Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch: Gesammelte Studien [Reprint 2013 ed.] 9783110959871, 9783484108387

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Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch: Gesammelte Studien [Reprint 2013 ed.]
 9783110959871, 9783484108387

Table of contents :
Vorwort
I Facetten des oberrheinischen Späthumanismus
1. Johann Fischart. Leben und Werk
2. Humanistische Verskunst im Dienste des Paracelsismus. Zu einem programmatischen Lehrgedicht des Michael Toxites (1514-1581)
3. Geschichte als Gegenwart: Formen der politischen Reflexion im deutschen »Tacitismus« des 17. Jahrhunderts
4. Ein schlesischer Dichter am Oberrhein. Unbekannte Gedichte aus der Straßburger Studienzeit Daniel von Czepkos
5. Alamode-Satire, Kultursemiotik und jesuitischer Reichspatriotismus. Zu einem Gedichtzyklus in den Sylvae (1643) des Elsässers Jacob Balde SJ
II Die Tannengesellschaft – eine Straßburger literarische Sozietät
6. Straßburg und die Tannengesellschaft
7. Rompier, Hecht und Thiederich – Neues zu den Mitbegründern der Straßburger Tannengesellschaft
8. Johann Heinrich Schill (ca. 1615-1645). Zwei kleine Funde
9. Dr. Johann Küffer (1614-1674). Prototyp der sozial aufsteigenden Akademikerschicht des 17. Jahrhunderts
10. Jesajas Rompier von Löwenhalt als Satiriker und die Straßburger Tannengesellschaft
III Johann Michael Moscherosch – Werk und sozialer Ort
11. Moscherosch und die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts – Aspekte des barocken Kulturpatriotismus
12. Alchemie und späthumanistische Formkultur – Der Straßburger Dichter Johannes Nicolaus Furichius (1602-1633), ein Freund Moscheroschs
13. Johann Michael Moscherosch in den Jahren 1648-51. Die Briefe an Johann Valentin Andreae (mit einer Aufstellung der bisher bekannten Korrespondenz Moscheroschs)
14. Kombinatorisches Schreiben – »Intertextualität« als Konzept frühneuzeitlicher Erfolgsautoren (Rollenhagen, Moscherosch)
15. Der Satyr und die Satire. Zu Titelkupfern Grimmelshausens und Moscheroschs
16. Eine vergessene konfessionspolitische Schrift von J. M. Moscherosch
17. Zwischen Freier Reichsstadt und Absolutistischem Hof. Lebensräume Moscheroschs
18. Der Dreißigjährige Krieg aus der Sicht Moscheroschs und Grimmelshausen
19. Die pommersche Herrschaft in Finstingen (Fénétrange) in Lothringen
20. Moscheroschs sprachhistorische Notizen zur alt- und mittelhochdeutschen Literatur
21. Die Lyrik Johann Michael Moscheroschs
IV Zur Spätzeit der elsässischen Satiretradition
22. Wolfhart Spangenberg (geb. 1567) in Straßburg und Buchenbach – Nachträgliches zur Werkausgabe
23. Mehr als nur Übersetzer: Georg Friedrich Messerschmid (ca. 1595-1635)
V Zur Wirkungsgeschickte
24. Nachwirkungen der Satire-Auffassung Fischarts im 17. Jahrhunderts
25. Moscherosch und Grimmelshausen im Urteil Tiecks und Eichendorffs. Ansätze für eine vergleichende Rezeptionsforschung
Nachweis der Erstpublikationen
Weiterführende Literaturhinweise zum aktuellen Forschungsstand
Index nominum

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Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch

Wilhelm Kühlmann/Walter E. Schäfer

Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch Gesammelte Studien

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme Kühlmann,

Wilhelm:

Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch : gesammelte Studien / Wilhelm Kühlmann und Walter E. Schäfer. - Tübingen: Niemeyer, 2001 ISBN 3-484-10838-X © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Julian Paulus, Heidelberg Druck: A Z Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt

Vorwort I Facetten des oberrheinischen

VII Späthumanismus

1. Johann Fischart. Leben und Werk

1

2. Humanistische Verskunst im Dienste des Paracelsismus. Zu einem programmatischen Lehrgedicht des Michael Toxites (1514-1581) .

25

3. Geschichte als Gegenwart: Formen der politischen Reflexion im deutschen »Tacitismus« des 17. Jahrhunderts

41

4. Ein schlesischer Dichter am Oberrhein. Unbekannte Gedichte aus der Straßburger Studienzeit Daniel von Czepkos

61

5. Alamode-Satire, Kultursemiotik und jesuitischer Reichspatriotismus. Zu einem Gedichtzyklus in den Sylvae (1643) des Elsässers Jacob Balde SJ

77

II Die Tannengesellschaft - eine Straßburger literarische Sozietät 6. Straßburg und die Tannengesellschaft

97

7. Rompier, Hecht und Thiederich - Neues zu den Mitbegründern der Straßburger Tannengesellschaft

111

8. Johann Heinrich Schill (ca. 1615-1645). Zwei kleine Funde

133

9. Dr. Johann Küffer (1614-1674). Prototyp der sozial aufsteigenden Akademikerschicht des 17. Jahrhunderts

135

10. Jesajas Rompier von Löwenhalt als Satiriker und die Straßburger Tannengesellschaft

147

III Johann Michael Moscherosch - Werk und sozialer Ort 11. Moscherosch und die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts Aspekte des barocken Kulturpatriotismus

161

12. Alchemie und späthumanistische Formkultur - Der Straßburger Dichter Johannes Nicolaus Furichius (1602-1633), ein Freund Moscheroschs

175

VI

13. Johann Michael Moscherosch in den Jahren 1648-51. Die Briefe an Johann Valentin Andreae (mit einer Aufstellung der bisher bekannten Korrespondenz Moscheroschs)

Inhalt

201

14. Kombinatorisches Schreiben - »Intertextualität« als Konzept frühneuzeitlicher Erfolgsautoren (Rollenhagen, Moscherosch) . . . . 227 15. Der Satyr und die Satire. Zu Titelkupfern Grimmelshausens und Moscheroschs

