Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie: Strategien und Lösungen entlang der Supply Chain 4.0 [2. Aufl. 2020] 978-3-658-27316-3, 978-3-658-27317-0

Dieses Buch stellt die vielfältigen Prozesse, Einflussgrößen und Perspektiven der Logistikindustrie anschaulich dar. Dab

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German Pages XIV, 262 [264] Year 2020

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Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie: Strategien und Lösungen entlang der Supply Chain 4.0 [2. Aufl. 2020]
 978-3-658-27316-3, 978-3-658-27317-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIV
Front Matter ....Pages 1-1
Das Potenzial der Digitalisierung – Ein (Video-)Bild sagt mehr als 1000 Daten (Katharina Geutebrück)....Pages 3-15
Digitalisierung der Supply-Chain (Volker Stich, Jan Reschke, David Holtkemper, Andreas Kraut, Daniel Pause, Svenja Marek)....Pages 17-32
Trotz Control Tower und Digitalisierung – Der Transportplaner bleibt (Robert Recknagel, Philipp Beisswenger)....Pages 33-46
In der Zukunft betrachten wir Prozessketten vom Empfänger aus und jeder hat seine eigene Supply Chain (Marc Schmitt)....Pages 47-55
IT für die digitale Transformation (Giovanni Prestifilippo)....Pages 57-69
Supply Chain 4.0 – Voraussetzungen für die Digitalisierung in der Lager- und Transportlogistik (Michael Breusch)....Pages 71-82
Digital Supply Chain – Die Digitalisierung der Supply Chain mit Hilfe von IoT, Machine Learning, Blockchain, Predictive Analytics und Big Data (Jan Willem Roepert)....Pages 83-98
Logistik 4.0 – Automatisierte Kommissionierung im Onlinehandel (Robert Bommers, Sebastian Castrup)....Pages 99-105
Pick-by-Vision – Die Brille für die Intralogistik (Carsten Funke)....Pages 107-114
Front Matter ....Pages 115-115
Kundenansprüche verändern die Ersatzteillogistik (Matthias Hohmann, Christine Kuhlmann)....Pages 117-122
Wege aus der Enge – Logistik in den Innenstädten (Peter Manns)....Pages 123-139
Die Organisation von Lager- und Verteillogistik in der „Smart City“ (Christian Baur)....Pages 141-147
Die letzte Meile – Königsdisziplin der Logistik (Peter Umundum)....Pages 149-162
Front Matter ....Pages 163-163
Der Weg zum umfassenden Dienstleistungspartner (Michael Bonnes)....Pages 165-177
Neue Sicherheitsherausforderungen für die Logistik (Peter Kollatz, Thomas Wicke)....Pages 179-188
Volles Risiko? – Versicherungsaspekte logistischer Zukunftstechnologien (Stephan Zilkens)....Pages 189-200
Die Haftung des Logistikunternehmens in der digitalen Welt (Andreas Müller)....Pages 201-208
Inhabergeführtes Unternehmen vs. Konzern (Ulrich Nolte)....Pages 209-220
Familienunternehmen – In rauer See erfolgreich navigieren (Alexander Friesz)....Pages 221-232
Das Image der Logistik (Matthias Schadler)....Pages 233-238
Unternehmen führen in der Zukunft – Anders denken, Perspektiven schaffen, mutig entscheiden (Sven Neumann)....Pages 239-246
Denken hilft nicht nur, es nützt auch (Peter H. Voß)....Pages 247-256
Back Matter ....Pages 257-262

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Peter H. Voß Hrsg.

Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie Strategien und Lösungen entlang der Supply Chain 4.0 2. Auflage

Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie

Peter H. Voß (Hrsg.)

Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie Strategien und Lösungen entlang der Supply Chain 4.0 2., völlig neu gestaltete Auflage

Hrsg. Peter H. Voß Club of Logistics e. V. Dortmund, Deutschland

ISBN 978-3-658-27316-3 ISBN 978-3-658-27317-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0 Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2015, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichenund Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Geleitwort

Das Wort Routine leitet sich vom französischen Wort route ab: Sie bezeichnet eine Erfahrung hinsichtlich des Weges, nicht des Zieles. Routine definiert die reibungslose Überbrückung des Raumes, benennt das Zwischen im Verhältnis von Absender und Adressat. Für Logistiker ist der Zusammenhang von Routine und Route daher keine etymologische Belanglosigkeit, sondern die vielleicht elementarste aller Geschäftsgrundlagen. Wer sich als Logistiker keinen wachen Sinn für das Funktionale und Vermittelnde, das Geläufige und Eingespielte, das Entlastende und Gewohnheitsmäßige seiner Branche erhält, ist die längste Zeit Logistiker gewesen. Die Logistik ist also idealerweise im Modus der Routine unterwegs, immer en route sozusagen: Sie hat eine hintergrunderfüllende Funktion für die produzierende Wirtschaft – und unterstreicht ihre Könnerschaft am besten dadurch, dass sie nicht in Erscheinung tritt. Das ist die Paradoxie und das Dilemma der Logistikbranche: Ihre Vorzüge kann sie Kunden und Bürgern am besten in Gestalt des Unsichtbaren vermitteln. Sie beweist ihre Leistungsfähigkeit, indem sie alles unbemerkt im Fluss hält – und wird geschätzt, solange man sich als Konsument nicht für sie interessieren muss. Der Produktions- und Warenwelt im Wortsinn offenbaren kann sich die Logistik nur in ihren Defiziten, Mängeln und Hässlichkeiten, wenn sie buchstäblich aus ihrer Hinterbühnenrolle fällt und sich ihr Flüchtiges verdichtet – wenn Lieferketten unterbrochen V

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Geleitwort

sind und der Warenstrom erkennbar (!) stockt, wenn Tanker verunglücken, Züge durchs Rheintal rattern, Laster sich stauen, Zustellfahrzeuge die Busspur blockieren. Kein Wunder also, dass die Logistikbranche an Prestigearmut krankt, dass man sie auch politisch vernachlässigt, so wie viele Menschen ihren Körper vernachlässigen, solange er nicht aufmuckt. Man kann sie sich leicht als eine Art Blutkreislauf und Nervensystem der Wirtschaft vorstellen, mit ihren Arterien und Venen, Adern und Bahnen – als ein der menschlichen Natur nachempfundenes Meisterwerk, für dessen Funktionstüchtigkeit im Alltag (und dessen Grenzen der Belastbarkeit) wir erst ex negativo, im Fall des Infarkts sensibilisiert werden. Im 19. Jahrhundert war das noch anders. Der Ökonom Friedrich List (1789–1846) etwa, ein Logistik-Theoretiker der ersten Stunde, sah im Ausbau und der Vernetzung von Verkehrsflüssen noch ein zivilisationspolitisches Projekt: „Die Eisenbahn, die Dampfschifffahrt und die Telegraphie werden die zivilisierten Nationen auf ein höheres Maß an Prosperität … emporheben und … auf allen Teilen des Erdballs verbreiten.“ Die Logistik wurde damals, in der Zeit ihrer Entstehung, noch als basale Infrastruktur der Wirtschaft schlechthin gedacht, für ihren relationalen Charakter geschätzt, für ihre verbindend-verbindliche Art gewürdigt – wohl auch, weil ihre technischen Voraussetzungen noch sichtbar sein durften, ja in ihrer Sichtbarkeit gefeiert wurden. Der neue, von Eisenbahnen, Schiffen und Kabeln gestützte Handel werde „alle eminenten Talente und Intelligenzen der Nation“ miteinander vernetzen, so List, „die Völker erlösen von der Plage des Krieges, der Teuerung und Hungersnot, des Nationalhasses und der Arbeitslosigkeit, der Unwissenheit uns des Schlendrians“. Jeder weiß: So ist es nicht gekommen. Der wilde Vernunftglaube der Aufklärung hat sich gründlich erschöpft, eine globalisierte, komforthungrige Wirtschaftswelt beraubt sich ihrer fossilen Antriebsenergien – und nach der olympischen Erschließung einer grenzenlosen Welt – größer, schneller, weiter – braucht es in der Logistikbranche heute vor allem drei Antworten auf Grenzen, Endlichkeiten und Schließungen. Erstens bereiten die USA und China die Renationalisierung und Abschottung ihrer Ökonomien vor, installieren geschlossene Subsysteme, Kreisläufe, Routen, die vor allem ihren teils chauvinistischen Interessen entsprechen – die von Friedrich List noch so emphatisch bejubelte, reiche Semantik der Vokabel „Verkehr“ – einen zugeneigten Umgang miteinander pflegen – verliert ihre globale Bedeutung. Zweitens verringern sich durch die Automatisierung und Digitalisierung der Fertigungsprozesse die Arbeitskosten; das verstärkt den Trend zum Insourcing, zur Dezentralisierung der Produktion – und zum Ausbau filigraner, regionaler Verkehrsnetze. Drittens steht die Logistik insgesamt vor der vielleicht größten Herausforderung ihrer Geschichte: Sie wird nicht mehr ressourcenhungrig neue Räume erobern können, sondern ihre Systeme emissionsarm optimieren, gegebenenfalls zurückbauen müssen. Nachhaltig erfolgreich wird wohl nur sein, wer neue Routen und Routinen entlang dieser drei Megatrends aufbaut und entwickelt. Wer in die großräumige Re-Regionalisierung investiert und dabei die geografische „Mittheilungsfähigkeit Deutschlands nach

Geleitwort

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allen Seiten“ in Europa bedenkt, die schon der Technikphilosoph Ernst Kapp (1808– 1896) im Sinn hatte. Wer die eingefahrenen Wege verlässt, um etwa die Mobilitätswende in den Städten einzuleiten, wer mit seiner Kontraktlogistik initiativ wird, wer ein Netz kleiner Lagereinheiten bereitstellt – kurz: wer aus der Unsichtbarkeit seiner Routinen ausbricht und erkennbar neue Routen in Richtung Zukunft erschließt. Berlin

Dieter Schnaas Chefreporter der WirtschaftsWoche, Journalist und Publizist

Geleitwort – Die Industrie, die (sich) bewegt

Logistik ist die Industrie der Bewegung. Ob Menschen, Materialien, Güter oder Informationen – die Branche versetzt alles in Bewegung, was nicht niet- und nagelfest ist, und das seit Anbeginn der menschlichen Kultur. Der ureigene Drang des Menschen zur Expansion, zur Entdeckung unbekannten Terrains und zu mehr Freiheit und mehr Möglichkeiten ließ und lässt sich nur ausleben, wenn alles Lebensnotwendige stets verfügbar gehalten, also transportiert und gelagert, werden kann – in moderne Begriffe verpackt: wenn Logistik funktioniert. Doch die große Bewegerin ist selbst eine Bewegte: Mit jedem Fortschritt der Menschheit, mit jeder Wendung des zivilisatorischen Prozesses wandelt sich auch die Logistik. Nicht nur das Transportierte sondern auch die Transportwege verändern sich: von der ursprünglichen unberührten Natur aus eroberte die Logistik alle denkbaren Verkehrsträger: befestigte Wege und Straßen, Wege in Gebäuden, Flüsse und Binnenseen, Hoch- und Tiefseerouten, die Luft, den Weltraum und darüber hinaus den „virtuellen“ Raum. Parallel sind Datenströme heute zu Recht in den Fokus geraten; sie müssen einfach funktionieren. Da Logistik die Grundvoraussetzung für jede Stufe von Kultur und Zivilisation schafft, ist sie stets aufs Engste mit der Menschheitsentwicklung verbunden. Sie ist sowohl Treiberin als auch Getriebene des Wandels, den das beständige Expandieren der Weltgemeinschaft mit sich bringt. Neue Technologien und neue wissenschaftliche IX

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Geleitwort – Die Industrie, die (sich) bewegt

Erkenntnisse wirken auf die Methodik der Logistik ein und verändern sie, während sie selbst wiederum deren Ausbreitung erst ermöglicht. Gesellschaftliche Veränderungen beeinflussen die Logistik und verdanken umgekehrt ihre weite Verbreitung logistischen Prozessen. Unmittelbarer noch als die Fertigungsindustrie ist die Logistik mit den zivilisatorischen Entwicklungen verbunden. In der komplexen Welt der Gegenwart hat sich die Logistikindustrie zu einem enorm breit gefächerten System zur Konzeption, Planung, Organisation, Steuerung und Prozessabwicklung der Ströme von Waren, Gütern und Informationen entwickelt. Nie war die Menschheit mehr vom Austausch dieser materiellen und immateriellen Güter abhängig als heute, nie war daher die Logistik so wichtig wie heute. Es gibt wohl keinen Gegenstand mehr, bei dessen Konzeption nicht bereits seine Optimierung für logistische Operationen mitberücksichtigt wird. Kein Aspekt der Ansiedlung von Menschen in irgendeiner Region der Erde kommt ohne sorgfältige Planung logistischer Infrastrukturen aus. Und kein Verkehrsträger wird ohne die Einbeziehung von Prognosen für die künftige Entwicklung logistischer Erfordernisse geplant. Die vielfältigen Prozesse, die die Logistikindustrie bestimmen und die sie wiederum mitbestimmt, in ihren gegenwärtigen Facetten und zukünftigen Perspektiven darzustellen, ist die Aufgabe, die sich dieses Buch gestellt hat. Im Mittelpunkt steht dabei, die verschiedenen Aspekte logistischer Aktivitäten im Zusammenhang mit ihren derzeitigen Einflussgrößen zu betrachten und zu einem ganzheitlichen Überblick zu bündeln. Zu diesen Größen gehört einerseits die rasante technologische Entwicklung, aber auch die Einflüsse aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, die über die Richtung der Logistik mitentscheiden. Das Schwergewicht im Themenspektrum dieses Buches stellt nicht unerwartet der technologische Fortschritt dar. Er verändert die Logistik in rasender Geschwindigkeit, sorgt für neue Chancen, aber auch für die Notwendigkeit, bisher erfolgreiche Businessprozesse und -modelle auf den Prüfstand zu stellen. Mit besonderen Herausforderungen warten spezielle Nischen auf, die besondere Kreativität erfordern und die Integration logistisch relevanter Gesichtspunkte in politische und organisatorische Prozesse unabdingbar machen, etwa die City-Logistik und die Bedienung der letzten Meile. Zunehmend rückt jenseits der Adaption modernster Technologien und Konzepte die Umwälzung in der Unternehmensführung in den Blickpunkt der Verantwortlichen und der Beobachter der Logistikindustrie. Denn der Eintritt ins digitale Zeitalter und die großen gesellschaftlichen und globalen Entwicklungen können mit den Managementinstrumenten der vergangenen Erfolgszeiten in der Regel nicht mehr bewältigt und beherrscht werden. Daher nehmen auch Themen wie die Erweiterung der Serviceorientierung der Branche, die Stärkung von Familienunternehmen oder die Verbesserung des Images der Logistik in Politik und Gesellschaft in diesem Sammelband breiten Raum ein. Die Autoren dieses Buches sind zumeist Mitglieder des Club of Logistics e. V. 2003 gegründet, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, das Bewusstsein für die Bedeutung der Logistik zu schärfen und über eine größere Wertschätzung auch die Rahmenbedingungen

Geleitwort – Die Industrie, die (sich) bewegt

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für die beteiligten Unternehmen zu verbessern. Der Club denkt visionär und beschäftigt sich in erster Linie mit Zukunftsthemen. Denn obwohl die herausragende Bedeutung der Logistik für die deutsche Volkswirtschaft unumstritten ist, führt sie im öffentlichen Interesse nach wie vor eher ein stilles Dasein. Reduziert auf Aspekte wie Umwelt- und Klimabelastung hat der Industriezweig ein eher negatives Image. Deshalb sucht der Club in verschiedenster Weise den Dialog mit Vertretern der Wirtschaft, der Politik und der Gesellschaft. Die entscheidende Plattform dafür sind halbjährliche Themen-Tagungen zum Know-how- und Meinungsaustausch führender Köpfe aus den angesprochenen Bereichen. Hier entstehen aus Analysen der Gegenwart Visionen für die Zukunft der Logistik. Auch dieses Buch versteht sich als Angebot zum Dialog. Sämtliche Verfasser sind herausragende Fachleute ihrer jeweiligen Disziplin, entweder renommierte Vertreter der Logistikindustrie oder mit der Logistik kooperierender Branchen, Unternehmensberater mit Schwerpunkt Logistikindustrie oder Wissenschaftler mit langer Erfahrung auf dem Logistiksektor. Mit der konzentrierten Kompetenz der Autoren bietet dieses Buch eine einmalige Schau auf die gegenwärtigen Trends der Logistikindustrie und wagt einen fundierten Blick in die nahe und fernere Zukunft. Arnold Schroven Vorsitzender des Club of Logistics e. V.

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Technik transformiert Logistik, Logistik treibt Technik 1

Das Potenzial der Digitalisierung – Ein (Video-)Bild sagt mehr als 1000 Daten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Katharina Geutebrück

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Digitalisierung der Supply-Chain. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Volker Stich, Jan Reschke, David Holtkemper, Andreas Kraut, Daniel Pause und Svenja Marek

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Trotz Control Tower und Digitalisierung – Der Transportplaner bleibt. . . 33 Robert Recknagel und Philipp Beisswenger

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In der Zukunft betrachten wir Prozessketten vom Empfänger aus und jeder hat seine eigene Supply Chain. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Marc Schmitt

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IT für die digitale Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Giovanni Prestifilippo

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Supply Chain 4.0 – Voraussetzungen für die Digitalisierung in der Lager- und Transportlogistik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Michael Breusch

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Digital Supply Chain – Die Digitalisierung der Supply Chain mit Hilfe von IoT, Machine Learning, Blockchain, Predictive Analytics und Big Data. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Jan Willem Roepert

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Logistik 4.0 – Automatisierte Kommissionierung im Onlinehandel . . . . . . 99 Robert Bommers und Sebastian Castrup

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Pick-by-Vision – Die Brille für die Intralogistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Carsten Funke XIII

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Inhaltsverzeichnis

Teil II  Logistik für anspruchsvolle Nischen 10 Kundenansprüche verändern die Ersatzteillogistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Matthias Hohmann und Christine Kuhlmann 11 Wege aus der Enge – Logistik in den Innenstädten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Peter Manns 12 Die Organisation von Lager- und Verteillogistik in der „Smart City“ . . . . 141 Christian Baur 13 Die letzte Meile – Königsdisziplin der Logistik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Peter Umundum Teil III  Zukunftsaufgaben für das Logistikmanagement 14 Der Weg zum umfassenden Dienstleistungspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Michael Bonnes 15 Neue Sicherheitsherausforderungen für die Logistik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Peter Kollatz und Thomas Wicke 16 Volles Risiko? – Versicherungsaspekte logistischer Zukunftstechnologien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Stephan Zilkens 17 Die Haftung des Logistikunternehmens in der digitalen Welt. . . . . . . . . . . 201 Andreas Müller 18 Inhabergeführtes Unternehmen vs. Konzern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Ulrich Nolte 19 Familienunternehmen – In rauer See erfolgreich navigieren. . . . . . . . . . . . 221 Alexander Friesz 20 Das Image der Logistik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Matthias Schadler 21 Unternehmen führen in der Zukunft – Anders denken, Perspektiven schaffen, mutig entscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Sven Neumann 22 Denken hilft nicht nur, es nützt auch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Peter H. Voß Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

Teil I Technik transformiert Logistik, Logistik treibt Technik

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Das Potenzial der Digitalisierung – Ein (Video-)Bild sagt mehr als 1000 Daten Katharina Geutebrück

Zusammenfassung

Die fortschreitende Digitalisierung wird zunehmend zum Produktivitätstreiber in der Fertigungs- und Logistikindustrie. Die Vernetzung von Maschinen aller Art in einer Smart Factory und deren Integration mit den Lieferprozessen erzeugt ein dynamisches Wertschöpfungsnetzwerk mit hohem Autonomiegrad. Intelligente Visualisierungssysteme aus Kameras, Software und Schnittstellen in die ERP-Welt sind besonders leistungsfähige Elemente einer solchen Industrie 4.0-Landschaft. Zukunftsweisende Softwaresysteme automatisieren dabei zahlreiche Prozesse, die bisher manuell durchgeführt werden mussten. Der Mensch greift nur noch ein, wenn Anomalien auftreten, die eine höhere Entscheidungsebene erforderlich machen. Die Unternehmen – auch die Logistikindustrie – machen von dieser Technologie derzeit noch zu wenig Gebrauch.

1.1 Die digitale Evolution Wenn wir fundamentale Veränderungen in einem bestimmten Umfeld – beispielsweise auf Sektoren wie Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Wissenschaft oder Technologie – beschreiben, greifen wir gerne zu dem Begriff Revolution. Mit Revolutionen ist das aber so eine Sache: Manche werden euphorisch begrüßt (und enden nicht selten im Chaos), andere wecken Ängste (die sich häufig als unbegründet herausstellen). Ein Grundmerkmal von Revolutionen ist, dass sie mit einem weithin wahrnehmbaren Paukenschlag beginnen – wie der Sturm auf die Bastille als Beginn der französischen Revolution oder

K. Geutebrück (*)  Windhagen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_1

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Albert Einsteins Veröffentlichung zur Erklärung des Photoeffekts als Startschuss für ein völlig neues Verständnis von Raum und Zeit. Wenn jedoch von technologischen Revolutionen die Rede ist, stehen am Anfang höchst selten urknallartige Erfindungen, die von heute auf morgen unser Leben umkrempeln. Daher wirken Begriffe wie industrielle oder digitale Revolution immer ein wenig überschwänglich und übertrieben. In aller Regel sind technische Revolutionen eigentlich Evolutionen. Sie nutzen wissenschaftliche Erkenntnisse zu technischen Durchbrüchen, die im Laufe der Zeit tiefgreifende Veränderungen im Leben der Menschen bewirken. Beispiel Eisenbahn: Fortschritte in den Kenntnissen der Wärmelehre ermöglichten die Herstellung von Dampfmaschinen, durch deren weite Verbreitung sich Reisezeiten dramatisch verkürzten und ungeheure Mengen an Gütern schnell und sicher transportieren ließen. Heute sprechen zahlreiche Chronisten unserer gesellschaftlichen Entwicklung von einer digitalen Revolution. Dabei kann niemand auf einen klar definierten Digitalisierungsurknall verweisen. Genau betrachtet, ist die Digitalisierung ein Prozess, der sich seit vielen Jahrzehnten vollzieht, und der oft gerade deshalb als Revolution erscheint, weil er eben nicht plötzlich erfolgt ist, sondern schleichend, und weil wir seine umwälzenden Folgen erst relativ spät – und dann medial recht plötzlich – in ihrer ganzen Breite wahrgenommen haben. Darin liegt vermutlich auch der Grund dafür, dass die Digitalisierung in der Öffentlichkeit immer wieder Ängste weckt – von der Angst um den Arbeitsplatz bis zur Furcht vor der Übernahme der Welt durch Roboter mit künstlicher Intelligenz. Ein vernünftiger Ansatz zur Festlegung eines Beginns der Digitalisierung ist die Anwendung binärer Rechenverfahren zur Lösung mathematischer Probleme. Damit markiert die Entwicklung der ersten programmierbaren Rechenmaschinen gegen Ende der 1930er Jahre die Anfangsphase der digitalen Evolution. Ab Ende der 1940er Jahre fanden Computer unzählige Anwendungsbereiche, und mit ihrer Miniaturisierung eroberten sie nach und nach sämtliche Arbeits- und Lebensbereiche. Sie liefern die Rechenleistung, mit der sich Informationen digital erstellen, bearbeiten und verbreiten lassen.

1.2 Goldstandard der Digitalisierung: Künstliche Intelligenz Mit der Vernetzung digitaler Geräte über das Internet erreichte die Digitalisierung eine gewaltige Ausweitung ihres Potenzials. Browser und webfähige Anwendungen ermöglichten die Entwicklung von Plattformen, die vor allem mittels Smartphones die Vorteile digitaler Prozesse für eine unbegrenzte Zahl von Applikationen und Services den Nutzern zugänglich machten. Digitale Plattformen wie Uber oder Airbnb erlauben Geschäftsmodelle, mit denen sich ohne Besitz eigener Assets ganze Branchen umgestalten lassen. Digitale Technologie hat die Art fundamental verändert, wie wir heute produzieren, transportieren, arbeiten, kommunizieren, uns informieren, wie wir einkaufen, Dienstleistungen nutzen oder Service- und Lebenspartner finden. Ob Wissenschaft,

1  Das Potenzial der Digitalisierung – Ein (Video-)Bild …

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Medizin, Gesundheit, Verwaltung, Polizei und Militär, Produktion, Handel, Energiewirtschaft, Logistik oder jede Art von Dienstleistung – die Digitalisierung ist dabei, alle Lebensbereiche der Zivilisation zu transformieren. Die entscheidenden Konzepte in diesem Prozess sind digitale Plattformen und Vernetzung. Plattformen führen die an einem Ablauf beteiligten Akteure zusammen, deren Aktionen erhalten durch die Vernetzung über das Internet unbegrenzte Reichweite. Zunehmend besteht die vernetzte Struktur aus Menschen und Gegenständen, jeweils mit natürlicher oder künstlicher Intelligenz (KI). Mit dem Aufstieg künstlich intelligenter Systeme erreicht die Digitalisierung eine neue Qualität. Solche Systeme arbeiten mit Algorithmen, also mathematisch formulierten Lösungsvorschriften, die beliebig komplexe Aufgaben mit Hilfe von Formeln und Gleichungen bearbeiten. Ein entscheidender Aspekt von KI ist die Autonomie, die technische Geräte dadurch gewinnen. In ihrer begrenzten Form („schwache KI“) sind autonome Systeme heute schon Alltag: Assistenztechnologien für Fahrzeuge, autonome Roboter, Sprachassistenten, Schachcomputer und so weiter nutzen Algorithmen, um komplexe Prozesse zu absolvieren, ohne dass Menschen dabei eingreifen müssen. Die ersten Schritte auf dem Weg zu einer stärkeren Intelligenz werden gerade unternommen. Software ist inzwischen in der Lage, eigenen Code zu schreiben. Meist bedingt dies aber erhebliche Vorarbeiten durch menschliche Programmierer: Sie müssen dem Computer per (recht umfangreichem) Code „sagen“, wie die Applikationen auszusehen haben, die er programmieren soll. Es gibt aber schon Softwaretools, die auf Anweisung selbstständig eigenen Code schreiben. Dabei analysiert die KI alle auf Entwicklungsplattformen verfügbare Anwendungen daraufhin, welchem Zweck sie dienen oder welche Absichten mit ihnen verfolgt werden. Wenn die Software den Auftrag zur Erstellung von Code für eine gewisse Applikation erhält, verknüpft sie die entsprechenden Programme und produziert eine Anwendung, die dem gewünschten Zweck entspricht. Von der angestrebten vollständigen Autonomie („starke KI“) der Supercomputer, die an die kognitiven Fähigkeiten des Menschen heranreichen (und sich beispielsweise ihre eigenen Computerprogramme schreiben können) sind wir gegenwärtig noch ein großes Stück entfernt. Sowohl Intelligenz als auch Autonomie lassen sich noch dadurch enorm steigern, dass die betreffenden Systeme lernfähig sind. Nach einfachen Gehirnmodellen arbeitende Lernalgorithmen (Neuronale Netze) erreichen bereits heute erstaunliche Fähigkeiten, wenn es darum geht, sich neuen Situationen anzupassen oder Gegenstände aufgrund von bestimmten Merkmalen zu unterscheiden und unterschiedlichen Gruppen zuzuordnen. Eine besonders erfolgreiche Methode des Lernens von Maschinen ist „Deep Learning“, das durch den Einsatz von Big-Data-Technologie sehr anspruchsvolle Aufgaben bewältigen kann. Probleme aus dem Bereich der Sprach-, Bild- und Mustererkennung werden mit Deep-Learning-Verfahren bearbeitet, aber auch komplexe Suchmaschinen, technische Simulationen und Chatbots sowie diverse Prognosesysteme nutzen diese Technologie.

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1.3 Die „eine Welt“ der Digitalisierung: Internet der Dinge Vernetzte digitalisierte Geräte mit unterschiedlichen Niveaus an Lernfähigkeit und künstlicher Intelligenz bilden die Grundlage für das Internet der Dinge (Internet of Things, IoT) – ein gewaltiges globales Netzwerk, in dem alle der digitalen Welt zugänglichen Elemente miteinander kommunizieren und kollaborieren. Wir sind bereits heute auf dem Weg, alle produzierten Objekte und Geräte in digitale Akteure für das IoT zu verwandeln. In rasantem Tempo werden Haushaltsgeräte, Fahrzeuge, Maschinen und Gegenstände aller Art mit Sensoren ausgestattet, die deren Zustand überwachen und bei Abweichungen von vorgegebenen Messwertgrenzen Entscheidungsträgern per Internetverbindung Handlungsbedarf signalisieren – oder idealerweise autonom reagieren. Dazu gehört der berühmte Kühlschrank, der meldet, wenn ein Produkt das Haltbarkeitsdatum überschritten hat oder bestimmte Lieblingsprodukte auf den (digitalen) Einkaufszettel übernommen werden müssen. Dazu gehören zudem unterschiedlichste Anwendungsfelder unter den Schlagwörtern Smart Home (beispielsweise intelligente Thermostate und Energiesteuerungsgeräte oder autonome Haushaltsroboter), Smart City (wie Integration von Verkehr und Energieversorgung, intelligente Verkehrsleitsysteme und Effizienz-optimierter öffentlicher Nahverkehr), Smart Health (zum Beispiel intelligente Pflegeassistenzsysteme, Überwachungssysteme für kritische medizinische Parameter und Medikamentenzuteilungstechnologien) oder Smart Retail (etwa autonome Kassen und Navigationsapps für Supermärkte). Den größten Transformationseffekt aller Anwendungssegmente des IoT billigen die meisten Experten jedoch der Integration von Produktion und Logistik zu, die eine Erweiterung der Lieferketten zu intelligenten Wertschöpfungsnetzwerken bewirkt. Künftig werden auch Handel und Endverbraucher als eigenständige Akteure solcher Netzwerke fungieren. Während traditionell Hersteller auf Kundenwünsche reagierend ihre Produktion organisieren, Rohstoffe und Teile von Zulieferern beziehen und Endprodukte an den Handel liefern (mit Logistikdienstleistern als Transportelement), verändert sich durch die digitalisierte Welt dieses Beziehungsgeflecht fundamental. Der Kunde ist in Zukunft nicht mehr bloßer Empfänger von Waren und Services, sondern wird durch direkten Kontakt zu den Produzenten und Lieferanten zum aktiven Teilnehmer der Wertschöpfungsnetze. Über soziale Medien und Internetplattformen aller Art bestimmen seine Wünsche mehr und mehr Design, Funktion und individuelle Merkmale von Produkten. Indirekt kreiert er damit neue Geschäftsmodelle bei Produzenten, Zulieferern, Logistik und Handel. Im Sekundentakt direkt in die Produktionslinien gelieferte Komponenten und höchst kundenfreundlich und effizient ausgelieferte Endprodukte sind dabei das Kennzeichen zukünftiger Logistikkonzepte. Künstliche Intelligenz und Deep-Learning-Technologie sorgen für selbstoptimierende Materialflüsse und Produktions- und Transportverfahren sowie einen zuvor unerreichbaren Grad an Automatisierung und Autonomie.

1  Das Potenzial der Digitalisierung – Ein (Video-)Bild …

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Unter dem Markenzeichen Industrie 4.0 wird diese Entwicklung weltweit auch mit intensiver staatlicher Unterstützung vorangetrieben. Ein Kernelement des auf dem Konzept des Internets der Dinge basierenden Wandels ist die „Smart Factory“, ein Fertigungskonzept, das an vielen Orten der Welt in Prototypform präsentiert wird, und von dem Teile in immer mehr Unternehmen realisiert werden. Die Vernetzung von Robotern, Transportsystemen, Fahrzeugen und Menschen über digitale Schnittstellen schafft dabei weitgehend autonom geregelte Arbeitsprozesse: Maschinen koordinieren völlig selbstständig die Produktionsabläufe, Service-Roboter kooperieren in der Montagehalle auf intelligente Weise mit Menschen und autonom operierende Transportfahrzeuge sorgen eigenständig für einen höchst effizient gestalteten Materialfluss und optimierte, durch Echtzeitinformationen gesteuerte Logistikprozesse. Voraussetzung für das Funktionieren einer solchen „magischen“ Fabrik ist eine Echtzeitverbindung zwischen den unzähligen Daten, die während der Fertigung über Sensoren aller Art ermittelt werden, und den ERP- und Business-Intelligence-Systemen im Backoffice. Damit lassen sich zu jedem Zeitpunkt aktuelle Informationen über Einzelmerkmale des Produkts, Details zu den Liefer- und Materialzuführungsoptionen oder Angaben zum Zustand der Fertigungsstraße austauschen und nutzen. Ziel ist es dabei unter anderem, die Erzeugung individualisierter Produkte bis herunter zur Losgröße 1 zu ermöglichen, ohne dass dabei in den Herstellungsprozess eingegriffen oder gar die Produktion gestoppt werden muss, um Anlagen zu modifizieren. Damit lassen sich die Vorteile der Massen- mit den Qualitätsansprüchen der Einzelfertigung in Einklang bringen. Der Beitrag des IoT zu dieser bemerkenswerten Leistung ist die digitale Vernetzung von Produktionsanlage und Maschinen, Business-Software, unzähligen Sensoren und den verwendeten Bauteilen. Letztere tragen „Identifikationschips“ mit Daten über Zweck, Handlingvorschriften und Weg durch die Fertigungsprozesse, während Herstellungstools sich anhand dieser Informationen automatisch auf die Teile einstellen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die zukünftige Wertschöpfung durch das Internet der Dinge eine enorme Beschleunigung erfahren wird. In einer umfangreichen Studie kam das McKinsey Global Institute (MGI) auf einen bis 2025 zu erwartenden weltweiten wirtschaftlichen Mehrwert durch das IoT von bis zu 11 Billionen US$. Der Anteil, den intelligente Fabriken daran haben, soll sich – vor allem durch Faktoren wie gesteigerte Energieeffizienz und höhere Produktivität – auf 3,7 Billionen US$ belaufen.

1.4 Visualisierungstechnologie für Sicherheit und smarte Prozesse Die technologischen Zutaten zur Welt der vernetzten Dinge sind heute weitgehend vorhanden oder befinden sich in fortgeschrittenen Stadien der Entwicklung. Sensorik, miniaturisierte Rechner, eingebettete Systeme, in denen digitale Rechenpower in mechanische und elektronische Systeme integriert sind, hochentwickelte Algorithmen

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und hohe ­Datenübertragungsbandbreiten – dies alles wartet nur auf konkrete Anwendungsmöglichkeiten innerhalb von IoT und Industrie 4.0. Vorausgesetzt, die Infrastrukturverantwortlichen stellen die vorhandenen Technologien (Glasfaser, 5G & Co.) auch tatsächlich flächendeckend zur Verfügung, was in Deutschland noch mit einem Fragezeichen ­behaftet ist. Trotz des Fortschritts gibt es hier Technologiesektoren, deren Potenzial derzeit noch nicht ausreichend genutzt wird. Dazu gehören nicht zuletzt intelligente Visualisierungslösungen, also Systeme, die durch das Zusammenspiel von Kameras, Software und Daten die Effizienz und Produktivität im Wertschöpfungsgeflecht (vor allem in Produktion und Logistik) erhöhen. Konkret werden dabei Kameras mittels intelligenter Software kontrolliert und gesteuert, während gleichzeitig eine Echtzeitverbindung in die Datenbanken und ERP-Systeme besteht. Datenabgleiche mit Sollwerten von Bildinhalten oder Statistiken sparen dabei gegenüber manuellen Prozessen in erheblichem Maß Zeit und Ressourcen ein. Aus optischen Überwachungsanlagen mit menschlichen Beobachtern vor Bildschirmen werden damit dynamische, intelligente Mitakteure in einem Produktions- und Logistikgeflecht nach den Prinzipien von Industrie 4.0. Erfahrung mit dieser Art Technologie gibt es bereits seit vielen Jahren vor allem auf dem Sektor Sicherheit. Unter dem Begriff Video Security existieren zahlreiche Lösungen zur Überwachung von Parkplätzen, Gebäuden, Unternehmensbetriebsflächen oder Geschäften. Sie bieten auf vielfältige Weise Schutz vor Vandalismus, Einbruch, Diebstahl, Sabotage oder Betrug. Verwendet werden dafür Kameras, die mit einer hoch entwickelten Videoanalysesoftware kombiniert werden. Diese verleiht dem System eine hohe Eigenständigkeit, die auf einem automatisierten Abgleich mit in den Businesssystemen festgelegten Regeln und Richtlinien beruht: Zunächst „erkennt“ die Software die Relevanz einer Situation für einen Eingriff in Routineabläufe, sie entscheidet also, ob ein beobachtetes und aufgezeichnetes Ereignis „wichtig“ oder „unwichtig“ ist. Ist das Ereignis von Bedeutung, leitet die Software unmittelbar die allgemein festgelegten und im Businesssystem hinterlegten Reaktionsmaßnahmen ein. Als konkretes Beispiel kann eine Rauchentwicklung dienen, die von Sensoren festgestellt wird. Ohne Softwareintelligenz könnte dies unverzüglich einen Einsatz der Feuerwehr nach sich ziehen. Die Kamerasoftware ist nun aber in der Lage, den Ort und die Entstehungsabläufe der Rauchentwicklung zu erfassen und dabei zu ermitteln, ob es sich um ein gefährliches Ereignis (z. B. eine heiß gelaufene Maschine) handelt oder ob eine harmlose Ursache wie Zigarettenrauch vorliegt. Im ersten Fall wird die Feuerwehr (unter Umständen auch Krankenfahrzeuge) alarmiert. Im zweiten Fall wird der Vorfall gemeldet und kann später zu Warnungen an die Mitarbeiter verwendet werden. Auf diese Weise werden teure Fehlalarme weitestgehend ausgeschlossen. Ganz ähnlich reagiert die Kamerasoftware beispielsweise bei einem Bandstopp in der Fertigung: Die Kameras vermitteln optische Informationen, die es erlauben, Ort und Ursache des Vorfalls festzustellen und zu entscheiden, wo welcher Reparaturtrupp mit welchen Werkzeugen eingreifen muss. Digitale Schnittstellen zu weiteren Sicherheitselementen wie etwa Zaundetektionssystemen

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ermöglichen den Aufbau einer automatisierten integrierten Security-Architektur mit hoher Reaktionsgeschwindigkeit und Zuverlässigkeit. Im Alarmfall bieten also solche Lösungen, die aus zahlreichen Kameras bestehen können, eine schnelle Orientierung: Für eine rasche Lagebeurteilung werden die relevanten Alarminformationen, Aufzeichnungen und Livebilder aller Systeme übersichtlich visualisiert – entweder vor Ort oder über eine Verbindung zu anderen Standorten oder mobilen Endgeräten. Bereits vorab definierte Alarmabfolgen könnten beim Stand der Technik dafür sorgen, dass mit nur einem Knopfdruck die für diese Situation notwendigen Maßnahmen oder Alarmketten automatisch und gleichzeitig eingeleitet werden. Darüber hinaus eignet sich diese Visualisierungstechnologie zur Realisierung einer verlässlichen Kontrolle über alle Fahrzeugbewegungen und der effizienten Organisation von LKW vor und innerhalb eines Geländes. Anhand einer automatisierten Nummernschild-Erkennung erhalten LKW automatisch Zufahrt, werden auf dem Gelände an ein freies Tor oder einen freien Standplatz gelotst oder erhalten weitere Anweisungen.

1.5 Vom Sicherheitstool zur Effizienzmaschine Hier klingt bereits der Übergangsschritt von Sicherheitssystemen zu Visualisierungslösungen für die Steigerung der Prozesseffizienz im Industrie 4.0-Umfeld an. Denn jenseits von Security-Aufgaben ermöglicht die Kombination von Kamerasoftware und Datenschnittstellen über die Zufahrtkontrolle hinaus ein enorm erweitertes Lösungsspektrum. Dazu gehören etwa ein weitestgehend automatisiertes Hofmanagement für Logistikunternehmen, die rechtssichere Dokumentation von Schäden und deren Entstehung, die automatisierte Organisation von Paletten, Paketverfolgung auf den Förderbändern oder die automatische Verifizierung der korrekten Abwicklung von allgemein festgelegten Vorgängen. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass mit der Software, wie sie im Bereich Security zur Anwendung kommt, auch Objekte erfasst, identifiziert und gezählt werden können. Diese Fähigkeit ist es, die Visualisierungstechnologien gerade für die Logistikindustrie besonders attraktiv macht, wie ein Blick auf das Tagesgeschäft der Branche deutlich macht. Nach wie vor ist die prominenteste Aufgabe der Logistik der Transport von Waren und Gütern – also von Objekten, die bewegt, umgepackt, ausgepackt, wiederverpackt, beladen, entladen, angeliefert oder abgeliefert, gelagert und wieder verladen werden. Damit sind zahlreiche teils hoch komplexe technologische, organisatorische, rechtliche und sicherheitsrelevante Aspekte verbunden. Wahl und Optimierung von Transportmitteln und Routen, Handling von Objekten, Bewältigung der Anforderungen von Umwelt und Infrastruktur, Versicherungs- und Haftungsfragen – all diese Prozesse zu organisieren und möglichst kostengünstig abzuwickeln, stellt die Unternehmen der modernen Logistikindustrie vor große Herausforderungen.

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Optische Systeme, die softwaregesteuert Objekte identifizieren und zählen und mit Echtzeitdaten gefüttert werden können, finden in diesem Umfeld unzählige Anwendungen, die Prozesse beschleunigen und Kosten sparen. Dazu ist es zunächst wichtig, die betreffenden Vorgänge – etwa den Transport von Paketen auf einem Förderband – räumlich strategisch sinnvoll mit Kameras abzudecken. Sind Gegenstände von einer am Prozessanfang positionierten Kameralösung einmal erkannt, dokumentieren intelligent verteilte Kameras lückenlos ihren Zustand, verfolgen ihren Weg (im Bedarfsfall auch rückwärts) und leiten im Informationsaustausch mit Datenbanken und Businesssoftware die unterschiedlichsten Kontroll- und Steuerungsprozesse ein – entweder automatisch oder in Kooperation mit Menschen. Prozessoptimierung im Rahmen einer Industrie 4.0-Strategie, Qualitätssicherung, Einhaltung von Sicherheitsstandards, Vermeidung von Haftungsrisiken, Zeit- und Kosteneinsparung sowie die Reduzierung manueller Arbeitsschritte sind die wichtigsten Vorteile solcher Lösungen. Der entscheidende Kniff, der diesen Fortschritt erst möglicht macht, ist moderne Schnittstellentechnologie. Unter Schnittstelle versteht man den (physischen und/oder softwareseitigen) Ort, an dem die Kommunikation im Datennetz abläuft, die Berührungsstelle von zwei oder mehr Hard- und Softwareeinheiten. Damit die Einheiten an dieser Stelle miteinander sprechen können, müssen hier alle Übersetzerfunktionen und das Know-how über die Kommunikationsmodalitäten vorhanden sein, also beispielsweise Protokolle, Standards und Betriebsarten. Nur dann kann sich jedes Gerät, nachdem es sich identifiziert hat, prinzipiell mit jedem Partner im integrierten Netzwerk, in einer Smart Factory, einer digitalisierten Supply Chain oder im IoT austauschen. In der Schnittstelle liegt gewissermaßen der Clou des Internets der Dinge. Sie realisiert die Kommunikation im digitalen Netzwerk. Über Schnittstellen lassen sich operative Prozesse mit zentralen Planungssystemen (ERP) verknüpfen, sodass bestimmte (etwa durch Kameras erfasste) Ereignisse automatisch entsprechende Aktionen wie Ersatzteilanforderungen, Serviceaufträge oder Alarmmeldungen einleiten. Die ERP-Software kann von verschiedenen Herstellern stammen – intelligente Schnittstellen übersetzen die fremden „Sprachen“ zuverlässig. Auf der Basis dieser Technologie lassen sich die oben angeführten Anwendungen für die Logistikindustrie realisieren. Um beim automatisierten Hofmanagement anzusetzen: Im Rahmen des beschriebenen Zufahrtsmanagements erfassen Kameras am Speditionstor automatisch Kennzeichen, Trailernummern und auch den Fahrzeugzustand und gleichen sie in Echtzeit mit den Berechtigungsdaten im Businesssystem ab. Auch eventuelle Beschädigungen am Fahrzeug oder den Plombierungen fallen dabei sofort auf. Mit einer solchen Visualisierungslösung gelingt eine weitgehend automatisierte Zu- und Ausfahrt, die Wartezeiten merklich verringert: Nachdem das System das Nummernschild des LKW am Tor erkannt hat, öffnet sich die Schranke sofort (oder, bei erhöhten Sicherheitsanforderungen, erst dann, wenn weitere Identifizierungsmerkmale abgeglichen sind). Strategisch platzierte Kamerasysteme erlauben zudem eine Verfolgung der Fahrzeuge über das gesamte Gelände und damit eine optimierte Steuerung aller Umschlagvorgänge (Abb. 1.1).

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Abb. 1.1   Automatisiertes Hofmanagement. (Quelle: Geutebrück)

Auf dem Weg durch das Logistikgelände geht häufig unnötig Zeit verloren, wenn etwa Fahrer die Wege nicht exakt kennen oder an ungünstigen Stellen halten. Videosysteme gestatten auch hier eine Optimierung der Abläufe. Dazu verhilft eine Schnittstelle zwischen dem Hofmanagement-System und der ERP-Software. Sobald die Kamera das Nummernschild erkannt hat, wird eine Aktion im ERP-System ausgelöst. Beispielsweise wird die Tor-Nummer, die im Warenwirtschaftssystem hinterlegt ist, automatisch auf einem Display sichtbar oder der Fahrer durch eine SMS davon in Kenntnis gesetzt, an welchem Tor er die Ware anliefern oder abholen muss. Die generierten Daten erlauben so nach der Einfahrt eines LKW ein prozessoptimiertes Be- und Entladen an den Ladeplätzen. Die Software, die mit den Kameras verbunden ist, „erkennt“, ob Stellplätze oder die Flächen vor der Rampe belegt sind oder für das nächste Fahrzeug zur Verfügung stehen. Durch die Anbindung an die Business-Systeme lassen sich alle Vorgänge synchronisieren und über die ERP-Software analysieren und kontrollieren. Derartige Lösungen steigern die Effizienz auf dem Gelände erheblich, sie reduzieren die Wartezeiten, vermeiden zu lange Verweildauern auf Park- und Ladeplätzen und entlasten das Personal. Die Einbindung der Business-Software in den Visualisierungsprozess sorgt für einen enormen Zuwachs an Transparenz und Planbarkeit. So lassen sich Verkehrsaufkommen und Verweildauern dokumentieren und über beliebige Zeiträume hinweg analysieren. Dadurch wird erkennbar, wie viele Fahrzeuge pro Tag oder zu gewissen Uhrzeiten auf dem Gelände unterwegs sind. Mit diesem Wissen können Disponenten Stoßzeiten optimieren und dementsprechend Kapazitäten planen. Mit der Dokumentation der Aufenthaltsdauer kann ein effizienter Ablauf auf dem Hof gewährleistet werden, etwa indem

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eine maximale Standdauer für einzelne Fahrzeuge oder Fahrzeuggruppen festgelegt und im System hinterlegt wird. Ein automatisiertes Hofmanagement sorgt so für optimierte Wartezeiten, effiziente Fahrzeugführung und Transparenz und Sicherheit auf dem gesamten Gelände. Kameras an den entscheidenden Be- und Entladestationen können aufgrund der Unbestechlichkeit von kontrolliert erzeugten Bildern noch auf ganz andere Weise von Vorteil sein. Durch Kamera-gestützte Dokumentation der Vorgänge an den Rampen lassen sich haftungsrelevante Sachverhalte unzweideutig aufklären und langwierige Rechtsstreitigkeiten vermeiden. Im Schadensfall können Logistikunternehmen beispielsweise nachweisen, dass Beschädigungen an Fahrzeugen, Brücken oder Ladungen bereits bei der Auffahrt auf das Gelände bestanden haben oder dass ein Objekt beim Ver- und Entladen unversehrt war und eine aufgetretene Beschädigung daher erst nach dem Transport aufgetreten sein kann. Gerichtsfeste Bildbeweise – die sich mit wenigen Klicks aus der Livebild-Dokumentation extrahieren lassen – sorgen bei den Verantwortlichkeiten für klare Verhältnisse bei aufgetretenen Schäden.

1.6 Prozessvisualisierung entlang der Wertschöpfungskette Bereits das beschriebene Szenario verschiedenster Aspekte des Hofmanagements macht das Potenzial deutlich, das Visualisierungslösungen mit ihrer Verbindung von Kamerabildern und Prozessdaten für eine Logistik 4.0 eröffnen: Einsparungen an Kosten und Zeit in erheblicher Höhe, Personalentlastungen, Effizienzgewinne aller Art lassen sich durch Prozessvisualisierungstechnologien realisieren, und das über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Das Beispiel der visuellen Dokumentation von Fahrzeugbewegungen zeigt, wie visuelle Dokumentation auf den unterschiedlichsten Anwendungsfeldern nützlich sein kann. Warenein- und Warenausgang, Kommissionierung oder Retourenabwicklung sind nur wenige offensichtliche Prozesse, mit denen sich durch den Einsatz von Videoanalysetools automatisiert u. a. Beschädigungen frühzeitig erkennen, Diebstahl und Betrug aufklären und Haftungsübergänge zweifelsfrei belegen lassen. Einzelwaren, Pakete und Paletten werden von Kameras ganz ähnlich kontrolliert und im Rahmen von Track-and-Trace-Lösungen geografisch verfolgt. Zu typischen Anwendungsszenarien in der Logistik zählt etwa die videogestützte Organisation von Paletten. Kameras liefern dazu Bildmaterial von Palettenstellplätzen, das zum Zählen der Paletten und Leeräume herangezogen wird. Das Ergebnis wird direkt an das ERP-System übermittelt, über dessen Steuerungsfunktionen freie Plätze anschließend neu belegt werden. KEP-Dienste können Pakete durch Kameras über ihren gesamten Weg auf dem Verteilerband lückenlos verfolgen. Kommt ein am Bandanfang identifiziertes Paket am Ende nicht an, kann durch Rückverfolgung der Kamerabilder ohne manuelle Untersuchungen

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am Band blitzschnell herausgefunden werden, wo und warum das vermisste Stück vom Band gefallen ist. Auf gleiche Weise lässt sich die Ursache von Beschädigungen auf dem Weg des Pakets ermitteln.

1.7 Künstliche Intelligenz Mit dem technologischen Fortschritt wachsen auch die Fähigkeiten von Visualisierungslösungen. Insbesondere das maschinelle Lernen macht sie zu immer mächtigeren Instrumenten zur Prozessoptimierung. Die ersten Beispiele dafür sind bereits im Einsatz, wie etwa ein Geutebrück-System zur Erkennung von Schutzkleidung belegt, das überprüft, ob ein Mitarbeiter beispielsweise die vorgeschriebene Warnweste trägt. Erst, wenn dies verifiziert ist, wird der Zutritt in einen geschützten Bereich gewährt – oder verweigert. Kamerasysteme, die die Warnweste identifizieren können – etwa anhand reflektierender Flächen oder leuchtender Farben – ermitteln per Bildanalyse, ob die Anforderungen an die Schutzausrüstung erfüllt sind. Mit Anzeigelösungen wie etwa einer Rot-grün-Ampel erhält der Mitarbeiter eine entsprechende Rückmeldung. Analog kann dieses Verfahren auch das Tragen von Helmen, Schutzhandschuhen oder anderen obligatorischen Schutzelementen überprüfen. Das Prinzip ist beliebig anwendbar auf jegliche Arten von feststehenden oder sich bewegenden Objekten (Abb. 1.2). Damit dieses System optimal funktioniert, wird es angelernt: Durch Tests und ihre Auswertung lernt der Algorithmus, die gewünschten Objekte mit äußerster Präzision in allen Umgebungen zu identifizieren. Die Anlernphase ist wie bei allen Einsatzfeldern von lernenden Systemen entscheidend, sie sollte alle vorstellbaren Eventualfälle berücksichtigen, so dass Abweichungen von erlernten „erlaubten Zuständen“ einen Alarm auslösen. Da das Training der Visualisierungslösung erhebliches Know-how erfordert, dürften sich bald Trainingsservices für diesen Zweck als neues Geschäftsmodell etablieren. Künstlich intelligente und lernfähige Systeme bringen nämlich immer einen

Abb. 1.2   KI-gestützte Zugangskontrolle. (Quelle: Geutebrück)

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K. Geutebrück

u­ nvermeidlichen Folgeaufwand mit sich: Wenn sich in den Strukturen, in die sie integriert sind, Prozessänderungen ergeben oder neue Geräte und Software hinzugefügt werden, muss das System zurück auf die Schulbank.

1.8 Datengestützte Visualisierung – eine Industrie 4.0-Schlüsseltechnologie Automatisierte, lernfähige Visualisierungssysteme gestatten es, die Zusammenarbeit von Kameras und Daten aus den Businesssystemen ohne menschliches Eingreifen durch Nutzung von Schnittstellentechnologie zu regeln. Diese digitale Transformation der Prozesse führt zu einer Senkung der Betriebskosten und zur Erhöhung der Effizienz. Gerade für den Mittelstand tun sich damit erhebliche Vorteile auf, im harten Wettbewerb zu bestehen. Vorher manuell abgewickelte Datenabgleiche etwa laufen nun durch direkte Kommunikation von Maschinen und Informationssystemen weit schneller ab und werden in Echtzeit in der Planungssoftware abgelegt – der Aufwand an personellen und finanziellen Ressourcen reduziert sich, während gleichzeitig die Fehleranfälligkeit sinkt. Der Visualisierung von Prozessen, verbunden mit der Anbindung an die Datenressourcen im Unternehmen, gehört die Zukunft. Dabei wird deren Nutzung künftig zunehmend über digitale Plattformen möglich sein, die den Service per Internet zur Verfügung stellen und eine nutzungsbasierte Abrechnung gestatten. Viele Mittelständler haben allerdings Bedenken, was die Komplexität der Technologie angeht und befürchten, finanziell und hinsichtlich des technologischen Know-hows überfordert zu sein. Angesichts des Stands der Technologie ist dies unbegründet: Die Komplexität zu bändigen, ist die Kompetenz des Dienstleisters, der Anwender, also beispielsweise ein mittelständisches Logistikunternehmen, muss am Ende eine einfach zu handhabende Lösung zur Verfügung haben. Die Erfahrung zeigt, dass moderne Technologie den schrittweisen Einstieg in das digitale Zeitalter wesentlich einfacher und kostengünstiger bewerkstelligen kann als befürchtet. Denn die Fähigkeit, Geräte aller Art in ein digital vernetztes System zu integrieren, erlaubt den Betrieben, bereits vorhandene Infrastrukturen oder Maschinen weiterzuverwenden. Gewachsene Geräteparks, die in der Regel von vielen unterschiedlichen Herstellern geliefert wurden, müssen dank dieser Rückwärtskompatibilität nicht zwingend ausgetauscht werden. Intelligente Schnittstellen vernetzen sie untereinander ohne Probleme – ein wichtiges Element beim Investitionsschutz. Entscheidend für eine optimale Nutzung des Potenzials der Visualisierung ist die Fähigkeit, jede individuelle Unternehmensanforderung berücksichtigen zu können. Jedes Unternehmen hat eine eigene, einzigartige Bedarfssituation, die sich nicht nach dem „One-size-fits-all-Prinzip“ abbilden lässt. Statt fertiger Gesamtpakete empfiehlt sich ein modularer Lösungsansatz, wie ihn Geutebrück seit Jahren verfolgt. Er besteht aus einzelnen Funktionselementen, die für jeweils unterschiedliche Teilaufgaben optimiert sind, wie etwa Erkennen von Objekten, Zählen der identifizierten Gegenstände, Auswertung,

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Einleitung von Reaktionen und Übertragung der ermittelten Daten in die Businesssysteme. Durch Kombination dieser Module lassen sich die verschiedensten Lösungselemente erzeugen und auf die jeweils individuelle Situation des Anwenderunternehmens zuschneiden.

1.9 Fazit Das Anwendungsspektrum von intelligenten Visualisierungslösungen für die Logistik ist schier unerschöpflich. Überall, wo Gegenstände und Prozesse überwacht, automatisiert, optimiert und transparent gemacht werden sollen, bieten sie einen enormen Mehrwert. Die Verbindung von Kameras, Software, Businessdaten und Schnittstellentechnologie macht intelligente, lernfähige Videosysteme zu einem nicht mehr wegzudenkenden Element in zukunftsorientierten Industrie 4.0-Infrastrukturen. Kamerabasierte intelligente und lernfähige Systeme bedeuten eine enorme Entlastung für die Mitarbeiter in Betrieben aller Branchen, besonders aber innerhalb der Prozesswelt der Supply Chain. Sie werden zu intelligenten Unterstützern, die Ereignisse automatisch analysieren und selbstständig reaktiv oder proaktiv handeln. Der Mensch ist immer dann gefragt, wenn weit reichende Entscheidungen zu treffen sind. Diese Version der Mensch-Maschine-Kollaboration bringt die Industrie 4.0-Vision einer automatisierten Wertschöpfung ein erhebliches Stück voran. Katharina Geutebrück absolvierte 1993 ihr Studium als Diplom-Wirtschaftsingenieur Elektrotechnik mit dem Schwerpunkt Marketing an der TH Darmstadt. In ihrer Diplomarbeit beim Textil-Service-Unternehmen MEWA beschäftigte sie sich mit dem Thema Qualitätssicherung und leitete anschließend ein Projekt zur Tourenoptimierung in der norditalienischen Tochtergesellschaft dieses Unternehmens. 1994–1996 arbeitete sie als internationale Produktmanagerin für technische Leuchten bei der SLI AG in Saint Etienne, Frankreich. Im elterlichen Unternehmen ist Katharina Geutebrück seit 1997 tätig, zunächst als Marketingleiterin und ab 1999 neben ihrem Vater als Mitgeschäftsführerin. Seit 2012 leitet sie das Unternehmen gemeinsam mit ihrem Ehemann Christoph Hoffmann. Katharina Geutebrück ist Mitglied beim internationalen Berufsverband der Sicherheitsbranche ASIS International und im Club of Logistics. Sie ist Vorstandsmitglied in der Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft ASW-NRW, führte zeitweise den Vorsitz des Fachausschusses Videoüberwachung im BHE Bundesverband Sicherheitstechnik e. V. und ist Kuratoriums-Mitglied der Trappen-Stiftung Bad Honnef.

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Digitalisierung der Supply-Chain Volker Stich, Jan Reschke, David Holtkemper, Andreas Kraut, Daniel Pause und Svenja Marek

Zusammenfassung

In immer komplexer werdenden Wertschöpfungsketten wird die Geschwindigkeit, mit der Informationen weitergegeben und entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden können, zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil. In der Realität kommt es jedoch auf dem Weg zwischen einem Ereignis und einer passenden Reaktion zu verschiedenen zeitlichen Verzögerungen, sogenannten Latenzen, die die Agilität eines Unternehmens erheblich hemmen. Insbesondere das Supply Chain Management mit seiner koordinierenden Funktion wird dadurch vor enorme Herausforderungen gestellt. Schlüsseltechnologien im Zeitalter von Digitalisierung und Industrie 4.0 bieten jedoch enorme Potenziale, die verschiedenen Formen von Latenzen zu reduzieren. Der Beitrag untersucht die unternehmensübergreifenden Effekte dieser Verzögerungen entlang der Supply Chain und beleuchtet darüber hinaus die Potentiale konkreter digitaler Technologien auf selbige. V. Stich (*) · J. Reschke · D. Holtkemper · A. Kraut · D. Pause · S. Marek Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Reschke    E-Mail: [email protected] D. Holtkemper E-Mail: [email protected] A. Kraut E-Mail: [email protected] D. Pause E-Mail: [email protected] S. Marek E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_2

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V. Stich et al.

2.1 Informations- und Umsetzungsgeschwindigkeit als Erfolgsfaktoren in modernen Supply Chains Technologiebasierte Entwicklungen schreiten weiterhin voran und prägen dabei den Arbeitsalltag vieler Unternehmen. Kaum eine Branche ist hiervon unberührt und durch die zunehmend globalisierte und vernetzte Wertschöpfung sind annähernd alle Wertschöpfungspartner betroffen. Dabei werden die unternehmensübergreifende Logistik und das Supply Chain Management (SCM) durch die Ausrüstung von Transportfahrzeugen, Maschinen und Betriebsmitteln mit Sensorik und Aktorik zunehmend intelligenter und transparenter. Daten können automatisiert erhoben, verarbeitet sowie Entscheidungen abgeleitet und umgesetzt werden. Dies ermöglicht dann in der Gesamtheit, dass Prozesse nicht nur auf Standort- oder Unternehmensebene gesteuert werden können, sondern die Aktivitäten und Abläufe in der Supply Chain unternehmensübergreifend gekoppelt sind und eine hohe Informationstransparenz vorliegt. Infolgedessen können Maschinen und Produkte auf der einen Seite autonom agieren und miteinander kommunizieren. Auf der anderen Seite sind die Akteure innerhalb der Supply Chain dazu in der Lage, den Produktionsfortschritt nach Bedarf in Echtzeit zu verfolgen, Engpässe und Störungen zu antizipieren und den Wertschöpfungsprozess effizienter zu gestalten. Lieferverzögerungen können dadurch reduziert und die Ressourceneinsatzplanung optimiert werden. Solche Potenziale können nur durch eine IT-seitig hoch vernetzte und harmonisierte (digitale) und dadurch letztlich transparente Supply Chain umgesetzt werden. Dafür sind eine hohe Datenverfügbarkeit und Informationstransparenz von elementarer Bedeutung (s. Zillmann 2016, S. 4 ff.; Schuh et al. 2017, S. 23 ff.). Problematisch ist dies aktuell beispielsweise bei dem Übergang von Intra- zur Distributionslogistik. Auch wenn beide logistischen Stufen in vielen Fällen für sich zumindest teilweise digitalisiert sind, ist der Übergang oftmals keineswegs harmonisiert – Informationen gehen verloren und die möglicherweise notwendige Wiederbeschaffung führt zu Verzögerungen. Diese Faktoren nehmen ferner einen zunehmend größeren Stellenwert für die Zufriedenheit des Kunden ein. So zeigt beispielsweise eine repräsentative und international durchgeführte Umfrage von YouGov, dass 78 Prozent der befragten Konsumenten regelmäßige Informationen über den Lieferstatus ihrer Produkte erhalten möchten (s. Infor 2018). Gelingt es also, eine unternehmensübergreifende Wertschöpfungskette vollständig zu digitalisieren und Statusinformationen flexibel und nach Möglichkeit in Echtzeit einsehbar zu machen, verbessert dies nicht nur die Wertschöpfungsprozesse, sondern beeinflusst auch nachhaltig die Kundenzufriedenheit – und das selbe gilt auch für industrielle Abnehmer. Die zunehmende Komplexität und Dynamik in Wertschöpfungsketten erfordern, dass die richtigen Entscheidungen zeitnah getroffen werden. Dafür stehen den Unternehmen

2  Digitalisierung der Supply-Chain

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zum einen immer kürzere Zeitspannen zur Verfügung, zum anderen nimmt der Wert einer Information – z. B. über einen Störfall entlang der Supply Chain – und dadurch der wettbewerbsrelevante Informationsvorsprung über die Zeit ab. Je früher Informationen zur Verfügung stehen, desto früher kann auf Ereignisse reagiert oder können Optimierungspotenziale erkannt werden – bis hin zur Vermeidung von sich anbahnenden Problemen durch proaktive Handlungen. Auf dem Weg zwischen dem Eintreten eines Ereignisses und dem Auslösen einer entsprechenden Reaktion treten zeitliche Verzögerungen – Latenzen – in unterschiedlicher Form auf (s. Schmidt-Volkmar und ­Chamoni 2008, S. 31 f.). Eine Minimierung dieser Latenzen hat folglich einen enormen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit von Supply-Chains und ist vor diesem Hintergrund zentraler Betrachtungsgegenstand dieses Beitrags.

2.2 Supply Chain Management, Digitalisierung und Industrie 4.0 Um ein einheitliches Verständnis der grundlegenden Begriffe zu schaffen, wird nachfolgend zunächst das Supply Chain Management mit den für diesen Beitrag prägenden Elementen beschrieben. Im weiteren Verlauf werden im Kontext der industriellen Revolution die Digitalisierung und der Begriff Industrie 4.0 genauer erläutert.

2.2.1 Supply Chain Management (SCM) Mit dem Begriff Supply Chain wird ein Netzwerk aus mehreren Organisationen bezeichnet, welches sich vom Rohstofflieferanten bis zum Endkunden erstrecken kann. Innerhalb dieses Netzwerks interagieren die einzelnen Organisationen im Verbund miteinander, um einen auf den Endkunden ausgerichteten Wert zu schaffen. In Form von Dienstleistungen oder Produkten gilt es dann, innerhalb des SCMs die Bedürfnisse des Kunden durch hocheffiziente Abläufe und den effektiven Einsatz von Ressourcen bestmöglich zu erfüllen. Dieses Netzwerk besteht in der Regel aus Material- und Informationsflüssen. Ferner werden in der Supply Chain in der Regel auch Finanzflüsse betrachtet (s. Beckmann 2012, S. 7). Da die Finanzaktivitäten für den vorliegenden Beitrag jedoch von untergeordneter Bedeutung sind, soll der Fokus insgesamt auf den Material- und Informationsflüssen liegen. Abb. 2.1 zeigt eine exemplarische Supply Chain, in deren Mittelpunkt ein fokales, produzierendes Unternehmen steht. Im Sinne einer unternehmensübergreifenden horizontalen Integration werden hierbei alle Akteure der Supply Chain in den Wertschöpfungsprozess einbezogen, sodass sie gemeinschaftlich den Wertstrom abbilden und sequenziell an der Leistungserstellung beteiligt sind. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass die einzelnen Prozesse und Abläufe aufeinander abgestimmt werden, um Wartezeiten zu vermeiden. Solche Wartezeiten können sich z. B. dadurch ergeben, dass notwendige Materialien nicht zum benötigten Zeitpunkt am richtigen Ort sind oder falsche Produkte aufgrund fehlerhafter Informationsflüsse gefertigt wurden. An dieser Stelle ist auf die zentrale Bedeutung der unternehmensübergreifenden Koordination im

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V. Stich et al. Lieferant

Lieferant

Lieferant

Hub

Finanz-/ Informationsfluss

Produzent Kunde

Kunde

Horizontale Integration

Vertikale Integration

Materialfluss

Kunde

Abb. 2.1   Idealtypische Supply Chain (i. A. a. Schuh et al. 2013, S. 12, S. 12)

SCM hinzuweisen, wodurch derartige Störungen minimiert werden sollen. So sind alle Prozesse und Abläufe immer im Verbund und nicht nur innerhalb der eigenen Unternehmensgrenzen zu betrachten. Ebenfalls ist es wichtig, dass der Kunde im Sinne eines End-to-End-SCMs integriert wird. Das bedeutet, dass der Kunde den Anfang und zeitgleich das Ziel der Wertschöpfung bildet. Ausgehend von einem Kundenauftrag und den damit einhergehenden Anforderungen initiiert er die Leistungserstellung. Mit der Auslieferung des Produkts oder der Erbringung einer Dienstleistung ist der Wertschöpfungsprozess dann abgeschlossen. Zur optimalen Koordination der Prozesse müssen geeignete Schnittstellen zwischen den einzelnen Akteuren definiert und realisiert werden. Mittels dieser Schnittstellen lassen sich dann Informationen medienbruchfrei bereitstellen und aufnehmen. Die vertikale Integration im Kontext des SCMs zielt auf eine möglichst vollständige Integration der unternehmensinternen Systemwelt ab. Sie umfasst dabei die Koordination zwischen Planungs-, Steuerungs-, Durchführungs- und Kontrollebenen von der strategischen bis zur operativen Ebene (s. Schuh et al. 2013, S. 27, 210 ff.). Insgesamt lässt sich das SCM als Managementansatz bezeichnen, in dessen Mittelpunkt der Aufbau und die Optimierung der Wertschöpfungsketten stehen. Wesentliche Ziele sind hierbei, die Kosten zu reduzieren, flexible, zuverlässige sowie reaktionsschnelle Prozesse zu gestalten und die Bestände entlang der Supply Chain zu optimieren. Diese Wertschöpfungsketten können unterschiedlich komplex und variabel hinsichtlich der Wertschöpfungstiefe sein. Unabhängig von den breitgefächerten Ausprägungsmöglichkeiten besteht jedoch die Notwendigkeit, Informationen entlang der Supply Chain zu teilen, um eine Leistungserstellung im Sinne der Kunden sicherzustellen.

2  Digitalisierung der Supply-Chain

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2.2.2 Digitalisierung und Industrie 4.0 Nach der Mechanisierung und der Automatisierung bestand die dritte große industrielle Revolution in der Digitalisierung. Durch den Einsatz von programmierbarer Maschinensteuerung erlaubt sie, die Automatisierung der Fertigung zu erweitern sowie administrative Prozesse zu erleichtern. Sie bildet die Grundlage für die jüngste, die vierte industrielle Revolution, bei der es durch die Vernetzung von Maschine, Produkt und Mensch über cyber-physische Systeme zu einer Verschmelzung der digitalen Welt mit der Industrie kommt (s. Obermaier 2016, S. 3; Seiter et al. 2017, S. 48). Da den Begriffen Digitalisierung, digitale Transformation und Industrie 4.0 eine im jeweiligen Kontext unterschiedliche Bedeutung zugeschrieben wird, sollen sie hier als Grundlage für das Verständnis des folgenden Textes voneinander abgegrenzt werden. Während der Begriff Industrie 4.0 die Vision bis hin zur vollständig vernetzten, autonom agierenden Wertschöpfungskette meint, beschreibt die digitale Transformation den Anpassungsprozess, dem sich Unternehmen auf dem Weg dorthin unterziehen müssen. Die Digitalisierung schließlich meint das Werkzeug, das für das Erreichen des Wandels nötig ist, also die Anwendung digitaler Technologien. (s. Kersten et al. 2018, S. 104). Die Digitalisierung bietet insbesondere für das Supply Chain Management enorme Potenziale. Seit jeher ist es mit der Aufgabe betraut, Prozesse über Unternehmensgrenzen hinweg zu koordinieren. Dennoch entstehen entlang der Supply Chain unerwünschte Effekte wie beispielsweise das Aufschaukeln von Pufferbeständen in Richtung vorgelagerter Akteure in Verbindung mit enormen Lagerkosten. Diese Effekte sind hauptsächlich der mangelnden Kommunikation und Koordination zwischen den Partnern einer Supply Chain geschuldet. Verschiedene Schlüsseltechnologien der digitalen Transformation wie bspw. EDI (Abkürzung für eng. Electronic Data Interchange) oder Plattformen können es ermöglichen, eine ganzheitliche Transparenz entlang der Wertschöpfungskette zu schaffen, um so diese Effekte zu reduzieren. Dabei sollen einem Akteur der Supply Chain optimalerweise nicht nur Informationen des vor- oder nachgelagerten Akteurs zur Verfügung stehen, sondern es soll vielmehr eine End-to-End-Transparenz geschaffen werden, bei der jeder auf relevante Daten sämtlicher Akteure der Wertschöpfungskette zugreifen kann. Bereits heute bieten die Technologien die Möglichkeit, die gesamte Wertschöpfungskette digital in Echtzeit zu überwachen und zu steuern. Andere Technologien beschleunigen die Kommunikation oder ermöglichen Unternehmen durch die Datenerhebung und -analyse, Ursache-Wirkungszusammenhänge aufzudecken und künftige Ereignisse zu prognostizieren. Prozesse lassen sich so effizienter gestalten, Kosten reduzieren, die Lieferqualität erhöhen und schließlich lässt sich schneller auf Störungen entlang der Lieferkette reagieren. (s. Hermes Germany GmbH 2017). Der Reifegrad eines Unternehmens bzw. einzelner Unternehmensbereiche hinsichtlich der Transformation hin zu Industrie 4.0 lässt sich anschaulich durch den sogenannten Industrie-4.0-Maturity-Index ermitteln (s. Schuh et al. 2017, S. 14 ff.). Dieser zeigt sechs aufeinander aufbauende Stufen, die jeweils für den Reifegrad eines Unternehmens im Hinblick auf die digitale Transformation stehen. Die ersten beiden Stufen „Computisierung“

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V. Stich et al.

Industrie 4.0 Industrie 4.0 Reifegrad Business Value

Wie kann autonom agiert werden? „selbstoptimierend“

Was wird passieren? „vorbereitet sein“ Warum passiert es? „verstehen“ Was passiert? „sehen“

Computerisierung Konnektivität

Sichtbarkeit

Transparenz

2

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Prognosefähigkeit

Adaptierbarkeit

Industrie 4.0 Entwicklungspfad

1

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Abb. 2.2   Reifegradstufen Industrie 4.0 (i. A. a. Schuh et al. 2017, S. 25)

und „Konnektivität“ bilden den Wegbereiter für die der Industrie 4.0 zugeordneten Stufen „Sichtbarkeit“, „Transparenz“, „Prognosefähigkeit“ und „Adaptierbarkeit“ (Abb. 2.2). Die erste Reifegradstufe, welche der Industrie 4.0 zugeordnet wird, ist die „Sichtbarkeit“. Sie umfasst die automatische Erfassung von Daten mit dem Ziel einer digitalen Abbildung des Wertschöpfungsnetzwerks bzw. allgemeiner Prozesse und Abläufe. Dazu werden Daten zeitpunkt- und ortsbezogen gesammelt und für relevante Akteure sichtbar gemacht. Auf Basis dieser Daten lassen sich dann Methoden, Konzepte und Algorithmen zur Datenaufbereitung und Plausibilitätsprüfung anwenden. Solche Aktivitäten werden unter der Reifegradstufe „Transparenz“ zusammengefasst und behandeln die Fragestellung „Warum passiert es?“. Die nächste Stufe „Prognosefähigkeit“ umfasst eine antizipative Betrachtung möglicher Ereignisse in der Zukunft. Auf Basis zuvor ermittelter Ursache-Wirkungszusammenhänge lassen sich so Ereignisse bzw. Störungen identifizieren. Dies ermöglicht eine frühzeitige Entscheidungsfindung, die Bewertung potenzieller Handlungsoptionen und das Vorbereiten auf bzw. Vorbeugen von potenziellen Störungen. Die letzte Stufe und damit den höchsten Reifegrad stellt die „Adaptierbarkeit“ dar, welche „eine Selbstoptimierung auf Grundlage der kontinuierlichen Adaptierung der Erkenntnisse“ (s. Schuh et al. 2017, S. 25 ff.) beschreibt. Einhergehend mit dieser Reifegradstufe lassen sich autonome Systeme implementieren, welche auf Basis der gesammelten und analysierten Daten in der Lage sind, proaktiv auf Ereignisse und Veränderungen zu reagieren. Dabei definieren sie ihre Abläufe eigenständig, optimieren Sollwerte und passen Zielparameter dynamisch an, wodurch sich erhebliche Zeitvorteile ergeben können.

2  Digitalisierung der Supply-Chain

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2.3 Kurze Latenzzeiten sind der Schlüsselindikator für ein agiles Unternehmen Betrachtet man die fortschreitende Digitalisierung und die zunehmende Bedeutung von Industrie 4.0, ihren Einfluss auf die Supply Chain und die damit einhergehende unternehmensübergreifende Zusammenarbeit, lassen sich verschiedene Potenziale identifizieren. In einem Zeitalter, in dem Märkte immer volatiler und die Produkte individueller werden gewinnt dies zunehmend an Bedeutung. Abweichungen des Ist-Prozesses vom Soll-Zustand lassen sich durch eine unternehmensübergreifend vernetzte und harmonisierte IT besser identifizieren und entsprechende Maßnahmen initiieren. So ist schließlich nicht nur die Kenntnis über verschiedene Ereignisse von Bedeutung, sondern darüber hinaus ist es auch von Relevanz, dass die jeweiligen Informationen möglichst schnell zu den wesentlichen Akteuren gelangen und Maßnahmen ohne Zeitverzögerung umgesetzt werden. Der Informationsfluss muss dabei nicht nur innerhalb eines Standorts oder eines Unternehmens sichergestellt werden, sondern innerhalb der gesamten Supply Chain. In der Praxis sind jedoch diesbezügliche Latenzen allgegenwärtig und deren Minimierung von hoher Relevanz. Der Begriff „Latenz“ bezeichnet im Allgemeinen die Zeitspanne, welche zwischen dem eigentlichen Ereignis und der darauffolgenden Reaktion liegt. Wie in Abb. 2.3 ersichtlich können die unternehmensrelevanten Latenzen in Daten-, Analyse-, Entscheidungs- und Anwendungslatenz differenziert werden. Die Datenlatenz umfasst dabei die Zeitspanne zwischen dem physischen Eintritt eines Ereignisses und der Bereitstellung der relevanten Ereignisdaten. Nachdem die Daten verfügbar sind, können diese kontextbasiert analysiert werden. Dieser Zeitraum bis zur abgeschlossenen Analyse wird als Analyselatenz bezeichnet und hängt entscheidend von der Komplexität des Ereignisses, der zur Verfügung stehenden Daten sowie der technologischen Unterstützung des Analyseprozesses ab. Die abgeschlossenen Analysen wiederum sind der Ausgangspunkt für den Entscheidungsfindungsprozess im Sinne der Abwägung zwischen geeigneten Handlungsalternativen. Die Zeitspanne von abgeschlossener Analyse bis hin zur Einleitung entsprechender Maßnahmen ist die Entscheidungslatenz, deren Umfang primär durch die Komplexität der zu treffenden Entscheidung und den Einsatz von Entscheidungsunterstützungssoftware essenziell determiniert wird. Je größer demnach der Abstand zwischen dem Lesen und Verstehen eines Ereignisberichts, der darauffolgenden Bewertung von Entscheidungsalternativen und abschließenden Initiierung einer Maßnahme ist, desto größer ist die Entscheidungslatenz. Als abschließender Schritt bei der Betrachtung von Latenzen im Kontext unternehmensrelevanter Prozesse ist die eigentliche Umsetzung zu betrachten. Die bei der Realisierung und Ergreifung einer Maßnahme erforderliche Zeitspanne wird als Anwendungslatenz bezeichnet. Darunter gliedern sich alle Aktivitäten und der dafür erforderliche Zeitaufwand, welcher für die Implementierung der Maßnahme erforderlich ist. In Abb. 2.3 ist der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Latenzen über die Zeit visualisiert. Die einzelnen Phasen sind dabei sukzessive aufeinander aufgebaut und für separate Ereignisse und Aktivitäten

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V. Stich et al.

Ereignis

1

Nutzen/Wert der Adaption

2 Ereignisdaten verfügbar

3 Analyse abgeschlossen

Datenlatenz

Analyselatenz

Entscheidungslatenz

4 Maßnahme einleiten

Maßnahme abgeschlossen

Anwendungslatenz

Zeit Abb. 2.3   Latenzen bei unternehmensrelevanten Prozessen (i. A. a. Zur Mühlen und Shapiro 2010, S. 147, zit. N. Hackathorn 2002, S. 22 f.)

eines einzelnen Unternehmens zu betrachten. Jedwede Adaption erstreckt sich vom auslösenden Ereignis bis hin zur abgeschlossenen Maßnahme. Demnach ist der Nutzen umso größer, je schneller ein Unternehmen in der Lage ist, auf ein Ereignis zu reagieren, und damit eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit aufweist (s. Abb. 2.3). Gravierende Nutzensteigerungen sind zu erwarten, wenn es Unternehmen gelingt, die genannten Latenzen durch geeignete Lösungen zu verkürzen (Abb. 2.4). Im Folgenden soll dargelegt werden, warum diese Latenzen bei interorganisationaler Zusammenarbeit kritisch sind – und sich folglich dort besonders große Potenziale ergeben.

2.3.1 Latenzen im Supply Chain Management Vor dem Hintergrund unternehmensübergreifender Wechselwirkungen und der positiven Implikationen eines abgestimmten Supply Chain Managements für die einzelnen Unternehmen ist es zielführend, den Betrachtungsfokus auf ganze Wertschöpfungsketten zu erweitern und die entsprechenden Auswirkungen der Latenzen zu analysieren. Dies soll plakativ an dem folgenden Beispiel erläutert werden: In der Produktion eines

2  Digitalisierung der Supply-Chain

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Abb. 2.4   Reduzierung von Latenzen (i. A. a. Schuh et al. 2017, S. 12)

Zulieferunternehmens (Tier 1) kommt es zu einem Maschinenausfall, welcher eine Unterbrechung der Produktion auslöst. In der Folge wird der unternehmensinterne Adaptionsprozess angestoßen, die Ereignisdaten werden zur Verfügung gestellt (1), die Situation analysiert (2), Handlungsalternativen ausgearbeitet und bewertet (3) sowie abschließend die Maßnahme umgesetzt (4). Die ereignisspezifischen Daten hinsichtlich dieses Ereignisses können den Partnern entlang der Wertschöpfungskette nach Abschluss jedes Adaptionsschrittes zur Verfügung gestellt werden. Deren Nutzbarkeit als Inputgröße für den jeweils anschließenden Adaptionsprozess vor- oder nachgelagerter Unternehmen nimmt mit jedem weiteren Adaptionsschritt hin zur Maßnahmenumsetzung zu. Vorliegend wird angenommen, dass nach Phase 3, der Entscheidungsfindung, die Informationen den Wertschöpfungspartnern zur Verfügung gestellt werden (beispielsweise bezüglich der Maschinenreparatur und der damit verbundenen Ausfallzeit). Nachdem diese den direkten Partnern (Produzent, Tier 2) via digitalem Kommunikationskanal übermittelt wurden, besteht für sie nun die Notwendigkeit, Details der Störung, vorliegende Puffer und die aktuelle Auftragslage zu betrachten und die Situation dahin gehend zu bewerten (Adaptionsphase 1 & 2). Infolgedessen müssen diese betroffenen Unternehmen Handlungsmaßnahmen ableiten (Adaptionsphase 3), deren Ergebnis wiederum Informationsinput weiterer Partner erfordert (bspw. alternatives Lieferangebot),

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V. Stich et al.

und abschließend den Supply-Chain-Partnern kommunizieren. So lässt sich beispielsweise der Lieferausfall durch alternative Zulieferer kompensieren, welche ein äquivalentes Produkt herstellen können. Alternativ müssen, je nach Ausmaß der Störung und damit einhergehend der Verzögerung der notwendigen Zulieferteile, eventuell Produktionsabläufe sowie Belieferungen entsprechend der Kundenpriorisierung umdisponiert werden. Liegen umfangreiche Latenzen vor, können diese, insbesondere in Zeiten einer zunehmend schlankeren Produktion und des damit einhergehenden Abbaus von Beständen und Materialpuffern, schwerwiegende Auswirkungen auf die vor- und nachgelagerten Stufen haben, bis hin zu Lieferausfällen oder Qualitätsdefiziten. Wie in Abb. 2.5 ersichtlich, haben hohe Latenzzeiten im Adaptionsprozess direkte Auswirkungen im Sinne einer Verlängerung auf die Datenlatenzen direkter Wertschöpfungspartner. So ist in dem skizzierten Beispiel der Tier-1-Lieferant erst nach seinem Entscheidungsfindungsprozess in der Lage, qualitativ ausreichende Informationen hinsichtlich des Ereignisses an seine direkten Wertschöpfungspartner (s. Abb. 2.5, Tier-2-Lieferant, Produzent) zu übermitteln und deren Analysen damit anzustoßen. Je länger diese Adaptionsprozesse dauern, desto länger ist folglich die Datenlatenz des Produzenten. Analog kann der Produzent seine Entscheidungsfindung erst dann abschließen, wenn er über alle relevanten Informationen, beispielsweise in Form eines Angebots durch einen alternativen Lieferanten, verfügt. So entsteht ein über mehrere Instanzen hinweg kaskadierender Adaptionsprozess, der sich im Sinne einer Aufsummierung der Latenzen deutlich verlängert. Das gesamte Ausmaß, welches sich durch das Summieren der Latenzen im Verlauf der Wertschöpfungskette ergibt, kann von weitreichender Relevanz für die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Unternehmen und der gesamten Supply Chain sein. Vergleichbar ist dieses Verhalten mit dem Bullwhip-Effekt, bei dem es zum Aufschaukeln der Nachfrage upstream entlang von Wertschöpfungsketten kommt. Durch Intransparenzen

2

1 Tier-2 – Lieferant

Legende

4

Bestellstopp durch Tier-1

Maschinenausfall

Tier-1 – Lieferant

3

*

1

2

3

+ +

1

Ü 4

3

2

Datenlatenz

2

Analyselatenz

3

Entscheidungslatenz

4

Umsetzungslatenz

Ü

Datenübermittlung

*

Ü

Info über Verzögerung

1

Ereignis 4

Produzent

Ü

Ü

Einholung Angebot

1

2

3

4

Mitteilung Angebot + Lieferzeit

Alternativer Lieferant

t

Abb. 2.5   Beispielhafte Gesamtverzögerung entlang der Supply-Chain-Stufen. (s. Holtkemper et al. 2019, S. 7)

2  Digitalisierung der Supply-Chain

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entlang der Wertschöpfungsketten und verzögerter Informationsweiterleitungen werden hierbei Signale falsch gedeutet, was zu starken Bestell- und Bestandsschwankungen führt, die sich vom Endkunden bis zum Rohstofflieferanten zunehmend unterscheiden. Das vorgestellte grundlegende Prinzip der Latenzbetrachtung und deren Auswirkungen im Supply Chain Management sind auf sämtliche Entscheidungssituationen und Partnerkonstellationen im SCM übertragbar. So lassen sich auf diese Art ebenso beispielsweise die Machbarkeitsanalyse eines Change-Requests oder die Prüfung der Auswirkungen eines Staus auf die Estimated-Time-of-Arrival (ETA) eines Logistikdienstleisters analysieren. Auf dieser Basis können Schwachstellen gezielt identifiziert, durch den Einsatz von Digitalisierungstechnologien adressiert und schließlich Latenzen reduziert werden.

