoll geweiht. Demetrios: kynischer Philosoph des 1. Jh.s n. Chr. Demetrios Poliorketes: Sohn des Antigonos und König von Makedonien, eroberte 307 v. Chr. Athen. In der Seeschlacht vor Salamis (Zypern) besiegte er 306 den ägyptischen König Ptolemäus I. Demodokos: bei Homer (Odyssee 8) blinder Sänger am Hof des Phaiakenkönigs Alkinoos. Demosthenes: athen. Redner und Politiker (384-322 v.Chr.), berühmt u.a. durch seine Reden gegen Philipp II. von Makedonien, gegen den er zur Verteidigung der gr. Freiheit aufrief. Deukalion: Sohn des Prometheus und Stammvater der Griechen. Zusammen mit seiner Frau Pyrrha entkam allein er der Sintflut. Didyma: Orakelstätte des Apollon nahe Milet in Kleinasien. Dikte: Gebirge auf Kreta, myth. Geburtsort des Zeus (Diktäische Höhle). Diogenes: Philosoph aus Sinope (412/403-324/321 v.Chr.), eines der wichtigsten Vorbilder für die Philosophie der Kyniker. Er führte ein asketisches Leben, um das sich viele Anekdoten rankten, die wir v.a. aus den Philosophen-Viten des Diogenes Laertios (6,1 ff.) kennen. Dionysien: Athen. Fest (März/April) zu Ehren des Gottes Dionysos, zu dem auch dramatische Aufführungen gehörten. Dionysios: Dionysios I., Tyrann von Syrakus (um 430-367 v. Chr.). Er holte namhafte Intellektuelle an seinen Hof, u.a. den Dichter Philoxenos und den Philosophen Piaton. Dionysodoros: gr. Grammatiker aus Troizen (wahrscheinlich 2. Hälfte 2. Jh. v. Chr.). Nach Angabe Lukians Sammler der Briefe des Ptolemaios, Sohn des Lagos. Dionysos: Sohn des Zeus und der Semele, Gott des Weines, der Fruchtbarkeit und der Ekstase. Seine Anhängerinnen, die Bacchantinnen, schwärmten auf ihren Orgien in Ekstase durch die Wälder und zerrissen wilde Tiere. Zu seinem Kult in Athen gehörten die dramatischen Aufführungen im Januar und April. Diophantos: fiktiver Redner in III 1.7. Dioskuren: Kastor und Polydeukes (lat. Castor und Pollux), Söhne

340

GLOSSAR

der Leda, die Zeus in Gestalt eines Schwanes verführte. Beide wurden als Schützer der Seeleute und Krieger verehrt. Diotima: von Piaton erfundene Priesterin aus Mantinea. In Piatons Symposion berichtet Sokrates, er sei durch sie in das Wesen des wahren Eros eingeweiht worden. Dipylon: Toranlage im N Athens, beim Kerameikos. Doris: eine der 50 Nereiden, Tochter des Nereus und der Doris. Echo: Nymphe, die Zeus einen Seitensprung ermöglicht, indem sie Hera in ein Gespräch verwickelt. Zur Strafe nimmt Hera ihr die Fähigkeit, selbständig zu reden. Ihre unerfüllte Liebe zu Narkissos reduziert sie zur körperlosen Stimme. Ekbdtana: Hauptstadt von Medien. Eleer: Volk von Elis im NW der Peloponnes. In ihrer Obhut lag das Heiligtum von Olympia, für dessen zentralen Tempel der Bildhauer Phidias seine Zeusstatue, eines der sieben Weltwunder, schuf. Eleusis: Stadt und bedeutendes Mysterienheiligtum 20 km westlich von Athen. Elis: Küstenlandschaft im NW der Peloponnes; dort liegt das Heiligtum von Olympia. Elysische Gefilde: paradiesischer Ort, in der Unterwelt oder am Rand der Erde gedacht. Ephialtes: Gigant, dem im Kampf mit den Göttern von Apollon das linke, von Herakles das rechte Auge ausgeschossen wurde. Epiktet: bedeutender stoischer Philosoph der Kaiserzeit (um 50-125 n. Chr.), dessen mündliche Unterweisungen (Encheiridion) von Flavius Arrianus aufgezeichnet wurden. Epikur: griechischer Philosoph (341-271 v.Chr.), Begründer der Philosophenschule der Epikureer. Er lehrte, daß der vollkommene Glückszustand, die innere Ruhe (Ataraxia), durch Befriedigung elementarer Bedürfnisse und Vermeidung von Schmerz erreicht wird. Epikureer: Anhänger der Lehre Epikurs. Epimetheus: Bruder des Prometheus. Sein Name bedeutet »der Nachherüberlegende«. Er nahm Pandora in sein Haus auf und erkannte das Unheil erst im Nachhinein. Epiros: Landschaft im NW Griechenlands. Ericbthonios: Sohn des Hephaistos und der Erde, die den Samen des Gottes aufnahm, als Athena sich seinem Vergewaltigungsversuch widersetzte. Dennoch zog Athena E. auf. Eris: Göttin der Zwietracht. Der goldene Apfel mit der Aufschrift »Der Schönsten«, den sie, weil uneingeladen, beim Hochzeitsfest