245

16. Eine vergessene konfessionspolitische Schrift von J.M. Moscherosch

289

17. Zwischen Freier Reichsstadt und Absolutistischem Hof. Lebensräume Moscheroschs

291

18. Der Dreißigjährige Krieg aus der Sicht Moscheroschs und Grimmelshausen

305

19. Die pommersche Herrschaft in Finstingen (Fénétrange) in Lothringen

317

20. Moscheroschs sprachhistorische Notizen zur alt- und mittelhochdeutschen Literatur

329

21. Die Lyrik Johann Michael Moscheroschs

345

IV Zur Spätzeit der elsässischen Satiretradition 22. Wolfhart Spangenberg (geb. 1567) in Straßburg und Buchenbach Nachträgliches zur Werkausgabe 365 23. Mehr als nur Übersetzer: Georg Friedrich Messerschmid (ca. 1595-1635)

375

V Zur Wirkungsgeschichte 24. Nachwirkungen der Satire-Auffassung Fischarts im 17. Jahrhunderts

389

25. Moscherosch und Grimmelshausen im Urteil Tiecks und Eichendorffs. Ansätze für eine vergleichende Rezeptionsforschung

409

Nachweis der Erstpublikationen

421

Weiterführende Literaturhinweise zum aktuellen Forschungsstand . . . . 423 Index nominum

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Vorwort

Die hier versammelten Beiträge erwuchsen aus der Erkenntnis, daß die elsässische Literaturlandschaft auch in den Phasen des Späthumanismus und des >Barock< wie kaum eine andere Region des Reiches einen besonderen Reichtum an literarischen Werken hervorgebracht hat und daß weite Bereiche dieses Terrains in der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart hinein von der Forschung vernachlässigt wurden. Das lag unter anderem an dem Kulturbruch, der im Elsaß spätestens nach 1945 eingetreten ist. Die französische Germanistik, auch die der elsässischen Universitäten, konzentrierte sich vorzugsweise auf die Ausstrahlung der französischen Kultur und Literatur auf das deutsche Geistesleben. Das deutschsprachige Schrifttum des Elsasses im Herrschaftsverband des alten Reiches wurde demgegenüber eher hintangestellt. Unsere Studien - thematisch zusammenhängend, oft in engem Gesprächsaustausch entstanden und deshalb hier auch in einem Band vorgelegt - sind Ergebnis einer freundschaftlichen Zusammenarbeit, die mit der gemeinsamen Tätigkeit am Deutschen Seminar der Universität Freiburg am Ende der Sechziger Jahre begann. Sie erschienen in wissenschaftlichen Zeitschriften und Sammelbänden der Jahrzehnte zwischen 1970 und 2000. Im methodischen Ansatz versuchten wir, die Infrastruktur der literarischen Produktion ins Auge zu fassen, die regionalen Ausprägungen übergreifender kultureller Bewegungen zu bestimmen und dabei auch die zumeist längst fällige historisch-philologische Erschließungsarbeit voranzutreiben. Die fünf Teile des Bandes deuten Arbeits- und Interessenschwerpunkte an. Der erste Teil verfolgt historische Filiationen des Späthumanismus bis in die muttersprachlichen Zonen und die Diskurse der Wissenschaftsgeschichte. Der zweite und dritte Teil der Studien, letzterer vor allem Johann Michael Moscherosch gewidmet, beschäftigt sich mit der im 17. Jahrhundert wichtigsten literarischen Gesellschaft des Elsasses, der Straßburger Tannengesellschaft, ihren Mitgliedern und ihrem literarischen Profil. Dazu treten, vor allem im vierten Teil, Studien zu den Straßburger Verlegern Bernhard und Tobias Jobin, Johann und Moritz Carolus sowie ihren Korrektoren Johann Fischart und Wolfhart Spangenberg. Auch hier sollte wenigstens in Umrissen der historische Kontext der Autoren und Werke in den Blick kommen. Satiren, von Johann Fischart über Wolfhart Spangenberg, Georg Friedrich Messerschmid, Johann Michael Moscherosch bis zu Jesajas Rompier von

Vili

Vorwort

Löwenhalt und Jacob Balde, den aus dem Elsaß stammenden Jesuiten, also bis über die Jahrhundertmitte hinaus, stellen einen Kernbereich des hier untersuchten literarischen Feldes dar. Das entspricht dem Übergewicht dieser literarischen Form im Elsaß seit Sebastian Brants Narrenschiff und dem erstaunlichen Kontinuitätszusammenhang satirischen Schreibens in der Region. Das starke Hervortreten der satirischen Aggression bei elsässischen Autoren hat stets Aufmerksamkeit erregt. Ein Erklärungsgrund ist sicher die kulturgeographische Situation des Elsasses an der Bruchzone zwischen dem deutschsprachigen und französischsprachigen Kulturraum, in der Gegensätze bewußter erfahren und Animositäten entschiedener ausgetragen wurden. Die hier zusammengestellten Studien ergänzen manche der von uns vorgelegten Monographien, indem sie nicht selten im Detail ausführen, was in den Büchern nur angedeutet werden konnte oder dort vorausgesetzt wird. Schon in seiner Habilitationsschrift »Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters« (1982) konzentrierte sich W. K. unter anderem auf die historischen Perspektiven und politischen Programme des Kreises um den so modern anmutender Straßburger Professor und Literaten Matthias Bernegger. Im selben Jahr erschien W.E. S.s »Johann Michael Moscherosch. Staatsmann, Satiriker und Pädagoge im Barockzeitalter«, das als maßgebende Biographie anerkannt worden ist. Bald darauf (1983) folgte »Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein«, ein Verbund von je zwei Studien K.s und S.s, die in weit gezogenem kulturpolitischen Umkreis den Bildungsweg Moscheroschs nachzeichneten. Der Band »Moral und Satire. Konturen oberrheinischer Literatur des 17. Jahrhunderts« (1992) von W. E. S. fragte nach dem komplizierten Zusammenhang zwischen neuaristotelischen und neustoischen ethischen Systemen einerseits und andererseits den Techniken satirischer Kritik vornehmlich bei Moscherosch. Noch jüngst (1998) widmete S. seine Arbeit einem zu Unrecht vergessenen elsässischen Satiriker des beginnenden 17. Jahrhunderts, Wolfhart Spangenberg, der sich mit seinem Tierepos EselKönig (1625) in die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um neuplatonische, paracelsische und pansophische Naturauffassungen einmischte und die wohl ätzendste Satire auf das Rosenkreuzertum verfaßte. Neben den Forschungen stand die Editionstätigkeit. Sie begann mit der gemeinsamen Herausgabe einer kommentierten Edition der Lyrik Rompiers von Löwenhalt (Erstes gebiisch seiner Reim-getichte, 1988, Nachdruck der Ausgabe 1647), welche die weit unterschätzte Wirkung der Formensprache, aber auch die besondere mentale und epochale Signatur dieses vermeintlichen literarischen Außenseiters und Mitbegründers der >Tannengesellschaft< aufzeigen konnte. In dem schon erwähnten Band »Moral und Satire« (1992) edierte S. eine bis dahin kaum bekannte Spätschrift Moscheroschs und seines Sohnes Ernst Ludwig (Der Guldne Zanck-Apfel, 1666), die kontradiktorisch auf Machiavellis Novella di Belfagor arcidiavolo antwortete und die Visionen