2.3.2 Digitalisierungstechnologien und unternehmensübergreifender Datenaustausch als Enabler zur Reduzierung von Latenzen Wie in Abb. 2.5 dargelegt, stellen sämtliche Akteure in der Supply Chain eine Informations- bzw. Ereigniskette dar. Beschäftigen sich nur einzelne Unternehmen mit der Reduzierung und dem Abbau von Latenzen, so ist der daraus resultierende Mehrwert vergleichsweise geringer. Folglich stiftet, analog zur unternehmensinternen Betrachtung, auch im SC-Kontext eine kombinatorische Verkürzung der Latenzen in ihrer Gesamtheit den größten Nutzen. Inwieweit sich die Gesamtverzögerung entlang der Supply Chain verringert wird maßgeblich vom Grad des Einsatzes geeigneter Digitalisierungstechnologien sowie der Art und des Umfangs eines unternehmensübergreifenden Austauschs beeinflusst. So hängt die Datenlatenz entscheidend von der Vernetzung der horizontalen Informationsund Kommunikationssysteme ab. Zudem beeinflusst die Nutzung von beispielsweise Data-Analytics-Lösungen in starkem Ausmaß die Analyselatenz, indem dadurch große Datenmengen durch intelligente Algorithmen verarbeitet und handhabbare Daten und Ergebnisse präsentiert werden. Des Weiteren kann sich die Anwendung von z. B. Künstlicher Intelligenz positiv auf die Analyselatenz auswirken oder es lassen sich autonome Systeme gewinnbringend zur Verbesserung von Entscheidungs- und Anwendungslatenz einsetzen. Im Folgenden werden drei Technologien und das Reduzierungspotenzial in Bezug auf Latenzen im Supply Chain Management beispielhaft dargelegt: durch den Einsatz des 5G-Mobilfunkstandards, durch Technologien zum multilateralen Datenaustausch sowie durch Big-Data-Analytics. Eine Möglichkeit zur Reduzierung der Zeitspanne zur Datenübermittlung – und in Ansätzen auch der Datenlatenz – ist die Beschleunigung der Datenübertragung zwischen zwei Entitäten. 5G verspricht eine Vernetzung mit deutlich höheren Datenraten,

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V. Stich et al.

als man es bisweilen durch Mobilfunktechniken kennt (s. Lossau 2018). Damit kann eine Datenübertragung nahezu in Echtzeit erreicht werden. Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig und erstrecken sich von der internen bis zur unternehmensübergreifenden Datenübermittlung entlang der Supply Chain. So ermöglichen immer preiswertere und energieeffizientere 5G-Sensoren eine Markierung sämtlicher Objekte sowie deren lückenlose Verfolgung und Dokumentation und somit eine Beschleunigung der Ereignisübermittlung (s. Tøgard 2017). Neben den technischen Möglichkeiten der Datenübermittlung sind auch richtig gewählte und konfigurierte Technologien zur unternehmensübergreifenden Verwaltung von Daten geeignet, die Datenlatenz zu verringern. Plattformen, auf denen Unternehmen gemeinsam Daten speichern und individuell freigebenen können, vermeiden Medienbrüche und Redundanzen bei der Weitergabe – verschiedene Unternehmen greifen auf einen gemeinsamen Datenstand zurück und verringern letzten Endes Datenlatenzen. Mit dem Industrial Data Space ist eine Referenzarchitektur gefunden worden, über welche Datenbanken souverän bewirtschaftet werden und für andere Zugriffsrechte vergeben werden können. Die Blockchaintechnologie ist eine weitere Alternative, über welche Daten zwischen Unternehmen ausgetauscht werden können und die sogar ohne Intermediär (bspw. Plattformbetreiber) auskommt. Der eigentliche Wert gewonnener Datenmengen entsteht erst durch deren Auswertung. Die Analyse enorm großer Datenmengen übersteigt jedoch oft die Grenzen und die Möglichkeiten konventioneller IT-Lösungen. Big-Data-Analytics-Methoden setzen genau an diesem Punkt an und ermöglichen die Verknüpfung und Auswertung großer Datenmengen. Während folglich Datenlatenzen durch die Big-Data-Erhebungsverfahren abgebaut werden, erlauben Big-Data-Analytics-Methoden eine entscheidende Verringerung von Analyselatenzen. Durch deren Verwendung können Optimierungspotenziale entlang der Supply Chain schneller aufgedeckt werden. Insbesondere im Transportmanagement lassen sich so Kosten einsparen. Die Nutzung bestimmter Software ermöglicht beispielsweise die Verbesserung der Routenplanung in Echtzeit und einen effizienteren Ressourceneinsatz. Darüber hinaus werden Softwarelösungen angeboten, die auf Basis der analysierten Daten Vorhersagen treffen und so auch bereits die Entscheidungsfindung unterstützen oder vorbereiten können. So können beispielsweise speziell für den Güterverkehr Prognosen über das zukünftig zu erwartende Transportvolumen für Bedarfe getroffen werden, die auch sonst unvorhersehbare Ereignisse berücksichtigen. Auf Grundlage der Analyse von Daten früherer Ereignisse erlauben es derartige Software-Lösungen, mögliche Ursachen unerwarteter Ereignisse zu finden und diese Informationen bei der zukünftigen Planung mit einzubeziehen. Ohne diese softwareseitigen Lösungen wären eine entsprechende Analyse und die Ableitung von Prognosen nicht oder nur mit erheblichem Zeitaufwand möglich.

2  Digitalisierung der Supply-Chain

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2.4 Fazit und Ausblick Das Aufsummieren von Latenzen entlang von Supply Chains hat einen essenziellen negativen Einfluss auf die Reaktionsfähigkeit und somit die Wettbewerbsfähigkeit von Wertschöpfungsketten in ihrer Gesamtheit sowie auf die einzelnen Partner. Insbesondere in einem zunehmend komplexeren und schnellen Umfeld ist es folglich unerlässlich, Latenzen sowohl unternehmensintern als auch -übergreifend aktiv zu reduzieren. Der gezielte Einsatz nutzbringender Technologien im Zuge einer fortschreitenden Digitalisierung der Supply Chain ist ein diesbezüglich zentrales Instrument. Hierfür ist es jedoch erforderlich, dass sich ein größerer Teil der Unternehmen aktiv der Thematik Digitalisierung im unternehmensübergreifenden Kontext widmet. Perspektivisch werden sich Unternehmen im Zuge dessen auch mit den Gefahren und Einschränkungen in der interorganisationalen Informationsbereitstellung auseinandersetzen müssen: Muss der Kunde von jeder Störung wissen oder erzeugt das mehr Unzufriedenheit als Optimierung? Und wie schafft man das Vertrauen, dass Partner in multilateralen IT-Projekten zur Umsetzung des Datenaustausches mitarbeiten? Doch unabhängig von diesen Fragenstellungen bleibt die Erkenntnis: Zur schnellen Entscheidungsfindung müssen in hoch vernetzen Wertschöpfungsnetzwerken auch hoch vernetze IT-Strukturen etabliert werden.

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V. Stich et al.

Schuh, G., Hering, N., Brunner, A.: Einführung in das Logistikmanagement. In: Schuh, G., Stich, V. (Hrsg.) Logistikmanagement: Reihe Handbuch Produktion und Management Bd. 6, S. 1–33. Springer, Berlin (2013) Schuh, G., Salmen, M., Jussen, P., Riesener, M., Zeller, V., Hensen, T., Begovic, A., Birkmeier, M., Hocken, C., Jordan, F., Kantelberg, J., Kelzenberg, C., Kolz, D., Maasem, C., Siegers, J., Stark, M., Tönnes, C.: Geschäftsmodell-Innovation. In: Reinhart, G. (Hrsg.) Handbuch Industrie 4.0: Geschäftsmodelle, Prozesse, Technik, S. 1–29. Hanser, München (2017) Seiter, M., Grünert, L., Berlin, S. (Hrsg.): Betriebswirtschaftliche Aspekte von Industrie 4.0. ZfbF-Sonderheft; 71/17. Springer Gabler, Wiesbaden (2017) Tøgard, A. The impact of 5G: How will 5G affect supply chain & logistics? https://www.2wglobal. com/news-and-insights/articles/features/the-impact-of-5g/ (2017) Zugegriffen: 11. März 2019 Zillmann, M.: Keine Industrie 4.0 ohne Digitalisierung der Supply Chain: Intelligente Logistikdienstleistungen für die Fertigungsindustrie. https://luenendonk-shop.de/out/pictures/0/lue_ whitepaper_lhis_sc_f300816_fl.pdf (2016). Zugegriffen: 15. März 2019 Zur Mühlen, M., Shapiro, R.: Business process analytics. In: Brocke, J., Rosemann, M. (Hrsg.) Handbook on Business Process Management 2: Strategic Alignment, Governance, People and Culture. International Handbooks on Information Systems, S. 137–157. Springer-Verlag, Berlin (2010)

Prof. Dr.-Ing. Volker Stich  studierte Hüttenwesen an der RWTH Aachen. Seit 1997 ist er Geschäftsführer des Forschungsinstituts für Rationalisierung (FIR) an der RWTH Aachen. Als gemeinnützige, branchenübergreifende Forschungs- und Ausbildungseinrichtung vereint das Forschungsinstitut unter der Leitung von Volker Stich vielfältige Projekte auf dem Gebiet der Betriebsorganisation und Unternehmens-IT. Das Ziel ist es hierbei, die organisationalen Grundlagen für das digital vernetzte industrielle Unternehmen der Zukunft zu schaffen. Weiterhin leitet er das Cluster Smart Logistik auf dem RWTH Aachen Campus und ist im Vorstand verschiedener Verbände, darunter auch der Club of Logistics e. V., tätig.

Dipl.-Wirt.-Ing. Jan Reschke studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der RWTH Aachen. Seit 2012 ist er als Projektmanager am Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) an der RWTH Aachen im Bereich Produktionsmanagement tätig. In seiner aktuellen Position als Leiter des Bereiches Produktionsmanagement (seit Juli 2015) begleitet er Unternehmen verschiedener Branchen bei der Gestaltung und Umsetzung effizienter Produktions- und Logistiksysteme. Neben den Aktivitäten im industriellen Beratungsgeschäft liegen die forschungsseitigen Schwerpunkte auf der Weiterentwicklung bestehender Konzepte der Produktionsplanung und -steuerung (PPS) sowie der Integration und Positionierung logistischer Prozesse und Dienstleister im Kontext von Industrie 4.0. Hierunter fallen vielfältige Digitalisierungsprojekte rund um das Supply-Chain-Management und die unternehmensinterne Produktion.

2  Digitalisierung der Supply-Chain

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David Holtkemper,  M.Sc., studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der RWTH Aachen. Seit 2016 ist er als Projektmanager am Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) an der RWTH Aachen in der Abteilung Produktionsmanagement tätig. Innerhalb der Fachgruppe Supply-Chain-Management, für die David Holtkemper seit 2018 als Gruppenleiter fungiert, bearbeitet er vielfältige Industriesowie Forschungsprojekte. Seine Aktivitäten umfassen dabei vielfältige Themenstellungen rund um das Supply Chain Management sowie die digitale Vernetzung. Hier liegt der Schwerpunkt vor allem auf der Blockchain-Technologie sowie deren nutzenbringender Einsatz im Umfeld industrieller Unternehmen.

Dipl.-Kfm. Andreas Kraut studierte Betriebswirtschaftslehre an der RWTH Aachen. Er ist seit 2016 Projektmanager am Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) an der RWTH Aachen in der Abteilung Produktionsmanagement tätig. Innerhalb der Fachgruppe Supply-Chain-Management bearbeitet Andreas Kraut vielfältige Industrie- und Forschungsprojekte. Dazu gehören diverse Digitalisierungsthemen und -strategien im industriellen Umfeld. Weiterhin befassen sich seine Aktivitäten mit dem Thema Vertrauen in der unternehmerischen Kooperation sowie der Supply-Chain als Ganzes.

Daniel Pause, M. Sc., studierte Wirtschaftsingenieurwesen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und in Spanien an der Universidad del País Vasco in Bilbao. Seit 2015 ist er als Projektmanager am Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) an der RWTH Aachen in der Abteilung Produktionsmanagement tätig. Im Bereich Supply Chain Management umfassen seine Aktivitäten Themenstellungen zur Digitalisierung, dem Lagermanagement sowie dem Ersatzteilmanagement in Verbindung mit additiven Fertigungstechnologien. Hierbei beschäftigt sich Daniel Pause unter anderem mit dem Einsatz von 3D-Druck in der Supply Chain.

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V. Stich et al. Svenja Marek,  M.Sc., studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der RWTH Aachen. Sie ist seit 2017 Projektmanagerin am Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) an der RWTH Aachen in der Abteilung Produktionsmanagement tätig. Als Mitglied der Fachgruppe Supply Chain Management beschäftigt sich Svenja Marek mit Themen rund um die Gestaltung und Optimierung von unternehmensbezogenen Wertschöpfungsketten. Dazu gehören unter anderem Themen zum Supply-Chain-Design sowie zur Lokalisierung und Optimierung von Materialflüssen. Zukunftsweisende Entwicklungen im Supply-Chain-Management sind ebenso Bestandteil ihrer Forschung, wie auch die Nutzung additiver Fertigungstechnologien.

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Trotz Control Tower und Digitalisierung – Der Transportplaner bleibt Robert Recknagel und Philipp Beisswenger

Zusammenfassung

Die Transportplanung steht vor einem grundlegenden Wandel. Externe Faktoren üben erheblichen Druck auf die Logistikbranche aus. Leistungsversprechen müssen zuverlässiger eingehalten werden, Prozesse effizienter organisiert und Kosten gesenkt werden. Dank der Digitalisierung erwachsen Unternehmen gleichzeitig neuen Möglichkeiten für Netzwerkplanung und Routen-/Touren-Optimierung in Echtzeit. Digitalisierte Prozesse verhelfen zur besseren Auslastung sowie niedrigeren Stückkosten. Integrierte Systeme vermitteln dem Planer Wissen über die aktuelle Verkehrssituation und aller erdenklichen Rahmenbedingungen. Er bleibt aber derjenige, bei dem die Fäden zusammenlaufen, alle Informationen prüft und daraus die Beauftragung und Durchführung ansteuert.

3.1 Vom Sammeltransport zum komplexen Transportnetzwerk Der Transportplaner eines weltweit agierenden Automobilherstellers erkennt in der Lieferkette seines Teilelieferanten ein Problem. Er leitet eine Reaktion ein, bevor es dadurch im eigenen Werk zu Schwierigkeiten in der Produktion kommt. Da er frühzeitig reagieren

P. Beisswenger (*) · R. Recknagel Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Recknagel  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_3

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R. Recknagel und P. Beisswenger

kann, muss er keine teuren Sonderfahrten organisieren, um das mit seinen Kunden vertraglich geregelte Leistungsversprechen einzuhalten. Signalisiert hat ihm dies das vor kurzem installierte Supply Chain Event Management System. Es überwacht mit dem so genannten Control Tower die gesamte Wertschöpfungskette vom Rohstoff bis zur Warenlieferung. Die Logik leuchtet ein: Wenn Ware beim Zulieferer nicht ankommt, erreicht dessen Produkt auch den bestellenden Hersteller nicht fristgerecht. Je umfassender der Überblick über das Wertschöpfungsnetzwerk im Control Tower ist, desto verlässlicher ist die Basis für die Planung. Die vorgehaltenen Bestände können auf ein Minimum reduziert und die Produktion umso dynamischer gestaltet werden. Das bedeutet allerdings, nicht nur die eigene Produktion und die Transport-Abwicklung des eigenen Logistikdienstleisters kennen zu müssen, sondern auch die Produktionsphilosophie und -planung des eigenen Vorlieferanten und dessen Transportdienstleisters. Für diese Vision fehlt bis auf weiteres noch eine unabhängige, übergreifende Plattform, die alle Daten über eine für alle verbindliche Schnittstelle aufnimmt und bereitstellt, ohne dass Firmengeheimnisse preisgegeben werden. Blockchain, eine dezentrale Technologie die hier neben zentralen Ansätzen eine Option darstellt, ist noch nicht effizient genug. Doch die Strategen in den Stabsstellen großer deutscher und internationaler Unternehmen denken längst in diese Richtung. Denn die Technologie dafür ist, dank Digitalisierung und immer umfangreicherer digitaler Erschließung der gesamten Prozesskette in Produktion und Transport, vorhanden. Mehr noch: Um den Herausforderungen des globalen Marktgeschehens gewachsen zu sein, kommt die Industrie weder im produzierenden Gewerbe, noch in der Transportbranche darum herum, die Digitalisierung als Chance zu begreifen und mit ihrer Hilfe die Planung zu optimieren, die Durchführung zu überwachen und über ein intelligentes Event Management in Echtzeit szenariobasiert einzugreifen, um damit eine höhere Effizienz in der Supply Chain zu erreichen. Dabei spielt auch die Entwicklung in der Transportlogistik eine maßgebliche Rolle. Die Transportlogistik hat sich in der Vergangenheit in immer wieder neuen Schüben konsolidiert. Ursprünglich ging es darum, eine Ware von A nach B zu befördern, entweder um sie an Kunden zu liefern, oder ins eigene Unternehmen zu bringen. Für die eigenen Transporte schafften sich produzierende Unternehmen zunächst eigene Lastkraftwagen an. Später führten Spediteure Sammeltransporte von Waren aus und übernahmen den Fuhrpark ihrer Firmenkunden. Daraus haben sich mit der Zeit umfangreiche Transportnetzwerke herausgebildet. Der Spediteur, der früher unter Umständen zwei Wochen gewartet hat, bis er genügend Ware hatte, um nach Hamburg zu fahren und an alle seine Kunden in Hamburg zu verteilen, hatte mittlerweile jeden Tag eine Fahrt nach Hamburg, sei es als Direktverbindungen oder über entsprechende Netzwerkkonzepte. In der Hansestadt tauschte er die Waren mit einem weiteren Spediteur aus. Die Partnerschaften und Netzwerke ersetzten vermehrt reine Punkt-zu-Punkt-Verbindungen und erreichten einen höheren Grad an Effizienz. Bis Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es ein quasi durch die Bahn definiertes Preismonopol mit dem GFT (Stückgut- oder den Ladungssätzen des Güterfernverkehrstarifs) und Lizenzmodelle regulierten die Preise für die zumeist mittelständischen

3  Trotz Control Tower und Digitalisierung …

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Transportunternehmen. Kein Dienstleister konnte günstiger Waren transportieren als die Bahn. Erst danach kam Wettbewerb auf. In der Folge taten sich mehrere Logistik-Unternehmen zu größeren Dienstleistern zusammen, der Markt konsolidierte sich und konsolidiert sich immer noch, und die Komplexität der Transportnetzwerke wuchs. Die Leistungsversprechen wurden enger, gleichzeitig stieg der Kostendruck auf die Netzwerke, unter anderem durch die Öffnung der EU nach Osteuropa. In dieser verschärften Wettbewerbssituation befindet sich die Branche noch heute.

3.2 Gewaltige Herausforderungen beschleunigen ein Umdenken Die externen Rahmenbedingungen erzeugen weiteren Handlungsdruck. In einem Bericht warnt die Internationale Straßen-Union (IRU) vor einem akuten Fahrermangel in ganz Europa. Ein Fünftel der Fahrerstellen sind demnach bereits jetzt nicht besetzt; in Deutschland könnten bis 2027 185.000 Fahrer fehlen.1 Dieser Fahrermangel stellt derzeit viele Unternehmen vor erhebliche Herausforderungen. Wenn sich ein Spediteur oder Verlader früher Leerfahrten erlaubte oder nicht voll beladene LKWs fahren ließ, kann er sich das heute schlicht nicht mehr leisten. Die Ressourcen sind mittlerweile so knapp, dass selbst renommierte Speditionsunternehmen in Osteuropa an der Grenze zur Ukraine LKWs im Hof stehen haben und sie nicht bewegen, weil ihnen Fahrer fehlen. Ein weiterer Treiber ist das wachsende Umweltbewusstsein, das zu immer neuen Auflagen führt. Es geht einher mit der Pönalisierung von Schadstoffausstoß, sei es über die Preise, Mautkosten oder Mineralölsteuer, sei es über die Schadstoffbesteuerung größerer Unternehmen. Das kann z. B. deren CO2-Bilanz sein, was die Kosten pro gefahrenen Kilometer erhöht. Hinzu kommt die immer höhere Erwartungshaltung des Kunden an die Zuverlässigkeit der Warenlieferung. An diesem zentralen Leistungsversprechen – dem Einhalten der Lieferzusage – hängen zahlreiche Folgekosten und Manpower. Denn um Unzuverlässigkeit im Transport zu vermeiden, müssen die Mitarbeiter entstandene Probleme oft in letzter Minute beheben. Diese Problematik wird gerne geleugnet. Es heißt dann z. B.: „Luftfrachtkosten gibt es nicht.“ Und dennoch setzt die Luftfrachtbranche mehrere Milliarden Euro im Jahr um. Darüber hinaus brausen zehntausende Sonderfahrten täglich mit Kleintransportern über Deutschlands Autobahnen. Angeblich gibt es auch diese Fahrten nicht. Sicher ist, nur ein geringer Anteil dieser Fahrten und Frachten ist geplant oder gewollt. Auch ein Blick in die Bestände, die in größeren Mengen vor der Produktion

1Eurotransport.de

vom 22.03.2019: Daten laut IRU aus zwei eigenen Umfragen sowie Berichten von Interessengruppen aus der europäischen Transportbranche. So habe eine Umfrage unter IRU-Mitgliedern und Partnerverbände in Europa im Januar einen Fahrermangel von 21 % im Transport- und 19 % im Busbereich ergeben.

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R. Recknagel und P. Beisswenger

gelagert werden, oder auch die Anzahl an Mitarbeitern, die für Sonderfahrten und -flüge zum Einsatz kommen, unterstreichen die Herausforderung. Um die hier ­auflaufenden Kosten zu senken und die Effizienz der Leistungsversprechen zu erhöhen, ist es dringend geboten, den Grad der Zuverlässigkeit zu steigern.

3.3 Der Taktgeber oder: B2B follows B2C Die Frage steht im Raum: Wie kann der Transportplaner die Lieferkette effizienter organisieren und optimieren? Ein Weg wäre es, die Taktungen zu verringern, nur noch jeden dritten Tag zu fahren oder nur zu fahren, wenn der Wagen voll beladen ist. Der Großteil der Möbelliefernetze funktioniert heute noch so. Sie stehen im Spannungsfeld zu den KEP- bzw. Expressdienstleistern: Sie sind mit ihren Same-Day-Auslieferungen der neue Taktgeber für den B2B-Bereich. Wer ein Amazon-Paket fünf Stunden nach der Bestellung in Händen hält, will keine langen Lieferzeiten für seine B2B-Sendungen akzeptieren. Zwar ist der Vergleich ist nicht ganz fair, weil es im Express-Bereich eine hohe Zahl hochgradig standardisierter Güter gibt und der sich entsprechend leichter tut, sehr schnelle und transparente Netzwerke aufzubauen. Doch so differenziert betrachten das die Wenigsten. Was sie aus dem B2C-Bereich kennen, möchten sie auch im B2B-Segment haben. So naheliegend das klingt, so schwierig ist es. Denn hier sind die Transportnetzwerke und die Sendungsstrukturen in der Regel viel komplexer und heterogener als bei den KEP-Dienstleistern. Transportnetzwerke sind längst mehrstufig, kombinieren verschiedene Verkehrsträger und erstrecken sich über mehrere Knotenpunkte. Die Transporte selbst werden mit unterschiedlichen Leistungsversprechen und Eigenschaften durchgeführt; dazu zählen etwa temperaturgeführte Ware, zu zertifizierende Medizinware, Ware mit unterschiedlichen Haltbarkeiten oder Gefahrgut. Die Anforderungen in den Transportnetzwerken sind entsprechend komplex. Dem Planer fällt es dabei immer schwerer, die Waren manuell mehrstufig zu kombinieren. Er arbeitet in der Regel mit Erfahrungswissen, Annahmen und Fixierungen von Netzwerken. Häufig wählt er die taktische Überplanung, indem er in regelmäßigen Abständen seine Routings und sein Netzwerkdesign überarbeitet, um der Herausforderung Herr zu werden. Damit verringert er zwar die Komplexität im Tagesgeschäft, allerdings auf Kosten der Auslastung oder der Qualität der Transportdurchführung. Taktische Überplanung ist nichts anderes als eine mittelfristige Planung und Festlegung der Verkehrsnetze für einen bestimmten Zeitraum. Dazu plant er die Transporte auf Basis erwarteter durchschnittlicher Volumina, was im Einzelfall zu Sondermaßnahmen führen kann, die er einleiten muss, um Verspätungen und Verletzungen der Leistungsversprechen zu vermeiden. Wenn er die Netze hingegen so plant, dass sie immer funktionieren, muss er viel Kapazität ungenutzt lassen. Hinzu kommt, dass die Netzwerke häufig Schwankungen ausgesetzt sind, die sich nicht exakt vorhersehen und vorhersagen lassen, wenn nur ­Erfahrungswerte zugrunde liegen.

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3.4 Netzwerk- sowie Routen- und Touren-Optimierung Selbstverständlich setzen Transportplaner heute zur Erreichung ihrer Ziele zusätzlich softwaregestützte Transport-Management-Systeme ein. Allerdings stoßen Standardprogramme häufig an ihre Grenzen, wie im Folgenden gezeigt wird. Das Grundproblem ist, dass diese Lösungen es nicht erlauben, komplexe Herausforderungen der Kunden zu meistern, bei denen unterschiedliche Bereiche wie Routen- und Touren-Planung einerseits und Netzwerkoptimierung andererseits miteinander zu verknüpfen sind. Weiterhin treffen häufig verlässliche Auftragsdaten mit großer Verzögerung ein und nehmen dem Planer damit die Chance, einen Gesamtüberblick in Echtzeit über die Transportanforderungen zu erhalten. Diese benötigt er jedoch, um eine übergreifende Transportplanung vorzunehmen. Es fehlt diesen Systemen also neben der individualisierbaren, übergreifenden Transportplanungsmöglichkeit in der Regel die Intelligenz für zuverlässige Prognosen (Abb. 3.1). Im Detail besteht die Anforderung an eine zukunftsfähige Routen- und Touren-Optimierung darin, dass ein Verkehrsträger – LKW, PKW oder Kleintransporter – eine bestimmte Anzahl an Be- und Entladestellen anfahren muss, um dort Ware anzuliefern

Abb. 3.1   Routen-und-Touren-Optimierung und Netzwerkoptimierung im Vergleich. (Quelle: flexis)

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oder abzuholen. Dabei ist der Weg, den diese Fahrzeuge nehmen, nicht vordefiniert, genauso wenig wie die Frage, auf welchem Fahrzeug welche Be- und Entladung stattfinden soll. Ein Routen- und Touren-Optimierungssystem dient hierbei dazu, alle Beund Entladungen einer Tour – unter Berücksichtigung von Land, Region, Geografie oder Kundengruppe – so effizient wie möglich zu gestalten. Das Fahrzeug soll idealerweise voll beladen mit einer möglichst kurzen Fahrdauer oder -strecke unterwegs sein. Das Resultat dieser Routen- und Touren-Optimierung sind konkrete Fahrpläne für einzelne Fahrzeuge. Herkömmliche Herangehensweisen in der Routen- und Touren-Optimierung greifen häufig zu kurz. Hier wird nach der optimalen Strecke gesucht, die das System dann nach und nach verbessert. Da die Zeitfensteranforderungen jedoch immer enger werden, funktionieren übliche streckenoptimierte Ansätze nicht mehr. Neue Logiken, die exakt die Be- und Entladevorgänge, teilweise gekoppelt mit Mehrwertdienstleistungen berücksichtigen sowie sich in ihren Algorithmen an den zeitlichen Machbarkeiten ausrichten, sind gefragt. Restriktionen wie z. B. Innenstadtfahrverbote für große LKWs können hinzukommen, was bedeutet, dass die Fracht am Stadtrand auf extra dafür vorgesehene kleinere oder emissionsfreie LKW umgeladen werden muss. Zukünftig sind weitere Parameter in diese Planung zu integrieren wie Optimierungsfunktionen zur aktiven Steuerung des Green Footprints, die Integration von Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge ist unter Beachtung von Beladezuständen, Wetter und Höhenprofilen vorzusehen und perspektivisch sind bereits Konzepte zum Einsatz von autonomen Einheiten vorzusehen. Dazu wird ein System benötigt, das in der Lage ist, adaptiv diese neuen Anforderungen in das Planungsmodell zu integrieren. Die Netzwerkplanung als zweites Element der Tranportplanung für Langstreckennetzwerke beschäftigt sich dagegen damit, wie sich in einem Netzwerk zwischen definierten statischen Knoten wie Hubs, Crossdocks, Häfen und Flughäfen die Verkehrsströme organisieren lassen. Aufgabe des Netzwerkplaners ist es, die größte Auslastung und die günstigste Gesamtkostenkalkulation zu den zugesicherten Leistungsversprechen, also Laufzeiten zu erreichen. Einflussfaktoren sind die Anforderungen an die Frequenz zwischen diesen Knoten sowie die Eigenschaften der Fracht. Bis zuletzt waren die Netzwerke fest getaktet – und sind es teilweise noch immer. Wer Waren z. B. von Frankfurt/Main nach Shanghai bringen wollte, definierte früher einen festen Weg, um eine vertraglich vereinbarte Laufzeit einzuhalten und ans Ziel zu kommen. Das funktionierte nur mit einer statischen Routung, bei der sichergestellt war, dass das Transportgut auf jeden Fall rechtzeitig zum vereinbarten Termin am Ziel ankam. Das System reagierte nicht auf verschiedene Auslastungen. Wenn die Strecke von München nach Peking überlastet war, konnte es passieren, dass ein zusätzliches Flugzeug gechartert werden musste, oder die Ware zu spät kam. Was einesteils hohe Sonderkosten nach sich zog oder das Nichteinhalten der Leistungszusage bedeutete. Intelligente Netzwerkoptimierung würde in einer solchen Situation eine alternative Route vorschlagen. Die Sendung könnte mit dem LKW nach Barcelona gebracht werden, um von Barcelona aus per Direktflug, wo Ladeplatz im Flugzeug frei ist, nach

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Shanghai weiterzufliegen. Jetzt steigen die LKW-Vorlaufkosten in Europa an, die Anzahl der Flüge würde sich jedoch nicht erhöhen – es gäbe also keinen Kostenvorteil. Die höheren LKW-Kosten würden jedoch in Kauf genommen, weil sich so ein Zuspätkommen verhindern ließe. Solche Entscheidungen zu treffen ermöglichen zukünftig intelligente Netzwerkoptimierungssysteme automatisiert. Weiterhin muss ein solches System innerhalb kurzer Zeit nicht nur die Kosten und die Auslastung auf der Strecke, sondern auch die Maximalkapazitäten an den Hubs kennen und das nicht nur als statischer Wert, sondern abhängig von der jeweils geplanten personellen Besetzung sowie abhängig von Uhrzeiten. Das System muss dabei unter Umständen eine Splittung der Transportströme in einzelnen Zeitscheiben ermöglichen, so dass diese über unterschiedliche Routungen bzw. Uhrzeiten durchgeführt werden können. Die Palette als sich selbst steuernde Einheit innerhalb flexibler Transportnetze und Knotenpunkte ist dabei das Zielbild, das sich langfristig durchsetzen wird. Der Disponent wird so in der Lage versetzt, für die 40 Paletten, die sich in Frankfurt befinden, zu entscheiden, welche Wege er wählt. 25 davon könnten über München gehen, zehn über Barcelona und fünf über Amsterdam, damit alle drei Tage später in Schanghai bereitstehen. Wenn das System diese Leistung erbringt, lassen sich die teuren Fixkosten und Kapazitäten auslasten und ein in seiner Gesamtheit optimales System aufbauen.

3.5 Der Planer, der Control Tower und die Digitalisierung In der Vergangenheit hat der Transportplaner einen Auftrag vergeben, ist davon ausgegangen, dass er funktioniert und hat erst am Ende erfahren, ob alles fristgerecht verlaufen ist oder nicht. Heute aber wissen Disponenten und Transportplaner in den meisten Branchen häufig bereits dank „Track and Trace“, wo sich die Sendung befindet. Bei diesem Verfahren wird die Sendung über unterschiedlich tiefe Integration von einer manuellen Statuserfassung über App- oder telematikbasierte Erfassung bis zu Drahtlos-Techniken wie Bluetooth- oder RFID-Schnittstellen visuell mit einzelnen Stationen entlang der Transportkette verknüpft. Der Kunde kann die Sendung jederzeit nachverfolgen. Ein Großteil der IT-Initiativen in den vergangenen Jahren ist in den Aufbau dieser Systeme geflossen. Der Versand wird dabei transparent, was hilfreich, aber kein Selbstzweck ist. Denn dieses Wissen wird erst dann zu einem Wert für das Unternehmen, wenn der Planer aus den zahlreichen Informationen genau die fünf Events herauslesen kann, die sich im roten Bereich befinden – und entsprechend handeln kann. Alle führenden Automobilhersteller sind derzeit dabei, mit der Einführung von solchen Plattformen für Transparenz in der Material-Zulieferung (Inbound-Steuerung) zu sorgen. Ein Großteil der Unternehmen der sonstigen Industrien sowie des Handels setzen sich ebenfalls intensiv mit dieser Herausforderung auseinander. Sie verschaffen sich damit einen Überblick, können aber noch nicht in Echtzeit in die Lieferkette eingreifen. Dafür müsste ein IT-gestütztes System in Echtzeit ­definieren,

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ob die Abweichungen ein Problem darstellen und gegebenenfalls Lösungsvorschläge machen. Dieser Schritt wird heute noch sehr häufig manuell durchgeführt. Ein automatisiertes Supply Chain Event Management (SCEM) System führt zukünftig eine Delta-Analyse der Situation durch und schlägt Szenarien vor, die auf Abweichungen so reagieren, dass sie zum Einen prüfen, welche Auswirkung diese Abweichung auf die Produktion bzw. die Kundenbelieferung hat, ob die Störung durch Bestände überbrückt werden kann oder ob die Sendung innerhalb der Leistungszusagen, also fristgerecht ankommen muss. In diesem Fall prüft das System die unterschiedlichen Szenarien und schlägt dem Planer die beste Option vor. An der SCEM-Integration arbeiten aktuell die flexis AG als führender Anbieter von Planungs- und Optimierungslösungen entlang der Supply Chain, die Euro-Log AG, IT-Dienstleister für übergreifende Prozessintegration in der Logistik, und der internationale Logistikdienstleister Rhenus Logistics mit seiner 4PL-Organisation zusammen mit Industriepartnern und dem Karlsruher wbk in einem Forschungsprojekt zur Realisierung einer solchen integrierten, durchgängigen Lösung (Abb. 3.2). Dank der Digitalisierung wird die Transportlogistik mithilfe des Supply Chain Event Management (SCEM), also mit Szenario-basierten proaktiven Eingriffen, unterstützt durch Künstliche Intelligenz (KI), ihre Leistungszusagen einhalten – und das zu den günstigsten Gesamtprozesskosten. Wie aber kommen KEP-Dienstleister, Logistik-Dienstleister und große Verlader von der Transparenz zur Supply-Chain-Event-Steuerung und somit zur Szenario-basierten Echtzeit-Entscheidungsunterstützung in Logistik-ControlTowern? Und wie lässt sich damit die Effizienz der Netzwerke messbar steigern? Dafür

Abb. 3.2   Digitalisierte Lieferkette mit Szenario-basiertem Management. (Quelle: flexis)

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gilt es, sich von fixierten Netzwerken und Regelwerken zu lösen und sich auf aktive, dynamische Steuerungsmodelle zu konzentrieren, bis hin zum strategischen Forecasting und taktisch einsteuernden Umgebungen.

3.6 Ohne Fleiß, kein Preis Der Weg zu einem solchen integrierten Gesamtsystem beginnt mit einem transaktionalen Transport Management System (TMS), das Logistik-Dienstleister und Verlader aktuell in der Regel verwenden. Der erste Schritt ist das Erfassen der Sendungen, damit „saubere“ Stammdaten vorliegen. Damit kann der Planer schon im Voraus wissen, was zukünftig verschickt werden soll. Für die klassische Transportplanung genügt das TMS. Wer die intelligente Routen- und Tourenplanung oder die Netzwerkplanung hinzunehmen und mit Forecast- und Plandaten der Produktion oder der Absatzplanung arbeiten möchte, sollte mit bis zu sechs Monaten Einführungszeit rechnen. Das Aufsetzen einer Metaplanung, die beide Disziplinen zusammenführt, und von der operativen, über die taktische bis zur strategischen Planung einen integrierten Horizont herstellt, dürfte mit guten Stammdaten bis zu einem Jahr dauern. Wenn diese Basis geschaffen ist, stellt das Supply Chain Event Management eine weitere perspektivisch notwendige Stufe in der Transportausführung dar, die zukünftig für den Geschäftserfolg noch relevanter wird als die klassische Produktionsplanung. Denn wann eine Maschine ausfallen könnte, lässt sich zukünftig in der Produktion über Predictive-Maintainance-Systeme mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Unfälle im Verkehrsgeschehen sind allerdings nicht planbar und sind komplexer in den Entscheidungsstrukturen zur Lösung des Problems. Doch nicht nur darum werden Planer auch in Zukunft gebraucht. Denn die Transportwege, zumal die kombinierten, teils interkontinentalen Routen, bieten immer wieder neue Herausforderungen. Die Kunst ist es, möglichst viele der externen Parameter ins Planungssystem zu integrieren und damit ein lernendes System zu entwickeln, das immer mehr Faktoren berücksichtigt. An der Spitze und im Mittelpunkt dieses Systems steht der Control Tower. Der Control Tower ist die operative Überwachungseinheit in der Supply Chain. Er hat Lieferanten, Transporte, Produktion, sprich: alle wesentlichen Faktoren über die gesamte Lieferkette, hinweg im Blick. Die Vision dabei ist, dass es über mehrere Wertschöpfungsstufen hinweg einen Control Tower gibt, der vom Rohstoff bis zum Endkunden die gesamte Kette überwacht. Hierauf liegt derzeit ein besonderer Fokus der Automobilindustrie, die damit nicht nur die Materiallieferungen kontrollieren will, sondern auch die Vorprodukte oder Rohmaterialien, die der Zulieferer erhält. Bis es so weit ist, wird aber noch Zeit vergehen, allein weil es keine unabhängige Plattform für die Kommunikation untereinander gibt. Der Control Tower erst ermöglicht es Unternehmen, die gesamte Lieferkette ganzheitlich zu betrachten. Das beginnt an der Rampe des Lieferanten, setzt sich fort bis in die eigene Produktion und bis zum Kunden. Aktuell kann der Control Tower über ein

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Track-and-Trace-System alle Prozesse visualisieren. In der nächsten Stufe wird er über die Supply Chain Events informieren, die relevant sind. Der Control Tower erhält ständig transparente Informationen in Echtzeit über den Sendungsverlauf, analysiert diese auf Abweichungen und Störungen und prüft sie auf Relevanz in der Gesamtabwicklung und das Störungspotenzial. Daraufhin entwickelt er bei echten Störungen Szenarien mit Kostenbewertungen, Einflüsse auf Lieferzeiten und ähnlichen Faktoren. Diese stellt er als Alternativen mit Für und Wider in einer Gesamtansicht im Control Tower bereit. Ein Planer erhält somit umfassende und objektive Informationen, die ihm die Rückkehr ins Regelsystem oder die Problemlösung erlauben. Wer einen Control Tower aufbauen möchte, muss mit ausreichend Vorlauf planen. Die Echtzeitdaten zu integrieren, ist eine Herausforderung: Hier müssen Daten eingebunden werden, die auf verschiedenen Technologien basieren, die Integrationsleistung umfasst zahlreiche Anbieter. Bislang ist das schlicht eine Fleißarbeit; Plattformen die diese Bündelung von Daten übernehmen können, sind derzeit noch in der Entwicklung. Die Erstellung der Datenbasis als Voraussetzung dafür, um ein Supply Chain Event Management SCM betreiben zu können, kann bis zu zwei Jahre in Anspruch nehmen. Erst danach lassen sich Bestände und Produktionsplanung integrieren, die eine vernünftige Szenario-Analyse zulassen. Ein Supply Chain Event Management in einer wirklich aussagefähigen Form aufzusetzen, ist daher eher ein Dreijahresprojekt. Wer bereits die volle Transparenz über seine Transporte hat, benötigt immer noch ungefähr ein Jahr, um mit solch einen System live zu gehen.

3.7 Das integrierte Gesamtsystem Intelligente Netzwerkoptimierung erfasst den Gesamtzusammenhang aller zukünftigen und aktuellen Sendungen, aller Ziele und aller möglichen Kombinationen zwischen den Knoten, inklusive Kosten, Laufzeiten und Rahmenbedingungen dieser Transporte. Mit diesen Informationen definieren Netzwerkplaner das optimale Gesamtszenario. Zwei Beispiele illustrieren dies. Ein namhafter Automobilhersteller führt aktuell eine Cloud-basierte Netzwerkoptimierung für sein Fahrzeug-Outbound-Geschäft ein. Deren Aufgabe wird es sein, sicherzustellen, dass alle Fahrzeuge von einem Hafen in einer gegebenen Frist bei den Kunden in der Zielregion ankommen. Die Lösung soll entscheiden, welcher Knoten von welchem Logistikdienstleister und welcher Verkehrsträger an welchem Tag in welcher Kombination gefahren und gesteuert werden. Sie berechnet, wann die Bahn als Transportmittel bis zum Zielort wirtschaftlicher ist und wann Direktfahrten geboten sind, um die Zeit einzuhalten und welcher Dienstleister dafür optimal einzusetzen ist. Der OEM verspricht sich davon Effizienzsteigerungen, eine Erhöhung der Zustellzuverlässigkeit und einen geringeren Personaleinsatz in der Planung. Im KEP-Bereich bei einem Paket- und Post-Transport bestand eine ähnliche Herausforderung. Von sehr vielen Depots in Deutschland war bekannt, zu welchen Uhrzeiten

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welches Volumen an kleinteiligen Sendungen bereitsteht, um es in unterschiedliche Depots mit unterschiedlichen zeitlichen Restriktionen zu liefern. Daraus sollte das System die anzufahrenden Zwischenknoten, die Ankunftszeit in den Endknoten unter Berücksichtigung einer gleichverteilten Anlieferung und die in einem Umlauf eingesetzten LKW bestimmen. Mit dem Wissen über alle Restriktionen ergab sich ein heterogenes Netzwerk, indem die Routings abhängig von Cut-Off-Zeiten variierten und so die optimale Ressourcenausnutzung und einen gleichmäßigen Hub-Betrieb gewährleisteten. Eine Ladung, die von Stuttgart nach Berlin sollte, wurde zu unterschiedlichen Zeiten und Routen transportiert. Eine erste Menge wurde um 22 Uhr nach Frankfurt gefahren, um mit einer anderen Menge aus Frankfurt kombiniert nach Berlin gefahren zu werden. Die zweite Ladung kam bis zwei Uhr nachts nach München, wurde dort mit anderer Ware kombiniert und nach Berlin gebracht. Die letzte Menge wiederum kam bis fünf Uhr morgens in einen PKW, damit sie ebenfalls spätestens um 10 Uhr morgens an ihrem Ziel in Berlin war. Durch dynamische Netzwerkoptimierung wird also ein flexibles Routing auf Basis der Echtmengen und aus Sicht der Gesamtoptimierung Realität. Derzeit beherrscht diese Aufgabe als dynamisches, operatives Modell kein KEP- und auch kein Transportdienstleister. Sehr häufig waren die Aufgaben in der Vergangenheit zu komplex, um sie in einem dynamischen System aufzusetzen.

3.8 Der Aufwand lohnt sich! Die Umstellung auf ein integriertes Gesamtsystem braucht Zeit und beansprucht Ressourcen, sie verlangt eine sehr genaue Erfassung aller Stammdaten und die Erarbeitung einer schrittweisen Roadmap. Und sie kostet Geld. Da kommt unweigerlich die Frage auf, ob sich der ganze Aufwand lohnt. Darum ist es hilfreich, wenn Annäherungswerte vorhanden sind, die über die Effekte nach der Einführung solcher Systeme Auskunft geben. Aus den Erfahrungen mit Kundenprojekten ergeben sich folgende Werte, die sicherlich abhängig vom Reifegrad der Organisation und der Komplexität der Logistikstrukturen variieren: Eine systemgesteuerte Routen-Touren-Optimierung verschafft einen Effizienzgewinn von bis zu 20 %. Die Hauptlaufoptimierung/Netzwerkoptimierung erreicht eine Effizienzsteigerung von 25 %, weil hier sehr viele Kapazitäten, die sich auf der Straße befinden, durch eine Dynamisierung der Planung optimiert werden können. Die Metaoptimierung zwischen Routen-/Tourenoptimierung und Netzwerkoptimierung als Szenario-basierte Gesamtsteuerung hinzugenommen, ergeben sich weitere Zugewinne von acht bis zehn Prozent. Gleichzeitig sind Einsparungen von 40 % bei den Planungskapazitäten möglich, indem ein Großteil der dispositiven Prozesse automatisierbar ist. Beim Supply Chain Event Management als weiterer Ausbaustufe ist typischerweise je nach Szenario eine Halbierung der Risikobestände möglich. Dabei können gleichzeitig Sonderkosten wie Luftfracht oder Sonderfahrten um bis zu 70 % reduziert werden. Die Ursache dafür liegt in der frühzeitigen Reaktion, bei der zwar auch Kosten entstehen,

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die aber aufgrund der höheren Anzahl an Handlungsalternativen insbesondere bei langen, mehrstufigen Transportstrecken deutlich geringer sind. Die Buchung eines Regeltransports auf einem zügigeren Schiff (150 EUR) macht z. B. die Luftfrachtkosten (Kostenfaktor 2000 EUR) überflüssig. Dagegen stehen auf der Kostenseite der ControlTower-Betrieb sowie die Systemkosten, die zusätzlich beim Kunden aufzubauen sind, wenn die Schwankungen in der Transportkette nicht mehr zulasten der Anliefertreue oder des Risikobestands gehen.

3.9 Nächster Schritt dank Künstlicher Intelligenz Künstliche Intelligenz (KI) wird zunehmend das statistische Forecasting um maschinelles Lernen aus Vergangenheitsdaten ergänzen. Das gilt sowohl in der Routenund Touren-Optimierung, die sich mit den für die Routen und Touren geplanten und den real benötigten Zeiten auseinandersetzt, als auch bei der Netzwerkplanung, wo nicht funktionierende Konstellationen und Anforderungen an die Veränderung von Planungsparametern dank KI vom System berücksichtigt werden. Auch in der Szenario-Analyse und -Bewertung hilft sie, um Rückschlüsse aus allen Szenarien zu erzielen und zu errechnen, welche letztlich gut funktioniert haben. Vorsicht ist dabei jedoch geboten vor sich selbstverstärkenden Effekten durch KI. Beginnt ein Planer, mit KI die Prämissen zu verändern, kann das durchaus dazu führen, dass sich der Gesamtprozess und damit die Kostenstrukturen verschlechtern: Eine Tour dauert regelmäßig 20 min länger als berechnet und notwendig, weil sie den Fahrer für eine Pause an einem bestimmten Bäcker vorbeiführt. Die KI würde entsprechend eine 20 min längere Fahrt planen. Auch unvermittelte Pausen würden dazu führen, dass die KI die Route um die entsprechende Zeit verlängert. Überall dort, wo eine individuelle Einflussnahme der Planung zuwiderläuft, ist KI auch eine Gefahr. Denn sie kennt zwar die zeitlichen Parameter, nicht aber die Gründe dafür. Der KI-Prozess muss in bestimmten Szenarien Freigabeschritte enthalten, die einem KVP-Modell (kontinuierliche Verbesserungsprozesse) folgen. Die endgültige Entscheidung bleibt dabei dem Planer überlassen, der den Fahrer nach dem Grund der Verzögerung fragen, die Tour zur Prüfung selbst abfahren oder die Fahrtzeit schlicht für plausibel halten kann. Solange der Faktor Mensch die KI mit seinem Handeln „austricksen“ kann, muss sie an entscheidenden Punkten immer wieder geprüft, bewertet und gegebenenfalls korrigiert werden.

3.10 Fazit: Die digitale Supply Chain kommt – und braucht den Planer weiterhin In der Transportplanung werden Unternehmen dank der Digitalisierung sowohl in der Netzwerkplanung als auch in der Routen-/Touren-Optimierung strategische, taktische und objektive Entscheidungen treffen können – auch unter komplexen Rahmenbedingungen.

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Sie erhöhen die Auslastung, senken die Stückkosten der Logistik und damit der Produkte, verringern Zusatzfahrten und somit die Auswirkungen auf die Umwelt. Zudem begegnen sie erfolgreich dem Fahrermangel und halten trotzdem die gegebenen Leistungsversprechen ein. Durch die Digitalisierung verschwimmen die Grenzen zwischen traditionellen Disziplinen der Routen-Touren-Optimierung und der Netzwerkoptimierung. Auch die zeitlichen Betrachtungshorizonte werden in einen durchgängigen Planungshorizont integriert. Disziplinen, die heute noch getrennt sind wie die strategische Planung, die taktische Fixierung sowie die operative Planung werden enger verzahnt und durchgängig nachvollziehbar. Kombinierte Optimierungskonzepte, welche die gesamte Transportkette inklusive der Anforderungen aus der Produktion bzw. des Marktes berücksichtigen, werden Synergien schaffen. Sendungsströme werden sich verändern: Meta-Optimierungsebenen werden Einzug halten, die selbständig vorschlagen, wann welche Ware auf welchem Verkehrsträger welche Strecke zurücklegt und wann sie wo zwischengepuffert wird um rechtzeitig zu ihrem Empfänger zu kommen. Dabei wird keine singuläre Betrachtung vorgenommen, sondern der Gesamtzusammenhang aller Transportanforderungen berücksichtigt. Mit dem Wissen über die aktuelle Verkehrssituation und Rahmenbedingungen bekommt der Planer damit zusätzlich ein Werkzeug an die Hand, welches ein Gesamtbild des heutigen und morgigen Tages bis hin zu einer Perspektive über Forecasts von ein, zwei Wochen vermittelt. Der Planer wird diese validieren und daraus die Beauftragung und Durchführung ansteuern. Eine gute Entscheidung über die Transportrouten hängt nicht mehr vom Geschick des Disponenten ab. Seine Aufgabe bleibt es, dem System die Rahmenbedingungen korrekt mitzuteilen, es liegt an ihm, die vom Control Tower vorgeschlagene Lösung zu validieren. Der Disponent weiß, wann sich wo Baustellen befinden, wann wo Staus auftreten können. Seine zusätzlichen Kenntnisse sind von hohem Wert und weisen gleichzeitig auf die Grenzen der Digitalisierung im Transportwesen hin. Denn das Set an Parametern ist unendlich groß und komplex. Trotz künstlicher Intelligenz und lernenden Systemen, bleibt dem Menschen als Kontrollinstanz bis auf Weiteres die letzte Entscheidung. Hier schließt sich der Kreis wiederum zu TMS-Systemen, die die transaktionale Abwicklung verantworten und zu Track-and-Trace-Systemen, die dann die Echtzeitdaten zu den Planzuständen liefert. Die skizzierten Veränderungen werden letztlich sowohl in der Planung als auch in der Überwachung der Transporte erhebliche Auswirkungen auf das Changemanagement und den HR-Bereich haben. Das Transportunternehmen bzw. der Verlader wird weniger Mitarbeiter für Planung und Steuerung der Transporte benötigen, die jedoch neue Qualifikationen mitbringen müssen. Der Planer wird Regelwerke und Parameter definieren und komplexe Zusammenhänge im System überprüfen. Mitarbeiter, die bisher Abläufe kontrolliert haben, werden andere Aufgaben erhalten. Planung und Beauftragung erfolgen in diesem System automatisch.

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Auch im Control Tower braucht es weniger Kapazitäten, die prüfen, ob alle Transporte plangemäß verlaufen. Das übernimmt das System. Benötigt wird künftig eine Handvoll sehr kompetenter Mitarbeiter, die Szenarien evaluieren und die richtigen Entscheidungen treffen und schnell und zuverlässig agieren. Robert Recknagel ist Vice President Manufacturing & Logistics bei der flexis AG, einem globalen Anbieter von Komplettlösungen zur Planung und Optimierung der Lieferkette, sowie Geschäftsführer der Profi.S GmbH, Anbieter der Touren- und Routenoptimierungslösung ProfiTour. Robert Recknagel studierte Service Administration Management an der Universität Trier und arbeitete als Solution Consultant in Europa und Südostasien. Anschließend implementierte er bei der Rhenus Logistics komplexe internationale Logistikkonzepte im Automotive-, Manufacturing und Handelsbereich und legte den Grundstein für das 4 PL-Geschäft des Logistikdienstleisters. Robert Recknagel erhielt diverse Auszeichnungen, wie den elogistics award 2015 des AKJ sowie einen Industry 4.0-Award des Landes Baden-Württemberg. Philipp Beisswenger ist als Gründer und Vorsitzender des Vorstands für die Unternehmensstrategie und die Gesamtsteuerung der flexis AG sowie für die Aktivitäten der flexis Niederlassungen in den USA und Kanada verantwortlich.

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In der Zukunft betrachten wir Prozessketten vom Empfänger aus und jeder hat seine eigene Supply Chain Marc Schmitt

Zusammenfassung

Wir erleben heute einen Zeitenwandel. Technologie ist für jeden einsetzbar und findige Unternehmer erobern immer mehr Marktnischen. Es werden nicht nur Geschäftsmodelle auf den Kopf gestellt, sondern unsere gesamte Gesellschaft. Das betrifft insbesondere auch die Logistik. Traditionelle Unternehmen müssen sich daher neu aufstellen und selbst neue Märkte erschließen, Marktlücken besetzen und sich unersetzbar machen. Es gibt viele Beispiele für erfolgreiche Unternehmer, die sich kontinuierlich selbst hinterfragen und daher weiterentwickeln. Entscheidend wird in der nächsten Zeit sein, die Perspektive innerhalb der eigenen Wertschöpfungskette radikal zu erweitern – weg vom Blick allein auf den Kunden, hin zum Endkonsumenten. Nur diese Ausrichtung erlaubt einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil für die Zukunft: Jedem Konsumenten seine eigene Supply Chain zu ermöglichen.

4.1 Der technologische Wandel ändert alles Trotz der neuen technologischen Möglichkeiten hat sich die Logistikbranche in den vergangenen Jahren relativ langsam entwickelt. Das liegt zum einen an den komplexen Aufgaben, die bislang nur geschulte Mitarbeiter ausführen konnten wie beispielsweise die Disposition von LKW. Zum anderen wurde Logistik in den meisten Unternehmen lediglich als Kostenblock wahrgenommen. Wachstum wurde über kostengünstigere Dienstleistung generiert und nicht, wie heute notwendig, über Zustellqualität und besondere

M. Schmitt (*)  Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_4

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Services – und das obwohl die Logistik schon immer eine der wichtigsten Säulen der Wirtschaft war, da ohne sie weder Rohmaterial noch fertige Waren ausgeliefert werden können. Mittlerweile aber hat der technologische Fortschritt wegen der exponentiellen Entwicklung von Computern eine Reife erreicht, die auch die Logistik tief greifend verändern wird. Dieser Zeitenwandel hat schon vor einigen Jahren begonnen. Denn die globale Vernetzung hat das Konsumentenverhalten radikal verändert. Während Konsumenten früher nur auf ein paar wenige Produkte Zugriff hatten, die dazu von Händlern vorausgewählt und in lokalen Geschäften angeboten wurden, können sie heute aus einer globalen Produktpalette auswählen. Hersteller und Produzenten sind in der Lage, ohne Zwischenhändler ihre Waren an ihre Kunden zu verkaufen und sie sogar direkt zuzustellen. Der technologische Fortschritt hat es Unternehmen ermöglicht, neue Nischen zu besetzen und Marktanteile zu gewinnen. Technologische Fortschritte haben schon immer Märkte umgeformt und das nicht erst seit der Erfindung des Internets. Doch im Gegensatz zum vordigitalen Zeitalter hat der Fortschritt eine exponentielle Geschwindigkeit angenommen – und auch der Zugriff auf Technologien wird stetig einfacher. Darum können immer mehr Unternehmen eine gleichwertige Qualität an Produkten herstellen – das Emblem „Made in Germany“ wird nicht mehr lange ein ausgezeichnetes Merkmal für einzigartige Qualität sein. Schon heute produzieren beispielsweise chinesische Unternehmen in einer vergleichbaren Qualität, sodass deutsche Firmen nicht mehr nur aufgrund eines niedrigen Preisniveaus in China produzieren lassen, sondern auch wegen einer besonders guten Produktqualität. Auf diese Weise werden Merkmale wie außerordentliche Qualität oder besonders Design nahezu vollkommen eliminiert. Produkte und Waren gleichen sich an und die weltweite Vernetzung ermöglicht es darüber hinaus den Produzenten, die Wünsche ihrer Kunden direkt und gezielt zu befriedigen. Wir leben heute also in einer Welt, die es erlaubt, individuelle Kundenwünsche zu ermöglichen und jeden einzelnen Konsumenten direkt zu erreichen. Unabhängig von der Sprache und von persönlichen Interessen.

4.2 Jetzt steht der Verbraucher im Zentrum des Interesses Konsumenten verändern ihr Verhalten und entscheiden sich oft nicht mehr auf Basis der Produktqualität oder des Preises, sondern aufgrund eines ganzheitlichen Einkaufserlebnisses. Diese Einkaufserlebnisse werden von den Konsumenten nicht verlangt, sondern von Unternehmern geschaffen. Dass ganzheitliche Einkaufserlebnisse von Unternehmen kreiert werden, geschieht immer häufiger, eben weil Technologien immer zugänglicher werden. Das verändert unsere Gesellschaft. Produkte stehen nicht mehr im Mittelpunkt bei Konsumenten, sondern die Servicequalität und individuelle Besonderheiten. Der Konsument steht heute bei erfolgreichen Unternehmen im absoluten Mittelpunkt.

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­ onsumer-Centricity ist hier das Stichwort. Alle Prozesse werden auf die Konsumenten C ausgerichtet und wenn möglich, für jeden einzelnen Konsumenten individuell angepasst und optimiert. Die Customer-Journey fängt bei der Produktauswahl an und hört bei der Lieferung auf.

4.3 Die Customer-Journey gibt der Logistik einen noch wichtigeren Stellenwert Logistik ist daher einer der wichtigsten Bestandteile in der gesamten Wertschöpfungskette. Nicht mehr nur um Produkte zu transportieren, sondern insbesondere um die Wünsche der Endkonsumenten zu befriedigen. Logistik ist heute der letzte und damit wichtigste Kontakt des Verkäufers mit dem Konsumenten, denn die Ware wird nach einer erfolgreichen Bestellung mittels Logistik zugestellt. So entscheiden Konsumenten heute oft nicht mehr wegen der Qualität der Produkte oder wegen der Beratung in stationären Geschäften über Wiederkäufe, sondern wegen der Qualität der Zustellung. Für die Wertschöpfungsketten von heute sind demnach zwei Faktoren entscheidend: Zum einen richten sich Unternehmen wie Amazon voll auf den Konsumenten aus. Zum anderen können Technologien heute auch derart komplexe Abläufe wie in der Logistik automatisieren. Algorithmen lernen und erfassen Abläufe, wie es bislang Disponenten und Supply Chain-Manager taten, wodurch auch kleine Unternehmen oder Neugründungen den traditionellen Anbietern mit kostengünstigeren Angeboten gefährlich werden können. Künstliche Intelligenz (KI)-Plattformen, auch wenn sie noch keine signifikanten Marktanteile besitzen, können dank fortschreitender Entwicklung und Akzeptanz erfolgreich agieren.

4.4 Neue Wettbewerber aus allen Industrien und allen Regionen greifen die Branche an So kommt die Gefahr für Branchen auch aus den ungewöhnlichsten Bereichen. Google beispielsweise ist derzeit Marktführer im Bereich der selbstfahrenden Fahrzeuge und zwar nicht ausschließlich, weil sie die Autos verkaufen wollen, sondern weil sie die im Auto neu gewonnene Freizeit ihrer Fahrgäste, die ihr Fahrzeug nicht mehr steuern müssen, nutzen wollen, um Waren zu verkaufen. Sie stellen die Fahrzeuge, ihre Fahrgäste surfen per Mobiltelefon oder Tablet im Netz und dort schaltet Google Produktwerbung. Gefährlich wird Google auf diese Weise auch der Logistik, da es ebenfalls in Unternehmen investiert hat, die mit Zustelloptionen experimentieren, wie die Zustellungen direkt ins Fahrzeug. Hierbei kann ein Paketbote etwa Amazon- oder Pizzabestellungen direkt in ein Fahrzeug liefern, das dann wie ein Taxi seinen Fahrgast zusammen mit den Waren ans Ziel transportiert. Auf diese Weise können kleine Unternehmen und

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Neugründungen zur direkten Gefahr für traditionelle Unternehmen werden, die sich seit Gründung um den Konsumenten bemühen und ausschließlich daran arbeiten, das Kundenerlebnis zu optimieren. Aber auch kapitalstarke Logistik-Start-ups und Handelsriesen aus Asien machen sich bereit für den Großangriff auf Europas Logistiker. 2018 wurden laut einer Oliver-Wyman-Analyse weltweit zwölf Milliarden US-Dollar Risikokapital in der Logistikbranche investiert. Das entspricht mehr als einer Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr. Besonders auffällig dabei der Expansionsdruck neuer Wettbewerber aus Asien. Mit 7,1 Mrd. US$ entfielen mehr als die Hälfte aller Investitionen auf nur drei asiatische Unternehme: Go-Jek aus Indonesien (2,7 Mrd. US$), sowie aus China JD.com (2,5 Mrd. US$) und die Mangbang Group (1,9 Mrd. US$). Damit erreichen die jungen Unternehmen rasant eine finanzielle Ausstattung auf dem Niveau etablierter Player.

4.5 Verändert sich der Markt, ändern sich Supply Chains Dem Trend zu folgen, den Konsumenten in den Mittelpunkt zu stellen, ist für viele Unternehmen allerdings besonders schwierig – auch für Logistiker. Das wird in den kommenden Jahren noch stärker zum Problem werden. Denn Logistiker haben in der Regel keinen direkten Zugriff auf den Endkonsumenten. Vielmehr sind sie abhängig von ihren Kunden, den Versendern. Dieser Wandel im Markt führt nun zu massiven Veränderungen in der Logistik und in den Supply Chains. Vor ein paar Jahren wurden Qualitätswaren verschickt, auf die Kunden mit Freude gewartet haben – heute müssen Logistikunternehmen die individuellen Zustellwünsche erfüllen können, damit ihre Kunden, also die Versender, auch in Zukunft erfolgreich wachsen können. Zwar zahlen die Versender den Versand, beispielsweise Online-Plattformen. Der Empfänger entscheidet aber über Erfolg oder Misserfolg der Plattform. Stimmt das ganzheitliche Kundenerlebnis, entscheiden sich Konsumenten gerne für die gleiche Plattform. Das ist das Geheimnis von Amazon: der absolute Fokus auf den Konsumenten. Dieses Prinzip zieht sich durch die gesamte Wertschöpfungskette. Auch Industrieunternehmen beginnen damit, die gesamten Abläufe auf ihre Bedürfnisse hin auszurichten. Von Supply Chains wird demnach erwartet, dass sie dynamisch und flexibel sind, um den Kundenanforderungen gerecht zu werden. Sie müssen schneller als je zuvor reagieren – und zwar genau und reibungslos. Sie müssen zunehmend rund um die Uhr einsatzbereit und bedarfsorientiert sein. Deswegen müssen sie in der Lage sein, unterschiedliche Datenquellen innerhalb eines erforderlichen Zeitrahmens zu analysieren und auf diese zuzugreifen. Natürlich hat das tiefgreifende Auswirkungen auf alle Partner-Unternehmen, die mit einer Supply Chain verbunden sind, also auf die B2B-Prozesse und die zugrundeliegende Technologie.

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4.6 Das Märchen von den ETA Es ist heutzutage also absolut notwendig, den Blickwinkel auf die eigene Wertschöpfungskette zu erweitern, möchte man als Logistiker wettbewerbsfähig bleiben: Es gilt, nicht nur seinen direkten Kunden glücklich zu machen, also den Versender, sondern sich zusätzlich absolut auf den Empfänger der Waren zu konzentrieren. Denn der Empfänger, egal ob Endkonsument oder Hersteller, entscheidet unmittelbar über künftige Käufe – und das nicht aufgrund der relativ gleichwertigen Produktqualität, sondern aufgrund der Zustellqualität und -flexibilität. Dass wir es leider noch oft mit einer unbefriedigenden Zustellqualität zu tun haben, belegt der derzeitige Hype um die ETA, die Estimated Time of Arrival. Die Wahrheit jedoch ist: ETAs lösen kein Problem, sondern ausschließlich ein Symptom. Kein Mensch auf dieser Welt möchte wissen, wann seine Ware ankommt. Vielmehr möchte jeder Mensch wissen, dass die Ware genau dann eintrifft, wenn er sie braucht. Empfänger fragen nur deshalb nach den Ankunftszeiten, weil Logistiker es nicht schaffen, Bestellungen rechtzeitig auszuliefern.

4.7 Das wird sich in den kommenden Jahren ändern Die technologischen Möglichkeiten und die gesellschaftlichen Veränderungen sind auch in den kommenden Jahren die Ursachen für massive Veränderungen. Die Logistik wird für erfolgreiche Geschäftsmodelle ein entscheidender Bestandteil sein. Unternehmen, die sich intensiv der Zustellung der Ware bei Empfängern widmen, werden überproportional wachsen – Amazon zeigt es. Zukünftig werden KI-Plattformen zu Control Towern für moderne Supply Chains – was sie teilweise schon heute sind. Sie werden Entscheidungen und Maßnahmen von teils komplexen Logistikprozessen automatisieren, koordinieren und durchführen. Ein KI-basierter Control Tower wird für absolute Transparenz innerhalb einer Logistikkette sorgen und die nächsten Prozessschritte voraussehen. Dafür wird er eng mit allen Datenquellen aus einer Supply Chain verbunden sein, vorausschauende Analysen ermöglichen und gemeinschaftlich über Cloud-basierte Netzwerke mit Handelspartnern eines Unternehmens zusammenarbeiten. So kann der Control Tower geschäftlichen Auswirkungen von Daten und Ereignissen verstehen, Ereignisse für Supply Chain Manager ihrer Wichtigkeit nach einordnen und sie bei Bedarf informieren. Der Control Tower wird beispielsweise einen zukünftigen Bedarf an Teilen genau vorhersagen und den aktuellen Nachschub verwalten. Oder die Ressourcen, Lagerbestände und Lieferungen durch Echtzeit- Optimierung managen und dann auch inmitten der Produktion Aufträge automatisch erstellen oder ändern. Bestimmte Ausnahmen werden auch in Zukunft noch menschliches Eingreifen erfordern, aber ein Großteil der Supply Chain wird automatisiert ablaufen können.

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Die Transformation der Lieferkette und der Logistik befindet sich noch in einem sehr frühen Stadium. Der Weg ist aber bereits heute klar: Jeder wird in ein paar Jahren in der Lage sein, seine eigene Supply Chain durch vollständige Transparenz und Automatisierung innerhalb der Lieferkette zu koordinieren – egal ob er ein großer Hersteller, ein Mittelständler oder eine Privatperson ist. Die Produkte werden zu dem Zeitpunkt hergestellt und geliefert, an dem der Konsument sie erwartet. Unternehmen, die diesen komplexen Weg der Digitalisierung und Automatisierung meistern, werden ihren Wettbewerbern voraus sein.

4.8 So bewältigen Logistiker die Herausforderungen der Zukunft erfolgreich Es gibt keinen Schutz vor den anstehenden Veränderungen, auch wenn sie in einigen Bereichen sicher noch einige Jahre auf sich warten lassen werden. Logistiker müssen aber bereits heute anfangen, den steinigen Weg des Umbruchs zu gehen – da sonst die angestrebte, auf den Konsumenten zentrierte Supply Chain an anderer Stelle Realität werden kann. Dabei müssen sie sich vor Augen führen, dass nicht die Technologien die große Herausforderung sind, sondern das Vorbereiten der eigenen Mitarbeiter auf die Veränderungen der Zukunft. Angestellte, die heute unersetzbar sind, weil sie erfolgreich komplexe Abläufe planen, werden in den nächsten Jahren von Software, insbesondere von Künstlichen Intelligenzen, ersetzt werden. Wir sehen deutlich, dass Software und Künstliche Intelligenzen den Alltag von Logistikern maßgeblich bestimmen werden. Prozesse werden digitalisiert, automatisiert und standardisiert gesteuert werden. Das macht sie wesentlich schneller und effizienter. Das wird die Branche aber auch tief greifend verändern. Logistiker müssen daher bereits heute nach Alternativen für ihre Mitarbeiter suchen. Darüber hinaus glauben wir, dass gerade komplexe Prozessketten vom Empfänger her betrachtet werden müssen. Deshalb werden KI-Plattformen in Form von Control Towern in der Industrie, aber auch beim Endkonsumenten, zum Einsatz kommen. Schon heute bieten KI-Plattformen in Form von Control Towern sowohl großen Herstellern, als auch kleinen und mittelständischen Händlern die Möglichkeit, weltweit Waren zu beziehen und zu vertreiben. Sie sind in der Lage, entscheidende Planungsprozesse eigenständig durchzuführen und Abläufe zu optimieren. Dadurch können Unternehmen vom Empfänger her denken, ihr Angebot auf ihre Kunden ausrichten und für jeden einzelnen Kunden die optimale Zustelloption finden.

4.9 Evertrackers intelligenter und neutraler Control Tower Bei Evertracker haben wir daher einen Control Tower entwickelt, der genau diese Anforderungen erfüllt und der bereits heute erfolgreich zum Einsatz kommt (s. Abb. 4.1). Zu unseren Kunden zählen etwa Audi, Panalpina und die Spedition Kobernuss. Unser

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Abb. 4.1    Control-tower-evertracker-real-time-dashboard-predicitve. Auf dem Bildschirm ist Evertrackers intelligenter und neutraler Control Tower zu sehen. Disponeten und Supply Chain Manager erhalten dank der Evertracker-Lösung einen direkten Überblick über aktuelle Prozesse. Sie können in Echtzeit Abweichungen in ihren Prozessen erkennen, wie etwa Verspätungen oder Engpässe, und über vorausschauende Analysen auf diese Abweichungen reagieren. (Quelle: ­Evertracker)

intelligenter und neutraler Control Tower hilft Unternehmen dabei, die volle Kontrolle über Abläufe zu gewinnen. Insbesondere herstellende Unternehmen haben die Möglichkeit, ihre Inbound-Logistik im Blick zu behalten, automatisiert zu steuern und frühzeitig auf Störungen zu reagieren. Mit unserer Hilfe optimieren unsere Kunden schon heute komplexe Abläufe und erhalten volle Transparenz über jeden Schritt in der Wertschöpfungskette. Evertrackers Control Tower hilft Logistikern, sich erfolgreich auf den Endkonsumenten auszurichten (Abb. 4.1).

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4.10 Fazit: Wegen neuer Technologien hin zu neuen Technologien! Logistiker sehen sich gerade wegen des technologischen Zeitenwandels einer Reihe Herausforderungen gegenüber – die sich aber erfolgreich meistern können. So müssen Vertreter der Branche heute erstens mit Nachdruck den Endverbraucher in den Fokus nehmen. Denn diese entscheiden mittlerweile nach Servicequalität und individuelle Besonderheiten. Das ganzheitliche Kundenerlebnis muss stimmen, an dem die Logistiker einen großen Anteil haben. Daher müssen sie ihre Perspektive ändern und den Fokus absolut auf den Konsumenten richten – die so genannte Consumer-Centricity wird zur Pflicht. Bald wird sogar jeder Endverbraucher seine eigene Supply Chain haben, die er mit Hilfe absoluter Transparenz und Kontrollierbarkeit der Lieferkette nach seinen Wünschen gestalten kann. Zweitens stehen Logistiker derzeit großem Druck aus dem Markt entgegen. Aus allen Industrien und allen Regionen brechen Wettbewerber mithilfe neuer Technologien in Bereiche ein, in denen sie zuvor nicht aktiv waren. Das kann Marktanteile kosten, zumal Logistikdienstleister bislang zu wenig die Schnittstelle zum Konsumenten für sich zu nutzen wussten. Drittens müssen sich logistische Dienstleister dem gesellschaftlichen Wandel stellen, der innerhalb des eigenen Unternehmens ansteht. Wenn Prozesse mit Hilfe von Software wie etwa Künstlicher Intelligenz digitalisiert und automatisiert werden, schafft das freie Kapazitäten bei Angestellten. Können sie in neuen Bereichen eingesetzt werden? Können Unternehmen die frei werdenden Kapazitäten ihrer Mitarbeiter vielleicht sogar nutzen, um zu wachsen? Fest steht: Logistiker bewältigen diese Herausforderungen erfolgreich, wenn sie sie jetzt angehen. Neue Technologien stellen alte Geschäftsmodelle auf den Kopf – neue Technologien retten sie aber auch. Deshalb müssen Branchenvertreter jetzt schnell digitalisieren, automatisieren und die Kundenschnittstellen besetzen. KI-Plattformen in Form von Control Towern, die Logistikprozesse sowohl für Großkonzerne, als auch für Mittelständler und ebenso für Privatpersonen absolut transparent, vorhersagbar und kontrollierbar machen, werden für diesen Prozess unabdingbar sein. Bislang werden viele Initiativen zur Digitalisierung und Automatisierung von Vertretern der Branche in Eigenregie angetrieben. Dabei sind mit externen Technologielieferanten – darunter durchaus auch Start-ups – absolut sinnvoll, um die Digitalisierung zu erhöhen und im Wettbewerb mit neuen Angreifern zu bestehen.

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Marc Schmitt  ist CEO und Mitgründer des Hamburger Start-ups Evertracker und außerdem Mitglied der Logistikweisen. Evertrackers neutrale und intelligente Plattform Control Tower bietet vollständige Vorhersehbarkeit und Transparenz über die gesamte Supply Chain hinweg, was Supply Chains absolut kontrollierbar macht. Zu den Kunden des 2014 gegründeten Start-ups zählen etwa Audi, Panalpina und die Spedition Kobernuss. Seitdem Evertracker Anfang 2018 beim weltgrößten US-Accelerator Plug and Play aufgenommen wurde, hält sich Marc Schmitt regelmäßig im Silicon Valley auf. An der ESCP Europe hat er seinen Executive MBA in Wirtschaft gemacht. Zuvor hat der gebürtige Frankfurter als Grafikdesigner gearbeitet.

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IT für die digitale Transformation Giovanni Prestifilippo

Zusammenfassung

Mit den Anforderungen eines optimal ausgelegten logistischen Netzes, einer durchgängig vernetzten IT-Infrastruktur sowie der intelligenten Aufbereitung und Nutzung enormer Datenmengen stellt die digitale Transformation die Unternehmen in Industrie und Handel vor enorme Herausforderungen. In der PSI Logistics Suite ist mit dem PSIglobal eine vollumfängliche Standardsoftware für strategisches Supply Chain Network Design (SCND), Steuerung und kontinuierliche Optimierung logistischer Netze verfügbar. Mit einem wettbewerbsdifferenzierenden Funktionsumfang erschließt das PSIglobal dabei nicht allein Kosteneinsparungen bei Logistikstrukturen und – prozessen in Höhe von bis zu 20 %. Es übernimmt vielmehr auch eine zentrale Funktion in Big-Data-Konzepten und sichert mit seiner Systemarchitektur, Upgrade- und Releasefähigkeit eine zukunftsfähige Agilität im Rahmen der digitalen Transformation.

5.1 Prozessoptimierung in der Logistik durch Automatisierung Mit 144.000 Quadratmetern Fläche, was etwa der Größe von 20 Fußballfeldern entspricht, ist die Staatsbibliothek zu Berlin die flächenmäßig größte wissenschaftliche Universalbibliothek im deutschsprachigen Raum. Unter den mehr als 25 Mio. Medien, die dort verfügbar sind, befinden sich neben Karten, Handschriften und Urkunden rund 12 Mio. Bücher, gebundene Zeitungen und Zeitschriften. – das entspricht umgerechnet

G. Prestifilippo (*)  Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_5

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einem Datenvolumen von etwa 24 Terabyte. Was hat dieser Exkurs mit der Logistik zu tun? Er veranschaulicht die Dimensionen, in denen wir uns bewegen, wenn wir uns mit dem Management, der Analyse und Nutzung digitaler Daten befassen. Bereits in den kommenden ein bis zwei Jahren wird Berechnungen zufolge die weltweite Datenmenge auf 40 Zettabyte angewachsen sein. Pro Kopf der Weltbevölkerung sind dann sechs Terabyte an Daten gespeichert. Das wiederum entspricht der Textmenge von drei Millionen Büchern – für jeden Erdenbürger ein Viertel des Buchbestandes der Staatsbibliothek zu Berlin. Diese Zahlen unterstreichen den hohen Stellenwert, den Mobilität und Digitalisierung inzwischen im Alltagsleben einnehmen. Die Voraussetzungen dafür wurden mit der rasanten Entwicklung geschaffen, die in den vergangenen zwei Dekaden insbesondere in Technologiebereichen wie Sensorik und Bilderfassung, Minimalisierung, Rechenleistung und Speicherkapazität erfolgte. Noch vor wenigen Jahren hätten Rechenprozesse, die heute in wenigen Sekunden durchgeführt werden, mehrere Stunden in Anspruch genommen. Vor diesem Hintergrund schreiten Automatisierung und Digitalisierung, mithin die zunehmende Realisierung der Industrie/Logistik 4.0, in den Unternehmen zügig voran. Gerade in mitarbeiterintensiven Branchen wie der Logistik erschließt die Automatisierung der intralogistischen Prozesse Optimierungspotenziale und steigert die Effizienz. Die Anlagenbauer decken das mit Anlagenlayouts ab, die sich mit modularen Systemkomponenten konsequent auf die individuellen Anforderungen zuschneiden lassen. Der Informationsaustausch zwischen datenerfassenden AutoID-Systemen, Anlagentechnik, Transportgeräten und (Materialfluss-)Rechnern erfolgt in Echtzeit – mit kürzesten Antwort- und Reaktionszeiten. Bilderfassung und Sensorik sorgen für Prozesssicherheit und absolute Präzision von Cobots und autonomen, fahrerlosen Transportsystemen.

5.2 Durchgängige Vernetzung aller IT-Ebenen Eine zukunftsfähige Auslegung erfordert dabei stabile und gleichwohl flexibel wandelbare Systeme. Das gilt gleichermaßen für die Hardware der operativen Intralogistik wie für standort- und unternehmensübergreifende Operationen in den logistischen Netzen – und ebenso für den Enabler der Prozesse, die jeweils steuernde IT-Infrastruktur. Ihre Flexibilität und Wandelbarkeit basiert auf Upgrade-Fähigkeit und Release-Fähigkeit der Softwaresysteme. Diese Attribute erlauben es, die aktuellen technologischen Entwicklungen und Lösungsoptionen kontinuierlich in marktgerechte Softwareprodukte einzubinden und auf dieser Grundlage weitere Optimierungen zu generieren. Upgradeund Release-Fähigkeit gewährleisten neben der Integration neuer Technologien im Hardware-Bereich in eine koordinierte Prozesssteuerung auch – Stichwort Künstliche

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Intelligenz (KI) und Robotic Process Automation (RPA) – die Einbindung neuer Entwicklungen und Erkenntnisse der Informatik in die Softwaresysteme selbst sowie die Automatisierung auch ihrer Prozesse. Mit entsprechenden Vorteilen für die Systemnutzer in der gesamten Supply Chain. Wenn große Discounter ihren Kunden „jede Woche eine neue Welt“ bieten, Industrieunternehmen ihre weltweit verteilten Produktionsstätten ver- und entsorgen oder Logistikdienstleister die optimalen Standorte, Bestandsmengen und Umschlagplätze für ihre Leistungen als Kontraktlogistiker ermitteln, dann steckt dahinter eine hohe Organisationsleistung – und eine intelligente Logistiksoftware. IT-Systeme bilden die Basis für die Digitalisierung, die Effizienz der Automatisierung und den geforderten durchgängigen Informationsfluss vom Rohstoff bis zum Konsumenten. Dabei erfordern die Steuerung koordinierter interner wie auch unternehmensübergreifender Prozesse in der Supply Chain sowie die Planung, Gestaltung und kontinuierliche Optimierung des logistischen Netzes eine durchgängige Vernetzung für kontinuierlichen Datenaustausch – und dies weitgehend in Echtzeit. Das gilt sowohl für die horizontale Systemebene – etwa der operativen Prozesse von Kommissionierung, Lager-, Transport- und Fördertechnik im Materialflussrechner (MFR) oder, auf der überlagernden Systemebene, zwischen Warehouse Management System (WMS) und Transport Management System (TMS) – wie insbesondere auch bei der Vernetzung der vertikalen Systemebenen, etwa MFR mit WMS oder WMS mit Enterprise Ressource Planning (ERP) beziehungsweise Produktionsplanungssystem (PPS). Und zwar entlang der gesamten Supply Chain. Nur die konsequente Vernetzung der Informations- und Steuerungssysteme ermöglicht den Unternehmen eine Prozessoptimierung unter ganzheitlicher Betrachtung aller maßgeblichen Faktoren und letztlich eine erfolgreiche digitale Transformation. Dabei fällt dem PSIglobal mit den Funktionsumfängen für die automatisierte Datenharmonisierung, Analyse und bedarfsgerechten Bereitstellung von Informationen in ganzheitlichen Zusammenhängen eine entscheidende Rolle als Meta-System in der IT-Infrastruktur zu (Abb. 5.1). Koordinierte Prozesssteuerung mit kürzesten Antwort- beziehungsweise Reaktionszeiten erfordert und erbringt ein hohes Maß an Daten und Informationen. Für aufeinander abgestimmte, optimierte Prozessabfolgen müssen sie – etwa im MFR – zusammengeführt, priorisiert und in entsprechende Steuerungsbefehle umgesetzt werden. Die damit verbundenen Anforderungen und Funktionalitäten der IT-Systeme werden umso komplexer, je höher die Software in den vertikalen Ebenen zu verorten ist und fungiert. Daher fokussieren die herkömmlichen Systementwicklungen funktionale Spezialisierungen – als Softwaresysteme für die Materiaflusssteuerung, das Warehousing oder die Produktionsplanung. Das schont nicht zuletzt die Kapazitäten der jeweiligen Systemebene.