GLOSSAR

341

von Peleus und Thetis unter die Festgesellschaft warf, wurde Anlaß zum Streit der Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite und zum Urteil des Paris. E. verursachte somit mittelbar den Trojanischen Krieg. Eros: Gott der Liebe, vorwiegend als Sohn der Aphrodite und des Ares aufgefaßt. Seine Macht wirkt sowohl gegenüber Menschen als auch gegenüber Göttern. Er ist mit Pfeilen ausgestattet, mit denen er bei seinen Opfern Liebesverlangen erregt, sowie mit Fackeln, die das lodernde Liebesfeuer der Verliebten symbolisieren. Man stellte sich den Gott als ewig jugendlichen, am Rücken geflügelten Knaben vor. Eroten: eine auf die Universalität des Eros hindeutende begriffssymbolische Erweiterung des Gottes auf mehrere Dämonen. Seit Pindar in der Literatur und in der Vasenmalerei nachweisbar; vergleichbar den Putten. Euagoras: Herrscher von Salamis auf Zypern. Während der persischen Besetzung der Insel führte er einen erfolgreichen Aufstand an. Euangelos: nur aus Lukian bekannter, wahrscheinlich fiktiver Kitharöde aus Tarent. Eumelos: nur aus Lukian bekannter, wahrscheinlich fiktiver Kitharöde aus Elis, dessen Name (>GutliedMachtmannLagidenGroßlingolympischen< Götter galt. Olympia: Heiligtum des Zeus und der Hera im Westen der Peloponnes, am Fluß Alpheios, wo alle vier Jahre die olympischen Spiele stattfanden. Olympos: am mysischen Berg O l y m p o s beheimateter berühmter Aulosspieler, der meist als Schüler, vereinzelt auch als Vater des Marsyas bezeichnet wird. Omphale: mythische Königin der Lyder, der Herakles drei Jahre als Knecht dienen mußte. Orestes: Sohn Agamemnons und Klytaimestras, der die Ermordung seines Vaters an seiner Mutter und ihrem Liebhaber Aigisthos rächt.

354

GLOSSAR

Orion: mythischer Riese und Jäger. Er wird von Oinopion geblendet, nachdem er dessen Tochter vergewaltigt hatte, läßt sich von Kedalion gen Sonnenaufgang fuhren und erhält von Helios sein Augenlicht zurück. Orpheus: Name eines mythischen Sängers aus Thrakien, Sohn des Flußgottes Oiagros und der Muse Kalliope. Mit seinem Gesang und Saitenspiel war er in der Lage, wilde Tiere, Pflanzen und Steine zu bezaubern, und bewegte die Götter der Unterwelt dazu, ihm seine verstorbene Gattin Eurydike zurückzugeben. Othryades: ein spartanischer Heerführer, der nach einem Gefecht mit den Argivern allein übrig blieb, die Siegestrophäen ins Lager zurückbrachte, auf seinen Schild mit seinem eigenen Blut »Ich habe gesiegt« schrieb und sich dann selbst tötete, um seine gefallenen Kameraden nicht zu entehren. Otos: Bruder des Ephialtes, Gigant mit übermächtigen Kräften. Pakate: Geliebte Alexanders d. Gr., von Apelles gemalt. Palaistra: Ringerschule. Palamedes: Heros von Nauplia, Sohn des Nauplios. Nach der Darstellung im Epos Kyprien entlarvt er Odysseus' geheuchelten Wahnsinn bei der Werbung für den Trojanischen Krieg und wird dafür später von diesem ermordet. Pamphylien: antike Landschaft an der Südküste Kleinasiens zwischen Lykien und Kilikien. Pan: Sohn des Hermes und einer Nymphe, Hirtengott mit Ziegenhörnern und Ziegenbeinen. Pandion: mythischer attischer König und Vater von Philomela, die von den Göttern in eine Nachtigall verwandelt wurde. Panthe(i)a: s. Abradatas. Parnes: Grenzgebirge zwischen Attika und Boiotien, im N Attikas. Parrbasios: griechischer Maler (um 400 v. Chr.) aus Ephesos, der meist in Athen arbeitete. Er malte vor allem Götter und Heroen. Parther: Volk, das sich die seleukidische Provinz Parthien eroberte und seinen Einfluß bis zum Indus ausdehnte. Patroklos: engster Freund des Achill, den er in den Trojanischen Krieg begleitet. Als er in Achills Rüstung kämpft, wird er von Hektor getötet. Seine Leiche wird von Menelaos geborgen, sein Tod von Achill gerächt. Peleus: König der Myrmidonen in Thessalien, Gatte der Nereide Thetis und Vater des Achill.

GLOSSAR

355

Pelias: mythischer Herrscher von Iolkos. Medea brachte ihn ums Leben, indem sie seinen Töchtern nahelegte, ihn zu zerstükkeln, und ihnen versprach, sie werde ihn durch Aufkochen verjüngen. Peloponnes: südliche Halbinsel Griechenlands. Penelope: Tochter des Ikarios, Mutter des Telemachos und Gattin des Odysseus, auf den sie 20 Jahre lang treu wartete. Pentheus: Sohn der Agave und nach Kadmos König von Theben. Als er den Dionysos-Kult untersagt, bewirkt der erzürnte Gott, daß P. im Gebirge von den Mänaden, angeführt von seiner Mutter, zerrissen wird. Euripides verarbeitete diesen Stoff in den Bakchen. Perdikkas: vermutlich Perdikkas III., König der Makedonen 364-359 v. C., älterer Bruder Philipps II. Pergamon: Bezeichnung für die Burg v o n Troja. Perikles: bedeutender athen. Staatsmann (490-429 v.Chr.) mit dem bereits zeitgenössischen Beinamen >01ympier