Vorwort

IX

der Gesichte Philanders von Sittewalt weiterführte. Unter dem leicht irreführenden, aber vom Verlag gewünschten Titel Unter Räubern legte S. 1996 eine populäre kommentierte Version der bekanntesten Satire Moscheroschs (Soldaten=Leben) vor und gewann damit das Interesse weiterer, über die Fachwissenschaft hinausreichender Kreise an den Themen des Satirikers. So führt dieser Band zusammen, was nicht nur in sich zusammengehört, sondern mit den genannten Werken auch auf unsere fortdauernden Bemühungen um die Literaturgeschichte des Oberrheins und speziell des Elsasses verweist und was, wie wir meinen, hoffen zu dürfen, im Erkenntnis- und Dokumentationswert dem wissenschaftlichen Alterungsprozeß, soweit hienieden möglich, einigen Widerstand leistet. Vieles ist noch zu tun, auch für einen stärker beachteten Autor wie Moscherosch, von angrenzenden Forschungsfeldern, etwa dem der geistlichen Literatur oder dem Straßburger Theater ganz abgesehen. Das heißt selbstverständlich nicht, daß Themen, Ansätze, Forschungsrichtungen, manchmal auch Anregungen unserer Arbeiten nicht von anderen Verfassern aufgegriffen, weitergeführt oder auch durch neue Erkenntnisse oder Sichtweisen bereichert worden wären. Der Leser wird deshalb im Anhang dieses Bandes neben einem Verzeichnis der ersten Publikationsorte der vorliegenden Studien, soweit nötig, Hinweise finden (nach den Aufsatznummem geordnet), die den aktuellen Forschungsstand andeuten. Bis auf eine Ausnahme (Nr. 15) erscheinen alle Aufsätze ungekürzt und im ursprünglichen Wortlaut, von punktuellen - seltenen und geringfügigen - stilistischen Retuschen und der selbstverständlichen Korrektur der in der Erstfassung verbliebenen Schreib- oder Druckfehler abgesehen. Die eigentlich zum thematischen Umkreis gehörende längere Studie von W. K. über den in Straßburg aufgeführten Dramatiker Theodor Rhodius (Daphnis, Jg. 17, 1988, Heft 4) konnte nicht aufgenommen werden. Wenn es unserem Band gelingt, nicht nur der literaturhistorischen Forschung zu nützen und sie womöglich weiter anzuregen, sondern dabei auch die Erinnerung an mittlerweile bedrohte literarische Überlieferungsbestände des alten Elsasses - vor der Annexion durch die französische Krone - wach zu halten, hat er eine seiner wesentlichen Bestimmungen erfüllt. Daß dieser Band so erscheinen kann, schulden wir dem spontanen Interesse von Frau Birgitta Zeller (Max Niemeyer Verlag). Ihr sei herzlich gedankt! In den Dank eingeschlossen sind Frau cand. phil. Christiane Dürrschnabel, Frau cand. phil. Helena Gruber, Frau Dr. Simone Metzger sowie Herr cand. phil. Björn Spiekermann, die uns in Heidelberg bei den Schreib- und Korrekturarbeiten zur Hand gegangen sind. Heidelberg und Baden-Baden, im Frühjahr 2001 Wilhelm Kühlmann und Walter Ernst Schäfer

Wilhelm Kühlmann

Johann Fischart

Bis heute läßt sich das weitläufige Schaffen Fischarts nicht in einer Gesamtausgabe, geschweige denn in einer historisch-kritischen oder gar kommentierten Edition überblicken.' Dies hat zu tun mit dem Bruch rezeptionsgeschichtlicher Kontinuität, d.h. mit dem Unbehagen schon der Leser des 17. Jahrhunderts, aber auch mit dem Befremden einer vornehmlich an den ästhetischen Nonnen der Goethezeit orientierten Literaturwissenschaft. Selbst Adolf Hauffen, dessen imponierender philologischer Lebensleistung wir den Großteil unseres Wissens über Fischarts Leben und Werk verdanken,2 fand doch nur zu Teilbereichen seines Oeuvres einen leidlich ungezwungenen Verständniszugang. Mit dem kämpferischen Protestantismus dieses Autors konnten sich die Gelehrten der wilhelminischen Ära weithin solidarisieren, erst recht mit dem bei ihm zutage tretenden Selbstbewußtsein eines reichsstädtischen Bürgertums, das sich in Theorie und Praxis für den Wert und die literarische Leistungsfähigkeit der Muttersprache einsetzte. Sehr viel schwieriger einzuordnen und zu beurteilen waren Fischarts literarische Extravaganzen: seine ausufernde Sprachphantasie und wortschöpferische Akrobatik, seine grobianischen Exzesse und planlos wirkenden Abschweifungen, die in der Lust des Benennens die gewohnte lexikalische Hierarchie und Gesetzlichkeit der Wortwelt auflösten und nicht selten auf provokante Assoziationen und den Reiz grotesker Effekte abzielten. Werkkategorien künstlerischer Abrundung und harmonischer Proportion, stilistischer Eleganz oder »organischer« Stimmigkeit ließen sich auf Fischart nicht anwenden. Gerade die älteren >positivistischenProsopopoeiaProzeßdichtung< und des allegorischen Fachschrifttums an. Hier gab es manche (Metallen/Planeten in den Mund gelegte) Rollengedichte3' und Texte, etwa den Ritterkrieg des Johann Sternhals (2. Hälfte des 15. Jahrhunderts),32 in denen Metalle vor Gericht über ihren Vorrang streiten. Die einleitenden Verse (1-8) bilden zusammen mit einer thematisch analogen Passage (V. 207-216) den Rahmen für die mehrteilige Erörterung der von Stenglin vorgebrachten Beschwerden. Es geht Toxites zunächst darum, daß Stenglin sich vorschnell, d. h. in einer noch nicht abgeklärten Sachfrage, an die Öffentlichkeit gewandt hat (V. 3-4). Dies erscheint als Verstoß gegen das ärztliche Ethos (V. 5-8): »Nicht nach Reichtum, nicht nach dem Ruhm der eitlen Welt ist hier zu suchen oder nach frischem Glanz in einer bedeutenden Stadt. Vielmehr ist dies das ehrwürdige Ziel der Heilkunst, daß die Krankheiten vertrieben und die Körper gesund seien.« Im folgenden gesteht Toxites zu, daß Antimonpräparate mit Vorsicht zu verordnen seien, d. h. daß sie der kundigen Zubereitung durch das »Feuer« bedürfen und damit genau jenes »arcanum« voraussetzen, von dem Stenglin sich fernhält. Indem Paracelsus 30