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Abb. 5.1   Horizontale und vertikale Vernetzung in IT-Systemen mit PSI Software. (Quelle: FIR)

5.3 In vier Evolutionsschritten zur digital vernetzten Logistik Zugleich zeigt die Spezialisierung jedoch einiges Konfliktpotenzial auf: Einerseits benötigt nicht jedes Unternehmen beispielsweise zur Steuerung seiner intralogistischen Prozesse ein vollumfängliches WMS. Parallel dazu verfügen PPS- und ERP-Systeme in der Regel lediglich über erforderliche Grundfunktionen nach VDI-Richtlinie 3601 „Warehouse Management Systeme“. Mit wachsender Automatisierung und Prozessführung in der Intralogistik reichen die ERP-Funktionen für eine effiziente Steuerung komplexer Prozesse nicht aus. Andererseits fehlen durch die Systembrüche die Voraussetzungen für eine ganzheitliche Betrachtung und Optimierung von Materialflüssen und Warenströmen sowie für kurzfristige, belastbare Entscheidungen. Um etwa das Datenmaterial für Reporte über die operativen Ergebnisse zusammenzustellen sitzen verantwortliche Abteilungsleiter nicht selten einige Stunden am Rechner und tragen die erfassten Informationen aus diversen (Sub-)Systemen in Excel-Dateien zusammen. Die heterogenen Datenformate aus unterschiedlichen Quellen können oft weder konvertiert noch in der IT-Infrastruktur zur Steuerung und Optimierung der operativen Prozesse ausgetauscht werden. Digitalisierung, Datenharmonisierung und

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intelligentes Datenmanagement mit einem umfassenden, einheitlichen Datenbestand – Fehlanzeige. Die Folge: Performance, Effizienz und Wachstumspotenziale im Kontext von Industrie 4.0 und Logistik 4.0 bleiben auf der Strecke. Das steht im klaren Widerspruch zu einer digital vernetzten Logistik 4.0. Das Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) e. V. an der RWTH Aachen etwa charakterisiert die Entwicklungsschritte (s. Abb. 5.2) und den Reifegrad einer digital vernetzten Logistik in einem Säulenmodell mit den vier aufeinander aufbauenden Fähigkeiten Visibility (Sichtbarkeit), Transparency (Transparenz), Predictability (Prognosefähigkeit) und (selbstlernende) Adaptability (Anpassungsfähigkeit). Als Vorstufen für die vier Entwicklungsschritte weist das Säulenmodell Computerization und Connectivity aus. Visibility, das „Sehen“, bezeichnet die durch Software gestützte Fähigkeit, die Fertigungsprozesse in Echtzeit verfolgen zu können. Der nächste Evolutionsschritt, Transparency, das „Verstehen“, charakterisiert die Fähigkeit, das Geschehen datenbasiert zu analysieren – zu erkennen, warum (im Positiven wie im Negativen) etwas passiert. Diese Fähigkeiten und Informationen ermöglichen den nächsten Entwicklungsschritt, Predictability, den datenbasierten Blick in die Zukunft: Was wird passieren? Die Analyse konzentrierter (logistischer) Kennzahlen erschließt belastbare Prognosen und Risikoabschätzungen. Im operativen Bereich bilden sie die Grundlage beispielsweise für ressourcenoptimierte Dispositionen und kontinuierliche Prozessoptimierung. Im strategischen Bereich legen sie das Fundament für den Auf- und Ausbau der Supply Chain, für M&A-Maßnahmen oder die Entwicklung und Gestaltung neuer und zugleich robuster Geschäftsprozesse und -modelle. Derart gewappnet wird die letzte Stufe des Entwicklungspfades einer digital vernetzten Supply Chain beschritten: Adaptability, maximale Flexibilität und Anpassungsfähigkeit durch autonome Reaktionen selbstlernender Systeme – die Grundlage zur Realisierung von Zukunftsprojekten wie dem Internet der Dinge und Industrie/Logistik 4.0.

Abb. 5.2   Entwicklungspfad zur Logistik 4.0 und einer digitalen Supply Chain. (Quelle: FIR)

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Die für die operativen Prozesse sinnvollen Automatisierungen sind abgeschlossen. Die Komponenten und Systeme verfügen über Schnittstellen, die sie mit einem Netzwerk verbinden. In das Netzwerk speisen sie die erfassten Daten ein, aus dem Netzwerk erhalten sie ihre Aufträge. Die IT-Infrastruktur ermöglicht eine effiziente, echtzeitnahe und prädiktive Analyse der Bedarfe zur Optimierung der Warenströme (Abb. 5.2).

5.4 Höchstmaß an Investitionssicherheit Diese Anforderungen führen in der Entwicklungsarbeit für zukunftsfähige Softwaresysteme gegenwärtig dazu, dass die herkömmlichen Systemgrenzen sowohl der horizontalen wie auch der vertikalen Systemebenen zunehmend verschwimmen. WMS fungieren in der Intralogistik inzwischen als zentrale IT-Instanz. Sie sammeln Daten, steuern die koordinierten Auftragsfertigungsprozesse und stellen Informationen für Analysen (Key Performance Indicators, KPI) sowie Artikeldaten für Geschäftspartner zur Verfügung. Wie die Anlagenbauer für die Automatisierungssysteme der Intralogistik konzipieren die Entwickler ihre IT-Systeme dabei nach dem Baukastenprinzip. Einzelne Module von Planungssoftware, TMS oder WMS lassen sich auf Basis moderner Softwarearchitektur komfortabel auch in die jeweils anderen und – so der Entwicklungsansatz der PSI Logistics – auch der überlagernden IT-Systeme integrieren. Die PSI Logistics hat diesen Ansatz bei der Entwicklung und Konzeption der modular konzipierten Produkte ihrer PSI Logistics Suite unter dem Begriffspaar „Integrierte Vernetzung“ gefasst. Auf Basis einer gemeinsamen, konzernweit ausgerollten Entwicklungsplattform, dem PSI Java Framework (PJF), sind damit gegenwärtig alle Funktionen, die die spezifischen Module etwa des PSIwms oder des PSItms bieten, untereinander vernetzbar oder direkt beispielsweise in das ERP-System PSIpenta des Schwesterunternehmens PSI Automotive & Industry einzubinden. Die mit dem PJF vereinheitlichte Programmierbasis erlaubt es unter anderem, dass neue, innovative Programmfunktionen, Applikationen und Technologien anderer Geschäftseinheiten des PSI-Konzerns sich leicht in die Produkte integrieren lassen. Überdies werden die Programme und Programmfunktionen emanzipiert. Denn mit dem PJF sind die IT-Systeme der PSI unabhängig von gravierenden Veränderungen bei Programmiersprachen und Datenbanken wie beispielsweise der vom Hersteller abgekündigten Client-seitigen Laufzeitumgebung für die Grafik-Bibliothek Java Swing. Damit unterstützt der PJF unter anderem die bereits skizzierten Erfordernisse nach Wandelbarkeit und durchgängige Vernetzung der Systeme. Denn er legt die Basis für die Einbindung künftiger, gegenwärtig noch kaum absehbarer Funktionsanforderungen unter Industrie 4.0 – und bietet den Anwendern neben einer nachhaltigen Stabilität und entsprechenden Auslegung der Systeme ein Höchstmaß an Investitionssicherheit. Das Ergebnis der wechselseitigen Integration von Modulen und Funktionalitäten der im Konzern entwickelten Softwareprodukte sind Individualsysteme auf Basis konfigurierbarer Standardmodule mit weitreichendsten Funktionsumfängen. Den Anwendern steht

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von der SC-Planung über PPS, ERP- und TMS-System bis hin zum Warehouse Management eine konfliktfrei vernetzte, vollumfängliche IT-Infrastruktur aus einer Hand zur ­Verfügung. Auf Basis eines entsprechend kombinierten IT-Systems, basierend auf Modulen des strategischen Planungs- und Optimierungssystems für logistische Netze, PSIglobal, und des PSItms, hat etwa die Swiss Post AG ihre Transport-Logistik optimiert und zukunftsfähig ausgelegt. Neue Dienstleistungen im E-Commerce, steigender Kostendruck und erhöhte Kundenanforderungen im Paketmarkt erfordern flexible Logistik- und Transportprozesse bei der Ver- und Entsorgung der Betriebsstellen, der Geschäftskundenbetreuung, bei Angeboten der Spezialzustellung und der Gestaltung und Koordination von Interzentrenverkehren mit Schnittstelle Straße/Schiene. Mit der Zusammenführung von Modulen und Funktionalitäten des strategischen und des operativen Softwaresystems, dem konzertierten Zusammenspiel durch lückenlose, intelligente und konfliktfreie Kopplung von Supply Chain Network Design und TMS, deckt die Swiss Post AG die komplette Prozessfolge ab. Das reicht von der optimalen Netzgestaltung und Vordisposition durch Bildung von Rahmentouren über Auftragsannahme, Disposition und Ressourcenplanung inklusive Fahrzeugeinsatz, Zeitfenstermanagement und Kostenminimierung bis hin zur Transportdurchführung, Abrechnung sowie der Verarbeitung und Analyse der Ereignisdaten.

5.5 Enorme Kostensenkungspotenziale Ergebnis sind exakt koordinierte und optimal ausgelastete Vor-, Haupt- und Nachläufe mit detaillierten Fahrplänen für das gesamte logistische Netzwerk. Mit der integrierten Simulations- und Szenariotechnologie unterstützen die Analysefunktionen der PSIglobal-Module dabei zudem die Flexibilität bei der optimalen Anpassung des Paketdienstleisters auf künftige Anforderungen. Die Vorteile für die Wettbewerbsfähigkeit und den Mehrwert einer derartigen Vernetzung verdeutlicht ein Blick auf die Kostensenkungspotenziale einzelner Strukturund Prozessoptimierungen. Mit zunehmender Synthese der strategischen und operativen IT-Systeme von der Analyse über die Planung bis hin zur Realisierung der ermittelten Optimierungsschritte steigen die Einsparungen bis in den zweistelligen Prozentbereich – und, das sei an dieser Stelle nebenbei bemerkt, sie werden mit Einbindung von Methoden und Verfahren der Künstlichen Intelligenz (KI) in die Softwareprozesse künftig noch deutlicher ausfallen. Bereits bei der Analyse der bislang in einem Unternehmen etablierten Logistik auf Einsparpotenziale sowie beim Controlling der Einhaltung von Rahmenbedingungen erschließt die gezielte Auswertung eines ganzheitlichen Datenmaterials Kostensenkungen von bis zu fünf Prozent. Bei der Netzgestaltung lassen sich in der Tourenplanung und der länderübergreifenden Transportplanung fünf Prozent und bei der

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Planung multimodaler Transporte bis zu zehn Prozent erzielen. Intelligente Analysefunktionen für die Standortplanung und Zuordnungsoptimierung der Bestände realisieren Einsparpotenziale in Höhe von bis zu 20 %. In ähnlicher Höhe bewegt sich zudem die Verringerung anwenderspezifischer Kostenfunktionen. Diese Größen basieren auf den Ergebnissen, die namhafte Anwender wie Schaeffler oder Bosch bei der Planung und Gestaltung sowie dem Management ihrer internationalen Logistiknetze mit dem PSIglobal erzielen. So hat Schaeffler für die vor sieben Jahren begonnene Neustrukturierung des europäischen Distributionsnetzes das PSIglobal als Software-Unterstützung zur Analyse und Planung von Netzwerk und Standorten eingesetzt. Mit dem Supply Chain Management System wurden die Planungen kontinuierlich an veränderte Markt- und Rahmenbedingungen angepasst und verschiedene Faktoren wie Standorte, Transportkosten, Lieferfähigkeit und Services gegeneinander abgewogen. Inzwischen ist die Versorgung für die europäischen Märkte in drei zentralen Lagerstandorten gebündelt. Allein im EDZ für Zentraleuropa konnte Schaeffler mit den Analyseergebnissen und Funktionen im PSIglobal 13 zuvor betriebene Lagerstandorte konsolidieren. Durch die optimale Netzplanung und Bündelung von Beständen und Transporten auf eine Versandstelle hat die Sparte Industrie unter anderem die Zahl der Transporte auf ein Viertel der zuvor benötigten Fahrten reduziert (Abb. 5.3).

5.6 Hoher Nutzen und weitreichende Perspektiven Das Supply Chain Network Design (SCND) des Industrieunternehmens Bosch arbeitet bei der Optimierung und Gestaltung seiner logistischen Netze seit 2017 mit dem PSIglobal. Dabei geht es um eine übergreifende Netzwerkanalyse mit komplexen Kostenstrukturen. 15 Geschäftsbereiche mit weltweit 60 Produktgruppen, 270 Produktionswerken, 800 Logistikzentren, 20.000 direkten Lieferanten und 250.000 Kunden umfasst das Unternehmen. Für ein komplettes Netzwerk der 15 Geschäftsbereiche hat das für die Gestaltung seiner Supply Chain mit dem Deutschen Logistik Preis ausgezeichnete Unternehmen die Ist-Werte aller angebundenen Bosch-Werke und Lagerstandorte in das PSIglobal importiert, die jeweiligen Lieferanten, Kunden und Transporttarife in die Simulationsmodelle eingepflegt und Optimierungsvarianten für das Netzwerk ermittelt. Mit dem Analyse- und Planungssystem konnten die Schlüsselelemente, Kostentreiber, maßgeblichen Parameter und entscheidenden Faktoren für das Netzwerk-Design weiter konkretisiert und Einsparpotenziale bei Netzwerkkosten in Höhe von 13 % realisiert werden. Nach den Erfolgen beim Netzwerk-Design bestehender Netzwerke wird PSIglobal das SCND von Bosch nun auch bei der Analyse und Optimierung von Netzwerken neuer Produktgruppen unterstützen. Hoher Nutzen und weitreichende Perspektiven mit wenig Aufwand: Mit dem PSIglobal hat die PSI Logistics frühzeitig ein Standardsystem für das strategische Supply Chain Network Design entwickelt. Mit seiner Architektur und den Funktionsumfängen gilt es

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Abb. 5.3   PSIglobal plant und optimiert weltweite Supply Chains von Bosch. (Quelle: FIR)

einerseits als probates Beispiel dafür, wie moderne Software-Systeme sich State-of-theArt um neue Technologien und anwendungsgerechte Funktionen erweitern lassen – und damit die für die digitale Transformation geforderte Vernetzung, Flexibilität und Transparenz fördern. Andererseits belegt es die zukunftsfähige Konzeption und Integrationsfähigkeit moderner IT-Systeme. Für ihre entsprechenden Entwicklungsleistungen ist die PSI Logistics in den vergangenen zwei Jahren mehrfach, jüngst im Februar 2019, von Experten unterschiedlicher Gremien als Innovationsführer der Branche ausgezeichnet worden. Das PSIglobal wurde ursprünglich für die intelligente Analyse, Planung, Steuerung und kontinuierliche Optimierung mehrstufiger, multimodaler Logistiknetze konzipiert. Die Standardsoftware führt gezielt operative Daten für Managementanalysen zusammen und weist wichtige Kennzahlen zur Aufdeckung von Verbesserungspotenzialen aus. Dabei löst das IT-System zielführend und effizient sowohl strategische als auch taktische Fragestellungen von Logistikprojekten – etwa bei der Standortsuche. Mit seiner

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durchgängigen Szenario- und Simulationstechnologie sowie dem integrierten Sendungsmanipulator können Anwender beispielsweise die Sensitivität und Kapazitäten eines Netzes in Abhängigkeit vom Auftrags- und Aufkommensvolumen überprüfen, die Generierung neuer Sendungen simulieren und Mengengerüste variieren. Mit den eingebundenen Analysemodellen und einer Vielzahl von Optimierungsalgorithmen ermitteln Anwender in modellhaften Untersuchungen unter Einbindung etwa der Transportstrukturen die optimale Anzahl und Lage von Standorten, um Lager- und Transportkosten zu verringern und die CO2-Bilanz zu verbessern.

5.7 Zeitaufwand beim Tender Management auf einen Bruchteil reduziert Auf Basis der gemeinsamen, konzernweit ausgerollten Entwicklungsplattform PJF wurde das Anwendungsspektrum des PSIglobal in den vergangenen Jahren zudem kontinuierlich um Funktionen und Algorithmen erweitert, die die verfügbaren Daten intelligent verknüpfen und für weitere Management- und Optimierungsprojekte nutzbar machen. Das Spektrum der Kernfunktionalitäten deckt mit Geocodierung, Prognosegenerator und Strukturanalysen für Standortwahl und Bestandsoptimierung unter Berücksichtigung von Produktionskapazitäten, Transportwegen und Materialflüssen sowie Transport- und Lagerkosten, für Sendungsrouting und Tourenplanung nicht nur ein breites Anwendungs- und Optimierungspotenzial bei der Gestaltung und koordinierten Prozesssteuerung logistischer Netze ab. Als erstes IT-System im Markt ermöglicht das PSIglobal eine ganzheitliche Betrachtung und kombinatorische Optimierung von Transport- und Lagerkosten oder von Produktions- und Logistikprozessen. Mit speziellen Optimierungsalgorithmen lassen sich Kostenfunktionen proportional und unter Berücksichtigung volatiler Schwankungen berechnen – und zueinander ins Verhältnis setzen. Selbst wenn beide Bereiche für sich betrachtet optimal ausgelegt sind, können Unternehmen mit einer ganzheitlichen Betrachtung und einer konzertierten Prozessoptimierung in Produktion und Logistik je nach Branche, Größe und Strukturen zusätzliche Kostensenkungspotenziale von bis zu 20 % erschließen. Überdies lassen sich die Algorithmen einzelner Kernfunktionen wie etwa zum Dienstleisterangebotsvergleich auch in umgekehrte Richtung seitens der Dienstleister für ein weitgehend automatisiertes Tender Management nutzen. Mit dem entsprechenden Funktionsumfang im PSIglobal ermitteln zahlreiche führende Logistikdienstleister in der täglichen Praxis beispielsweise, wie sich Ausschreibungen mit kundenspezifischen Relationen in ihrem Standardnetz beziehungsweise mit Fremddienstleistern abwickeln lassen. Das IT-System fungiert als Kalkulationstool, das den Nutzern eine weitgehend automatisierte Tarifkalkulation ermöglicht. In Referenzprojekten reduziert das PSIglobal den Zeitaufwand für die Kalkulation komplexer Tarife mit größeren Datenmengen von knapp einem Tag auf nur noch 30 min – und das mit exakt auf die Ausschreibungsanforderungen und das eigene Netz zugeschnittenen Angeboten.

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5.8 In fünf Schritten zum optimalen Supply Chain Network Design Die vollumfängliche Nutzung des PSIglobal und Erschließung der Optimierungsoptionen erfolgt am Beispiel Supply Chain Network Design in fünf Schritten. In der ersten Phase werden die relevanten Logistikdaten aus ERP, WMS und TMS in das IT-System importiert. Die Sendungs-, Artikelstamm-, Auftrags- und Kundendaten sowie die jeweiligen Tarife werden um spezifische Geografiedaten von Verkehrsnetzen bis hin zu Demografiedaten ergänzt. Diese Aufnahme der Ist-Situation bringt Transparenz in die aktuellen Logistikabläufe und ermöglicht die Überprüfung bestehender Tarife und Konditionen. Zur Unterstützung eines effizienten Prozessmanagements lassen sich mit der Geocodierung bereits auf dieser Basis Entfernungsmatrizen erstellen und digital abdecken sowie Prognoseanforderungen definieren. In der zweiten Projektphase des Supply Chain Network Designs mit dem PSIglobal erfolgt eine Schwachstellenanalyse. Sie erfolgt unter Einbindung von Lagerbeständen, Warenströmen, Aufkommen und Sendungsstruktur, Gebietsplanung, Entfernungsklassen und Tarifen sowie unter Berücksichtigung von Servicegrad und Kostensätzen. Anschließend werden für die identifizierten Schwachstellen Optimierungsoptionen modelliert. Die Zielsetzungen der Optimierungsmodelle sind dabei frei definierbar und lassen sich unter verschiedensten Prioritäten sowie in unterschiedlichsten Abhängigkeiten zueinander ermitteln – etwa Optimierung der Gesamtkosten oder der (Sicherheits-)Bestände unter Abwägung von Transport versus Produktion, Transport- versus Lagerkosten oder Transport- versus Servicezeit. In der vierten Projektphase erfolgt mit der durchgängigen Szenario- und Simulationstechnologie des PSIglobal in fünf Einzelschritten die Ermittlung eines realisierbaren Umsetzungsmodells. Als Vergleichsbasis dient der zuvor ermittelte Ist-Zustand inklusive Ausweisung der herkömmlichen Kennzahlen. Ihm wird der gewünschte Ideal-Zustand, neudeutsch „Greenfield Planning“, etwa mit maximaler Kosteneinsparung und variabler Anzahl und Lage etwaiger Standorte gegenübergestellt. Im Folgeschritt erfolgt mit der Szenariotechnologie eine Zuordnungsoptimierung. Dabei werden beispielsweise Anzahl und Lage der Standorte festgelegt und die Kunden beziehungsweise Aufkommen unter Berücksichtigung der Lagerkapazitäten auf die gegebenen Standorte verteilt. Diese Zuordnung ist je nach Sensitivität und Kapazitäten eines Netzes flexibel variierbar, bis mit Blick auf den Idealzustand und die zielsetzende Fragestellung ein Optimum erreicht ist. Mit dem integrierten Sendungsmanipulator können Anwender die Zuordnung beispielsweise in Abhängigkeit vom Auftrags- und Aufkommensvolumen überprüfen, die Generierung neuer Sendungen simulieren und Mengengerüste variieren. Das Resultat wird einer Sensitivitätsanalyse unterzogen. Sie bietet unter anderem eine Standortoptimierung unter Berücksichtigung von Prognosemengen. Die unter der Prämisse eines Idealzustandes ermittelten Ergebnisse werden abschließend als Optimierungsoptionen für den Ist-Zustand aufgelegt.

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In der fünften Projektphase werden die identifizierten Optimierungsoptionen in Realisierungsprojekte überführt – und können unter anderem in die operativen Systeme zurückgeführt werden. Bei Bedarf begleitet die PSI Logistics die Nutzer bei den dabei erforderlichen Realisierungsmaßnahmen wie etwa der Prüfung von Angeboten zur finalen Standortauswahl, der Auswertung von Ausschreibungen (Tendering), bei der Definition von optimalen Startbeständen und Service Level Agreements (SLAs) oder der Dienstleisterauswahl.

5.9 Mehrwert in Big-Data-Konzepten Über die Optimierungsfunktionen für das Supply Chain Network Design hinaus reichen Nutzungsoptionen und Mehrwert des PSIglobal bis hin zur Funktion als Führungssystem in Big-Data-Konzepten. Die Herausforderungen von Big Data bestehen darin, Daten aus vielfältigen Quellen zu harmonisieren und mit intelligenten Instrumenten zu filtern, um Informationen bedarfsgerecht und in ganzheitlichen Zusammenhängen bereitzustellen und zu analysieren. Mit der durchgängigen IT-Vernetzung in der Logistik wird dabei aus immer mehr heterogenen Quellen eine riesige Datenmenge unterschiedlichster Formate generiert. Zur Nutzung seines Funktionsumfangs im SCND führt PSIglobal die operativen Daten gezielt für Managementanalysen zusammen und weist wichtige Kennzahlen zur Aufdeckung von Verbesserungspotenzialen und der optimalen Gestaltung des logistischen Netzes aus. Für die Verarbeitung und Analyseprozesse muss das Standardsystem alle gängigen Datenformate lesen und nutzen können, beziehungsweise die heterogenen Formate nutzungs- und anwendungsgerecht konvertieren. Das ermöglicht die Auswertung eines ganzheitlichen Datenbestandes. Damit macht PSIglobal im Rahmen von Big-Data-Konzepten zugleich aus der Herausforderung einen Erfolgsfaktor. Die Beherrschung der Datenmassen durch Harmonisierung und Integration, ihre bedarfsgerechte Bereitstellung in Echtzeit, ihre zielgerichtete Analyse und Interpretation sowie die daraus ableitbaren, belastbaren Prognosen prädestinieren das IT-System im Dialog mit den angebundenen IT-Systemen für den Einsatz als zentrale Datendrehscheibe im Rahmen von Big-Data-Konzepten. PSIglobal nimmt darin die Funktion eines Datenkonverters und Meta-Systems über den Subsystemen und der ERP-Ebene ein.

5.10 Fazit Lösungen für eine zukunftsfähige IT-Infrastruktur zur digitalen Transformation kommen aus dem Supply Chain Management. Qua ihrer Funktion lösen Softwaresysteme für das Supply Chain Network Design und SC-Management eine der wichtigsten Herausforderungen für die digitale Vernetzung: die Harmonisierung, Aufbereitung und Verarbeitung polystrukturierter Datenmassen für Analysen und Prognosen. Damit erfüllen

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sie nicht allein die Anforderungen bei der Gestaltung optimal ausgelegter und vernetzter logistischer Netze und erschließen Kostensparpotenziale von bis zu 20 %. Sie erfüllen vielmehr auch die grundlegenden Anforderungen der Prä-Adaption für die Digitalisierung und die Automatisierung autonomer Reaktionen. Mit der lückenlosen, intelligenten Kopplung und Integrationsfähigkeit der modular konzipierten Standardsysteme aus der PSI Logistics Suite hat die PSI Logistics die Anforderungen an Flexibilität und Wandelbarkeit seitens der Systemarchitektur frühzeitig abgedeckt. Das PJF sowie die Upgrade- und Releasefähigkeit der Softwareprodukte ermöglichen überdies eine kontinuierliche Erweiterung und Weiterentwicklung der produktspezifischen Funktionalitäten unter Einbindung der jeweils aktuellen Technologieentwicklungen – gegenwärtig etwa Methoden und Verfahren der Künstlichen Intelligenz (KI). Mit dem weitreichenden Spektrum seines wettbewerbsdifferenzierenden Funktionsumfangs erschließt das PSIglobal in seiner Funktion als zentrale Datendrehscheibe überdies unternehmensspezifischen Mehrwert bei der ganzheitlichen Datenanalyse in Big-Data-Konzepten. Damit bietet die PSI Logistics mit dem PSIglobal, der Standardsoftware für strategische Planung, Steuerung und kontinuierliche Optimierung logistischer Netze, dem Markt ein vollumfängliches IT-System gleichermaßen für die Planung optimaler Strukturen und effizienter Logistikprozesse in der Supply Chain wie auch für zukunftsfähige Agilität im Rahmen der digitalen Transformation. Dr. Giovanni Prestifilippo  ist seit 2013 Geschäftsführer der PSI Logistics, wo er zuvor seit 2008 Bereichsleiter und Prokurist am Standort Dortmund war. Der promovierte Informatiker hat speziell die Entwicklung und Vermarktung des Produktes PSIglobal von Beginn an geleitet und geprägt. Im Vorfeld hatte er seit 1993 eine leitende Funktion am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik und promovierte an der Fakultät Maschinenbau der Universität Dortmund über effiziente Algorithmen in der Logistik. Bis 2009 wirkte er parallel als Gesellschafter und Senior Partner in der VCE Verkehrslogistik GmbH. Vor dem Hintergrund dieser langjährigen Erfahrungen in der Analyse, Planung und Optimierung von komplexen Logistiknetzwerken nimmt er seit 2001 ebenfalls Dozenten- und Referenten-Tätigkeiten im Logistikumfeld wahr. Dr. Giovanni Prestifilippo ist mit verschiedenen Forschungseinrichtungen wie dem FIR, Fraunhofer IML, Fraunhofer SCS, TU Berlin sowie dem VDI, BVL, VDMA und der GOR verbunden.

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Supply Chain 4.0 – Voraussetzungen für die Digitalisierung in der Lager- und Transportlogistik Michael Breusch

Zusammenfassung

Die Digitalisierung wird Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend verändern. Die Logistikindustrie wird von dieser Veränderung gleichermaßen erfasst werden wie alle anderen Industrien. Um diesen tief greifenden Wandel zu bewältigen, gilt es einige Punkte zu berücksichtigen: Die Digitalisierung erfordert zum einen die technischen Voraussetzungen in Gestalt einer modernen und leistungsfähigen IT-Infrastruktur. Hier gilt es die vorhandene Infrastruktur an die aktuell gültigen IT-Standards anzupassen. Des Weiteren erfordert Digitalisierung einen tief greifenden Wandel im unternehmensweiten Denken und somit auch im Denken der jeweiligen Branche. Gerade die Logistikindustrie ist aufgerufen, ihre Vorreiterrolle mutig und entschlossen anzunehmen.Die Digitalisierung ist in erster Linie eine strategische Aufgabe des Managements, die nur unter Einbindung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Erfolg führen wird. Schließlich wird es bei diesem Wandel nicht nur zu neuen Geschäftsmodellen kommen, sondern auch zu neuen Partnerschaften über heutige Grenzen hinweg.

6.1 Lager- und Transportlogistik im Wandel der Digitalisierung Die Anforderungen von Industrie und Handel an die Lager- und Transportlogistik steigen stetig weiter. Gefordert werden immer höhere Qualität, Geschwindigkeit, Individualität und Flexibilität bei Prozessen in der Logistik. In der Industrie liegt der Fokus vor allem

M. Breusch (*)  Walldor, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_6

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auf einer synchronen beziehungsweise zeitlich exakt getakteten Versorgung der Produktion. Das alles soll unter Einhaltung höchster Qualitätsstandards sowie oftmals in räumlicher Nähe und enger Zusammenarbeit mit dem Auftraggeber zum Erfolg führen. Diese Anforderungen werden durch die voranschreitende Digitalisierung unterstützt und weiter vorangetrieben. Die Logistikbranche zählt bereits heute zu den Industrien mit dem höchsten Digitalisierungsgrad, auch hier wird die Logistikbranche ihrer Vorreiterund Indikatorrolle erneut gerecht. Die Logistikbranche profitiert im besonderen Maße von den Fortschritten und Neuerungen durch die Digitalisierung. Zum einen werden durch die wachsende Bedeutung von E-Commerce und B2C-Marktauftritten die Logistikvolumen immer größer, zum anderen gestalten sich die einzelnen Aufträge immer kleinteiliger und kurzfristiger. Immer noch ist die schnelle – wenn nicht sogar taggleiche – Lieferung ohne Mehrkosten die verbreitete Erwartungshaltung bei den Konsumenten. Im Zuge der Digitalisierung wird das Internet der Dinge zu einem wichtigen Treiber und wesentlichen Bestandteil neuer Serviceangebote in der Logistik. Eine nahezu vollständig digitalisierte Lieferkette ist das erklärte Ziel und scheint in naher Zukunft realisierbar zu sein. Darüber hinaus beflügeln immer neue Cloud-Dienste, schnellere Datenverbindungen, Sendungsverfolgung in Echtzeit sowie ein Monitoring der gesamten Lieferkette über alle Beteiligten hinweg diese Erwartungshaltung. Doch nicht nur die Logistikbranche sieht sich diesen Erwartungen gegenüber. Nahezu alle Industrien arbeiten an einer transparenten und weitgehend digitalen Supply Chain und erhöhen hierdurch weiter den Drück auf die Logistikbranche. Ziel ist es, die externe Supply Chain genauso steuern, optimieren und überwachen zu können, wie die Intralogistik. Hinzu kommen auch zunehmend Umweltthemen, wie die Vermeidung von CO2-Emissionen durch weniger Leerfahrten und optimal ausgelastete Fahrzeuge. Des Weiteren sieht sich die Branche unter zusätzlichem Druck durch die sich ausweitende Diskussion über die umweltfreundlichste und zugleich nachhaltigste Antriebstechnik. Auf all diese Herausforderungen muss die Logistikbranche Antworten finden und parallel den Wandel durch die Digitalisierung gestalten und vorantreiben. Welche Faktoren gilt es in diesen Zeiten zu berücksichtigen und welche Wege müssen eingeschlagen werden? Denn eines ist sicher: Die Digitalisierung wird die Wirtschaft grundlegend verändern, und nur wer die Aufgaben der Digitalisierung angeht und proaktiv gestaltet, wird gestärkt aus ihr hervorgehen.

6.2 Was ist unter dem Schlagwort Industrie 4.0 zu verstehen? Alle reden über Industrie 4.0 bzw. Digitalisierung! Doch was bedeuten diese Schlagwörter und welche Folgen haben Sie für die Wirtschaft im Allgemeinen und die Logistik im Besonderen?

6  Supply Chain 4.0 – Voraussetzungen …

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Zunächst gilt es zu klären, was unter Digitalisierung oder Industrie 4.0 zu verstehen ist und welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um den Herausforderungen aus diesen tief greifenden Veränderungen zu begegnen. Mit Industrie 4.0 wird die 4. Industrialisierung oder industrielle Revolution bezeichnet. Die erste industrielle Revolution begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst in England, dann in Westeuropa und den USA. Sie hatte einen tief greifenden Wandel nicht nur in der Wirtschaft zur Folge, sondern auch in der Gesellschaft. Dieser ersten Industriellen Revolution folgte schon im 19. Jahrhundert die 2. mit der Massenfertigung und einer weiteren Automatisierung. Zuletzt erlebten wir im 20. Jahrhundert die sogenannte 3. Industrielle Revolution, auch digitale Revolution genannt, mit der Erfindung und Ausbreitung der elektronischen Datenverarbeitung. Dieser tief greifende Wandel erfasste wie schon 200 Jahre zuvor nicht nur die gesamte Wirtschaft, sondern auch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, sodass wir von einer digitalen Gesellschaft sprechen können, wie im 18. Jahrhundert von der industriellen Gesellschaft. Diese digitale Gesellschaft bildet nun heute die Grundlage und die Voraussetzung für die bereits stattfindende Digitalisierung. So hat sich binnen der letzten 300 Jahre die Menschheit mehrfach grundlegend – vielleicht sogar radikal – verändert, sodass wir von Revolutionen in der Wirtschaft sprechen und nicht mehr von Evolutionen wie in den Jahrhunderten davor. Durch diese kurze historische Einordnung wird deutlich, dass wir es wieder mit einem tief greifenden wirtschaftlichen und damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandel zu tun haben, der unsere Welt, wie wir sie heute kennen, radikal verändern wird. Diese Veränderungen sind keine Naturgewalten, sondern von Menschen gemachte Umwälzungen, die in ihren Auswirkungen jedoch mit Naturgewalten vergleichbar sind. Ein Digitalisierungsexperte hat in seinem Vortrag im November 2018 in Dresden die Digitalisierung mit einem Tsunami verglichen, der alles mit sich reißen wird. Nach dem Digitalisierungs-Tsunami wird die Welt eine gänzlich andere sein.

6.3 Industrie 4.0 oder Gesellschaft 5.0 Parallel zur Digitalisierung ist auch der damit einhergehende gesellschaftliche Wandel zu berücksichtigen (Abb. 6.1). Das Thema der Digitalisierung beschränkte sich bis vor wenigen Jahren auf spezielle technische Applikationen für Pioniere. Auf „IT“ reduziert wurde sie vor allem als Unterstützungsleistung gesehen, um Vorhaben oder Prozesse zu beschleunigen. Heute ist die Digitalisierung das große Zukunftsthema, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Bereits auf der Cebit 2017 in Hannover präsentierte das Partnerland Japan seine Pläne für eine „Gesellschaft 5.0“. „Wir stehen am Anfang des fünften Zeitalters der Menschheitsgeschichte. Nach Industrie 4.0 kommt Society 5.0, in der sich alles untereinander vernetzt“, sagte Premierminister Shinzo Abe in seiner Rede.

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Abb. 6.1   Gesellschaft_5.0_Capgemini_2017. Auf dem Weg zur Gesellschaft 5.0. (Quelle: Capgemini 2017)

Deutschland ziele unter dem Begriff Industrie 4.0 auf eine neue Industriestruktur ab, betone Standardisierung vor allem in der verarbeitenden Industrie. Japan ergänze dies durch einen starken Fokus auf den Menschen und die Gesellschaft. Bei Gesellschaft 5.0 steht mehr und mehr die vernetzte Gesellschaft im Vordergrund und somit auch die Synthese Mensch-Maschine. Wie kann die Maschine in Form von IT im Allgemeinen den Menschen in seinem Alltag unterstützen? Und nicht nur im beruflichen Umfeld, sondern insgesamt und somit auch im Privaten. Die Differenzierungen zwischen Beruf und Privat werden sich also weiter verwischen und beide Bereiche weiter ineinandergreifen. Der Trend geht dahin, das menschliche Dasein – unseren Alltag – durch maschinelles Lernen zu unterstützen und zu erleichtern. Diese Aufgabe wird durch Künstliche Intelligenz (KI) oder maschinelles Lernen wahrgenommen. Dies ist einer der wesentlichen Treiber der voranschreitenden Digitalisierung. Unterstützt wird die Künstliche Intelligenz durch das Internet der Dinge (IoT) und die Digitale Transformation. Diese drei Bereiche sind im Wesentlichen die Kernstücke der Digitalisierung und beeinflussen unsere Welt in noch ungeahntem Maße. Kaum ein Bereich unseres Lebens bleibt von dieser Entwicklung unberührt. Die Art, wie wir leben, arbeiten, kommunizieren, die Freizeit verbringen – alles wird sich rasant verändern in Wirtschaft und Gesellschaft. Nicht immer für jeden sichtbar, aber mit einer Geschwindigkeit, bei der es mitunter schwerfällt Schritt zu halten. Stellt sich die Frage, wie wir als Gesellschaft auf diesen Wandel reagieren und welche Strukturen wir in Wirtschaft und Gesellschaft finden, die uns helfen mit den daraus resultierenden Aufgaben und Herausforderungen umzugehen und ihn zu steuern. Das Ziel muss sein, nicht auf den Wandel zu reagieren, sondern den Wandel zu bestimmen und somit letztendlich zu agieren (Abb. 6.2).

6  Supply Chain 4.0 – Voraussetzungen …

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Abb. 6.2   Digitalisierung_capgemini 2018. So verändert die Digitalisierung die Gesellschaft. (Quelle: Capgemini März 2018)

Abb. 6.3   Society5_0_transbg_v2. Wirtschaftliche und soziale Innovation durch Vertiefung der Gesellschaft 5.0. (Quelle: logventus 2019)

Die neuen Technologien sollen von der Bevölkerung nicht als Bedrohung, sondern als Helfer des Menschen aufgefasst werden, so sagen Experten. Doch wie sieht die Realität aus? Zu den großen Herausforderungen Japans und damit zu den Motoren der japanischen Innovationsstrategie gehören die alternde Gesellschaft, die schrumpfende Bevölkerung und der steigende Arbeitskräftemangel. Das Motto des japanischen Pavillons spiegelt das Konzept wider: „Create a New World with Japan – Society 5.0, Another Perspective“. Society 5.0 steht dabei für die fünfte Stufe der gesellschaftlichen Evolution. Von Jägern und Sammlern ging es über die Agrar- und Industrie- zur Informationsgesellschaft. Jetzt folgt, zugespitzt formuliert, die immer stärker automatisierte, vernetzte und ausgewertete Gesellschaft. Und die will Japan wieder einmal technisch mitgestalten, gerne im Schulterschluss mit deutschen Firmen und Forschungseinrichtungen (Abb. 6.3).

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Um diese anstehenden Entwicklungen erfolgreich mitgestalten zu können, müssen die aktuellen Gegebenheiten zunächst verstanden, die Situation analysiert und bewertet sowie dann die nötigen Schritte definiert und umgesetzt werden. Erst dann können Wirtschaft und Gesellschaft Antworten auf die drängendsten Fragen finden. Doch haben wir überhaupt die Zeit für eine solide Analyse oder überstürzen sich die Ereignisse unkontrolliert und werden dann tatsächlich zu einem gesellschaftlichen Tsunami? Also zunächst die Betrachtung der Gegebenheiten: Was ist Digitalisierung? Die Digitalisierung ist die Weiterentwicklung – vielleicht auch die logische Folge – der digitalen Revolution durch den Computer und die elektronische Datenverarbeitung. Die Industrie 3.0 ist also die Basis, auf der wir momentan stehen. Diese Basis hat sicherlich sehr verschiedene Status- oder Ausbaustufen. Hieraus ergibt sich, dass nicht alle die gleichen Voraussetzungen für die nun anstehende Digitalisierung haben. Hierin ist schon eine erste und sehr wichtige Aufgabe zu sehen, gerade auch für die Logistikbranche. Welche Voraussetzungen werden benötigt, um das Thema Digitalisierung anzugehen? Primär geht es um die technischen Voraussetzungen für das erfolgreiche Bewältigen der nächsten Schritte der Digitalisierung. Denn nur die Anwesenheit von Computern, also Hardware und Software, sind keine ausreichende Grundlage. Die Frage ist, welche technische Infrastruktur steht zur Verfügung, nicht nur innerhalb der Unternehmen, sondern auch im Land, also den Städten und Gemeinden, dem Staat, bis hin zu EU und weltweit. In erster Linie ist hier natürlich die IT-Infrastruktur zu nennen, also zum Beispiel Internet in den verschiedenen Ausbaustufen und Geschwindigkeiten sowie der flächendeckenden Abdeckung.

6.4 Technische Voraussetzungen der Digitalisierung Die für die Bewältigung und Gestaltung der Digitalisierung benötigte Infrastruktur kann die globale Wirtschaft nur Hand in Hand mit den Staatsregierungen schaffen, hier müssen jedoch zwei Bereich zusammenarbeiten, die a priori nicht immer die gleiche Sprache sprechen und auch mitunter sehr unterschiedliche Interessen verfolgen. So ist allein der Ausbau des Mobilfunknetzes in Deutschland weit hinter vergleichbaren Industrienationen zurück. Allein in dieser Frage kommen die oftmals gegensätzlichen Interessen der agierenden Parteien zum Tragen. Sollte der Staat sich nicht auch hier um die notwendige Infrastruktur kümmern und die wirtschaftlichen Interessen hintanstellen? Doch nicht nur beim Mobilfunknetz wird der Staat seiner Verantwortung nicht gerecht, sondern auch beim Straßen- und Verkehrsnetz. Auch hier gehen die Anforderungen und der tatsächliche Zustand weit auseinander. Zwei Beispiele stellvertretend für weitere, die wenig Zuversicht aufkommen lassen. Hat die aktuelle Regierung in Berlin die Zeichen der Zeit etwa nicht erkannt und wichtige Infrastrukturaufgaben verschlafen? Hier müssen Wirtschaft und Politik schnellstmöglich notwenige Maßnahmen ergreifen und umsetzen, um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft nicht weiter zu gefährden.

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Doch nicht nur der Staat hat noch einige Hausaufgaben zu machen, auch die Wirtschaft und hier die Logistikbranche hat noch Handlungsbedarf. Wie steht es um die IT-Infrastruktur der Firmen im Bereich Lager- und Transportlogistik – und hier sind nicht nur die Firmen der Logistikbranche gemeint, sondern alle die mit Logistik zu tun haben, also die Verlader genauso wie die Logistikdienstleister bis hin zu den Frachtführern. Sind alle gerüstet, wenn es um die Themen und Aufgaben der Digitalisierung geht? Das Vorhandensein von Hard- und Software ist noch lange keine ausreichende Grundlage für die Aufgaben der Zukunft – vielleicht nicht einmal hinreichende Voraussetzung. Es kommt auf den Stand der jeweilig eingesetzten Technologie an. Eine IT-Landschaft aus den Jahren um die Jahrhundertwende ist sicherlich keine gute Ausgangslage. Hier haben wir schon eine der ersten und dringendsten Aufgaben der Marktteilnehmer, die es gilt anzugehen: Ist die vorhandene IT-Landschaft in der Lage, die erforderlichen digitalen Lösungen zu ermöglichen, oder stellt sie eher ein Hindernis dar? Die weltweit agierenden Anbieter für Lager- und Transportlogistiksoftware ringen um die besten Lösungen für die Branche, sei es durch Cloud- oder bewährte On-premise-Lösungen. Einen Überblick bietet alljährlich die US-amerikanische Firma Gartner Inc. (Abb. 6.4 und 6.5). Doch nicht nur in Bezug auf Funktionalität der Software gilt es sich zu informieren, um auf dem neusten Stand zu sein, sondern auch in Bezug auf die der Software zugrundeliegende Technologie. Die eingesetzte Software muss heute cloudfähig sein, wenn es sich nicht schon um eine Cloudsoftware handelt. Die neuen Prozesse werden sich IT-seitig stark in Richtung Cloud entwickeln, das heißt die einzelnen Prozessschritte werden nicht zwingend innerhalb einer Software beziehungsweise eines Systems abgebildet, sondern können anhand verschiedener Systeme abgearbeitet werden. Die Prozesskette wird in einzelne Bereiche unterteilt und in den unterschiedlichen Systemen dargestellt. Die Softwarewelt wird zunehmend durchlässig und modular. Für diese Aufgaben werden moderne und leistungsfähige Systeme benötigt, die in der Lage sind, ohne Probleme mit diversen Systemen zu kommunizieren, die von unterschiedlichen Herstellern angeboten werden. Um diese Flexibilität zu erreichen, setzt die Digitalisierung stark auf Standardisierung, an der sich dann alle Softwareanbieter zumindest ausrichten, wenn sie die Standards nicht sogar definieren. Erst wenn diese Voraussetzungen für eine moderne und leistungsfähige IT-Landschaft geschaffen wurden, kann über Schlagworte wie Blockchain, Internet of Things, Big Data oder Predictive Analytics nachgedacht werden. Denn all diese Technologien benötigen genau diese moderne und leistungsfähige IT-Infrastruktur als Grundlage für alle weiteren Entwicklungen. Hierin liegt eine der vielen Stolperfallen im Zuge der Digitalisierung – zunächst müssen die technischen Voraussetzungen für die Digitalisierung geschaffen werden! Allein das Vorhandensein von Hard- und Software hat nichts mit Digitalisierung zu tun.

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Abb. 6.4   Ranking_TMS_v1. Ranking für Transportation Management Systeme. (Quelle: Gartner Inc.)

6.5 Gesellschaftliche Voraussetzungen der Digitalisierung Doch nicht nur die Hausaufgaben in Sachen Hard- und Software, sondern auch in Bezug auf die gesamte Unternehmenskultur sind von den Unternehmen zu leisten. Die Aufgaben der Digitalisierung müssen auf allen Unternehmensstufen angegangen werden, beginnend beim Topmanagement bis hin zu allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gleich auf welcher Ebene. Jeder technische Wandel muss zwingend mit einem Wandel in der gesamten Denkweise des Unternehmens einhergehen. Und hier ist insbesondere das Topmanagement gefordert. Wie bei jedem IT-Projekt muss der Wandel und die Innovation vom Management getragen werden:

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Abb. 6.5   Ranking_WMS_v1. Ranking für Warehouse Management Systeme. (Quelle: Gartner Inc.)

1. Kein technischer Wandel ohne Veränderung in der Denkweise des gesamten Unternehmens Digitalisierung ist nicht nur technologisch zu betrachten, sondern erfordert einen kulturellen Wandel in den Unternehmen! 2. Keine Veränderung ohne Innovationen Unternehmen optimieren Prozesse in ihren bestehenden Geschäftsmodellen, denken aber nicht in den erforderlichen neuen Dimensionen der Digitalisierung. 3. Keine Anpassung ohne Neuausrichtung des Unternehmens am Markt Vorhandene Strukturen werden angepasst, aber die Kompetenz der Mitarbeiter wird nicht entsprechend neu ausgerichtet. 4. Kein Alleingang ohne kompetente Unterstützung durch Partnerschaften Viele Unternehmen versuchen die Veränderungen alleine zu bewältigen und scheuen sich vor intensiver unternehmensübergreifender Zusammenarbeit. Hier wird ein offenes Denken in neuen Partnerschaften gefordert.

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Welche dieser vier Maßnahmen müssen umgesetzt werden? Soll der Prozess der Digitalisierung im Unternehmen erfolgreich sein, müssen alle umgesetzt werden, zusammen mit den technischen Voraussetzungen. Hier müssen die Unternehmen tätig werden und dürfen keine weitere Zeit mehr verlieren. Der Wandel im Denken des Unternehmens kann ohne die technischen Voraussetzungen in Hard- und Software angegangen werden. Den Unternehmen sollte dieser Wandel in ihrem Denken nicht neu sein, haben sie doch vielfältige Softwareprojekte in der Vergangenheit durchgeführt – mehr oder wenig erfolgreich. In diesem Denken und dem damit einhergehenden Change Management liegen oftmals auch die Ursachen für das Scheitern so vieler Softwareprojekte. Wurde nicht in der Vergangenheit die Einführung einer neuen Unternehmenssoftware mit projektfremden Aufgaben überfrachtet und damit der Erfolg unmöglich gemacht? Wurden nicht unliebsame aber notwendige Umstrukturierungen der Softwareeinführung aufgebürdet, weil es am Mut gefehlt hat, wichtige Veränderungen im Unternehmen entsprechend zu kommunizieren und den Mitarbeitern zu erklären? Dieser Neigung, unbequemen Entscheidungen auszuweichen, darf nun nicht erneut im Zuge der Digitalisierung nachgegeben werden. Hat in der Vergangenheit dieses Vorgehen zu schwierigen Projekten geführt, wird es im Zuge der Digitalisierung und der sich daraus ergebenden Projekte unweigerlich zum Scheitern führen. Das alte und vielleicht liebgewonnene Wegschieben dieser Aufgaben wird im digitalen Zeitalter gnadenlos abgestraft. Es ist keine Option mehr, ein wichtiges und strategisches IT-Projekt scheitern zu lassen, ohne die Konsequenzen tragen zu müssen. Mit diesen Managementmethoden wird die Digitalisierung nicht zu bewältigen sein. Sie wird in den Unternehmen und den Branchen sehr deutlich machen, wer in der Lage ist, den Wandel – nicht nur die Japaner sprechen von Gesellschaft 5.0 – zu gestalten und zum Erfolg zu führen, sei es für das jeweilige Unternehmen, die verschiedenen Branchen bis hin zu den Industrienationen, wie wir sie heute kennen. Im Verlauf der Digitalisierung wird es noch sehr viele Veränderungen geben, die wir uns heute nicht vorstellen können. Wie hat sich die Welt in den letzten 30 Jahren verändert – ohne Digitalisierung. Nur noch die Hälfte der DAX-Unternehmen aus dem Jahr 1988 sind 20 Jahre später noch im Index vertreten. Welche Veränderungen wird dann erst die Digitalisierung nach sich ziehen?

6.6 Fazit Die 4. Industrielle Revolution, besser bekannt als Industrie 4.0 oder Digitalisierung, wird die Wirtschaft und die Gesellschaften der Industrienationen grundlegend verändern. Es wird sich dieses Mal nicht weniger als um eine Revolution handeln, die unsere Welt, wie wir sie kennen, nachhaltig verändern wird.

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Die Logistikindustrie wird als Konjunkturmesser von dieser Veränderung ebenso erfasst werden, wie alle anderen Industrien. Und der Wandel hat bereits angefangen – wir spüren und sehen schon die ersten Veränderungen. Um diesen tief greifenden Wandel zu bewältigen, gibt es einige Aufgaben zu erledigen und wenige Punkte zu berücksichtigen: Die Digitalisierung erfordert zum einen die technischen Voraussetzungen in Gestalt von moderner und leistungsfähiger IT-Infrastruktur, um die Grundlage für die anstehenden Aufgaben zu schaffen. Hier gilt es die vorhandene Infrastruktur an die aktuell gültigen IT-Standards anzupassen. Allein das Vorhandensein von IT ist weder hinreichend noch ausreichend. Des Weiteren erfordert Industrie 4.0 einen ebenso tief greifenden Wandel im unternehmensweiten Denken und somit auch im Denken der jeweiligen Branche. Gerade die Logistikindustrie ist aufgerufen, ihrer Indikatorrolle erneut gerecht zu werden und die Vorreiterrolle mutig und entschlossen anzunehmen. In wohl kaum einer anderen Branche finden sich solch vielfältige Möglichkeiten der Weiterentwicklung und Umsetzung von Innovationen. Doch der Wandel im Denken ist dieses Mal weitreichender und ungleich wichtiger als ehedem. Die Logistikbranche muss aus all den schwierigen und mitunter gescheiterten Softwareprojekten der Vergangenheit lernen und die Herausforderungen des unternehmerischen Wandels annehmen und entschlossen umsetzen. Besonders das Management ist gefordert, mutig voranzugehen und den nötigen Wandel gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in die Organisationen zu tragen. Ein Überfrachten der IT-Projekte mit den Aufgaben des Change Managements wird die Digitalisierung nur schwer oder gar nicht verzeihen. Somit ist die Digitalisierung in erster Linie eine strategische und überlebenswichtige Aufgabe des Managements, die nur unter Einbindung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Erfolg führen wird. Zu guter Letzt wird es bei diesem Wandel nicht nur zu neuen Geschäftsmodellen kommen, sondern auch zu neuen Partnerschaften über heutige Grenzen hinweg. Die Herausforderungen der globalen Wirtschaft in Zusammenhang mit der Digitalisierung sind mit dem alten Denken in den bekannten Kategorien des Wettbewerbs nicht oder nur sehr schwer zu bewältigen. Allein an diesen drei Punkten wird deutlich, welche Schritte und Maßnahmen nötig sind, um erfolgreich den anstehenden Wandel durch Industrie 4.0 anzunehmen und zu gestalten. Dieser Wandel wird alles betreffen, die gesamte Gesellschaft. Und nicht zuerst die Wirtschaft und danach die Gesellschaft. Das macht den Wandel so unübersichtlich und tief greifend. Er wird zur gleichen Zeit die gesamte Gesellschaft verändern, und das sehr nachhaltig. Alle gesellschaftlichen Themen werden eine Rolle spielen, jeder einzelne ist durch die technischen Möglichkeiten Teil der vernetzten Gesellschaft und wird diese entsprechend beeinflussen. Gerade die junge Generation in allen Ländern dieser Erde wird auf diese Entwicklung einen massiven und noch nie dagewesenen Einfluss nehmen. Sämtliche gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Interessen werden vertreten sein und Einfluss nehmen. Durch die immer weiter fortschreitende Vernetzung mit

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der damit einhergehenden Geschwindigkeit werden Themen rund um den Globus diskutiert und können binnen Stunden zu einer Massenbewegung werden. Auch und gerade die Politik wird in dieser digitalen Welt ganz neu gedacht, nicht nur Wirtschaft und Gesellschaft. Lassen wir uns von all diesen Möglichkeiten nicht entmutigen und verwirren. Nehmen wir sie wahr als Herausforderung und Chance, unsere Zukunft aktiv mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu gestalten. Vielleicht hatte keine Generation vor uns diese Möglichkeiten, aber auch diese Verantwortung. Michael Breusch studierte Wirtschaftsinformatik in Karlsruhe und ist seit 1995 SAP-Berater für SAP SD und MM in verschiedenen Projekten in diversen Industrien. Seit 2001 ist er Partner der SAP SE in Walldorf und seit 2003 involviert in die Entwicklung einer neuen Software für die Transportlogistik namens SAP TM. Seit 2007 arbeitet er schwerpunktmäßig im Bereich Transport, mit der neuen Software SAP TM. Er ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der logventus GmbH mit Schwerpunkt SAP TM Beratung. Durch Erweiterung des Portfolios um EWM im April 2014 entwickelte sich logventus zum SAP SCE Beratungshaus (SAP TM, EWM und EM) mit starkem Fokus auf Integration mit SAP PI. Michael Breusch leitet verschiedene Projekte im Bereich SCE in den Branchen Automotive, Chemie, Logistikdienstleister, Manufacturing.

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Digital Supply Chain – Die Digitalisierung der Supply Chain mit Hilfe von IoT, Machine Learning, Blockchain, Predictive Analytics und Big Data Jan Willem Roepert

Zusammenfassung

Die Wirtschaft verändert sich – und mit Ihr die Logistik. Digitalisierung und damit einhergehend Blockchain, IoT, Big Data oder SAP sind längst keine unbekannten oder wenig beachteten Worthülsen mehr, sondern mittlerweile sehr konkrete Herausforderungen. Zusammen mit dem technischen Wandel vollzieht sich aber auch eine Veränderung der Geschäftsmodelle, die fort vom tradierten Logistikunternehmen hin zu digitalen Mehrwertlogistikern führen wird. Dabei ist Technologie nun sowohl Treiber als auch Ziel – eine Kombination, die den größten Paradigmenwechsel für die Logistik seit Einführung von Kraftfahrzeugen darstellt. Nur durch konsequente Einführung von zukunftsweisenden sowie zukunftssichernden Technologien wie IoT, Big Data oder SAP wird es der Logistik gelingen, ihre Vorreiterrolle in Deutschland und Europa zu behaupten.

7.1 Innovationsfelder der Logistikindustrie Die Arbeitswelt ist im Wandel begriffen. Neue Arten des Arbeitens, neue Berufsfelder und vielfältigste Innovationen entstehen aktuell im Monatsrhythmus. Besonders stark davon betroffen: die Logistik. Steht sie doch als das Verbindungsglied par excellence zwischen Verladern, Händlern und Kunden im Zentrum des überall – und so oft auch zeitgleich – geschehenden Wandels. Besonders klar verdeutlicht dies die Zahl der Patentanmeldungen. So war die Logistik, so wie kontinuierlich auch in den vergangenen

J. W. Roepert (*)  Walldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_7

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J­ahren, zuletzt wieder unter den TOP Fünf der anmeldenden Industrien vertreten und konnte in Summa mehr als 26 % aller angemeldeten Patente auf sich vereinigen. Ein bereits für sich überaus beeindruckender Wert, der allerdings nicht einzig als Beleg für die Innovationsfreudigkeit der Branche herangezogen werden darf, sondern zugleich auch verdeutlicht, unter welchem (externen) Innovationsdruck die Logistik, steht um solche ein Klima der Ideen hervorzubringen. Doch was sind genau jene Innovationsthemen, die die Branche nicht nur aktuell recht kurzfristig, sondern vielmehr auch noch über Jahre hinaus beschäftigen werden? Schlagwortartig sicherlich Digitalisierung, Big Data, Blockchain und SAP, um nur einige zu nennen. Wird der Blick genauer auf das Feld aller Schlagwörter gerichtet, so treten fünf als die Zentralen hervor (Abb. 7.1). Im Folgenden sollen nun die wichtigsten Innovationsgebiete, am Beispiel jener Unterteilung, wie der weltweit größte Unternehmenssoftwareanbieter, die SAP SE, sie nutzt, vorgestellt, definiert und hinsichtlich ihrer jeweiligen Relevanz für die Logistik in der Zukunft näher betrachtet werden. Gleich zu Beginn fällt dabei auf, dass diese fünf sämtlich ihren Schwerpunkt respektive Ursprung in der IT haben – wobei, dies soll von Beginn an nicht verschwiegen

Abb. 7.1    Technologieübersicht. Technologische Innovationsfelder für die Logistikindustrie. (Quelle: Timo Arling, logventus GmbH)

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­ erden, die jeweiligen Auswirkungen und Folgen natürlich alle Teilbereiche der logisw tischen Wertschöpfungskette betreffen werden, oder dies sogar bereits heute – freilich häufig unerkannt – tun. Bevor im Einzelnen die verschiedenen Innovationsgebiete betrachtet werden, muss jedoch zwingend das wirtschaftliche Umfeld ins Auge gefasst und entsprechend verordnet werden, in dem der Treiber der Innovation, die Logistikindustrie, beheimatet ist. Grundsätzlich gilt: Die Logistik ist keine konzerngetragene, sondern eine tief im Mittelstand verwurzelte Industrie (Abb. 7.2). Manchmal sagen einige wenige Zahlen mehr als viele Worte: mehr als 60.000 Unternehmen, 3,1 % Wachstum und mehr als eine 1000 Mrd. EUR Umsatz im Jahr 2017 in Europa – diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Wird jedoch noch miteinbezogen, dass mehr als 25 % des europäischen Umsatzes von in Deutschland beheimateten Unternehmen realisiert wird, so zeichnet sich das Bild einer Industrie, die viel mehr ist als der oft bemühte „Hidden Champion“. Schließlich ist die Logistik in Deutschland der größte Wirtschaftsbereich nach der Automobilwirtschaft und dem Handel. Sie rangiert noch vor der Elektronikbranche und dem Maschinenbau – und mit mehr als drei Millionen übertrifft sie dessen Beschäftigtenzahl um das Dreifache. So sind gerade die effiziente, einfache und passgenaue Steuerung sowohl der Waren- und Informationsflüsse als auch des Transports der jeweiligen Güter und ihre Lagerung nicht nur sehr wichtige makroökonomische Wirtschaftsfunktionen, sondern

Abb. 7.2   Karte. Deutschland als Zentrum der europäischen Logistikindustrie. (Quelle: Timo Arling, logventus GmbH)

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schaffen ­darüber hinausgehend auch eine Vielzahl an Arbeitsplätzen sowie hohe volkswirtschaftliche Werte. Verdeutlicht wird dies sehr leicht anhand einer erneuten Zahl: 267 Mrd. EUR Umsatz wurden in der Logistik in Deutschland im Jahr 2017 branchenübergreifend erwirtschaftet. Tendenz steigend. Diese Zahl ist dabei nicht nur auf die geografische Lage Deutschlands im Herzen Europas zurückzuführen, sondern insbesondere darauf, dass Deutschland eine internationale Spitzenposition hinsichtlich der vorhandenen Infrastrukturqualität sowie der verfügbaren Logistiktechnologien und -innovationen einnimmt. Ein weiteres Faktum verdient im Zuge der Betrachtung des wirtschaftlichen Umfelds, in welchem die Logistik agiert, besondere Beachtung: Nur knapp die Hälfte der logistischen Leistungen, die in Deutschland erbracht werden, bestehen aus der gemeinhin sichtbaren Bewegung von Gütern durch entsprechende Dienstleister. Demgegenüber steht die etwas größere, nicht sichtbare Hälfte all jener Leistungen, die in Form von Planung, Steuerung und Umsetzung von logistischen Prozessen innerhalb von Unternehmen – oder mitunter auch darüber hinaus – erbracht werden. Diese zweite Hälfte der logistischen Welt ist dabei zugleich auch jene, die nicht nur die Weiterentwicklung der Branche als Ganzes vorantreibt, sondern auch der Ursprung nahezu aller Innovationen ist. Daher gilt: Keine der nachfolgend vorgestellten fünf Innovationsfelder ist einzig einem Teil der Branche zuzuordnen oder steht für sich. Vielmehr handelt es sich bei allen Innovationsgebieten um solche die einzig im Verbund ihre volle Wirkung entfalten können – ein Grund, weshalb jedes auch nicht für sich genommen betrachtet, sondern stets im Verbund aller (Aus-)Wirkungen auf die Logistik als solche vorgestellt wird.

7.2 Internet of  Things Die Beschäftigung mit den so oft schlagwortartig – und ebenso oft leider wenig trennscharf – als Zukunftsthemen benannten Innovationsfeldern führt als erstes zum Internet of Things. Das auch mit dem Kurzbegriff IoT oder – bemerkenswerterweise mit einem deutschen Schlagwort – als Internet der Dinge bezeichnete Innovationsgebiet ist dabei jedoch keineswegs eine singuläre Erscheinung oder Technologie, sondern vielmehr ein Sammelbegriff. Entsprechend schwierig gestaltet sich auch die Suche nach einem gemeingültigen und in der täglichen Praxis tauglichen Begriffsverständnis. Am ehesten zutreffend und zugleich erklärend dürfte daher sein, dass es sich beim Internet of Things um einen umfassenden Mantelbegriff handelt, der inhaltlich nicht zwingend ähnliche oder gar identische technologische Lösungen beschreibt, unter deren Zuhilfenahme es möglich wird, physische und virtuelle Dinge sowohl direkt miteinander als auch verteilt mit einem beliebig großen Netzwerk zu verbinden und dadurch einen datengestützten Mehrwert zu schaffen. Stark vereinfacht gesagt, schafft das Internet of Things die Grundlage, um nicht nur auf Basis realer, sondern auch virtueller Daten respektive Gegebenheiten valide und wirtschaftlich sinnvoll entscheiden zu können (Abb. 7.3).

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Abb. 7.3   Truck4_0. Das IoT erlaubt das Zusammenführen, Analysieren, Verarbeiten und Nutzen von Informationen aus unterschiedlichsten Quellen. (Quelle: Timo Arling, logventus GmbH)

Für die Logistik, die per se eine Industrie ist, die ganz wesentlich auf das Kennen von sowohl internen als gerade auch externen Daten angewiesen ist, stellt IoT einen durchaus als Quantensprung zu bezeichnenden Innovationsschritt dar. So erlauben Internet of Things basierte Technologien – sofern diese zusammen mit entsprechenden Supply Chain Execution Systemen wie beispielsweise SAP Extended Warehouse Management, SAP Warehouse Management oder SAP Transportation Management eingesetzt werden – die Einbeziehung von bisher einzig realen, ortsgebundenen oder nicht ohne wesentliche Zwischenschritte weiterverarbeitbaren Daten in die digitalisierte Welt zur Schaffung neuer sowie Optimierung oder Steuerung bestehender Logistikprozesse. Solche für die Logistik relevanten Informationen können zum Beispiel jeweils live gemessene und sofort übermittelte Fahrzeugwartungs- und -verschleißdaten, Temperaturangaben in Containern bei Gewährleistung einer Kühlkette, Bewegungsdaten, Zustände wie unter anderem Füllstandsanzeigen oder aber derivative Angaben, die Folgehandlungen auslösen, wie dass an einem bestimmten Ort die Temperatur steigt oder aber dass die Toleranzgrenze einer vordefinierten Neigung erreicht sind, sein. Zu beachten ist dabei, dass IoT-basierte Technologien zwar auch jeweils für sich genommen einen Mehrwert – vor allem aufgrund der Verfügbarkeit von nicht nur mehr, sondern schlichtweg neuen Daten – generieren, der wesentliche Gewinn allerdings erst durch Nutzung von mehreren in einem gemeinsamen Netzwerk zu Tage tritt. Schließlich erfolgt durch die Einbeziehung von beispielsweise verschiedener und vernetzter Sensorik, statt – wenn

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überhaupt – eines schlichten Sensors, nicht mehr ein einziger singulärer Blick, sondern wird es ermöglicht, ein ganzes Bild aufzuzeigen. Zusammengefasst gilt, dass das Internet of Things, soviel wird schnell klar, sowohl definitorisch als auch materiell ein nicht auf eine Sache oder einen Vorgang zu reduzierender Sammelbegriff ist. Gleiches gilt, freilich mit anderem Fokus, nicht nur für die Produkte respektive Ergebnisse, die IoT-basierte Technologien kreieren, sondern auch für die Voraussetzungen, die benötigt werden, um entsprechende IoT Technologien überhaupt einsetzen zu können. Daher ist, bei aller Neigung zu den unbestreitbaren wirtschaftlichen Vorteilen für die Logistik auch hinweisend anzumerken: IoT macht schlichte Technik „schlau“ – allerdings nur so schlau, wie auch die dafür notwendige respektiv dahinterstehende Infrastruktur sowie die entsprechenden Prozesse sind.

7.3 Machine Learning Als nächstes Innovationsfeld soll sich dem Machine Learning, also dem maschinellen Lernen, zugewandt werden. Die reine Begrifflichkeit täuscht etwas, da es sich hier keineswegs um eine andere oder besondere Art des Lernens respektive eine entsprechende Methodik handelt. Vielmehr ist Machine Learning einzig als ein deskriptiver Oberbegriff zu verstehen, bei dem das Wort „Lernen“ zwar als artfremdes, dennoch aber auch zutreffendes Schlagwort für alle Vorgänge der multilateralen Generierung von Wissen genutzt wird (Abb. 7.4).

Abb. 7.4   Maschine learning. Machine Learning ermöglicht das weiterführende Lernen technischer Systeme. (Quelle: Timo Arling, logventus GmbH)

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Stark vereinfacht lässt sich Machine Learning als der Prozess der Generierung von Wissen anhand von Beispielen oder von bereits vollständig durchlaufenen Vorgängen durch ein künstliches (hier in direkter Abgrenzung zum nicht künstlichen Menschen) System beschreiben, bei dem das System in die Lage versetzt wird, die Ergebnisse jeden abgeschlossenen Prozesses analytisch zu verallgemeinern. Dabei ist das Produkt von Machine-Learning-Prozessen aber keineswegs ein quasi unbegrenztes, rein additives Auswendiglernen, sondern vielmehr eine sich selbst beständig optimierende Mustererkennung, die aufgrund von spezifischen Datenverarbeitungsalgorithmen sowohl in der Lage ist, in bekannten sowie unbekannten Daten Gesetzmäßigkeiten zu erkennen als auch (partielle) Lerntransferleistungen zu generieren. Nicht gleichgesetzt, oder gar als gemeinsamer Oberbegriff verwendet werden darf Machine Learning mit den zwar artverwandten und inhaltlich in enger Beziehung zueinander stehenden Begriffen Deep Learning und Künstliche Intelligenz. Sehr leicht veranschaulicht das Verhältnis der drei Bereiche zueinander, miteinander sowie das jeweils diametral unterscheidende das folgende Schaubild (Abb. 7.5).

Abb. 7.5   3circle_transp. Das Verhältnis zwischen Künstlicher Intelligenz, Machine Learning und Deep Learning. (Quelle: Timo Arling, logventus GmbH)

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So offen, wie sich das Ergebnis der Suche nach einem erklärenden Begriffsverständnis gestaltete, so verhält es sich – hier nun hoch willkommen – hinsichtlich der Anwendungsmöglichkeiten. Zugleich ist Machine Learning auch keineswegs auf eine Industrie begrenzt, sondern vielmehr nahezu omnilateral einsetzbar. Für die Logistik hält Machine Learning einen bunten Strauß an Einsetzbarkeiten vor. So erlauben insbesondere das SAP Transportation Management als auch das SAP Extended Warehouse Management als heute bereits vorhandene Technologien die Nutzung von Machine-Learning-Algorithmen für automatische Diagnoseverfahren für Maschinen, Fahrzeuge, Flotten oder Prozesse, automatisierte Sprach- und/oder Texterkennung, sich selbst optimierende und aktualisierende Track-and-Trace-Systeme oder die Schaffung autonomer Systeme wie das (teil-)automatisierte Fahren. Freilich, das sei noch bemerkt, ist diese Aufzählung von Anwendungsmöglichkeiten keineswegs inhaltlich vollständig; einzig vielleicht im Aufzeigen der Vielfältigkeit von Machine Learning. Gerade auch deshalb ist festzuhalten: Machine Learning ist eines jener Innovationsfelder, das weder außer Acht gelassen, noch unterbewertet werden darf. Schließlich dürfte es nicht nur Quelle zukünftiger Effizienzsteigerungen, sondern auch die Basis für etliche, sich mitunter bereits abzeichnende, (nicht nur) die Logistik wesentlich verändernde (Folge-)Innovationen sein.

7.4 Blockchain Im Rahmen einer Betrachtung von (technologischen) Innovationsfeldern darf eines nicht fehlen: Blockchain. Die Aussagen, dass dieses der vermutlich aktuell am weitesten bekannte, (nicht nur) medial am häufigsten transportierte sowie auch der am weitesten strapazierte Innovationsbegriff ist, dürfte angesichts dessen, dass er quasi omnipräsent ist, kaum fehlgehen. Zugleich ist dieser aber auch ein Paradebeispiel für den aktuellen Umgang mit Technologie. Vereinfacht gesagt: ein jeder nutzt den Begriff, auch wenn nahezu keiner sagen kann, was dieser bedeutet und wofür er steht. Entsprechend wird sich der Blockchain hier zuerst über eine Begriffsbestimmung genähert, bevor denkbare Anwendungsfälle dargestellt werden. Blockchain bezeichnet im engsten Wortsinne zuerst einmal lediglich eine Kette von Datensätzen, die miteinander verbunden sind – etwas, was grundsätzlich weder innovativ, noch sonderlich neu respektive zukunftsgewandt ist. Sofern allerdings hinzugenommen wird, dass eine Blockchain eben nicht lediglich eine kontinuierliche Kette beliebiger Daten ist, sondern diese Datensätze nicht nur mittels kryptografischer Verfahren miteinander gekoppelt sind, sondern jeder Datensatz dazu auch noch einen individuellen Zeitstempel, eigene Transaktionsdaten sowie einen spezifischen Datenwert – einen sogenannten Hash – des jeweils vorangegangenen Datenblockes aufweist, wird schnell deutlich, wie viel mehr als eine simple Kette von Datensätzen eine Blockhain heute sein kann und ist.

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Die bekannteste Blockchainanwendung dürfte aktuell sicherlich die sogenannte Kryptowährung Bitcoin sein, anhand derer hier kurz die Funktionsweise und das besondere Sicherheitsmomentum einer Blockchain verdeutlich werden soll. Ganz wesentlich ist es, dabei bereits zu Anfang zwei zentrale Prinzipen der Blockchain zu beachten, so einmal dass zwingend jede zeitlich oder logisch nachgeordnete Transaktion jeweils auf einer früher getätigten aufbauen muss sowie weiter, dass die zeitlich spätere sowohl die Existenz als auch die Richtigkeit der zeitlich früheren dadurch beweist, dass die zeitlich ältere zwingend in der jüngeren inkorporiert ist. Daraus folgt der logische Schluss – der zugleich wesentlicher Ausdruck des besonderen Sicherheitsmomentums der Blockchain ist – dass es fortan unmöglich ist, die Existenz, geschweige denn den Inhalt einer zeitlich früheren Transaktion schlicht zu verändern, (kriminell) zu manipulieren oder gar teilweise oder zur Gänze zu tilgen. Sollte allerdings dennoch ein entsprechendes Ansinnen unternommen und versucht werden, eine beliebige Transaktion der Blockchain inhaltlich im mindesten zu verändern, so hätte dies zwingend zur Folge, als erneuter Ausfluss des bereits angesprochenen Sicherheitsmomentums, dass alle zeitlich späteren, auf dieser spezifischen aufbauenden Transaktionen auch verändert, wenn nicht sogar zur Gänze unbrauchbar wären. Diese Unrichtigkeit wäre dabei keineswegs etwas, was nur entsprechend Befähigten auffallen würde. Vielmehr könnte jeder spätere Nutzer respektive Teilnehmer der Blockchain die Unkorrektheit bereits daran erkennen, dass das jeweilige Produkt unvollständig, unrichtig oder inkonsistent wäre. In der Logistik kann dieser Prozess funktionell identisch – freilich aber mit nahezu gänzlich anderen Beteiligten als im Finanz- oder Bitcoinbereich – ebenso zur Anwendung kommen. Schematisch wird eine denkbare Logistikblockchain nun unter Einbeziehung aller typischerweise in einer Logistiksoftware wie beispielsweise SAP Transportation Management abgebildeten Beteiligten dargestellt (Abb. 7.6). Die möglichen Anwendungsfälle für die und in der Logistik sind vielfältig. Dies wird leicht deutlich, sofern der Blick auf ein Beispiel aus zwei mustergültig heranzuziehenden Branchen gerichtet wird, die zwar ein rechtlich verschiedenes Regelwerk haben, aber operativ sehr vergleichbar sind. Konkret handelt es sich dabei um die Pharma- und Lebensmittelbranche. Vereinfacht zusammengefasst: beide Branchen haben nicht nur Lager, die oft mit SAP Extended Warehouse Management oder SAP Warehouse Management betrieben werden, sondern auch Transport, oft gesteuert und geplant von SAP Transportation Management. Unter Nutzung eben dieser (oder gegebenenfalls vergleichbarer) Software, deren Vorhandensein eine zentrale Voraussetzung ist, erlaubt die Blockchaintechnologie eine deutliche Effizienzsteigerung bereits eingesetzter Sensorik (die SAP pauschal unterstützt). So wird beispielsweise ein in einem Container zur Überwachung und Messung der Kühlkette eingesetzter Sensor nun nicht mehr einzig die Temperatur der transportierten Lebensmittel oder Pharmazeutika messen und melden, sondern diese auch unveränderlich und rechtssicher dokumentieren. Möglicherweise auftretende Unterbrechungen oder Veränderungen sind zwar allein mit der Blockchain auch nicht verhinderbar, nun aber nicht nur nachweis- und beweisbar, sondern auch einem

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Abb. 7.6   Blockchain-2. Beispiel einer Logistikblockchain. (Quelle: Timo Arling, logventus GmbH)

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konkreten Verantwortungsinhaber zuzuordnen – was eine wesentliche Erleichterung in Haftungsfragen und hinsichtlich der jeweils geltenden Regulatorik bedeutet. Neben diesem sind natürlich auch noch weitere Anwendungen wie beispielsweise bei der verlässlichen Vertrauensbildung von persönlich und/oder geschäftlich unbekannten Akteuren eines Geschäftsverlaufes, einer Sendungsverfolgung, eines Bestellungsprozesses oder auch eines Ab- oder Verrechnungsprozesses denkbar. In Summa ist daher festzuhalten, dass Blockchain eine zugleich bekannte sowie unbekannte Technologie ist, die vom grundsätzlichen Verständnis her nicht sonderlich kompliziert ist, bei der sprichwörtlich – wie so oft – der Teufel im Detail sitzt. Damit die Möglichkeiten dieser Innovation vollauf genutzt werden können, bedarf es nicht nur eines sehr klaren Business Cases, sondern auch eines hohen Maßes an bereits vorhandener (Hoch-)Technologie. Nur wenn beides vorhanden ist, dann kann die Blockchaintechnologie einen wesentlichen Beitrag zur erhofften und angestrebten technologischen Weiterbildung der Logistik leisten.

7.5 (Predictive) Analytics Das nächste Innovationsfeld, die Predictive Analytics, ist ein Feld besonderer Art und Güte. Zuerst einmal sind Analytics – oder zu deutsch – Analysen nichts, was auch nur ansatzweise noch einem jeden Verständnis des Begriffes aktuelle Innovation genügen würde. So ist die Tätigkeit, etwas zweck- und meist zukunftsgerichtet zu betrachten, zu untersuchen und dabei entsprechende Folgerungen abzuleiten, nichts Neues, sondern vielmehr ein im Grunde des Menschen angelegter Prozess, für den nichts und niemand ein Innovationsrecht in Anspruch nehmen kann. Dennoch hat es – aufgrund dessen, dass sich das Thema Analyctis (folgend wird einzig der englische Ausdruck genutzt) in den letzten Jahren sigifikant veränderte – hier nicht nur seinen Raum, sondern gehört sogar explizit hierher (Abb. 7.7). Analytics waren eines der ersten Unternehmensfelder das sich, unter Zuhilfenahme von Methoden, Prozessen und Technologien der Digitalisierung, wesentlich verändert, einige sagen sogar neu erfunden, hat. Bereits rein äußerlich tritt dies anhand des veränderten Namens hervor, da Analytics zwar noch immer als singulärer Begriff genutzt wird, allerdings sowohl materiell als auch deskriptiv heute weit überwiegend im Kontext Predictive Analytics (voraussagende Analysen) vorzufinden ist. Entsprechend hat sich auch das Begriffsverständnis verändert. So wird dato darunter die algorithmenbasierte Analyse einer Vielzahl aktueller sowie historischer Daten mittels Methoden, Prozessen und Technologien insbesondere aus den (weiteren) Innovationsbereichen Machine Learning, Data Mining, Statistics und Predictive Modeling verstanden, mithife derer Ergebnismodelle erzeugt werden, die belastbare Vorhersagen für eine gesamte Organisation bis hinunter zum einzelnen Mitarbeiter oder Geschäftssprozess über zukünftige Ereignisse oder den Eintritt einer bestimmten Folge respektive eines Sachverhaltes zulassen. Zu bemerken ist hierbei noch, dass keineswegs nur einzelne Faktoren betrachtet werden,

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Abb. 7.7   Pred_analytics. Quellen und Nutzen von Predictive Analytics. (Quelle: Timo Arling, logventus GmbH)

sondern es vielmehr das ausdrückliche Ziel von Predictive Analytics ist, so viele Faktoren wie möglich – im besten Fall sogar alle möglichen – zu untersuchen und auch deren individuelle Abhängigkeiten mit in die Analyse einzubeziehen. Das zentrale Unterscheidungs- und Qualitätskriterium für Predictive Analytics ist dabei interessanterweise allerdings nicht die genutzte Technologie, sondern ob und wenn ja inwieweit die Predictive Analytics Vorhersagen auf Basis von sogenannten Livedaten, und nicht bloß schlichten historischen Daten, zulassen. Als Maßstab für die umfangreiche Einbeziehung von Livedaten können hier sicherlich die SAP Leonardo Suite oder aber die Technologie der Blue Yonder respektive JDA gelten. Bemerkenswert ist, dass die Predictive Analytics hinsichtlich ihrer spezifischen Anwendbarkeit – nicht nur in der Logistik – sowohl noch in den Kinderschuhen stecken als auch zugleich bereits weit fortgeschritten sind. Dieser vermeintliche Kontradiktion löst sich allerdings schnell bei einer näheren Betrachtung der Anwendungmöglichkeiten und -fälle unter Qualitätsgesichtspunkten. Sofern Predictive Analytics Modelle einzig unter Heranziehung von historischen Daten benutzt werden, liegt eine Vielzahl an Analysemodellen und -ergebnissen vor, die prädiktive Werte für alle Unternehmensbereiche

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beginnend in der Produktion, weiter über Lager und Transport, Pricing, Stock Optimization, Marketing, Finanzen und Personal bis hin zu Kunden und Kreditrisikobewertungen liefern. Soweit zum qualitativen Standard, der zwar aufgrund von bereits lange existierenden und entsprechend validen Modellen solide Ergebnisse liefert, deren prädiktiver Nutzen jedoch immer unter der Voraussetzung zu betrachten ist, dass sich zukünftig keiner der bekannten und untersuchten Werte respektove Effekte ändert, geschweige denn neue hinzutreten. Sofern eben dies geschieht, sinkt der unternehmerische Nutzen der bisherigen Predictive Analytics Modelle dramatisch, können sie doch nur sehr eingeschränkt die nun vorliegende Komplexität abbilden. Sollen also historische sowie Livedaten gemeinsam analysiert und entsprechende prediktive Modelle erzeugt werden, so bedarf es eines wesentlich veränderten Ansatzes, der sowohl der mathematischen Komplexität als auch der schieren Menge an nun zu bewertenden Daten und Variablen gerecht wird. Ein Beispiel aus dem Lager: Sofern Lagerkapazitäten und -mengen für Handelsgüter wie schlichtes Mineralwasser unter Nutzung von Predictive-Analytics-Modellen optimiert werden sollen, so müssen nicht nur die Daten des Lager selbst, die Verfügbarkeit von Palettenstellplätzen, von Lagertechnik und entsprechendem Personal, sondern zwingend auch der gesamte Transportprozess sowie alle für Produktverkauf relevanten Faktoren (wie Wetter, Temperatur, Jahreszeit, absatzfördende und absatzreduzierende Ereignisse, Verbote und so weiter) betrachtet werden. In summa führt dies leicht zu einer Variablenanzahl, die schnell dreistellig wird. Sofern nun diese sämtlich auch noch für jeden denkbaren aktuellen und zukünftigen Fall betrachtet und miteinander in Interaktion gesetzt werden, wird schnell deutlich, vor welchen Herausforderungen jedes Predictive-Analytics-Modell steht. So verlockend auch die Nutzung von Predictive Anayltics sein mag, so ist zwingend nicht nur vor jeder Nutzung zu definieren, welcher Erkenntnisgewinn auf Basis welcher Daten erstrebt wird, sondern auch unternehmensintern zu prüfen, ob alle hierfür benötigten Ressourcen tatsächlich bereits im Unternehmen vorhanden sind. Als Faustregel lässt sich dazu sagen: Je mehr auf Livedaten abgestellt wird, umso höher – in der Regel um den Faktor zwei oder drei – sind die dafür notwendigen Anforderungen. Erst die richtige Summe aus Ressourcen, Daten, Technologien und Predictive-Analycis-Modellen kreiert entsprechende Ergebnisse.

7.6 Big Data Zuletzt soll nun noch dem Innovationsfeld Big Data zugewandt werden. Oft heißt es, dass Daten aktuell das neue Gold wären – unterstellt, dem sei so, dann wäre Big Data, wohl das neue Platin. Was aber ist eigentlich Big Data? Die wörtliche Übersetzung, nach der es sich hier schlicht um große Daten handelt, greift sowohl materiell als auch begrifflich signifikant zu kurz. Vielmehr ist unter Big Data eine (große) Datenmenge zu verstehen, die nicht einzig im Wortsinn groß ist, sondern quantitativ wie qualitativ so umfänglich und kom-

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plex ist, dass herkömmliche Methoden, wie beispielsweise eine manuelle Aufbereitung, nicht geeignet sind, um diese richtig zu erfassen und sinnhaft auszuwerten. Zur Definition und damit Bestimmung, ob tatsächlich Big Data vorliegen, haben sich mittlerweile fünf verschiedene Faktoren respektive Dimensionen herausgebildet, die sogenannten „fünf V“. Im Einzelnen handelt es sich dabei um Volume (Datenvolumen oder -größe), Value (unternehmerischer Wert der Daten), Validity (Validität; Datenqualität), Velocity (Übertragungsgeschwindigkeit; Up- und Downloadrate) und Variety (Heterogenität der Datenquellen und -typen). Die Ursachen dafür, dass Daten mit dem Adverb „Big“ versehen werden, können dabei ebenso vielfältig wie die Definition sein – wobei singuläre Gründe selten sind, häufig dagegen eine Mischung verschiedener Faktoren anzutreffen ist. Beispiele gibt es viele, exemplarisch sollen hier lediglich die folgenden genannt werden: die tatsächliche Größe in Megabyte, Gigabyte oder Terabyte, Kurzlebigkeit sowie qualitative oder quantitative Komplexität. Zusätzlich können auch die Struktur sowie die schiere Masse an Datenquellen – hier ist die Einzelgröße des jeweiligen Datenursprungs zwar gering, allerdings resultieren Daten aus einer solchen Vielzahl von Sensoren oder Quellen, dass die Summe wiederum als Big Data zu bezeichnen ist – Grund einer entsprechenden Benennung sein (Abb. 7.8). Gerade die Addition eigentlich klein(erer) Datenmengen verschiedener Sensoren ist der aktuell häufigste Fall von Big Data. Hierfür nochmals ein Beispiel: So sammelt ein gewöhnlicher Airbus auf einem einfachen Flug von Frankfurt nach New York in summa mit einer mehr als dreistelligen Anzahl an Sensoren mehr als 500 Gigabyte an Daten. Freilich kommen neben Sensoren auch nahezu alle anderen Quellen, die Daten generieren, wie jegliche elektronische Kommunikation, Computer, Kraftfahrzeuge, digitale

Abb. 7.8   Big-Data2. Quellen von Daten im Big Data Kontext. (Quelle: Timo Arling, logventus GmbH)

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Uhren, sogenanntes Smart Home, alle Arten von Überwachungssystemen oder auch das Smartphone (individuelle Bedienungsmuster sowie geografische Bewegungs- und Ortsdaten inklusive der jeweiligen Verweildauer) als Herkunft von Big Data in Betracht. Zu bemerken ist noch, dass es weder für das Begriffsverständnis noch für die materielle Nutzung relevant ist, ob es sich bei den generierten Daten um allgemeine, vertrauliche, intime oder sonst wie persönliche handelt – eine Frage, die wegen der zunehmend alltäglich werdenden unternehmerischen Nutzung von Daten durch mittlerweile auch herkömmliche Unternehmen sowie natürlich auch weiterhin Social-Media-Firmen Konflikte unter anderem mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht hervorruft und nicht nur Gegenstand der DSGVO oder der aktuellen Diskussion ist, sondern dies auch noch längerfristig bleiben wird. Die Logistik war einer der ersten Wirtschaftsbereiche, in der nicht nur recht systematisch die Nutzung von Big Data und entsprechenden Anwendungen Einzug hielt, sondern auch dem Endkunden augenfällig wurde und – in zumindest einigen Bereichen – mittlerweile kaum mehr wegzudenken ist. Neben den als klassisch zu bezeichnenden Feldern wie Effizienzsteigerung von Geschäftsprozessen oder Verbesserung der Anwendung findenden Technologien bietet die Auswertung und Nutzung von Big Data, sofern die jeweiligen unternehmensinternen IT-Landschaften die Anwendung der entsprechenden Ergebnisse, wie beispielsweise alle SAP-Supply-Chain-Lösungen, zulassen, signifikante Optimierungsmöglichkeiten insbesondere in folgenden Bereichen respektive Prozessen: Just in time Routenplanung und -optimierung, einzelfallgenaues und tagesaktuelles Instandhaltungs- und Wartungsmonitoring, Material-, Maschinen- und Fahrzeugnutzungsverbesserung, tagesaktuelle Kapazitätsplanungen, Performanceoptimierung, Bedarfsvoraussagen (unter Hinzuziehung von Predictive Analytics), dynamische Leistungsbepreisung sowie Geschäftsentwicklungsprognosen. Festhalten lässt sich gerade für die Logistik, dass die so oft beschriebenen Zukunftsängste, insbesondere vor neuen Technologien, hier keine relevante Bedeutung entfalten. Daten werden zunehmend nicht nur als etwas erkannt, dem ein bestimmter monetärer Wert zuordenbar ist, sondern auch als eine Möglichkeit, das – mitunter latent tradierte – Geschäftsmodell nicht nur zu ergänzen, sondern auch um gänzlich Neues zu erweitern. Sofern dies zukünftig auch noch mit dem nötigen Augenmaß, Respekt und Bewusstsein vor dem Recht an, der Hoheit über sowie auch dem Schutz von (persönlichen) Daten einhergeht, steht Big Data als Erfolgsmodell in der Logistik so gut wie nichts mehr im Wege.