Die klassische Theorie der »Prosopopoeia« samt umfangreichem Belegmaterial findet sich im »großen Vossius«: Gerardus Joannis Vossii Commentariorum Rhetoricorum [ . . . ] Libri Sex. Marburg 5 1681, Pars Altera, V, 2, S. 3 5 8 - 3 6 3 . Toxites kannte derartige rhetorische »Gedankenfiguren« selbstverständlich aus den Schriften Sturms, z. B. aus der von ihm hg. Vorlesung über die »Rhetorica ad Herennium« (Basel 1556).

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Z . B . Dichtungen von Christoph von Hirschenberg und dem fiktiven Benediktinermönch Basilius Valentinus; vgl. Joachim Teile: Astrologie und Alchemie im 16. Jahrhundert. Zu den astroalchemischen Lehrdichtungen von Hirschenberg und Basilius Valentinus, in: Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance, wie Anm. 7, S. 227-253. Dazu der Artikel von Joachim Teile (sub verbo) in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 9 ( 1993) Berlin-New York, Sp. 31 Of. Auch Michael Maier (s. Anm. 10) griff in seinen lateinischen Dichtungen (Cantilenae intellectuales, 1622; Lusus serius, 1616; Jocus severas, 1617) auf ähnliche allegorische Fiktionen zurück.

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Wilhelm Kühlmann

(»Theophrastus«, V. 29) als Autorität aufgeboten wird, findet Toxites ein zentrales moral- und geschichtsphilosophisches Argument für die Legitimität veränderter therapeutischer Praktiken. Im Kontrast von »tunc« und »nunc« (V. 33/35) werden die Lebensweisen der Vergangenheit und der Gegenwart kontrastiert. Neue Lebensumstände bringen neue Krankheiten hervor, deren Behandlung in den »Büchern« nicht zu studieren ist. Im Zeichen des Paracelsus sammeln sich die Kundigen, die den medizinischen Wert der »Metalle« nicht verschmähen. Dem Augsburger Stenglin wird mahnend ein anderer Augsburger Arzt namens »Reuchenbachius« (V. 50, d. i. Johann Reichenbacher), ein »lieber Freund des Paracelsus«, in Erinnerung gerufen. 33 Die Galenisten dagegen müssen sich von den dürftigsten Rezepten der Laienmedizin beschämen lassen (V. 61f.): »Freilich gibt es keine so feste Regel Eures Galen, die nicht manchmal eine krumme alte Frau widerlegen würde«, eine Bemerkung, auf die Stenglin später in seiner polemischen Antwort wütend reagierte.34 Dieser Vorstoß gegen die orthodoxe Medizin setzt sich fort in einer kritischen Musterung der pharmazeutischen Praxis (V. 67ff.). Die betrügerischen Machenschaften der Apotheker werfen die Frage nach Nutzen und Schaden der Arzneimittel auf. In einer Beispielreihe (V. 11 Iff.) werden Nebenwirkungen bekannter Präparate registriert, um wiederum die potentielle Gefahr der Antimonbehandlung lediglich auf unsachgemäße Handhabung zurückzuführen (V. 127-132): »Nicht ich habe Schäden verursacht, sondern der unkundige Händler, der mich schändlicherweise für billiges Geld verkaufte. Kein Unkundiger, so mahn' ich [das Antimon], soll mit mir umgehen. Ich verlange Männer, die in der chemischen Kunst bewandert sind. Wer die nicht kennt, soll sich von der Behandlung der Metalle fernhalten und den wird man mit Recht mitten vom Markt vertreiben.« Es liegt nahe, daß Toxites sein Beweisziel nicht nur mit Sachargumenten, sondern auch mit Exempeln als empirischen Formen derprobatio untermauert. Heilerfolge im Elsaß (V. 147) sollen den Verdacht der Kurpfuscherei abweisen, von dem nicht nur Paracelsus, sondern auch Toxites betroffen war.35 Das Antimon - in der Rolle des Sprechers - beruft sich wider alle Kritiker auf Paracelsus, den medizinischen »Monarchen« (V. 169-174): »Es gibt kein gewisseres Heilmittel bei jeder Krankheit als mich in flüssiger Form, wie es zu Recht der >Monarch< lehrte. Ob man die flüssige Substanz oder die Pulverform

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Der Name scheint der Paracelsusliteratur bisher nicht bekannt zu sein. Schüttere Hinweise bietet eine Notiz von Ahorner von Ahornrain, in: Intelligenz-Blatt, wie Anm. 24, Nr. 19, 14.2.1833, S. 495: »Johann Reichenbacher, von Reinsbach in Bayern, kam auf besondere Empfehlung des Markgrafen Johann von Brandenburg im Jahre 1550 nach Augsburg, und erreichte nur das Alter von 58 Jahren.« Vgl. Toxites' Antwort auf Stenglin in Suchtens Antimon-Schrift, wie Anm. 22, S. 123ff., 140ff. Ebd. S. 125ff.; Beispiele mißlungener Kuren geben die Galenisten, die »zu spott seind worden, ja da sie offt selbs den weibem und andern schlechten leutten müssen platz geben/ nach dem sie all jr kunst verlassen.«

Humanistische

Verskunst im Dienste des

Paracelsismus

33

benutzen will oder das Glas, wenngleich dies allzu heftig wirken wird, - nichts wirst du finden, bei dem dir meine Kraft nicht nützlich sein wird, mag sie auch teilweise Schaden anrichten können.« Die aus dieser volltönenden Behauptung abgeleitete Liste der diversen Heilwirkungen und Anwendungsmöglichkeiten des Antimons soll den Verdacht möglicher Langzeitschäden (V. 195ff.) widerlegen. Zum Vergleich kommt Toxites auf die Gefahr der Quecksilbertherapie zu sprechen (V. 201f.). Gerade auf diesem Hintergrund wird die Argumentation nun erneut zur grundsätzlichen Abwehr der Stenglinschen Gravamina zurückgeführt - wie am Anfang auf der Ebene der allgemeinen >ThesisForm< der Dinge pflegt Hilfe zu bringen. Du sollst also nicht verdammen, was du nicht in der Praxis erfahren hast. In ihr nämlich besteht die Ehre der göttlichen Kunst. Lerne zunächst, richtig die Kräfte der Kohlen zu nutzen, und fall mir nicht beschwerlich durch ein vorschnelles Urteil!

Im wörtlichen Anklang an Vergil (Eel. IV 1, Aen. VII, 43f.) lenkt Toxites noch einmal den Blick auf die verschiedenen Präparate des Antimons (V. 217-242): das Antimonöl, zu dessen Bereitung es der spagyrischen Kunst nicht bedarf (V. 233f.), zunächst aber auf das Antimon als »vitrum«, das Paracelsus noch nicht kannte (V. 219f.). Wie später im Vorspann der Suchtenschen Antimonschrift erstrahlt das neue Heilmittel hier im Glanz einer selbst das Gold übertreffenden Wirksamkeit und Kostbarkeit.36 Daß dieser Lobpreis einer Arznei sich nicht in ihrem pharmazeutisch-pragmatischen Sinn erschöpft, sondern - ab V. 243 - auf eine abschließende Apologie des Paracelsus zuläuft, macht Toxites' Gedicht zu einem beachtenswerten Selbstbekenntnis, zugleich zu einem Dokument, das im Klang des lyrischen Wohllauts zentrale Positionen des Paracelsismus auch den Skeptikern suggestiv verdeutlichen und empfehlen sollte (V. 243-296): Also verdamme nicht die Dogmen des Paracelsus! Kaum einer war größer in der Heilkunst. Mit dir verdammen jenen so manche in dieser Zeit, doch, so glaub' ich mit Recht, entbehren sie der Urteilskraft. So ist es nun mal die Gewohnheit: Wer etwas nicht einsieht, haßt es, - wie die Birnen, die der unfähige Fuchs nicht zu genießen weiß. Manche siehst du, die glauben, es sei schändlich, das Lob einem Meister zu zollen. Sie wissen alles auf eigene Faust. Wenn unfähige Schüler offenbar etwas gesündigt haben, sollen sie den würdigen Preis ihrer Dummheit erhalten. Der Lehrer aber soll nicht für fremde Vergehen büßen, dessen Vorsatz doch war, keinem schaden zu wollen. Als wer auch immer du freundlich die dir nicht bekannten Schriften des Mannes tadelst, halt ein!: Eine reiche Lektüreerfahrung bewirkt große Kraft. Der Neider soll sich dessen enthalten: Nicht sind diese Schriften für Böswillige bestimmt,

Aus dem Antimon wird der »Mercurius philosophorum« gewonnen: »welcher allen medicamentis jhr krafft und wirckung gibt/ gleich wie die sonn in der grossen weit allen Cr[e]aturen.« So Toxites in der Vorrede zu Suchten, wie Anm. 22, S. 4f.

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Wilhelm Kühlmann die immer nur mit schwarzem Zahn zu nagen pflegen. Diesen Mann, diesen verlieh der beste Gott der Heilkunst als ihre eigentliche Natur: Ihr Irrtum war sehr groß. Er beseitigte die Irrtümer, überlieferte zuverlässig heilsame Vorschriften und bewirkte beides mit frommem Eifer. Er zeigte euch die Geheimnisse der Dinge und wollte mit keiner List das leidende Volk betrügen. Er liebte die Armen, heilte kostenlos die Bedürftigen und sorgte nicht dafür, sich große Reichtümer zu verschaffen. Fälschlich werden ihm zahlreiche Schmähreden entgegengehalten. Er war aber würdig, den Preis des Ruhms davonzutragen. Denn so sehr lag ihm in medizinischen Dingen dies allein am Herzen: die Suche nach der Wahrheit, daß er in seinem Leben unermüdlich auf nichts anderes aus war als auf den Nutzen der Kranken: das liebliche Werk der heiligen Arbeit. Nicht sollen dich die neuen Erkenntnisse der erhabenen Lehre verwirren, denn nicht alles wurde gegeben schon den Männern des Altertums. Vieles verlieh Gott den Vätern, vieles aber verleiht er den Enkeln. Wohin auch immer du blickst, zeugt davon die Fülle. Ja auch künftigen Jahrhunderten wird Er sehr vieles weisen. Wer, bitt' ich, könnte Seine Macht benennen? Niemand aber haßt das Licht, es sei denn, er liebt die Finsternis. Kein guter Mensch wird die Dunkelheit zum Licht erklären. Oft siehst du, daß das Spätere mächtiger als das Frühere ist: Den Alten aber ist nicht alle Ehre reserviert. Wenn es in der alten Kunst keinen Irrtum gab, warum können die Kranken nicht öfter durch die Kunst geheilt werden? Wenn der beste Gott eurem Zeitalter Größeres verlieh, wer könnte sich solchem Geschenk mit undankbarem Sinn verweigern? Welche Krankheit könnte die Natur der Dinge nicht bezähmen, die vom ewigen Gott mit so viel Gaben vermehrt ist? Diese aber zeigt euch Paracelsus - oder wollt ihr, daß er für soviel Guttaten dem Haß verfallt? Es genügt nicht, ihn zu beschuldigen, vielmehr gehört es sich, die Beschuldigungen zu beweisen. Dies ist die eindeutige Regel der heiligen Gerechtigkeit. Niemand sei von einem anderen abhängig, jedem bleibe sein freier Wille, um in jedweder Kunst den Weg der Wahrheit zu suchen. Wer könnte daran verzweifeln? Was keine Buchbände überliefern, dies wird alles in kurzer Zeit Gott gewähren.