7.7 Fazit Die Logistik, die zwar per se eine von stetiger Verbesserung gekennzeichnete Industrie ist, steht aktuell vor einer neuerlichen Revolution. Alte Vorstellungen, wonach sich Veränderungen nur punktuell ergeben und – mit Ausnahme für den jeweiligen Bereich – kaum bis keine Interaktion oder weitergehende Auswirkungen haben, sind obsolet. Die Digitalisierung der Supply Chain wird, nicht nur in den vorgestellten Bereichen, das Bild

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der Logistik signifikant verändern und sehr zeitnah einen Wirtschaftszweig entstehen lassen, der, neben den bisherigen Wertschöpfungsmodellen, durch eine Vielzahl gänzlich neuer Geschäftsfelder gekennzeichnet sein wird. Beachtenswert ist dabei, dass nicht eines der heutigen Logistikunternehmen die Wahl hat, ob und wenn ja in welchem Umfang es die aktuelle technologische Revolution begleitet, da nur das Unternehmen, welches die anstehenden Veränderungen annimmt, auch zukünftig weiter bestehen wird. Dennoch gilt es bei allem Innovationsdruck und drängenden Zukunftsthemen nicht zu verzagen, sondern konsequent die technologische Expertise in Deutschland zu nutzen und – sofern noch nicht geschehen – schlichtweg anzufangen und die bestehende Vorreiterrolle (weiter) anzunehmen. Wie heißt es schließlich so schön? Ein guter Anfang braucht Begeisterung, ein gutes Ende (nur) Disziplin. Dr. Jan Willem Roepert absolvierte eine Offiziersausbildung in Lüneburg und Dresden. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaft in Hamburg, München, Bilbao und Wien promovierte er bei Prof. Dr. Gerhard Struck in Hamburg und Oxford. Anschließend arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Europäischen Parlament in Brüssel und Vertreter Hamburgs in der Deutschen Außenhandelskammer in Shanghai. Bis 2010 war Dr. Jan Willem Roepert Berater bei Mummert + Partner (heute Sopra Steria). Bis 2018 bekleidete er verschiedene Positionen in spezialisierten Beratungen sowie der Gamesbranche bei Altigi/Goodgames Studios. Er sammelte langjährige Erfahrung mit Projekten im Bereich SAP TM, SAP EWM und SAP EM. Seit 2018 ist er Geschäftsführer bei der logventus GmbH, einem der führenden SAP Systemhäusern mit Schwerpunkt auf SCE, mit Niederlassungen u. a. in Walldorf, Hamburg und Minsk.

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Logistik 4.0 – Automatisierte Kommissionierung im Onlinehandel Robert Bommers und Sebastian Castrup

Zusammenfassung

„Cyber Week“, „Mid-Season-Sale“, „End-of-Season-Sale“, „Fashion-Week-Sale“ – über das gesamte Jahr verteilte Rabattaktionen prägen den heutigen Onlinehandel. Was für den Umsatz der Onlinehändler so attraktiv ist, stellt jedoch die Versandabwicklung dahinter vor große Herausforderungen. Logistiker müssen für diese kurzzeitigen Peaks ein Vielfaches mehr an Personal schnell und effizient einsetzen, um das Lieferversprechen von ein bis zwei Werktagen gegenüber den Endkunden zu halten. An dieser Stelle wird die Automatisierung der Lagerprozesse zunehmend zur Voraussetzung, um die Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen. Doch welcher Automatisierungsgrad ist eigentlich sinnvoll? Und wie kann Automatisierung zu Effizienzsteigerungen führen, ohne zum Millionenprojekt mit hoher Fixkostenlast zu werden? Wie sich zeigt, spielt der Mensch als Mitarbeiter bei der Beantwortung dieser Fragen auch in Zukunft eine wichtige Rolle.

8.1 Der Onlinehandel in Deutschland boomt „Black Friday“ – der Tag, an dem seit einigen Jahren auch in Deutschland offiziell das Weihnachtsgeschäft beginnt. Stationäre Händler und Onlinehändler locken mit zahlreichen Sonderangeboten und Rabatten. Es folgt der „Cyber Monday“ – vor allem die

R. Bommers (*) · S. Castrup Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Castrup  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_8

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Onlinehändler weiten ihre Rabattaktionen weiter aus, die Verkaufszahlen steigen ins Unermessliche. In den Versandlägern im Hintergrund arbeiten allein in Deutschland zehntausende Mitarbeiter Tag und Nacht in drei Schichten unter Hochdruck, um dem Endkunden seine bestellte Ware zuzusenden. Es ist „Cyber Week“, die Woche, in der die Onlinehändler Umsatzrekorde brechen und die höchsten Umsätze des Jahres generieren. Durchschnittlich gibt jeder „Onlineshopper“ in Deutschland an diesen Tagen rund 120 EUR aus (HDE 2017). Dies entspricht über 10 Prozent der durchschnittlichen jährlichen Pro-Kopf-Ausgaben (HDE 2018). Doch was bedeutet es für die Logistik von Onlinehändlern an nur wenigen Tagen im Jahr solch hohe Verkaufszahlen zu schreiben? Der Onlinehandel für Konsumgüter befindet sich in Deutschland in einem stetigen Wachstum. So steigt das Umsatzvolumen laut Erhebung des Handelsverbands Deutschland (2018) seit 2012 jährlich um mehr als 10 Prozent und liegt im Jahr 2018 bei rund 65 Mrd. EUR. Jeder achte Euro des gesamten Einzelhandelsumsatzes wird demnach online generiert (Bevh 2019). Kurzzeitige Rabattaktionen, wie die „Cyber Week“, finden zunehmend das gesamte Jahr über in Form von „End-of-Season-Sales“, an Feiertagen oder zu öffentlichen Ereignissen, zum Beispiel der „Fashion Week“, statt. Diese von den Onlinehändlern meist selbst initiierten Aktionen stellen die Versandabwicklung dahinter jedoch vor eine große Herausforderung. In Zeiten der Vollbeschäftigung und des Fachkräftemangels, wie wir sie aktuell erleben, können Logistiker nicht in dem Maße auf geschulte Mitarbeiter zurückgreifen, wie sie zu den Peak-Zeiten erforderlich sind. So sind die Dienstleister auf eine Vielzahl von Leiharbeitern angewiesen, die nur zu diesen Hochphasen angefordert werden und oftmals über wenig Fachwissen und Erfahrung in intralogistischen Prozessen verfügen. Dies wird einerseits in der Gesamtproduktivität deutlich und macht sich andererseits in den Personalkosten bemerkbar. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Leiharbeiter, die das Geschäft und die Prozesse nicht kennen, können die Zielproduktivitäten innerhalb weniger Tage nur schwer erreichen. Sie müssen zunächst intensiv angelernt werden, um effizient eingesetzt werden zu können. Aber auch die Leistung erfahrener Stammmitarbeiter nimmt nach mehreren Stunden und Tagen der Vollbelastung ab. Um dennoch die täglichen Auftragsziele in solchen Hochphasen zu erreichen, müssen Logistiker neue Wege finden, die Mitarbeiter schnell und effizient einzusetzen und deren Motivation dabei möglichst hochzuhalten.

8.2 Erfolgreich automatisieren – aber wie? Die Automatisierung ist hinsichtlich der stetig wachsenden Warenströme im Onlinehandel nicht mehr aus der Versandlogistik wegzudenken. Sie hilft Onlinehändlern dabei, den Anforderungen durch den zunehmenden Trend der Rabattaktionen mit hohen Auftragsspitzen gerecht zu werden. Somit trägt die Automatisierung heute maßgeblich zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit im Onlinehandel bei. Doch welcher Automatisierungsgrad ist eigentlich sinnvoll? Und wie kann Automatisierung zu Effizienzsteigerungen führen, ohne zum Millionenprojekt mit hoher Fixkostenlast zu werden?

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8.2.1 Automatisierung zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Das übergeordnete Ziel der Automatisierung besteht zunächst darin, den Durchsatz der Produktion zu steigern, um das Lieferversprechen innerhalb von maximal zwei Tagen gegenüber dem Endkunden einhalten zu können. Ein weiteres wichtiges Ziel stellt dabei auch die Schaffung attraktiver Arbeitsplätze mit einer geringeren physischen Belastung der Mitarbeiter dar. Lichtstrahler in der Kommissionierung Ein einfaches, aber äußerst effektives Beispiel hierfür ist die Verwendung von beweglichen Lichtstrahlern in der zweistufigen Kommissionierung. • Im Rahmen eines Pilotprojektes entwickelte das Start-Up-Unternehmen Symbic in enger Abstimmung mit dem Full-Service-Logistikdienstleister Hellmann Worldwide Logistics eine Automatisierungstechnologie für die Kommissionierung im B2C-Onlinehandel. Die „Logistic Lights“ sind bewegliche Lichtstrahler, die der Logistikdienstleister nach der artikelweisen Kommissionierung in der Auftragssortierung einsetzt. Sie projizieren nach dem Scan eines Artikels aus einem Batch-Kommissionierbehälter einen Lichtpunkt auf einen der rund 120 Auftragsbehälter, in den der Artikel einsortiert werden muss. Die Kommissionierer werden intuitiv durch den Lichtpunkt geführt, sodass sie nicht mehr für jeden Pick die Behälterstellplätze von den MDE-Geräten ablesen und suchen müssen. Die Technologie schafft einen hohen Grad an Ergonomie, der zur Entlastung der Mitarbeiter führt und den Ermüdungszeitpunkt deutlich nach hinten verschiebt. Gleichzeitig reduziert sie die unproduktive Zeit, die im Vergleich zu der herkömmlichen Methode mit dem MDE vor jedem Pick durch das Ablesen und Suchen des Lagerplatzes anfällt. Eine Einsparung von mehreren Sekunden, die sich bei tausenden Picks am Tag deutlich in der Kommissionierleistung bemerkbar macht. Gleichzeitig steigt durch den Einsatz solcher Systeme die Motivation der Mitarbeiter erkennbar an, da die Arbeit als weniger anstrengend wahrgenommen wird. Der wohl größte Vorteil ist jedoch, dass die Einarbeitungszeit von neuen Mitarbeitern durch die intuitive Bedienung wesentlich reduziert wird. So sinkt im Fallbeispiel der „Logistic Lights“ die Einarbeitungszeit in der Auftragssortierung von einem Tag auf etwa eine Stunde. Dies ermöglicht auch den schnellen und effizienten Einsatz von fachfremdem Personal. Effizienzsteigerung durch mobile Regale Da die Potenziale solcher Technologien schnell ausgeschöpft sind, gehen neuartige Lösung noch einen Schritt weiter. Sie stellen mit Hilfe von Transportfahrzeugen und mobilen Regalen ein Ware-zum-Mann-Kommissioniersystem dar, um die Effizienz des Kommissionierens noch weiter zu steigern. Durch den Einsatz dieser Technologie entfallen die Laufwege der Kommissionierer gänzlich, die sich in einem Mann-zur-Ware-System je

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nach Größe des Versandlagers an einem Tag nicht selten auf 10 bis 15 km summieren. Die Wegzeit nimmt somit rund 40 bis 60 % der gesamten Kommissionierzeit in Anspruch und wird in dem neuen System vollständig eingespart (Wisser 2009, S. 48). Dazu navigieren mobile Roboter auf einer abgezäunten Lagerfläche durch Bodenmarkierungen gesteuert unter die einzelnen Regale, in denen die benötigten Artikel lagern. Sie heben diese an und befördern sie zu einer Entnahmestation, an der ein Kommissionierer steht. Dieser entnimmt nach Vorgabe des Systems alle zu kommissionierenden Artikel aus dem Regal, die für die parallel bearbeiteten Kommissionieraufträge benötigt werden und legt sie in die einzelnen Auftragsbehälter ab, die in einem Regal neben ihm stehen. Geführt werden kann der Kommissionierer dabei ebenfalls mit Hilfe des oben beschriebenen Lichtstrahlers. Nach erfolgter Entnahme befördert der Roboter das Regal entweder zu einer weiteren Entnahmestation oder stellt es auf einem freien Lagerplatz wieder ab. An den Entnahmestationen bilden mehrere Roboter eine Warteschlange, um dem Kommissionierer durchgehend zu kommissionierende Artikel bereitzustellen. Das Einsparungspotenzial solcher Technologien ist aus zweierlei Gründen immens. So zeigen erste Praxistests, dass allein durch die Prozessverkürzung in der Kommissionierung Produktivitätssteigerungen von rund 50 Prozent durchaus möglich sind (Intralogistik 2014). Gleichzeitig erhöht sich auch die Produktivität der bewirtschafteten Fläche, da die Regale ohne Aussparungen für Laufwege platzsparend zusammengestellt werden können. Es zeigt sich, dass der Einsatz solcher Automatisierungstechnologien neben der sofortigen Leistungssteigerung auch einen weiteren – genauso wichtigen – positiven Aspekt mit sich bringt: Die Mitarbeiter werden durch den zielführenden Einsatz von Automatisierungstechnologien nachhaltig in ihrer täglichen Arbeit entlastet. Dies kann sich positiv auf die Gesundheit und die Zufriedenheit der Mitarbeiter auswirken.

8.2.2 Die Mischung macht‘s Die zwei zuvor beschriebenen Technologien zeigen, dass der Mensch nicht als der limitierende Faktor in der Leistungserbringung der Logistik anzusehen ist. Entgegen häufiger Vorstellungen sollte das Ziel der Automatisierung von Prozessen daher nicht in der Ablösung von Mitarbeitern durch Roboter liegen. Vielmehr ist ein „gesundes“ Verhältnis an Automatisierung und Personalintensität mit dem Einsatz von anwenderfreundlichen und intuitiv zu bedienenden Technologien anzustreben, die den grundsätzlichen Mitarbeiterbedarf besonders zu Peak-Zeiten lediglich reduzieren. Der Schlüssel liegt in der Zusammenarbeit von Mensch und Technik, die durch fein aufeinander abgestimmte Abläufe ein hohes Maß an Ergonomie bietet. Der Grund hierfür liegt einerseits in der Skalierbarkeit des Durchsatzes und andererseits in der Flexibilität hinsichtlich sich ständig ändernder Anforderungen. Zwei Eigenschaften, die im Onlinehandel von wichtiger Bedeutung sind und mit steigendem Automatisierungsgrad häufig verloren gehen.

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Die Fähigkeit der Skalierbarkeit ist hinsichtlich der wöchentlichen oder täglichen Nachfrageschwankungen und extremen Auftragsspitzen, eine unabdingbare Anforderung. Bleibt es der Mensch, der die Tätigkeiten – durch Automatisierung unterstützt – ausübt, so lässt sich die Produktionskapazität entsprechend der Auftragsspitzen durch den kurzfristigen Mehr- oder Mindereinsatz von Personal genau skalieren. Unterstützende Automatisierungstechnologien, wie Lichtstrahler oder mobile Regale, gewährleisten dabei, dass die Mitarbeiter schnell, effizient und produktiv einsetzbar sind. Zu kompakte Automatisierungstechnologien, wie automatische Kleinteilelager mit aufwendigem Regalbau, schienengeführten Regalbediengeräten und festen Entnahmeorten, bieten nur einen begrenzten Skalierungsspielraum. Die Erweiterung der Systeme ist sehr zeitaufwendig und mit hohen Kosten verbunden. Gleichzeitig bergen sie das Risiko hoher Leerstandkosten, die entstehen, sobald weniger Menge als geplant gelagert und kommissioniert wird. Schlanke Automatisierungslösungen hingegen stellen eine Kombination aus manueller und vollautomatisierter Abwicklung dar, deren Mittelpunkt der Mitarbeiter bleibt. Dabei gewährleisten sie durch ihre Einfachheit und Modularität ein hohes Maß an Skalierbarkeit und Flexibilität. Weitere Regale und Roboter können dem System zur Vergrößerung unkompliziert hinzugefügt und Entnahmestationen schnell ergänzt werden, da sie keine Fördertechnik oder Schienenanbindung benötigen. Auch Leuchtstrahler können in nur wenigen Minuten umgehängt und auf neue Regale kalibriert werden. Ein weiterer Aspekt, der zumindest mittelfristig den Menschen als Teil des Automatisierungssystems unabdingbar macht, ist die Flexibilität hinsichtlich sich schnell verändernder Sortimente im Onlinehandel. Die Artikel stammen häufig aus einem breiten und zugleich tiefen Warensortiment, um dem Kunden zu Hause eine möglichst große Auswahl zu bieten. Hinzu kommt, dass jenes Produktportfolio durch kurzzeitig verfügbare Aktionsware oder Saisonartikel ergänzt oder gar vollständig ausgetauscht werden kann. Das Kommissioniersystem von Onlinehändlern muss also unterschiedliche Artikelgrößen, -formen und -beschaffenheiten verarbeiten können. Während beispielsweise Greifroboter aufwendig auf die Produktabmessungen und -beschaffenheiten angepasst werden müssen, können durch die händische Entnahme des Menschen jegliche Arten von Artikeleigenschaften flexibel gehandhabt werden.

8.2.3 Automatisierung muss nicht teuer sein Auf der Suche nach einer geeigneten Automatisierungstechnologie lässt sich häufig feststellen, dass die Kosten und Komplexität einer Technologie nicht gleichbedeutend mit ihrem Effizienzgewinn sind. Schnell zu implementierende und schlanke Lösungen können in gleichem Maße wie komplexe Varianten zu Effizienzsteigerungen führen und im Vergleich dazu sogar die Akzeptanz und Zufriedenheit der Mitarbeiter übertreffen. Zukunftsweisend kann dabei die Zusammenarbeit mit innovativen Start-up-Unternehmen, wie im Falle der „Logistic Lights“, sein, deren Technologien selbst noch Entwicklungspotenziale mit sich bringen. Dies bietet die Chance, als erster Anwender die

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Innovationspotenziale einer Technologie voll auszuschöpfen und gemeinsam mit dem Start-up in konkrete Anwendungsfälle umzusetzen. Dabei können die Mitarbeiter – als Knowhow-Träger erkannt – von Anfang an in den Entwicklungsprozess eingebunden werden. Sie können die Anwendung in Praxistests stets kritisch hinterfragen und schnell Optimierungspotenziale identifizieren. So kauft der Anwender kein teures, bis ins Detail ausgereiftes Konzept, sondern trägt zur finalen Entwicklung selbst bei. Daraus entsteht eine stark individualisierte Automatisierungstechnologie, mit der sich die Mitarbeiter schon früh vertraut machen können und die durch eine unkomplizierte Entwicklung mit kurzen Informationswegen schnell implementiert werden kann. Für beide Projektpartner ergibt sich so eine Win-Win-Situation: Für das Start-up kann die Zusammenarbeit ein Sprungbrett darstellen. Dieses revanchiert sich nicht selten mit günstigeren Preiskonditionen, als es langjährige Systempartner mit ausgereifter Technologie tun könnten. Das Erfolgsrezept einer Automatisierungstechnologie steckt folglich nicht im Preis, sondern im Ausschöpfen des Innovationspotenzials durch einen offenen und zielgerichteten Ideenaustausch.

8.3 Fazit Im stetig wachsenden Onlinehandel mit dem zunehmenden Trend kurzzeitiger Rabattaktionen spielt die Automatisierung der Versandlogistik eine wichtige Rolle. Sie sichert die Wettbewerbsfähigkeit von Onlinehändlern, indem sie durch Effizienzsteigerungen den Durchsatz erhöht und die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter reduziert. Dieses Ziel gilt es zu verfolgen: Der Mensch als Mitarbeiter ist es, der die notwendige Skalierbarkeit und Flexibilität der Produktion gewährleistet. Daher ist es – zumindest mittelfristig – nicht erstrebenswert, Automatisierungstechnologien einzusetzen, die den Menschen gänzlich ersetzen. Vielmehr sollten Technologien verwendet werden, die die Mitarbeiter in der täglichen Arbeit unterstützen und die Prozesse effizienter gestalten. So erweist sich die Einbindung der Mitarbeiter bereits bei der Implementierung neuer Technologien oft schon als wertvoll. Richtig eingebunden, helfen sie als wichtiger Knowhow-Träger dabei, Optimierungspotenziale zu identifizieren und zur kontinuierlichen Verbesserung beizutragen. Ein Ansatz, der sich besonders hinsichtlich der Zusammenarbeit mit Start-up-Unternehmen rentiert. Die Innovationspotenziale moderner Technologien können in Zusammenarbeit mit Start-ups voll ausgeschöpft werden – mit dem Ergebnis, eine individuelle Lösung zu meist mehr als fairen Preiskonditionen zu erhalten.

Literatur Bundesverband E-Commerce und Versandhandel e. V. (bevh): Auch in 2018 zweistelliges E-Commerce-Wachstum. https://www.bevh.org/presse/pressemitteilungen/details/auch-in-2018-zweistelliges-e-commerce-wachstum.html (2019). Zugegriffen: 20. Febr. 2019

8  Logistik 4.0 – Automatisierte Kommissionierung im Onlinehandel

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Handelsverband Deutschland (HDE): HDE Online-Monitor – Black Friday und Cyber Monday bringen 1,7 Milliarden. https://einzelhandel.de/presse/aktuellemeldungen/10834-hde-online-monitor-black-friday-und-cyber-monday-bringen-1-7-milliarden (2017). Zugegriffen: 8. März 2019 Handelsverband Deutschland (HDE): Handel digital – Online-Monitor 2018. https://einzelhandel. de/online-monitor (2018). Zugegriffen: 20. Febr. 2019 Intralogistik: Smart Storage oder: Der Wettlauf der Logistik-Roboter. https://intralogistik.tips/ smart-storage-oder-der-wettlauf-der-logistik-roboter/ (2014). Zugegriffen: 21. Febr. 2019 Wisser, J.: Der Prozess Lagern und Kommissionieren im Rahmen des Distribution Center Reference Model (DCRM). In: Furmans, K. (Hrsg.) Wissenschaftliche Berichte des Instituts für Fördertechnik und Logistiksysteme der Universität Karlsruhe (TH), Bd. 72. Universitätsverlag Karlsruhe, Karlsruhe (2009)

Robert Bommers  blickt auf über 25  Jahre Managementerfahrungen in der internationalen Kontraktlogistik zurück. Der Betriebswirt ist seit 2018 als Chief Operating Officer (COO) Contract Logistics bei Hellmann Worldwide Logistics tätig. Als Mitglied des Executive Boards verantwortet er global die Kontraktlogistik des internationalen Logistikdienstleisters mit Hauptsitz in Osnabrück, der mit 255 Niederlassungen in 56 Ländern vertreten ist. Zuvor war Robert Bommers u. a. zwölf Jahre lang für die BLG Logistics Group tätig, wo er als Geschäftsführer der Sparte Industrielogistik den weltweiten Vertrieb und das Tendermanagement sowie das Projekt- und Prozessmanagement verantwortete.

Sebastian Castrup  absolviert seit 2018 ein zweijähriges Traineeprogramm in der Kontraktlogistik des internationalen Logistikdienstleisters Hellmann Worldwide Logistics. Als Teil seines maßgeschneiderten Entwicklungsplans unterstützt er bei der Planung und Umsetzung innovativer Projekte zur Automatisierung der Kontraktlogistikgeschäfte. Zuvor hat Sebastian Castrup sein duales Studium in Betriebswirtschaft erfolgreich mit dem Bachelor abgeschlossen.

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Pick-by-Vision – Die Brille für die Intralogistik Carsten Funke

Zusammenfassung

Die strikte visuelle Führung eines Werkers lässt diesen seine täglichen Pick-Aufgaben in einem Logistiklager schneller und fehlerfreier absolvieren, als ihm dies ohne die Unterstützung einer Datenbrille möglich wäre. Picavi konnte mit diesem Ansatz für viele Kunden die intralogistischen Prozesse effizienter gestalten. So tritt die Pick-byVision-Lösung ihren Siegeszug bei der Kommissionierung an und das 2013 gegründete Unternehmen zählt zu den Vorreitern dieser Entwicklung. Dieser Beitrag legt dar, warum der sogenannte Hands-Free-Ansatz und das Aufnehmen der Informationen über das Auge, die Arbeitsabläufe in den Logistikzentren zu optimieren weiß. Nicht zuletzt werden hier auch die Verbindungsmöglichkeiten zwischen den noch immer unschlagbaren kognitiven Fähigkeiten des Menschen und den technischen Assistenzsystemen, die seine Tätigkeit erleichtern, am Beispiel der Datenbrille skizziert.

9.1 Bild schlägt vermehrt Text „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ lautet eine vielzitierte Metapher nicht nur im deutschen Sprachgebrauch. Wer die Entwicklung von Schriftrollen und Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, Kino und Fernsehen bis hin zu Smartphones und Tablets rekapituliert und den Ist-Zustand analysiert, wird feststellen, dass Abbilder und Illustrationen in der Gegenwart einen immer größeren Raum einnehmen. Nicht zuletzt in den sozialen Medien, aber auch darüber hinaus setzen Menschen in der stetig wachsenden digitalen Kommunikation verstärkt auf Bilder – seien es (oft mit Filtern C. Funke (*)  Herzogenrath, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_9

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C. Funke

bearbeitete) Fotos, Grafikformate wie die (witzig gemeinten) animierten GIFs oder Bewegtbildmaterial. Filme, wie der 2018 veröffentlichte „Ready Player One“ von Steven Spielberg, der auf dem gleichnamigen Science-Fiction-Roman von Ernest Cline basiert, illustrieren exemplarisch für die Zuschauer der Gegenwart mit spektakulären Sequenzen eine potenzielle, gar nicht allzu fern erscheinende Zukunft, in der Menschen mit Hilfe von Virtual-Reality-(VR)-Anwendungen allein oder in riesigen Online-Gemeinden in digitalen Räumen weitab der physikalischen Limitierungen, die wir auf der Erde vorfinden, abtauchen können (Wessels 2018). Mit der 2012/2013 vorgestellten Google Glass, einer zumindest in der breiten (Nichtfach-)Öffentlichkeit als Meilenstein angesehenen Innovation im Bereich der tragbaren Datenverarbeitung, wurde erstmals für den Endverbraucher deutlich, wohin die Reise in der Zeit nach Smartphone und Tablet gehen könnte. In den Großstädten öffneten seitdem abseits der Nutzung von Wearables in den eigenen vier Wänden für jene, die sich das leisten können, erste VR-Lounges, in denen Neugierige in die unterschiedlichsten virtuellen Welten entfliehen können – sei es zur Entspannung, zur Anregung der Fantasie sowie in mehr oder minder ernsten Wettkämpfen und Spielen. Die Entwicklungen in diesem Segment der modernen Unterhaltungsbranche sind aber nur ein kleiner Ast am kontinuierlich wachsenden Mammutbaum der Digitalisierung. Dieser betrifft alle Industriezweige und nicht zuletzt die stets als Seismograf der Wirtschaft dienende Logistikbranche. Seit der Unternehmensgründung 2013 und vor allem seit dem zwei Jahre später folgenden Markteintritt wollen die Partner und Mitarbeiter von Picavi ein Produkt anbieten, das in einem zentralen Bereich der Logistik, der neudeutsch Warehousing genannten Lagerverwaltung, die Abläufe optimiert – und damit die Smartglasses in einem anderen Umfeld zu einer sinnvollen Anwendung bringt (Savov 2017). Mit der Pick-by-Vision-Lösung für die Kommissionierung in der Intralogistik setzen wir an der fließender werdenden Grenze zwischen Virtual, Augmented und Assisted Reality auf eine Effizienzgewinne erzielende und dabei fehlerminimierende Anwendung. Mit der Picavi-Datenbrille erhalten unsere Kunden ein ergonomisch zu tragendes Produkt, das durch die Einbeziehung des Werkers die kognitive Überlegenheit des Menschen in der schon vielfach ausgerufenen Industrie 4.0 bei der Erledigung der täglichen Arbeit miteinzubringen versteht.

9.2 Assisted Reality: Unterstützung im Augenwinkel Vielfach werden die Ausdifferenzierung der Warenwelt, hin zur in vielen Branchen avisierten Losgröße 1 (Weinzierl 2017), sowie die Same-Day- oder sogar schon Same-Hour-Delivery-Ansätze in den Großstädten (Reggentin 2016) als die Motoren für die Notwendigkeit effizienter ablaufender logistischer Prozesse betrachtet. Dies ist sicher nicht von der Hand zu weisen, aber auch schon in der Vergangenheit bedurften riesige Logistikhallen mit bis zu Hunderttausend unterschiedlichen Produkten, endlosen

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Regalmetern auf mehreren Tausend Quadratmetern Lagerfläche – inklusive der zwischen ihnen verlaufenden Gänge – und vielen Anlaufstellen für den Warenein- und -ausgang eine straffe Organisation, damit sich alles zum richtigen Moment und mit dem geringstmöglichen Zeitaufwand wiederfinden lässt. Einer unserer Kunden verwaltet in seinem Zentrallager rund 2,5 Mrd. Bauteile: da von der berühmt-berüchtigten Stecknadel im Heuhaufen zu sprechen, scheint in diesem Zusammenhang fast untertrieben. Angesichts der vielfach nur leidlich exakten Vorgänger, wenn ich an Pick-by-Paper denke, oder im Kommissionieralltag viel zu umständlich zu bedienenden Handscanner, war aus Sicht der Picavi-Gründer die Zeit reif für eine bessere Lösung – eine, die einerseits den Stand der IT-Technik aufgreift und andererseits ein sicher nicht unterschätztes, aber in diesem logistischen Kontext bisher zum Teil unterfordertes Sinnesorgan bestmöglich einsetzt. Die Rede ist vom Auge. Circa 80 % der Informationen, die das menschliche Gehirn erreichen, werden über die Augen aufgenommen (National Institutes of Health 2008). Jeder Blick versorgt den Sehenden mittels der Wahrnehmung von Lichtreizen mit neuen Daten zu seiner Umwelt. Dementsprechend ausgestattet – und ergänzt durch die Eindrücke der anderen Sinnesorgane –, kann er seine darauffolgenden Taten auf die daraus geschlussfolgerten Handlungsoptionen aufbauen. Für das effiziente Agieren in einem Logistiklager, das auch mit der einen oder anderen physischen Gefahrenquelle versehen ist, stellt ein komplett geschlossenes Ausgabegerät wie ein VR-Helm keine geeignete Option dar. Deshalb sahen die Picavi-Gründer das Prinzip der Assisted Reality als den tauglichsten Ansatz für den alltäglichen Einsatz an. Während bei der Virtual Reality die Umgebung komplett computergeneriert ist und bei der Augmented Reality die Wahrnehmung des Menschen mit virtuellen, räumlich positionierten Objekten verschmilzt, bekommt der Werker in der Assisted Reality den normalen Lageralltag ungefiltert mit. Seine Wahrnehmung wird aber im Bedarfsfall mit den Pick-Daten angereichert. Denn benötigt er die für seinen Kommissionierauftrag erforderlichen Informationen, hebt er kurz ausschließlich seinen Blick (und nicht seinen Kopf) und auf dem Brillendisplay erscheint das jeweils mit dem Kunden für das spezifische Projekt entwickelte User-Interface, das ihm beim Navigieren durch das Lager und beim Picken der angeforderten Ware unterstützt. Er kann sich also im Vergleich zu anderen Kommissioniersystemen zum einen mit seinen Händen völlig frei bewegen und muss nicht noch zwischen Ware, Papierliste oder Handscanner changieren und zum anderen sich auf die visuelle Führung verlassen, wann immer er diese in seinem Sichtfeld braucht. Daraus erwächst für ihn eine Sicherheit, die ihn fokussierter arbeiten lässt.

9.3 Logistikalltag: Die Datenbrille im Dauereinsatz Da die Informationsverarbeitung auf visuellem Wege weniger Konzentrationsfähigkeit als jene beim auditiven Ansatz – der beispielsweise im Zentrum von Pick-by-Voice-Anwendungen steht – erfordert, wird die Arbeit mit der Picavi-Datenbrille von den Lagerfachkräften

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C. Funke

als weniger ermüdend wahrgenommen. Dies bringt einen weiteren positiven Zusatzeffekt: Jene Informationen, die bei der Kommissionierung mittels Pick-by-Vision aufgenommen wurden, dringen rascher ins Gedächtnis und können bei Bedarf leichter aus dem Gehirn hervorgeholt werden (Cohen et al. 2009). Mit einem Gewicht von nur 42 Gramm wird die Datenbrille von nahezu allen Werkern schon nach wenigen Arbeitsstunden kaum noch wahrgenommen. Da sie auch für Brillenträger schnell einsatzfähig gemacht werden kann, unterliegt die Technik in diesem Kontext keinerlei Beschränkungen. Aufgrund der Tatsache, dass die Hersteller dieser Wearables bei deren Ursprungskonzeption weniger Acht-Stunden-Schichten in einem Logistiklager als den breiten Endverbrauchermarkt für neuartiges Entertainment im Sinn hatten, haben wir bei Picavi rund um die Datenbrille ein eigenes „Ökosystem“ entwickelt. Dies soll es unseren Kunden ermöglichen, die Pick-by-Vision-Lösung im Dauereinsatz zu behalten und es – auch über die passgenaue Software – auf seine Einsatzorte in der Intralogistik maßzuschneidern. Dabei behalten wir stets eine ergonomische Pick-Bewegung im Blick (Abb. 9.1 und 9.2). Zentrale physische Elemente in diesem Ökosystem sind der Picavi Power Control, ein Steuerungselement, das an der Arbeitskleidung getragen wird sowie Akku- und Bedienfunktionen miteinander verbindet, und ein Bluetooth-Ringscanner. Mit dem Picavi Power Control können wir die Laufzeit der jeweiligen Smartglass-Modelle signifikant steigern und unsere mehr als 60 Kunden in aller Welt können weit über acht Stunden mit den von uns optimierten Datenbrillen arbeiten. Während ein Picavi Power Control im Lager im Einsatz ist, kann ein anderer bereits wieder aufgeladen werden und beispielsweise im Zuge eines Schichtwechsels dann bei der Brillenübergabe an den nächsten Werker schon wieder angebunden werden. Da jedes Lager und jeder Stellplatz – sei es jener für Paletten von riesigen Wirkstoffbehältern bei einem unserer Kunden aus dem Pharmabereich oder eine kleine Schachtel mit kleinen, aber wertvollen Elektrobauteilen in einer Regalreihe – anders beschaffen ist, nutzen die Werker auch unterschiedliche Scan- und Eingabefunktionen, die ihnen unser Ökosystem offeriert. Da der Kopf stärkeren Beschränkungen bezüglich des Drehens und Wendens in alle Himmelsrichtungen unterlegen ist, hat sich für viele Pick-Aufträge der Ringscanner als hilfreiches Tool für den Scan von Barcodes auf den zu kommissionierenden Waren herauskristallisiert. Mit welcher Technik Eingabebefehle zum Abschluss bestimmter Kommissioniervorgänge gegeben werden, obliegt den Präferenzen des jeweiligen Lagerlogistikers. Er kann Prozessschritte über den Picavi Power Control bestätigen oder das der Wischfunktion auf Smartphones ähnelnde Touchpad am Brillenbügel nutzen. Im vergangenen Jahr haben wir unserem Ökosystem auch eine Sprachsteuerungsfunktion hinzugefügt, da beispielsweise Mengenkorrekturen innerhalb eines größeren Pick-Auftrages mit dem gesprochenen Wort so deutlich schneller vorgenommen werden können. Aus diesen eben skizzierten Vorteilen, die aus der strikten visuellen Führung und des dafür entwickelten technischen Equipments resultieren, lassen sich für unsere Auftraggeber im Vergleich zu den von ihnen bisher genutzten Vorgängersystemen maßgebliche Effizienzgewinne erzielen. Je nach Projekt und zuvor eingesetzter Pick-Technik bringt

9  Pick-by-Vision – Die Brille für die Intralogistik

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Abb. 9.1   Datenbrille im Einsatz. (Quelle: Picavi)

dies eine Zeitersparnis im oft zweistelligen Prozentpunktbereich sowie weniger ermüdete und in andere Abläufe zu integrierende Werker. Das führt für die Picavi-Kunden also zu einem effektiven Mitteleinsatz und erhöht im – gerade auf Schnelligkeit und Genauigkeit beim Kommissionieren unabdingbar angewiesenen – E-Commerce-Geschäft die Zufriedenheit der Adressaten, die bei unseren Auftraggebern ihre Waren bestellen. Die Fehlerquote beim Picken sinkt mit dem Einsatz der Datenbrille fast gegen Null, denn das Brillendisplay teilt dem Werker deutlich sichtbar mit, wenn er den falschen Artikel gescannt hat oder aus der benötigten Menge nicht die korrekte Anzahl kommissioniert wurde. Es handelt sich, obwohl ein Lagermitarbeiter eine Pick-Aufgabe in aller Regel alleine absolviert, somit um ein (virtuelles) Vier-Augen-Prinzip – und das mit der Pick-by-Vision-Lösung verbundene Lagerverwaltungssystem kennt die genauen Kennziffern jedes Auftrages.

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C. Funke

Abb. 9.2   Picavi Headstart-Set. (Quelle: Picavi)

9.4 Ausblick: Big Data nutzbar machen Ein weiterer großer Punkt für die hohe Akzeptanz, die die Pick-by-Vision-Technik erfährt, erwächst aus zwei noch nicht erwähnten Faktoren bei der raschen Installation der Anwendung an einem bestimmten Standort und des zügigen Einsatzes des Equipments durch die dort tätigen Werker. Dies betrifft einerseits die Verbindung zwischen Datenbrille und dem jeweiligen Warehouse-Management-System und andererseits die Schulung der Mitarbeiter für die Nutzung dieser innovativen Lösung im Lageralltag. Als Logistikexperten sind wir mit den gängigen Schnittstellen zum Lagerverwaltungssystem vertraut und als IT-Profis können wir Verbindungen schaffen, wo diese noch nicht existieren. So vergehen nach der Entscheidung für die Pick-by-Vision-Lösung und dem „Go-Live“-Zeitpunkt der Anwendung oft nur wenige Wochen. Dies überzeugt die Auftraggeber ebenso wie die minimale Einarbeitungszeit. Bis ein Werker allein auf seine Kommissioniertour im Lager gehen kann, dauert es nur wenige Minuten – und eine Produktivität von über 80 % erreicht er mit der neuen Technik bereits nach wenigen Tagen. Die Übersichtlichkeit des auf dem Brillendisplay mit vielen leicht verständlichen Grafikelementen versehenen User-Interfaces, das in einzelnen Aufträgen auch das zu pickende Produkt als Foto darstellt, die Step-by-Step-Funktionsweise

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für die jeweilige Aufgabe und das leicht zu bedienende Equipment erlauben es dem Werker ohne lange Aufwärmphase mit seinem Arbeitsgerät vertraut zu werden. Beide Aspekte, die Installation der Brillen und die Schulung der eingesetzten Lagermitarbeiter, wurden durch eine Produktneuerung, das Picavi Cockpit, weiter verbessert. Jetzt kann eine Brille mit einem One-Scan-Setup einsatzbereit gemacht (und eine gesamte Brillenflotte „Over the Air“ aktualisiert) werden. Ebenso erlaubt das Picavi Cockpit den Transfer des Inhaltes vom Brillendisplay auf jeden beliebigen Bildschirm. So können Schulungen hinsichtlich des Einsatzes der Datenbrille nun in einer größeren Runde von neu mit der Datenbrille arbeitenden Werkern realisiert werden. Die englischsprachige Vokabel „Big Data“ ist in aller Munde und auch die Umschreibung von (verwertbaren) Informationen als „Öl des 21. Jahrhunderts“ soll viele Texte zu den Themen Digitalisierung und Industrie 4.0. metaphorisch aufwerten (Hamann 2017). Entscheidend wird es aber in diesem Kontext von Myriaden von Bits und Bytes sein, die wichtigen von den (noch) unnützen Daten zu trennen. Mit den Picavi-Brillen werden abseits der Umsetzung der konkreten Kommissionieraufträge zusätzlich hochwertige Datenbestände gewonnen. Liegen das Interesse und vor allem die Berechtigung des Auftraggebers vor, diese Daten für die Verbesserung der Prozesse und des gesamten Warehouse-Managements zu nutzen, können diese Informationen einer sorgfältigen und zielführenden Analyse unterzogen werden. Gemeinsam mit einigen unserer Kunden sind wir derzeit dabei – stets die Anforderungen des Datenschutzes beachtend – diese Informationen in sinnvolle Optimierungsvorschläge für bisherige Prozesse zu überführen. Hier wird künftig, wenn die Datenbrille ihren von uns prognostizierten Siegeszug antritt, noch viel zusätzliches Entwicklungspotenzial liegen.

9.5 Fazit: Siegeszug der Datenbrille nicht auf Kosten des Menschen Mit der Pick-by-Vision-Lösung für die Kommissionierung haben wir eine innovative Hybridtechnik auf den Markt gebracht, die den Menschen und seine Fähigkeiten in ein digitaler werdendes Lagerumfeld einbezieht. Er gewinnt mit seinen kognitiven Fähigkeiten und seiner Flexibilität einen festen Platz in der Industrie 4.0 – und bleibt somit auch in dieser vernetzten Welt ein wichtiger Faktor erfolgreich umgesetzter Intralogistik. Viele unserer Kunden berichteten uns einerseits, dass ihre Mitarbeiter nun in zusätzliche, in der Regel kognitiv höhere Anforderungen stellende Abläufe eingebunden werden konnten und andererseits die Werker durch den täglichen Umgang mit der Brille selbstständig auf neue Einsatzfelder für die Picavi-Datenbrille gekommen sind. Die daraus resultierenden Effizienzgewinne werden nicht zuletzt in einer Phase, in der beispielsweise in Deutschland durch den Fachkräftemangel in nahezu allen Branchen Bedarf an neuem Personal besteht (Graupner 2018), in der Wirtschaft hoch gewichtet. Einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert bietet unser Produkt, gespeist aus den verschiedenen Sprachen, die auf dem Brillendisplay erscheinen können, sowie der Einbindung

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C. Funke

von leicht zu verstehenden Symbolen, auch in einer internationaler werdenden Arbeitswelt. Wer – egal ob Menschen mit Migrationshintergrund in einem bisher fremden Land oder auch in der eigenen Heimat noch nicht mit den entsprechenden Sprachfähigkeiten ausgestattet – über die dank der Datenbrille einfacher zu erlernende Tätigkeit eines Mitarbeiters in der Kommissionierung in einem Logistiklager später den Sprung in eine andere qualifizierte Anstellung findet oder bereits bei unseren Kunden fand, wird die Arbeit mit unserem Produkt aus einem weiteren triftigen Grund in sehr guter Erinnerung behalten.

Literatur Cohen, M., Horowitz, T., Wolfe, J.: Auditory recognition memory is inferior to visual recognition memory. PNAS 106(14), 6008–6010 (2009) Graupner, H.: Finding skilled labor in Germany: ‚It’s never been so hard‘. https://www.dw.com/en/ finding-skilled-labor-in-germany-its-never-been-so-hard/a-45153260 (2018). Zugegriffen: 22. März 2019 Hamann, G.: Zu groß, zu mächtig. https://www.zeit.de/2017/41/daten-das-oel-des-21-jahrhundertsmalte-spitz (2017). Zugegriffen: 20. März 2019 Kirchhoff, B., Wischniewski, S., Adolph, L.: Head-Mounted Displays – Arbeitshilfen der Zukunft. Bedingungen für den sicheren und ergonomischen Einsatz monokularer Systeme. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund (2016) National Institutes of Health: How to keep your sight for life. NIH MedlinePlus, Sommer 3(3), 12 (2008) Reggentin, L.: Logistiker ziehen in die Städte. https://www.dvz.de/rubriken/logistikimmobilien/ detail/news/logistiker-ziehen-in-die-staedte.html (2016). Zugegriffen: 19. März 2019 Savov, V.: Google glass gets a second chance in factories, where it’s likely to remain. https:// www.theverge.com/2017/7/18/15988258/google-glass-2-enterprise-edition-factories (2017). Zugegriffen: 18. März 2019 Weinzierl, S.: Klarer Trend zu Losgröße 1. https://www.produktion.de/wirtschaft/klarer-trend-zu-losgroesse-1-323.html (2017). Zugegriffen: 19. März 2019 Wessels, A.: Ready player one. https://wessels-filmkritik.com/2018/03/27/ready-player-one/#more-23635 (2018). Zugegriffen: 18. März 2019

Carsten Funke  ist seit 2016 für Picavi tätig. Der Chief Sales Officer zählt seit vergangenem Jahr auch zum Gesellschafterkreis des Herzogenrather Unternehmens. Der gelernte Kaufmann übernahm Anfang 2019 zudem die Funktion des CEO beim US-amerikanischen Tochterunternehmen Picavi U.S. Inc., das das Nordamerikageschäft des Anbieters der Pick-by-Vision-Lösung forcieren wird. Carsten Funke war vor seinem Einstieg bei Picavi in der Geschäftsleitung einer Non-Profit-Organisation tätig.

Teil II Logistik für anspruchsvolle Nischen

Kundenansprüche verändern die Ersatzteillogistik

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Matthias Hohmann und Christine Kuhlmann

Zusammenfassung

Wie sieht die Ersatzteillogistik von morgen aus? Welche Entwicklungen beeinflussen diesen für die Logistikindustrie wichtigen Sektor? Auf der Basis von globalen Trends in der Logistik, den ständig steigenden Kundenansprüchen und den sich abzeichnenden technischen Innovationen werden in diesem Beitrag die Chancen und Risiken der After-Sales-Logistik dar- und zur Diskussion gestellt.

10.1 Kundenansprüche als Herausforderung Die Ansprüche der Kunden an Termintreue, Schnelligkeit, Bequemlichkeit und Servicequalität steigen ständig, wobei den Verbrauchern häufig nicht bewusst ist, welche komplexen Abläufe dabei zu bewältigen sind. Welche innovativen Konzepte bieten sich den Logistikunternehmen an, um dieser Herausforderung erfolgreich zu begegnen – und wo liegen die Grenzen der Belastbarkeit, die dann deutlich zu kommunizieren sind? Amazon hat es vorgemacht und Maßstäbe gesetzt: Expressversand, Same-Day-Lieferung, Wunschterminlieferung oder Lieferung ausgewählter Produkte in einem Zwei-Stunden-Fenster. Schneller und bequemer kann man heute kaum mehr einkaufen. Und die Verbraucher nehmen es nicht nur dankend an, sondern setzen inzwischen eine schnelle Lieferung mit einer hohen Verfügbarkeit eines breiten Sortiments als allgemeingültigen Standard voraus.

M. Hohmann (*) · C. Kuhlmann Unna, Deutschland E-Mail: [email protected]  © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_10

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M. Hohmann und C. Kuhlmann

Doch nicht nur im Versandhandel sind die Ansprüche der Verbraucher an einen schnellen Service gestiegen. Wird eine Reparatur des heimischen Geschirrspülers fällig, so erwartet der Kunde eine schnellstmögliche Instandsetzung, idealerweise schon am nächsten Tag. Gleiches gilt für den eigenen Pkw, wenn zum Beispiel die Windschutzscheibe ausgetauscht werden muss. Lange Ausfall- oder Wartezeiten werden von den Kunden nicht mehr akzeptiert. Im Gegenteil: Bei der nächsten Kaufentscheidung wechselt der Verbraucher den Anbieter, sofern der Kundenservice nicht die erwartete Leistung bringt. Produkt- oder Markentreue sind passé. Ein schneller und gut funktionierender After Sales Service ist deshalb inzwischen zu einem echten Wettbewerbsfaktor geworden. Und zwar nicht nur in der Konsumgüterindustrie, sondern gleichermaßen in der Investitionsgüterindustrie. Um Produktionsausfälle oder Stillstand so weit wie möglich zu vermeiden, müssen die benötigten Ersatzteile in ausreichender Menge in der geforderten Zeit und am gewünschten Ort bereitgestellt werden. Das logistische Stichwort hier heißt Ersatzteillogistik. Jede Branche und jedes Unternehmen fordern dabei ihre eigenen maßgeschneiderten Lösungen von den Logistikdienstleistern. Das gilt sowohl für den Automobilsektor wie für die Investitionsgüterindustrie, um nur zwei Beispiele zu nennen. Schnelligkeit und Termintreue sind dabei oberstes Gebot. Um beides miteinander zu verbinden, werden Ersatzteilgüter überwiegend in den Nachtstunden an ihren Bestimmungsort transportiert. Damit ist eine Verfügbarkeit der notwendigen Teile vor Arbeitsbeginn beim ausführenden Kundendienst gewährleistet. Zeitfenster von durchschnittlich 16–18 h von der Abholung bis zur Zustellung beim Empfänger innerhalb Deutschlands sind die Regel. Die Anlieferung erfolgt größtenteils in Abwesenheit der Empfänger an einem vereinbarten Ablageort, die sonst übliche Unterschrift entfällt. Ablieferhindernisse sind auf diesem Weg so gut wie nicht vorhanden. Die notwendige Transparenz beim Ersatzteillogistiker wird über eine empfängerbezogene Scannung geschaffen, die mit einer GPS-Koordinate des Ablieferortes ergänzt wird. Der gesamte Versandprozess wird online dokumentiert. Als verlängerter Arm der Kunden bilden die Ersatzteillogistiker damit einen unverzichtbaren Teil der Wertschöpfungskette.

10.2 Herausforderung Ersatzteillogistik Kaum ein Bereich der Logistik ist so sensibel in Bezug auf eine zeit- und fachgerechte Bereitstellung der Güter wie die Ersatzteillogistik. Eine Nichtverfügbarkeit oder verspätete Anlieferung von Ersatzteilen bedeuten einen Stillstand, der in der Investitionsgüterindustrie zu hohen Ausfallsummen führen kann. Aus diesem Grund bewegen sich Kunden und Logistikdienstleister stets in dem Spannungsfeld zwischen einer TOP-Qualität in der Leistungserbringung und der Darstellung wirtschaftlicher Lösungen. Schwankende Absatzmengen gehören zum Tagesgeschäft, die gemanagt werden müssen. Gleichzeitig gehören immer höhere Anforderungen, Lieferungen

10  Kundenansprüche verändern die Ersatzteillogistik

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innerhalb weniger Stunden anzubieten bei zunehmendem Fahrermangel zu den Herausforderungen, mit denen die Unternehmen umgehen müssen. Same-Day-Lieferungen oder Lieferungen in einem Zeitfenster von zwei Stunden sind im Automobilsektor längst Standard. Immer kürzere Versandzyklen werden zunehmend auch in anderen Bereichen der Ersatzteillogistik angefragt. Sich verändernde Rahmenbedingungen in der Ersatzteillogistik verlangen neue Lösungen in der Gestaltung von Prozessen, um die Zielgrößen wie Qualität und Kosten auch in Zukunft in einem für alle Beteiligten vertretbaren Rahmen zu halten. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, bietet die Digitalisierung große Chancen. Moderne Web-Anwendungen mit selbstlernenden Algorithmen analysieren in einem fortwährenden Prozess Daten, aus denen die Software bestimmte Muster oder Gesetzmäßigkeiten erkennt. Auf diese Weise werden Daten miteinander verknüpft, anhand derer wiederum konkrete Handlungs- und Entscheidungsvorschläge abgeleitet werden können. Die gesamte Prozesskette lässt sich erheblich gezielter planen und steuern als bisher. Für den Ersatzteilversender bedeutet dies, dass er sein Bestandsmanagement deutlich präziser planen kann. Lagerbestände können optimiert werden. Auf Seiten des Dienstleisters lassen sich schwankende Transportmengen exakter vorhersagen und dementsprechend können die Fahrzeuge schon im Vorfeld zielgerichteter disponiert werden. Eine Datenkommunikation in Echtzeit zwischen Versender und Dienstleister ermöglicht es dem Logistiker zudem, seine Touren taggleich so zu disponieren, dass die Ersatzteile in jedem Fall in dem vereinbarten Zeitfenster beim Empfänger zugestellt werden. Auf einer breiten Datenbasis lassen sich schwankende Transportmengen frühzeitiger planen als dies bisher möglich war. Dies betrifft sowohl den Einsatz von Fahrzeugkapazitäten als auch den personeller Ressourcen. Das Resultat: die gesamte Prozesskette wird wesentlich effizienter bei einhundert Prozent Leistungserfüllung.

10.3 3D-Druck transformiert die Ersatzteillogistik Trotz einer immer höheren Produktvielfalt, werden künftig weniger fertig produzierte Produkte und Bauteile transportiert. Was auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein scheint, lässt sich mit Veränderungen der Transportwege erklären. Bisher werden Ersatzteile aus der Massenproduktion von zentralen Produktionsstätten größtenteils über lange Distanzen zum Bestimmungsort transportiert. Ersatzteile im 3D-Druck werden vermehrt in der Region produziert, wo sie eingesetzt werden. Das heißt, Transportwege zum Einsatzort verkürzen sich, regionale Transporte steigen stattdessen an. Logistikdienstleistern bietet sich hier die große Chance, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln: vom reinen Ersatzteiltransporteur zum Produzenten. Denkbar wäre beispielsweise die schnelle Produktion von zeitkritischen Teilen mit regional aufgestellten Drucksystemen, um Lieferzeiten zu verkürzen. Trotz aktuell noch fehlender Regelungen für Urheberrechte und Haftung ist davon auszugehen, dass der 3D-Druck in Zukunft einen

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M. Hohmann und C. Kuhlmann

Teil der Ersatzteilproduktion ersetzen wird. Der von DHL 2016 veröffentlichte Trendreport „3D-Druck und die Zukunft der Lieferketten“ geht davon aus, dass beispielsweise Services wie Ersatzteile auf Abruf mittels 3D-Druck produziert werden können. Dies ist insbesondere für ältere Baureihen von Nutzfahrzeugen und Baumaschinen interessant, die dann nicht mehr auf dem Lager vorgehalten werden müssen. Gleiches gilt für On-Demand-Produktionszeiten für Einzelteile in Losgröße 1, die ohne weitere Zusatzkosten wie beispielsweise Werkzeugkosten verkürzt werden könnten. Die zuvor genannten Faktoren wirken sich wiederum unmittelbar auf den Kundenservice aus. Je schneller und flexibler auf nicht alltägliche Anforderungen reagiert werden kann, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, Kunden weiter an sich zu binden. Aktuell ist allerdings noch nicht davon auszugehen, dass der 3D-Druck in absehbarer Zeit den Massenmarkt in der Ersatzteilproduktion vollständig ersetzen wird. Neben ungeklärten Haftungs- und Urheberrechtsfragen muss sichergestellt werden, dass im 3D-Druck produzierte Ersatzteile dieselben qualitativen Anforderungen erfüllen. Darüber hinaus ist der Kostenaufwand im 3D-Druck zurzeit noch deutlich höher als in der industriellen Fertigung. Dies gilt insbesondere für Teile aus Metall, die einen Großteil der Ersatzteile ausmachen und noch abschließend auf Praxistauglichkeit getestet werden müssen. Logistikdienstleistern bietet sich hier trotzdem die Chance, eine zukunftsorientierte Nische zu besetzen: die Produktion von Ersatzteilen in kleinen Auflagen bis hin zu Losgröße 1 in Verbindung mit dem dazugehörigen Transport. Der Versender beziehungsweise Hersteller oder Urheber von Ersatzteilen profitiert doppelt, indem eine kostengünstige Produktion von kleinen Auflagen in Verbindung mit einer schnellen Auslieferung zum Empfänger sichergestellt wird. Über den Logistikdienstleister ist Termintreue und Schnelligkeit konsolidiert mit den Transporten aus der Massenproduktion gewährleistet. Hier können sich Logistiker über die bestehenden Geschäftsmodelle hinaus weiter entwickeln. Vom verlängerten Arm in der Wertschöpfungskette tritt man zukünftig in den Produktionsprozess mit ein. Dies bedingt jedoch eine konsequente Ausrichtung auf moderne IT-Lösungen in Verbindung mit dem Aufbau des entsprechenden Know-hows. Mit dieser Entwicklung und den sich verändernden Geschäftsmodellen wird sich auch das Selbstverständnis der Logistikdienstleister wandeln. Transporte gehören zwar noch zum Leistungsportfolio der Unternehmen, aber die margenträchtigen Geschäftsbereiche werden zukünftig die sein, wo Daten zum unverzichtbaren Gut werden. Entwicklungen, wie die zuvor beschriebene, werden auch die Kundenansprüche an die Logistik weiter vorantreiben. Noch schnellere Lieferungen in kürzeren Versandzyklen bei einer nach wie vor steigenden Produktvielfalt werden verstärkt nachgefragt und die Logistikdienstleister setzen sie kundenindividuell um. Das bedeutet, die Transportleistung wird weiterhin zunehmen. Im Hinblick auf den weiter steigenden Fahrermangel ist es somit zwingend notwendig, bestehende Prozesse auf den Prüfstand zu stellen und diese mit Hilfe von IT-Lösungen so weit wie möglich zu standardisieren

10  Kundenansprüche verändern die Ersatzteillogistik

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beziehungsweise zu optimieren, um sie effizienter zu gestalten. So können die vorhandenen Ressourcen bestmöglich ausgeschöpft werden. Um die Kundenansprüche mit der zu erwartenden steigenden Transportleistung erfolgreich erfüllen zu können, sind im Hinblick auf den sich verschärfenden Fahrermangel allerdings weitere Anstrengungen nötig. Zum einen müssen die Logistikdienstleister den Beruf des Fahrers attraktiver gestalten und zum anderen sollte wieder mehr in die Aus- und Weiterbildung eigener Fahrer investiert werden. Eigenen Fahrern Perspektiven zur beruflichen Weiterentwicklung zu geben, um sie langfristig an das Unternehmen zu binden, könnte eine Option sein.

10.4 Fazit und Ausblick Insgesamt wachsen die Kundenansprüche sowohl bei den Konsumenten als auch bei den Auftraggebern der Investitionsgüterindustrie. Gleichzeitig wird die Messlatte an die Qualität der Dienstleistung im Ersatzteilsektor immer höher gehängt. Störfälle innerhalb der Lieferkette haben inzwischen weitreichende Konsequenzen für den gesamten Kundenservice. Mit wachsenden Kundenansprüchen wächst der Grad der Leistungserfüllung bei den Logistikdienstleistern. Und diese lassen sich trotz des Einsatzes moderner IT-Lösungen auch zukünftig nur mit qualifiziertem Personal erfüllen. Den Logistikdienstleistern stellt sich in diesem Spannungsfeld die Herausforderung, den Wert ihrer Dienstleistung hinreichend zu kommunizieren. Denn wenn die Reparatur des heimischen Geschirrspülers innerhalb eines Zeitfensters von 24 bis 48 h bewerkstelligt wird, ist dies nicht allein das Ergebnis der Arbeit des Kundenservice. Die vorgelagerten Prozesse für den schnellen und pünktlichen Transport des benötigten Ersatzteils erfordert eine Menge Know-how aufseiten des Logistikers. Hier gilt es, den Stellenwert logistischer Dienstleistungen in der Öffentlichkeit klar herauszustellen und aufzuzeigen, dass die Logistik einen sehr hohen (Mehr-)Wert für alle Bereiche des Lebens hat. Hier hat die gesamte Branche einen großen Nachholbedarf. Aktuell wird sie immer nur dann wahrgenommen, wenn Lieferketten nicht funktionieren oder es zu Störungen kommt und der Kunde negative Konsequenzen zu tragen hat. In dem viel zitierten Stau auf der rechten Autobahnspur nehmen viele von uns sogar mehr oder minder aktiv an einer verzögerten Lieferkette teil, ohne sich dessen allerdings bewusst zu sein. Jedoch würde keiner von uns jemals ein iPhone oder andere heiß begehrte Lifestyle-Produkte ohne Logistik in seinen Händen halten. Logistik ist sexy! Denn ihr gelingt es, sich permanent verändernden Kundenansprüchen zu stellen und diese mit einem hohen Leistungsgrad zu erfüllen. Damit ist sie wandlungsfähig wie kaum eine andere Branche und bleibt auch in Zukunft spannend.

122

M. Hohmann und C. Kuhlmann Matthias Hohmann ist seit 1997 Geschäftsführer der Night Star Express GmbH Logistik, Unna. In dieser Funktion verantwortet er seit über zwei Jahrzenten die strategische Ausrichtung des heute zweitgrößten Nachtexpress-Dienstleisters in Europa. Der Diplom-Kaufmann und Nachtexpress-Spezialist begann seine berufliche Karriere 1991 in der Logistikbranche bei der Cordes & Simon GmbH & Co. KG, Hagen, als Assistent der Geschäftsleitung. Matthias Hohmann engagiert sich in verschiedenen Verbänden, u. a. der Bundesvereinigung Logistik e. V. und Club of Logistics e. V.

Christine Kuhlmann  ist gelernte Hotelkauffrau, sie war von 1997 bis 2018 als Assistentin der Geschäftsführung bei der Night Star Express GmbH Logistik, Unna, tätig.

Wege aus der Enge – Logistik in den Innenstädten

11

Peter Manns

Zusammenfassung

Die Herausforderungen der Innenstadtlogistik sind äußerst gegensätzlich. Einerseits verzeichnen Retailer einen Rückgang der Umsätze, anderseits ist die urbane Logistik geradezu von einem wachsenden MEHR an Anforderungen geprägt. Mehr Waren müssen zu mehr Zeiten an mehr Kunden geliefert werden, die dabei deutlich mehr Flexibilität bei der Zustellung erwarten. Gleichzeitig drängen mehr Wettbewerber in den wachsenden Markt. Die Folge ist, zusammen mit dem Individualverkehr, ein immens ansteigendes Verkehrsaufkommen, wodurch Kommunen sich veranlasst sehen, verstärkt regulatorisch einzugreifen. Parallel erhebt auch die Bevölkerung mehr Ansprüche – viele Grünflächen, aber ausreichend Parkplätze, individuelle Verkehrsgestaltung, aber saubere Luft, vielfältige Einkaufsmöglichkeiten und schnellstmögliche Belieferung, aber freie Straßen ohne Lkws. Die Bewältigung dieser Herausforderungen wird mehr und mehr zur Quadratur des Kreises. Alternative Zustellfahrzeuge, Zustellzeiten und Warenströme – reguliert und gefördert durch den neuen Infrastrukturpartner Kommune – sollen den Weg aus der Enge bereiten. Systemdienstleister wie KNV kombinieren ihre etablierten Leistungen mit neuen Alternativen. Dabei zeichnet sich ab, dass es den Weg aus der Enge in den Innenstädten nicht gibt, sondern vielmehr jeder seinen individuellen Weg auf Basis verschiedener – standardisierter – Steuerungsgrößen finden muss.

P. Manns (*)  Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_11

123

124

P. Manns

11.1 Innenstadtlogistik heute – Anforderungen an die Versorgung der Ballungszentren und deren Folgen Die innerstädtische Logistik ist hauptsächlich ein Wechselspiel zwischen Logistikern, stationären Händlern und Endkunden. Die Logistik hat dabei die Aufgabe, die georderten Waren vom Produktionsort auf schnellstem Weg zum Point of Sale oder direkt zum Endkunden zu transportieren. Dies muss in höchster Effizienz und Qualität und zu möglichst kundenfreundlichen Konditionen erfolgen. Die damit verbundenen Anforderungen sind vielschichtig.

11.1.1 Kunden Onlineshopping ist so beliebt wie nie zuvor. Der Anteil der Onlineshopper ist beispielsweise von 60 % in 2015 auf 65 % in 2017 gestiegen1, der Anteil der E-Commerce-Umsätze am Einzelhandel steigt stetig weiter an (vgl. Abb. 11.1). Die Folge sind größere Paketmengen in den Netzwerken der Kurier-, Express- und Paketdienste (KEP). Gleichzeitig steigen auch die Ansprüche der Kunden an den Zustellprozess. Maßgeblich entscheidend für ein positives Kauferlebnis, und somit für die Kundenbindung, sind Versand und Lieferung. Eine schnelle, pünktliche und vor allem zuverlässige Lieferung ist für Onlineshopper kaufentscheidend. Mehrheitlich haben die Kunden Präferenzen hinsichtlich des Versanddienstleisters. 74 % ist es wichtig, diesen auswählen zu können.2 Die überwiegende Mehrheit (81 %) bevorzugt die Zustellung an der Haustür, aber nur 61 % der Pakete werden dort zugestellt.3 Daher ist es den Kunden besonders wichtig, in den Lieferprozess eingreifen zu können, um Zeit oder Ort für die Paketzustellung flexibel zu ändern. Die Akzeptanz von alternativen Zustellorten, wie Paketshops oder Packstationen beziehungsweise Paketboxen, ist abhängig von der Nähe zum Wohnort. Gewünscht sind maximal zwölf Minuten Fußweg oder sieben Minuten Fahrzeit.4 Besondere Services wie Same-Day- oder Same-Hour-Delivery gewinnen im harten Wettbewerb zunehmend an Bedeutung. Prognosen gehen davon aus, dass bereits 2020 Same-Day-Delivery 15 % der Paketumsätze ausmachen wird.5

1Handelsverband

Deutschland (HDE): Handel digital – ONLINE-MONITOR 2018 (2018). Rainer Schwaz: Die Bedeutung der letzten Meile für den E-Commerce (2014). 3IFH Köln GmbH: SOCIAL. SMART. SIMPLE. (2018). 4IFH Köln GmbH: SOCIAL. SMART. SIMPLE. (2018). 5DHL Paket GmbH: Nachhaltiger Erfolg im E-Commerce (2018). 2DPD,

11  Wege aus der Enge – Logistik in den Innenstädten

125

18,2 %

E-Commerce-Anteil am Einzelhandel 10,2 %

2022 (P)

9,5 % 2018 4,7 % 2017

10,2 % E-Commerce-Anteil in 2018 entspricht 53,6 Mrd. €

2010

Quelle: DHL Paket GmbH: Nachhaltiger Erfolg im E-Commerce (2018)

Abb. 11.1   Anteil des E-Commerce am Einzelhandel in Deutschland



Dank zunehmender Transparenz ist der Kunde meist nur einen Klick von einem alternativen Händler mit kürzeren Lieferzeiten und flexibleren Lieferbedingungen entfernt. Gewinner im Kampf um den Endkunden ist der flexibelste, schnellste und zuverlässigste Lieferant.

11.1.2 Händler Reinen Onlinehändlern ist an einer immer schnelleren und wunschgemäßen Belieferung ihrer Kunden gelegen. Für stationäre Händler ist eine schnelle und reibungslose Belieferung ihrer Geschäfte wichtig, um Kosten (Lagerfläche und -bestand) zu sparen, Kundenbedürfnisse umfassend zu erfüllen und so vor allem auch gegenüber dem E-Commerce wettbewerbsfähig zu bleiben. Die schnelle Warenverfügbarkeit wird als Chance gesehen, die gute Lage ihrer Geschäfte als Standortvorteil gegenüber dem E-Commerce auszuspielen. Der steigende Preiskampf, Kosten für Lagerflächen und Kapitalbindung lassen Einzelhändler jedoch mehr und mehr von der Bevorratung abrücken. Sie setzen stattdessen auf eine tägliche Versorgung mit reduzierten Beschaffungszeiten, regalfertigen Services sowie Warenverfügbarkeit ab Ladenöffnung.

126

P. Manns

Eine weitere Strategie ist der Ausbau der Vertriebskanäle zu einem Multikanalvertrieb: Rein stationäre Retailer bauen einen Onlineshop auf, reine E-Commerce-Händler schaffen Präsenz vor Ort. Somit entstehen mehr und mehr kanalübergreifende Geschäftsmodelle wie Cross- und Omnichannel-Lösungen (vgl. Abb. 11.2). 

Omnichannel-Händler versuchen, dem Wettbewerb durch die intelligente Verschmelzung der Kanäle gemäß den Kundenwünschen zu begegnen (beispielsweise Click & Collect-Services). Rein stationäre Händler hingegen versuchen, zusätzliche Anreize zu schaffen, um die Kundenfrequenz in ihren Filialen zu erhöhen (zum Beispiel Instore-Paketshops).

11.1.3 Kommunen In Deutschland leben heute bereits rund 31 % der Bevölkerung in Großstädten (>100.000 Einwohner)6 – Tendenz steigend. Kommunen ist daran gelegen, die urbane Verdichtung zu fördern und Retailern und Einwohnern eine attraktive Innenstadt zu bieten, um zusätzliche wichtige Steuereinnahmen zu generieren.

Vetriebskanäle

Gross-/ OmnichannelHändler

rein stationär 54 %

reiner E-Commerce

35 %

11 %

2017 37 %

+ 22 %

14 %

57% 34 %

2022 Quelle: ibi research: Der deutsche Einzelhandel 2017 (2017)

Abb. 11.2   Veränderung der Anteile der Vertriebskanäle am Handelsvolumen

6Zeit-Online:

Stadt Land, Vorurteil, Hamburg (2017).

9%

11  Wege aus der Enge – Logistik in den Innenstädten

127

Aufgrund der Urbanisierung steigt das Verkehrsaufkommen beim Individual- und Logistikverkehr immer stärker. Die innerstädtischen Verkehrswege sowie die Fernstraßen an der Stadtperipherie sind entsprechend stark belastet. Zudem dringt der Lieferverkehr aufgrund des wachsenden E-Commerce vermehrt auch in sensible Stadtgebiete (Wohngebiete) ein. Die Konkurrenz des Individualverkehrs mit der Logistik um den verfügbaren Verkehrsraum verschärft sich mit zunehmender urbaner Enge. Die Leistungserfüllung der KEP-Dienstleister wird somit schnell ein Ärgernis für die breite Bevölkerung, zum Beispiel durch Entladung in zweiter Reihe. Der Lieferverkehr macht zwar nur 20–30 % des Stadtverkehrs aus, verursacht aber 80 % der innerstädtischen Staus zu den Stoßzeiten (vgl. Abb. 11.3). Die Folge dieser gestiegenen Verkehrslast sind nicht nur immer vollere Straßen, sondern auch erhöhte Emissionen. Beides schmälert die Lebensqualität. Die Kommunen greifen daher verstärkt in das Verkehrsgeschehen ein und regulieren die Belieferungen (unter anderem zeitliche Restriktionen). Diese Restriktionen beeinträchtigen wiederum die Belieferung des Handels. Die Attraktivität der Innenstadt aus Sicht des Handels sinkt, hinzu kommt der Wettbewerbsdruck mit dem E-Commerce. Ziehen sich die Retailer aus der Innenstadt zurück beziehungsweise siedeln sich keine neuen an, verliert die Innenstadt aus Sicht der Einwohner wiederum an Attraktivität. Denn die Einwohner wollen „alle benötigten“ Retailer möglichst fußläufig erreichen.

Verkehrsaufkommen zu Stoßzeiten Verkehrsteilnehmer

75 %

Individualverkehr

25 %

Stauursache

80 %

Lieferverkehr

20 %

Quelle: PricewaterhouseCoopers GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft: Aufbruch auf der letzten Meile (2017)

Abb. 11.3   Verkehrsaufkommen zu Stoßzeiten

128



P. Manns

Kommunen agieren in einem diffizilen Wechselspiel: Je weniger Einwohner, umso weniger Retailer, desto weniger Lieferverkehr, aber weniger Steuereinnahmen. Je mehr Einwohner, umso mehr Retailer, desto mehr B2B- und B2C-Liefer- und Individualverkehr. Die Attraktivität der Innenstadt wird also durch die urbane Verdichtung geschmälert. Daher versuchen Kommunen, die Anforderungen von Einwohnern, Retailern und Logistikern adäquat für alle Beteiligten auszubalancieren.

11.1.4 Logistiker Die Logistik steht vor allem unter einem Zeit- und Kostendruck bei gestiegenem Sendungsvolumen (vgl. Abb. 11.4). Die Lieferanten haben enge Zeitfenster bei der Belieferung von Händlern in verkehrsberuhigten Bereichen; gleichzeitig erschweren fehlende Parkflächen und Zufahrtsbeschränkungen die Belieferung. Das hohe Verkehrsaufkommen und die Verkehrsdichte (Staus) führen zu Zeit- und Kraftstoffverschwendung. Der schnellere Verschleiß von Fahrzeugen, der Einsatz kleinerer Fahrzeuge in besonders engen Stadtteilen sowie drohende und bestehende

4,33 Mrd.

KEP-Sendungsvolumina 3,53 Mrd.

3,35 Mrd.

2022 (P)

2,33

2018

Mrd.

2017 2010

Quelle: Bundesverband Paket und Expresslogistik e. V. (BIEK): KEP-Studie 2018 (2018)

Abb. 11.4   Wachstum der KEP-Sendungsvolumina in Deutschland 2010 bis 2022

11  Wege aus der Enge – Logistik in den Innenstädten

129

Diesel-Fahrverbote führen zu deutlich gestiegenen Investitionen in den Fuhrpark.7 Hinzu kommt ein Mangel an Fahrern, von denen aufgrund von Kundenwünschen (Wunschliefertermine) immer mehr Flexibilität erwartet wird. Dies führt zwangsweise zu Lohnsteigerungen. Diese erwartbaren Kostensteigerungen, genauso wie Maut- und Treibstofferhöhungen, sollen ohne Preiserhöhungen kompensiert werden. Gleichzeitig muss das Unternehmen selbst wirtschaftlich agieren. Verschärft wird die Situation, da verschiedene Paketdienste gleichzeitig die Innenstädte beliefern. Neben dem Preiskampf führen diese Redundanzen in den Zustellnetzwerken zu höheren Tourenzahlen, geringerer Kapazitätsauslastung sowie höherem Verkehrsaufkommen. 

Eine wirtschaftlich tragfähige Ver- und Entsorgung der Innenstädte wird aufgrund der geänderten Rahmenbedingungen und der Redundanzen in den Zustellnetzen zunehmend erschwert.

11.1.5 Zwischenfazit Die moderne Innenstadtlogistik ermöglicht eine schnelle, kurzwegige und komfortable Lieferung und Verteilung der Ware an Geschäfte und Privathaushalte. Gleichzeitig ist der innerstädtische Verkehr, speziell der Wirtschaftsverkehr, eine Belastung für die Innenstädte hinsichtlich der Emissionen sowie des gestiegenen und weiterwachsenden Verkehrsaufkommens. Die Aufgabe der Logistik – die Ver- und Entsorgung der Innenstädte – ist in Zeiten des schnell wachsenden E-Commerce, zunehmender Regulatorik durch die Kommunen (Zufahrtsbeschränkungen, Grenzwerte), gestiegener Kundenanforderungen (Zustellzeit und -ort) und zunehmenden Individualverkehrs eine immense Herausforderung.

11.2 Innenstadtlogistik heute – Folgen für die Versorgung der Ballungszentren Die Anforderungen der verschiedenen Interessengruppen (Kommune, Logistiker, Händler und Kunden) sind nicht nur komplexer und anspruchsvoller geworden, sondern kollidieren teilweise miteinander. Die mittelbaren Folgen sind vor allem ein erhöhtes Verkehrsaufkommen, da:

7Fraunhofer

Institut für Materialfluss und Logistik IML, Arnd Bernsmann: Projekt geräuscharme Nachtlogistik – GENALOG (2018).

130

• • • • • •

P. Manns

immer mehr Menschen in der Stadt leben immer mehr Menschen individuell mobil sein wollen immer mehr Kunden online bestellen immer mehr Händler ihr Bestellmuster ändern (tägliche Versorgung) immer mehr Händler ihre Vertriebskanäle ausbauen (Multikanalfähigkeit) immer mehr kleinteilige Sendungen ausgeliefert werden

Da die Logistikanbieter ihre eigene Marktdurchdringung forcieren und jeder sein eigenes Netzwerk auf- und ausbaut, erfolgt der Lieferverkehr wenig konsolidiert und wird immer granularer (vgl. Abb. 11.5). Jeder will der schnellste, zuverlässigste und vor allem der bevorzugte Anbieter sein. Die Bevölkerung übt mit ihrer Forderung nach sauberen Städten zunehmend Druck aus, weswegen die Grenzwerte für Lärm und Emissionen immer weiter nach unten korrigiert werden. Demnach sind Konzepte für kooperative Last-Mile-Logistik sowie innovative Lösungen zur Belieferung des innerstädtischen Handels mit einer integrierten Logistik für B2B-, B2C- und Multichannel notwendig.



Tagbelieferung

Städtische Logistik heute: redundante Distributionsstrukturen

Stadtgrenze Depot A

A

A A

Depot B

B

B B

Depot C

C

C C

Retailer (B2B)

Privathaushalt (B2C)

Einkaufszentrum (B2B)

Abb. 11.5   Die städtische Logistik ist heute durch redundante Distributionsstrukturen geprägt

11  Wege aus der Enge – Logistik in den Innenstädten

131

11.3 Innenstadtlogistik für die Zukunft – Innovative, zukunftsweisende Konzepte als mögliche Wege aus der Enge in den Innenstädten Die perfekte Logistik soll möglichst unsichtbar und nachhaltig funktionieren. Gefragt sind „smarte“ Lösungen und innovative Konzepte, welche die verschiedenen Interessen vereinen und den Wirtschaftsverkehr nachhaltig verbessern. Dazu gibt es vier Grundstoßrichtungen: 1. Fahrzeug-Innovationen/-Alternativen 2. Zeitliche Optimierung der Verkehrslast 3. Kommunale Lösungen zur Verbesserung der städtischen Infrastruktur: City-Projekte 4. Digitalisierung der Logistikbranche

11.3.1 Fahrzeug-Innovationen/-Alternativen Mit einem Umstieg auf alternative Antriebe könnten konventionell motorisierte Zustellfahrzeuge logistisch 1:1 ersetzt werden – bei deutlicher Emissionsreduktion.8 Die geringen Zufahrtsbeschränkungen erhöhen die Attraktivität. Aufgrund der hohen Anschaffungskosten, der geringeren Reichweite und der schwankenden Leistung in Abhängigkeit von den Außentemperaturen werden derzeit noch starke Beeinträchtigungen hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit gesehen. Mit Lastenfahrrädern kann die Belieferung emissionsfrei ohne Führerscheinrestriktionen – auch in für Kfz gesperrten Gebieten (Fußgängerzonen) – erfolgen. Die Wahrnehmung im Stadtraum ist zudem positiv (Imagegewinn, kein Parken in zweiter Reihe). Geringere Transportkapazitäten, höherer Personaleinsatz je Paket sowie topografische Restriktionen sind hingegen Hemmnisse. Unbemannte oder auch autonome Zustelloptionen wie Paketroboter oder Zustellung per Drohne haben vergleichsweise hohe Anschaffungskosten, sind aber allein ungeeignet für die Sendungsmasse (Reichweite, Ladekapazität). Ferner sind rechtliche Fragen, Versicherungsaspekte und Sicherheitsfragen (Sendungsverlust, Absturz) noch nicht hinreichend geklärt. Diese werden daher auch künftig vorwiegend in „Spezialfällen“ Anwendung finden.9 

Trotz vielversprechender Pilotprojekte ist eine flächendeckende Alternative zur herkömmlichen Zustellung mittels Transporter/Lkw (noch) nicht absehbar. Bei Lastenfahrrädern und unbemannten Zustelloptionen besteht ferner

8Bundesverband

Paket und Expresslogistik e. V. (BIEK): Nachhaltigkeitsstudie (2017). Institut für Materialfluss und Logistik IML, Univ.-Prof. Dr. Ing. Uwe Clausen: Fachsequenz Urbane Logistik (2018).

9Fraunhofer

132

P. Manns

das Dilemma der Multiplikation der Einheiten im Vergleich zu einem Zustellfahrzeug. Gelingt mit einer vielfachen Anzahl an Robotern/Fahrrädern anstelle eines Lkws der Weg aus der Enge?

11.3.2 Zeitliche Optimierung der Verkehrslast Ziel bei der zeitlichen Optimierung der Verkehrslast ist die Entkopplung der Individualund Lieferverkehre. Das Verkehrsaufkommen kann beispielsweise zu den Hauptverkehrszeiten deutlich verringert werden, wenn die zeitlichen Lieferrestriktionen entschärft oder die Belieferungen in zeitliche Randlagen verlegt werden. Die deutlichste Entlastung wird durch die Verlagerung in die verkehrsarmen Nachtstunden für die B2B-Belieferung erreicht. Transportunternehmen können so ihre Ressourcen besser auslasten und flexibler agieren (B2B-Belieferung nachts, B2C-Belieferung untertägig). Für die Händler ist der Hauptvorteil die Entkopplung von Anliefer- und Verkaufstätigkeit. Dank des Daily Replenishment ist ein umfassendes Artikelspektrum ständig verfügbar und rückwärtige Lagerflächen können verringert werden. Die Verkaufstätigkeit kann effizienter gestaltet werden, da es keine Unterbrechungen durch die Anlieferungen gibt. Einwohner profitieren von einer höheren Einkaufsqualität und „freieren“ Straßen. Die Restriktionen für eine Nachtanlieferung sind sehr strikt, es gibt unter anderem Grenzwerte für Lärm- und Schadstoffemissionen (Euro-Norm, Umweltzonen) sowie Fahrverbote für Lkw (generelles Fahrverbot im Innenstadtbereich oder auf festgelegten Routen).  Wichtig  Die Lärm- und Luftschadstoff-Emissionsspitzen werden durch die zeitliche Verlagerung des Verkehrsaufkommens tagsüber und nachts deutlich verringert. Vielversprechend sind kombinierte Ansätze wie die des Verbundkonsortiums GeNaLog (Geräuscharme Nachtlogistik).10 Hauptziel ist die Entwicklung neuer Konzepte und Geschäftsmodelle für eine geräusch- und emissionsarme Nachtbelieferung der Innenstädte.

11.3.3 Kommunale Lösungen zur Verbesserung der städtischen Infrastruktur: City-Projekte Kommunen können durch Regeln für die örtliche Belieferung maßgeblich dazu beitragen, das Verkehrsaufkommen besser zu steuern und die Emissionen zu senken. Durch das

10Fraunhofer

Institut für Materialfluss und Logistik IML, Arnd Bernsmann: Projekt geräuscharme Nachtlogistik (2018).

11  Wege aus der Enge – Logistik in den Innenstädten

133

gezielte Einrichten von Entlade- und Beladezonen kann beispielsweise ein höherer Verkehrsfluss gewährleistet und das Parken in zweiter Reihe reduziert werden. Eine weitere Möglichkeit ist die Bereitstellung von Logistikimmobilien beziehungsweise die Mehrzwecknutzung von Gebäuden und Flächen zum Umschlag von Waren. Dafür fehlen aber ausreichend Logistikflächen in der Innenstadt beziehungsweise in Innenstadtnähe, die die Herausforderungen von logistischer Enge und Emissionen verringern könnten. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Einrichtung von Multi-Hubs (größere Lager im Außenbezirk) und Mikro-Hubs beziehungsweise mobilen Depots (kleine Lager in der Stadt) durch Kommunen. Die gebündelte Anlieferung (vorzugsweise nachts) spart Zeit und Kosten und steigert die Transportauslastung. Die so verkürzten Zustellwege sind optimal mit bestehenden alternativen Antrieben realisierbar. Positives Beispiel für eine kooperative Nutzung von Mikro-Depots ist das Pilotprojekt KoMoDo in Berlin.11 Die KEP-Dienstleister DHL, DPD, Hermes, UPS und GLS nutzen je einen Container als Umschlagpunkt. Die Auslieferung erfolgt per Lastenfahrrad, die Mikro-Hub-Versorgung mit 7,5t-Lkw. Auch in Hamburg und Frankfurt werden ähnliche, allerdings geschlossene Systeme von DHL und UPS erprobt. Containerlösungen tragen aus heutiger Sicht eher zu einer Verlagerung der Last, nicht zu einer Entlastung bei. Statt einer großen Fläche würden vielfach mehr kleine Flächen benötigt. Auch hier ist ein systemoffenes Angebot zielführender. Viele dieser Pilotprojekte zeigen, wie eine stadtverträgliche Logistik erfolgen kann. Eine marktwirtschaftliche Selbstregulierung der innerstädtischen Wirtschaftsverkehre birgt aber die Gefahr des Boykotts durch marktrelevante Anbieter. Damit würde ein wenig kooperatives Gesamtsystem mit intelligenten Einzellösungen entstehen, welche die Verkehrslast nicht senken. Vergleichbar den Strom- und Gasnetzen ist es aber volkswirtschaftlich nicht sinnvoll, in einem bestimmten Versorgungsgebiet parallele Netze von verschiedenen Unternehmen aufzubauen. Um den sogenannten „natürlichen Monopolen“ und damit Monopolgewinnen vorzubeugen und die Netze trotzdem so kostensparend wie möglich zu betreiben, werden die Strom- und Gasnetzbetreiber reguliert. Durch die Regulierung wird ein diskriminierungsfreier Zugang zum Netz gewährleistet, die Entgelte für die Durchleitung von Strom und Gas sind transparent und angemessen kalkuliert. Analog müssen Politik und Kommunen sich fördernd und unterstützend im innerstädtischen Warenverkehr einbringen und selbst zu einem gleichberechtigen Infrastrukturpartner für die Logistik werden. Die Kommunen würden eine anbieteroffene Infrastruktur mit Depots und Logistikflächen bereitstellen, die KEP-Dienstleister müssten ein Entgelt für die Nutzung und Belieferung der Innenstädte zahlen. Andernfalls

11Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik IML, Univ.-Prof. Dr. Ing. Uwe Clausen: Fachsequenz Urbane Logistik (2018).

134

P. Manns

wären diese nicht berechtigt, sich am Marktgeschehen – der Innenstadtlogistik – zu beteiligen (Abb. 11.6). 

Die Vernetzung von Transportsystemen sowie die Nutzung von Bündelungseffekten zwischen Dienstleistern (Kooperationen) müssen von der Politik stärker initiiert und gefördert werden (anbieteroffene Paketboxsysteme, Plattformstrategie). Ohne die Kommunen als Infrastrukturpartner ist die Mehrheit der alternativen Initiativen zum Scheitern verurteilt. Darüber hinaus ist es essentiell, die Wirtschaftsverkehre in die Stadtentwicklung mit einzuplanen und Flächen bereitzustellen.

11.3.4 Digitalisierung der Logistikbranche Die Optimierung und Effizienzsteigerung der gesamten Lieferketten gewinnt in Anbetracht des zunehmenden Sendungsvolumens an Bedeutung. Insbesondere mit digitalen Innovationen und automatisierten Prozessen schaffen es die Logistikanbieter, ihren

Städtische Logistik künftig:

Depot A

Cityhub B

Stadtgrenze A

A

Tagbelieferung

A

konsolidierte Warenströme mittels Cityhub als Umschlagdepot

B

Depot B

Nachtbelieferung

B

B

C

Depot C C

C

C

Retailer (B2B)

Privathaushalt (B2C)

Stadtgrenze

Einkaufszentrum (B2B)

Abb. 11.6   Konsolidierte Warenströme sind das Kennzeichen künftiger städtischer Logistik

11  Wege aus der Enge – Logistik in den Innenstädten

135

Service immer schneller, individueller und effizienter zu gestalten. So können beispielsweise heute über 60 % der Händler innerhalb von 24 Stunden oder schneller liefern.12 Die Neuerungen ermöglichen eine optimierte Tourenplanung und größere Transparenz im Lieferprozess. Kunden können im Bedarfsfall kurzfristig in den Lieferprozess eingreifen, die Erstzustellquote steigt. Der Handel profitiert von Daily Replenishment, schnelleren Retouren und in der Folge von der Reduktion rückwärtiger Lagerflächen. Innerhalb der Infrastruktur der Unternehmen sind bestimmte Datenstandards notwendig, um eine Interaktion der verschiedenen Systeme zu ermöglichen (Avisierung, Disposition, Lager, Sorter). Um kooperative Ansätze zwischen verschiedenen Anbietern zu ermöglichen, sind zudem einheitliche Standards und Schnittstellen zwischen den Unternehmen notwendig. Dank der Digitalisierung lässt sich die (kooperative) Auslastung der Fahrzeuge weiter steigern und so unnötige Verkehre vermeiden und Lieferzeiten verkürzen.



11.3.5 Zwischenfazit Die Mehrheit dieser meist vielversprechenden, aber begrenzten Pilotprojekte ist noch in der Erprobungsphase. Die Reduktion der Emissionslast in den Städten kann nur durch einen fließenden Verkehr und die Verringerung des Verkehrsaufkommens insgesamt erreicht werden. Dafür ist eine aktive Zusammenarbeit zwischen Transporteuren, Kommunen und Nutzern essentiell. Die maßgeblichen Erfolgsfaktoren sind: • • • •

Weiterentwicklung alternativer Antriebe samt notwendiger Infrastruktur Reduzierung des Verkehrsaufkommens zu Spitzenzeiten mittels Nachtbelieferung Generierung innerstädtischer Logistikflächen als notwendige Infrastruktur Konsolidierung und Bündelung von Transporten durch anbieterübergreifende Plattformen

All dies trägt, intelligent kombiniert und nicht singulär, zu einem effizienteren Wirtschaftsverkehr bei. Die Politik muss übergreifende einheitliche Standards etablieren. Notwendig ist ein standardisiertes Gesamtkonzept mit festen Leitplanken, in dessen Rahmen jede Kommune gemäß ihren individuellen Gegebenheiten agieren kann. Denn eine zu große Heterogenität wäre aus Sicht der Logistik vor allem für flächendeckend agierende Unternehmen eine zusätzliche Erschwernis, da sonst stadtindividuell die Bedingungen ausgehandelt und ausjustiert werden müssten.

12EHI

Retail Institute GmbH: Versand- und Retourenmanagement im E-Commerce 2018 (2018).

136

P. Manns

11.4 Praxisbeispiel Innenstadtlogistik – Systemdienstleister KNV Koch, Neff & Volckmar (KNV) ist Markt- und Innovationsführer im deutschen Buchund Mediengroßhandel. Ursprünglich spezialisiert auf den Großhandel mit Büchern, steht KNV heute für innovative Logistiklösungen und Dienstleistungen für viele Branchen. Die Stärke von KNV liegt in der Konsolidierung der Warenströme aller Lieferanten, der Lagerung, Kommissionierung sowie der Gewährleistung der Anlieferung in einer Charge. Zu den Kunden gehören Einzelunternehmer ebenso wie der lokale filialisierte Mittelstand, große Handelsketten oder die großen E-Commerce-Plattformen. KNV hat gemäß den gestiegenen Anforderungen mehrere Lösungsstrategien entwickelt.

11.4.1 Transportnetzwerk Basis ist das flächendeckende Transportnetzwerk in D-A-CH (Deutschland, Österreich, Schweiz) mit dem zentralen Standort in Erfurt und weiteren 26 Depots. KNV gewährleistet so einen täglichen Abhol- und Belieferungsservice mit über 500 Nahverkehrstouren an 7000 Kunden in nahezu jedem Ort zwischen Flensburg und Bozen. Neben der Großhandelsware wird weitere Ware von 2000 Lieferanten abgeholt, in vier Hubs konsolidiert und den Kunden gebündelt zugestellt. Dadurch entsteht für den Retailer ein „OneStop-Shopping-Effekt“ – ein Anlieferer für Lieferanten. Durch die direkte Einspeisung in die KEP-Netze werden bei der Endkundenbelieferung Kosten optimiert und Lieferzeiten verkürzt.

11.4.2 Systemdienstleistung Nachtbelieferung Zur Reduzierung der innerstädtischen Verkehrsspitzen beliefert KNV als Experte im Bereich Handelslogistik bereits seit Jahrzehnten über Nacht an sechs Tagen in der Woche den Point of Sale. KNV verwaltet von vielen Tausend Händlern die Schlüssel. So hat KNV Zugang zu den Filialen und kann nachts die Ware am vereinbarten Abstellplatz in der Filiale hinterlegen. Dies wird mit einem elektronischen Abliefernachweis dokumentiert. Durch eine ausgeklügelte Reverselogistik ist der schnelle Rücktransport von Retourwaren ebenso möglich wie der Warentausch zwischen Filialen. Ganzheitliche individuelle Supply-Chain-Lösungen, wie Cross- und Omnichannel, werden durch diese Systemdienstleistung optimiert. Dank der gesicherten Anlieferzeit über Nacht vor Ladenöffnung können Folgeprozesse konsequent darauf aufgesetzt werden. Die Belieferung der Innenstadt erfolgt zuverlässig und schnell.

11  Wege aus der Enge – Logistik in den Innenstädten

137

11.4.3 Mehrwegbehälter KNV stellt Kunden und Lieferanten stabile stapelbare Kunststoffwannen bereit. Der feste Deckel mit Umreifung sorgt für mehr Schutz beim Transport der Ware, die dank der Verplombung zudem diebstahlgesichert ist. Mit dieser Standardwanne ist eine optimale Raumausnutzung der Lkws gewährleistet. Untersuchungen haben gezeigt, dass Mehrwegbehälter in ihrer Ökobilanz durch die Mehrfachnutzung deutlich günstiger als Einwegkartons sind.

11.4.4 IT-Technik Zur Steuerung und Optimierung von Prozessen und damit einer effizienten und effektiven Belieferung setzt KNV auf eine breite agile und vernetzte IT-Systeminfrastruktur. Alle Daten fließen in sämtliche Schritte von der Planung (Kapazitäten, Touren), über die Durchführung (Statusevents), die Auswertung (Meilensteine, Reporting) bis hin zur Abrechnung ein. Dadurch ist im Bedarfsfall (beispielsweise kranker Fahrer oder defekter Sattelzug) ein schnelles Eingreifen möglich. Besondere Vorteile der Infrastruktur sind ferner das sendungsvorauseilende Datenmanagement (EDI), die Avisierung der Packstücke (Avis), das warenbegleitende Datenmanagement (DisAd) sowie die Warendokumentation (unter anderem Track & Trace). Die dabei gegebene Systemdurchgängigkeit garantiert eine sichere und transparente Belieferung.

11.4.5 Innovationen Um auch künftig den wachsenden Anforderungen gerecht werden zu können, erprobt KNV bereits frühzeitig Innovationen und beteiligt sich an entsprechenden Pilot- und Förderkonzepten. Beispielsweise wird derzeit der Einsatz von Lastenfahrrädern in Ballungszentren für eine untertägige klimaneutrale Belieferung von Händlern und Endkunden geprüft.

11.4.6 Logistik Netzwerk Thüringen e. V.: Kollaborations-Plattform Aktuell beteiligt sich KNV an der Entwicklung einer Austauschplattform, auf der alle sendungsrelevanten Daten, Adressen, Spezifika, Termine etc. unter Beachtung der DSGVO auf Datensatzebene durchgängig zwischen den beteiligten Unternehmen ausgetauscht werden können. Mit dieser „LNT-service-chain-platform“– LSCP sollen standardisierte Workflows und Connectoren zur Überwindung von Schnittstellenbarrieren geschaffen werden.

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P. Manns

11.4.7 Zwischenfazit Das Unternehmen KNV hat sich seit seiner Gründung 1829 mit den Anforderungen seiner Kunden, des Marktes und der Gesellschaft weiterentwickelt. Sein System zur Nachversorgung der Händler ist hoch performant. Die enge Anbindung an andere KEP-Netze auf nationaler und internationaler Ebene gewährleistet unter anderem die reibungslose Belieferung der Endkunden. Der Einsatz von Lastenfahrrädern ist ein vielversprechender Weg für die Big-10Städte – für kleinere und mittlere Städte ist die Infrastruktur für eine wirtschaftlich tragfähige Belieferung nicht ausreichend. Hier sind Kooperationen beziehungsweise übergreifende Kollaborationen wie mit dem LNT vielversprechender. Insofern gibt es für KNV nicht DEN Weg aus der Enge in den Innenstädten, vielmehr wird individuell und gemäß den örtlichen Gegebenheiten der jeweilig passende Weg bereitet und genutzt.

11.5 Fazit Die dargestellten Herausforderungen und Innovationen machen deutlich, dass DER Weg aus der Enge in den Innenstädten noch nicht gefunden wurde. Viele der dargestellten Innovationen werden – vor allem einzeln betrachtet – nicht ausreichen, um das wachsende MEHR an Verkehrslast, Kundenanforderungen und Regulatorik zu bewältigen. Für eine nachhaltige und zukunftsfähige Innenstadtlogistik ist das Wechselspiel zwischen Logistik, öffentlicher Hand und Handel entscheidend. Zukunftsforscher haben verschiedene Szenarien entwickelt, wie die Zukunft aussehen könnte13. Eines ist allen Szenarien gleich: Ohne ein aktives Gegenlenken von Städten und Unternehmen wird es DEN Weg aus der Enge in den Innenstädten nicht geben. Politik und Kommunen müssen sich als Infrastrukturpartner fördernd und unterstützend im innerstädtischen Warenverkehr einbringen, damit anbieterübergreifende einheitliche Standards etabliert werden können. Nur ein standardisiertes Gesamtkonzept mit festen Leitplanken, in dessen Rahmen jeder Partner gemäß den individuellen Gegebenheiten agieren kann, ist erfolgversprechend. Die Weichen müssen jetzt gestellt werden und jede Interessengruppe muss ihren Beitrag dazu leisten. Denn DER Weg aus der Enge in den Innenstädten kann nur ein gemeinsamer Weg sein.

13Vgl.

Roland Berger: Urbane Logistik 2030 in Deutschland (2018).

11  Wege aus der Enge – Logistik in den Innenstädten

139

Literatur Bundesverband Paket und Expresslogistik e. V. (BIEK): Nachhaltigkeitsstudie 2017 – Bewertung der Chancen für die nachhaltige Stadtlogistik von morgen. BIEK, Berlin (2017) Bundesverband Paket und Expresslogistik e. V. (BIEK): KEP-Studie 2018 – Analyse des Marktes in Deutschland. BIEK, Berlin (2018) BVL: Factsheet Emissionen in der Logistik. https://www.bvl.de/themenkreise/urbane-logistik/ factsheet-emissionen-in-der-logistik (2018) DHL Paket GmbH: Nachhaltiger Erfolg im E-Commerce: Wie Onlinehändler im Spannungsfeld von Wachstum und Marktkonzentration bestehen. DHL Paket, Bonn (2018) DPD, Rainer Schwaz: Die Bedeutung der letzten Meile für den E-Commerce (2014) EHI Retail Institute GmbH: Versand- und Retourenmanagement im E-Commerce. EHI Retail Institute, Köln (2018) Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik IML, Univ.-Prof. Dr. Ing. Uwe Clausen: Fachsequenz Urbane Logistik; 35. Deutscher Logistik-Kongress, Berlin (2018) Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik IML, Arnd Bernsmann: Projekt geräuscharme Nachtlogistik – GENALOG. IML, München (2018) Handelsverband Deutschland (HDE): Handel digital – ONLINE-MONITOR. HDE, Berlin (2018) ibi research: Der deutsche Einzelhandel 2017 – erste IHK-ibi-Handelsstudie. ibi, Regensburg (2017) IFH Köln GmbH: SOCIAL. SMART. SIMPLE. Wie Händler über Social Media, Apps und Delivery-Services die Customer Experience erhöhen. IFH, Köln (2018) Roland Berger: Urbane Logistik 2030 in Deutschland. Gemeinsam gegen den Wilden Westen. Roland Berger, München (2018) PricewaterhouseCoopers GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft: Aufbruch auf der letzten Meile – Neue Wege für die städtische Logistik (2017) Zeit Online: Stadt Land, Vorurteil, Hamburg. https://www.zeit.de/feature/deutsche-bevoelkerung-stadt-land-unterschiede-vorurteile (2017)

Peter Manns leitet seit 2007 als Prokurist das Transportmanagement bei der Koch, Neff & Volckmar GmbH. Unter seiner Verantwortung erfolgt die tägliche Belieferung der Buchbranche und von weiteren Branchen im Nachtsprung sowie die Entwicklung moderner Omnichannel-Lösungen für den B2B- und B2C-Bereich. Als Experte für Transport und Logistik engagiert er sich als Mitglied bei der Bundesvereinigung Logistik (BVL) e. V., im Club of Logistics e. V. und im Logistik Netzwerk Thüringen e. V. Der studierte Maschinenbauingenieur war zunächst in der Obst- & Gemüsebranche als Leiter Im- und Export sowie als Transportleiter tätig. Später verantwortete er die Logistik einer der großen deutschen LEH-Standorte. www.knv-transport.de

Die Organisation von Lager- und Verteillogistik in der „Smart City“

12

Christian Baur

Zusammenfassung

Die Welt ist im Umbruch, so schnell und differenziert wie nie zuvor. Dabei greifen gleich mehrere Megatrends ineinander und tragen zu umwälzenden Veränderungen bei: Demographische Strömungen, die Urbanisierung, Digitalisierung und fortschreitende Automatisierung gehören zu den prägenden Einflussgrößen. Was wir gestern noch als Science-Fiction empfanden, ist schon heute Realität. Für manche bedeutet diese rasante Entwicklung einen schmerzlichen Bruch mit Traditionen. Andere empfinden sie als faszinierend und begreifen sie als große Chance. Und tatsächlich birgt der Wandel ein enormes Entfaltungspotenzial. Vor allem für die Logistik beginnt eine neue Ära. Die digitale Transformation stellt neue Regeln auf. Sowohl für die Extralogistik als auch für die Intralogistik: Beide entwickeln sich zunehmend von großen, starren Systemen hin zu modularen, flexiblen und softwaregesteuerten Lösungen. Logistik ist eine Jahrhundertaufgabe – mit allen Möglichkeiten und Risiken, die diese Herausforderung mit sich bringt. Produktion, Lagerung und Distribution werden in Zukunft anders als heute umzusetzen sein. Insbesondere in den Städten sind innovative Konzepte gefragt. Ein intelligenter Mix aus Mobilität und stationären Einrichtungen, mit neuen unternehmerischen Kooperationen und Hightech, sowohl im Technologie- als auch vor allem im Software-Bereich: Ein hohes Ziel verfolgt die Branche dabei: Sie will die Städte der Zukunft lebenswert gestalten, lebenswerter als sie es heute zum Teil sind.

C. Baur (*)  Buchs, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_12

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C. Baur

12.1 Der Trend zur Urbanisierung „Städte sind die Staaten von morgen“ (Zukunftsinstitut GmbH 2018), veröffentlicht das Zukunftsinstitut, einer der einflussreichsten Think Tanks aus Deutschland. Demnach leben weltweit immer mehr Menschen in Städten und machen sie zu den mächtigsten Akteuren einer globalisierten Welt. Im Jahr 2015 haben 54 % der Weltbevölkerung in Städten gelebt, 2050 sollen es 66 % sein. Und schon bis zum Jahr 2030 sind mehr als 40 Megacities auf unserem Globus zu erwarten (Swisslog 2018a) – Ballungszentren, die mit mehr als zehn Millionen Einwohnern definiert sind. Was bedeutet diese Urbanisierung für unsere Gesellschaft? Das Leben verdichtet sich. In den Städten mit hohem Bevölkerungs-, Bebauungs-, Infrastruktur- und Mobilitätsaufkommen rücken die Menschen zusammen, wird der Wohnraum für den einzelnen kleiner und herrscht der meiste Verkehr. Mikro- und Makrokonzepte existieren parallel. „Micro Housing“ zum Beispiel ist in Japan bereits Realität: In Tokio verfügt jeder Bewohner im Schnitt über nur 19 Quadratmeter Wohnfläche. Autos werden für den innerstädtischen Verkehr kleiner oder ganz durch andere metropoltauglichere Verkehrsmittel wie das Fahrrad oder öffentliche Transportangebote ersetzt. Im Kontrast zur Miniatur wird der Aktionsraum des Individuums an anderer Stelle größer. Das Angebot an Arbeitsplätzen, Kultur und Lifestyle wächst und damit der Wunsch, daran zu partizipieren. „Co“ oder „Share“ leiten eine neue Ära des Teilens ein: Co-Living mausert sich von der Studenten- auch zur Alten- oder Berufstätigen-WG. Car-Sharing weitet sich auf das Home-Sharing aus, der zeitweiligen Überlassung von Wohnungen und Häusern. Die Stadt wird immer stärker zum Knotenpunkt für menschliches Leben. Dabei steht nahezu jeder mit jedem in Verbindung – über Social Media und andere Online-Plattformen. Menschen wie Dinge senden und empfangen Informationen in digitalen Netzwerken. Big Data entstehen und gelten als Quelle neuer ­Wertschöpfung.

12.2 Logistik in einer urbanisierten Welt Was bedeutet dieser Trend für die Logistik? Sie wird sich auf die veränderten Rahmenbedingungen einstellen. Sie wird diese aber auch aktiv mitgestalten, indem sie innovative Konzepte und Strategien sowie neue, vor allem aber flexible Technologien entwickelt. Dabei wird Software eine entscheidende Rolle spielen. Zusätzlich sind Widersprüchlichkeiten im System zu entkräften wie die vermeintliche Unvereinbarkeit von Kundenanforderungen: So möchte ein Käufer einerseits immer schneller und häufiger beliefert werden, andererseits reklamiert er für sich verkehrsberuhigte, saubere Innenstädte bei zugleich uneingeschränkter eigener Mobilität. Die Lager- und Verteillogistik wird einen Teil dieses Dilemmas zu lösen wissen.

12  Die Organisation von Lager- und Verteillogistik …

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12.2.1 Herausforderung E-Commerce Der E-Commerce spielt eine wichtige Rolle im Konsumverhalten und damit auch bei der Zukunftsgestaltung der Citylogistik. Als einer der großen Trends im Handel entwickelt er sich stetig weiter. Betrug der E-Commerce-Anteil am Einzelhandelsverkauf in Europa im Jahr 2015 noch sieben Prozent, waren es in 2016 schon acht und 2017 fast neun Prozent. Weltweit liegen die Werte mit 14 bis 15 % noch weit darüber – ein Boom, der anhalten wird (Swisslog 2018b). Colliers International, einer der weltweit führenden Dienstleister für Gewerbeimmobilien, hat im Jahr 2018 für Deutschland eine Studie aufgelegt (Colliers International Deutschland GmbH 2018a). Hierin wurde dem Online-Kaufverhalten ein Paketvolumen gegenübergestellt: 3,5 Mrd. Packstücke haben demnach im Jahr 2017 ihren Besitzer gewechselt. Online-Shopping, das vor allem die Zustellung von Waren an die Haustür forciert, bedingt einen explosionsartigen Anstieg von Transporten. Der Verkehrskollaps in den Städten wird noch zusätzlich durch Spontanbestellungen – von unterwegs, zu Hause oder vom Arbeitsplatz – befeuert, die möglichst kurzfristig ausgeliefert werden sollen. Next-Day-Delivery ist schon nichts Besonderes mehr. Die Entwicklung geht in Richtung Same-Day- oder sogar Same-Hour-Delivery. Doch wie soll das funktionieren? Zumal der Güterbedarf nicht nur vom Online-Handel bestimmt wird, sondern zum größten Teil vom Brick-and-Mortar-Geschäft, das ebenso pünktlich beliefert werden will.

12.2.2 Micro Hubs – das Lager kommt zum Kunden Die Lösung liegt in der räumlichen Nähe. Da sich Schnellstbelieferung und lange Wegstrecken gegenseitig ausschließen, kommt das Lager zum Kunden. „Micro Hubs“ entstehen. Definiert als gewerblich genutzte Mietflächen zur Produktion, Lagerhaltung und Distribution in den Innenstädten, werden diese Logistikstandorte überall engmaschig verteilt. Klein müssen sie sein, denn Platz ist Mangelware, und in ihrer Geschäftigkeit nachbarschaftstauglich. Immobilienexperten definieren einen Micro Hub nach folgenden Kriterien (Colliers International Deutschland GmbH 2018b): maximal 3000 Quadratmeter groß, Hallenhöhe bis zu zehn Meter mit geringer Hallentiefe und einem Büroanteil von weniger als zehn Prozent. Von diesen Mikro-Knotenpunkten aus ist selbst die Same-Hour-Delivery möglich – eine völlig neue Herausforderung für die Logistik. Sind die Micro Hubs zwar ganz nah am Kunden, sind sie doch an feste Standorte innerhalb einer City gebunden und können nur dort eingerichtet werden, wo geeignete Immobilien zur Verfügung stehen. Hier kommt eine neue Idee ins Spiel: das „QTainer“-Konzept von Swisslog. Das Wort „QTainer“ steht für intelligent genutzte Schiffscontainer, die zur flexibel platzierbaren, innerstädtischen Produktion und Logistik zweckentfremdet werden. Dabei wird das Innenleben der Stahlboxen zu hoch modernen Modulen ausgebaut. Diese dienen dann zum Beispiel der Lagerung und dem ­Transport

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C. Baur

von Leichtgütern, der Einzelstückkommissionierung, Kartonerstellung oder auch in Form eines Pick-up-Moduls als Abholstation für Endverbraucher beziehungsweise Übergabepunkt für Kurier-, Express- und Paketdienste (KEP). Schiffscontainer für die City-Logistik umzumünzen, mag zunächst merkwürdig erscheinen, ist bei näherem Hinsehen aber ein effizientes Konzept: Die Container sind preiswert in der Anschaffung und als stabile Hülle für viele Formen der kreativen Innenraumgestaltung geeignet. Sie können fast überall aufgestellt und bei Bedarf neu positioniert werden. So ließe sich ad hoc ein vollwertiges Logistikzentrum auf innerstädtischen Parkflächen einrichten und bei Bedarf wieder demontieren. Dank ihrer weltweit gültigen Standardmaße sind die Container universell einsetzbar und kombinierbar.

12.2.3 Urban Fulfillmentcenter Nun brauchen sowohl die Micro Hubs als auch die QTainer für ihre Ware einen Lieferanten – so sie die Güter nicht selbst vor Ort zum Beispiel nach dem 3D-Druckverfahren produzieren können. Dieser Lieferant kommt vom Rande der Stadt, den „Urban Fulfillmentcentern“. Das urbane Verteilzentrum ist mit maximal 15.000 Quadratmetern bis zu fünf Mal größer als zum Beispiel ein Micro Hub und weist, im Gegensatz zur innerstädtischen Variante, eine hohe Anzahl von Ladetoren auf. Der Warenumschlag wird auf diese Weise so hoch wie möglich gehalten. Das Urban Fulfillmentcenter erhält seinen Warennachschub wiederum von Großverteilzentren außerhalb der Stadtgrenzen: Nur in Anrainer-Gewerbegebieten respektive auf der grünen Wiese ist Massenlagerhaltung und -distribution noch möglich.

12.2.4 Städtische und außerstädtische Verkehrsmittel Ein Sammelsurium von LKW, Kleintransportern sowie jeder Menge Autos, allesamt mit konventionellen Verbrennungsmotoren, wird es in der City der Zukunft nicht mehr geben. Großtransportmittel – auf der Straße, Schiene, zu Wasser und in der Luft – werden weitestgehend, wenn nicht ganz und gar, verbannt und bleiben dem Verkehr außerhalb der Städte vorbehalten. Hier haben auch Jumbo-Varianten wie Groß-LKW oder -Flugzeuge ihre Existenzberechtigung. Ebenso die Drohne, die im eher ländlichen, strukturschwachen Raum Belieferungen über längere Strecken oder an weit verstreute Haushalte leistet. Realistisch erscheint zudem die Verwirklichung von city-externen Gütertransporten in oberirdisch gebauten Röhren. Elon Musk, US-amerikanischer Innovator und Unternehmer, hat mit „Hyperloop One“ (Virgin Hyperloop One 2019) eine Zukunftsstudie angestoßen, in der Waren ihren Bestimmungsort in nahezu Schallgeschwindigkeit erreichen. Tests unter Realbedingungen laufen bereits.

12  Die Organisation von Lager- und Verteillogistik …

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In den Innenstädten werden die Fahrzeuge kleiner, flinker, flexibler, autonomer und umweltfreundlicher. Mobile Transporter mit Elektro- oder Wasserstoffantrieb haben gute Chancen. Für die letzte Meile zum Kunden finden selbststeuernde fahrerlose Transportfahrzeuge ihren Weg durch den Straßendschungel. Die Belieferung per Fahrrad wird eine Renaissance erleben, wie auch der Kurier fortan häufiger zu Fuß kommt: Von einem nahe gelegenen Micro Hub oder QTainer aus ist das kein Problem. Ähnlich der Hyperloop-Idee flitzen künftig auch in den Städten Pakete oder ganze Paletten durch Röhren – allerdings unterirdisch und damit für die Bevölkerung unmerklich. Das britische Unternehmen Mole Solutions (Maulwurf-Lösungen) liefert Ansätze für ein Transportsystem, das die Waren in Tunneln per Magnetschwebetechnik an Verteilstellen bringt (Ingenieur.de 2015). Cargo Cap, ein deutsches Unternehmen aus Bochum, arbeitet ebenfalls an automatisierten Transportkapseln in einem Tunnelsystem unter der Erde (Cargocap.de 2019). Und ist damit schon relativ weit. Als erste deutsche Kommune hat Bergisch Gladbach im Jahr 2017 eine Machbarkeitsstudie für das Cargo-Cap-System beauftragt, zur innerstädtischen Belieferung mit Lebensmitteln sowie Nonfood und der Vision einer Inbetriebnahme im Jahr 2021 (Lebensmittel Zeitung, Loderhose 2019) (Abb. 12.1).

Abb. 12.1   Warehouse_CityMap. Micro Hubs und flinke Transporteure sichern eine schnelle und pünktliche Lieferung im Zentrum der Stadt. In der Peripherie und auf dem Land leisten größere logistische Einrichtungen sowie Drohnen ihren Dienst. (Quelle: Swisslog AG)

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C. Baur

12.2.5 Kooperation und Steuerung – Nur im Zusammenspiel wird es funktionieren Damit die innovativen technischen Konzepte tragfähig sind, ist in der City der Zukunft eine neue Form der unternehmerischen Kooperation notwendig. Es ist nicht mehr zielführend, dass jeder für sich im Alleingang vorgeht. Stattdessen gilt die neue Ära des Teilens und des Kooperierens für die Träger der Wirtschaft ebenso wie für Privatpersonen. Nur auf diese Weise lässt sich der hohe Güterbedarf der stetig wachsenden Städte möglichst ressourcenschonend decken. Das heißt konkret: Wie der WG-Bewohner seine Küche teilt und der Freiberufler sein Büro, nutzen auch Logistiker in Zukunft ihre Produktions-, Lager- und Distributionskapazitäten gemeinsam. Statt dass jeder Händler seinen eigenen Karton packt und auf die Reise zum Endabnehmer schickt, kommissioniert ein Roboter im kollektiven, automatisierten Logistikzentrum eine einzige Box für alle. Robotik, im Zusammenspiel mit lernender Software (KI), als Teil der Zukunftstechnologie einer Logistik 4.0, wie zum Beispiel „ItemPiQ“ von Swisslog, erledigt das Stückguthandling von bis zu 1000 Artikeln pro Stunde: fehlerfrei, rund um die Uhr und an sieben Tagen die Woche. Es fahren nicht mehr x-verschiedene KEPs in die Städte, blockieren sich gegenseitig, erzeugen Lärm und belasten die Luft. Dafür nimmt künftig einer der Transporteure die Pakete der anderen mit, pack- und routenoptimiert. Sein Kollege vom „Wettbewerb“ wiederum wird später dessen Ladungen aufnehmen. Diese neue Form der Kooperation erfordert ein Umdenken in Bezug auf die Besitzstandswahrung in Richtung flexibler Nutzungskonzepte und höchst möglicher Transparenz. Die Kooperation bedarf außerdem einer klugen Steuerung. Die Big Data, die in einer Millionenmetropole entstehen, brauchen eine sinnvolle Ordnung. Software wird dabei eine alles entscheidende Rolle spielen und die Akteure miteinander verbinden. Sie wird dies „smart“ tun, das heißt intelligent, multifunktional und vorausschauend. In der Logistik kann sie auf diese Weise Warenflüsse schnell und reibungslos gestalten. Sie wird Kundenanforderungen prognostizieren und Produktionen wie Vorratshaltung zielgenau steuern. Intelligente Software wird der Schlüssel zum Erfolg für eine smarte Vernetzung, für eine Hand-in-Hand-Integration aller involvierten Systeme – Systeme, die selbstlernend sind, sich autonom immer weiter verbessern. „Machine Learning“, „Predictive Processes“, „Augmented Reality“ und „Virtual Reality“ definieren den neuen Status.

12.3 Fazit Die Verstädterung und das Bevölkerungswachstum nehmen weiter zu. Daraus ergeben sich große Herausforderungen in Bezug auf die Versorgung der Menschen, deren Lebensqualität, bei gleichzeitigem Schutz und Erhalt von Umwelt und Natur. City-­ Bewohner müssen noch enger zusammenrücken, können aber auch von einer hohen

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Angebotsdichte profitieren. Digitale Lösungen und ausgeklügelte neue Konzepte und Technologien werden einen maßgeblichen Anteil dazu leisten. Sie haben sogar das Zeug zu einem epochalen Automatismus. Hier greift dann ein Zahnrad ins andere und für alle Beteiligten entsteht eine Win-win-Situation.

Literatur Cargocap.de: http://www.cargocap.de/. Zugegriffen: 3. April 2019 Colliers International Deutschland GmbH (Hrsg.): City-Logistik – Das erwartet die Branche, S. 3 (2018a) Colliers International Deutschland GmbH (Hrsg.): City-Logistik – Das erwartet die Branche, S. 4 (2018b) Ingenieur.de: Gütertransport im unterirdischen Tunnelsystem. https://www.ingenieur.de/technik/ fachbereiche/verkehr/guetertransport-im-unterirdischen-tunnelsystem/ (2015). Zugegriffen: 3. April 2019 Lebensmittel Zeitung, Loderhose, B.: Cargo Cap erhält grünes Licht. http://www.cargocap.de/ sites/default/files/public/news-download/LZ%20Artikel%20CC%20BGL%20grunes%20 Licht%203.3.17.pdf (2017). Zugegriffen: 3. April 2019 Swisslog AG (Hrsg.): Future perspectives: Planning for the warehouse of the future, White Paper, S. 3 (2018a) Swisslog AG (Hrsg.): Future perspectives: Planning for the warehouse of the future, White Paper, S. 4 (2018b) Virgin Hyperloop One: https://hyperloop-one.com/ (2019). Zugegriffen: 3. April 2019 Zukunftsinstitut GmbH: Megatrend Urbanisierung. https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-urbanisierung/ (2018). Zugegriffen: 27. Dez. 2018

Dr. Christian Baur ist seit 2015 Chief Operating Officer (COO) der Swisslog-Gruppe, eines internationalen Logistik-Konzerns mit Hauptsitz in Buchs/Schweiz. Er verantwortet die Bereiche Operational Excellence, M&A, Qualität und Einkauf und steht außerdem als Chief Executive Officer (CEO) der Division Logistics Automation vor. Dr. Christian Baur war vor seinem Eintritt bei Swisslog in Führungspositionen verschiedener Unternehmen tätig, darunter als Leiter der Bereiche Unternehmensentwicklung sowie M&A der KUKA AG in Augsburg. Er hat Maschinenwesen an der Technischen Universität München studiert und an der Technischen Hochschule Karlsruhe promoviert.

Die letzte Meile – Königsdisziplin der Logistik

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Peter Umundum

Zusammenfassung

Der Beitrag untersucht die bisherige geschichtliche Entwicklung, die Gegenwart und die Zukunftskonzepte der letzten Meile. Lag der Paketversand (vor allem im B2C-Segment) bis noch vor rund 15 Jahren im Dornröschenschlaf, änderte sich dies durch die Verbreitung des Internets und des Online-Handels enorm. Mit den steigenden Paketmengen wuchsen auch die Kundenanforderungen. Das hatte aber nicht den Anstieg der Preise zur Folge – ganz im Gegenteil. Der negative Preis/Mix-Effekt setzt die KEP-Dienstleister unter enormen Druck. Um diesen Unsicherheiten am wachsenden Paketmarkt entgegenwirken zu können, muss der Fokus auf die kundenorientierte Optimierung der letzten Meile gesetzt werden. Der Internationalisierungsgrad der Paketlieferungen in Österreich und die steigenden Interaktionen mit dem Paketempfänger gewinnen ebenfalls immer mehr an Bedeutung. Zukünftig werden nur jene KEP-Dienstleister erfolgreich sein, die sowohl mit dem technologischen Wandel, als auch den erhöhten Anforderungen im Klimaschutz Schritt halten, Entwicklungen vorausahnen und mitbestimmen können. Im Zentrum aller Bemühungen steht die Kundenzufriedenheit, auch wenn die Zahlungsbereitschaft für die Zusatzleistungen der KEP-Dienstleister auf der Empfängerseite noch sehr gering ist. Die Österreichische Post will mit neuen Services insbesondere darauf eingehen. Spezielle Logistiklösungen werden für die wachsenden Ballungsgebiete an Bedeutung gewinnen, da die Nachfrage der Zustellung von Lebensmitteln und Haushaltswaren in den kommenden Jahren einen rasanten Anstieg verzeichnen wird. Aufgrund der steigenden Kundenbedürfnisse und der „24/7“-Services der KEP-Dienstleister wird es künftig zu einer stärkeren Differenzierung der Preisgestaltung für die Zustellung der P. Umundum (*)  Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_13

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P. Umundum

Pakete auf der letzten Meile und zu neuen Pricing-Modellen kommen müssen. Warum die Regionalität immer wichtiger und der Mensch trotz steigender Digitalisierung des täglichen Lebens noch immer die zentrale Rolle entlang der letzten Meile spielen wird, findet am Ende des Beitrags seine Erklärung.

13.1 Die Entwicklung der letzten Meile bis heute 13.1.1 Paketversand explodiert „Die letzte Meile“, ein Begriff, der sich erst seit einigen Jahren in der Logistik etabliert hat, beschreibt den Weg, den ein Paket vom letzten Logistikhub bis zum Endkunden zurücklegt. Schon die alten Ägypter führten Paketzustellungen durch. Seit damals hat sich diese Dienstleistung grundlegend verändert. Mit steigender Bedeutung und Menge der Zustellungen wurden sie im Laufe der Zeit in vielen Ländern weltweit unter staatliche Hoheit gestellt. Aus diesem Grund wurde die Österreichische Post im 18. Jahrhundert gegründet und blieb bis 2006 zu 100 % im staatlichen Eigentum der Republik Österreich. Im Jahr 2006 erfolgte mit dem Börsengang die Umwandlung in eine börsennotierte Aktiengesellschaft. Stand noch seit der Unternehmensgründung im Jahr 1999 bis vor rund zehn Jahren die Zustellung von Briefsendungen im Zentrum, hat sich dies durch den steigenden Einfluss des Internets auf den Warenhandel (E-Commerce) dramatisch geändert – nun gewinnt der Paketversand immer mehr an Bedeutung. Zur Verdeutlichung folgender Vergleich: seit 2003 gingen die rot-weiß-roten Briefsendungen bis zuletzt (Stand 2018) um über 30 % zurück (Tendenz mit rund minus fünf Prozent pro Jahr weiter fallend). Parallel dazu wuchs der Paketversand um über 600 % an (Tendenz mit rund plus zehn Prozent pro Jahr weiter steigend). Heute stellt die Österreichische Post knapp 110 Mio. Pakete pro Jahr zu und nimmt damit in Österreich nach wie vor mit Abstand die führende Rolle ein.

13.1.2 E-Commerce treibt Die Entwicklung der letzten Meile geht Hand in Hand mit dem Wachstum des weltweiten Online-Handels, kurz „E-Commerce“ beziehungsweise „Distanzhandel“ genannt. Wurde früher das klassische Paket unter anderem von der Großmutter als Geburtsgeschenk an das Enkelkind versendet, ist der Paketversand seit einigen Jahren aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Heute können alle Altersgruppen, durch die großen Onlinehändler wie Amazon und Co. und die mobilen Anwendungen angefeuert, ihre Einkäufe bequem über das Internet erledigen. Dies hat in den letzten Jahren auch den Fokus des Paketversands von B2B (Business-to-Business) auf B2C (Business-to-Customer) gedreht. B2C hat 2016 erstmals B2B überholt (Tendenz weiter steigend). Weitere Zahlen unterstreichen diese Entwicklung: Bereits über 60 % aller Österreicher shoppen

13  Die letzte Meile – Königsdisziplin der Logistik

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Abb. 13.1   Entwicklung des österreichischen Paketmarkts in Millionen Stück. (Quelle: Kreutzer, Fischer & Partner, 2019)

online – doppelt so viele als noch eine Dekade davor.1 Das E-Commerce-Wachstum liegt auch in der steigenden Anzahl der gehandelten Warengruppen begründet. Bekleidung und Textilien sind am beliebtesten (30 %), gefolgt von Büchern und Zeitschriften (25 %) und Elektrogeräten (21 %)2. Einer der wesentlichen Treiber war bis heute ohne Zweifel der US-Onlinehändler Amazon, der mit seinem perfektionierten Onlineshop eine immer breitere Produktpalette anbietet und den E-Commerce dermaßen professionalisiert hat, dass er für viele als Benchmark gilt. Aber schon drängt ein weiterer Onlinehändler immer stärker auf den europäischen Markt. Mit Alibaba, dem chinesischen Pedant zu Amazon, schickt sich ein weiterer globaler Player an, in Europa Fuß zu fassen. Im Sog dieser beiden Konzerne wachsen international auch Onlinehändler wie Apple, Otto, JD, Walmart, Tesco oder Dell. Der Distanzhandel wächst dadurch derzeit zehnmal schneller als der stationäre Handel. Die Wachstumszahlen von 2017 in Österreich verdeutlichen dies. Einem Plus von 14,2 % stand ein Plus von nur 1,4 % gegenüber3. Am globalen Einzelhandelsumsatz nimmt E-Commerce derzeit rund zwölf Prozent ein. Bis 2021 wird mit einer weiteren Steigerung auf rund 17,5 % gerechnet4 (Abb. 13.1). Die verstärkten E-Commerce-Umsätze lassen natürlich auch den damit verbundenen Markt der Kurier-, Express- und Paket-Dienstleister (KEP) zunehmen. Doch so lukrativ dies auf den ersten Blick auch erscheinen mag, der boomende Paketmarkt hat bis heute einen negativen Preis/Mix-Effekt. Gründe dafür sind der Konkurrenzdruck und

1KMU/Forschung Austria,

Statistik Austria 2018. 2018. 3BRANCHENRADAR.com Marktanalyse, Handelsverband 2018. 4eMARKETER, Statista 2018. 2KMU/Forschung Austria,

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P. Umundum

die zunehmenden Kundenanforderungen, die sich nicht 1:1 in höheren Preisen niederschlagen. So sank der Umsatz pro Paket aus dem Vergleichsjahr 2013 bis 2017 bei einigen Marktteilnehmern um bis zu 20 % (Abb. 13.2).

13.1.3 Spezialisierung und Flexibilisierung gefragt Mit dem wachsenden Paketmarkt und dem Anstieg der Kundenanforderungen ging gleichzeitig eine Standardisierung im Kernprozess und eine Flexibilisierung mit der first und last mile einher. Allein in der Zustellung wollen die Kunden immer später entscheiden, wo und wann beziehungsweise in welchem Zeitfenster sie ihr Paket übernehmen wollen. Sie wollen „24/7“, das heißt 24 h pro Tag an sieben Tagen der Woche Services in Anspruch nehmen können. Zusätzlich zur Steigerung der Komplexität für die KEP-Dienstleister ist darüber hinaus ein Anstieg von starken saisonalen Paketmengenschwankungen zu verzeichnen. Neben den traditionellen Anlässen wie etwa Weihnachten, Ostern oder Valentinstag führen noch zusätzlich in den letzten Jahren die speziell vom Handel propagierten Online-Aktionstage wie Black Friday, Cyber Monday oder Single’s Day zu punktuellen Spitzenpaketmengen. Um mit diesen Anforderungen umgehen zu können, müssen KEP-Dienstleister auf der letzten Meile, in den Verteilzentren, aber auch auf den Linehauls flexibel sein. Speziell bei den Linehauls und der letzten Meile kann die Flexibilisierung sehr gut mit zusätzlichem Personal und Touren sichergestellt werden. In den Verteilzentren sind hierzu mehrere Blickwinkel zu betrachten.

13.1.3.1 Baulich Die Logistikverteilzentren sind in ihrer Bauweise mit möglichst wenig Trennwänden und ausreichenden Erweiterungsmöglichkeiten zu konzipieren. Darüber hinaus ist auf ein vorausschauendes Logistikflächenmanagement zu achten. Geeignete Logistikflächen sind vor allem in den Ballungsgebieten aufgrund des laufenden Zuzugs und den damit steigenden Wohnbautätigkeiten ein immer rareres Gut. Hier gilt es sich prospektiv in Abhängigkeit der Immobilienpreisentwicklung um adäquate Grundstücksreserven zu kümmern.

Abb. 13.2   Wachsender Paketmarkt mit negativem Preis/Mix. (Quelle: Apex Insight, 2018; Unternehmensinformationen und Broker-Schätzungen, 2018)

13  Die letzte Meile – Königsdisziplin der Logistik

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13.1.3.2 Technisch Um auf Auslastungsspitzen optimal reagieren zu können, müssen auch die Kapazitäten der Maschinenparks in den Logistikverteilzentren entsprechend skalierbar sein. Dies betreffen unter anderem Sorter, Kommissionier- und Palettierungssysteme. 13.1.3.3 Organisatorisch Logistiker benötigen, um ihre Kunden 24/7 bedienen zu können, auf den Bedarf angepasste Schichtmodelle für ihre Mitarbeiter. Zusätzlich gilt es, in Abhängigkeit unter anderem von der gewünschten Lieferzeit oder des Lieferorts das Pricing gemäß abzustimmen (etwa Vormittags-Produktion preislich günstiger anzubieten). Siehe dazu mehr in Abschn. 13.2.3.5.

13.1.4 Die rot-weiß-rote „Paketsenke“ Die Globalisierung der Wirtschaft beeinflusst direkt die internationalen Handelsflüsse inklusive E-Commerce. Die großen internationalen Onlinehändler (wie Amazon, Alibaba oder JD.com) sind praktisch von jedem Ort aus aufrufbar. Damit drängen sie weltweit verstärkt auf die jeweiligen lokalen Märkte. Bereits heute kommen mit steigender Tendenz rund ein Drittel aller in Österreich zugestellten Pakete aus dem Ausland. Bis 2023 wird deren Anteil auf über 40 % ansteigen. Um den immer größer werdenden internationalen Onlinehändlern gewachsen zu sein, schließen sich die KEP-Dienstleister verstärkt zu weltweiten Partnerschaften zusammen. Die Österreichische Post ist dem entsprechend unter anderem in den Netzwerken der UPU (Universal Postal Union) und EPG (E-Parcel Group) vertreten und ist Mitgesellschafter bei internationalen Logistiknetzwerken wie zum Beispiel Eurodis. Historisch war Wien immer schon das Tor nach Osteuropa. Dieses Know-how ist auch heute noch wichtig. Daher liegt der organische und anorganische Wachstumsfokus der Österreichischen Post vor allem in CEE (Central East Europe). Das derzeitige Paketnetzwerk umschließt elf europäische Staaten. Darüber hinaus wird die Österreichische Post durch die steigende Bedeutung der chinesischen Onlinehändler in Europa, ihre Aktivitäten von und nach China verstärken. In diesem Zusammenhang sind unter anderem Optimierung der Verzollung, Kooperation mit China Post und Evaluierung österreichischer Flagship Stores von chinesischen Onlinehändlern geplant. Es ist sehr schwer abzuschätzen, welche Auswirkungen ein Einstieg der großen chinesischen E-Commerce-Dienstleister wie Alibaba und JD.com auf dem europäischen Markt haben kann.

13.1.5 Empfänger lenkt Der Empfänger lenkt und dirigiert immer mehr den Transport der Pakete. Mit Hilfe der mobilen Lösungen via Smartphone ist es möglich, nach erfolgter Bestellung der

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gewünschten Ware, sowohl den Wunschabholort als auch die -zeit zu ändern. Das stellt für alle KEP-Dienstleister schon rein organisatorisch eine große Herausforderung dar. Damit nicht genug, beeinflusst die Kundenbewertung über deren Lieferqualität direkt die Wiederkaufsbereitschaft. Eine Studie des Österreichischen Handelsverbandes5 „Expedition Kunde“ ergab, dass je höher der Kunde mit der Zustellung zufrieden ist, desto höher auch seine Wiederkaufsbereitschaft (siehe dazu Abb. 13.3). Ein wichtiger Erfolgsfaktor dabei ist, eine möglichst hohe Erstzustellquote zu erreichen, das heißt, dass bereits bei der Erstanlieferung der Kunde das Paket in Empfang nehmen kann. Jedes Nichtantreffen des Kunden verzögert die Auslieferung. Somit sind die KEP-Dienstleister bestrebt, möglichst mit dem Kunden in permanentem Kontakt zu sein, um die Anlieferung optimal durchführen zu können (Abb. 13.4). Die Österreichische Post arbeitet seit Beginn des Jahrtausends an der Erhöhung der Erstzustellquote. Lag diese 2008 noch bei 87,7 %, konnte bis 2018 eine Steigerung auf 91,4 % erreicht werden. Ermöglicht wurde dies in erster Linie mit der Verbesserung der Zustellqualität durch unsere Mitarbeiter. Ausschlaggebend dafür ist einerseits eine Mischung aus laufenden Schulungsinitiativen und einer starken Sensibilisierung auf die Qualität, sowie andererseits die Anpassung der Prämiensysteme. Weiters ist aber auch die laufende Weiterentwicklung und Optimierung der eigenen Post App notwendig, die eine direkte Kommunikation mit dem Kunden erleichtert und unter anderem Avisos und Sendungsverfolgungen in Echtzeit ermöglicht. Eine Bestätigung ihrer konsequenten Arbeit erhielt die Österreichische Post 2018 durch die Verleihung des Preises „Logistik-Marke des Jahres“ durch die Int. Wochenzeitung Verkehr. Als Grundlage dafür befragte der Österreichische Handelsverband seine Mitglieder, wer für sie unter den KEP-Dienstleistern die beste Logistik-Marke hinsichtlich Zuverlässigkeit, Kundenfreundlichkeit, Nachhaltigkeit, sozialem Engagement, Innovationskraft und Öffentlichkeitsarbeit ist.

13.2 Zukünftige Trends und Entwicklungen der letzten Meile 13.2.1 Innovation entscheidet Die Anforderungen an die KEP-Dienstleister sind entlang der letzten Meile enorm. Nur wer mit dem technologischen Wandel Schritt hält sowie Entwicklungen vorausahnt und mitbestimmt, wird in diesem umkämpften Markt langfristig reüssieren können. Im Zentrum aller Bemühungen steht die Kundenzufriedenheit, und „24/7“. Wie sich die Paket-Innovationen der Österreichischen Post seit 2013 entwickelt haben zeigt Abb. 13.5. Zwei Kundenanforderungen spielen eine entscheidende Rolle: Zum einen die Vielfalt der unterschiedlichsten Übergabeorte für Pakete (z. B. Selbstbedienungsstationen, Empfangsboxen oder auch am Arbeitsplatz) und zum anderen den

5Pressemitteilung,

7. Juni 2018, Österreichischer Handelsverband.

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Abb. 13.3   Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Wiederkaufsbereitschaft. (Quelle: Expedition Kunde, Handelsverband, 2018)

Abb. 13.4   Die Kunden wollen über die unterschiedlichsten Kontaktpunkte mit dem KEP-Dienstleister in Verbindung treten. (Quelle: Österreichische Post AG)

Wunschzustellzeitpunkt flexibel auszuwählen, von just-in-time, über same day, bis zu Samstag- oder Abendzustellungen. Parallel dazu müssen die Kombinationsmöglichkeiten dieser beiden Kundenanforderungen von den KEP-Dienstleistern in mobilen Services (jederzeit abrufbar via Smartphone) abgebildet werden. Die Zahlungsbereitschaft für Paketzustelldienste ist auf der Empfängerseite derzeit generell gering. Könnten Flatrate-Lösungen die Lösung sein? Die Österreichische Post will dies mit dem neuen Service „AllesPost“ mit Beginn Frühjahr 2019 austesten. Mit diesem komplett neuen Ansatz können bei sämtlichen online-bestellten Paketen die bequemen Last-Mile-Services der Österreichischen Post genutzt werden, und das zu einem jährlichen Fixbetrag. Das Abholen bei unterschiedlichen Paketshops gehört damit der Vergangenheit an. Bereits vor dem offiziellen Start dieser innovativen Kundenlösung verzeichnete die Österreichische Post über 20.000 Voranmeldungen. Der boomende Paketmarkt beflügelt weltweit auch die Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten entlang der letzten Meile. Versuch und Irrtum, Hype und Heilsversprechungen sind dabei oft die Begleiter. So sind zum Bespiel Drohnen nur für einen

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Abb. 13.5   Entwicklungen der Paket-Innovationen. (Quelle: Österreichische Post AG)

sehr beschränkten kleinen Einsatzbereich für die Zustellung geeignet. Zur Veranschaulichung waren von rund 110 Mio. Paketen österreichweit im Jahr 2018 lediglich etwa 20.000 für die Drohnenzustellung geeignet, das entspricht rund 0,02 % des Gesamtmarktes. Andererseits glaube ich an die Zukunft des autonomen Fahrens, wenngleich es derzeit noch schwierig ist, konkrete Einsatzbereiche ausfindig zu machen. Mit Pilotprojekten zum autonomen Zustellroboter und der autonomen Hoflogistik wurden aber bereits echte Testbereiche gefunden. Teilautonome Hilfsaggregate werden den Zustellvorgang bereits sehr bald mehr und mehr optimieren. Vor allem aber in der InhouseLogistik bieten die neuen Konzepte sehr viel Potenzial für eine Realisierbarkeit in naher Zukunft. Auch andere innovative Ansätze haben durchaus größere Chancen, sich auch sehr zeitnah im Praxisbetrieb zu bewähren. So hat die Österreichische Post gemeinsam mit dem Start-up PHS Logistiktechnik zuletzt ein automatisches Paketentladesystem, den „Rapid Unloader“ entwickelt. Die Entladung von Wechselaufbaubrücken oder Lkw konnte dadurch um bis zu 50 % beschleunigt werden.

13.2.2 Nachhaltigkeit gefragt Der weltweite Trend zur Urbanisierung stellt den Klimaschutz vor immer größere Herausforderungen. Ende 2015 haben sich 196 Staaten in Paris dazu bekannt, den Klimawandel zu bremsen. In diesem Zusammenhang ist eine CO2-neutrale Zustellung ein ganz wesentlicher Baustein. Die Österreichische Post hat sich schon vor 2015 dazu bekannt, die CO2-Emissionen ihrer Fahrzeugflotte schrittweise zu reduzieren. Basis dafür ist ein dreistufiges

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Konzept, das auf Ressourcenvermeidung und Effizienzsteigerung, alternative Technologien und Kompensation durch Umweltzertifikate setzt. Damit ist die Österreichische Post Vorreiter der grünen Logistik und stellt auch CO2-neutral zu. Unterstrichen wird dies auch durch die derzeit größte elektrisch betriebene Fahrzeugflotte Österreichs mit rund 1500 E-Fahrzeugen. Das Ergebnis, in Abb. 13.6 dargestellt, mag einige überraschen, aber der Handel im Internet verursacht weniger CO2 als die individuellen Einkäufe der Kunden beim stationären Handel6.

13.2.3 Zukunft beginnt 13.2.3.1 Digitalisierung Die Digitalisierung beeinflusst mittlerweile alle Belange unseres Lebens, sowohl privat als auch beruflich. Das macht natürlich auch vor der Logistik nicht halt. Abb. 13.7 der Universität St. Gallen gibt hier einen ersten Überblick. Predictive Analytics geistert als aktueller Trend durch die Logistik. Hier wird versucht Muster in Daten zu entdecken, um daraus Zukunftsprognosen zu entwickeln. Finanzdienstleister, wie Versicherungen und Banken, verwenden diese vorausschauenden Analysen bereits seit vielen Jahren. Durch die steigende Leistungsfähigkeit der Computer und den Wunsch, alle möglichen Verbesserungspotenziale entlang der Wertschöpfungskette zu nutzen, entdecken nun zunehmend auch Logistiker das Potenzial der Predictive Analytics. Die steigenden Kundenanforderungen hinsichtlich Liefermenge, Lieferort und Lieferzeitpunkt macht beispielsweise eine Personaleinsatzplanung in einem Verteilzentrum derzeit zu einem schwierigen Unterfangen. Mithilfe von Predictive Analytics können zunehmend die Kundendaten dazu genutzt werden, vorausschauende Planungen durchzuführen (inklusive der Berücksichtigung von saisonalen Schwankungen) und durch den laufenden Abgleich mit den Ist-Werten so die Forecast-Daten in ihrer Treffsicherheit zu verbessern. In der Königsdisziplin der Logistik, der letzten Meile werden in den kommenden Jahren neben den unterschiedlichen Zustellkonzepten (von autonomen Zustellfahrzeugen über Drohnen bis Robotics) verschiedene Technologieentwicklungen (wie Doorlock System, Kofferraumzustellung bis zu autonomen Vans) sowie skalierbare Innovationen (etwa Paketboxen und Paketabholstationen) die Entwicklung prägen. Prognosen, welche Technologien sich auf der letzten Meile durchsetzen sind derzeit schwer abschätzbar, da erst der Praxiseinsatz zeigt, welche Prototypen Potenzial haben – unter Laborbedingungen kann die letzte Meile nur schwer simuliert werden. Die Österreichische Post erprobt laufend innovative Zustellmöglichkeiten. Zuletzt wurden unter anderem autonome Zustellungen mittels dem sogenannten „Jetflyer“ erfolgreich in der Grazer Innenstadt getestet (Abb. 13.8).

6Deutsches

Clean-Tech Instiute, Statista 2015.

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Abb. 13.6   Der Handel im Internet verursacht weniger CO2 als vielfach vermutet, wie der Vergleich Paketlogistik zu Individualverkehr zeigt. (Quelle: Deutsches CleanTech Institut, 2015)

13.2.3.2 Citylogistik Die Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen, sowie die Kundenbedürfnisse und -erwartungen hinsichtlich Zustellung verändern sich stetig. In Zukunft werden nur jene KEP-Dienstleister erfolgreich sein, die innovative Zustell-Lösungen für den urbanen Raum anbieten und laufend verbessern. Parallel dazu wachsen die Ballungsgebiete an, und damit auch die Paketliefermengen. Vielerorts werden den sogenannten „White-Label-Lösungen“, bei denen ein neutraler Zusteller die letzte Meile übernimmt, als Heilsbringer gesehen, um das erhöhte Verkehrsaufkommen zu reduzieren. Dies muss kritisch hinterfragt werden, denn schon heute sind die Transporter der KEP-Dienstleister voll ausgelastet – ein Neutraler bräuchte die gleiche Anzahl an Fahrzeugen. Darüber hinaus ist es fraglich, ob ein Monopolist auf der letzten Meile in einer Stadt wünschenswert ist. Erfolgversprechender könnten White-Label-Lösungen hinsichtlich Logistikhubs sein. Hier könnten sich die bestehenden KEP-Dienstleister je nach bei Bedarf neutraler Logistikimmobilien bedienen und so Ressourcen und Kosten teilen. 13.2.3.3 Zustellung von Lebensmitteln/Haushaltswaren In Großbritannien nimmt der Online-Anteil von über das Internet bestellten Lebensmitteln mehr als 20 % ein. In Österreich ist dieser Markt gerade im Aufbau begriffen. Zunehmend nutzen nun auch die großen Lebensmitteleinzelhandelskonzerne den Onlinehandel. Neben Trockenware und Wein werden dabei auch zunehmend Frische- sowie Tiefkühl-Produkte online bestellt. Gerade die temperaturgeführte Zustellung stellt dabei eine besondere Herausforderung dar, gilt es doch die gekühlte Ware über mehrere Stunden auf Temperatur zu halten. Die Österreichische Post testet gerade für diesen Einsatzbereich die sogenannte Tempribox. Das patentierte trockeneisfreie Kühlsystem hält

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Abb. 13.7   Digitalisierungswerkzeuge in der Logistik. (Quelle: Universität St. Gallen, 2018)

minus 18 Grad Celsius über 24 h bei Außentemperaturen von bis zu 50 Grad Celsius. Die Tempribox ist für den Paketversand und den Lieferservice geeignet.

13.2.3.4 Start-up Kultur Junge, innovative Unternehmen sind auch für die Entwicklungen entlang der letzten Meile wichtige Impulsgeber. Oftmals können gerade Branchenfremde die bisherigen Geschäftsmodelle und Technologien durch ihre neutrale Außensicht erfolgreich auf den Kopf stellen und neue Ansätze entwickeln. Etablierte Unternehmen können frische Impulse von außen oft sehr gut brauchen, um dann auch mit den jungen Start-ups gemeinsam neue Entwicklungen voranzubringen. In diesem Zusammenhang ist die Österreichische Post an dem Start-up PHS Logistiktechnik beteiligt. Gemeinsam wurde das Schnellentladesystem Rapid Unloader entwickelt und mittlerweile in den größten Absatzmärkten Europas patentiert. 2016 erfolgte der Proof of Concept, um die Simulationen in der Realität zu verifizieren. Ein Jahr später wurde die PHS Logistiktechnik gegründet. 2018 kam der erste Rapid Unloader unter realen Bedingungen am Österreichischen Post Standort Allhaming zum Einsatz. Ab 2019 folgen weitere Standorte und die internationale Vermarktung. 13.2.3.5 „Logistik hat ihren Wert“ Die großen Online-Shops, die ihre Versandkosten unter anderem in speziellen Kundenprogrammen (wie Amazon Prime) verstecken, suggerieren den Kunden, dass „Logistik nichts wert ist“. Hier sind vor allem die KEP-Dienstleister gefordert, auf ihre Leistungen und ihr Know-how aufmerksam zu machen, um das entsprechende Bewusstsein

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Abb. 13.8   Roadmap nach dem Technologie-Reifegrad. (Quelle: McKinsey & Company, 2018)

beim Kunden zu schaffen. Dies gilt generell für alle Leistungen in der Logistik. Übergeordnete Marketingaktionen können dabei ganz wesentlich dazu beitragen. Hier sei vor allem die neue Dachmarke „Austrian Logistics“ erwähnt, die in Zusammenarbeit vom Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie und den wesentlichsten österreichischen Institutionen und Verbänden in der Logistik entwickelt worden ist. Die Leistungen der Logistik sollen damit national und international stärker wahrgenommen und so das Image der Branche aufgewertet werden. Aufgrund der steigenden Kundenbedürfnisse und des 24/7 Services der KEP-Dienstleister kann es zukünftig zu einer stärkeren Differenzierung der Preisgestaltung für die Zustellung der Pakete auf der letzten Meile kommen. Es wird die Frage zu klären sein, nach welchen Kriterien (abgesehen von Zeitfenster, Wochentag/Wochenende/Feiertag, Ort und Flexibilität der Zustellung) das Pricing erfolgt. Wird es (wie bisher primär üblich) rein gewichtsabhängig oder wird zukünftig auch das Volumen des Pakets ausschlaggebend für den verrechneten Preis an den Kunden sein, oder wird es eine Kombination aus beiden werden? In der Türkei wird bereits von Aras-Kargo nach einem Mischsatz aus Volumen und Gewicht verrechnet. Darüber hinaus werden für bestimmte Kundengruppen, die regelmäßig Pakete empfangen, Flat-fee Modelle für die letzte Meile interessant sein, das heißt mit einem fixen monatlichen Entgelt sind sämtliche Anlieferungskosten abgedeckt.

13.2.3.6 Regionalität gewinnt an Bedeutung Wenn in den großen Ballungsgebieten der Zuzug von neuen Bewohnern weiter anhält (und derzeit sprechen alle Studien dafür), wird sich auch die generelle Verteillogik vielerorts ändern müssen, da die Transportkapazitäten auf den Straßen dafür nicht mehr ausreichen werden. Damit werden die in vielen Branchen bis jetzt organisierten großen

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Zentrallager mit den entsprechenden räumlichen Abständen nicht mehr sinnvoll sein. Es werden dann wieder kleinere regionale Lagerkapazitäten notwendig sein, um zeitlich die gewünschten Transporte durchführen zu können.

13.2.3.7 It’s all about people Die Digitalisierung stellt nicht nur rein technologisch für alle Unternehmen eine große Herausforderung dar. Noch größer ist jene, die jeweiligen Unternehmenskulturen generell und jeden einzelnen Mitarbeiter speziell darauf vorzubereiten. Da jedoch die endgültigen Auswirkungen der Digitalisierung in beispielsweise zehn Jahren, heute nur bedingt vorausgesehen werden können, ist eine klassische Vorbereitung darauf besonders schwer möglich. Dass sich durch die Digitalisierung Prozesse und ganze Geschäftsmodelle teilweise verändern oder sogar wegfallen können, muss allen Beteiligten klar kommuniziert werden. Das Leben mit der Unsicherheit ist dabei eine der größten Herausforderung sowohl für das Management als auch die Mitarbeiter. Ganz wichtig ist auf die Notwendigkeit der Weiterentwicklung hinzuweisen und dass sie nur dann optimal verlaufen kann, wenn sich alle Mitarbeiter in ihrem jeweils möglichen Rahmen daran beteiligen. Auf Jobverlustängste der Mitarbeiter muss eingegangen und offen darüber diskutiert werden. Umschulungs- und Weiterbildungsangebote sind vorab vom Management zu berücksichtigen, um notwendige Umorganisationen möglichst reibungslos durchführen zu können. Gerade die soziale Betreuung der Mitarbeiter ist in Zeiten des Umbruchs entscheidend, um in weiterer Folge auch einen nachhaltigen Erfolg erzielen zu können. Teams sollten grundsätzlich über Einzelkämpfern stehen. Zusätzlich macht der „war for talents“ auch vor der Logistik generell beziehungsweise entlang der letzten Meile nicht halt; jedes Unternehmen buhlt um hochqualifizierte Mitarbeiter. Unternehmen, die strategisch in den Auf- und Ausbau ihres Images als attraktiver Arbeitgeber (oft auch als „Employer Branding“ bezeichnet) investieren, haben hier einen wesentlichen Startvorteil. Spezielle Traineeprogramme und zusätzliche soziale sowie monetäre Leistungen (unter anderem Homeoffice, persönliche Weiterbildungsangebote bzw. Bonus-Systeme) sind noch zusätzliche Pluspunkte. Die Österreichische Post ist sich der Wichtigkeit ihrer Mitarbeiter bewusst und bietet zusätzlich zur standardmäßigen Ausund Weiterbildung unter anderem Praktika, Mentoring für Frauen, Center of Excellence (Expertengruppenaustausch) und gemeinsame Innovationsreisen an. Neu ist nun auch die Lehrlingsinitiative für den Lehrberuf des „Nah- und Distributionslogistikers“.

13.3 Fazit Für die KEP-Dienstleister sind die Marktentwicklungen Segen und Fluch zu gleich. Der boomende E-Commerce lässt auch in den kommenden Jahren ein Wachstum der zu transportierenden Pakete erwarten. Das Online-Bestellen wird für die Kunden immer einfacher und das Produktspektrum wird laufend größer. Parallel dazu steigen auch die Kundenanforderungen hinsichtlich Zeit, Ort und Flexibilität.

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Zukünftig werden nur jene KEP-Dienstleister vom boomenden Paketmarkt profitieren können, die flexibel auf die Markt- und Kundenbewegungen reagieren können. Grundlagen dafür sind die Mitarbeiter, die auf den digitalen Wandel vom Management vorbereitet und unterstützt werden müssen. Gemeinsam gilt es die richtigen Technologien flexibel einzusetzen, um auch auf die saisonalen Paketmengenschwankungen (von Cyber-Monday über Black Friday bis Weihnachten) reagieren zu können. Bereits in vielen Märkten versuchen auch große Online-Händler auf der letzten Meile eigene Zustellnetzwerke aufzubauen. Die Paketdienstleister dürfen sich dabei nicht auf ihrem bisherigen Erfolg ausruhen, sondern müssen ihr spezifisches Know-how weiterentwickeln, die bisherigen Geschäftsmodelle laufend evaluieren und zusätzlich Neues ausprobieren. In diesem Zusammenhang gilt es auch das bisherige Pricing für die Letzte Meile von der KEP-Branche zu überdenken. Nur wenn es gelingt, dem Kunden den Wert der eigenen Leistungen begreiflich und nachvollziehbar zu machen, ist er auch bereit für diese Mehrleistungen zu bezahlen.  ipl.-Ing. Peter Umundum  ist seit 2011 Vorstandsdirektor für die D Division Paket und Logistik der Österreichischen Post AG. Zusätzlich ist er Vorsitzender des Aufsichtsrates des europäischen Transportnetzwerks EURODIS. Nach seinem Studium an der Technischen Universität Graz übernahm er 1988 die Leitung der Organisations- und Informatikabteilung der Steirerbrau AG. 1994 wechselte er als IT-Leiter in die Styria Medien AG und wurde 1996 Geschäftsführer der Tochtergesellschaft Media Consult Austria GmbH. 2001 wurde Peter Umundum Geschäftsführer der Tageszeitung „Die Presse“, und drei Jahre später übernahm er die Geschäftsführung der Tageszeitung „Kleine Zeitung. 2005 wechselte Peter Umundum zur Österreichischen Post AG, wo er als Mitglied der Divisionsleitung Brief für die Bereiche Produktion und Logistik sowie für nationale und internationale Beteiligungen verantwortlich war.

Teil III Zukunftsaufgaben für das Logistikmanagement

Der Weg zum umfassenden Dienstleistungspartner

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Michael Bonnes

Zusammenfassung

Der Trend zur Servicewirtschaft wird sich weiter verstärken. Für Logistikunternehmen bedeutet dies, das eigene Dienstleistungsangebot anzupassen und auszubauen. Als besonders erfolgreich erweist sich dabei eine enge Integration von Logistik- und Serviceleistungen. Grundvoraussetzung für einen solchen Wandel sind jedoch eine strikte Serviceorientierung des Geschäftsmodells, ein aufmerksamer Blick auf die Bedürfnisse des Kunden und eine optimale Nutzung der Personal- und Materialressourcen.

14.1 Deutschland – ewige Servicewüste? Seit Mitte der 1990er Jahre begleitet uns nun schon der Begriff „Servicewüste Deutschland“. Er stand und steht für die sich offenbar immer wieder bestätigende Beobachtung, dass Firmen in Deutschland sich zwar um den Verkauf von Produkten kümmern, nicht aber um kundenfreundliche Dienstleistungen. Drastisch auf den Punkt gebracht hat dies der ehemalige Wirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP), als er sagte: „Wenn ein Deutscher eine Maschine bedient, dann leuchten seine Augen. Wenn er einen Menschen bedienen soll, sträuben sich ihm die Haare.“ Ob und um wieviel die Situation heute besser geworden ist, ist offenbar umstritten. Die beste Antwort auf die Frage: „Wie steht es denn heute in Deutschland mit dem Service?“ lautet wohl: Das kommt drauf an. Rein quantitativ hat sich der Servicesektor ganz sicher

M. Bonnes (*)  Neuss, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_14

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enorm ausgeweitet. Im Zeichen der Digitalisierung sprießen neue Dienstleistungsmodelle fast täglich aus dem Boden. Apps aller Art, Bringdienste, mobile Reparaturservices und so weiter gehören längst zum Alltag, auch in Deutschland. Im B2B-Sektor geht der Trend seit Jahren dahin, die Ressourcen des eigenen Unternehmens auf das Kerngeschäft zu fokussieren, und Prozesse, für die zu wenig eigenes Know-how vorhanden ist, externen Experten als Dienstleister zu übertragen. Ob sich mit der Quantität jedoch auch die Qualität der Services spürbar verbessert hat, lässt sich wohl nicht allgemeingültig feststellen. Allerdings zeigen Umfragen auf der Konsumentenseite nach wie vor eine hohe Unzufriedenheit mit den Services der Unternehmen. So offenbarte eine Studie des Markt- und Meinungsforschungsunternehmens Agamus Research eine klare Bestätigung des Bildes von der Servicewüste: Nur 14 % der Kunden waren mit den Dienstleistungen, die sie nutzten, zufrieden, mit der Bearbeitung von Beschwerden sogar nur vier Prozent. Eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Yougov ergab ein ähnlich eindeutiges Urteil: 71 % der deutschen Verbraucher sehen demnach ihr Land als Servicewüste an. Dabei wählen sie ihre Anbieter ganz besonders wegen deren guter Serviceleistungen aus: 80 % gaben an, dies sei ihnen ein besonders wichtiges Kriterium, geringfügig übertroffen nur noch vom Preis (81 %). Die oft so hoch gehandelten Faktoren Image des Anbieters und das Thema Nachhaltigkeit kamen abgeschlagen auf 60 beziehungsweise 51 %. Da ist es kein Wunder, dass zwei Drittel (67 %) der Befragten angaben, dass sie bereits Anbietern wegen deren schlechten Services den Rücken gekehrt hätten. Interessant ist zudem, dass eine ganze Reihe von Studien belegen, dass der Stellenwert, der dem Service beigemessen wird, umso höher ist, je jünger die Kunden sind. Die nachwachsende Verbrauchergeneration wird somit noch erheblich anspruchsvoller werden als die bisherige – ein unüberhörbarer Weckruf für alle im Dienstleistungssektor tätigen Unternehmen des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Obwohl sich diese Studien am Endverbraucher orientieren, spricht wenig dafür zu vermuten, Anspruch und Wirklichkeit der Dienstleistungsqualität lägen im B2B-Bereich näher beieinander als im B2C-Geschäft. Die anekdotische Evidenz legt nahe, dass sich auch die Mehrheit der Unternehmen einen besseren Service vorstellen könnte.

14.2 Dienstleistung kommt von dienen – und dienen will niemand Fachleute, die sich mit den Ursachen dieser Misere befassen, weisen darauf hin, dass Service nicht „zur DNA“ der deutschen Gesellschaft gehört. Der Begriff Dienstleistung erzeugt in unseren Köpfen offenbar bevorzugt das Bild einer Rangordnung: Oben steht, wer den Ton angibt, der- oder diejenige, dem oder der gedient wird. Unten steht, wer unterwürfig dient. Der Begriff Dienstleistung enthält die unbeliebten Wortbedeutungen „dienen“ und „leisten“. Und wer will schon dienen, Dienste leisten, wenn damit ein miserables Prestige verbunden ist?

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Wie mäßig es um das Ansehen von Services in Deutschland bestellt ist, drückt sich deutlich darin aus, dass Dienstleistungen allgemein schlecht bezahlt werden. Wir sind eine von höchsten Ansprüchen an die Qualität geprägte Gratisgesellschaft geworden, die viel Geld für Produkte ausgibt, aber damit verbundene Services umsonst haben möchte. Onlinekäufe sollen so bequem und schnell wie möglich sein, Lieferung und Rücksendung müssen aber gratis erfolgen – und zwar bis vor die Haustür. Mit dem Kauf eines Produkts meint man in Deutschland offenbar Dienstleistungen in unbegrenztem Ausmaß mit erworben zu haben. Während man im angelsächsischen Raum traditionell einen Service wie ein greifbares Ding behandelt, das Anspruch auf Bezahlung hat, wird er hierzulande wie etwas Immaterielles und damit nur halb reales angesehen, für das man nicht auch noch Geld in die Hand nehmen will. Ein Umdenken in dieser Hinsicht liegt momentan wohl gerade einmal in den Anfängen, und die Dienstleister selbst tragen dazu bei, dass sich hier erst langsam etwas ändert, wenn sie nicht entschlossen guten Service als Mehrwert und damit etwas Geldwertiges kommunizieren. Es mag durchaus sein, dass hierarchische Denktraditionen die Einstellung der Deutschen zum Service stark beeinflussen. Dies würde auch eine Wahrnehmung bestätigen, die wiederum die andere Seite – die Dienstleister – anführen, wenn sie gefragt werden, wie sie die Einstellung der Kunden zu ihrem Service erleben. Sie beklagen nämlich häufig in der Zusammenarbeit mit den Auftraggebern ein hohes Maß an Undankbarkeit und Selbstherrlichkeit. Selbst für eine Übererfüllung der Erwartungen gibt es selten Lob, die Ansprüche dagegen schrauben sich in schwindelnde Höhen. Aus diesen psychologischen Fallen kommen wir nur heraus, wenn die Gesellschaft als Ganzes eine neue Wahrnehmung der Leistungen erlernt, die Serviceunternehmen bieten. Am Ende sollte auf Kundenseite die Erkenntnis stehen, dass Dienstleistungen keine billigen Produktanhängsel sind, sondern anspruchsvolle Tätigkeiten, die Kompetenz und Know-how erfordern und daher durch angemessene Bezahlung und Wertschätzung anerkannt werden müssen. Vielleicht hilft hier der Gedanke etwas weiter, dass so gut wie jeder Mensch und jedes Unternehmen auf irgendeinem Gebiet Dienstleister ist: Auch wer Möbel, Autos oder Kühlschränke herstellt, tut dies aufgrund einer Anforderung von Teilen der Gesellschaft, leistet also einen Service. Lehrer, Polizisten, Handwerker, Automechaniker oder Universitätsprofessoren – auf der Imageleiter der Bevölkerung allesamt erheblich über den typischerweise als Serviceberufe aufgefassten Gruppen – bieten erst recht Dienstleistungen an, die hoch im Kurs stehen und gut bezahlt werden. Doch die Dienstleister müssen ebenso an ihrer Einstellung zum Servicegedanken arbeiten. Aus einer Haltung des Selbstbewusstseins hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten heraus müssen sie Bedürfnisse und Wünsche des Kunden als Ansporn zu maximaler Leistung verstehen, die nicht von Gedanken wie „Jetzt muss ich da auch noch hin.“ getrieben wird, sondern von der Freude daran, Menschen zufrieden zu stellen und perfekte Arbeit abzuliefern. Damit wird klar, dass nicht jeder Mensch sich zum guten Dienstleister eignet. Nicht jeder hat den Service „im Blut“, oder – wie man heute besser sagt – in seiner DNA.

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Die österreichische Unternehmensberaterin und Spezialistin für Kundenservice Sabine Hübner drückt es so aus: „Service ist kein Projekt, Service ist eine Haltung.“ Eine Service-DNA führt zu einem Geschäftsverständnis, das die Welt mit den Augen des realen oder potenziellen Kunden sieht – nur ohne dessen zwangsläufige Betriebsblindheit. Die Businessphilosophie hat nicht die Reaktion auf Anforderungen von außen zum Hauptinhalt, sondern pflegt eine umfassendere Sicht auf den Kunden, die Fragen stellt wie: Welche erweiterten Bedürfnisse hat der Kunde? Wo könnte er besser werden, sieht es aber selbst gar nicht? Welche Produkte und Services, die er noch gar nicht ins Auge gefasst hat, könnten ihm von Nutzen sein? Wie kann der objektivere Blick von außen dem Kunden neue Perspektiven und Ideen vermitteln? Auf der Basis dieser Offenheit für die Welt des Kunden lassen sich die Fundamente für das Etablieren erfolgreicher Dienstleistungsmodelle legen. Das Know-how kommt jedoch nicht von allein, und es lässt sich auch nicht in theoretischen Kursen erwerben. Es muss sich im eigenen Unternehmen aufbauen, in der Art, wie die Bedürfnisse der eigenen Abteilungen als Serviceaufforderung begriffen und bedient werden. Und es wird in Kundenprojekten gestärkt und vertieft. Die Erfahrung auf beiden Ebenen führt zu einer ständigen Verbesserung und Ausweitung der Fähigkeiten und Kompetenzen, die wiederum den Auftraggebern zugute kommen.

14.3 Der Dienstleistungsmarkt ist in ständiger Bewegung Eine neue Einstellung zum Thema Service ist die Voraussetzung für das wirtschaftliche Überleben von Unternehmen aller Branchen in einem zunehmend von Dienstleistungen geprägten Marktumfeld. Dies allein reicht jedoch nicht aus, denn der Servicemarkt ist durch vielerlei Trends stark in Bewegung gekommen, was von den Marktteilnehmern ein hohes Maß an Flexibilität und Agilität verlangt. Während bisher das Entwickeln von Servicemodellen dem Landen eines Hubschraubers auf einer festen Piste glich, verlangt die Dynamik künftiger Märkte nach einer Landung auf einem Zickzack-fahrenden Flugzeugträger bei hohem Seegang. Dabei schneidet derjenige Pilot am besten ab, der Bewegungen vorhersieht und sich ihnen optimal anpasst, beispielsweise indem er die Unterstützung der Trendwindrichtung schnell und clever ausnützt. Der Faktor Veränderung des Marktumfelds wird in den nächsten Jahrzehnten noch drastisch an Gewicht zulegen. Eine besonders große Herausforderung schafft dies für die Unternehmen in den Branchen Logistik und allgemeine Dienstleistungen, denn sie sind im Gegensatz etwa zu rein handwerklichen Services auf eine Infrastruktur und politische Rahmenbedingungen angewiesen, deren Qualität beziehungsweise Inhalte sie nicht selbst in der Hand haben. Sie sind auch dann von internationalen Situationen beeinflusst, wenn sie nur innerhalb Deutschlands agieren – die Handelsstreitigkeiten mit China sind dafür Anhaltspunkt genug: Die Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft fördert hierzulande die Grippe, wenn China hustet.

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Doch die Logistik und der mit ihr verbundene Servicesektor werden noch von vielen weiteren Einflussfaktoren unter Veränderungsdruck gesetzt. Die Bundesvereinigung Logistik (BVL) hat in einer umfassenden Studie die wichtigsten Bewegungsgrößen analysiert. Zu den von außen auf die Unternehmen einwirkenden Faktoren gehören: Kostendruck, Individualisierung, Komplexität, Nachfrageschwankungen, Personalmangel, Nachhaltigkeitsanforderungen, staatliche Regulierung/Compliance, Risiken/ Unterbrechungen sowie ein sich stetig veränderndes Käuferverhalten. Die meisten dieser Aspekte sind in sich wiederum variabel, nur wenige üben einen mehr oder weniger konstanten Druck aus, mit dem sich planerisch umgehen lässt, etwa Kostendruck und Personalmangel. Fast all diese Einflüsse gelten allgemein für den Dienstleistungssektor, wie die jährlichen Studien zu Servicetrends des Kundendienstverbands Deutschland (KVD) nahelegen. Einige der genannten Treibriemen für die Logistik- und Serviceunternehmen werden seit Jahren durch die Globalisierung der Märkte verstärkt, die den Wettbewerbsdruck erhöht und gleichzeitig neue Wachstumschancen durch weltweit steigende Warenströme und global vereinheitlichte Dienstleistungsmodelle generiert. Die Nachfrage nach Logistik- und Service-Know-how hat sich dadurch stark ausgeweitet. Aufseiten der Logistik verlangen Kunden nach immer mehr Leistungen, die über den Transport hinausgehen, aber ohne Logistikwissen nicht umsetzbar sind. Logistikunternehmen, die mit ihrer speziellen Kompetenz über den Transport hinaus Mehrwert-Services anbieten können, sind dadurch im Vorteil gegenüber Unternehmen, die Zusatzdienste beherrschen, aber wenig Praxiserfahrung als Spediteure aufweisen. Dies hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass traditionelle Transportunternehmen erweiterte Dienstleistungen übernehmen, beispielsweise die Abwicklung von Retouren, die Montage von transportierten Gütern (etwa Möbeln) oder das Etikettieren von Waren. Diese Entwicklung brachte und bringt weiterhin zwei gegenläufige Trends in Bewegung: Einerseits gibt es Logistikunternehmen, die ihre Kernkompetenz als Transporteure immer weiter vertiefen und so zum gefragten Spezialisten auf diesem Gebiet werden. Andererseits wächst die Zahl der Logistiker, die um ihr Kerngeschäft herum einen wachsenden Dienstleistungssektor aufbauen. Hoch spezialisierte Einzeldienstleister sind nur von einem begrenzten Kundenkreis gefragt, insbesondere solchen, die ganz spezielle Logistikanforderungen haben. Dieses Marktsegment ist relativ begrenzt, allerdings für Unternehmen, die sich etabliert haben, durchaus lukrativ: Die Kunden können nicht zu beliebigen Wettbewerbern wechseln. Dadurch entstehen schnell Abhängigkeiten, die Kunden entsprechend eng an den Dienstleister binden. Wechselnden Bedarf nach umfassenderen Leistungen als den reinen Transport von A nach B decken Unternehmen mit flexiblen Verbunddienstleistern, die die optimale Logistikleistung durch Zusammenstellung der Dienste eines variablen Verbunds von Serviceanbietern erbringen. Verbundpartner stehen daher vor der Herausforderung, mit besonderen Services im Wettbewerb mithalten zu können.