Paracelsus steht nicht nur für das auch Toxites bewegende Ethos der wissenschaftlichen Wahrheitssuche. Er steht auch für die Gewißheit eines Fortschritts über »die Alten« hinaus. Toxites entfaltet diesen Fortschrittsgedanken in sorgfältiger Reflexion, verschmäht nicht die polemische Ausdeutung der - hier nur latent geschichtsphilosophischen - Hell-Dunkel-Metaphorik und plädiert für die Unabhängigkeit und Freiheit eines Denkens, das sich auf den ins Offene weisenden Prozeß der Erfahrungswissenschaft einläßt. In diesem Bild des Paracelsismus ist - auf eine hier nur knapp anzudeutende Weise - die große epistemologische Wende der europäischen Spätrenaissance eingezeichnet, die aus der Tagespolemik sich befreiende Querelle des anciens et des modernes.31

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Das Schrifttum des Paracelsismus ist demgemäß einzubeziehen in die Denkbewegung des frühneuzeitlichen »Modernismus«; - darüber W. Kühlmann, Gelehrtenrepublik, wie Anm. 29, S. 136-188. Toxites' Huldigung an Paracelsus gehört überdies zum Kreis der frühen deutschen Paracelsusdichtungen, über die Karl-Heinz Weimann referiert: Paracelsus in der Weltliteratur (Beiträge zur Wirkungsgeschichte Hohenheims), in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. Bd. XI (1961), S. 241-274, spez. 241-244; den weiteren historischen Radius bezeichnet Siegfried Wollgast: Zur Wirkungsgeschichte des Paracelsus im 16. und 17. Jahrhundert, in: Resultate und Desiderate der Paracelsus-Forschung. Hg. von Peter Dilg und Hartmut Rudolph. Stuttgart 1993, S. 114-144.

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Humanistische Verskunst im Dienste des Paracelsismus SPONGIA S T I B I I , A D V E R S V S M E D I C I N A E D O C T O R I S LVCAE STENGLINI ASPERGINES. C V m tua legissem, Stengli, conuitia nuper: In me quae saeuo fortiter ore iacis: Indolui certè, quod nondum cognita prodis In vulgum: at medicum certa requirit opus. Non hîc diuitiae, non vani gloria mundi Quaeritur, aut ampia splendor in vrbe nouus. Sed scopus est artis venerabilis iste medendi:

5

Vt sint ablatis corpora sana malis. Immerito accusas: nulli sum, crede, venenum: Qui me purgatum cautior igne capit.

10

Ignis enim cunctis auffert incommoda rebus: Igne facis tutum, quod fuit ante nocens. Igne valent flores, radices, semina, fructus: Ignibus affectus sustulit herba graues. Gemma suas calidis virtutes ignibus edit:

15

Adprobat & vires Margaris igne suas. Igne bonus tristem Cous purgauerat vrbem: Quam varia pestis morte repleuit atrox. Igne venena negas aufferi posse? sub orbe An aliquid, quod non corrigat ignis, erit?

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Tractasti nunquam diuina metalla, quod illa Non emendandum virus habere putas. Virus habent, fateor: sed totum absumitur igne Quod nocet: hoc solum, quod iuuat, arte manet. Hoc habet arcanum: cuius tu forsitan expers,

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Iuditio damnas turpe metalla tuo. Et tibi vis credi, quasi Delphica verba locuto: At vis diuersum credere nostra iubet. Quippe Theophrastus totum nos nota per orbem Fecit: & humanis pharmaca certa malis. Cedit enim nobis Hydrops, Morphea, Podagra: Quaeque grauant varia corpora moesta lue. Tunc hominum, luxu cum mensa carebat, & arte, Viribus affectus sustulit herba suis. At nunc extremis miseri portatis ab Indis, Quae fiant vestrae fercula grata gulae. Camibus humentes coniungitis ordine pisces Lasciuo: vt ventres copia larga grauet. Inde tot inuadunt Germanos vndique morbi: Qui vobis nulla saepius arte patent. Et noua dat coelum passim contagia: quorum

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Ignorant causas, nomina, signa, libri. Maiores igitur vires quaeratis, oportet: Has tellure tibi caesa metalla dabunt. Haec morbos tollunt, cum vestra iuuare recusant:

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Per nos praesentem percipit aeger opem. Cur arcana negas? quae nobis indidit ilio, Quo fecit verbo tempore cuncta Deus? Quin Reuchenbachium prudens imitabere doctum: Qui candore bonis gratus in vrbe viris.