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Im Zeitalter globalisierter Wertschöpfungsnetzwerke steigt die Nachfrage nach FullService-Angeboten, bei denen möglichst viele zusammenhängende Prozessketten in die Verantwortung eines Allrounders gelegt werden. Ein solcher Anbieter übernimmt als Systemdienstleister nicht nur den gesamten Logistikablauf (also insbesondere Transport, Lagerung, Umschlag), sondern meistens noch viele weitere Added-Value-Prozesse, die im Zusammenspiel der Transportprozesse eine Rolle spielen. Dazu gehören beispielsweise IT-Dienste, Personal- oder Finanzdienstleistungen, in zunehmendem Maß aber auch Verpackungsaufgaben und andere Prozesse, die nicht zum Kerngeschäft des Kunden gehören. Hier können nur Player erfolgreich mitspielen, die im Laufe der Jahre umfassende Kompetenzen aufgebaut oder zugekauft haben. Auch in diesem Fall kann das Resultat der vertraglichen Übereinkunft zu einer langfristigen Kundenbeziehung und einer engen Prozessverschmelzung führen. Allgemeine Dienstleister wiederum werden jenseits der Logistikanforderungen durch die zunehmende Integration der einzelnen Player der Wertschöpfungskette getrieben. Bereits in die Produktion werden immer mehr Services einbezogen. Zulieferung, Wartung des Maschinenparks und IT- beziehungsweise Softwareunterstützung sind die bedeutendsten Serviceaktivitäten in diesem Bereich. Zu den der Produktion folgenden Diensten gehören (neben der Auslieferung) Finanzleistungen, Marketingunterstützung sowie Wartungs- und Reparaturaufgaben. Prinzipiell sind dies traditionelle Wertschöpfungsprozesse. Sie werden aber durch die rasante Digitalisierung massiv transformiert. Aus Services müssen zunehmend „Smart Services“ werden, die im Industrie 4.0-Zeitalter eine Integration aus Produktionsservices, physischen Dienstleistungen und digitalen Unterstützungsdiensten erfordern. Dies übt auf den Dienstleistungssektor einen hohen Innovationsdruck aus – nicht nur auf Technologieebene, sondern auch im organisatorischen und personellen Bereich. Die Einführung von digitalisierten Prozessen im eigenen Unternehmen ist Voraussetzung für erfolgreiche Serviceleistungen beim Kunden. Neue, insbesondere internetbasierte Geschäftsmodelle sind zu einem unverzichtbaren Instrument moderner Serviceanbieter geworden. Online-Services, Apps, digitale Analysedienste in den Bereichen Produktion, Marketing und Controlling und eine immer stärkere Vernetzung von Kommunikation und Datenaustausch der Unternehmen und Wertschöpfungspartner sind inzwischen Standard im Dienstleistungsgewerbe. Die Folgen für Servicebetriebe fasst das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie in einem Resümee zu verschiedenen Studien so zusammen: „Diese Entwicklungen bringen viele Chancen, aber auch Herausforderungen für die Unternehmen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit sich. Denn die Digitalisierung ermöglicht es den Dienstleistungsunternehmen, innovativ zu werden und ihre Leistungen noch mehr auf den Kunden abzustimmen. Es bedeutet für die Unternehmen aber auch, sich die notwendigen Kompetenzen aneignen zu müssen, um weiter im Markt bestehen zu können.“ (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2019). Ob Logistik- oder allgemeine Services: Die Anforderungen an Unternehmen und Mitarbeiter steigen ständig an. Dazu stellt die KVD-Service-Studie 2016 fest, dass die

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Arbeit im Service immer komplexer und stärker vernetzt wird. Was dies für die Mitarbeiter bedeutet führt die Studie so aus: „Den stärksten Bedeutungszuwachs verzeichnen die Kompetenzen Vernetztes Denken und Handeln sowie Datenanalyse und -auswertung. Dies verdeutlicht, dass die Servicetechniker in Zukunft weniger dezidierte Spezialisierungen in ihrem Aufgabenfeld haben, sondern vielmehr ein höheres Kompetenzniveau bieten müssen.“ Zusammenfassend stellen die Analysten im Management Summary fest, „dass die zukünftigen Arbeitswelten durch neue Trends und Technologien eine starke Veränderung erfahren. Die Mitarbeiter im Service arbeiten zunehmend selbstorganisiert. Die Bedeutung von weichen Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit und Vertriebskenntnissen steigt. Dies geht einher mit einer zunehmenden Komplexität und Vernetzung der Aufgaben im Service.“ (Optehostert und Jussen 2016).

14.4 Nicht alle, aber viele Wege führen nach Rom Für deutsche Logistik- und Serviceunternehmen jeder Größenordnung ist die Internationalisierung der Märkte bis in regionale Nischen spürbar. Der Wettbewerbsdruck steigt durch Zunahme von Konkurrenten, die nicht nur Marktanteile erobern, sondern auch die ohnehin angespannte Fachkräftesituation verschärfen. Die Digitalisierung, insbesondere das Entstehen des Internets der Dinge (IoT) mit der kompletten Vernetzung digitaler Gegenstände im globalen Maßstab, verstärkt die Trends noch: Services wie Wartung oder Verbrauchsmittellieferungen müssen zunehmend aus weiter Ferne organisiert werden. Damit wird die Fähigkeit zum Wandel, zu Flexibilisierung und Reaktionsschnelligkeit, zur immer neuen Anpassung von Geschäftsmodellen und Strategien für die Unternehmen der Logistikindustrie zum entscheidenden Erfolgskriterium. Auf die Herausforderungen des Marktes muss jedes Unternehmen aus seiner individuellen Marktposition heraus eigenständige Antworten und Strategien finden. Die Betriebe verfolgen demgemäß ganz unterschiedliche Wege, um dieser für manche von ihnen durchaus existenzbedrohlichen Lage zu begegnen. Zu diesen Wegen gehört eine umfassende Digitalisierung und Automatisierung, um Prozesse zu beschleunigen, Personal für das Kerngeschäft freizusetzen und Service- und Geschäftsmodelle anbieten zu können. Kooperationen, die Synergien erschließen, sind ein weiterer Weg, die Stellung im Markt zu stärken, allerdings nur dann, wenn vertraglich Kunden- und Gebietsschutz garantiert sind. Ein dritter Weg zur Sicherung der Marktposition ist die Stärkung und Erweiterung des eigenen Kompetenzspektrums. Dies erlaubt eine Ausweitung des Dienstleistungsangebots, was angesichts der stark zunehmenden Tendenz zum Outsourcing auf Kundenseite ein attraktives Verkaufsargument ist. Dies alles ist jedoch nur eine Seite der Dienstleistungsmedaille. Die andere ist die Anhebung der Servicequalität. Wenn uns Deutschen der Service „nicht im Blut liegt“, wie können wir trotzdem lernen, besser zu werden, und zwar nicht nur ein bisschen,

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sondern so signifikant, dass wir mit dem Standard von typisch serviceorientierten Kulturen mithalten können? Hauptvoraussetzung für eine Verbesserung der Situation ist Mitarbeiterschulung und – training in Themenfeldern wie freundlicher und höflicher Kundenansprache und dem Aufbau tragfähiger Beziehungen zu Kundenmitarbeitern. Vor allem aber gilt es, ein nachhaltiges Bewusstsein für die Bedeutung des Servicegedankens zu schaffen. Wichtige Gesichtspunkte in diesem Zusammenhang sind weiterhin Informationen über den Kunden und Schnelligkeit im Umsetzen von Dienstleistungsideen. Erfahrungen und Wissen über die Bedürfnisse des Kunden werden auf vielen Ebenen gesammelt, aber allzu oft nicht umfassend genug genutzt. Häufig liegen ganz nah beim aktuell beauftragten Service weitere Möglichkeiten, Dienste anzubieten. Dabei ist es hilfreich, sich vom reinen Reagieren zum proaktiven Handeln hinzubewegen. Im Kontakt von Vertriebsmitarbeitern mit den Ansprechpartnern beim Kunden ergeben sich immer wieder Gelegenheiten, genau hinzuhören und die passenden Fragen zu stellen, um möglicherweise weitere Serviceleistungen ins Spiel bringen zu können. Ist der Kundenbedarf aufgenommen, könnte eine Lösung aus dem Portfolio angeboten oder – in Ausweitung des Leistungsspektrums – neu entwickelt werden. Eine enge Kommunikation mit dem Kunden birgt damit stets Chancen, neue Geschäftsideen zu generieren und umzusetzen. Der Erfolg solcher Strategien ist umso größer, je breiter das Kompetenzspektrum eines Dienstleisters ist. Die Ausweitung des Know-hows ist somit immer vorteilhaft. Logistikdienstleister verfügen häufig bereits über erhebliche Kompetenzen jenseits von reinen Transportaufgaben: moderne IT-Systeme, handwerkliche Fähigkeiten der Mitarbeiter, die es gewöhnt sind, ausgelieferte Teile vor Ort zu montieren, Organisations-Know-how für Ersatzteilversorgung, Dispositionserfahrung und so weiter. Kreative Ideen, diese Expertise zu nutzen, können aus Transportdienstleistern breit aufgestellte Serviceunternehmen machen.

14.5 Vom Servicelogistiker zum Servicepartner Einen solchen Weg ist das Unternehmen LPR gegangen, das sich daher als gutes Beispiel für die Umorientierung von Logistikern zum umfassenden Servicepartner für die Industrie heranziehen lässt. Als 1988 Wolfgang Rossmanith den Grundstein der LPR als Kleinunternehmen im Transportbereich legte, war die Metamorphose in das heute serviceorientierte Dienstleistungsunternehmen nicht abzusehen. Heute, rund 30 Jahre später, sieht das Marktumfeld gänzlich anders aus als zur Zeit vor dem Mauerfall und dem Zerfall des kommunistischen Ostblocks. Globalisierung, Digitalisierung und der Trend zur Diversifizierung von Unternehmen waren noch gar nicht sichtbar. Trotzdem waren zu diesem Zeitpunkt bereits stark wachsende Forderungen nach mehr und besseren Dienstleistungen zu beobachten.

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In den Anfangsjahren um die Zeit der Wende konzentrierte sich das Geschäftsmodell der LPR rein auf den Transport von Sonderfahrten sowie die Rückholung von Drucktechnik und -zubehör – anfänglich nur für einen Kunden, im weiteren Verlauf für weitere Kunden aus der Region, die sich in großen Teilen bis heute im Kundenstamm der LPR wiederfinden. Die sehr transportzentrierte Ausgangssituation in der stark serviceorientierten und serviceabhängigen Branche führte dazu, dass weitere Dienstleistungsbereiche, wie beispielsweise Gerätetransporte, in das Portfolio aufgenommen wurden. Zu diesem Zeitpunkt standen dem jungen Unternehmen prinzipiell zwei Entwicklungswege offen: Entweder die Konzentration auf das Kerngeschäft – damit wäre die LPR ein reiner Transport- und Logistikdienstleister geblieben. Oder aber eine breite Aufstellung und somit die Verfolgung der Strategie der Spezialisierung sowie der Differenzierung. Aus heutiger Sicht entschied man sich schließlich für das erfolgreichere Modell, den zweiten Weg. Nach wenigen Jahren unternahm die LPR die ersten Schritte vom reinen Transportunternehmen in Richtung eines Servicelogistikers: Der Aufbau eines bundesweiten Netzwerkes zur nächtlichen Belieferung von Servicetechnikern in den Fahrzeugkofferraum (Nachtexpress) für den ersten Großkunden war der Anfang eines heute europaweiten Service- und Logistiknetzwerks. Durch die klare Eingrenzung des Produkts Nachtexpress auf die qualitativ anspruchsvolle Welt der Servicetechnik konnte die LPR in den Folgejahren zahlreiche weitere Kunden erfolgreich in dieses Logistiknetzwerk integrieren. Frühzeitig erkannte das LPR-Management, dass die Fokussierung auf wenige Dienstleistungen auf Dauer wenig erfolgversprechend war. Angesichts der Nähe zum Kunden lag es daher nahe, das Service-Angebot auszubauen. So wurde das bestehende Logistiknetzwerk um das Produkt Tagexpress mit technischer Dienstleistung (sogenannte Value-Add-Services) erweitert. Dabei übernehmen auf die jeweiligen Kundenprodukte geschulte Fahrer Dienstleistungen, die über die logistischen Tätigkeiten (Lieferung und Abholung) hinausgehen, wie Wartung und Reparaturen, zu denen keine Spezialwerkzeuge benötigt werden. Innerhalb weniger Monate erwies sich das neue Angebot sowohl für die Bestandskunden als auch für neu beworbene und erschlossene Kunden als attraktiv, da so insbesondere die Kosten für derartige Dienste reduziert werden konnten. Die Bedürfnisse der Kunden erforderten sowohl Transport- als auch Reparatur- und Wartungsprozesse. Die Suche nach einer Verbesserung der Servicequalität durch Verkürzung der Reaktions- und Lieferzeiten regte die LPR-Führung zu einer erneuten Ausweitung des Service-Portfolios an. Es wurden eine Reihe von Warehouse-Aktivitäten eingeführt, die den sensiblen Anforderungen der Servicebranche entsprachen. Am Hauptsitz der LPR in Neuss investierte das Unternehmen in ein umfangreiches Service-Ersatzteillager. Von hier aus können die eigenen Service-Mitarbeiter und die Kunden schnell und präzise mit Ersatzteilen und anderen Materialien versorgt werden. Waren die Unternehmensaktivitäten anfangs auf rein logistische Aufgaben zugeschnitten, so kamen nun immer mehr technische Dienstleistungen hinzu. Mit der Einrichtung eines Repaircenters in Neuss wandelte sich der Charakter der LPR zu einem kombinierten Logistik- und Servicedienstleister.

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Das Marktumfeld verlangte zu dieser Zeit (um das Jahr 2000) eine weitere Ausweitung technischer Services und damit auch von LPR eine Erweiterung des Technikerstabes. Mit der Übernahme von Außendiensttechnikern von einem langjährigen Kunden kam man bei der LPR dieser Anforderung nach. Neben logistischen und technischen Dienstleistungen konnte nun auch die gesamte Bandbreite der von den Kunden geforderten technischen Services abgebildet werden. Die Erkenntnis, dass eine vertiefte Verzahnung des Service-Außendiensts mit den Kunden Qualität, Flexibilität und Schnelligkeit der Dienste erhöhen würde, zog die Aufsetzung einer technischen Hotline sowie eines technischen Helpdesks nach sich, die gemeinsam mit einer Reihe von Kunden implementiert wurden und die Service-Kompetenz weiter ausbauten. Die neuen Möglichkeiten des Internet blieben nicht ohne Einfluss auf die Warehouse-Strategie der LPR. Waren bis 2005 die Kernaktivitäten reine Logistikdienstleistungen, begann das Unternehmen sich danach als Ersatzteildistributor für verschiedene Kunden aufzustellen, einschließlich Webshop und Kundenservice. Dabei blieb das Logistikgeschäft jedoch nicht zurück. Durch die erfolgreiche Übernahme und Integration des Nachtexpress-Netzwerks von UPS SCS erweiterte sich das Leistungsspektrum um qualitativ hochwertige Services aus der IT- und Medizintechnikbranche. Das hohe Wachstum der folgenden Jahre sowie der allgemeine Trend zur Globalisierung führten in der Folgezeit fast automatisch zur Europäisierung des Servicegeschäfts. Gemeinsam mit ähnlich strukturierten Service- und Logistikunternehmen wurde 2011 die European Service-Logistics Association ESLA gegründet. Im Rahmen dieses Verbunds erreicht das Logistiknetzwerk der LPR inzwischen 24 Länder auf dem europäischen Kontinent. Bis heute kamen eine ganze Reihe weitere Dienstleistungen hinzu, insbesondere PickUp DropOff (PUDO ©)- und FSL-Lösungen. Im Bedarfsfall, wenn besondere Transportaufgaben erwünscht sind, werden mit dem Kunden individuell zugeschnittene Lösungen aufgesetzt. Die Servicesparte wird ebenso weiter ausgebaut: Das technische Helpdesk (das die Grundlage für ein Portfolio von Remote Services bildet), vor Ort stationierte Servicetechniker, unterstützende Servicetechniker bei Kunden-Roll-Outs oder -Umzügen sind Servicebereiche, die das bisherige Außendienstgeschäft erweitern. Die Entwicklung der LPR führte innerhalb der letzten 30 Jahre von einem klassischen Kleinunternehmen im Transportbereich zu einer serviceorientierten Dienstleistergruppe. Das wichtigste Merkmal der gegenwärtigen Strategie ist eine intelligente Vernetzung der unterschiedlichsten LPR-Services mit den vielfältigen Anforderungen der Kunden. Dieser Überblick verdeutlicht an einem einleuchtenden Beispiel die wesentlichen Entwicklungsschritte, die Unternehmen auf dem Weg vom reinen Logistiker zum Service-orientierten Dienstleistungspartner unternehmen können. Sie beruhen auf einer Reihe von Gesichtspunkten, die allgemeingültig sind und die sich bei vielen erfolgreichen Serviceunternehmen wiederfinden lassen.

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14.6 Kompetenz, Kundenorientierung und ein waches Auge Die bewusste, frühzeitige Festlegung der LPR auf die Verfolgung einer dezidierten Servicestrategie war ein generell wichtiger Schritt: Sie führte zu einer tiefgreifenden Orientierung hin zum Dienstleistungsgedanken, bei dem der Kunde im Mittelpunkt steht, und alle Mitarbeiter mit der Service-DNA „geimpft“ werden. Dies führt zu einem wachen Blick auf die Prozesse des Kunden, mit dem sich Bedarfe identifizieren lassen, welche wiederum zu neuen Serviceoptionen führen. Dabei ist es wichtig, nicht vorschnell ein Bedürfnis als vom eigenen Unternehmen unerfüllbar abzulehnen. Das Motto sollte lauten: Nichts ist unmöglich – eine Absage an einen Kunden ist in keiner Hinsicht förderlich. Vielmehr sollten alle Ressourcen (beispielsweise auch Beziehungen zu Partnerunternehmen) genutzt werden, damit der Kunde sicher sein kann, dass ihm in jedem Fall geholfen wird. Mit offenen Augen die Kundensituation betrachten und Verbesserungsmöglichkeiten erkennen, auf die der Kunde selbst nicht gekommen wäre, sind bedeutende Elemente des Erfolgs. „Gib den Menschen nicht, was sie wollen, gib ihnen, wovon sie nie zu träumen wagten.“, sagte die amerikanische Kolumnistin Diana Vreeland treffend. Mit Intelligenz und pragmatischem Denken ist dies in jedem Maßstab anwendbar. So können Projekte entstehen, bei denen Kunde und Serviceunternehmen gemeinsam neue Lösungen entwickeln. Die LPR konnte in der Vergangenheit häufig aus eigenem Antrieb Kundenanforderungen entwickeln und etablieren. Gleichzeitig geht es darum, die eigenen Prozesse nach neuen Optionen zu durchsuchen. Welche Möglichkeiten habe ich mit den vorhandenen Ressourcen noch?, lässt sich fragen. Und wie nutze ich das umfangreiche Kundenwissen meiner – im Beispiel LPR – 250 Servicetechniker für eine Erweiterung meines Dienstleistungsspektrums? Ein klarer Blick auf die eigenen Dienstleistungsressourcen ermöglicht es, deren Potenzial optimal zu nutzen. Das bedeutet beispielsweise, dass häufig Montage, Aufbau oder Anschließen von gelieferten Geräten mit erledigt werden – was das Logistikteam zum Serviceteam macht. Warum ein technisches Gerät, das eben geliefert wurde, nicht auch gleich anschließen und testen? Entscheidend dafür, dass dieses Konzept funktioniert, ist natürlich eine entsprechende Ausbildung des Personals. In diesem Zusammenhang lassen sich drei Ebenen definieren: Absolute Spezialisten, die meist mit den Herstellern verbunden sind und daher deren oft komplexe Produkte (etwa medizintechnische Geräte) in- und auswendig kennen müssen. Bei der LPR folgt darauf die Ebene der Service-Allrounder, die sich sehr breit mit technischen Produkten auskennen und daher unterschiedlichste Geräte reparieren, warten oder installieren können, sowie die Ebene der Service-Logistiker, die alle Tätigkeiten ausführen können, die keine Spezialwerkzeuge verlangen, wie etwa das Anschließen und Betriebsbereitmachen von technischen Geräten und Ausrüstungen. Die unterschiedlichen Tätigkeitsfelder (Logistik und allgemeine Services) lassen sich allgemein über eine einzige organisatorische Einheit steuern, denn die Disposition

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von Logistiktouren unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Planung von Servicefahrten. Neben der Situation des Kunden ist auch die Marktsituation eine Chance zur Ausweitung des Geschäfts und zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Veränderungen im Markt, aus welchem Grund auch immer, können zum eigenen Vorteil genutzt werden, wenn die Trends frühzeitig erkannt werden und die Reaktionsgeschwindigkeit hoch genug ist – besser noch: wenn der Veränderung proaktiv begegnet wird. Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt sich am Beispiel LPR: Die LPR Gruppe gründete 2017 den Unternehmensbereich LPR Energy, der sich mit Infrastrukturdienstleistungen für Energie- und Versorgungsunternehmen beziehungsweise Kommunen beschäftigt. 2018 folgte die Gründung des Unternehmensbereichs LPR IT-Solutions, um IT-Dienstleistungen unabhängig von der operativen LPR-Organisation am Markt anzubieten. Beide Gründungen waren Antworten auf Markttrends: einerseits den komplexen Veränderungen auf dem Energiesektor durch die verschiedensten Aspekte der Energiewende, andererseits der wachsenden Nachfrage nach IT-Services im Gefolge der zunehmenden Digitalisierung aller Ebenen von Wirtschaft und Industrie.

14.7 Fazit Die LPR hat in den letzten Jahrzehnten ein Geflecht aus Logistik und allgemeinen Services aufgebaut, welches sich gegenseitig stützt und befruchtet. Die Dienstleistungs-DNA, also das Bedürfnis, als Serviceunternehmen noch besser zu werden, führt zu Prozessoptimierungen innerhalb des Unternehmens, die wiederum in die Logistikdienste einfließen und umgekehrt. Die Qualitätssteigerung im eigenen Unternehmen und das dabei aus eigenem Antrieb gesammelte Know-how kommen somit den Kunden zugute. Die entwickelten Services nutzen der LPR ebenso wie ihren Kunden. Dabei stehen diese unterschiedlichen Dienstleistungen nicht wie Katalogpositionen nebeneinander, sondern werden auf intelligente Weise dynamisch miteinander vernetzt, eine Konstruktion, für die die LPR den Begriff „The intelligent link“ geprägt hat (Abb. 14.1). Der von der LPR gewählte Weg ist einer von vielen möglichen, die Unternehmen je nach individueller Struktur und Know-how-Basis einschlagen können. Eines aber ist klar: Die Antwort von Unternehmen auf die steigenden Serviceanforderungen sollte einen intensiven Blick auf den Markt und seine Veränderungen, die Bedarfslage der Kunden und die (oft nicht in vollem Umfang wahrgenommenen) Potenziale der eigenen Ressourcen beinhalten. In der Logistikindustrie ist es (abgesehen von hoch auf Transport spezialisierten Geschäftsmodellen) besonders wichtig, das Logistikgeschäft um Zusatzservices zu erweitern. Den Weg, der dabei zum Erfolg führt, weisen Marktsituation, Kundenbedürfnisse und eigene Dienstleistungsfähigkeiten.

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Abb. 14.1   LPR_digitale Vernetzung_RZ_SW. The intelligent link: Die dynamische Vernetzung der Servicewelten der LPR. (Quelle: LPR)

Literatur Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Dienstleistungen sichtbar gemacht: Zahlen und Trends auf einen Blick. https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Mittelstand/dienstleistungswirtschaft-01-zahlen-trends.html. Zugegriffen: 12. Febr. 2019 Optehostert, F., Jussen, P.: KVD-Service-Studie 2016: „Mensch und Technologie – neue Herausforderungen im Kontext der Industrie 4.0“. Hrsg.: Günther Schuh, Gerhard Gudergan, Markus Schröder, Volker Stich, FIR an der RWTH Aachen

Michael Bonnes ist seit 1996 an der Steuerung der Entwicklung der LPR beteiligt. Nach der Ausbildung führte sein Weg über die Transportlogistik und den technischen Service in verantwortungsvolle Managementfunktionen. Mit der unternehmensweiten Implementierung von SAP als führendes ERP-System innerhalb der LPR wurde Michael Bonnes 2009 Mitglied der Geschäftsleitung mit Schwerpunkt Logistik und IT. Michael Bonnes war maßgeblich an der Integration des Netzwerks der UPS-SCS in das LPR-Logistiknetzwerk beteiligt. Gleichzeitig schloss er ein Logistikstudium am BVL Campus in Bremen ab. Seit 2011 koordiniert Michael Bonnes als Chairman der ESLA (European Service and Logistics Association) die strategischen Entwicklungen der Organisation. Seit 2014 ist er Geschäftsführer der LPR. Neben Mitgliedschaften im BVL, KVD, Logistikregion Rheinland ist Michael Bonnes aktives Mitglied im Club of Logistics.

Neue Sicherheitsherausforderungen für die Logistik

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Peter Kollatz und Thomas Wicke

Zusammenfassung

Sicherheit ist das zentrale Versprechen der Logistik. Kunden verlassen sich darauf, dass ein Produkt zu einem bestimmten Zeitpunkt von A nach B geliefert wird. Genau dieses Sicherheitsversprechen gerät zunehmend unter Druck. Kostenoptimierte Lieferketten ohne Risikopuffer machen Unternehmen anfällig, selbst für vergleichsweise kleine Störungen. Und die Störungen nehmen zu: ob durch Kriminalität, extreme Wetterereignisse oder politische Risiken. Angesichts der zunehmend prekären Sicherheit wird Risikomanagement zu einem erfolgsentscheidenden Wettbewerbsfaktor. Dieser Beitrag beschreibt neben den Sicherheitsrisiken auch Strategien, wie Unternehmen mit der Gefährdungslage umgehen können: Durch die Verknüpfung von vorbeugender Risikovermeidung und einer angemessenen Absicherung für den Schadensfall. Sowohl technologisch als auch versicherungswirtschaftlich gibt es Innovationen, die sich Unternehmen dabei zunutze machen können.

15.1 Kriminalität Produktionsbetriebe sind heutzutage oft technisch hochgerüstete Sicherheitsanlagen, um ungebetenen Besuchern das Eindringen zu erschweren. Doch kaum verlassen die Waren eine Fabrik, sieht die Situation komplett anders aus: Dann ist es

P. Kollatz (*) · T. Wicke München, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Wicke  E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_15

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häufig nur noch eine dünne Plastikplane, die selbst teure Produkte vor dem Zugriff durch ­Kriminelle schützen soll. Aus Sicht professionell organisierter Diebesbanden ist der Tisch an LKW-­Raststätten und Parkplätzen reich gedeckt: Täglich werden Waren im Wert von vielen Milliarden Euro per LKW transportiert. Und alles was es braucht, um an sie heranzukommen, ist ein Teppichmesser, um die LKW-Plane aufzuschlitzen. Vor diesem Hintergrund ist es kaum erstaunlich, dass das Phänomen des Planenschlitzens und der Diebstahl von Gütern aus LKW zu einem Massenphänomen geworden ist. Die Transported Asset Protection Association (TAPA), beziffert den weltweiten Schaden durch Ladungsdiebstähle 2017 auf 105 Mio. EUR, nach 78 Mio. EUR im Jahr 2016. Allerdings bezieht sich diese Zahl lediglich auf die bekannt gewordenen Fälle. Ein realistisches Bild ergeben diese Zahlen daher nicht. Beispielsweise werden Ladungsdiebstähle in Deutschland bislang nicht in der Kriminalstatistik erfasst. Tatsächlich dürfte der reale Schaden weit höher liegen. Allein für Deutschland schätzt die „Arbeitsgemeinschaft Diebstahlprävention in Güterverkehr und Logistik“ den Wert der gestohlenen Waren pro Jahr auf 1,3 Mrd. Euro. Dazu kommen weitere 900 Mio. EUR durch Folgeeffekte wie Lieferverzögerungen, Reparaturkosten, Umsatzeinbußen und Produktionsausfälle. Tendenz steigend.

15.1.1 Gesicherte Parkplätze und LKW-Planen Eine naheliegende Lösung für das Problem des Ladungsdiebstahls sind gesicherte und bewachte LKW-Parkplätze. Doch die sind in Deutschland und in ganz Europa Mangelware. In Deutschland gab es 2018 gerade einmal 25 LKW-Sicherheitsparkplätze entlang von Autobahnen. Diese verfügen über Ein- und Ausfahrtsschranken, Videoüberwachung und eine Beleuchtung. Alle anderen haben kaum Sicherheitsvorkehrungen. Ganz zu schweigen von den vielen wild geparkten Lastwagen, die nicht einmal auf unbewachten Parkanlagen einen Platz finden. Angesichts dieser Situation können Logistikdienstleister das Risiko von Ladungsdiebstahl nicht systematisch reduzieren, indem sie nur noch bewachte LKW-Parkplätze nutzen. Es fehlt schlicht am Angebot. Und daran wird sich in den kommenden Jahren wenig ändern. Um Ladungsdiebstähle zu verhindern, bieten sich stattdessen physische Sicherungsmöglichkeiten an. In letzter Zeit kamen etliche Produktneuheiten auf den Markt. Beispielsweise hat ein deutsches Start-up die alarmgesicherte Plane Theftex entwickelt. Wird sie aufgeschlitzt, ertönt eine laute Sirene, um die Täter abzuschrecken und die Fahrer auf den Vorfall aufmerksam zu machen. Gleichzeitig wird das Unternehmen sofort per SMS und E-Mail alarmiert. Um das Planenschlitzen zu erschweren, gibt es darüber hinaus besonders widerstandsfähige oder mit einem Metallgitter versehene Spezialplanen. Geschlossene Fahrzeuge sind ebenfalls eine Möglichkeit, die Fracht vor Diebstahl zu schützen. Doch angesichts des intensiven Preiswettbewerbs scheint diese deutlich teurere Lösung nur bei besonders wertvollen Gütern realistisch zu sein.

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15.1.2 Risikooptimierte Routenplanung Eine Lösung ist präventives Risikomanagement. Das kann bereits bei der Routenplanung ansetzen. Die Idee: Logistiker gehen besonders diebstahlgefährdeten Parkplätzen und Routen aus dem Weg und mindern so das Diebstahlrisiko. Unternehmen müssen sich dabei nicht auf ihre eigenen Erfahrungen und Einschätzungen verlassen. In letzter Zeit entstehen auch auf diesem Gebiet neue Geschäftsideen. Beispielweise bietet das Unternehmen Sensitech eine Datenbank, in der es alle bekannten Schadenfälle erfasst und Unternehmen einen Zugang zu diesem Wissenspool ermöglicht. Mit Hilfe dieser Informationen können Unternehmen besonders gefährliche Orte meiden und ihre Routenplanung anpassen. Dies ist nicht nur für Deutschland und Europa möglich, sondern weltweit. Unternehmen, die präventives Risikomanagement systematisch betreiben, können ihre Schadensquote erheblich reduzieren: 30 bis 50 % weniger Fälle von Ladungsdiebstahl sind eine realistische Zielmarke.

15.2 Cyber-Kriminalität Auf dem Parkplatz eines mittelständischen Logistikunternehmens findet ein Mitarbeiter einen USB-Stick mit dessen Firmenlogo. Neugierig schließt er das Gerät an den Rechner an seinem Arbeitsplatz an. Damit schnappt die Falle zu: Unbemerkt installiert sich eine Spionagesoftware auf dem Computer und breitet sich in der gesamten Unternehmens-IT aus. Unglaublich? Keineswegs. Sicherheitsforscher der Universitäten Illinois und Michigan legten 2016 an markanten Stellen USB-Sticks als Köder aus. Das Ergebnis: Mehr als die Hälfte wurden geöffnet. Das zeigt, wie einfach es ist, als Unternehmen Opfer von Cyberkriminalität zu werden. Und die Schäden können immens sein. Dies erfahren auch immer wieder Unternehmen aus der Logistikbranche. Das zeigt zum Beispiel die weltweite Verbreitung der Schadsoftware „NotPetya“ im Jahr 2017. Besonders prominente Opfer waren die Reederei Maersk und der Frachtdienstleister TNT Express, deren Betrieb teilweise stillgelegt wurde. Allein diese beiden Unternehmen beziffern die Einbußen durch NotPetya auf jeweils über 300 Mio. US$. Die US-Regierung schätzt die weltweiten Schäden durch NotPetya auf über zehn Milliarden US-Dollar. IT-Sicherheitsexperten haben alle Hände voll zu tun, immer neue Varianten an Computerviren abzuwehren. Besonders viele Angriffspunkte bietet neben einer veralteten IT-Ausstattung das Verhalten von Mitarbeitern – egal ob vom eigenen Unternehmen oder von Dienstleistern.

15.2.1 Risikofaktor Mensch Das sogenannte Social Engineering, das Ausnutzen von menschlichen Schwachstellen, ist bei gezielten Angriffen eine beliebte Methode der Hacker. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt: Es beginnt bei der Reinigungskraft, die USB-Sticks unbemerkt in

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PCs einsteckt oder abends Passwörter abfotografiert, die unter Tastaturen geklebt sind. Manchmal werden Mitarbeiter, insbesondere aus der IT-Abteilung, mit kompromittierenden Informationen erpresst, um Zugang zum IT-System zu erhalten. Der Mensch erweist sich bei Angriffen aus dem Cyberspace oft als größter Risikofaktor. Anders als Diebstahl in der realen Welt, bleibt der Datenklau oft lange Zeit unbemerkt. Bei einem sogenannten „Man-in-the-middle-Angriff“ schiebt sich der Angreifer zwischen die Systeme und kann so wichtige Daten und Kommunikationsinhalte abgreifen. Der Datenabfluss wird erst dann bemerkt, wenn zum Beispiel die Konkurrenz unerwartet in das eigene Geschäftsfeld einbricht und massiv Aufträge oder ganze Kundenverbindungen abwirbt. Ein anderes Beispiel ist das plötzliche Umlenken von Geldströmen, so dass aus dem unbemerkten Diebstahl von Daten ein unmittelbarer Verlust an Geldvermögen folgt.

15.2.2 Kleine Fische haben nichts zu befürchten? Oft werden Unternehmen jedoch nicht gezielt angegriffen, sondern enden als Beifang im Netz der Hacker. Treffen kann es jeden: Großkonzerne ebenso wie Mittelständler. Lange Zeit haben gerade kleinere Unternehmen geglaubt, dass sie sich unterhalb des Aufmerksamkeitsradars von Cyberkriminellen befinden. Doch das stimmt nicht. Viele Cyberattacken erfolgen als Massenangriffe nach dem Schrotflintenprinzip. Ein Virus verbreitet sich global und wo er sich festsetzt, ist nicht vorhersehbar. Häufig werden kleinere Unternehmen auch nur als „Mittel zum Zweck“ missbraucht, um an größere Unternehmen heranzukommen. Großkonzerne investieren stark in ihre IT-Sicherheit. Der Weg über angeschlossene Logistik- und Speditionsunternehmen ist für einen Hacker möglicherweise einfacher. Egal ob geplant oder ungeplant: Die Schäden einer erfolgreichen Cyberattacke sind real, zum Beispiel wenn ein Computervirus das Dispositionssystem eines Logistikers lahmlegt. Durch das entstehende Chaos können neue Aufträge kaum mehr aufgenommen werden und bereits zugesagte Lieferungen geraten durcheinander. Dadurch entstehen dem Unternehmen nicht nur direkte Umsatzeinbußen. Die Auftraggeber machen wegen der verspäteten Lieferungen zudem Vertragsstrafen geltend. Dazu kommen die Kosten für die Behebung des IT-Schadens und für Sachverständige. Möglicherweise kommen auch Kosten für Rechtstreitigkeiten hinzu. Ganz zu schweigen von dem Reputationsschaden, den ein Unternehmen erleidet, wenn seine gesamte Geschäftstätigkeit außer Kontrolle gerät. Zusammengenommen können diese materiellen und immateriellen Schäden existenzbedrohend sein, besonders für Mittelständler.

15.2.3 Nur Cyber-Versicherungen decken Restrisiko ab Schützen können sich Unternehmen durch die laufende Aktualisierung und Aufrüstung ihrer IT-Infrastruktur – sowohl von Hardware als auch Software. Es ist unentbehrlich, die eigenen Systeme und Prozesse stets auf neu auftretende Risiken abzustimmen.

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Weil Mitarbeiter eine unterschätzte Schwachstelle darstellen, sind fortlaufende Schulungen und Wachsamkeitskampagnen im Unternehmen erforderlich. Doch selbst die größten Anstrengungen in Sachen IT-Sicherheit gewähren keinen hundertprozentigen Schutz. Zu einem angemessenen IT-Sicherheitskonzept gehört deshalb auch die passende Versicherung. So manches Unternehmen glaubt, dass Cyber-Risken von Standardversicherungen abgedeckt werden, etwa der Betriebshaftpflicht. Tatsächlich enthalten viele Policen Bausteine, die Unternehmen gegen finanzielle Folgeschäden einzelner IT-Risiken absichern. Einen zeitgemäßen Cyber-Schutz aber können diese in der Regel nicht ersetzen. Vielmehr gibt es in der stark vernetzten Welt der Logistik viele neue Risiken, die in keiner der herkömmlichen Haftpflicht- und Sachversicherungen erfasst sind. Dazu gehören etwa Risiken der Betriebsunterbrechung, behördliche Untersuchungen und Auflagen sowie Kosten für externe Experten. Diese Anforderungen an einen wirksamen Cyber-Schutz können deshalb nur moderne Cyber-Policen leisten, die speziell für diesen Zweck entwickelt wurden.

15.2.4 Versicherung inklusive akuter Krisenhilfe Eine Entwicklung macht Cyber-Versicherungen besonders für Mittelständler attraktiv: Es gibt immer mehr Policen, die akute Krisenunterstützung beinhalten. Bei einer Cyber-Attacke stellt sich für das betroffene Unternehmen im ersten Moment weniger die Frage nach dem Versicherungsschutz, sondern nach praktischer und vor allem schneller Hilfe: Welche Bereiche sind betroffen? Wie kann der Schaden möglichst schnell behoben werden? Wie gegenüber Kunden und Öffentlichkeit reagieren? Know-how und Kapazitäten zur Behebung einer solchen Krise sind oft nicht in ausreichendem Maß im Unternehmen vorhanden. Und wen aktiviert man auf die Schnelle, wenn die Hacker nachts oder am Wochenende zuschlagen? Mit der richtigen Police steht ein eigenes Notfallteam zur Verfügung, auch rund um die Uhr. Neben erster Soforthilfe vermittelt es Experten, die im Krisenfall akut benötigt werden, zum Beispiel IT-Sicherheitsexperten, aber auch geeignete Anwälte und Kommunikationsprofis, um einen möglichen Reputationsverlust abzuwenden oder zumindest zu begrenzen. Moderne Cyber-Sicherheitskonzepte beinhalten in der Regel drei Bausteine: Prävention, eine Cyber-Versicherung als Absicherung für den Schadenfall sowie ein geeignetes Netzwerk um im Krisenfall effizient und schnell einzugreifen (Abb. 15.1).

15.3 Klimawandel & Extremwetter Dass sich der Klimawandel bereits heute auswirkt, zeigen nicht nur die vielen Extremwetterereignisse der letzten Jahre. Die steigenden Temperaturen haben auch bereits ein eigenes Versicherungsprodukt hervorgebracht: die Klimarisikoversicherung. Sie soll

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Abb. 15.1   Die Drei Bausteine von Cyber-Sicherheit

arme, besonders verwundbare Staaten und ihre Bewohner gegen Naturkatastrophen absichern, die durch den Klimawandel immer häufiger auftreten. In der wirbelsturmgeplagten Karibik hat man bereits vor gut zehn Jahren angefangen, die erste Versicherung gegen Klimarisiken aufzubauen. Die African Risk Insurance ist eine ähnliche Initiative ostafrikanischer Staaten. Vergleichbare Ansätze gibt es in Asien. Wenn bereits ganze Weltregionen Vorsorge treffen, um sich gegen die wachsenden Klimarisiken abzusichern, sollten sich auch Logistikunternehmen die Frage stellen: Bin ich auf die wachsende Zahl an Extremwetterereignissen ausreichend vorbereitet? Wer darüber erst dann nachdenkt, wenn die Katastrophe bereits eingetreten ist, der verspielt möglicherweise die Zukunft des eigenen Unternehmens. Die Binnenschiffer in Deutschland mussten das im Jahr 2018 schmerzhaft erfahren: Die Pegel der Flüsse erreichten aufgrund der langen Dürre historische Tiefstände. Teilweise musste die Schifffahrt komplett eingestellt werden oder war nur noch mit erheblich reduzierter Ladung möglich. Das Niedrigwasser bedrohte nicht nur die Existenz der Binnenschiffer. Selbst global agierende Konzerne wie ThyssenKrupp, Arcelor und BASF mussten aufgrund von Lieferverzögerungen ihre Produktion kürzen – und in der Folge zum Teil auch ihre Ergebnisziele. Das verdeutlicht die Verletzlichkeit der globalen Wirtschaft.

15.3.1 Fluten in China überschwemmen auch Unternehmen in Europa Die Liste an möglichen Schäden durch den Klimawandel ist lang: Eine Studie mit Beteiligung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung widmete sich 2018 dem umgekehrten Wetterphänomen: Flussüberschwemmungen (Willner et al. 2018). Allein in China könnten Hochwasser innerhalb der nächsten 20 Jahre ohne weitere Anpassung um 80 Prozent zunehmen. Das Institut prognostiziert, dass dadurch mehr als 380 Mrd. US$ an wirtschaftlichen Verlusten entstehen. Dies entspricht etwa 5 % der jährlichen Wirtschaftsleistung Chinas. Dazu kommen noch Schäden durch andere Symptome des Klimawandels wie Stürme und Hitzewellen. Das heikle daran: Aufgrund der global vernetzten Handels- und Lieferketten wirken sich Überschwemmungen selbst in weit entfernten Regionen aus. Naturkatastrophen sind dadurch keine lokal begrenzten Ereignisse mehr, sondern nehmen den Charakter einer global spürbaren Krise an.

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15.3.2 Risikomanagement: Balance aus Effizienz und Resilienz Angesichts dieser Entwicklung ist ein ausdifferenziertes Risikomanagement notwendig – besonders für Logistiker und stark logistikgeprägte Unternehmen. Beim Neubau von Lagern und Produktionsstätten sollten risikobelastete Standorte gemieden werden. Für bereits bestehende Niederlassungen in Risikogebieten braucht es Notfallpläne, wie Unternehmen den Betrieb auch ohne die entsprechenden Standorte aufrechterhalten können. Bei der Gestaltung der Lieferketten sollten Unternehmen nicht ausschließlich die höchstmögliche Effizienz ins Visier nehmen, sondern auch ihre Resilienz gegenüber Störungen: Anstatt Lagerkapazitäten auf ein absolutes Minimum zu begrenzen, braucht es Sicherheitspuffer und Redundanzen, um wichtige Vorleistungsgüter auf jeder Stufe der Wertschöpfungskette im Störfall ersetzen zu können. Auch die Diversifizierung von Zulieferern ist eine geeignete Anpassungsmaßnahme, um Wertschöpfungsketten robuster zu machen. Darüber hinaus kann es helfen, die Vorlieferbeziehungen zumindest in Teilen zu regionalisieren. So lässt sich die Versorgungssicherheit bei wichtigen Gütern im Zweifel besser aufrechterhalten.

15.3.3 Risiken reduzieren: die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung Für die Planung konkreter Lieferrouten gibt es heute zahlreiche neue Services: So gibt es Anbieter, welche beispielsweise Zugang zu einer Datenbank ermöglichen, in der weltweit alle bekannten Schadenfälle erfasst sind. Mithilfe dieser Informationen können Unternehmen besonders unwettergefährdete Orte von vornherein meiden. Anbieter wie Risk Methods weisen auf aktuelle Gefahren hin. Unternehmen können so die Routenplanung stundenaktuell anpassen, zum Beispiel bei Erdbeben, Überschwemmungen und anderen Naturkatastrophen. Gerade für Logistiker ist die angemessene Reaktion auf akute Gefährdungslagen sehr wichtig. Sie können die Verantwortung nicht einfach auf ihre Kunden abwälzen, nach dem Motto: Die Route XY wurde gebucht, deshalb ändern wir daran auch nichts. Sollte zum Beispiel in einer Region, die durchfahren werden soll, akute Lawinengefahr bestehen, hat das Logistikunternehmen die Pflicht, den Auftraggeber über das Risiko aufzuklären und Alternativen vorzuschlagen. Ansonsten kann der Auftraggeber bei einer eigentlich vermeidbaren Störung Schadensersatz verlangen. Es gibt bereits Modelle, die die Gefährdungslage von Orten in der Zukunft prognostizieren. Diese lassen auch Klimamodelle einfließen, wie sich die steigende Durchschnittstemperatur auf die Häufigkeit von Extremwetterereignissen an allen Orten weltweit voraussichtlich auswirkt. Dadurch können Unternehmen einen Blick in die Zukunft werfen und diese Erkenntnisse in die Planung ihrer Lieferketten einfließen lassen.

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P. Kollatz und T. Wicke

15.3.4 Parametrische Versicherung gegen Wetterrisiken Auch die Versicherungsbranche hat neue Produkte auf den Markt gebracht, mit denen sich Logistikunternehmen gegen die wachsenden Risiken des Klimawandels absichern können. Ein Beispiel ist die parametrische Wetterversicherung. Im Gegensatz zu klassischen Schadenversicherungen deckt sie auch alltägliche Wetterereignisse ab. Unternehmen können sich damit beispielsweise gegen die Über- oder Unterschreitung bestimmter Niederschlagsmengen, Sonnenstunden oder auch Temperaturhöhen versichern. Die Versicherungsleistung basiert auf den Messwerten einer bestimmten Messstation und nicht auf dem tatsächlichen Schaden, die dem Unternehmen entsteht. Parametrische Versicherungen sind auch für den oben beschriebenen Fall geeignet, dass sich Binnenschiffer gegen das Risiko von Niedrigwasser absichern möchten. Die Versicherungssumme wird dann automatisch ausgezahlt, wenn bei lang anhaltender Trockenheit an einer definierten Messstelle – zum Beispiel am Rhein – der Pegelstand unterschritten wird, der zuvor zwischen Unternehmen und Versicherer vereinbart wurde.

15.3.5 Mit aktivem Klimaschutz Reputationsrisiken abwehren Die Logistikbranche als Ganzes muss sich beim Klimawandel aber nicht nur den unmittelbaren materiellen Schäden durch die wachsende Zahl an Extremwetterereignissen stellen. Es droht auch immaterieller Schaden durch ein wachsendes Reputationsrisiko: Der Transportsektor ist für 23 % des menschlichen CO2-Ausstoßes verantwortlich. Und Schätzungen von Business for Social Responsibility (BSR) gehen davon aus, dass sich die CO2-Emissionen der Branche bis 2050 nochmals verdoppeln. Vor diesem Hintergrund brauchen Logistikunternehmen dringend eine überzeugende mittel- bis langfristige Strategie, wie sie zum Klimaschutz beitragen wollen. Ansonsten wird die öffentliche Kritik ebenso zunehmen wie regulatorische Eingriffe durch den Staat. Auch Auftragsverluste drohen, weil immer mehr Kunden eigene Klimaschutzrichtlinien aufstellen werden, die auch ihre Dienstleister erfüllen müssen. Logistikunternehmen tun deshalb gut daran, sich nicht nur auf die Abwehr zunehmender Klimarisiken einzustellen, sondern verstärkt auch eigene Klimaschutzmaßnahmen in Angriff zu nehmen.

15.4 Fazit Angesichts der wachsenden Sicherheitsherausforderungen sollten Logistikunternehmen das Risikomanagement ins Zentrum ihrer operativen und strategischen Planung rücken. Ein wunder Punkt in der Sicherheitsarchitektur eines Unternehmens kann sowohl kurzfristig den Geschäftserfolg als auch langfristig die Existenz bedrohen. Am Ende des Tages ist Risikomanagement ebenso ein Wettbewerbsfaktor wie die Effizienz von Prozessen oder das Know-how der eigenen Mitarbeiter: Unternehmen, die Sicherheitsrisiken

15  Neue Sicherheitsherausforderungen für die Logistik

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systematisch reduzieren, sind deutlich krisenfester und damit erfolgreicher als ihre Wettbewerber. Ein guter Grund, um sich etwas intensiver mit den Sicherheitsherausforderungen zu beschäftigen – und mit den neuen Möglichkeiten, die auf technologischer Ebene und im Versicherungsmarkt zur Verfügung stehen. Für Kriminelle wird die Logistikbranche zu einem immer attraktiveren Ziel. Die Warenströme und entsprechend auch der Wert der transportierten Güter sind in den vergangenen Jahrzehnten geradezu explodiert. Die Schäden durch Kriminelle in der Logistik- und Transportbranche wachsen entsprechend – das gilt für den klassischen Ladungsdiebstahl als auch für Cyberattacken. Ein ebenfalls wachsender Störfaktor für Lieferketten sind extreme Wetterereignisse. Sie treten nicht nur häufiger auf, sondern werden zugleich drastischer. Eine Entwicklung, die viele Experten bereits für die ersten Vorboten des Klimawandels halten und die sich in den kommenden Jahrzehnten zuspitzen wird. Auch auf politischer Ebene nehmen Störfaktoren für die Logistikbranche zu. Der Aufstieg populistischer Parteien und Akteure macht politische Entscheidungen zunehmend unberechenbar. Der viele Jahrzehnte als Common Sense geltende Freihandel gerät unter Beschuss. Handelskonflikte und sprunghaft steigende Zölle wirbeln lang etablierte Lieferketten durcheinander, Sanktionen zerstören Wirtschaftsbeziehungen quasi über Nacht. Terroranschläge, kriegerische Auseinandersetzungen und politische Instabilität bedrohen den Warentransport in manchen Weltregionen zusätzlich. Diese politischen Störfaktoren für die Lieferketten kann die Logistikbranche nur schwer oder gar nicht abfedern. Umso wichtiger ist es, dass Unternehmen diejenigen Sicherheitsrisiken auf ein Minimum reduzieren, die sie zumindest teilweise selbst in der Hand haben. Vorbeugende Risikovermeidung und angemessene Absicherung für den Schadenfall sollten dabei Hand in Hand gehen. Sowohl technologisch als auch versicherungswirtschaftlich stehen Unternehmen heute zahlreiche Neuerungen zur Verfügung, die sie dafür nutzen können. Die Digitalisierung bietet auch auf diesem Gebiet Möglichkeiten, die vor einigen Jahren noch nicht denkbar waren: von der risikooptimierten Routenplanung über die Auswahl risikoarmer Standorte bis zur Automatisierung von Prozessen im Fall von Störungen entlang der Lieferketten.

Literatur Bundeskriminalamt: Bundeslagebild Cybercrime 2017. www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/ StatistikenLagebilder/Lagebilder/Cybercrime/cybercrime_node.html. Zugegriffen: Juni 2019 Cyber Risk Agency und Munich Risk and Insurance Center, Versicherung als Instrument des Cyber-Risikomanagements mit Fokus auf kleine und mittlere Unternehmen. MRIC Executive Report. https://www.cyberriskagency.de/_Resources/Persistent/9d68c806b337db69d7ae816b57c3a4c772260e8f/studie-cyber-versicherung-2017.pdf (2017). Zugegriffen: Juni 2019 Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V.: Cyberrisiken im Mittelstand. Ergebnisse einer FORSA-Befragung. https://www.gdv.de/resource/blob/32708/d3d1509dbb080d899fbfb7162ae4f9f6/cyberrisiken-im-mittelstand-pdf-data.pdf (2018). Zugegriffen: Juni 2019 Willner, S.N., Otto, C., Levermann, A.: Global economic response to river floods. Nature Climate Change (2018). www.doi.org/10.1038/s41558-018-0173-2 (Juni 2019)

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P. Kollatz und T. Wicke Peter Kollatz ist als Rechtsanwalt seit über 25 Jahren bei der SCHUNCK GROUP tätig, einem auf die Logistikbranche spezialisierten Versicherungsmakler. Seit 2017 ist er Geschäftsführer und verantwortlich für die Fachbereiche Transport-, Verkehrshaftung-, Haftpflicht- und Sachversicherung sowie Recht und Schadenservice. Er ist in zahlreichen Verbänden und Organisationen aktiv, darunter der Kommission Recht und Versicherung des Deutschen Speditionsund Logistikverbandes (DSLV) sowie dem Advisory Body for Legal Matters der Fiata. Peter Kollatz ist bekannt für seine Veröffentlichungen über Risikomanagement in der Lieferkette, Transportrechtsfragen sowie die Logistik-AGB. Darüber hinaus ist er Mitautor des Münchener Kommentars zum neuen Versicherungsvertragsgesetz (VVG) und des Praxishandbuch Transportrecht. Thomas Wicke  ist seit 2017 Geschäftsführer und Leiter Kundenberatung und Vertrieb bei der SCHUNCK GROUP. Er blickt auf eine fast 25 jährige Berufserfahrung in der Versicherungsbranche zurück. Der Diplom-Kaufmann startete seine Karriere in verschiedenen Funktionen beim früheren Makler Jauch & Hübener. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten in Kiel und Oslo wechselte er 2003 zu Aon Risk Solutions, wo ihm später die Verantwortung für die Vertriebsleitung der Regionen Nord und Mitte im Segment Industrie/Commercial übertragen wurde. Zuletzt war Thomas Wicke dort als Head of Specialties und Mitglied der Geschäftsleitung tätig.

Volles Risiko? – Versicherungsaspekte logistischer Zukunftstechnologien

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Stephan Zilkens

Zusammenfassung

Logistik 4.0 und die damit verbundene Änderung von Wertschöpfungstechnologien stellt die noch auf Spartentrennung konzentrierte Versicherungswirtschaft vor große Herausforderungen. Gerade die Gefahrenpotenziale, die in der Digitalisierung liegen, lassen die Grenzen zwischen Sachschaden, Eigenschaden und Vermögensschaden fließend werden, sodass eine trennscharfe Abgrenzung nicht mehr möglich ist. Versicherung als eine Möglichkeit Ersatzkapital zur Risikofinanzierung bereit zu stellen, wird seine volkswirtschaftliche Funktion für Produktion und Handel nur halten können, wenn für die neu entstehenden Risiken scheuklappenfreie Lösungen angeboten werden. Diese werden allerdings nicht zum Nulltarif zu haben sein.

16.1 Technologie und Distribution im Wandel Technologische Innovation ist zum wichtigsten Beschleuniger der Wirtschaftsentwicklung geworden. Das Innovationstempo nimmt ständig zu und verändert die Produktionsund Supply-Chain-Prozesse immer schneller und umfassender. Dabei erweitern sich nicht nur die traditionellen Wertschöpfungsketten zu engmaschig miteinander verknüpften Wertschöpfungsnetzwerken, sondern es verändern sich auch die Rollen der Partner der Wertschöpfung: Hersteller, Dienstleister, Lieferant, Händler und Kunde. Logistiker und Endkunden können im Zeitalter des 3D-Drucks zu Produzenten werden, Hersteller zu Dienstleistern und Händlern, die Produkte warten oder selbst vor Ort vertreiben.

S. Zilkens (*)  Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_16

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S. Zilkens

Dieser Prozess, der durch die vermehrte Nutzung digitalisierter Lösungen zustande kommt und sich in Zukunft noch beschleunigen und vertiefen wird, bringt nicht nur technische Herausforderungen mit sich, sondern verändert auch die traditionellen Haftungsund Versicherungsbedingungen, denen sich Unternehmen gegenübersehen. Denn die Integration von zusätzlichen unterschiedlichen Playern in einen komplexen Prozess führt zwangsläufig zur Entstehung von zahlreichen neuen Schnittstellen, die bei traditioneller Trennung der Kompetenzen und Aufgaben nicht auftreten würden. Zweifellos gab es auch in der Vergangenheit Überschneidungen von typischen und untypischen Aufgaben bei Unternehmen der Logistikindustrie. Dazu gehören die Zuruf-Aufgaben an einen Spediteur, die beispielsweise folgendem Muster folgen: „Wenn ihr schon das Produkt X und das Teil Y zum Empfänger A transportiert, dann schraubt doch nach Anlieferung auch noch jeweils das Teil Y an das X an.“ Hieraus ergeben sich im Schadensfall Konsequenzen, falls den Fahrern der Spedition beim Anschrauben Fehler unterlaufen sind. Zur Transporthaftung gesellen sich damit auch noch Elemente einer Produkthaftung. Solche Fälle werden zunächst schon dadurch immer häufiger auftreten, dass die Logistikindustrie mehr und mehr zu einem Dienstleistungssektor mit vielfältigen Services wird. Wo früher Möbel oder Elektrogeräte nur transportiert wurden, gehören heute immer häufiger auch Montage und/oder Anschluss des Transportguts zu den beauftragten Tätigkeiten.

16.2 Transformation und Änderungsbedarf Doch die digitale Transformation der Wirtschaft in Zeiten von Industrie 4.0 und Logistik 4.0 verändert diese Strukturen nochmals fundamental. Die Kosten- und Effizienzpotenziale, die sich mit einer engen Verzahnung von Produktion und Logistik realisieren lassen, machen den Trend zur digitalisierten Wertschöpfung unumkehrbar. Allerdings: Die Integration von Logistikleistungen direkt in die Fertigungsanlagen erfordert Schnittstellen, die einen unvermeidlichen Haftungsübergang mit sich bringen. Falsche oder fehlerhafte Teile oder falsche Reihenfolgen von Teilen, die vom Lieferanten direkt in die Materialbevorratung oder -bereitstellung einer Produktionsanlage eingespeist werden, können zu Produktionsstörungen oder gar Produktionsausfällen mit enormen finanziellen Konsequenzen führen – und dies ist noch ein relativ triviales Beispiel, wenn es um die Frage nach Haftungsverantwortung geht. Noch weit komplexer stellen sich Haftungs- und Versicherungsthemen dar, wenn durch fortschreitende Digitalisierung die Wertschöpfungsketten zum Internet der Dinge (IoT) heranwachsen. Die Verknüpfung von Informationen aus den unterschiedlichsten Datenquellen und eine datengestützte Prozesssteuerung (besonders sichtbar in der Kombination aus Sensortechnologie und Big-Data-Systemen) steigern die Bedeutung der Themen Datensicherheit und Datenschutz enorm. Maschine-zu-Maschine (M2M)-Kommunikation entfernt Menschen zunehmend aus den Handlungsabläufen und sogar v­ ielen

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Entscheidungsprozessen. Zudem wird mit dem IoT die angesprochene Veränderung der Rollen von Kunde, Händler, Produzent und Lieferant in ganzer Tragweite Realität. Für die Logistikunternehmen bedeutet dies, dass Geschäftsfelder wie Auftragslogistik, Lagerlogistik, Speditions- und Transportleistung, Zusatzservices und Produktionsdienstleistungen nicht mehr so einfach zu trennen sind. Dies hat Folgen für die Abgrenzung von Haftungsrisiken und ihre Absicherung durch Leistungen von Betriebs-, Kfz-, Umwelt-, Verkehrs- und Produkthaftpflichtversicherung, Lagerversicherung oder Transportversicherung. In der Regel wird sich dies als neue „Mischung“ der Verantwortlichkeiten bemerkbar machen.

16.3 M2M-Kommunikation: Wenn der Entscheider eine Software ist Schon heute sind einseitig automatisierte Entscheidungsprozesse im Vollzug des Online-Handels Standard. Nachdem die Katalogsoftware durch das Angebot geführt hat, wählt der Nutzer das gewünschte Produkt aus, akzeptiert die AGB und schließt mit einem Klick einen rechtsverbindlichen Kaufvertrag ab, den der Anbieter vollautomatisch akzeptiert. In Zukunft wird es jedoch immer mehr Abschlussoptionen geben, bei denen an beiden Enden des Vertragsentscheidungsprozesses eine Maschine sitzt, also eine Software nicht nur einfach einen von einem menschlichen Nutzer angestoßenen Bestellprozess akzeptiert, sondern der Besteller selbst ein Computer ist. Willenserklärung und Vertragsabschluss sind damit beides voll automatisierte Abläufe, die durch den ursprünglichen Auftrag an die Programmierer der entsprechenden Lösungen ermöglicht wurde. Verschiedene Finanztransaktionen mit automatischen Kauf- und Verkaufentscheidungen sind ein bereits heute im internationalen Banking Business übliches Beispiel für diese Technologie. In der Zukunft dürften durch vermehrten Einsatz von KI- und selbstlernenden Systemen immer mehr solche Einsatzszenarien realisiert werden. Smart Factories werden beispielsweise Ersatzteile, Softwareupdates für Maschinen, Bauteile aller Art oder sogar Services wie Wartung oder Schnellreparatur ohne Eingreifen von Menschen, also durch unternehmensübergreifende M2M-Kommunikation ordern. Die IT der zuständigen Logistikunternehmen wird derartige Bestellungen ebenso automatisch akzeptieren und ihre Lieferung disponieren. Die Regulierung derartiger Prozesse muss zahlreiche unterschiedliche Aspekte erfassen wie etwa Datensicherheit und Datenschutz, Patentrechte oder diverse Haftungsübergänge. Die Partner in einem Wertschöpfungs- oder Liefernetzwerk nach den Visionen von Industrie 4.0/Logistik 4.0 gehen eine Vielzahl von Haftungsrisiken ein, die aus der vor-digitalen Welt nicht bekannt sind. Sie machen zum Beispiel intensiven Gebrauch von Cyber-physischen-Systemen (CPS), also aus der Kombination von Sensorik, Software, IT und Maschinen aufgebauten Strukturen, die über das Internet oder separate Netzwerke miteinander kommunizieren. Hier ergeben sich für die Partner

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vielfältige ­haftungsrelevante Situationen, etwa welchen Nutzern welche Daten zur Verfügung gestellt werden dürfen, welche Partner welche Haftungsrisiken gegenüber anderen Nutzern oder Dritten eingehen (wenn beispielsweise Fehler bei der Datenerzeugung, -auswahl oder -übermittlung oder Verbindungsprobleme bei der Kommunikation auftreten), wie sieht es mit der Produkthaftung aus, wenn eine große Zahl von Objekten und Softwarepakten vernetzt sind? Wer haftet bei Serviceproblemen, wenn mobile Geräte oder autonome Fahrzeuge im Spiel sind? Wie sieht die Situation aus, wenn Cyberattacken bewusst die Produktion oder die Logistikkette lahmlegen wollen, weil den Angreifern die aktuelle politische Situation nicht gefällt? Der Verursacher solcher Angriffe lässt sich nur selten ermitteln und wenn, ist bei ihm nichts zu holen. Die meisten angebotenen Cyberdeckungen orientieren sich an der Haftungsversicherung und sehen den Vermögensschaden, den ein Dritter als Folge eines Sachschadens erleidet. Entsprechend gering sind die Deckungssummen, die für den Eigenschaden beim Besitzer der vom Angriff Betroffenen zur Verfügung gestellt werden. Wie das Risiko für die Partner begrenzbar ist, wie Ausfall-, Vermögens- oder Folgeschäden zu behandeln sind, ist ein schwieriges Thema für die Fortentwicklung des Haftungs-, Transport- und Sachversicherungsrechts. Die Komplexität nimmt zu.

16.4 Versicherungsaspekte von Zukunftstechnologien der Logistik Im Folgenden sollen einige Schwerpunkte von Versicherungsszenarien der Technologiefelder untersucht werden, die für die Logistik der Zukunft relevant sind oder werden können. Mensch-Maschine-Kollaboration und Exoskelette Durch die vermehrte Integration von Robotern in die Fertigungsprozesse ergeben sich zunehmend Situationen, in denen Menschen und Roboter auf engem Raum zusammenarbeiten. Beispielsweise übernehmen Automaten das Anheben schwerer Werkstücke, während der Mitarbeiter die Feinpositionierung vornimmt. Im Zuge der Lieferung von Maschinenteilen oder anderer Glieder einer Fertigungsanlage wird die sichere Mensch-Maschine-Kooperation überall dort auch für Logistikunternehmen zu einem wichtigen Thema, wo Roboter und Menschen auf kleiner Fläche arbeiten (s. Abb. 16.1). Insbesondere beim Kommissionieren können schwere Lasten und unergonomische Körperhaltungen zu Verletzungen führen. Exoskelette stellen eine Möglichkeit dar, diese Tätigkeiten zu erleichtern. Sie entlasten die Wirbelsäule, verstärken die Kräfte und lassen sich individuell an die physischen Gegebenheiten des Mitarbeiters anpassen. Bei dieser Konstellation ist die Versicherungssituation noch sehr klassisch abzubilden. Potenzielle Verletzungsrisiken der Mitarbeiter sind über die Betriebshaftpflichtversicherung, die Berufsgenossenschaft, eine separate Unfall- oder Krankenversicherung versicherbar. Die Haftung gegenüber dem Auftraggeber ergibt sich für den Logistiker

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Abb. 16.1   5_Mensch_Maschine. Mensch-Maschine-Kooperation. (Quelle: Shutterstock)

aus seinen AGB und lässt sich mit Ausnahme grober Fahrlässigkeit und Vorsatz auf die CMR beziehungsweise ADSp begrenzen. Allerdings kann die Software der eingesetzten Maschinen durch Dritte manipuliert werden. Betriebshaftpflichtversicherungen schließen zunehmend Cyberschäden aus, da die Branche eigene Cyberversicherungen zur Verfügung stellt. Das größte Problem in diesem Zusammenhang ist derzeit allerdings die Haltung vieler IT-Verantwortlicher in den Unternehmen, die eine Versicherung gegen Cyberrisiken als persönlichen Angriff auf ihre Kompetenz empfinden. Kein Unternehmen verzichtet auf eine Feuerversicherung, weil es einen Brandschutzbeauftragten oder eine Werksfeuerwehr hat. Mit Cyberattacken und ihren Versicherungsmöglichkeiten sollte man sinngemäß analog verfahren. 3D-Druck Die flächendeckende Anwendung der additiven Fertigung (besser bekannt unter der Bezeichnung 3D-Druck) wird die Wertschöpfung in einem Ausmaß verändern wie kaum eine andere Zukunftstechnologie. Das Produktionsverfahren verwendet heute bereits die unterschiedlichsten Materialien, von Kunststoffen über Metalle und Holz bis hin zu biologischen Substanzen (Abb. 16.2). Bis vielleicht auf die Massenproduktion einfacher Güter dürfte sich der 3D-Druck als die wirtschaftlichste und ökologisch sinnvollste Herstellungsmethode erweisen. Drucker lassen sich an beliebigen Orten installieren. Sie sind in der Lage, beliebige Produkte auf Anforderung (also bedarfsgerecht) herzustellen, wobei die Produktionsanleitung aus einem Datensatz besteht, der sämtliche Spezifikationen enthält, also Angaben über Material, Maße, Stückzahl und so weiter.

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Abb. 16.2   4_3D_Drucker. (Quelle: Shutterstock)

Hauptfolge einer 3D-Druck-Supply-Chain ist die Verzichtbarkeit der Lagerhaltung. Gelagert werden nur die Rohstoffe, die auch nach wie vor mit konventionellen Logistiksystemen transportiert und Just-in-Time geliefert werden. Da die Variantenvielfalt erst am Druckerort entsteht, vereinfacht sich der Materialfluss enorm. Zudem kommt das erzeugte Produkt nur noch von einem Hersteller. Für das Thema Haftung ist damit eine Vereinfachung gewonnen, da nicht mehr zahllose Zulieferer integriert werden müssen. Weitere Vorteile der Technologie sind die Vereinfachung der Produktion komplexer Teile (die oft in einem Stück aufgebaut werden können), die wirtschaftliche Fertigung von Produkten in Losgröße 1, die einfache Individualisierung von Waren sowie die kurze Reaktionszeit hinsichtlich von Änderungen an den Produkten, die es erlaubt, Sonderanfertigungen oder zusätzliche Varianten mit minimaler Zeitverzögerung auf den Markt zu bringen. Die Vorgänge rund um die Abwicklung additiver Fertigungsmodelle lassen sich durchgängig digitalisieren, von der Online-Bestellung bis zur Echtzeitübermittlung von Daten über aktuelle Anpassungen der Druckaufträge. Daten stehen damit im Mittelpunkt der 3D-Druck-Geschäftsmodelle. Für die Logistikunternehmen bieten sich damit völlig neue Geschäftsmodelle an. Dazu gehören neben der Lieferung der Rohstoffe auch eigene Produktionsservices. Statt Ersatzteile von einem Lieferanten zum Hersteller zu fahren, können die Teile mit 3D-Druckern auf Zuruf produziert werden, und zwar in unmittelbarer Nähe der Fertigungsstraße. Letztendlich kann das transportierte Gut auch nichts anderes als die digitale Blaupause für Teile, Komponenten oder fertige Produkte sein.

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Für die Haftungsproblematik ergeben sich aus den verschiedenen Aspekten der additiven Fertigung neue Herausforderungen. Dazu gehört der Stellenwert, der der Datenübermittlung und Datensicherung zukommt, denn in den Daten steckt das gesamte Know-how eines Produkts, nicht nur das zu seiner Herstellung nötige Wissen. In der Folge wird auch der Verwendungszweck des gedruckten Gegenstands relevant, wie ein Beispiel aus dem medizinischen Anwendungsfeld deutlich macht: Am Beginn steht beispielsweise die Übermittlung von Daten, gefolgt von der Herstellung eines menschlichen Organs aus Biomaterialien, das anschließend in einer Klinik dem Patienten eingesetzt wird. Hierbei sind Fragen der Privatsphäre ebenso wichtig wie die Qualität des Endprodukts. Wessen Versicherungsverträge sind anzusprechen, wenn es zu einem Schaden kommt? Wessen Bilanz ist geschädigt? Die des Herstellers, der einen Produktionsausfall erleidet, weil der 3D-Drucker beim Spediteur abgebrannt ist? Die des Logistikers, weil er seine Dienstleistung nicht mehr anbieten kann? Die klassische Obhutshaftung des Spediteurs für übernommene Ware gibt es nicht mehr, denn das übernommene Gut wird digital vorgeliefert und beim Spediteur gefertigt. Wem gehört der Digitaldrucker? Wer ist für dessen Wartung zuständig? Wie erfolgt die Qualitätskontrolle der darauf gefertigten Produkte? Je nach Beantwortung der einzelnen Fragen und individuellen Vertragsregelungen zwischen Hersteller und Logistiker ergeben sich Antworten. Um Deckungslücken zwischen Produkthaftungs-, Verkehrshaftungs-, Kredit-, Vertrauensschadens- und Elektronikversicherung zu vermeiden, ist eine individuelle Risikoanalyse erforderlich, die von allen Beteiligten Offenheit erfordert. Da Risikoträger eine natürliche, selektive und an ihren Spartenvorlieben orientierte Betrachtung haben, sollten die Analyse und das Lösungsmodell mit Hilfe eines erfahrenen Versicherungsmaklers vorgenommen werden. Autonome Transportsysteme Generell ist damit zu rechnen, dass in den nächsten Jahren und Jahrzehnten autonome Fahrzeuge zu Land, zu Wasser und in der Luft einen großen Aufschwung erleben werden. Viele dafür entwickelte Systeme sind auch für die Logistik interessant. Dazu gehören naturgemäß autonome Lkw sowie fahrerlose Transportfahrzeuge und autonome Roboter. Sie werden künftig noch erheblich intelligenter werden und einen wachsenden Vernetzungsgrad aufweisen, sodass sie sich nahtlos in die intelligenten Verkehrssystemlandschaften eingliedern lassen, die derzeit entwickelt werden. Zu den zahlreichen Logistikprozessen, die häufig bereits heute automatisiert ablaufen (zum Beispiel Kommunikation mit der Unternehmens-IT, Kommissionierung und Barcodeerkennung), kommen dann noch die Auslieferung und Be- oder Entladung hinzu. Autonome Transportfahrzeuge erreichen für Menschen unzugängliche Regionen und bewältigen Steilhänge oder Treppen und stimmen sich dabei automatisch untereinander oder mit Einsatzleitstellen ab. Ein typisches Procedere eines Lieferprozesses mit einem autonomen Lkw (Abb. 16.3) wird künftig in etwa so aussehen: Im Auslieferungslager wird das Fahrzeug aufgrund übermittelter Daten automatisch beladen, fährt anschließend autonom bis zum vorge-

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sehenen Ziel und liefert die transportierte Ware an eine (beispielsweise am Stadtrand platzierte) Packstation, die entweder stationär als Abholstation dient oder als mobile Plattform die Sendung in die Innenstadt und direkt zum Empfänger bringt, der – ebenfalls automatisch – über den Lieferzeitpunkt informiert wird. Entsprechend ausgerüstete Roboter überwinden dabei auch hohe Treppenhäuser. Alternativ kann der Empfänger die Ware auch an einem vereinbarten Ort abholen. Die KFZ-Versicherung ist in Bezug auf autonomes Fahren noch sehr zurückhaltend, da sich die Risiken vom Menschen, den man mit Erfahrungswerten für ein kalkulierbares Risiko hält, auf digitale Systeme verlagern, die wiederum von einer entsprechenden Infrastruktur abhängig sind. Hersteller überlegen deshalb, auch um ihre Produkte absetzen zu können, eigene Versicherungen anzubieten, die das Risiko abdecken. Unterstützt werden können die autonomen Lieferfahrzeuge von kleinen Transportrobotern, die wie mobile Packstationen die Ware von dem durch die Stadt rollenden Fahrzeug übernehmen und an die Lieferadresse (Wohnung oder Paketstation) transportieren. Derartige kleine automatische Zustellroboter, die sich auf Bürgersteigen bewegen, werden in einigen Metropolen bereits getestet. In der Smart City von Morgen können auch ungenutzte private Transportkapazitäten über intelligente Systeme für die Logistik zur Verfügung gestellt werden. Freier Platz in autonomen Transportern oder parkenden Pkw (leerer Kofferraum) wird samt ­geplanter

Abb. 16.3   2_Autonomer_LKW. (Quelle: Shutterstock)

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Zieladresse vor Antritt einer Fahrt an das Datensystem gemeldet. Die Software stellt dann fest, ob Waren in die Nähe dieser Adresse zu transportieren sind und organisiert gegebenenfalls das Ver- und Entladen der Packstücke, das von Robotern durchgeführt wird, welche den Kofferraum per Code öffnen und schließen (persönliches Abholen kann eine weitere Option sein). Damit lassen sich zahlreiche Lieferfahrten insbesondere auf der letzten Meile einsparen. Aus derartigen Liefertechnologien, von denen unzählige Abwandlungen denkbar sind, ergeben sich neue Haftungsfragen, die die Hersteller und Betreiber der Soft- und Hardware, die Serviceanbieter und die Hoster der Konnektivität betreffen. Sie betreffen aber auch diejenigen, die als Eigentümer ihre jeweiligen Transportmittel zur Verfügung stellen. Einen kleinen Eindruck mag die in Europa heftig geführte Debatte um das Geschäftsmodell UBER geben. Letztlich handelt es sich um die intelligente Ausnutzung freier Kapazitäten zur Personenbeförderung. Neben Ausbildungsfragen (für Uber brauchen Sie nur einen Führerschein, das System sagt dem Fahrer wie er fahren muss) werden Themen der traditionellen Lizenzwirtschaft im Taxigewerbe angegriffen. Die normalen KFZ-Tarife sind für die semiprofessionelle Personenbeförderung nicht kalkuliert. Eine im wahrsten Sinne neue Dimension erhält der autonome Transport durch den Einsatz von Drohnen, also sich autonom steuernden fliegenden Systemen (Abb. 16.4). Sie sind mit KI ausgestattet, die den menschlichen Piloten überflüssig macht. Für bestimmte Nischen des Transportwesens wie abgelegene oder für flurgebundene Fahrzeuge schwer zugängliche Orte wird diese Technologie künftig sicher Einsatzprofile

Abb. 16.4   1_Drohne. Paketdrohne. (Quelle: Shutterstock)

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finden. So könnten die Fluggeräte beispielsweise im Katastrophenfall nach Eingang eines Transportauftrags automatisch oder manuell mit Medikamenten oder anderen Versorgungsgütern beladen werden und anschließend autonom ins Zielgebiet fliegen. Das Transportgut kann entweder aus der Luft abgeworfen oder am Boden entladen werden. Wer haftet für die potentielle Falschauslieferung, wenn das abgeworfene Gut den Empfänger nicht erreicht? Wie steht es um die Folgen bei einem Personenschaden, wenn durch den Abwurf jemand verletzt wird? Versicherung benötigt für die Kalkulation eines Risikos Erfahrungswerte, die bei der rasanten Entwicklung, die die zunehmende Komplexität in der Logistik nimmt, nicht in ausreichend gesichertem Maße entstehen. Sollen diese Risiken auf andere Träger überwälzt werden, wird man diesen einen Risikozuschlag zugestehen müssen. Eine Herausforderung stellt beim Drohnentransport die Nutzung des öffentlichen Luftraums dar, besonders, wenn die Fluggeräte über bewohnten Gebieten oder gar Großstädten eingesetzt werden. Zwar kann Software die Einhaltung von erlaubten Routen gewährleisten, aber Unfälle oder mutwillige Beeinflussung durch kriminelle Handlungen (vom Hacken der Steuerung bis hin zum Abschuss) stellen eine erhebliche und schwer in den Griff zu bekommende Gefahr dar. Gebäude und unvorhersehbare Funkstörungen machen die Transportdrohnen zumindest beim derzeitigen Stand der Technik noch zu unfallträchtigen Systemen. Müssen für diese Geräte Luftfahrthaftpflichtversicherungen, eine heute eigenständige Untersparte der Haftpflicht mit Standarddeckungssummen von 200 Mio. EUR, abgeschlossen werden, weil der öffentliche Luftraum genutzt wird? Müssen hierfür eigenständige Formen entwickelt werden? Hyperloop & Co. Einige Transportkonzepte, die derzeit analysiert werden, klingen wesentlich exotischer. Dazu gehört der Einsatz von ober- oder unterirdischen Transportröhren zur Überbrückung größerer Distanzen. Am bekanntesten ist das für den Passagierverkehr entworfene Projekt Hyperloop, bei dem Waren (angetrieben durch elektromagnetische Technologien) über oberirdische Vakuumröhren mit hoher Geschwindigkeit über erhebliche Entfernungen transportiert werden (Abb. 16.5). In den Metropolen lassen sich die Röhren dann in die Logistiklösungen für die Innenstädte integrieren. Unter die Erde verlegt dagegen das Schweizer Projekt Cargo Sous Terrain den Transport von Gütern aller Art. Dazu soll ein 450 km langes Tunnelsystem die wichtigsten Städte der Schweiz miteinander verbinden. In den in etwa 50 m Tiefe errichteten Röhren soll der Verkehr auf zwei Ebenen laufen: auf dem Tunnelboden bewegen sich schwerere Lasten über elektrisch angetriebene Fahrzeuge auf Induktionsschienen, während leichtere Pakete und Briefpost mit einer an der Tunneldecke angebrachten Seilbahn befördert werden können. Nach den Vorstellungen der Betreiber soll das Tunnelsystem feste Lager auf Dauer unnötig machen, da der Transport bedarfs- und zeitgetaktet die Bestimmungsorte erreicht und so zu einem „Lager in Bewegung“ wird. Wie andere Ferntransportsysteme auch, führt Cargo Sous Terrain das Transportgut nur bis an die Stadtgrenzen heran. Von dort

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Abb. 16.5   3_Hyperloop. Projekt Hyperloop. (Quelle: Shutterstock)

aus wird es mit den verschiedenen Technologien für die letzte Meile weiterverteilt, also beispielsweise durch autonome Logistiksysteme. Bei solchen Konzepten wird neben den bereits angesprochenen Versicherungsarten noch ein weiteres Thema angesprochen. In der Regel gilt bei Stollen unter Tage Bergrecht. Für die darüber liegenden Gebiete und Wirtschaftsgüter entstehen zusätzliche Risiken zunächst durch den Tunnelvortrieb, dann möglicherweise durch geologische Veränderungen in den Schichten darüber. Wie weit kann die Rechtsnachfolge der Tunnelerbauer und der Tunnelbetreiber für eventuelle Ansprüche sichergestellt werden? Muss hier eventuell eine staatliche Sicherheitsgarantie für in der fernen Zukunft entstehende Schäden herhalten? Fondslösungen können letzteres überflüssig machen, wenn sie von neutralen Dritten verwaltet werden. Die Grenze zwischen Versicherungswesen und Kapitalinstrumenten wird an dieser Stelle fließend. Noch gibt es aufsichtsrechtliche und politische Vorbehalte, reine Finanzrisiken durch die Versicherungswirtschaft übernehmen zu lassen. Kleinere europäische Staaten wie Luxemburg lassen allerdings schon Konstruktionen zu, bei denen eigentlich nicht versicherbare Finanzrisiken auf private Fonds ausgelagert werden, die dafür einen Risikozuschlag erhalten. Letztlich wird dadurch eine wirtschaftliche Tätigkeit ermöglicht und abgesichert, die sonst nicht entstehen würde.

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S. Zilkens

16.5 Fazit Die Abgrenzung zwischen unternehmerischem und versicherbarem Risiko wird zunehmend verschwinden, wenn sich Fondskonstruktionen mit Hedging-Charakter auch für logistische Dienstleitungen der Zukunft durchsetzen. Bis dahin bleibt allerdings die Notwendigkeit, in Abhängigkeit von der Kapitalkraft des jeweilig abzusichernden Unternehmens, mit der Unterstützung ausreichend kompetenter Versicherungsmakler den Versicherungsmarkt in Bewegung zu halten, um möglichst umfängliche Deckungen auch für die neu entstehenden Risiken zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit zur Verfügung zu haben. Dr. Stephan Zilkens  promovierte an der Universität zu Köln. Seine Versicherungskarriere begann als Kunsthistoriker bei der Nordstern Allgemeine Versicherung AG 1983. Dort baute er das deutsche Kunstversicherungsgeschäft mit auf und war für Vertrieb, Betrieb und Schaden zuständig. Von 1990 bis 2010 war er in zwei Versicherungsgesellschaften und zwei Versicherungsmaklerhäusern als Bereichsleiter, Vorstand bzw. Geschäftsführer tätig. Gothaer führte er zum Marktführer im Bereich der Versicherung von Windkraftanlagen. Seine breite Erfahrung auf unterschiedlichen Feldern des Versicherungsmarktes macht ihn zu einem idealen Partner individuelle Versicherungslösungen auch außerhalb der Kunstversicherung zu entwickeln. 2010 gründete er die Zilkens GmbH Versicherungsmakler und die Zilkens Fine Art Insurance Broker GmbH in Köln.

Die Haftung des Logistikunternehmens in der digitalen Welt

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Andreas Müller

Zusammenfassung

Globalisierung, Automatisierung und Digitalisierung verändern nicht nur technische Abläufe, sondern auch rechtliche Rahmenbedingungen. Der Beitrag geht der Frage nach, mit welchen Haftungsrisiken und neuen rechtlichen Rahmenbedingungen Logistiker sich in der Zukunft konfrontiert sehen und wie sie sich darauf einstellen müssen. Vieles bleibt nicht mehr wie früher, neue Verantwortlichkeiten, die so noch nie bestanden haben, werden den Alltag bestimmen. Der Beitrag zeigt die ganze Palette neuer Herausforderungen für alle in der Logistik agierenden Akteure auf.

17.1 Einleitung Charles H. Duell, dem ehemaligen Leiter des US-Patentamtes, schreibt man die Äußerung zu, er habe im Jahre 1899 die Schließung seiner Behörde beantragt, weil alles, was erfunden werden kann, bereits erfunden wurde. Da wussten Duell und seine Zeitgenossen noch nichts von Globalisierung, Automatisierung und Digitalisierung sowie von rund 57.000 Patentanmeldungen im Jahr 2015 allein in den USA und 160.000 in der EU. Deshalb muss man sich davor hüten zu meinen, man habe alles im Griff und alle Instrumentarien, um die Herausforderungen von heute und morgen zu lösen. Das gilt für die technologische, betriebswirtschaftliche, aber auch für die rechtliche Sicht auf sich rasch wandelnde Systeme.

A. Müller (*)  Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_17

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17.2 Ausgangslage Die Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung reagieren meist mehr auf Entwicklungen gesellschaftlicher und technischer Phänomene als diese vorweg zu nehmen. So ist es auch in der Logistik. Es gibt kein Logistikrecht als ein homogenes, geschlossenes Gebilde. Stattdessen ist es stark fragmentiert in unterschiedliche Teilrechtsgebiete des Transportrechts, des Speditions- und Lagerrechts. Wenn das Handelsgesetzbuch beispielsweise vom „Frachtführer“ und nicht vom „Transportunternehmer“ spricht, zeigt sich schon sprachlich, dass gesetzliche Regelungen weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen, die auch heute noch die Basis für rechtliche Regelungen sind. Die Bestimmungen über die Haftung befassen sich deshalb, national wie international, mit Ansprüchen wegen Verlust, Zerstörung und Beschädigung von Gütern sowie mit der Verspätung beim Transport, und das in unterschiedlicher Weise, je nachdem, ob die Güter mit dem LKW, der Bahn oder dem Binnen-/Seeschiff oder in Kombination der Verkehrsträger multimodal transportiert werden. Dem Transportrecht ist dabei die Eigenart inne, dass Schäden, sofern sie nicht grob fahrlässig oder vorsätzlich verursacht werden, der Höhe nach in Abhängigkeit von ihrem Gewicht ersetzt werden. So sind nach § 425 HGB bis zu 8,33 Sonderziehungsrechte je Kilogramm des Rohgewichts der Sendung bei deren Verlust oder Beschädigung vom Frachtführer zu ersetzen. Ein Sonderziehungsrecht ist eine Recheneinheit des Internationalen Währungsfonds und entspricht derzeit rund 1,22 EUR. Die Regelung entstammt einer Zeit, in der man schwere Güter, wie Kohle und Stahl, und keine leichten, aber teuren Gegenstände, wie Notebooks oder Flachbildschirme, transportierte. Bei einem Sattelzug mit Notebooks, die zusammen nur zwei bis drei Tonnen wiegen, aber leicht einen sechsstelligen Wert in Euro haben, erhält man bei Verlusten oder Beschädigungen solcher Hightech-Güter nie den Warenwert ohne zusätzliche Versicherung vollständig ersetzt, es sei denn, der Schaden wurde grob fahrlässig oder gar vorsätzlich verursacht. Allein dieses kleine Beispiel macht die symptomatische Unzulänglichkeit des Haftungsrechts in unserer heutigen Zeit deutlich.

17.3 Neue Herausforderungen an das Recht Die Digitalisierung führt dazu, die Frage zu stellen, ob wir mit den bisherigen rechtlichen Instrumentarien nach wir vor in der Lage sind, einen gesetzlichen und damit verbindlichen Rahmen für die immer größer werdende Anzahl und Diversifizierung logistischer Abläufe vorzugeben oder ob es neuer rechtlicher Lösungen bedarf, um mit dem digitalen Zeitalter Schritt zu halten. Um es gleich vorweg zu nehmen: so wie die Globalisierung, Automatisierung und Digitalisierung nicht revolutionäre, sondern evolutionäre Prozesse sind, auch wenn manchmal von digitaler Revolution gesprochen wird, so werden rechtliche Antworten nicht, den zehn Geboten gleich, auf dem Berg Sinai auf zwei Tontafeln verkündet. Vielmehr entwickeln diese sich allmählich. Die entscheidende Frage ist dabei, hält das Recht mit der Digitalisierung Schritt?

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Zukünftig werden immer komplexere Leistungen von einem Dienstleister erbracht. Gab es früher die klassische Aufteilung, dass der Frachtführer transportierte, der Lagerhalter verwahrte und der Spediteur organisierte, so ist diese Rollenteilung in den meisten Fällen bereits nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme. Das, was man heutzutage unter dem Begriff der Kontraktlogistik fasst, also die kundengenaue Erbringung unterschiedlicher Leistungen, vom Transport über die Lagerung, Kommissionierung, Montage, Reparatur bis hin zur Zollabwicklung und alles noch mit elektronischem Datenaustausch unterlegt, lässt sich rechtlich längst nicht mehr in ein Korsett des Transportrechts zwängen. Kontraktlogistikverträge sind sogenannte Typenkombinationsverträge, also eine Mischung aus Dienstleistungs-, Geschäftsbesorgungs-, Werk- oder Werklieferungsvertrag. Beim Verlust von Gütern während des Transports greift man auf das Transportrecht, bei Schäden während der Verarbeitung auf das Dienstleistungs- oder Werkvertragsrecht und bei Fehlern der Zollabwicklung unter Umständen auf das allgemeine Schuldrecht in Verbindung mit dem Unionszollkodex oder anderen zollrechtlichen Bestimmungen zurück. Das macht die Handhabung nicht einfacher, Antworten auf rechtliche Fragen schwierig und Risiken einer rechtlichen Auseinandersetzung größer. Ohne fachlich qualifizierten juristischen Beistand ist man heute, erst recht nicht morgen, zur Abfassung von Logistikverträgen in der Lage. Dafür sind die Abläufe bereits jetzt zu komplex, Tendenz steigend. Die Digitalisierung wird die Anforderungen an die Regelungsdichte erhöhen. Die Internationalität nimmt zu. Im Rahmen von Fertigungs- und Lieferprozessen werden oft mehr als zwei Vertragspartner beteiligt. Kommen diese noch aus unterschiedlichen Staaten und sprechen unterschiedliche Sprachen, gilt es erst einmal den Rechtsrahmen zu bestimmen, nach welchem Recht sich die Regelungen des Vertrages richten sollen, welche Vertragssprache gewählt wird, wo Erfüllungsort und Gerichtsstand sind. Nach wie vor ist die wichtigste Pflicht zur Vermeidung von Haftungsfällen zu prüfen, ob man einen verlässlichen und vertrauenswürdigen Vertragspartner hat. Was nützt der beste Vertrag und ein in Deutschland erwirktes Urteil, das man erst aufwendig und langwierig in einem fernen Land vollstrecken muss, um an Zulieferteile zu kommen, die man eigentlich eher gestern als heute brauchte und die der Lieferant in Übersee nicht verschiffte? Hinzu kommt, dass sich neuerdings andere Organisationsformen auftun, die von herkömmlichen Strukturen abweichen. Zu denken ist etwa an Frachtenbörsen oder andere digitale Plattformen, über die Waren und Leistungen angeboten werden, ohne dass man physisch mit dem Anbieter oder Nachfrager in Kontakt kommt oder Produkte und Leistungen mehrfach durchgehandelt werden, ohne dass man dies mitbekommt. Hier kommt es darauf an, rechtlich sicherzustellen, dass nicht nur Anbieter und Nachfrager in die Pflicht genommen werden, sondern auch der Plattformbetreiber für seine Dienste und Leistungen ebenfalls haftbar und wahrnehmbar ist und sich nicht mit dem Hinweis der Haftung entziehen kann, er habe nur eine Plattform zur Verfügung gestellt, der Rest gehe ihn nichts an. Der Datenaustausch wird im Rahmen einer immer engeren Verzahnung der Logistikunternehmen mit ihren Auftraggebern stetig steigen. Das gilt nicht nur für das

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­ atenvolumen, sondern auch für die Qualität der Daten. Geht es derzeit vornehmD lich um Daten über eingelagerte Mengen und Produkte, Track und Tracing und andere Sendungsdaten, so wird sich dies in Zukunft verstärkt auf Daten ausweiten, die den gesamten Produktions- und Lieferprozess, einschließlich detaillierter Herstellungsdaten und Kundeninformationen betreffen. Liegen diese Daten dann noch in einer Cloud und werden über ausländische Server gesteuert und verwaltet, dann werden Fragen der Haftung, des Zugriffs auf die Daten und andere rechtliche Themen sehr komplex. Wer haftet für Daten, die einer Cloud unberechtigt entnommen werden, wenn man dies überhaupt erkennt? Wer hat überhaupt hierauf Zugriff? Wie bemisst sich ein Schaden, wenn Daten entnommen und zweckwidrig verwendet werden? Diese Fragen stellen heute schon Gerichte und Anwälte vor Schwierigkeiten. Zukünftig gewinnen sie noch an Bedeutung, denn wer Daten hat, hat Macht. In einer global ausgerichteten Welt mit sehr unterschiedlichen Datenschutzstandards und Rechtssystemen besteht die Gefahr, dass ein Unterlaufen von Rechtssystemen als Standortvorteil angesehen wird. Internationaler Datenschutz und Schutz gewerblicher Rechte sind deshalb unerlässlich. Sie stecken noch in den Anfängen, wenn man die rasche Entwicklung von Big Data und Digitalisierung der Märkte vor Augen hat. Mag die viel gescholtene EU-Datenschutz Grundverordnung in Einzelfällen eher Hemmnis als Vorteil und ein „eurokratisches Monster“ sein, so ist die dahinterstehende Idee eines EU-weiten Datenschutzstandards der Weg in die richtige Richtung. Auch dem Patent- und dem übrigen gewerblichen Schutzrecht wird zukünftig eine stärkere Bedeutung in der Logistik zukommen. Dadurch, dass die Digitalisierung auch eine „Entkörperlichung“ von Prozessen ermöglicht, man denke etwa an die additive Fertigung mittels des 3-D-Drucks, werden Logistiker zu Herstellern, zumindest zu verlängerten Werkbänken ihrer Auftraggeber. Dies geht nur, indem man ihnen die Möglichkeit bietet, auf Programme, Muster, Werkstücke, Gebrauchsmuster, Urheberrechte etc. zurückzugreifen. Wird ein Logistiker damit beauftragt, mittels 3-D-Druck vor Ort einen Sportschuh zu fertigen, der die berühmten drei Streifen trägt, so muss er auch berechtigt sein, diese Marke zu nutzen, das geschützte Know-how, wie der Schuh gefertigt wird, zu verarbeiten, ohne mit den Rechteinhabern in Konflikt zu geraten. Überlässt ein Auftraggeber einem Logistikdienstleister seine geschützten Daten über Rezepturen, Materialien und Fertigungsprozesse, so öffnet er damit den Kernbereich seiner industriellen Tätigkeit für Dritte, was für ihn ein enormes Wagnis darstellen kann, denn es handelt sich um Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, die den Fortbestand seines Unternehmens sichern. Diese zur Auslagerung an Dritte weiter zu geben, kann Sinn machen, wenn man sich aufwendige Transportwege und Lagerhaltungskosten sparen möchte. Doch wer diese Möglichkeit eröffnet, gibt sie ein Stück weit aus der Hand. Dies kann und sollte nicht ohne umfangreiche technische wie auch rechtliche Absicherungen geschehen. Mehr als jetzt wird der Bereich des Schutzes vor der unlauteren Nutzung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und Produktpiraterie bei der Gestaltung von Logistikverträgen, aber auch bei internationalen Handelsübereinkommen, Raum einnehmen müssen.

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Immer dann, wenn Digitalisierung dazu führt, dass Mehrwerte geschaffen werden, indem Produkte hergestellt oder Teile zu Produkten zusammen gesetzt werden, hat der Logistiker Kontakt mit dem Produkthaftungsrecht. War er früher als Transporteur oder Lagerhalter nur für die Beschädigung, den Verlust oder bei Verspätungen verantwortlich, so trägt er – je nach Einbindung in die Fertigung – Produktverantwortlichkeit, nicht nur seinen Vertragspartnern gegenüber, sondern gegenüber Jedermann, der mit den Produkten in Kontakt gerät. Verwendet er z. B. bei der Herstellung des Schuhs ein falsches Material und knickt dadurch ein Käufer des Schuhs um und bricht sich das Fußgelenk, haftet der Logistiker hierfür nach den Bestimmungen des Produkthaftungsrechts, auch wenn zwischen beiden keine vertragliche Beziehung besteht. Neue Chancen schaffen eben neue Risiken, deren man sich bewusst sein muss und die es abzusichern gilt. Ein ganz anderer Bereich, in dem es zukünftig die Fragen der Haftung neu abzustecken gilt, ist der Transport von Gütern mit autonomen Systemen. Autonomes Fahren von LKW und Zustellfahrzeugen, der Transport von Gütern mit Drohnen oder durch fahrerlose Bahnen und Röhrensysteme stehen am Anfang der Entwicklung. Ihr „go live“ hängt nicht unwesentlich davon ab, wie die Fragen der Haftung für Fehler gelöst werden. Wer ist verantwortlich, wenn ein Mensch durch einen fahrerlosen LKW verletzt oder gar getötet wird? Bislang war der LKW-Fahrer hierfür verantwortlich und das Logistikunternehmen nur in Ausnahmefällen, etwa weil das Fahrzeug nicht richtig gewartet oder die Arbeitszeiten des LKW-Fahrers gegen Lenk- und Ruhezeiten verstoßen und hierdurch Schäden entstanden. Mit dem autonomen Fahren werden der IT-Leiter und der Geschäftsführer des Transportunternehmens quasi zum Berufskraftfahrer. Zumindest geht die bisherige Verantwortung eines nicht mehr existierenden Fahrers durch das autonome Fahren auf andere Personen in der Verantwortungskette über. Computerfehler oder falsche Dateneingaben werden haftungsbegründende Tatbestände, die über Leib und Leben entscheiden können. Ganz kompliziert wird die Frage der Haftung, wenn Fahrzeuge im Straßenverkehr autonom miteinander kommunizieren. Stimmen die eingesetzten Fahrzeugsysteme untereinander Daten ab, etwa um die Geschwindigkeit und den Abstand zum Vordermann zu berechnen und damit auch Daten für Bremswege oder Ausweichmanöver in Notfällen zu generieren, muss man im Schadenfall ermitteln, welche Daten zu welchen Fehlreaktionen führten und wer letzten Endes dafür verantwortlich ist. Selbst bei der größten Autonomie des Internets der Dinge und künstlicher Intelligenz, es bleibt der Mensch, der hierfür haftet. In Abwandlung des bekannten Warnhinweises „Eltern haften für ihre Kinder“, kann man sagen: „Unternehmer haften für ihre Computer“. Man stelle sich in diesem Zusammenhang folgendes Szenario in Zeiten künstlicher Intelligenz vor: Ein autonom fahrender Lkw erkennt vor sich eine plötzlich auf die Straße tretende Person. Durch seine Vernetzung mit unterschiedlichen Datenbanken wird in Bruchteilen von Sekunden berechnet, welche möglichen Schäden an Lkw und Ladung entstehen, sollte eine Vollbremsung erfolgen, um einen Zusammenprall mit der Person zu vermeiden. Parallel errechnet das System, ob es günstiger ist, einen Personenschaden in Kauf zu nehmen, weil die aus den Datenbanken abrufbaren, voraussichtlichen Heilbehandlungs- oder sogar Beerdigungskosten niedriger sind als ein möglicher

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Schaden an Ladung und Lkw oder Folgeschäden, etwa ein Produktionsstillstand durch die unfallbedingte, verspätete Lieferung. Was auf den ersten Blick zynisch klingen mag, ist bei emotionsloser Betrachtung nur ein konsequent durchdachter Beispielfall miteinander interagierender EDV-Prozessoren, die darauf ausgerichtet sind, Kosten-Nutzen-Analysen zu erstellen und in ihrer binären Welt den effizientesten Weg zu wählen. Wie soll man in einem solchen Fall noch die Verantwortlichkeit für vollständig computerbasierte Abläufe einer natürlichen Person zuordnen? Im Zweifel müsste in solchen Fällen eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung des Unternehmens für die von ihr eingesetzten autonomen Lkw geschaffen werden. Dies läuft, hält man an der bisherigen Konstruktion fest, dass immer eine natürliche Person die Letztverantwortlichkeit hat, auf die Haftung des Unternehmensinhabers oder Geschäftsführers hinaus. Hiervon wird man sich langfristig lösen müssen, denn der Mensch gibt die Dinge wie in Goethes Zauberlehrling aus der Hand. Will man hier nicht eine grenzenlose Haftung schaffen, müssen vor allem entsprechende Versicherungslösungen die Risiken abdecken, damit nicht Unternehmen und deren handelnde Personen einer nahezu grenzenlosen Haftung ausgesetzt werden. Dazu müssen Versicherungen jedoch bereit sein. Ein Automatismus oder rechtliche Verpflichtung bestehen nicht. Im Bereich der Drohnen hat man hier bereits im Luftverkehrsrecht nachgebessert, doch dieser Verkehrsträger wird zunächst eher eine Nische sein und im Massengüterverkehr nicht die vordringliche Rolle spielen. Was immer bleibt, ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Leichter zu fassen ist die Haftung für Güter- und Verspätungsschäden. Ob national oder international, die gesetzlichen Regelungen für Güter- und Verspätungsschäden gehen beim Haftungsgrund, also bei der Frage, ob gehaftet wird, von einer sogenannten Obhutshaftung aus. Danach haftet der Transportunternehmer für Güter- und Verspätungsschäden in der Zeit von der Übernahme zur Beförderung bis zur Ablieferung, unabhängig vom Verschulden. Dabei ist es egal, ob der Transport mit einem Fahrzeug erfolgt, das von einem Menschen im Führerhaus gelenkt oder autonom gesteuert wird. Werden Güter anlässlich dieses Transports beschädigt oder zerstört, etwa weil der Computer oder eine Kamera eine Verkehrssituation falsch einschätzt und eine Notbremsung auslöst, wird nach den §§ 425 ff. HGB oder bei internationalen Straßengütertransporten nach den Art. 17 ff. CMR-Übereinkommen gehaftet. Für den Transportunternehmer wird es mit zunehmendem Grad des autonomen Fahrens schwieriger, sich auf Haftungsbefreiungen bei Güterschäden zu berufen. So ist der Frachtführer heute von der Haftung befreit, wenn er die dazu führenden Umstände auch bei größter Sorgfalt nicht vermeiden und deren Folgen nicht abwenden konnte (§ 426 HGB). Staus, Wetterbedingungen, Streckeninformationen, all das wird zukünftig immer mehr und immer genauer durch einen ständigen Datenaustausch der Fahrzeuge vorhersehbar sein. Lenk- und Ruhezeiten gehören spätestens mit dem autonomen Fahren der Vergangenheit an, wenn die Frage, wie man ein fahrerloses Fahrzeug tankt und der Bezahlvorgang verläuft, in der Praxis geklärt ist. Damit wird die Möglichkeit des

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Eintritts von Risiken, die man gerne als „force majeure“ bezeichnet, immer kleiner. Das Transportunternehmen wird immer transparenter, seine Möglichkeiten, sich auf Haftungsausschlüsse im bisher bekannten Umfeld zu berufen, damit kleiner, wenn nicht gar ausgeschlossen.

17.4 Fazit und Ausblick Logistiker denken und agieren in Prozessketten. Nicht zuletzt deshalb sind sie oft der Treiber des Wandels. Wie gefährlich es ist, einen statischen Standpunkt einzunehmen, zeigt die eingangs erwähnte Aussage von Charles H. Duell. Auch das Recht ist nichts Statisches, denn es muss Antworten auf Fragen des Hier und Jetzt und auch des Morgen geben. Gerade die Zukunft stellt das Recht und die Rechtsanwendung vor größere Herausforderungen. Die bestehenden Haftungsregeln müssen konsequent weiter entwickelt werden, denn sie werden nur bedingt den neuen umwälzenden Veränderungen der kommenden Jahrzehnte gerecht. Wir werden die Notwendigkeit einer stärkeren Internationalisierung des Haftungsrechts erkennen und in die Praxis umsetzen müssen, wenn Globalisierung und künstliche Intelligenz den Globus als universellen Marktplatz schaffen. Wir werden die bisherigen starren Haftungsgrenzen des HGB, des CMR und anderer multinationaler Übereinkommen aufbrechen müssen, da sie nicht mehr den heutigen Parametern der zu transportierenden Güter entsprechen. Selbst die letzten gesetzlichen Änderungen anlässlich des Seerechts-Reformgesetzes werden zukünftig nicht ausreichen, um die anstehenden grundsätzlichen Umwälzungen in allen Einzelheiten zu erfassen. Wir werden noch stärker als bisher individuelle vertragliche Regelungen schaffen, damit Risiken aus den unterschiedlichsten Bereichen des Transportrechts, des gewerblichen Rechtsschutzes, des Produkthaftungs- und des IT-Rechts so gefasst und geregelt werden, dass damit Handel, Logistik und Entwicklung ermöglicht und nicht verhindert wird. Globalisierung, Automatisierung und Digitalisierung bieten für Logistikunternehmen neue Geschäftsfelder und Chancen. Sie führen gleichzeitig dazu, dass vertragliche Beziehungen unter den einzelnen Parteien komplexer und oftmals risikoreicher werden. Es besteht die Gefahr, dass kleinere Unternehmen nicht das Know-how und die personellen und finanziellen Kapazitäten haben, um auf einem globalen und zugleich hoch technisierten und spezialisierten Markt agieren zu können. Kleinere Unternehmen werden vielfach Haftungsrisiken, etwa im Rahmen des Produkthaftungsrechts oder des gewerblichen Rechtsschutzes für Lizenzen und Marken, entweder nicht eingehen wollen oder können, z. B. weil sie nicht das Risiko durch eine Versicherung eindecken können. Damit wird die Tendenz einer zunehmenden Konzentrationswirkung von mittleren und großen Logistikunternehmen forciert. Mittlere und große Unternehmen können leichter den Kapitaleinsatz für ein internationales Operieren und für den mit der Digitalisierung notwendigen Ausbau der IT-Infrastruktur leisten. Gleichwohl darf dies nicht dazu führen, dass sich haftungsrechtlich das Recht des Stärkeren durchsetzt. Haftungsregeln müssen

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auch zukünftig unter dem Gesichtspunkt gefasst werden, dass sie großen wie kleinen Unternehmen gleichermaßen ein wirksames Rechtsinstrument an die Hand geben, ihre berechtigten Forderungen schnell, wirksam und umfänglich durchzusetzen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass Logistikunternehmen stärker denn je fachliche juristische Unterstützung von Beginn einer jeden Projektarbeit an einsetzen müssen, um Haftungsrisiken zu erkennen und zu beherrschen.

Dr. Andreas Müller  ist Partner der wirtschaftsrechtlich ausgerichteten Kanzlei SVM Rechtsanwälte in Köln. Als langjähriger Fachanwalt für Speditions- und Transportrecht vertritt er national und international operierende Logistikunternehmen und andere Mandanten in Fragen des Transport-, Speditions- und Logistikrechts sowie in Fragen des Zoll- und Außenwirtschaftsrechts. Ein weiterer Schwerpunkt der anwaltlichen Tätigkeit liegt in der Beratung und Konzeption von Logistikverträgen und anderer logistischer Vereinbarungen. Zugleich vertritt Dr. Andreas Müller als Geschäftsführer des Vereins zur Förderung des lauteren Wettbewerbs im Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe e. V./ Köln rund 80 mittelständische Logistikunternehmen bei der Wahrnehmung wettbewerbsrechtlicher und wettbewerbspolitischer Anliegen. Er ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Transportecht im Deutschen Anwaltverein und der Deutschen Gesellschaft für Transportrecht. Er veröffentlicht regelmäßig Beiträge zu rechtlichen Themen in juristischen Fachzeitschriften und der Deutschen Verkehrs-Zeitung.

Inhabergeführtes Unternehmen vs. Konzern

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Zusammenfassung

Den Herausforderungen und die daraus resultierenden Strategien, die inhabergeführten Logistikunternehmen im modernen Wettbewerb mit Großunternehmen eingehen, widmet sich das Kapitel. Wie gelingt es den Spezialisten im Detail, die eigenen Stärken und Vorteile gegenüber den globalen Generalisten zu nutzen? Es wird betrachtet, wie den wachsenden Kundenanforderungen und Sendungsmengen mit ausgewählten Service- und Lösungsoptionen entgegen getreten werden kann, was im Kampf um geeignete Mitarbeiter wichtig ist und warum Kundennähe, inhaltliche Fokussierung, Authentizität – um nur eine Auswahl zu nennen –, als wesentliche Säulen des Erfolgs eigentümergeführter Unternehmen angesehen werden können. Im Gegenzug geht das Kapitel auf die Grundzüge des Konzernerfolgs ein und beleuchtet die Bedeutung standardisierter Prozesse und guter Organisation, die die Abwicklung großer Mengen erst möglich machen.

18.1 Was heißt „inhabergeführt“? Schwerfälliger Tanker gegen wendiges Schnellboot – oft helfen Analogien, Unterschiede greifbarer zu machen, wie im Vergleich von inhabergeführten Unternehmen mit Großkonzernen: „Wir haben schlanke Prozesse, sind direkt am Markt“ und „Kein schwerfälliger Tanker, der den Kurs nicht ändern kann“, zitieren die Berater von Ernst & Young in der

U. Nolte (*)  Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_18

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Studie „Black Box Mittelstand“1 einen Firmenlenker. Die Aussage unterstreicht, wie wichtig die Flexibilität inhabergeführter Firmen im Wettbewerb mit Großkonzernen ist. Wobei wir bei der Frage wären: Worüber reden wir, wenn wir von inhabergeführten Unternehmen sprechen? Die Stiftung Familienunternehmen definiert eigentümergeführte Firmen als „Untergruppe der familienkontrollierten Unternehmen“, die sich „mehrheitlich im Eigentum einer überschaubaren Anzahl von natürlichen Einzelpersonen befinden“. Demnach hat wenigstens einer der Eigentümer auch die Leitung des Unternehmens inne. „Von den aktiven Unternehmen in Privatbesitz sind rund 2,4 Mio. familienkontrollierte Unternehmen, 2,3 Mio. davon eigentümergeführte Familienunternehmen.“ Damit sind 86 % aller Unternehmen in Deutschland eigentümergeführt.2

18.2 Logistik zählt zu den Top-5-Branchen Im Vergleich zu Branchen wie dem Maschinenbau oder den Automobilzulieferern führt die Logistik ein Nischendasein. Dennoch zählt die Logistik zu den Top-5-Branchen der 1000 umsatzstärksten Familienunternehmen in Deutschland und ihre Bedeutung wächst: Von den insgesamt 21 Neuzugängen im Top-1000-Ranking vom März 2019 zählten fünf zur Logistikbranche, so viele wie in keinem anderen Wirtschaftszweig (Die Deutsche Wirtschaft 2019).3 Ein Top-1000-Neuzugang ist die Bremer Dettmer Group (Rang 596), die unter anderem in den Bereichen Schifffahrt, Logistik, Lagerung und Umschlag aktiv ist. Auch die Schmidt-Gruppe, ein Schüttgut-Spezialist mit Sitz in Heilbronn, ist neu in der Rangliste (Rang 796) und die Firmenbeschreibung – rund 2000 Mitarbeiter, 49 Standorte weltweit – verdeutlicht, dass wir nicht über Kleinbetriebe sprechen. Zu den bedeutendsten Familien aus Spedition und Logistik zählen Namen wie Rethmann (Rhenus, Remondis), Fiege (Fiege Gruppe) und Simon (Dachser). Mit Dachser, Rhenus sowie Kühne + Nagel sind gleich drei der Top-5-Logistikunternehmen mehrheitlich in Familien- bzw. Eigentümerhand. Im Fall Kühne + Nagel hält Klaus-Michael Kühne über eine Holding gut 53 % der Anteile.4 Die Beispiele zeigen, welche Bandbreite an Firmen das Label „inhabergeführte Logistikunternehmen“ tragen. Auf den ersten beiden Rängen der Logistik-Liga sind dagegen die Deutsche Post DHL Group, die zu fast 80 % im Streubesitz ist, sowie die

1Ernst

& Young: „Black Box Mittelstand“, Stuttgart (2018), S. 9. Familienunternehmen: „Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Familienunternehmen“, München (2017), S. 9. 3DDW Die Deutsche Wirtschaft GmbH: Die 1000 größten Familienunternehmen 2019, Neuss (2019). 4DDW Die Deutsche Wirtschaft GmbH: Top-Familienunternehmen im März, Neuss (2019). 2Stiftung

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Deutsche Bahn, einschließlich DB Schenker und DB Cargo, die zu 100 % im Besitz des Bundes ist. Doch woher kommt diese wachsende Bedeutung der Branche? Die Logistikunternehmen, die die Industrie-, Maschinenbau- oder auch andere Dienstleistungsunternehmen mit ihrem Produkt- und Serviceportfolio weltweit unterstützen und damit deren globales Agieren erst möglich machen, haben sich im Laufe der Jahrzehnte zu nicht wegzudenkenden Bindegliedern im Produktionsnetzwerk entwickelt.

18.3 „Immer filigranere Güterströme“ In welchem Marktumfeld agieren die inhabergeführten Logistikdienstleister? Nach Angaben von Fraunhofer ist das Umsatzvolumen der Logistikwirtschaft 2017 dank gestiegener Nachfrage und höherem Preisniveau um drei Prozent auf 267 Mrd. EUR gewachsen (Fraunhofer SCS 2018).5 Während die Transportmenge insgesamt nicht wesentlich ansteigt, nimmt die Anzahl der Sendungen zu. Immer leichtere Pakete werden durch die Logistiknetze geschleust. „Auch ohne höhere Tonnagen im Gesamtsystem kann für die Logistik also lukratives Wachstum entstehen, da die Versorgungsketten sich mehr und mehr bis hin zu den Endkunden erstrecken und filigranere Güterströme resultieren, die aufwendiger in der Erbringung sind und somit teurer“, so Fraunhofer6. Entsprechend verzeichnen die Kurier-, Express- und Paketdienste (KEP) ein überdurchschnittliches Wachstum. Zwischen 2000 und 2017 haben sich Sendungsvolumen und Umsatz im deutschen KEP-Markt jeweils nahezu verdoppelt (BIEK 2018).7 Demnach wächst der KEP-Markt seit 2000 mit jährlich 3,9 % stärker als der gesamte Logistikmarkt (+2,5 %). Wegen des wachsenden Online-Handels und der Zunahme internationaler Sendungen wird sich der KEP-Markt bis 2022 der Prognose nach weiter beschleunigen. Wer ist nun aber erfolgreicher? Der Spezialist, der auf einem Gebiet mehr Wissen und Qualifikation mitbringt, oder der Generalist, der breiter aufgestellt ist und die Masse bedienen kann?

5Martin

Schwemmer: Fraunhofer SCS- Studie – TOP 100 DER LOGISTIK 2018/2019, Nürnberg (2018), S. 5. 6Fraunhofer SCS: TOP 100 DER LOGISTIK 2018/2019, Nürnberg (2018, S. VII) (Vorwort). 7Bundesverband Paket und Expresslogistik e. V. (BIEK): KEP-Studie 2018 – Analyse des Marktes in Deutschland, Berlin 2018, S. 8.

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18.4 Grundzüge des Konzernerfolges Mit standardisierten Prozessen und einer guten Organisation gelingt es den großen Logistikkonzernen, das stetige Wachstum im Markt abzuarbeiten. „Masse statt Klasse“, mag einer behaupten, aber für die immer weiter steigenden Sendungszahlen, nicht zuletzt ein Ergebnis des boomenden Online-Handels, braucht es Generalisten, die einen Großteil dieser Menge transportieren, umschlagen und lagern können. Und das geschieht nicht nur in Deutschland, sondern deutsche Unternehmen haben längst den Sprung in die Welt geschafft. Bietet der Markt doch den Zugang zu weiteren gewinnbringenden Absatzmärkten und erleichtert das kontinuierliche Wachstum der Unternehmen. Die Logistiker erwirtschaften damit beträchtliche Umsätze, z. B. die Deutsche Post DHL Group 70,55 Mrd. US$, die Deutsche Bahn 48,13 Mrd. US$ (Statista 2019).8 Um ihre Unternehmen national wie international erfolgreich steuern zu können, nutzen die Manager neben ihrer Entscheidungsgewalt selbstverständlich die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten im Kapitalmarkt. So können mit mittel- und langfristigen Finanzmitteln Unternehmensentscheidungen umgesetzt und z. B. neue Geschäftsfelder erschlossen werden. Laut Statista planen deutsche Logistikunternehmen 2019 in die Bereiche Logistik-Software, Facilities oder auch Fahrzeuge zu investieren (Statista 2019).9 Gemäß dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft „investierten deutsche Unternehmen im Jahr 2015 einen Betrag von rund 62 Mrd. EUR in ihre Forschung und in die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen. Die Innovationsausgaben bis zur Markteinführung belaufen sich auf rund 157 Mrd. EUR.“ (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2019)10 So wird unter anderem für aktuelle gesellschaftliche Themen und Kundenanforderungen Sorge getragen: Innovative Zustellkonzepte werden erarbeitet, alternative Antriebe wie die E-Mobility oder Erdgas vorangetrieben und Services wie z. B. SameDay-Lieferkonzepte ausgebaut. Konzerne investieren zudem in gut strukturierte Prozesse, die den Mitarbeitern eine Fülle von zentral bereitgestellten Hilfsmitteln und gesteuerten Maßnahmen zur Verfügung stellen. Mitarbeiter werden kontinuierlich weiterentwickelt, um neue ­Vertriebspotenziale zu erkennen, den Markt zu verstehen und die sich daraus ergebenden Chancen umzusetzen. 8Fortune;

Unternehmensangaben (2018): The Fortune Global 500, zitiert nach de.statista.com, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/12917/umfrage/rangliste-der-500-groessten-unternehmen-deutschlands/. Zuletzt abgerufen am 17. Mai 2019. 9SCI Verkehr (2019): Geplante Investitionen in der deutschen Logistik-Branche im Jahr 2019, zitiert nach de.statista.com, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/180099/umfrage/ investitionen-in-der-logistik-branche-in-deutschland/. Zuletzt abgerufen am 17. Mai 2019. 10https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/innovationspolitik.html. Zuletzt abgerufen am 17. Mai 2019.

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18.5 Auf Augenhöhe mit dem globalen Generalisten Laut Fraunhofer haben die „filigraneren Güterströme“ „einen höheren Aufwand für logistische Leistungen zur Folge, die ein weiteres Wachstumspotenzial für die Logistik darstellen. Im Zuge dessen werden eine stetige Kundenorientierung und der Aufbau von Branchenkompetenz zum Mittel der Logistikdienstleister, um daran teilzuhaben.“ (Fraunhofer 2018)11 Wie es den spezialisierten inhabergeführten Unternehmen mit ausgefeilten Strategien im Wettbewerb mit den Großkonzernen gelingt, ihre Stärken und Vorteile zu nutzen, hat viele und oft ganz firmenspezifische Gründe. Es gibt natürlich keine „one-fits-all solution“, keine Standardlösung. Es seien hier die fünf Säulen genannt, die als entscheidend für den Erfolg angesehen werden können: 1. Kundennähe 2. inhaltliche Fokussierung 3. Mitarbeiter 4. Unternehmensführung und Authentizität 5. Finanzierung und Haftung

18.5.1 Kundennähe fördert maßgeschneiderte Logistiklösungen „Gute Mittelständler […] pflegen intensive Kundenbeziehungen“, heißt es in der „Black Box Mittelstand“-Studie12. Inhabergeführte Unternehmen nutzen diesen ganz besonderen Vorteil der Kundennähe gegenüber Großkonzernen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass – vor allem vor dem Hintergrund der häufig individuellen Kundenanforderungen – die sowohl physische als auch inhaltliche Nähe zum Kunden sich in der Zusammenarbeit bewährt. Kundenspezifische Prozesse können so stärker durchdrungen und gemeinsam maßgeschneiderte Logistiklösungen entwickelt werden. Natürlich schätzen gerade die betreuungsintensiven Kunden auch persönliche, feste Ansprechpartner, die ihre Kundenwünsche notfalls kurzfristig realisieren können und nicht weit entfernt und losgelöst vom Produktionsprozess in Call-Centern sitzen. Diese Art der Flexibilität zeigt einen deutlichen Vorsprung der Unternehmen gegenüber den Global Playern.

11Schwemmer, Martin: Fraunhofer SCS – TOP 100 DER LOGISTIK 2018/2019, Nürnberg 2018, S. 1. 12Ernst & Young: „Black Box Mittelstand“, Stuttgart (2018, S. 9).

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18.5.2 Fokussierung auf ausgewählte Service- und Lösungsoptionen Während viele Konzerne über Jahre ihre Geschäftstätigkeit in unterschiedlichen Geschäftsfeldern aufgebaut haben, um dort die breite Masse bedienen zu können, fokussieren sich kleine und mittelständische Unternehmen in der Regel eher auf bestimmte Logistikgeschäfte, die abseits der Standardisierung abgebildet werden müssen. D. h., auch dedizierte Kunden- oder Marktsegmente werden bearbeitet und eine durchgehend hohe Verfügbarkeit der Waren hergestellt. Damit wird also ein Prozess realisiert, der für den Kunden konkret wertschöpfend ist. Durch die auf seine individuellen Bedürfnisse abgestimmte Dienstleistung erfährt der Kunde z. B. neben der hohen Verfügbarkeit vor allem Zuverlässigkeit sowie einen Rund-um-die-Uhr-Service und kann seine Ausfallzeiten deutlich minimieren. Neben speziellen Belangen, die durch den Logistikdienstleister realisiert werden sollen, z. B. eine hohe Warenverfügbarkeit, liegt ein weiterer Fokus auf der Erfüllung besonderer Transportanforderungen. So hat sich z. B. die Talke GmbH & Co. KG im Bereich der Chemielogistik oder die Loxxess Pharma GmbH auf Pharmalogistik konzentriert, um nur zwei prominente Beispiele zu nennen. „Familienunternehmen streben häufig eine Marktführerschaft auf sehr spezialisierten Märkten an. Sie haben zwar oftmals kein breites Produktangebot, aber dafür einige Kernprodukte bzw. Kernkompetenzen, mit denen sie auf Nischenmärkten Weltmarktführer sind. Sie entwickeln ihre Produkte und Dienstleistungen weiter und verfolgen damit eine ausgeprägte Differenzierungsstrategie“, so das Institut für Mittelstandforschung Bonn.13 Ähnlich wie Deutschlands „Hidden Champions“ durch hochklassige Nischenprodukte und spezielle Dienstleistungen Spitzenpositionen auf dem (Welt-)Markt belegen, können kleinere, inhabergeführte Logistiker die Spezial- und Individualgeschäfte abwickeln, die Großkonzerne mit ihren Standardsystemen nicht abbilden wollen oder können.

18.5.3 Der Mitarbeiter als wichtigster Teil der Wertschöpfungskette Die Gesellschaft ist schnelllebiger geworden, die Logistikbranche in den vergangenen Jahren stark gewachsen und die Kundenanforderungen werden immer individueller und komplexer. Dies hat natürlich auch die Tätigkeitsfelder der Mitarbeiter verändert. Man muss sich aufeinander verlassen, um jeden Tag das Qualitätsversprechen gegenüber den Kunden erfüllen zu können. Das betrifft jeden einzelnen Mitarbeiter und somit selbstverständlich auch Fahrer, die täglich auf der Straße unterwegs sind.

13Institut für Mittelstandsforschung Bonn (Hrsg.): Innovationstätigkeit von Familienunternehmen, Bonn 2013, S. 11.

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Teamgeist, Engagement, Einsatzbereitschaft und Zuverlässigkeit sind Werte, die in inhabergeführten Unternehmen großgeschrieben werden. Jeder Mitarbeiter ist ein Teil des Systems, in dem wie in einem Uhrwerk viele Teile ineinandergreifen. Tagtäglich werden so mit Kunden maßgeschneiderte Logistikkonzepte erarbeitet. Logistiknahe Services wie z. B. die Auslieferung von technischen Geräten, fachmännische Installations-, Reparatur- oder Serviceaufgaben oder auch Hochverfügbarkeits-Logistik machen auch den Beruf eines Kurierfahrers wesentlich herausfordernder, als er vor Jahren noch war. Genauso macht die Digitalisierung vor dem Fahrer nicht Halt: Die Kuriere sind permanent vernetzt und stellen sich mittels digitaler Unterstützung den täglichen Herausforderungen, um flexibel agieren zu können. Digitalisierung ist dabei nicht alles; wo Konzerne mit Industrie 4.0 oder Pilotprojekten die digitale Revolution ausrufen, setzt der Mittelstand im ersten Schritt auf eine profunde fachliche Qualifizierung seiner Mitarbeiter. Daneben leben die Inhaber vor allem ihre ganz ureigene Stärke aus. „In ihrer Struktur verfügen diese Unternehmen über ein wichtiges Kapital: Persönlichkeit“, so in der EY Black Box Mittelstand-Studie 201814. Und die FAZ schrieb 2016 in einem Artikel über die Vorteile familiengeführter Unternehmen: „Statt eine Stabsabteilung zwei Jahre zu beschäftigen, einen firmeneigenen Verhaltenskodex zu entwickeln, lebt der Unternehmer dies in vielen Fällen vor. Er kennt seine Mitarbeiter mit Namen und lässt sich auch mal im Lager sehen.“15 Wertschätzung und ein verstärkter Dialog mit der Belegschaft über Erwartungen und Bedürfnisse sind der Schlüssel, um in Zeiten eines demografisch sinkenden Angebots an Fachkräften Mitarbeiter für ein Unternehmen zu begeistern. Denn viele junge Leute wollten „nicht mehr fürs Eigenheim ackern bis zum Umfallen, sondern Work-Life-Balance“, so die EY Mittelstands-Studie16. Eine positive Unternehmenskultur fördert die Kreativität und das Engagement der Mitarbeiter. Damit werden wettbewerbsfähige Arbeitsbedingungen geschaffen und die Loyalität zum Unternehmen gefestigt. Sicherer Arbeitgeber – auch in Krisenzeiten. Starke Marken ziehen starke Mitarbeiter an, stellen die Logistikweisen in ihrem Ausblick auf 2019 fest. „Die Logistik ist nicht als Innovationstreiber bekannt, muss dies jedoch werden, um die Zukunftsfähigkeit zu unterstreichen“, so das Fazit17. Unternehmen müssten spannende Geschichten aus ihrem Alltag erzählen und ihre Vorhaben transparent machen.

14Ernst

& Young: „Black Box Mittelstand“, Stuttgart (2018, S. 14).

15 https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/vorteile-von-familiengefuehrten-unterneh-

men-14244132.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0. Zuletzt abgerufen am 17. Mai 2019. Schmeinke: Generationen und Werte. In Ernst & Young (Hrsg.): „Black Box Mittelstand“, Stuttgart 2013, S. 14. 17http://www.logistikweisen.de/wAssets/docs/ergebnis-herbst-2018.pdf, S.  8. Zuletzt aufgerufen am 17. Mai 2019. 16Martina

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Im Kampf um Fachkräfte müssen inhabergeführte Unternehmen etwa ihre Langfristigkeit und Beständigkeit unterstreichen. Die globale Finanzkrise ab Ende 2008 hat gezeigt: Familien- und eigentümergeführte Unternehmen bieten Mitarbeitern Sicherheit und Stabilität. Viele dieser langfristig orientierten Unternehmen hielten ihre Fachkräfte an Bord. Statt Kündigungen auszusprechen, reduzierten sie – unterstützt durch das staatliche Kurzarbeit-Modell – übergangsweise Arbeitszeit und Gehalt, bis sich die Lage verbesserte. Denn Entrepreneure denken in Generationen, nicht in Quartalen wie die Vorstände von Aktiengesellschaften. Dazu gehört auch, dass Gewinne nicht an Aktionäre ausgeschüttet werden müssen, sondern im Unternehmen bleiben.

18.5.4 Flexibilität durch flache Hierarchien Was sich im Hinblick auf die Selbstverständlichkeit der Wertschätzung der Mitarbeiter zeigt, kommt nicht von ungefähr. In den Genen der Unternehmer ist eines strategisch fest verankert: die Gemeinschaft, die sich unter anderem in mit den Mitarbeitern erarbeiteten Leitbildern und Prinzipien wiederfindet und die Werte und Normen des Unternehmens widerspiegelt. Die Gemeinschaft wird als Wurzel und Zukunft des Erfolgs angesehen, sie gilt es mit Engagement, Leidenschaft, Loyalität und Authentizität zu verteidigen. Das eigene Handeln ist ehrlich, überlegt und verantwortungsvoll. Flache Hierarchien, kurze Abstimmungswege und die hohe Eigenverantwortung eines jeden Einzelnen prägen zudem den Mittelstand. Anders würde die durch den Kunden geforderte Flexibilität nicht zu leisten sein. Das Vorurteil vom „allein entscheidenden Patriarchen“ im Mittelstand bleibt genau das: ein Vorurteil. „Zu Recht liegt das letzte Wort bei denen, die auch das wirtschaftliche Risiko tragen“, so zitiert Ernst & Young. Und weiter: „Wir erleben reflektierte Führungspersönlichkeiten, die das Gespräch auf Augenhöhe suchen, mit ihren Beschäftigten diskutieren und ohne Eitelkeit einfach die beste Lösung erzielen wollen.“18 So ist es nicht verwunderlich, dass gerade Unternehmer, die authentisch ihr Unternehmen führen, wertvolle Mitarbeiter anziehen, die es schätzen, Teil des Teams zu sein, Raum für eigene Ideen zu haben und selbst mitwirken zu können.

18.5.5 Finanzkraft: Mittelständler schlagen Börsenkonzerne Die häufig flachen Hierarchien und schnellen Entscheidungswege können auch finanzielle Vorteile haben. Das beweist eine Studie der Stiftung Familienunternehmen: Demnach erzielten Deutschlands Top-500-Familienunternehmen im Zehnjahreszeitraum

18Dr. Eva Voß: Führung und New Work. In: Ernst & Young: „Black Box Mittelstand“, Stuttgart (2018, S. 10).

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2006 bis 2015 „ein durchschnittliches Umsatzwachstum von 4,3 Prozent, während die DAX-Unternehmen eine Steigerung von 0,9 % aufwiesen (DAX-30 ohne die drei Familienunternehmen Beiersdorf AG [Maxingvest AG], Henkel AG & Co. KGaA und Merck KGaA).19 Laut Handelsblatt erreichte der Mittelstand im Geschäftsjahr 2015 dank einer robusten deutschen Konjunktur eine Gewinnmarge von 7,3 %. Dagegen erzielten die 110 größten deutschen Aktiengesellschaften (Dax, MDax, TecDax und SDax) eine Marge von „nur“ 6,3 %. Ein Grund sei, dass Börsenkonzerne verstärkt unter den Krisen in wichtigen Absatzmärkten wie Russland, Teilen Südeuropas und Südamerikas litten sowie „unter dem Ende des Booms in China“, so das Blatt.20 Auch langfristig sind nichtkapitalmarktorientierte Unternehmen oft besser unterwegs: „Seit 2003 haben die rund 300.000 untersuchten Firmen ihren Gewinn aus gewöhnlicher Geschäftstätigkeit um 128 % erhöht und damit mehr als verdoppelt“, so das Handelsblatt. „Im selben Zeitraum schafften die großen Aktiengesellschaften ein Plus von 97 %.“21 „Die Eigenkapitalausstattung der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in Deutschland hat seit Anfang der 2000er-Jahre stetig zugelegt. Im Jahr 2016 lag die Eigenkapitalquote der Mittelständler im Durchschnitt bei komfortablen 30 %“, so die KfW.22 Im Vergleich dazu konnten 2017 nur knapp 75 Prozent aller DAX-Unternehmen eine Quote von mehr als 25 Prozent erreichen.23 Als wichtigster Beweggrund der Mittelständler für das Streben nach einer besseren Ausstattung ist vor allem die Sicherstellung der Unternehmensunabhängigkeit zu sehen. Börsennotierte Unternehmen machen sich im Gegenzug deutlich abhängig von ihren Aktionären und verlieren dadurch an Flexibilität.

18.6 Fazit Die Herausforderungen, vor denen Logistiker und ihre Kunden stehen, sind mannigfaltig: eine schnelllebige Gesellschaft, ein stetiges Sendungswachstum, ein anhaltender Online-Handel, komplexere Kundenanforderungen, der Wunsch nach einer sofortigen und ständigen Verfügbarkeit oder auch der Fachkräfte- und Fahrermangel. Nah dran

19Stiftung Familienunternehmen (Hrsg.): „Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Familienunternehmen“, München 2017, S. 1. 20https://www.handelsblatt.com/unternehmen/mittelstand/renditekoenig-mittelstand-die-versteckten-champions/13601648.html, Düsseldorf 2016. Zuletzt abgerufen am 21. Mai 2019. 21Ebd. 22https://www.kfw.de/PDF/Download-Center/Konzernthemen/Research/PDF-Dokumente-FokusVolkswirtschaft/Fokus-2018/Fokus-Nr.-206-Mai-2018-Eigenkapitalquoten.pdf. Zuletzt abgerufen am 20. Mai 2019. 23https://boersengefluester.de/alle-30-dax-aktien-im-schnelldurchlauf/. Zuletzt abgerufen am 20. Mai 2019.

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am Markt und an den Beschäftigten, besitzen inhabergeführte Unternehmen aber das Know-how und die Flexibilität, um diesen Herausforderungen gemeinsam mit den großen Konzernen zu begegnen. Am Ende zählen die Kundenorientierung und die damit einhergehende Sicherstellung der Verfügbarkeit von Waren. Eine Mischung aus standardisierten Prozessen für die breite Masse und maßgeschneiderten Logistiklösungen ist hier gefragt. Vor diesem Hintergrund leisten sowohl Konzerne als auch inhabergeführte Unternehmen im komplementären Sinn ihren wichtigen und unverzichtbaren Beitrag im Wirtschaftskreislauf.

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Voß, E.: Führung und New Work. In: Ernst & Young (Hrsg.): „Black Box Mittelstand“, Stuttgart (2018), S. 10 Werner, A., et al.: Innovationstätigkeit von Familienunternehmen, IfM-Materialien Nr. 225. https://www.ifm-bonn.org/uploads/tx_ifmstudies/IfM-Materialien-225_01.pdf Bonn (2013). Zugegriffen: 17. Mai 2019

Ulrich Nolte ist seit 2010 alleiniger Geschäftsführer der GO! Express & Logistics (Deutschland) GmbH. Der Diplom-Kaufmann ist bereits seit 25 Jahren in der KEP-Branche tätig und hat dabei verschiedene Führungsaufgaben und -positionen bei den Unternehmen DPD und DHL Express Vertriebs GmbH & Co. OHG sowie der GLS Gruppe bekleidet.

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Zusammenfassung

Familienunternehmen sind die tragenden Säulen aller marktwirtschaftlich orientierten Volkswirtschaften. Sie erwirtschaften das Gros der volkswirtschaftlichen Leistung und stellen mehr Arbeitsplätze zur Verfügung als die Welt der Konzerne. Für die Wahrung ihrer Unabhängigkeit und einen nachhaltigen Markterfolg sind Umsicht, Wertetreue, Innovationsgeist, Flexibilität und Mut entscheidende Voraussetzungen. Damit ein Unternehmen als inhabergeführter Familienbetrieb auf eine gesunde Basis für das wirtschaftliche Überleben im harten Wettbewerbsumfeld der Zukunft bauen kann, muss zudem der Zusammenhalt der Familie oberste Priorität genießen. Im stürmischer werdenden internationalen Marktumfeld wird nur bestehen, wer diesen Anforderungen dauerhaft gerecht wird und eine langfristige Perspektive nicht kurzfristigen Vorteilen oder dem bequemen Ausruhen auf dem Erreichten opfert.

19.1 Familienunternehmen und Konzern: Definition und Geschichte Inhabergeführte Unternehmen haben es in Sachen öffentliches Ansehen leichter als Konzerne: Sie gelten als ehrlicher, regional verwurzelt und einem humanen Wertesystem noch einigermaßen verpflichtet. Konzerne hingegen umweht der Nimbus der Rücksichtslosigkeit und Anonymität und der Verweigerung gegenüber gesellschaftlicher Verpflichtung. Dieser unterschiedlichen Einschätzung liegen jedoch wohl vor allem subjektive Faktoren zugrunde wie Aversionen gegen Größe, Internationalität und Marktmacht. A. Friesz (*)  Salzburg, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_19

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Mit dem Ansehensbonus in der Öffentlichkeit allein können Familienbetriebe auf dem Markt natürlich nicht bestehen. Sie müssen vielmehr eigene Stärken entwickeln, um sich gegen die häufig zu beobachtenden Vorteile internationaler Marktplayer etwa bei Kosten oder Personalrekrutierung zu behaupten. Ein Vergleich zwischen den Vor- und Nachteilen sowie den Stärken und Schwächen beider Unternehmensstrukturen und ein Blick auf unterschiedlich gelagerte Herausforderungen und Handlungsoptionen kann ein Licht auf die Frage werfen, welche Faktoren jeweils die Zukunftsfähigkeit der Betriebe bestimmen. Der Begriff Familienunternehmen erzeugt meist die Vorstellung von einem kleinen oder mittelgroßen Betrieb, als Gegensatz zu den als Konzern oder Holding verfassten Großunternehmen (die ja nicht selten selbst aus Familienbetrieben hervorgehen). Doch Größe ist kein scharfes Unterscheidungskriterium. Zwar ist die große Mehrzahl der inhabergeführten Firmen hinsichtlich Mitarbeiterzahl und Umsatz kleiner als ein durchschnittlicher Konzern, doch gehören zu den Familienunternehmen wahre Riesen: Der Einzelhandelsgigant Wal-Mart etwa ist mit über 450 Mrd. US$ das umsatzstärkste Unternehmen der Welt – noch vor der Riege der Energie- und Automobilkonzerne. Beide Wirtschaftsformen sind wesentlich älter als die meisten Menschen ahnen. Der japanische Tempelbauer Kongō Gumi war sowohl das erste Unternehmen nach unserer heutigen Vorstellung als auch das erste Familienunternehmen der Welt. Gegründet von Mitgliedern der Familie Kongō im Jahr 578 überlebte der Betrieb, der sich dem Bau und Unterhalt von buddhistischen Tempeln, Burgen und anderen Gebäuden widmete, die wechselhafte Geschichte der Insel mehr als 1400 Jahre lang und wurde erst 2006 wegen Überschuldung aufgelöst. Das erste Unternehmen, das wir heutzutage als Konzern einordnen würden, errichtete der italienische Bankier Cosimo deʼ Medici in den 1430er Jahren. Sein Bankhaus in Florenz expandierte schnell und schuf Niederlassungen in Pisa, Mailand, Basel, Genf, Lyon, Avignon, Brügge, Antwerpen und London. Dabei erweiterte das Unternehmen ganz nach Art moderner Großkonzerne seine Tätigkeitsfelder: Zu den Finanzgeschäften gesellte sich der Handel mit Seidentapeten, Brokat, Pelzen, Silber und Juwelen. Der Konzern wuchs auf eine Größe heran, die mit den heutigen global operierenden Riesen vergleichbar ist: Um 1455 überstieg der Umsatz die Wirtschaftskraft vieler europäischer Staaten. Die Medicis führten ein Unternehmen, das die Definition eines Konzerns erfüllt: Es handelte sich um einen Zusammenschluss mehrerer Einzelunternehmen zu einer wirtschaftlichen Einheit. Das beherrschende Mutterunternehmen kontrolliert die Tochterunternehmen, die rechtlich selbstständig, aber wirtschaftlich und finanziell abhängig sind. Unter einem Familienunternehmen versteht die EU-Kommission dagegen jedes Unternehmen (unabhängig von der Größe), bei dem 1. sich die Mehrheit der Entscheidungsrechte im Besitz der natürlichen Person(en), die das Unternehmen gegründet hat/haben, der natürlichen Person(en), die das Gesellschaftskapital des Unternehmens erworben hat/haben oder im Besitz ihrer Ehepartner, Eltern, ihres Kindes oder der direkten Erben ihres Kindes befindet, und 2. die Mehrheit der Entscheidungsrechte direkt oder indirekt besteht, und/oder

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3. mindestens ein Vertreter der Familie oder der Angehörigen offiziell an der Leitung bzw. Kontrolle des Unternehmens beteiligt ist. Börsennotierte Unternehmen entsprechen der Definition eines Familienunternehmens, wenn die Person, die das Unternehmen gegründet oder das Gesellschaftskapital erworben hat oder deren Familien oder Nachfahren aufgrund ihres Anteils am Gesellschaftskapital 25 % der Entscheidungsrechte halten. Diese Definition umfasst auch Familienunternehmen, die die erste Generationsübertragung noch nicht vollzogen haben. Sie umfasst weiterhin Einzelunternehmer und Selbstständige (sofern eine rechtliche Einheit besteht, die übertragen werden kann). Charakteristisch für Familienunternehmen ist also eine dominante Inhaberschaft, bei der die wichtigsten Entscheidungen von einer Person oder kleinen Gruppe (Familie) getroffen werden. Damit gibt es eine gemeinsame, durch verwandtschaftliche Verbundenheit gestärkte Interessenlage. Zu dieser gehört auch, dass die Unternehmensphilosophie auf Dauer angelegt ist, sprich künftige Generationen einschließt. Demgegenüber steht die hoch fragmentierte Inhabergruppe (zahlreiche Investoren) bei großen Konzernen, die naturgemäß auf kurzfristigen Erfolg ausgerichtet ist.

19.2 Die Bedeutung der Familienunternehmen für die Volkswirtschaft In so gut wie jeder Marktwirtschaft dominieren die Familienunternehmen das volkswirtschaftliche Geschehen hinsichtlich der Zahl der Unternehmen und der Beschäftigten. Sogar in den USA, die sprichwörtlich für eine traditionell starke Konzernkultur stehen, machen Familienbetriebe fast 90 Prozent der Unternehmen aus, erwirtschaften fast 60 % des Bruttoinlandsprodukts und beschäftigen rund 60 % der Arbeitskräfte. Europaweit liegen die Zahlen etwas darunter, vor allem, wenn osteuropäische Länder einbezogen sind, die ihrer kommunistischen Herkunft wegen bisher kaum Familienbesitz kannten. Nach Berechnungen der EU-Kommission machen im Durchschnitt aller betrachteten Länder Familienunternehmen (Ein-Personen-Unternehmen mitgezählt) rund 70 % bis 80 % aller Unternehmen aus. Ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung liegt zwischen 40 % und 50 %. Erheblich über dem europäischen Durchschnitt liegen Deutschland und Österreich. Nach einer Untersuchung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und des Instituts für Mittelstandsforschung sind in Deutschland 91 % der Unternehmen in Familienbesitz (erwa drei Millionen Betriebe), wobei sie mit 57 % der Beschäftigten rund 55 % des Umsatzes aller Unternehmen erwirtschaften. Dabei ist etwa die Hälfte der Familienbetriebe an der Börse notiert. Die Zahlen für Österreich (88 % der Unternehmen, fast 70 % des Umsatzes) liegen in der gleichen Größenordnung. Damit gilt für alle modernen marktwirtschaftlich orientierten Volkswirtschaften: Familienunternehmen sind das Rückgrad und die Stütze des jeweiligen Wirtschaftsstandorts.

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19.3 Strukturen und Erfolgsfaktoren von Familienunternehmen Aus den Definitionen ergeben sich bereits signifikante Unterschiede für die Unternehmenszielsetzungen zu den großen börsennotierten Publikumsgesellschaften. Konzerne sind in aller Regel international aufgestellt und können durch regional starke Töchter unterschiedlichste Steuervorteile einstreichen (in Deutschland etwa eine Verlustverrechnung zwischen Schwestergesellschaften, Steuerbefreiungen für Veräußerungsgewinne und Dividendenerträge sowie Nachlässe bei der Besteuerung von Beteiligungserträgen im Rahmen der Gewerbesteuer). Sie haben es sehr häufig leichter als Familienbetriebe, Geld für Investitionen zu bekommen und können sich große Forschungs- und Entwicklungsabteilungen leisten. Konzerne müssen sich wesentlich mehr an der Erreichung von Quartalszielen ausrichten, haben aber aufgrund ihrer Finanzkraft auch die Möglichkeit, durch Zukauf von Technologieunternehmen die Wettbewerbsfähigkeit sehr kurzfristig zu verbessern. Der langfristige Erfolg ist also an eine zunächst kurzfristige Orientierung geknüpft. In Familienunternehmen steht demgegenüber im Vordergrund, den Markterfolg des Betriebs über Generationen hinweg zu erhalten – von vornherein ein wesentlich langfristigerer, nachhaltigerer Ansatz. Eine Herausforderung ist dabei, die Familie zusammenzuhalten und für innerfamiliären Nachwuchs für Leitung und Management zu sorgen. Da die Firmenleitung gleichzeitig Eigentümer ist, führen Streitigkeiten in der Familie (etwa bei der Gewinnaufteilung oder Stellenbesetzung) oder das Ausscheiden von Familienmitgliedern aus dem Management, dem Familienrat oder dem Gesellschafterausschuss schnell zu Komplikationen. Unabhängigkeit von Fremdkapital und Sicherung des eigenen Know-hows sind weitere wesentliche Elemente der Unternehmensverfassung und -strategie bzw. dem Familienkodex, in denen die Corporate Governance des Betriebs festgelegt ist. Sie regeln Fragen wie: Wer soll zum Kreis der Inhabergruppe gehören? Wie sind Rolle, Befugnisse und Handlungsrichtlinien des Inhabers zu definieren? Welche Unternehmensziele sind anzustreben? Wie sollen Geschäftsmodelle aussehen? Welche Werte, Strukturen und Richtlinien sollen gelten? Wie soll der in Deutschland sogar grundgesetzlich festgelegten Verpflichtung von Eigentümern auf das Wohl der Allgemeinheit nachgekommen werden? Dass ein sorgfältig erarbeiteter Familienkodex (neben strategischer Unternehmensplanung und einer durchdachten Nachfolgeregelung) ein entscheidendes Merkmal erfolgreicher Familienunternehmen ist, zeigt eine Studie aus Österreich, die von Joshua Consulting und dem Bankhaus Spängler durchgeführt wurde. Dabei stellte sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Erfolg und der Existenz eines Kodex heraus, der Werte und Familieneinfluss auf das Geschäft festschreibt. Alternativ kann hier auch ein Familienrat wirksam sein. Kluges Management ermöglicht es den Familienbetrieben, die Vorteile von Konzernen mit eigenen Stärken zu toppen. Wo diese Stärken liegen, dokumentiert die Studie „Family Business Survey“ des Wirtschafts- und Steuerberatungsunternehmens PricewaterhouseCoopers (PwC), die auf einer Befragung von 250 Familienunternehmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz basiert (Müller 2012). Als Ergebnis lässt sich

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die Erkenntnis festhalten: Familienunternehmen sind flexibler, innovativer und wissen ihre Mitarbeiter besser zu schätzen als kapitalmarktgesteuerte Unternehmen. Wie kommt diese Einschätzung im Einzelnen zustande? Mehr als 90 % der Familienbetriebe in der DACH-Region sehen laut PwC-Studie in ihrem generationenübergreifenden, an langfristigen Zielen orientierten Denken einen zentralen Vorteil gegenüber anderen Unternehmensformen. Statt Quartalsdenken bestimmen nachhaltige Wirtschaftskonzepte das geschäftliche Handeln. Zudem sind die Befragten in ihrer großen Mehrheit davon überzeugt, dass Familienunternehmen mehr Verantwortung für ihre Mitarbeiter übernehmen. Auch die schnelle und unkomplizierte Entscheidungsfindung und eine hohe Flexibilität bei Innovationen und Projektentscheidungen verschaffen nach Angaben der Befragten den familiengeführten Gesellschaften einen Wettbewerbsvorteil. Als weitere Vorteile gegenüber Konzernen nennen die befragten Familienunternehmen unternehmerisches Denken, den Mut, Neues auszuprobieren, Motivationskraft, die Leidenschaft gegenüber ihrem Unternehmen sowie die hohe Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitern. 78 % der Befragten in der DACH-Region bestätigen, „dass sie alles in ihrer Macht stehende tun, um ihre Mitarbeiter im Unternehmen zu halten – auch in schlechten Zeiten“. Dass dies keine leere Behauptung ist, beweist das Verhalten von Familienbetrieben weltweit während der Finanz- und Wirtschaftskrise: Während international operierende Konzerne die Zahl ihrer Beschäftigten teils drastisch reduzierten, hielten Familienunternehmen an ihrer Belegschaft fest, selbst dann, wenn die Auftragsbestände dahin schmolzen. Die PwC-Untersuchung liefert darüber hinaus einen Hinweis darauf, worin die Gründe für das relativ hohe Ansehen dieser Wirtschaftsform in der Öffentlichkeit liegen: Familienunternehmen fühlen sich nicht nur ihren Mitarbeitern gegenüber verantwortlich, sondern auch gegenüber der Gesellschaft. In der Studie heißt es: „So heben 70 Prozent der Familienbetriebe weltweit ihr gesellschaftliches Engagement hervor. Verantwortlich sind dafür nicht zuletzt die starke kulturelle Verankerung und das Werteverständnis, das in knapp 80 Prozent der Familienunternehmen eine zentrale Rolle spielt.“ Die Selbsteinschätzung der Unternehmen wird durch wissenschaftliche Untersuchungen zur Mitarbeiterzufriedenheit bestätigt. Während Berufseinsteiger noch Konzerne als Arbeitgeber bevorzugen, weil sie die umfangreichen Entwicklungsabteilungen, die Internationalität und Diversität schätzen, verlieren Konzerne bei Führungskräften mittleren Alters an Attraktivität. Dies ist das Ergebnis einer Befragung von 389 Fach- und Führungskräften über 40 Jahren in Betrieben unterschiedlichster Branchen und Unternehmensgrößen, die von Boris Gloger Consulting und der Wirtschaftsfakultät der Hochschule Augsburg durchgeführt wurde (Tödtmann 2015). Von den Mitarbeitern zeigen sich bei Großkonzernen rund 65 % mit ihrer Arbeit zufrieden, bei Familienunternehmen sind es 75 %. Das mag zunächst nicht als großer Unterschied erscheinen, ist aber durchaus aussagekräftig, wie der Leiter der Studie, Boris Gloger, anmerkt: „Dieser Unterschied ist signifikant, denn noch immer gelten die Großkonzerne als die b­ eliebtesten Arbeitgeber – in der Praxis sind sie aber zu Verwaltungsburgen verkommen.“ Konkurrenzdruck und Sorge um den Arbeitsplatz, aber auch wachsender E ­ rgebnisdruck, Stress, Entfremdung zwischen Führung und Mitarbeitern sowie ein als schlecht e­ mpfundenes

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Betriebsklima sind wichtige Faktoren, die die Beliebtheit von Großkonzernen als Arbeitgeber beeinträchtigen. Das langfristige Denken in Familienunternehmen, weniger ausgeprägte Hierarchien und eine straffere Ergebnisorientierung sorgen dagegen bei Familienbetrieben für höhere Mitarbeiterzufriedenheit. Die Nähe und engere Zusammenarbeit zwischen Führung und Mitarbeitern sowie die flacheren Hierarchien führen dazu, dass bei Familienunternehmen die Mitarbeiter von Beginn an mehr Verantwortung tragen und sich mit ihren Fähigkeiten durch größere Entfaltungsfreiräume besser einbringen können. Zudem werden die Überschaubarkeit von Projekten und die „Sichtbarkeit“ der Ergebnisse als wohltuend empfunden. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt eine andere Studie, durchgeführt von der Stiftung Familienunternehmen (Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Familienunternehmen 2017). Demnach punkten diese Unternehmen gegenüber Konzernen besonders auf den Sektoren Arbeitsatmosphäre, Arbeitsplatzsicherheit, Eigenverantwortlichkeit, flache Hierarchien, Zukunftsfähigkeit, Karriereperspektiven und Work-Live-Balance. Höhere Gehälter gleichen diese Vorteile insbesondere bei jüngeren Mitarbeitern nicht mehr automatisch aus. In einer Untersuchung der Erfolgsfaktoren von Familienbetrieben ziehen die Analysten des Beratungsunternehmens Bukel & Kollegen folgendes aufschlussreiches Fazit: „Es gibt einen Unterschied unter den Unternehmenskulturen von Großunternehmen und mittelständischen Familienunternehmen. Das Familienunternehmen kann Stärken entwickeln, die das Großunternehmen nicht hat. Die Hauptstärke liegt darin, dass das Familienunternehmen besser die Grundbedürfnisse eines Menschen, die ihn zu Leistung motivieren, erfüllen kann… Diese Grundbedürfnisse sind: Die materielle Basis, das Gefühl von Sicherheit, größere Geborgenheit in der Gruppe, mehr Anerkennung der persönlichen Leistung und mehr Chancen der Selbstentfaltung… Nicht nur die ökonomische Stabilität eines Unternehmens ist ein hoher Wert, sondern auch die psychologische. Die ist immer das Ergebnis des Wertesystems von Führungskräften.“ (Bukel 2015) Doch setzen sich diese Vorteile inhabergeführter Unternehmen auch in wirtschaftlichen Erfolg um, besser gefragt: Zeigen sich Familienunternehmen im Wettbewerb den Konzernen gewachsen? Auch dafür gibt es gute Belege. So hat der Deutsche Sparkassenund Giroverband (DSGV) 2016 in einer umfangreichen Analyse von 300.000 Bilanzen und den daraus gewonnenen Kennzahlen (DSGV 2016) ermittelt, dass mittelständische Unternehmen seit dem Jahr 2003 ihre Gewinne aus gewöhnlicher Geschäftstätigkeit um 128 Prozent erhöhen konnten, während die großen Aktiengesellschaften nur auf ein Plus von 97 % kamen. Mit einer Eigenkapitalquote von durchschnittlich 25 % bei steigender Tendenz schnitten die Familienunternehmen ebenfalls gut ab.

19.4 Herausforderungen für moderne Familienunternehmen Die auf die Familie konzentrierte Unternehmensstruktur hat allerdings durchaus auch ihre Gefahren und Nachteile. Je enger die persönlichen Verflechtungen der Ebenen Führung, Management und Fachabteilungsleiter ist, desto kürzer sind ­Entscheidungswege

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und Reaktionsgeschwindigkeit. Aber wo Menschen in enger Kooperation arbeiten, machen sich auch die negativen Faktoren des „Menschelns“ bemerkbar. Emotionen wie Missgunst und Neid, Eifersucht und Misstrauen können zum Sand im Getriebe einer ansonsten effizienten Unternehmensleitung werden. Bei Beförderungen oder Gehaltserhöhungen benachteiligt worden zu sein, ist ein recht häufiger „Grollfaktor“ unter Familienmitgliedern und eng verbundenen Mitarbeitern. Einem wirksamen Konfliktmanagement sollte daher in den Unternehmen hohe Aufmerksamkeit gewidmet werden. Im Extremfall droht sonst das Auseinanderbrechen der Familie. Die generationsübergreifende Ausrichtung des Business bei Familienbetrieben bringt als Pferdefuß das Thema adäquate Nachfolgeregelung mit sich. Dies beginnt bereits dort, wo die jüngere Generation das Interesse am Unternehmen verliert – wenn etwa der Sohn des Inhabers statt als Disponent im Unternehmen des Vaters zu arbeiten lieber Biologie studiert. Und selbst, wenn das Interesse am Übernehmen von Funktionen im eigenen Unternehmen vorhanden ist, steht damit noch lange nicht fest, dass die fachliche oder persönliche Qualifikation dafür ausreicht. Das Verständnis für Geschäftsprozesse und strategische Erfordernisse ist durchaus nicht gleich verteilt, und nicht jeder natürliche Nachfolger oder jede natürliche Nachfolgerin hat die Fähigkeiten ererbt, Entscheidungen und Weichenstellungen auf ausreichender Basis zu treffen. Besonders zugespitzt gilt dies selbstverständlich für die Nachfolgeplanung des Inhabers beziehungsweise der Inhabergruppe. Nur weil ein Mensch Mitglied einer Familie ist, eignet er sich noch lange nicht als Geschäftsführer oder Prokurist. Wenn Familienunternehmen heute bereits über Nachteile durch einen Mangel an Fachkräften klagen, verschärft sich das Problem bei der Suche nach einem qualifizierten Nachfolger für den Inhaber noch dramatisch. Immerhin wollen in Deutschland und Österreich mehr als die Hälfte der Unternehmen ihr Geschäft an ein Familienmitglied übergeben. Viele Betriebe werden jedoch nicht um die Einstellung externer Führungskräfte und damit eine Aufweichung der Familienbindung des Unternehmens herumkommen. Neben den strukturellen Herausforderungen aufgrund der Familienfixierung haben kleinere Betriebe noch einen weiteren Nachteil: die Schwierigkeit, schnell und in ausreichendem Maß an Kapital für Investitionen zu kommen. Hier kommt Familienbetrieben oftmals ihre über Generationen angelegte Verankerung in der jeweiligen Region zugute. Die gute Pflege der Beziehungen zu den lokalen Banken kann hier von großem Nutzen sein.

19.5 Lagermax als Beispiel beständiger Familienbetriebe Sowohl Konzerne als auch Familienunternehmen haben nicht nur ihre selbstverständliche Daseinsberechtigung, sondern erfüllen darüber hinaus beide unterschiedliche, aber wichtige Funktionen innerhalb marktwirtschaftlich orientierter Volkswirtschaften. Um im gegenseitigen und weltweiten Wettbewerb bestehen zu können, müssen die beiden Unternehmensstrukturen ihre jeweiligen Vorteile nutzen und in kluge Strategien umsetzen.

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Für Familienunternehmen heißt dies: auf solide Finanzierung setzen, Kundenfreundlichkeit und Qualität in den Mittelpunkt stellen, Handlungsunabhängigkeit bewahren, das Marktumfeld aufmerksam verfolgen und eine hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit entwickeln. Insbesondere gilt es, neben der Bewahrung einer langfristigen Strategie auch sich kurzfristig bietende Marktchancen rechtzeitig zu erkennen und zum eigenen Vorteil zu nutzen. Viele mittelständische Familienunternehmen haben es in den turbulenten vergangenen Jahrzehnten geschafft, sich immer wieder neu aufzustellen ohne dabei ihren traditionellen Werten untreu zu werden, haben sich an neue Gegebenheiten angepasst und sind so erfolgreich geblieben. Als Beispiel für diese Gruppe von zukunftsorientierten Betrieben kann die Lagermax Lagerhaus und Speditions AG in Salzburg dienen, die 2020 das hundertste Jahr ihres Bestehens feiert und heute das Stammhaus der Lagermax Gruppe mit 55 Standorten in 12 Staaten bildet. Sie zeigt exemplarisch, wie trotz politischer und wirtschaftlicher Wirren, trotz permanenten und sich beschleunigenden Wandels und trotz wechselnder personeller Leitung ein dauerhaftes Wachstum erzielt werden kann – ohne dass dabei der Charakter eines Familienunternehmens auf der Strecke bleibt. Die Gründung der Firma „Lagerhaus Salzburg-Maxglan Ges.m.b.H.“ (heute nur noch als Lagermax bekannt) am 28. April 1920 durch ein Konsortium von Salzburger Geschäftsleuten fiel in eine Zeit, in der die Wirren nach dem 1. Weltkrieg eine äußerst schwierige Situation für alle Teile der Bevölkerung geschaffen hatten. Sie war geprägt durch Rohstoff- und Lebensmittelmangel, Inflation sowie unsichere politische und wirtschaftliche Verhältnisse. In der Stadt Salzburg waren 80 % der Kinder unterernährt – diese Zahl macht besser als jede Wirtschaftsstatistik deutlich, in welch schwierigem Marktumfeld das Unternehmen an den Start ging. In den Folgejahren entwickelte sich das Lager- und Transportgeschäft von Lagermax jedoch in dem wieder aufstrebenden Wirtschaftsumfeld sehr erfolgreich. Die Inhaberstruktur veränderte sich über die Jahre und Jahrzehnte: Die erhebliche Anzahl am Konsortium der Gründungszeit beteiligter Unternehmer reduzierte sich in der Nachkriegszeit. Seit fast 60 Jahren – der Zeitspanne, in der das Unternehmen seine dynamischste Aufwärtsentwicklung genommen hat – liegt die Führung von Lagermax in den Händen von vier Familien, von denen zwei – die der Vorstände Thomas Baumgartner und Alexander Friesz – im operativen Geschäft tätig sind. Unter ihrer Leitung entwickelte sich Lagermax zu einer wirtschaftlich gesunden Unternehmensgruppe mit 3600 Mitarbeitern, einem Jahresumsatz von 530 Mio. EUR und einer breit gefächerten Leistungspalette in den Sparten Internationale Spedition, Fahrzeuglogistik, Paket- und Nachtexpressdienste, Container-Modulbau sowie Abfallwirtschaft und Entsorgungslogistik. Die Grundzüge der Unternehmensphilosophie, der sich die Inhaber heute in dritter Generation verpflichtet fühlen, sind eine solide Verankerung im regionalen Wirtschaftsgefüge, klare Serviceorientierung, Innovationsgeist, sorgfältige Marktbeobachtung, rasche Anpassung an Markt- und Branchenentwicklungen, Offenheit für neue Wachstumsmöglichkeiten, geschickte Diversifizierung der Geschäftsfelder und eine auf

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­ achhaltigkeit angelegte Personalpolitik. Am Engagement für die langfristige AusgestalN tung und Umsetzung dieser Leitvorstellungen wird sich auch künftig nichts verändern.

19.6 Erfolg durch Innovationsgeist und Serviceorientierung Und ihr Engagement hatte Erfolg, wie die Jahrzehnte zeigen, die insbesondere nach den schwierigen Jahren des zweiten Weltkriegs ein sich stetig beschleunigendes Wachstum brachten. Ausschlaggebend hierfür war ein schnell entschiedenes Zugreifen immer dann, wenn sich neue Chancen für eine Expansion oder neue Geschäftsideen boten. Die Lagerung und Verteilung der aus den USA gelieferten CARE-Pakete an die Bevölkerung gehörten in den Nachkriegsjahren ebenso zu den neuen Geschäftsfeldern wie der Transport von Importfahrzeugen aus den USA, die in Österreich endmontiert wurden. In den 1950er Jahren, der legendären Wirtschaftswunderzeit, machte das frühe Erkennen der Chancen des aufblühenden internationalen Handels eine Fortsetzung des Wachstumskurses möglich. Lagermax entwickelte sich durch das erfolgreiche Lager-, Autotransport- und Speditionsgeschäft von einem mittelständischen Betrieb zu einem Großunternehmen, das Ende der 1950er Jahre in eine Aktiengesellschaft umgewandelt war und bereits 200 Mitarbeiter beschäftigte. Den Grundstein für den Erfolg in der globalisierten Wirtschaftswelt des 21. Jahrhunderts legte Lagermax bereits in dieser Nachkriegsepoche. Er liegt in der Kunst, regionale Verankerung und internationale Geschäftsmodelle zu einer Einheit zu verknüpfen. Der relativ kleine österreichische Markt förderte die enge Verflechtung des Unternehmens mit den lokalen und regionalen Partnern und Strukturen, also vor allem den lokalen Banken, den Kommunen und Unternehmen sowie den unterschiedlichsten Kunden. Die persönlichen Begegnungen führten zu langfristig vertrauensvollen Beziehungen, bei denen oft auch ein Handschlag zum Besiegeln von Vereinbarungen genügt. Gleichzeitig richtete die Lagermax-Führung jedoch einen aufmerksamen Blick auf den überregionalen und vor allem den internationalen Markt und seine neuen Entwicklungen. Schnell stieg man ins Transit-Transportgeschäft ein, das Deutschland mit den Balkanstaaten verband. Hieraus ergaben sich wiederum tragfähige Beziehungen zu den osteuropäischen Märkten, die in den folgenden Jahrzehnten zu einer rasanten Ausweitung des Ost- und Südosteuropageschäfts führten. Früher als der größte Teil des Wettbewerbs hatten die Inhaberfamilien die zukunftsweisenden Chancen dieser Region erkannt und genutzt. So entstand dort, beginnend in Ungarn, ein umfangreiches Netzes von Niederlassungen. Die starke Serviceorientierung und die offensichtliche Innovationsfreude der Lagermax-Führung gestatteten die Entwicklung zahlreicher neuer Geschäftsmodelle und eine wachsende Diversifizierung des Business. Je nach aktuellem Bedarf wurden reaktionsschnell Services geschaffen und nach Ende der Nachfrage wieder eingestellt. Beispiele hierfür aus früheren Jahrzehnten sind die Errichtung einer Bananenreifungs- und einer

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Bettfedersortieranlage. Als einzige Spedition Westeuropas bot Lagermax in den 1970er Jahren Bahnsammelverkehre direkt zu 20 Zielstationen in Jugoslawien an. Die Fähigkeit, auf Nachfrageveränderungen unterschiedlichster Art schnell mit innovativen Lösungen antworten zu können, erwies sich als große Stärke des Unternehmens. Unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungen in verschiedenen Märkten und Branchen ließen sich so abfedern und ausbalancieren, so dass ein Abschwung in einem Geschäftsfeld nicht das Unternehmen als Ganzes in Gefahr bringen konnte.

19.7 Diversifizierung, Akquisitionen, Kooperationen Die enge Orientierung der Inhaberfamilien an den Unternehmensleitlinien führt zu einem hohen Maß an Übereinstimmung bei geschäftskritischen Entscheidungen. Wenn eine neue Geschäftsoption einmal erkannt ist, wird in aller Regel schnell über die notwendigen Investitionen in neue Märkte und/oder Dienstleistungsangebote entschieden. Infolge der langjährigen vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den regionalen Banken kann die Finanzierung meist recht kurzfristig sichergestellt werden. Bei aller Agilität und Reaktionsschnelligkeit achtet Lagermax jedoch auf die Bedürfnisse der Beschäftigten. Die Diversifizierung und die damit einhergehende Einführung und Wiederauflösung von Geschäftsfeldern geht nicht zu Lasten der Mitarbeiter. Bei der Einstellung eines Businesssektors bekommen daher Mitarbeiter statt der Entlassungspapiere neue Aufgaben in anderen Segmenten angeboten. Die geringe Mitarbeiterfluktuation beweist somit die hohe Flexibilität bezüglich der Anpassung der Organisationsstrukturen im Unternehmen an neue Situationen. Die hohe Wachstumsdynamik der letzten Jahrzehnte spricht für den Erfolg der seit den Gründerjahren beibehaltenen und mit Augenmaß umgesetzten Unternehmensphilosophie. Es handelt sich dabei um ein weitgehend organisches Wachstum, das besonders in den letzten Jahrzehnten durch gezielte Akquisitionen ergänzt wurde. Dazu gehört, als größte Akquisition eines Transport- und Logistikunternehmens der LagermaxGeschichte, die 2012 getätigte Übernahme der FRIKUS Transportlogistik GmbH mit Zentrale in der Steiermark und Niederlassungen in Slowenien und Ungarn. Mit dieser Akquisition expandierte Lagermax zudem ein weiteres Mal in ein neues Geschäftsfeld: den Bereich Abfallwirtschaft und Entsorgungslogistik. Wo es für die Wachstumsstrategie sinnvoll erscheint, setzt Lagermax auch auf vereinzelte Joint Ventures und Kooperationen mit anderen Unternehmen. Beispiele hierfür sind DPD Austria, der erste und heute führende private Paketdienst Österreichs, und Fashionet, ein europaweites Logistik- und Distributionsnetzwerk für die Textilbranche. Die Erfolgsgeschichte von Lagermax, die von der Errichtung eines Lagerhauses bis zum komplexen Großunternehmen mit Standorten in 12 europäischen Ländern führte, war nur möglich, weil das Unternehmen in Boom- wie in Bustzeiten seinen Werten und seinen unternehmerischen Instinkten und Fähigkeiten vertraute. Mitarbeiterorientierung, Kundennähe, Verlässlichkeit, Stabilität und Berechenbarkeit bilden weiterhin den

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­ erterahmen für eine hohe Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit. Innovationsgeist und W ein schnelles Erkennen von Chancen, immer verbunden mit umsichtigem Agieren sorgten von Beginn an für ein solides Wirtschaften. Das dadurch entstandene Marktvertrauen machte es auch möglich, das Kapital für die wachstumsgetrieben hohen Investitionen zu beschaffen, ohne die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit aufzugeben (Abb. 19.1).

19.8 Fazit Entscheidend bei der Bewertung der Stärken und Schwächen von Familienunternehmen ist die Erkenntnis, dass sie weder eine Erfolgsgarantie darstellen noch ein automatisches Scheitern bewirken. Der Erfolg hängt immer von der persönlichen Klugheit und den Fähigkeiten der Familienmitglieder ab, Vorteile zu nutzen, Herausforderungen kreativ zu bewältigen und Gefahren rechtzeitig zu erkennen und abzuwehren. Das Schicksal eines Familienunternehmens ist auf Gedeih und Verderb von der Führungskunst der Familie und einer klugen Inhaberstrategie abhängig. Als Kompass für die erfolgreiche Navigation in der aufgewühlten See der immer anspruchsvoller werdenden Wettbewerbsherausforderungen muss die stets wache Beobachtung der aktuellen Situation und der sich abzeichnenden Trends auf den Märkten dienen. Es gilt, Chancen schnell zu erkennen, sie mutig aber mit Augenmaß zu ergreifen und unter Nutzung der individuellen Stärken in erfolgreiche Geschäftsmodelle umzusetzen.

Abb. 19.1   LMX autotransport luft straßwalchen. Der Lagermax-Standort Straßwalchen bei ­ alzburg, Stammhaus von Lagermax Autotransport S

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Ebenso wichtig ist es aber auch, Businessmodelle, die sich überlebt haben, rechtzeitig aufzugeben und sie nicht aus nostalgischen Gründen als Ballast mitzuziehen. So mancher mittelständische Betrieb, der sich auf lange Zeit erfolgreichen Modellen ausgeruht hatte, endete als eines der berüchtigten „Zombieunternehmen“, die trotz bekanntem Namen innerhalb kurzer Zeit vom Markt verschwunden waren.