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Ille Theophrastum coluit non inuidus olim: lile Theophrasti dulcis amicus erat.

lile Theophrasto sua dat praeconia laudum: Ille Theophrasti dogmata docta probat. Tu quoque scripta legas illius, & arte magistra Quaeras admota pharmaca vera manu. Non satis ingenio est, quo praestas, cernere cuncta: Cum docta iunctus sit labor arte tuus. Consulitis plures de morbo saepius vno: Desperat vestram sed tamen aeger opem. Nulla quidem vestii tam regula certa Galeni est: Quam non interdum curua refellat anus. Haec igitur melior fuit experientia semper, Quam ratio docti fecit ab arte viri. Talis erat toto notus Paracelsus in orbe: Cuius & ingenium scripta, decusque, probant. Extollis nimia communia pharmaca laude: Saepius effectu quae caniisse patet. Quin multi vestris misere periere medelis: Dum manus offitio defuit apta suo. Quid tibi vis quaeso? num Pharmacopaeus abundans Rebus inutilibus laude vehendus erit? Plurima pro veris venduntur adultera passim: Quorum speratam denegat vsus opem. Haec tamen aegrotis interdum miscet auarus: Et sua, supplicio, praemia, dignus habet. Scribis, vt accipiat: quid? nescio. turpiter ille Quid pro quo ponit, teque tacente, probat. O quoties medicus, dum singula lustrat, aberrat? Non etenim speculis cuncta patere soient. Semina, radices, virides, cum floribus, herbas Colligit, haud aequo Pharmacopola loco. Ima decent, celsas miseri conscenditis alpes: Celsa placent, imis quaeritis alta locis. Est aliud florum, radicis, seminis, herbae Tempus: at hoc raro, qui legit ilia, notât. Cum vetulis nummis opus est, matura videntur Omnia: vis lectis debita prorsus abest. Die, quae compositis virtus, rogo, possit inesse, Ni sint legitimo singula lecta modo? Vel si sint carie multos corrupta per annos, Sub turpi in capsis dum latuere situ? Vera quidem ponunt, medico praesente, fideles: Vt studio speres pharmaca facta pio. Ille vbi discedit, seruant meliora, reponunt Turpiter ablatis deteriora bonis. Non id Germani, non Gallia sola fatetur: Haec Italis etiam sunt mala nota bonis. Hos tamen éxcuso, qui sunt virtutis amantes: Quique datam seruant cum pietate fidem. Peccantes licuit vel quouis carpere iure: Inde meo solos carmine tango malos. Talia cum fiant, quibus aut successibus aegri, Vel qua praescribes pharmaca laude tua? Ista fac emendes, non nostram carpere famam Intendas: pietas quid velit aequa, vide. Nil medicus, praeterquam sano in corpore sanum

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Humanistische Verskunst im Dienste des Paracelsismus Proponat pectus: sit scopus ille bonis. Insolitum asscribis nobis haud iure calorem: Empyreuma mones grandius esse mihi. Cur retices vestrae medicinae damna? quid in me Spargis, non vilo falsa probanda modo? Veratrum potius, Colocynthis, & Esula saepe Turbarunt varijs corpora vestra modis. Non etenim prodest crassis correctio rebus: Crassa manent: crassis mixta venena latent. Cassia vexauit febrili membra dolore: Quamuis iudicio blanda sit illa tuo. Manna mouebat atrox phrenesi furiente periclum Cum fuit Imperij coetus in vrbe sacer. Manna petit varios coelestis in arbore frondes, Accipit & mannam quaelibet herba suam. Hinc etiam varias humano in corpore vires Ostendit: prodest manna, nocetque simul. Sena grauat multos, multis aduersa videmus Caetera: non solum tristia damna dedi. Non ego damna dedi, sed qui me turpiter aere Institor exiguo vendidit, artis inops. Ignaras nemo rerum me tractet, adhortar: In Chymica doctos arte requiro viros. Hanc qui non nouit, tractare metallica cesset: Hunc poteris medio pellere iure foro. Ipsa salus hominis medico sit chara fideli: Quae semel erepta est vita, redire nequit Die in me iactes cur tot conuitia saeuus? Die mala cur tribuas tot mihi, totque neces? Sum quibus haud facilè est unquam vomuisse, molestum: Hoc quoque vestra soient multa nocere modo. Sum vehemens aliquando equidem, si puluere vitri Vteris: abstineas, si vomuisse nocet. Pauca vel inspergas per noctem grana Lyeo: Quem summo, abiecto puluere, mane bibas. Inde feres melius nostras in corpore vires: Qui bene me tractat, nulla venena timet. Quem precor occidi? dum vitri hinc inde figura, Affectus pepuli per loca multa graues? Ecce tibi, Alsaticis, referam, quod contigit oris: Si dubitas, verum testibus esse probo. Argenti quidam, medicis errantibus, olim Assumpsit viui dira venena puer. Incidit in summos crescente aetate dolores: Nemo tarnen vestra sustulit arte malum, Ipsum ego subueni: splendentis quippe quotannis Exhibitum vitri puluere, virus ago. Tertius annus adest: viginti pulueris octo Eiecit granis nota venena mei. Officium feci binis foeliciter horis: Laetus & in virides prodijt aeger agros. Plus tamen ille mali membris haerere putauit: Mercurij expertus saepius ante dolos. Bis terdena iterum medefecit grana sequenti Nocte: nec extimuit sumere mane merum.

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At qui spectabant stupidi (mirabile visu) Illico praesentem pertimuere necem. Profuit hoc illi: nec sensit corpore virus. Quis bonus hoc dignum laudibus esse neget? Pellere corporibus sudore superflua possum, Albus vbi fio puluis, & arte leuis. Non magis est certum morbo medicamen in omni: Si sum, quem docuit rite Monarcha, liquor. Siue liquore velis, forma vel pulueris vti, Siue vitro: quamuis durius illud erit: Non tarnen inuenies mea quod non commoda virtus Sit tibi, siue aliqua parte nocere queat. Non est inditijs mihi opus tarn pluribus vilo In morbo: veluti vestra Lycea docent. Non ego temperiem curo, aut humons Ideas: A te quae primum lerna reperta fuit. Est aetas, sexus, morbus, mihi quilibet aptus Expelli: tempus non ego euro nouum. Corporis admittor spectatum viscera laesi: Vt tollam, quo sit nomine cunque, malum. Haud quidquid adgredior, nisi qui grauat vndique corpus: Auffero non falsis noxia sola notis. Restituì pueros, iuenesque, senesque, grauatos Innumeris (audes vera negare?) malis. Auxilium sensit grauida atque puerpera nostrum, Quando mei fuerat pulueris vsa dosi. Foemineum iuui sexum, morbumque repressi: Cum dolor è ficcis mensibus ortus erat. Febribus auxilium praesens me saepe tulisse, Testantur varijs grandia facta locis. Quin regnante ferox eieci peste venenum: Faucibus eripiens corpora laesa necis. Me dicunt annis septemque, nouemque, latere Ventrículo: taciti serpere damna mali. Inde venenatis arrodi morsibus ipsa Viscera: quae certae causa futura necis. Quid potuit dici stultum magis? an né latere Sic possum, vt nullis cladibus afficiam? Quales Argenti qui sumpsit pharmaca viui: Quae sunt artificis non bene facta manu. Quin moriatur homo, tanto qui tempore secum Tam praesens laeso corpore virus alit. Aut saltern varijs vitam cruciatibus omnem Exigat: vt natum se minime esse velit. Cuneta Deus varijs immiscuit orta venenis: Foelix é spinis qui legit arte rosas. Arte para, quaecunque paras: impuraque rebus Auffer: erunt morbis pharmaca certa tuis. Hoc qui non nouit, medici cur nomina sumit? Non res, sed rerum forma iuuare solet. Non igitur damnes, quod non expertus es vsu: In quo diuinae constitit artis honos. Disce prius rectè carbonum viribus vti: Nec me iudicio praecipitante graues. Haec tecum lusi: sed nunc maiora referre