Literatur Bukel, H.G.: Motivation in Familienunternehmen – Die Besonderheiten. Bukel & Kollegen GmbH, Fulda (2015) Deutscher Sparkassen- und Giroverband e. V.: Fahrenschon: Mittelstand in Deutschland „kerngesund“. Pressemitteilung 46, 13.09.2016 (2016) Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Familienunternehmen. Stiftung Familienunternehmen, München (2017) Müller, C.: Die Zukunft von Familienunternehmen – der Kern der Wirtschaft. PricewaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (Hrsg.) (2012) Tödtmann, C.: Mitarbeiterzufriedenheit: Immer ungeliebtere Konzerne, geschätzte Familienunternehmen. Wirtschaftswoche, Management-Blog. https://blog.wiwo.de/management/2015/09/18/ mitarbeiterzufriedenheit-immer-ungeliebtere-konzerne-geschatzte-familienunternehmen. Zugegriffen: 18. Sept. 2015

Alexander Friesz ist Vorstandsmitglied und Miteigentümer der Lagermax Lagerhaus und Speditions AG in Salzburg. Nach einer erfolgreichen internationalen Karriere im Fremdenverkehr wechselte er 1996 in den Vorstand der Lagermax AG, wo er bereits seit 1987 Mitglied des Aufsichtsrates gewesen war. Als Geschäftsführer in verschiedenen Lagermax-Unternehmen trug er wesentlich zum Aus- und Aufbau der Gruppe und zu ihrem Wachstum von 100 auf über 500 Mio. EUR Jahresumsatz und einem Mitarbeiterstand von über 3600 Mitarbeitern bei. Parallel dazu ist Alexander Friesz seit 2019 Präsident des Zentralverbandes der Spediteure in Österreich. Zuvor war er seit 1999 Vizepräsident im Zentralverband. Neben anderen Funktionen bekleidet er seit 2000 den Vorsitz in der Fachgruppe der Spediteure Salzburg sowie die Position als Mitglied des Vorstandes des Fachverbandes der Spediteure in der Wirtschaftskammer Österreich.

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Zusammenfassung

Die Logistikindustrie ist einer der größten und bedeutendsten Sektoren des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Sie nimmt in den zukunftsweisenden Konzepten der Industrie 4.0-Vision mit ihrer Verschmelzung der vertikalen und horizontalen Wertschöpfungskette sowie der Nutzung von intelligenten Technologien eine Schlüsselstellung ein. Trotzdem verschafft ihr eine subjektiv begründete einseitige öffentliche Wahrnehmung ein schlechtes Image. In diesem Beitrag werden Strategien ausgelotet, mit denen sich diese Situation merklich verbessern lässt. Eine tragende Rolle kommt dabei den Verbänden zu. Der wichtigste Akteur ist jedoch jedes einzelne Unternehmen selbst, das sich bewusst der Aufgabe stellen muss, sein Image zu gestalten und kontinuierlich an dessen Verbesserung zu arbeiten.

20.1 Logistik: Trotz Spitzenleistung ein schlechtes Image Es ist keine geringe Herausforderung, ein Buchkapitel zu schreiben, das sich auf kleinem Raum einem großen Thema nähern soll. Denn hier geht es um eine große Branche. Welcher andere Wirtschaftszweig vereint in sich die Matrix der vertikalen und der horizontalen Wertschöpfungskette? Vertikal vom Lieferanten bis zum Kunden und horizontal in unternehmens- und technologieübergreifenden Kollaborationen. Welcher andere Wirtschaftszweig spielt eine so tragende Rolle in den innovativen Prozessen einer Industrie

M. Schadler (*)  Heddesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_20

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4.0? Die Logistik ist dazu ein treibendes Element im Hinblick auf Big und Smart Data, Transparenz und Automatisierung. Sie ist der Kern für all die Buzzwords, die Digitalisierung begleiten. Sie verknüpft zentrale Anliegen des Wandels, von Kundenexzellenz, über Agilität, Flexibilität, von dezentraler Steuerung über kleine Losgrößen bis hoher Variantenzahl oder von der Schnittstelle Mensch-Roboter bis zur Smart Factory. Mit diesem Rollenverständnis vor Augen scheint es nicht nötig, sich mit dem Thema des Images der Logistik zu beschäftigen. Sprechen die Leistungen doch für sich selbst. Genau hier kommen wir zu einer Grundeigenschaft von Image. Es entsteht aus einem Gesamteindruck einer Mehrzahl von Menschen, der wenig mit Objektivität zu tun hat. Und im Moment scheint der Gesamteindruck eben nicht so gut zu sein, wie wir es uns wünschen würden. Lassen Sie uns dieses Phänomen näher betrachten. Image hat etwas zu tun mit subjektiver Wahrnehmung und damit mit Psychologie. Und hier tauchen wir ab in etwas, das unserer Branche mit ihren zupackenden Menschen, Managern und Machern suspekt ist. Nämlich in weiche Faktoren, die man vordergründig schlecht greifen oder messen kann. Denn natürlich besteht immer die Frage nach KPIʼs, nach ROI beziehungsweise handfesten Steuerungsgrößen. Schließlich kostet die Steuerung von Image Geld, nicht zu wenig, und sicherlich möchte jeder Manager wissen, warum alle Menschen eines Unternehmens dieses Geld erst einmal hart verdienen sollen, um es dann „für so etwas“ auszugeben. An der Formulierung spürt man schon die Frage nach dem konkreten Nutzen, so als würde man ein Kontraktlogistikprojekt aufsetzen. Natürlich kann man ein Image als Gesamteindruck innerhalb einer definierten Zielgruppe einengen: mit Umfragen, Messgrößen und Controlling bei Kampagnen oder mit Studien. Aber eben einengen, immer mit der wabernden Unwägbarkeit der sogenannten Black Box des Entscheiders dahinter, weil man in die Köpfe und Herzen nicht analytisch hineinschauen kann. Weil wir die Vielfältigkeit des Zusammenspiels rationaler und emotionaler Entscheidungskomponenten nicht in Gänze abbilden können. Vielleicht tun wir uns alle deswegen etwas schwer, uns diesem Thema zu nähern.

20.2 Branche versus Unternehmen Als Geschäftsführer eines Logistikdienstleisters habe ich die Erwartungshaltung, dass unser Image so gezielt gestaltet wird, dass uns alle Menschen, unser Markt, unsere Zielgruppen, die Öffentlichkeit beeindruckend finden: kompetent, innovativ und natürlich sympathisch. Wie man uns wahrnehmen soll, haben wir in einer klaren Positionierung definiert, angelehnt an unsere Vision, unsere Werte, unsere Ziele und Strategien. Und warum geben wir uns damit so viel Mühe? Weil wir Kaufentscheidungen beeinflussen wollen, weil wir besser sein wollen als der Wettbewerb, weil wir wachsen möchten und weil wir Geld verdienen wollen. Oder weil wir gute Leute finden und binden möchten. Auch wieder zu dem Zweck, Umsatz, Gewinn oder Wachstum zu generieren. Tatsächlich tun wir dafür eine ganze Menge, wir reden über Strategien, Konzepte, Maßnahmenplanungen und Budgets, wir haben eine eigene Abteilung und beschäftigen Menschen mit diesem Thema.

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Als Logistikunternehmen agieren wir auf der Basis langjährig gewachsener Beziehungsgeflechte, arbeiten an unsrem Image, haben im direkten Kontakt und in Markt- beziehungsweise Kundenbefragungen sehr gute Werte. Wir sind also auf einem guten Weg. Und dann werden wir konfrontiert mit Vorurteilen zu einer ganzen Branche, zu der wir gehören. Logistik, das sind doch LKW, Staus und Diesel-Dreck. Die Branche zahlt schlecht, Arbeitsplätze sind wenig intelligent und die Arbeit ist hart und anstrengend. Mit dubiosen Werksverträgen unterlaufen Logistiker Arbeitsschutz und Mindestlohn. Unternehmer operieren, wie jeder Fernseh-Tatort zeigt, in der Grauzone. Natürlich wissen wir alle, dass das nicht stimmt, dass wir hier über Einzelvorkommnisse und Ausnahmeerscheinungen sprechen. Aber dieses Kapitel heißt „Image der Logistik“ und dazu gehört eben auch die Betrachtung von Selbst- und Fremdbild. Skandalmeldungen, die in der Natur unseres Presse-Wirtschaftssystems natürlich immer obenan stehen, haben eine hohe Durchdringung. Was setzen wir dem entgegen? Nach so vielen Jahren des Lamentierens über das schlechte Image der Logistik soll in diesem Kapitel die Arbeit der Top-Verbände zu einem der wesentlichen strategischen Elemente, die für alle Einzelunternehmen die tragfähige Plattform einer guten Kommunikation bilden sollte, erklärt werden. Dazu gehören ein Gesamtkonzept, eine definierte Kernbotschaft, messbare Ziele, daraus abgeleitet eine Strategie unter Berücksichtigung der Zielgruppen und aller Kommunikationskanäle, verbunden mit konkreten Maßnahmenplänen. Dazu gehört Kontinuität. Und ja, dazu gehören auch Investitionen und Ressourcen. Die Zögerlichkeit, für „sowas“ Geld auszugeben, zeigt jetzt ihre Schattenseiten. Denn unser derzeitiges Image führt zu ganz akuten Nöten, die die Dringlichkeit professioneller Kommunikation vor Augen führen. Seien es Bürgerwehren gegen Logistikansiedlungen, sei es aktueller Personalmangel – Lagerpersonal ebenso wie Fahrer oder Digitalisierungsprofis – oder sei es der fehlende Nachwuchs.

20.3 Bilder machen Leute Image ist die Schublade, in die man sein Gegenüber steckt. Abhängig vom Charakter der Schublade resultiert daraus die Art und Weise des Miteinanders, die Sprache, die Wertschätzung. Haben wir uns schon gefragt, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen unserem Branchenimage und Themen wie Preisakzeptanz, Verständnis für die Intelligenz einer Logistikdienstleistung und ihrem Beitrag zu Kundenzufriedenheit, Gewinn, Umsatz, Marktanteilen oder Entwicklung unserer Auftraggeber? Ist uns das subtile Rollenspiel in Verhandlungen bewusst, das mit einem schlechten Image einhergehen kann? Erfahren wir tatsächlich die Anerkennung, die unserer Leistung als Innovationstreiber zukommt? Und wie bemessen wir dann den Abschlag auf unsere eigenen Investitionen in unser Einzelimage, quasi die Abwertung unserer Währung nur allein durch die Zugehörigkeit zu einer Schublade? Wie hoch ist also der gesamtwirtschaftliche Streuverlust dieser großen Menge an Einzelinvestitionen zu bewerten? Es stellt sich die Frage nach dem Schnittpunkt von Einzelinitiativen und einem Gesamtkonzept.

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20.4 Und dann ist da noch der Fachkräftemangel Ein heißes Thema. So heiß, dass es Projekte zum Scheitern bringt, Wachstum hemmt, Gewinne schmälert, weil man das geeignete Personal nicht findet. Tatsächlich aber kein Thema, das plötzlich über Nacht als Krise im Raum stand. Es ist nicht so, als würden die Experten nicht seit Jahren über diese Entwicklung sprechen. Nur jetzt beginnen alle, es schmerzhaft am eigenen Leib zu spüren. Und genauso plötzlich wird das Image der Branche ganz wichtig. Weil es jetzt weh tut. Auch hier arbeitet jedes Unternehmen an seiner eigenen Positionierung, stellt einen Handlungskatalog auf, beginnt Geld zu investieren. Alle reden über Employer Branding, das über Nacht die Herzen potenzieller Mitarbeiter gewinnen soll. Da sprießen witzige Anzeigen kreativer Agenturen, Microsites mit Abenteuerfeeling, geduzte Augenhöhe mit Sympathie-Effekt, Wertepapiere voller Ethik, Führungskultur und Mitarbeiterorientierung aus dem Boden. Ich stelle mir öfters die Frage der Glaubwürdigkeit, aber auch die Frage nach einer stimmigen Einbindung in eine ganzheitliche Imagearbeit. Alleine schaffen wir Unternehmen es nicht, den Menschen zu vermitteln, was uns wirklich ausmacht. Technologie, Innovation, Intelligenz, die Aufregung spannender Projekte, kulturelle Vielfalt, Lösungen für so ziemlich alle Branchen in der ganzen Welt und die kreative Freiheit, jeden Tag neue Herausforderungen anzunehmen. Wie wunderbar ist es, in einer Branche zu arbeiten, in der es wirklich niemals langweilig wird? Kommunikation hat immer auch etwas zu tun mit Kontinuität. Was wir derzeit beobachten, die plötzliche Erkenntnis im Schrei nach Image, beruht auf der Fehleinschätzung, den Imageschalter mal eben einzuschalten, weil man genau jetzt gutes Personal benötigt. Das Unternehmen pfenning logistics hat bereits vor einigen Jahren begonnen, eine Arbeitgebermarke zu entwickeln. Wir haben uns damit beschäftigt, was uns als Arbeitgeber auszeichnet, was uns besonders macht, worin wir gut sind, warum sich jemand bei uns bewerben oder warum er bei uns bleiben soll. Das Ganze als Teil unserer Markenpersönlichkeit. Das Thema ist vielschichtig, denn auch hier berühren wir rationale und emotionale Faktoren. Angefangen von unserem Image nach außen und der damit verbundenen eigenen Identifikation – man unterschätze nicht, wie sich die Dinge gegenseitig beeinflussen – über Basiselemente wie Gehalt und Sozialleistungen bis zu Arbeitsbedingungen, Innovation, Entwicklung, Weiterbildung oder die flexible Begleitung in besonderen Lebensphasen. Die große Klammer darum ist das Klima, das sich aus dem Miteinander ergibt und immer von oben nach unten gelebt werden muss. Wir haben es geschafft, eine Größe im Arbeitsmarkt zu werden, die einen guten Ruf hat und für etwas steht. Aber denken Sie nicht, dass wir uns zurücklehnen und auf den Lorbeeren ausruhen können. Weil wir immer wieder aufs Neue als Don Quichote gegen die Windmühlen des Branchenimages arbeiten müssen.

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20.5 Zeit umzudenken Wenn wir in der Logistik eines wissen, so ist es, dass neue Herausforderungen neuer Lösungen bedürfen und manchmal sogar eines völlig neuen Denkens. Ein gutes Beispiel ist die neue Kampagne des BVL „Die Wirtschaftsmacher“. Eine neue Kommunikationskollaboration ohne Eitelkeiten auf Verbandsebene. Nicht mit kreativen Einzelaktionen, nicht mit Hier-und-Dort-Aktionismus. Sondern mit definiertem Imageziel, einem umfassenden Kommunikationskonzept über alle Kanäle, auf einem Maßnahmen-Zeitstrahl, versehen mit realistischen Budgets und dem Mut, dem dann auch echte Profi-Ressourcen klar zuzuordnen. Dies als Leitplanke, die jedes einzelne Logistikunternehmen als Ergänzung in die eigene Arbeit mit einbeziehen kann. Spricht man über ein Image, so ist es in regelmäßigen Abständen sicherlich von Vorteil, die angestrebten Imageziele mit der Wahrnehmung der Zielgruppen abzugleichen. Im Hinblick auf die breitgefächerten Dienstleistungen, Beteiligten und Adressaten wäre es spannend, dies als zentral angelegtes Projekt auf der gleichen Ebene anzupacken. Von KEP bis Kontrakt, von Packing bis Transport, von See- bis Luft … Die Ergebnisse können im Rahmen der „Wirtschaftsmacher“ nicht nur regelmäßig erhoben sondern auch in Berlin zum BVL Kongress regelmäßig vorgestellt werden. Umrundet von Diskussionsrunden, Workshops oder World-Cafés der anwesenden Experten sind die Erkenntnisse sicherlich sehr wertvoll, um den Fahrplan mit hilfreichen Leitplanken für alle Unternehmen, die diese Grundbotschaften mitnutzen können, beständig weiter zu entwickeln. Vergessen wir nicht den Effekt der Verstärkung und die Eigendynamik, die daraus entstehen kann. Plötzlich sind die Menschen stolz darauf, in dieser dynamischen Branche zu arbeiten. Das transportiert sich nach außen und kommt wieder zurück. Unabhängig von den Budgets und Maßnahmen vieler Logistikunternehmen – die in den letzten Jahren signifikant zugenommen haben – sind es medienwirksame Ideen, die die Branche schon jetzt entfaltet und die mit ihrem Engagement weit über den eigenen Unternehmenshorizont hinaus wirken, zum Wohle aller. Schauen wir auf den Tag der Logistik, jedes Jahr im April. Ein großer Erfolg, ein guter Schritt in die richtige Richtung. Aufmerksamkeitsstark mit inzwischen vielen Teilnehmern, einer hohen Pressepräsenz und mit einem positiven Beitrag zum Image der Branche. Und mit der Möglichkeit für jedes einzelne Unternehmen, diese Maßnahme für sich selbst zu nutzen. Win-Win also. Die bundesweite Initiative „Fair Truck“ sorgt sich um die Wertschätzung und Anerkennung der Arbeit der Fahrer und wird dabei von vielen Unternehmen unterstützt. Parallel dazu hat mein Unternehmen die Kampagne „LKW-Logenplatz“ ins Leben gerufen; sie macht unsere LKW Fahrer zu Botschaftern unseres Unternehmens – eine Kampagne mit Win-Win-Effekt, da sie einerseits das Image des Berufskraftfahrers aufwertet und uns andererseits steigende Bewerberzahlen bringt. Ein internationaler Logistikdienstleister punktet mit Sympathie, indem er auf den Rückseiten seiner LKW mit Kunst inspiriert, die gleichzeitig etwas über die Welt erzählt. Von Kindern in Afrika bis zu Kindern in Tirol. Es ist die Logistik, die diese

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Welten verbindet. Und es sind Millionen Autofahrer in Europa, die sich daran erfreuen können. Wir haben alle etwas davon. „Wir heißen Axel“ ist eines der innovativen Formate, mit der eine Hamburger Transportgruppe die Social Media Kanäle bedient, um dort regelmäßig, sehr verständlich und gewinnend Logistikthemen zu platzieren. Unabhängig vom Sympathie- und Verständnisfaktor tragen die Großen der Branche mit Innovationszentren oder Newsrooms dazu bei, dass Intelligenz, Innovation und Lösungskreativität der Branche bewusster werden. Und natürlich haben auch breit angelegte Imagekampagnen oder Employer Branding Kampagnen der größten Logistikonzerne eine Wirkung über den eigenen Firmenhorizont hinaus. Wir alle profitieren indirekt. Es tut sich viel. Um in der Politik zu bleiben: „Wir haben verstanden“. Budgets werden erhöht, Kampagnen werden durchdachter, Ressourcen werden zur Verfügung gestellt, Professionalisierung zieht ein. Ohne ein begleitendes Dach sind es dennoch Einzelaktionen. Und, was wir uns zudem klar machen sollten: alle diese kommunikativen Elemente können – wenn sie wirklich erfolgreich sein und etwas bewirken sollen – nie nur Mittel zum Zweck sein, manipulative Zielerreichungsknöpfchen, die man drückt, um ad hoc eine Lösung für ein Problem aus dem Hut zu zaubern. So anstrengend es auch ist, ein Image ist ein Persönlichkeitsbild, das tatsächlich gelebt werden muss und es braucht einen langen Atem.

20.6 Fazit Das Image der Logistik liegt im Auge des Betrachters. Es ist an der Zeit umzudenken! Mutiger, selbstbewusster, aber auch lauter zu werden. Damit es ein spürbares Ergebnis wird, sollten wir alle Kommunikationskanäle bemühen. Wo die Vielzahl unserer Stimmen ein unverwechselbares Bild erzeugen kann – eines, das sich in die Köpfe und Herzen einbrennt und sie unweigerlich an Logistik denken lässt.

Matthias Schadler ist seit 2015 Geschäftsführer der operativen Gesellschaften der pfenning Gruppe. Der ausgebildete Speditionskaufmann und studierte Betriebswirt hat vor seinem Eintritt bei pfenning logistics verschiedene Top-Managementfunktionen inne hatte, unter anderem bei Air Haniel, Thyssen Haniel Logistik, Dachser, Alpha Management (heute Havi Logistics), Agility Logistics und der Reverse Logistics Group. Schadler hat große M&A-Projekte umgesetzt, Change-Management-Prozesse gesteuert und gilt als ausgewiesener Experte in den Bereichen Kontrakt-, Handels- und Reverse-Logistics. Er liebt eine klare Haltung: „Entscheidungsfreude ist essentiell, denn Entscheidungen müssen getroffen werden – sowohl freudige als auch weniger freudige. Nur so erreicht man sein Ziel.“

Unternehmen führen in der Zukunft – Anders denken, Perspektiven schaffen, mutig entscheiden

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Sven Neumann

Zusammenfassung

In einer Zeit permanenter Veränderungen mit disruptivem Potenzial wandeln sich die Herausforderungen für die Unternehmen und mit ihnen die Anforderungen an das Management. Führungspersönlichkeiten ganz besonders der Logistikindustrie, die als zentrale Fortschrittsdrehscheibe am intensivsten vom Wandel betroffen ist, können sich heute nicht mehr auf Strategien zur Bewahrung des bisherigen Erfolgs beschränken. Sie müssen zu den Urtugenden des Unternehmensführers zurückkehren: strategisch denken, das Marktumfeld sowie die technologische und wirtschaftliche Entwicklung beobachten und analysieren und schließlich mit einem gewissen Mut zum Risiko Entscheidungen treffen. Statt um Verwalten des Erfolgs geht es um den Hunger, die Animal Spirits, des Unternehmertums. Wenn sich die Erfolgsfaktoren in der Wirtschaft verändern, können die Merkmale eines erfolgreichen Managements nicht unverändert bleiben.

21.1 Logistik als Drehscheibe des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts Wenn der Begriff „Fortschritt“ in den Mund genommen wird, denken wir im Allgemeinen automatisch an die Ausweitung technologischer Möglichkeiten. Und in der Tat: Technologie ist das entscheidende Element der Fortentwicklung der menschlichen Gesellschaft, denn sie beeinflusst direkt oder indirekt sowohl die materiellen als

S. Neumann (*)  Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_21

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S. Neumann

auch die geistigen Aspekte des Daseins. Sie verschafft den Menschen mehr Erkenntnis (durch immer neue und präzisere Forschungsinstrumente und -methoden), mehr Freiheit (durch die Vermehrung der Handlungsoptionen), mehr Wohlstand (durch Steigerung von Effizienz und Produktivität, Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Erschließung weiterer Ressourcen), mehr Komfort (durch die Erleichterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen), mehr Erfahrungsmöglichkeiten (durch die Überwindung räumlicher und zeitlicher Grenzen) und mehr interkulturelles Verständnis (durch neue Begegnungsmöglichkeiten und globale Handelsbeziehungen). Die Logistik ist in viele dieser Prozesse ganz entscheidend einbezogen. Sie ist Vermittlerin, Profiteurin und Umsetzungsinstrument des Fortschritts zugleich. Sie ermöglicht regionalen und globalen Handel, bewegt Rohstoffe, Produkte, Menschen und Informationen und ermöglicht immer neue Wege zur Befriedigung der Wünsche und Bedürfnisse von Kunden und Verbrauchern. Sie steht gewissermaßen im Zentrum der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung: Sie nimmt die dort vorhandenen Trends auf und gibt ihnen eine Basis zur Verwirklichung – gleichzeitig fördert sie das Entstehen von neuen Kundenwünschen und Verbraucheransprüchen. Diese Wechselwirkung führt dazu, dass Logistik nicht nur durch den Einsatz neuer technologischer Möglichkeiten leistungsfähiger wird, sondern auch umgekehrt durch die Forderung nach erweiterten oder verbesserten Geschäftsmodellen die technologische Entwicklung antreibt. Die Logistikindustrie verändert sich gemäß den Einflüssen aus Wirtschaft und Gesellschaft und unterstützt damit zugleich deren Trends. Gemäß der zentralen Stellung der Logistik in diesem dynamischen Wertschöpfungsnetzwerk erfährt sie eine permanente Transformation, die bis hin zu einer Neudefinition dieser Industrie selbst reicht. Beispielsweise machen neue digitale Werkzeuge der Produktion wie der 3D-Druck die Logistik mehr und mehr zum Transporteur von Information statt fertiger Güter. Die um diese Technologie herum entstehenden Geschäftsmodelle ermöglichen einen bis vor Kurzem undenkbaren Grad an Individualisierung bis hin zur wirtschaftlichen Fertigung in Losgröße 1 – und sie verändern das scheinbar fest zementierte Gefüge der Rollen von Produzent, Lieferant und Kunde fundamental. Logistikunternehmen werden künftig Produzenten, Händler und Lieferanten in Einem sein und dadurch immer umfassenderes Know-how entwickeln und aufbauen. Diese Prozesse verwirklichen sich nicht in generalstabsmäßig geplanter Ordnung. Die Umsetzung des Wandels manifestiert sich vielmehr in unzähligen Einzelschritten und -aspekten, die jedes Unternehmen auf individuelle Weise zu bewältigen hat. Dabei sind zahlreiche Einflussgrößen zu berücksichtigen, die das unternehmerische Agieren zumindest nicht erleichtern und das Management in vielerlei Hinsicht herausfordern.

21.2 Führungsaufgaben im disruptiven Umfeld Die Unternehmensführung in modernen Logistikbetrieben sieht sich mit Forderungen und Aufgaben konfrontiert, die sich von denen ihrer Vorgängergenerationen fundamental unterscheiden. Das liegt einerseits an der Vielzahl neuer Herausforderungen, zu denen

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immer neue technologische Innovationen, ständig steigende Anforderungen von Kundenseite an Servicequalität und Dienstleistungsflexibilität, sich permanent wandelnde politische und rechtliche Rahmenbedingungen, Fachkräftemangel und demografischer Umbruch sowie ständig steigender Preis- und Wettbewerbsdruck gehören. Hinzu kommt als Begleitmusik die reale, aber höchst überflüssige Hürde eines erschreckend negativen Branchenimages, das der Logistikindustrie gesellschaftsweit entgegenschlägt und durch mangelnde politische Unterstützung verstärkt wird. Andererseits setzen die Rasanz und das Ausmaß der Veränderungen die Logistikmanager unter einen Druck, der für ihre Vorgänger im letzten Jahrhundert unvorstellbar gewesen wäre. Der Methodenwerkzeugkasten, mit dem frühere Unternehmensführer Herausforderungen meistern konnten, wird zunehmend obsolet, wenn quasi aus dem Nichts auftauchende technologische Sprünge, der Markteintritt branchenfremder Wettbewerber der Internetwirtschaft oder politische Umbrüche in fernen Kontinenten plötzlich und mit großer Wucht die bestehenden und bisher erfolgreichen Geschäftsmodelle durcheinanderwirbeln. Die Fähigkeit zur schnellen Reaktion und Umorientierung ist dabei nur eines der Attribute, die den Lenkern von Unternehmen im 21. Jahrhundert abverlangt werden. Hinzu treten muss die Fähigkeit zum Vorausdenken und proaktiven Handeln, basierend auf ständiger intensiver Beobachtung des marktrelevanten Geschehens und eine agile Organisation aller Business-Prozesse. Dies bedeutet auch, sich niemals dem Neuen zu verschließen, sondern rechtzeitig umzulernen und umzudenken.

21.3 Von den Erfolgreichen lernen Angesichts des immer komplexer und unübersichtlicher werdenden Umfelds ist ein Weiter so keine erfolgreiche Option. Das lineare Denken hat in dieser Situation ausgedient. Es hilft nicht dabei, mit Unvorhergesehenem und Ungewissem umzugehen. Aber wie müssen Manager im konkreten Alltag denken und vor allem handeln? Unternehmen werden fast tagtäglich vor neue Herausforderungen gestellt, und diese verlangen vom Management einerseits nachweislich erprobte und andererseits auch neue, zeitgemäße Führungsqualitäten. Es geht um Fähigkeiten, Menschen und Mitarbeiter emotional abzuholen, sie zu eigenverantwortlichem Handeln zu motivieren und sie schlussendlich für die Unternehmensziele zu begeistern. Dies kann nur funktionieren, wenn interne und externe Beteiligte sich dieser Vision gemeinsam verschrieben haben und bereit sind, sie zu entwickeln und umzusetzen. Zu den wichtigsten Fähigkeiten der Entscheidungsebene gehört die Bereitschaft, Bestehendes infrage zu stellen, ein „Andersdenkender“, eine „Andersdenkende“ („anders“ im Sinne von originellen Alternativen) zu werden. Verbunden damit muss das Geschick sein, Unterstützer und begeisterungsfähige Partner innerhalb und außerhalb des Unternehmens zu finden – und unternehmerischen Mut auf die Beteiligten zu übertragen.

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Mutige Menschen haben Selbstvertrauen und erreichen ihre Ziele. Sie sind in der Lage mit Herausforderungen, Unwägbarkeiten und Risiken umgehen. Mut alleine ist selbstverständlich noch keine Garantie für erfolgreiches Unternehmertum. Darüber hinaus bedarf es Zeit und Raum sowie der richtigen Menschen. Dreh- und Angelpunkte sind die Aufbau- und Ablauforganisationen der jeweiligen Unternehmensorganisation. Zukunftsweisende Führung, die die genannten Elemente konkret umsetzt, lässt sich von denen lernen, die es geschafft haben, ihr Unternehmen durch stürmische Zeiten hindurch erfolgreich zu erhalten und auch für die absehbaren Herausforderungen zu rüsten. Einige Beispiele können dies illustrieren. ADIDAS Ein Blick zurück nach Herzogenaurach im Jahr 2016. Nach einer langen und erfolgreichen Ägide unter Heiner Brand entscheidet der Aufsichtsrat der ADIDAS AG die Nachfolgeregelung anzugehen und umzusetzen. Die Wahl fällt auf Kasper Rorstedt. Diesem wird die Verantwortung, zukünftig als Vorstandsvorsitzender zu wirken, übertragen. Er ist ein exzellenter Kandidat und ein passionierter Sportler obendrein und somit die ideale Besetzung für die Position, um die Erfolgsgeschichte des Unternehmens fortzuschreiben. Analog zu seiner vorherigen Position als CEO von Henkel wird er wieder seine Interpretation eines zeitgemäßen CEOs verwirklichen. Zentrale Aspekte für ihn liegen in der besonderen Personalführung, der Strukturanalyse und der Kommunikation. Für ihn ist klar, dass diese Merkmale in fast allen Branchen anwendbar sind. Er wechselt nicht zu ADIDAS, in der Meinung, alles besser zu können als diejenigen, die seit Jahrzehnten in der Sportartikelbranche aktiv sind. Vielmehr sieht er es als seinen Job an, Orientierung zu geben und den nötigen Freiraum zu schaffen für die Entwicklung des Unternehmens. Starre Ziele sind für ihn nicht „Ziel-führend“. Es gilt, Visionen zu teilen. Als Außenseiter genießt er den Vorteil, kein Gefangener des Denkens in Analogien sowie alter Entscheidungen und Verbindungen zu sein. Genau das macht es ihm (und Menschenführern allgemein) einfacher, anders und neu zu denken. Aldi Der Lebensmitteleinzelhandel wird seit rund 90 Jahren geprägt von den Gebrüdern Albrecht. Theo und Karl gelten bis heute als die Mutigen, die Visionäre der Branche. Ausgehend von einem Tante-Emma-Laden im Ruhrgebiet, wurden Kunden ursprünglich wie traditionell üblich bedient. An Selbstbedienung war nicht zu denken. Nach dreißigjähriger Zusammenarbeit entschieden sich die beiden Firmengründer dann, getrennte Wege zu gehen. Sie teilten entschlossen ihren Konzern mit damals 300 Points of Sales in Westdeutschland in Aldi Nord und Aldi Süd auf. Beide sahen sich der Situation ausgesetzt, eigene Verwaltungen und Regionallager zu implementieren.

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Allein diese Entscheidung zeugt von außerordentlichem Mut und großer Weitsicht. Zeitgleich entschieden sie sich dafür, eine komplette Neuausrichtung ihres Geschäftsmodells vorzunehmen. Sie verabschiedeten sich vom Tante-Emma-Prinzip und wandelten das Geschäftsmodell hin zu großflächigen Discountern, die die Selbstbedienung forcierten. Hier zeigt sich ein leuchtendes Beispiel für die Fähigkeit zum „Andersdenken“, zur kreativen Alternative. Betriebswirtschaftliche Grundüberlegungen und ein eindeutiges Bekenntnis zum Motto „Discount ist die Kunst des Weglassens“ ist ein Claim, den Aldi bis heute vorleben. Das bewusste Verzichten auf klassische Einzelhandelsfunktionen brachte den deutschlandweiten Aldi-Märkten elementare Kostenvorteile gegenüber den klassischen Supermärkten. Die Kunden identifizierten sich in kürzester Zeit mit dem Konzept und belohnen es bis heute mit ihrer Treue. Die großen Preisvorteile und gut kalkulierbaren Kostenvorteile bescheren der Albrecht-Familie ausreichende Gewinne für die nächsten Entwicklungsschritte der beiden Unternehmensgruppen. Die Erfindung der neuen Aldi-Märkte gilt auf diesem Sektor als die erfolgreichste Innovation des 20. Jahrhunderts. Doch auch diese Entscheidungen und dementsprechende Realisierungen sind keine Garantie auf lange Sicht. Discount erhält heute nicht mehr die Akzeptanz wie vor 30 Jahren. Gute beziehungsweise günstige Preise allein reichen nicht mehr aus. Kunden wünschen sich mehr Frische, mehr Auswahl und vor allem immer wieder etwas Besonderes. Aus diesem Grunde entschieden sich die Top-Führungskräfte von Aldi Nord und Aldi Süd 2016 für das größte Innovationsprogramm ihrer Unternehmensgeschichte. Sie starteten die Neugestaltung ihrer Märkte und die inhaltliche Verbesserung ihrer Angebote. Aldi Süd hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2020 seine rund 1900 Points of Sales zu modernisieren. Die über Jahre bestehende „Lagerhallen-Atmosphäre“ soll beendet werden. Hierfür hat die Familienstiftung an die 3,5 Mrd. EUR zur Verfügung gestellt. Aldi Nord will seine rund 2400 Points of Sales bis Ende 2019 neu gestalten und wird sich dies rund 5,2 Mrd. EUR kosten lassen. Parallel dazu arbeiten beide Unternehmensgruppen wieder verstärkt zusammen. Die Beschaffung, deutlich sicht- und spürbar in der Homogenisierung ausgewählter Produkte, sowie die sichtbare Arbeit des Marketings (LOGO) lassen erahnen, bezeugen Mut und Entschlossenheit der Entscheider. Der Neubau der Firmenzentrale in Essen jedenfalls bietet ausreichend Platz, neu und anders zu denken und zu gestalten. DHL Der Weltmarktführer für Luft-, See- und Kontraktlogistik ist auf den ersten Blick eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Doch erinnern wir uns an die Anfänge. Im 15. Jahrhundert entstanden die ersten staatlichen Landesposten und es dauerte bis ins 19. Jahrhundert, ehe ein weiteres Geschäftsfeld, die Telefonie, hinzukam. Ende des 20. Jahrhunderts agierte das staatliche Unternehmen, die Deutsche Bundespost Paketdienst träge, wenig bis gar nicht innovativ und vor allem unwirtschaftlich und defizitär.

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S. Neumann

Vor diesem Hintergrund sah sich die Politik gezwungen, den Staatskonzern zu sanieren – eine mutige und entschlossene Entscheidung. Im Jahre 1990 folgte die Privatisierung, die absolut alternativlos war. Dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Klaus Zumwinkel traute man zu, den Prozess erfolgreich zu gestalten. Er sah harte Einschnitte im Filialnetz, teils auch verbunden mit einer deutlichen Reduktion des Services, sowie eine zwingende Neuausrichtung der Führung des Konzerns und der Aufbau- und Ablauforganisation vor. 2008 war die Sanierung erfolgreich abgeschlossen. In diese Zeit fiel eine Vielzahl von mutigen strategischen Entscheidungen. So wurden weitere Unternehmen und Unternehmensanteile in den Bereichen Brief, Express und Logistik übernommen. Dies waren in Frankreich, Großbritannien, Spanien, Tschechien, Indien, Israel und den USA bereits seit Jahren etablierte Unternehmen. Den Wegfall der zeitlich befristeten Exklusivlizenzen (2008) und die vollständige Liberalisierung des Postmarktes in Europa im Jahr 2013 waren bei den Zukäufen bereits berücksichtigt worden. Auf diese Weise schaffte es die Deutsche Post AG, zu einem Schwergewicht im Deutschen Aktienindex (DAX) und außerdem zu einem Global Player der Logistikindustrie zu werden, der das internationale Frachtpostgeschäft zwischen Dallas, Delhi und Den Haag sowie das nationale zwischen Dresden, Delmenhorst und Düren führt. Die heutige Struktur des Konzerns mit Post–eCommerce–Parcel, Express, Global Forwarding, Freight und Supply Chain zeigt eine klare Positionierung und eine Grundlage für Weiterentwicklungen und Veränderungen.

21.4 Mutig sein, Begeisterung wecken Vor dem Hintergrund der weiterhin anhaltenden Internationalisierung der Abnehmerbranchen, der abrupten Veränderungen von Erfolgsfaktoren im internationalen Wettbewerb und der damit einhergehenden Arbeitsteilung, besonders in der Produktion, müssen Unternehmensstrukturen neu geordnet werden. Entstaubte und agilisierte Unternehmensorganisationen mit angepassten neuen Strukturen und Regeln sind die Triebfeder und die Kraft für künftiges Wachstum und somit das Mittel gegen vorzeitiges Altern eines Geschäftsmodells. Reorganisation bedeutet zukunftsweisende tektonische Verschiebung in der Unternehmensstruktur. Bei sämtlichen Herausforderungen sucht man heute nach Standardvorgehensweisen und -lösungen. Themen und Projekte müssen aber zwangsläufig individuell und vor allem mit Klarheit und Offenheit angegangen werden. Dies wiederum bedeutet, dass ganzheitlich gedacht und gearbeitet beziehungsweise gelebt werden muss (Strategie, Struktur und Kultur – die berühmte DNA – des Unternehmens), um nachhaltigen Erfolg zu erzielen. Schlussendlich sind neue und gute Ideen für sich genommen aber nicht ausreichend. Besonders wichtig ist auch die Kraft des gemeinsamen Handelns, und zwar in dem Bewusstsein, Risiken einzugehen und Rückschläge hinzunehmen. Das Wunderbare daran

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ist, dass alle dafür leben, lernen und immer mehr verstehen und der Prozess somit nie langweilig wird. Entwicklungen gemeinsam zu erfahren, bedeutet für Führungskräfte auch, frühzeitig die Notwendigkeit für einen Richtungswechsel zu erkennen und entsprechende Schritte einzuleiten. Die kollektive Intelligenz sowie die gemeinsame Suche nach Lösungen stehen hierbei im Vordergrund. Daher sollten die Führungskräfte die Rolle der Menschenkenner einnehmen und nicht die der am besten ausgebildeten Fachleute/Experten. Den Mutigen gehört die Welt, denn Erfolg beruht auf Mut der jeweiligen Führungskräfte zu zukunftsorientierten und markenprägenden Entscheidungen, vielleicht sogar Übermut, der das Image der Marke manchmal auch in Frage stellt. Es gilt, immer neugierig und hartnäckig zu sein, in die Tiefe nachzufragen und Entweder-Oder-Denken zu vermeiden. Es gilt, auch einmal gegen Widerstand anzugehen und ein Risiko einzugehen. Von wirklich erfolgreichen Unternehmern hört man oft, sie seien ANDERS im Denken und Handeln. Es geht wiederum auch nicht darum, der mutigste Unternehmer, das mutigste Unternehmen zu sein. Vielmehr geht es darum, intern und extern die Stakeholder zu begeistern mit Produkten, Dienstleistungen und Lösungen, und so die Unternehmensentwicklung voranzutreiben und die Zukunftsfähigkeit zu gewährleisten.

21.5 Fazit Manager werden nicht mehr nur von ihren Mitarbeitern „lebenslanges Lernen“ verlangen können, sondern müssen sich selbst als permanent Lernende verstehen und sich in vielerlei Hinsicht in einem ständigen Prozess fortbilden. Der veränderte Rahmen, in dem Unternehmensleiter künftig agieren werden, stellt sogar die Fundamente des Begriffs Management infrage. Mut, Anpassungsfähigkeit und Offenheit neuen Entwicklungen gegenüber werden einen weit höheren Stellenwert genießen als bisher. Daher werden Manager ein besonders hohes Maß an Kreativität aufweisen müssen. Vor allem wird Unternehmensführung wieder das werden müssen, was es seinem ursprünglichen Wesen nach ist: eine strategische Aufgabe, die aktiv vorangetrieben wird. Allzu häufig erschöpfte sich das Management in vielen Unternehmen in den letzten Jahrzehnten im Absichern des Erreichten. Die deutsche Automobilindustrie bezeugt dieses zwar kurzfristig verständliche, aber langfristig gefährliche Verhalten allzu deutlich. Erfolgreiche Alttechnologien werden so lange es irgend geht, verteidigt, der rechtzeitige Einstieg in ein neues Antriebszeitalter verschlafen. Die extrem kurzfristigen Marktveränderungen werden zukünftig ein solches Verhalten viel schneller und radikaler abstrafen. Strategisches Denken, schnelles Analysieren der jeweiligen Trends und frisches unternehmerisches Denken werden mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Sorgfältiges Bedenken sowie mutiges Entscheiden und Handeln aus den „Animal Spirits“ des Unternehmertums heraus wird für den Markterfolg ausschlaggebend sein.

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S. Neumann Sven Neumann  ist Spezialist für Unternehmenstransformation im Zeitalter der Disruption. Langjährige praktische Erfahrung in innovativen Unternehmen und als Begleiter und Coach von Start-ups und Grown-Ups sowie die intensive Beschäftigung mit kreativen Denk- und Handlungsprozessen haben ihn zu einem gesuchten Vordenker und Umsetzer für die Transformation von Unternehmen gemacht. Auf dieser Basis ist der Diplom-Kaufmann als C-Level-Berater tätig, wobei er Unternehmen bei anspruchsvollen zukunftsentscheidenden Aufgaben unterstützt. Gleichzeitig engagiert er sich als Lehrbeauftragter an verschiedenen privaten Hochschulen für die Ausbildung kreativ und innovativ denkenden Nachwuchses. Seit 2019 ist Sven Neumann Geschäftsführer der Denkmanufactur GmbH, Dortmund.

Denken hilft nicht nur, es nützt auch

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Peter H. Voß

Zusammenfassung

Unsere Gesellschaft ist durchdrungen von Widersprüchen, die sich in fortschrittsfeindlicher Politik niederschlägt. Die Folgen sind mangelnde Innovations- und Investitionsbereitschaft, vernachlässigte Infrastruktur und Wettbewerbsverluste auf dem Weltmarkt. Die Logistikindustrie ist von dieser Entwicklung besonders betroffen. Sie wird von gesellschaftlichen Entwicklungen wie Demografie, Änderungen im Kundenverhalten und den Kundenerwartungen, immer anspruchsvolleren Verbraucheranforderungen, politischen Regulierungen, internationalen Herausforderungen und den technologischen Disruptionen unserer Zeit in die Zange genommen. Als einzige Erfolgsstrategie unter diesen unruhigen Verhältnissen wird der Logistik auf Dauer nur radikales Neu-Denken der eigenen Geschäftsphilosophie helfen. Der Abschied vom Denken in Assets und die Ausrichtung der Selbstdefinition des Unternehmens an den Bedürfnissen der Menschen, auch unter Inkaufnahme der Aufgabe bisher erfolgreicher Geschäftsmodelle wird zur Voraussetzung der Wettbewerbsfähigkeit werden.

22.1 Widerspruch gegen unsere Widersprüchlichkeit „Denken hilft zwar, nützt aber nichts.“ Unter diesem Titel (der deutschsprachigen Übersetzung) schrieb der israelisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Dan Ariely einen Bestseller, in dem er uns Menschen als Wesen beschreibt, die wichtige Entscheidungen nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch treffen. Der englische Titel

P. H. Voß (*)  Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0_22

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P. H. Voß

„Predictibly Irrational“ (Vorhersehbar irrational) macht deutlich, dass wir uns dabei nicht chaotisch verhalten, sondern dass unser Handeln durchaus vorhersagbar ist (Abb. 22.1). Wenn Dan Ariely auch vor allem den einzelnen Menschen und seine Entscheidungen unter die Lupe nimmt, so gelten einige seiner grundsätzlichen Aussagen durchaus auch für das Handeln unsrer Wirtschaft und Gesellschaft. Das lässt sich beispielsweise beobachten, wenn die Politik (wie es so schön klingt) „gestaltet“, also steuert, indem sie „Anreize“ schafft oder Hemmnisse errichtet. Das reicht von knallharten Verboten über sanftere Wegweisungen wie Steuererleichterungen oder Abgabenerhöhungen bis hin zu massiven Belohnungen wie einer flächendeckenden Abwrackprämie. Bei hellem Tageslicht besehen machen viele der staatlichen Lenkungsmaßnahmen ökonomisch oder ökologisch wenig Sinn (manchmal auch weder ökonomisch noch ökologisch), man denke nur an Energiesparleuchten und „Dosenpfand“. Dennoch lassen sie sich meistens durchsetzen, weil eben die Menschen vorhersagbar reagieren und sie nicht rational hinterfragen. Nichts anderes steckt auch hinter Marketingstrategien wie der …9,99 EUR-Bepreisung von Waren und den sensationellen Rabattangeboten („70 Prozent reduziert!!“), deren Berechnungsgrundlage nirgends zu ermitteln ist.

Abb. 22.1   1_Der_Denker. Denken kann nützlich sein. (Quelle: Shutterstock)

22  Denken hilft nicht nur, es nützt auch

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Was sich im Rahmen der genannten Beispiele noch eher amüsant anhört, gewinnt rapide an Ernst, wenn man sich das Verhalten von Politik und Gesellschaft bei umfassenderen Themen ansieht. Beispiele für Aus-dem-Bauch-heraus-Entscheidungen mit epochaler Wirkung gibt es aus der jüngeren Vergangenheit genügend. Eines davon ist die von zumindest teilweise irrationalen Ängsten angefachte brachiale Energiewende, deren Ausgangspunkt ein Unfall in einem Kernkraftwerk im 9000 km von Berlin entfernten Fukushima war. Ausstieg aus der Kernenergie, massive Steuerung in Richtung volatiler erneuerbarer Energien, Kohleausstieg – der radikale Umbau unserer Gesellschaft wurde (beschleunigt durch panischen CO2-Katastrophismus) auf den Weg gebracht, wie es den Anschein hat noch bevor tieferes Nachdenken eingesetzt hatte. Mit dem Ergebnis, dass bisher der Schaden größer ist als der Nutzen: weltmeisterliche Energiepreise, volkswirtschaftliche Kosten im dreistelligen Milliardenbereich, Qualitätsverluste in der Stromversorgung, Rückschritte in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Verunsicherung im logistikrelevanten Verkehrsbereich und ständige Unruhe auf allen Ebenen durch fließendes Nach- und Umsteuern. Das alles, ohne auch nur annähernd die verfolgten Ziele zu erreichen, insbesondere eine Reduzierung der CO2-Emissionen. Jeder Chef eines Großunternehmens, der mit Milliardenaufwand die Lage seines Unternehmens verschlechtert und nur immer wieder den Segen seiner Maßnahmen für eine ständig vor den Aktionären zurückweichende Zukunft verspricht, wäre längst aus seiner Position verjagt worden. Auf dem Sektor Energie und Umwelt haben wir in Deutschland eine Planwirtschaft errichtet, doch, wie es scheint, eine ohne Plan – ohne an Alternativen, an langfristige Folgen und an globale Erfordernisse für Wirtschaft und Gesellschaft zu denken. Politische Entscheidungen, so hat man manchmal den Eindruck, folgen zwei konträren Mustern: entweder wird mit weit in der Zukunft angesiedelten Schreckensbildern eines zerstörten Planeten Planwirtschaft in der Gegenwart organisiert; andererseits wird tatsächlichen oder herbei geredeten Aufgaben im Umwelt- und Sozialbereich der Gegenwart mit wahlkampfnützlichen rein konsumptiven Ad-hoc-Budgets begegnet, die zu künftigen Lasten führen. Dadurch verschlingt kurzfristiger Aktivismus Steuergelder, die für Projekte zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in die Zukunft hinein an entscheidender Stelle fehlen: Deutsche Bürger und Unternehmen tragen eine der höchsten Lasten an Steuern und Abgaben aller Industrienationen. Warum, so muss man fragen, ist die Verkehrs- und ITK-Infrastruktur dann so marode, dass selbst Wirtschaftsminister Altmaier zugibt, dass er sich beim Telefonieren mit ausländischen Kollegen wegen des schlechten Empfangs peinlich berührt fühlt? Wir leisten uns ein immer dichteres Netz von Sozialleistungen und Umwelt- beziehungsweise Klimaregulierungen auf Kosten des Wohlstands, den wir als Grundlage dafür brauchen, dass auch morgen noch Geld für die dann noch höheren Sozialleistungen und Umwelt- beziehungsweise Klimaregulierungen vorhanden ist. Hinter dieser Handlungsweise stecken widersprüchliche, beinahe schizophrene Einstellungen und Einschätzungen unserer Situation, die nach tieferem Nachdenken regelrecht schreien. Angst vor dem Risiko, Misstrauen gegen die Kreativität freier Menschen,

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insbesondere der Unternehmer, sowie eine tief verwurzelte Fortschrittsfeindlichkeit treffen auf die unerschütterliche Überzeugung, dass die Stärke Deutschlands in der Vergangenheit für alle Zeiten garantiert ist. Aus Unsicherheit und ideologischem Denken fördern wir einerseits den Stillstand, obwohl Agilität in früheren Jahrzehnten ein Merkmal unserer Stärke war. Aus ideologiegetriebener Zukunftsangst erzwingen wir andererseits einen Wandel, der auf die Fesselung der freien Wirtschaft hinausläuft und damit dem Fortschritt entgegensteht und somit in Wahrheit ebenfalls den Stillstand fördert. Widersprüchlichkeit, wohin man blickt. Immer neue Exportweltmeisterschaften werden gefeiert, als ob die dadurch signalisierte Abhängigkeit von weit entfernten Wirtschaftsräumen eine tolle Sache sei. Gleichzeitig wird die Logistikindustrie, durch deren Kompetenz und Wandlungsfähigkeit dieser Exporterfolg überhaupt erst möglich wird, durch immer neue Hindernisse, Belastungen und Regulierungen ausgebremst. Doch sollte niemand „denen da oben“ allein die Schuld an der bedrohlich wirren Entscheidungslage im Land zuschieben. Die Gesellschaft als Ganzes scheint vor der Realität die Augen verschließen zu wollen und beliebige Ideale anzustreben, ohne gleichzeitig die Voraussetzungen dafür zur Kenntnis nehmen zu müssen. Wir wollen als Verbraucher alles gleichzeitig und auf einmal: alles natürlich, alles frisch, alles aus der Region, aber auch alles, was auf der ganzen Welt angeboten wird, alles in höchster Qualität, alles billig, alles umweltschonend und ethisch korrekt erzeugt, alles möglichst auf der Stelle und in riesiger Auswahl – aber ohne diese verkehrsstörenden Umweltzerstörer von Lkw auf den Straßen. Transportiert werden soll alles möglichst sofort, aber bitte mit bestens bezahlten Fahrern und umwelt- wie klimaneutral und ohne Aufschläge bei den Paketgebühren. Online bestellen, umweltneutral liefern, bei unbegrenztem kostenlosem Rückgaberecht, zu minimalen Kosten. Das Problem ließe sich am einfachsten mit dem Beamen der Star-Trek-Helden lösen. Das Problem ist nur, dass wir diese Technologie, wenn es sie denn gäbe, in Deutschland niemals zulassen würden, weil fleißige Bedenkenentwickler mit Sicherheit potenzielle Gefahren geltend machen würden – ganz so wie das Feuer in Deutschland schon vor 300.000 Jahren verboten worden wäre, wenn es unsere Sicherheitswächter damals bereits gegeben hätte.

22.2 Zeitgeist: Denken ist out Was haben all diese Beispiele mit dem Thema Denken zu tun? Sehr viel. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Wir denken zu wenig. Denken ist out. Gefühl ist in. Nichts macht dies deutlicher als die Instrumentalisierung der schwedischen Schülerin Greta Thunberg für die Emotionalisierung der Debatte um den Klimaschutz. Die Botschaft, die unser Herz gegen das Hirn immunisieren soll, lautet: Kann man diesem unschuldigen Gesicht widerstehen? Bringen wir es allen Ernstes fertig, uns gegen ihre Aussagen zu stellen? Wer es dennoch tut, kann nur ein eiskaltes Herz haben. Hier auf kühle Rationalität zu pochen, so die Botschaft, ist moralisch verwerflich.

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Nur wo nicht mehr rational an Themen herangegangen wird, sondern gefühlige Ideologie und Schwärmerei herrscht, kann die zu beobachtende Widersprüchlichkeit das Handeln lähmen und die Wirtschaft in eine bedrohliche Lage bringen. Das Insistieren auf widersprüchlichen Standpunkten ist aber nichts anderes als Realitätsverweigerung. Denken ist dazu da, Widersprüche aufzulösen und einen gangbaren Weg durch die sich gegenseitig ausschließenden Positionen zu finden. Derzeit scheint es so, als ob wir uns dieser Erkenntnis verweigern und wie ein kleines Kind alles auf einmal wollen – und auf magische Weise ohne Risiko und ohne, dass unsere Handlungen auch negative Konsequenzen haben dürfen. Wir akzeptieren den Stillstand aus Angst vor dem Risiko des Fortschritts. Ein bisschen Denken wäre hier nicht nur hilfreich, sondern auch nützlich: Das größte Risiko für Mensch und Gesellschaft ist nicht der Fortschritt, die Bewegung, sondern der Stillstand. Wir belügen uns auch selbst, indem wir Stillstand in Form der Mogelpackung „Wende“ als Bewegung verkaufen. Man vergleiche unsere heutige Situation mit der Ende des 19. Jahrhunderts, als Städteplaner vor dem kompletten Kollaps der Metropolen warnten: Wenn der Innenstadtverkehr nicht reguliert werde, würden die Straßen von London & Co. bis etwa 1910 unter 1,20 m Pferdemist begraben liegen. Ein Untergangsszenario, das mit den heute grassierenden vergleichbar ist. Mit der derzeit in Deutschland herrschenden Einstellung hätte man damals gefordert, die Entwicklung immer neuer Kutschentechnik sofort einzustellen. Verkehrsregulierungen á la „gerade Zahlen an Montag, Mittwoch und Freitag, ungerade Zahlen an den restlichen Tagen“ würden eingeführt werden. Gleichzeitig ginge es um Einschränkung der Bedürfnisse, damit der Lieferverkehr eingedämmt wird. Technologieförderungsrichtlinien mit dem Geist von Heute würden die Förderung von Einspännern anregen und Vierspänner verbieten. Der Ausweg würde niemals der Kreativität der Menschen überlassen werden, sondern der Fantasielosigkeit der Bürokraten. Diese würden den Pferdeverkehr als Beförderungsmittel zementieren und diesen Stillstand als „progressiv“, als segensreichen Wandel verkaufen, weil ja im herrschenden Paradigma drastischer „Wandel“ verordnet wäre. Was vielleicht wie eine amüsante Übertreibung klingen mag, ist leider allzu nah am heutigen Geschehen. Und es ist zu befürchten, dass der gegenwärtige Trend anhält. Staatliche Ressourcen werden sogar noch verstärkt in konsumptive Ausgaben gesteckt, während gleichzeitig der Geldsegen der vergangenen Boomjahre für die staatlichen Haushalte aufgrund der schlechteren Wirtschaftslage abebbt. Seit 2010 sind die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden um mehr als die Hälfte gestiegen. Im gleichen Zeitraum hat sich die Verkehrsinfrastruktur weiter spürbar verschlechtert – um nur einen Brennpunkt von volkswirtschaftlicher Bedeutung zu nennen, der für die Logistik entscheidend ist. Die vom Gesetzgeber durch Unterstützung des kostenlosen Rückgaberechts geförderte und vom boomenden Onlinehandel angefachte Transportlawine wird somit auf immer miserableren Straßen und Schienen abgewickelt. Und als ob dies nicht schlimm genug wäre: Zur Bewältigung der wachsenden Ansprüche an logistische Dienstleistungen werden den Unternehmen wohlfeile Ratschläge zur Digitalisierung erteilt – wobei die ITK-Infrastruktur (Stichwort: Breitbandausbau) inzwischen eher an

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afrikanische Verhältnisse erinnert und bürokratische Eingriffe wie die Datenschutzgrundverordnung kleinere Unternehmen zum Stopp weit reichender Digitalisierungsschritte veranlassen. Der verkehrspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Oliver Luksic, fasste das Dilemma für die Logistikindustrie in einem Satz zusammen: „Die gesamtstaatlichen Sozialausgaben liegen bei knapp einer Billion Euro, aber nur 17 Mrd. EUR werden für eine in Teilen völlig marode Verkehrsinfrastruktur und den Breitbandausbau bereitgestellt.“ Warum schafft es beispielsweise die Schweiz, mit einer viel niedrigeren Steuer- und Abgabenbelastung ihrer Bürger eine international anerkannte Spitzenstellung bei der Infrastruktur aufzubauen? Die Frage „Wo bleibt eigentlich unser Geld?“ wird in Deutschland gar nicht gestellt. Sie würde denken voraussetzen, und Denken ist out. Die Logistikindustrie ist mehr als die meisten anderen Wirtschaftssektoren von diesen undurchdachten politischen Handlungsweisen und dem schizophrenen Verhalten der Menschen betroffen. Sie muss sich ohne wirklich starke Lobby durch dieses herausfordernde Umfeld manövrieren. Aber: Sie muss sich auch selbst an die eigene Nase fassen. Auch sie ist nämlich vom Virus der Denkfaulheit und Stillstandsmentalität angesteckt. Nun mag man durchaus auf die oberflächlich gesehen hohe Anpassungsfähigkeit der Logistik verweisen. In der Tat hat sich das Tagesgeschäft in den letzten Jahren bei vielen Unternehmen des drittstärksten deutschen Wirtschaftssektors erheblich verändert und modernen Standards angeglichen. Insbesondere in Sachen Technologie zeigt sich Bewegung. Doch angesichts einer Welt, die gewissermaßen in einen Zustand der Dauerdisruption eingetreten ist, ist das für einen positiven Zukunftsausblick zu wenig. Wer es unter großem Aufwand schafft, die Zeitdauer, die er zur Abfahrt des Zuges zu spät kommt, von zehn auf fünf Minuten zu verkürzen, hat keinen Grund zu triumphieren. Auf den Märkten der Zukunft ist radikale Anpassungsfähigkeit gefragt. Denn noch nie gab es so viele Herausforderungen auf so vielen Ebenen – und diese Zahl wird steigen, nicht fallen, weil die Beschleunigung der Entwicklung die einzige Konstante der Zukunft sein wird. Die wichtigsten Treiber der Logistikentwicklung sind: Digitalisierung 2.0 Die Plattformökonomie wächst. Geschäftsmodelle, die zur Gänze auf digitaler Basis fußen, greifen in allen Wirtschaftssegmenten die traditionellen Erfolgsmodelle an – von Amazon bis Zalando reihen sich unzählige Beispiele aneinander, und es werden täglich mehr. Always-On-Economy, App-Economy, Sharing Economy – eine Fülle fundamental neuer Businesswelten auf digitaler Basis hat sich bereits entwickelt. Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen verstärken diesen Trend signifikant und sorgen für immer anspruchsvollere Businesschancen und Kundenoptionen, besonders radikal, wenn die additive Fertigung („3D-Druck“) zum alltäglichen Instrument der Produktion geworden ist. Dadurch kommt es zu einer Umwälzung der Wertschöpfungsketten: Der frühere passive Abnehmer der Erzeugnisse von Fertigungs- und Dienstleistungsunternehmen, der Endkunde, wird zum aktiven Mitspieler, der direkt in die Design-, Herstellungs- und Logistikprozesse einwirkt. Die Digitalisierung verändert damit erstmals nicht nur die

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Prozesse, sondern direkt das gesamte Wirtschaftsgefüge, man könnte somit von einer Digitalisierung 2.0 sprechen. Zunehmend wir in der Zukunft die Internetindustrie vorgeben, was von der Logistik verlangt wird, nicht mehr umgekehrt. Gesellschaftliche Veränderung: die Verbraucher Die Wünsche und Erwartungen der Verbraucher verändern sich. Individualisierte Produkte und Services, hohe Ansprüche an Qualität und Kundenfreundlichkeit sowie wachsendes Sozial- und Umweltbewusstsein beeinflussen auch die Servicestrategien der Logistikindustrie – von den Belastungen der Umwelt durch den Warentransport bis zur Bezahlung von Fahrern. Da gleichzeitig die Billigmentalität der Deutschen in Sachen Dienstleistungen ungebrochen ist, entsteht dabei ein wachsender Kostendruck, dem die gegenwärtigen Geschäfts- und Pricing-Modelle nicht gewachsen sind. Gesellschaftliche Veränderung: die Fachkräfte Die Versorgung der Logistikindustrie mit Arbeitskräften, insbesondere Fahrern, ist desaströs. Die Unternehmen rechnen damit, dass sich diese Situation noch verschärfen wird. Die Bevölkerungsentwicklung verspricht nichts Gutes, und ob die Technologie mit Fortschritten bei Fahrzeugautonomie und Digitalisierung diesen Trend mittelfristig wirklich umkehren kann, ist zweifelhaft. Hinzu kommt, dass die heranwachsende Arbeitskraftgeneration Vorstellungen ins Berufsleben mitbringt, die kaum für die Logistikindustrie geeignet sind. Die heranwachsende Generation Z setzt auf eine gute Balance zwischen Arbeits- und Freizeit, klar definierte und festgeschriebene Arbeitszeiten, detailliert vorgegebene Abläufe und Aufgaben sowie demokratische Entscheidungsprozesse und ein hoch kooperatives Umfeld. Gleichzeitig nimmt die innere Bereitschaft ab, einem bestimmten Arbeitgeber treu zu bleiben. Im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten ist eine Gehaltsanhebung kein Wundermittel mehr, das Mitarbeiter automatisch bei der Stange hält. Gesellschaftliche Veränderung: die Politik Der Druck aus der Welt der Paragrafen wird nicht nachlassen, sondern zunehmen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Insbesondere trägt eine stets zu Überraschungen aufgelegte, von Widersprüchen und sprunghaften Entscheidungen geprägte Umweltund Klimapolitik dazu bei. Fahrverbote, Zwang zu bestimmten Antriebstechnologien, Umstürze in der Energieinfrastruktur – es sind unzählige die Logistikindustrie zu gravierenden Veränderungen zwingende Eingriffe denkbar. Der Zug zu einer planlosen Planwirtschaft scheint abgefahren zu sein. Weltweite Unwägbarkeiten Die politische Entwicklung der letzten Jahre zeigt: Wer mit einer ungehindert weiter gehenden Globalisierung gerechnet hatte, lag falsch. In vielen Weltgegenden, auch in Europa, besinnen sich die Menschen wieder auf ihre nationalen Kulturen und Wirtschaftsräume

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(„Produkte aus der Region“) und weigern sich, komplett in großen regionalen Strukturen aufzugehen. Es zeigt sich, dass es zumindest momentan noch unüberbrückbare Differenzen in Fragen von Recht und Unrecht, Freiheit und Mitbestimmung oder Offenheit und Fairness gibt. Für die Logistikindustrie bringt dies eine Vielzahl von Komplikationen mit sich: Werte- und Rechtsauffassungen kollidieren und schaffen eine Situation, die nicht selten von Sanktionen, Brüchen von Handelsregeln, Tauziehen über Marktabschottungen und Technologiediebstahl bestimmt ist. Hinzu kommen unterschiedliche Regulierungsregionen, schnell aufflammende militärische Auseinandersetzungen oder Umstürze sowie Cyberkriminalität, Spionage und die Gefahr von Cyberkriegen.

22.3 Die Revolution beginnt im Kopf Um in dieser Situation den Erfolg zu sichern, wird es für die Logistikunternehmen nicht ausreichen, auf einzelne Herausforderungen zu reagieren. Selbstverständlich ist auch dies eine wichtige Tugend, denn eine intelligente Antwort auf Anforderungen aus Markt, Politik und Gesellschaft zu finden ist überlebenswichtig. Es ist wichtig und richtig, die Veränderungen in den Anforderungen der Verbraucher zu erkennen und mit neuen Servicekonzepten zu beantworten. Es ist wichtig und richtig, moderne Technologien wie etwa die Künstliche Intelligenz auf ihre Auswirkungen auf und Chancen für die Logistik abzuklopfen. Es ist wichtig und richtig, im Verbund mit Forschung, Kommunen und Städteplanern nach Lösungen für die moderne City-Logistik und die Belieferung der letzten Meile zu suchen. Es ist wichtig und richtig, selbstbewusster die Belange der Logistikindustrie in Politik und Gesellschaft zu vertreten und auf realistischer Bepreisung von Services und einer logistikfreundlichen Infrastruktur zu bestehen. Aber letztendlich verlangt die Zukunft von allen Seiten: Politik, Gesellschaft und Logistik vor allem eines: ein neues Denken, das sich nicht an der Welt ausrichtet, wie sie nach der deutschen Ideologie sein soll, sondern an der Welt wie sie ist. Und die Welt ist vor allem eines nicht: schwarz und weiß, gut und böse. Die Widersprüche in unserem derzeitigen Denken sind deshalb so destruktiv, weil sie die Realität ablehnen und alles Denken und Handeln in ein Schwarz-weiß-Schema pressen. Während hierzulande Zensuren für die richtige Haltung verteilt werden und Ethikräte den Weg in die Zukunft vorgeben, biegen in anderen Weltregionen die Wettbewerber auf die Überholspur ein und schicken sich an, mit einem realistischen Blick auf die Welt auf vielen Gebieten davonzuziehen. Während wir Deutschen uns einbilden, die Welt retten zu müssen, erkennen andere, dass die Welt weder gerettet werden muss noch gerettet werden will. Das Gefährliche am Mangel an Nachdenken ist, dass wir die Welt als geschlossenes System sehen wollen und zu spät erkennen, was die Realität fordert. Die Realität ist an diesem Zeitpunkt unserer Zivilisation der Zustand permanenter Veränderung und dauerhafter Unwägbarkeit und Unvorhersagbarkeit. Damit müssen wir lernen umzugehen, in

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der Gesellschaft und auch in der Logistik. Das bedeutet aber: Realistisches, rationales Denken muss endlich wieder vor Tradition und Gesinnung gestellt werden. Kreativität und Mut sind die einzigen Werkzeuge, die uns in die Zukunft führen können. Realistisches klares Denken ist dafür die Voraussetzung. Wer realistisch denkt, wird erkennen, dass das, was bisher erfolgreich war, mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Zukunft nicht mehr funktionieren wird. Dann wird es auch als Logistiker darum gehen, nach neuen Wegen zu suchen, indem das Denken sich visionär mit der Frage auseinandersetzt: Kann ich gewinnen, wenn ich meinen bisherigen Weg komplett hinter mir lasse? Kann ich mein Geschäft einfach erweitern oder muss eine Revolution her? Traditionelles (Nicht-)Denken versucht beispielsweise die Frage zu beantworten, welche Technologie es erlaubt, mein bisheriges Geschäftsmodell noch ein paar Jahre länger durchzuziehen, das eigentlich vom Grundgedanken her dasselbe ist, das schon der Großvater eingeführt hatte: irgendwie dafür zu sorgen, dass die Assets gut gefüllt und ausgelastet sind. Das Interesse der Kunden orientiert sich aber sprunghaft hin zu komplexen Services, die Auslastung von Assets ist da kein Thema. Realistisches Denken geht von der Voraussetzung aus, dass heute der Kunde der Brenn- und Ausgangspunkt für Geschäftsmodelle sein muss. Das Sich-hinein-Denken in den Kunden ist die wichtigste Denkbewegung für die Logistik der Zukunft. Wie erfülle ich – ohne auf meine Assets zu schielen – die Bedürfnisse und Wünsche des Kunden? Und zwar unter den real existierenden verkehrstechnischen, politischen, ökonomischen und technologischen Rahmenbedingungen? In einer Zeit, in der die Grenze zwischen Produktion, Lieferung, Handel und Verbraucher immer mehr verschwindet, kann es nur darum gehen zu verstehen, dass sich die Wirtschaft zu einem Netzwerk von gegenseitigen Services entwickelt, dass die Quintessenz unternehmerischer Aktivität der Service ist. Und nichts erfordert so viel Nachdenken, Infragestellen des Bestehenden und Mut zum Neuanfang wie das kundenzentrierte Servicegeschäft. Diese Art kreativen Denkens muss zur Gewohnheit, zur alltäglichen Routine werden. Vielleicht lautet in Zukunft die Antwort auf die Frage eines potenziellen Kunden eines Logistikunternehmens: „Was kannst du für mich tun?“ nicht mehr: „Ich transportiere xyz von A nach B.“ oder „Ich versorge dich mit xyz.“, sondern: „Das kommt ganz darauf an, welche Bedürfnisse du hast.“ Wenn zu diesem geistigen Umschwung entsprechender Mut zur Realisierung kommt, braucht uns um den Logistikstandort Deutschland nicht mehr bange zu sein.

22.4 Fazit Die Logistik verändert sich derzeit rasant, so wie es auch Gesellschaft und Technologie tun. Dabei steigt die Bedeutung unvorhersagbarer Entwicklungen. Das Verlässliche, Berechenbare, welches mit den Tugenden von Tradition, Flexibilität und bewährten Geschäftsmodellen zu bewältigen ist, wird mehr und mehr der Vergangenheit angehören. Stattdessen ist permanentes Infragestellen des Ist-Zustands gefragt. Im Mittelpunkt des unternehmerischen Denkens muss das Bedürfnis des Kunden oder Auftraggebers stehen.

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Nicht mehr die Auslastung der eigenen Assets darf die Geschäftsmodelle dominieren, sondern einzig und allein die Kundenwünsche. Falls wir weiter zu den führenden Wirtschaftsnationen der Welt gehören wollen, genügt es leider aber nicht, wenn das Management der Logistikindustrie allein eine Rückbesinnung auf kluges Denken vorantreibt. Es ist eine gesellschaftsweite Aufgabe, an der jeder beteiligt ist, wenn er nicht nur passiver Kunde sondern Mitgestalter der Wertschöpfung ist. Wer sich weiter der Realität verweigert, sägt einträchtig mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an dem Ast, auf dem er sitzt. Wenn wir als Standort des Wohlstands und Friedens bestehen wollen, müssen wir alle diese Lektion lernen. Zum Glück winkt als Lohn für diese Anstrengung eine Verbesserung unserer Lebenssituation. Der deutsche Titel des Buches von Dan Ariely wäre dann widerlegt: Denken hilft nicht nur, es nützt auch.

Peter H. Voß  ist seit mehreren Jahrzehnten als Kommunikationsexperte für Logistik-nahe Themen bekannt. Er begann seine Karriere 1988 als Pressesprecher und Leiter Unternehmenskommunikation bei der TNT Express GmbH. 1993 machte sich Peter Voß selbstständig und arbeitet seither als Geschäftsführer eigener Unternehmen der Kommunikationsbranche. Wichtige Stationen seiner Laufbahn: zwischen 1994 und 2013 Vorstand und Geschäftsführer der FOKUS Gruppe; seit 2013 Geschäftsführer von Voß Consulting in Dortmund und (ab 2015) geschäftsführender Gesellschafter der Denkmanufactur GmbH. Peter Voß ist zudem Geschäftsführer des von ihm konzipierten und mit gegründeten Club of Logistics und Honorarkonsul der Republik Slowenien.

Stichwortverzeichnis

3D-Druck, 119, 193, 240

A Adaptability, 61 Added-Value-Prozess, 170 ADIDAS AG, 242 Agilität, 69 Akquisition, 230 Aldi, 242 Algorithmus, 49 selbstlernender, 119 Alibaba, 151 Amazon, 117, 151 Analyse, 64 Analyselatenz, 28 Antrieb, alternativer, 131 Arbeitskräftemangel, 75 Assisted Reality, 108 Auslastungsspitze, 153 Automatisierung, 58, 100, 171, 234 Autonomes Fahren, 205 Autonomie, 5

B B2B-Belieferung, 132 B2C-Belieferung, 132 Bestandsmanagement, 119 Big Data, 68, 77, 84, 113, 204 Big-Data-Konzept, 68 Bildanalyse, 13 Billigmentalität, 253 Blockchain, 77, 84 Breitbandausbau, 251

C Cargo-Cap-System, 145 Cargo Sous Terrain, 198 Change Management, 80 City-Projekt, 132 Citylogistik, 143, 144, 254 Cloud, 204 Cloud-Dienst, 72 Cloudsoftware, 77 CO2-Bilanz, 35 CO2-Emission, 156, 249 Computervirus, 181 Consumer-Centricity, 49 Control Tower, 39, 51 Customer-Journey, 49 Cyber-physischen-Systemen (CPS), 191 Cyber-Police, 183 Cyber-Schutz, 183 Cyberdeckung, 192 Cyberkrieg, 254 Cyberkriminalität, 181, 254 Cyberschaden, 193 Cyberspace, 182 Cyberversicherung, 183, 193

D Daily Replenishment, 132 Data Mining, 93 Datenbrille, 107 Datenharmonisierung, 59 Datenmanagement, 61 Datenschutz, 190 Datenschutzstandard, 204 Datensicherheit, 190

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 P. H. Voß (Hrsg.), Logistik – die unterschätzte Zukunftsindustrie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27317-0

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258 DAX-Unternehmen, 80 Deep Learning, 5, 89 Demografiedaten, 67 DHL, 243 Dienstleistungs-DNA, 176 Dienstleistungsmodell, 168 Dienstleistungsqualität, 166 Digitalisierung, 4, 17, 21, 58, 72, 84, 119, 171 2.0, 253 Digitalisierungstechnologie, 27 Discount, 243 Disposition, 175 Distanzhandel, 150 Diversifizierung, 185, 229 Drohne, 155, 197, 206

E E-Commerce, 72, 143 Echtzeitdaten, 42 Effizienz, 58 Effizienzgewinn, 43, 110 Eigenkapitalquote, 217, 226 Einkaufserlebnis, 48 Empfänger, 153 Employer Branding, 161, 236 Energiewende, 249 Enterprise Ressource Planning (ERP), 59 Entfernungsklasse, 67 Entscheidungsprozess, automatisierter, 191 Entscheidungsweg, schneller, 216 Ergonomie, 101 Ersatzteildistributor, 174 Ersatzteillogistik, 118 Erstzustellquote, 154 Estimated Time of Arrival (EAT), 51 Evolutionsschritt, 60 Exoskelette, 192 Exportabhängigkeit, 168 Expressversand, 117

F Fachkräftemangel, 113 Fahrer, 121 Fahrermangel, 119 Familienkodex, 224 Familienunternehmen, 222

Stichwortverzeichnis Filiale, 136 Finanztransaktion, 191 Flat-fee Modell, 160 Flexibilität, 213 Forecasting, 44 Fortschrittsfeindlichkeit, 250 Frachtenbörse, 203 Frachtführer, 77 Führungsqualität, 241

G Gebietsplanung, 67 Gefährdungshaftung, 206 Generalist, 212 Generation Z, 253 Geografiedaten, 67 Geschäftsmodell, 240 Gesellschaft 5.0, 73 digitale, 73 Gesellschaftskapital, 223 Google Glass, 108 Gratisgesellschaft, 167 Greenfield Planning, 67

H Haftung, 202 Haftungsbefreiung, 206 Haftungsgrenze, 207 Haftungsregel, 207 Haftungsrisiko, 191 Haftungsübergang, 190 Handelsfluss, 153 Handelskonflikt, 187 Handelslogistik, 136 Hierarchie, flache, 216 Hofmanagement, 9 Hyperloop, 198 One, 144

I Image, 166, 234 Imagearbeit, 236 Imagekampagne, 238 Individualisierung, 240

Stichwortverzeichnis Industrie 3.0, 76 4.0, 7, 21, 72 Informationsgeschwindigkeit, 18 Inhouse-Logistik, 156 Innenstadtlogistik, 129 Innovation, 189 Innovationsdruck, 170 Innovationsfelder, 86 Innovationsgeist, 229 Innovationspotenzial, 104 Innovationstreiber, 235 Innovationszentrum, 238 Internationalisierung, 171 Internet der Dinge, 6, 72, 171 Internet of Things (IoT), 77, 86 Intralogistik, 60, 72 Investitionsgüterindustrie, 118 Investitionsschutz, 14 Investitionssicherheit, 62 IT-Infrastruktur, 58, 76 IT-Landschaft, 77 IT-Service, 176 IT-Sicherheitskonzept, 183 IT-Standard, 81 IT-Systeminfrastruktur, 137 ITK-Infrastruktur, 249

K Käuferverhalten, 169 KEP-Markt, 211 KFZ-Versicherung, 196 KI-Plattform, 52 Klimarisiko, 184 Klimarisikoversicherung, 183 Klimaschutz, 156 Klimawandel, 184 Kommissionieralltag, 109 Kommissionieren, 192 Kommissionierleistung, 101 Kommissioniersystem, 109 Kommissionierung, 107 Kommissioniervorgang, 110 Konsumentenverhalten, 48 Konsumgüterindustrie, 118 Kontraktlogistik, 203 Konzern, 222

259 Kostendruck, 169 Kostensatz, 67 Kostensenkungspotenzial, 63 Krisenunterstützung, 183 Kunden- oder Marktsegment, dedizierte, 214 Kundenanforderung, individuelle, 213 Kundenbefragung, 235 Kundenbeziehung, intensive, 213 Kundenerlebnis, 50 Kundenwissen, 175 Kundenwunsch, 48, 240 Kundenzufriedenheit, 154, 235 Künstliche Intelligenz (KI), 4, 58, 74, 89 Kurier-, Express- und Paketdienste (KEP), 124, 211 KVP-Modell, 44

L Ladungsdiebstahl, 180 Lagerkosten, 66 Lagerverwaltungssystem, 111 Last-Mile-Logistik, 130 Lastenfahrrad, 133 Latenz, 23, 24, 27 Lernen, maschinelles, 74 Lieferkette, 36 digitalisierte, 72 LKW-Sicherheitsparkplatz, 180 Logistik, 58, 129 Logistik 4.0, 12, 190 Logistik, vernetzte, 60 Logistikblockchain, 91 Logistikbranche, 210 Logistikdienstleister, 77 Logistikfläche, 152 Logistikindustrie, 240, 250 Logistiklager, 114 Logistiklösung, maßgeschneiderte, 218 Logistikmanager, 241 Logistiknetz, multimodales, 65 Logistiknetzwerk, 173 Logistiksoftware, 59, 91 Logistikverteilzentrum, 152 Logistikwirtschaft, 211 Losgröße 1, 240 Luftfahrthaftpflichtversicherung, 198 Luftraum, öffentlicher, 198

260 M Machine Learning, 88 Man-in-the-middle-Angriff, 182 Management, 241 Markenpersönlichkeit, 236 Marktführerschaft, 214 Maschine-zu-Maschine (M2M)-Kommunikation, 190 Massenproduktion, 120 Materiaflusssteuerung, 59 Materialfluss, 194 Materialflussrechner (MFR), 59 Mehrwert-Service, 169 Mensch-Maschine-Kollaboration, 15, 192 Meta-Optimierung, 45 Micro Housing, 142 Micro Hub, 133, 143 Mitarbeiterfluktuation, 230 Mitarbeiterschulung, 172 Mitarbeiterzufriedenheit, 225 Mobilfunknetz, 76 Monitoring, 72 Monopolist, 158

N Nachfolgeregelung, 227 Nachhaltigkeit, 166 Nachtbelieferung, 132 Nachtexpress, 173 Naturkatastrophen, 184 Netz, neuronales, 5 Netzwerk-Design, 64 Netzwerkoptimierung, Cloud-basierte, 42 Nischenprodukt, 214

O Obhutshaftung, 195, 206 Ökobilanz, 137 Ökosystem, 110 Omnichannel, 136 On-Demand-Produktion, 120 Online-Aktionstage, 152 Online-Plattform, 50 Online-Shopping, 143 Onlinehandel, 100 Onlineshop, 151 Optimierung

Stichwortverzeichnis kontinuierliche, 59 von Netzwerken, 64 Optimierungsalgorithmus, 66 Optimierungspotenzial, 58 Outsourcing, 171

P Paketentladesystem, 156 Paketgebühr, 250 Paketmarkt, 151 Paketmengenschwankung, 152, 162 Paketnetzwerk, 153 Paketshop, 155 Paketversand, 150 Personaleinsatzplanung, 157 Personalintensität, 102 Pick-by-Vision, 110 Pick-by-Vision-Lösung, 107 Planenschlitzen, 180 Plattform, digitale, 4, 203 Plattformökonomie, 252 Predictive Analytics, 77, 93, 157 Modeling, 93 Predictive-Analytics-Modell, 95 Predictive-Maintainance, 41 Preisgestaltung, 160 PricewaterhouseCoopers (PwC), 224 Produkthaftung, 190 Produkthaftungsrecht, 205 Produktion, 67 Produktionsplanungssystem (PPS), 59 Produktpiraterie, 204 Prozessoptimierung, 10, 61 Prozesssteuerung, 59 Prozessvisualisierung, 12 PSI Java Framework (PJF), 62

Q QTainer, 143

R Rahmenbedingung, politische, 168 Reaktionsschnelligkeit, 171 Realitätsverweigerung, 251 Reifegrad, 21

Stichwortverzeichnis Release-Fähigkeit, 58 Reputationsrisiko, 186 Ressourcenplanung, 63 Risikoanalyse, 195 Risikomanagement, 181, 185 Risikovermeidung, 187 Risikozuschlag, 198 Roboter, 195 Robotic Process Automation (RPA), 59 Routen-und-Touren-Optimierung, 37 Rückgaberecht, 250

S Same-Day-Lieferung, 117 Same-Hour-Delivery, 143 Schichtmodell, 153 Schnittstelle, 10, 62, 190 Sendungsmanipulator, 67 Sendungsrouting, 66 Sendungsstruktur, 67 Sendungsverfolgung, 72, 93, 154 Service-Allrounder, 175 Servicegrad, 67 Servicelogistiker, 173, 175 Serviceorientierung, 229 Servicepartner, 172 Servicequalität, 48, 171 Services, logistiknahe, 215 Servicesektor, 165 Servicestrategie, 175 Servicetechniker, 171 Serviceunternehmen, 167 Servicewüste, 166 Sicherheitsarchitektur, 186 Skalierbarkeit, 103 Skandalmeldung, 235 Smart City, 196 Data, 234 Factory, 234 Services, 170 Social Engineering, 181 Society 5.0, 75 Softwareanbieter, 77 Sonderziehungsrecht, 202 Spionagesoftware, 181 Stakeholder, 245 Standardisierung, 77

261 Start-up, 159 Step-by-Step-Funktionsweise, 112 Supply Chain, 19, 29, 59 Event Management (SCEM), 40 Execution System, 87 Management (SCM), 19, 24 Network Design, 67 Synergie, 171 Systemdienstleister, 170

T Taxigewerbe, 197 Tender-Management, 66 Tourenplanung, 66 Track-and-Trace-System, 45 Tranportplanung, 38 Transformation, digitale, 74 Transparency, 61 Transporthaftung, 190 Transportlogistik, 34, 71 Transport Management System (TMS), 59 Transportnetzwerk, 35, 136 Transportplaner, 33 Transportrecht, 202 Transportsystem, autonome, 195 Typenkombinationsvertrag, 203

U UBER, 197 Übergabeorte, 154 Überplanung, taktische, 36 Umsetzungsgeschwindigkeit, 18 Unternehmen, inhabergeführtes, 209 Unternehmenskultur, 161, 226 Unternehmensphilosophie, 223 Unternehmensstruktur, 244 Unternehmensziel, 241 Unternehmertum, 242 Upgrade-Fähigkeit, 58 Urban Fulfillmentcente, 144 Urbanisierung, 142

V Veränderungsdruck, 169 Verbraucheransprüche, 240 Verbunddienstleister, 169

262 Verkehrsinfrastruktur, 251 Verlader, 77 Vernetzung, 7, 58 Versandhandel, 118 Versicherungsszenarium, 192 Verteillogik, 160 Visibility, 61 Visualisierungstechnologie, 7

W Wachstumspotenzial, 213 Wandel, digitaler, 162 Ware-zum-Mann-Kommissioniersystem, 101 Warehouse Management System (WMS), 59, 112 Warenstrom, 67 Wearables, 110

Stichwortverzeichnis Wert, 234 Wertschöpfungskette, 49 Wertschöpfungsnetzwerk, 170, 240 Wettbewerbsdruck, 169 Wettbewerbsfähigkeit, 249 Wetterversicherung, parametrische, 186 White-Label-Lösungen, 158

Z Zahlungsbereitschaft, 155 Zukunftsfähigkeit, 245 Zustellkonzept, innovative, 212 Zustelloption, autonome, 131 Zustellqualität, 154 Zustellroboter, 156 Zustellung, CO2-neutrale, 156