Humanistische Verskunst im Dienste des Paracelsismus Adgrediar: magnis gratia maior inest. Quid iactem vitrum? nec enim Paracelsus in vsu Hoc habuit: quanquam sic quoque saepe iuuo. In sublime tulit vasis me fortiter aptis: Et iussit flores surgere ab igne meos. Hos ita perfecit, morbis vt in omnibus essent Auxilium: atque illos carpere nemo potest. Non etenim vomitus, neque recrementa ciere Sed vi coelesti membra iuuare soient. Contractis reddunt neruis in corpore vires: Officium vt faciat, pesque, manusque suum. Quin etiam morbum tollunt sine fraude caducum, Quo quid habet mundus, die mihi, triste magis? Plurima praetereo, quia sunt maiora, quibus me Effero: at inuitus forsitan ista leges. Nam quid de dulci memorem Stengline liquore? Quo non spagiricae clarius artis opus. Hoc nouus in venis sanguinis generator, & aegri Auffertur vitium corporis omne cito. Dum fodior, varijs inuado corpora morbis: Lepraque de nostro turpis odore venit. Hune meus affectum sanat liquor: omnibus ille Praesentem morbis adferet vnus opem. Hic liquor est, fuluum cui cedere cogitur aurum: Quo tarnen haud aliquid charius orbis habet. Ergo Theophrasti contemnere dogmata noli: Quo vix paeonia maior in arte fuit. Contemnunt illum plures hoc tempore tecum: Quos ego iudicio iure carere reor. Sic mos est equidem: qui non intelligit, odit: Vt pyra, quìs vulpes nescit inepta frui. Esse vides aliquos, laudem dare turpe magistro, Qui credunt: proprio cunctaque marte sciunt. Si quid discipuli peccasse videntur inepti: Stultitiae capiant praemia digna suae. Non aliena luat praeceptor crimina: cuius Propositum nulli velie nocere fuit. Quisquís scripta viri non nota reprehendis amicus, Differ: habet magnas lectio diues opes. Inuidus abstineat, non sunt haec scripta malignis, Qui tantum nigro rodere dente soient. Hune naturam virum, Deus hune dédit optimus arti Paeoniae: cuius maximus error erat. Sustulit errores, praecepta salubria fidus Tradidit: & studio fecit vtrumque pio. Monstrauit rerum vobis arcana, nec vlla Afflictum voluit fallere fraude gregem. Dilexit miseros: gratis sanauit egenos: Nec studuit magnas quaerere diues opes. Obijciuntur ei conuitia plurima falso: At dignus laudis praemia ferre fuit, lili semper enim sic inquisitio veri Proposita in medicis vnica rebus erat. Vt nihil in vita, quam commoda sedulus aegri, Spectarit: sancti dulce laboris opus.

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Wilhelm Kühlmann Nil noua te moueant doctrinae dogmata summae, Non etenim priscis sunt data cuncta vins. Multa Deus patribus, sed multa nepotibus offert: Quocunque aspicies copia diues adest. Quin & Venturis ostendet plurima seclis, Quis precor illius dicere possit opes? Nemo quidem lucem, tenebras nisi diligat, odit: Nec tenebras lucem iudicat esse bonus. Posteriora vides potiora prioribus esse Saepe: nec antiquis omnis habetur honos. Si veteri nullus fuit error in arte, quid aegri Sanari nulla saepius arte queunt? Si maiora Deus vestro dedit optimus aeuo, Tanta quis ingrata muñera mente neget? Quem nequeat morbum rerum natura domare? Quae tot ab aeterno est dotibus aucta Deo. Has equidem vobis monstrat Paracelsus, an ilium Pro tantis odio vultis habere bonis? Non satis est culpare, decet culpanda probare, Haec est iustitiae regula firma sacrae. Nemo sit alterius: sit libera cuique voluntas: Qualibet vt veri quaerat in arte viam. Quis desperaret? quae nulla volumina tradunt, Haec dabit exiguo tempore cuncta Deus.

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Geschichte als Gegenwart: Formen der politischen Reflexion im deutschen »Tacitismus« des 17. Jahrhunderts

ι In einem unlängst veröffentlichten Brief Johann Michael Moscheroschs aus dem Jahre 1650 wird ein bedeutender Gelehrter bedauert, weil er »die Zeichen einer philosophischen Haltung« habe vermissen lassen, versäumt habe »sich selbst zu bezwingen und zu erhalten«: »vincere semet ipsum atque conservare«.1 O wenn er doch soweit gelernt hätte zu schwimmen, nicht aber derart gegen widrige Stürme angesegelt wäre! Er selbst hat alle geheimen Künste des Tacitus, des großen Mannes, durchforscht: den Ebenbürtigen zu ertragen, den Minderen zu schonen, den Zeitumständen sich anzupassen, sich zu mißtrauen und dem kleinen Ruhm von Größeren zu weichen - wollte oder konnte er es nicht?

Die Frage beleuchtet das Interessenzentrum des frühbarocken Tacitusstudiums und setzt die epochale Dringlichkeit eines schmerzlichen Lernprozesses voraus. Illustriert wird die Konfrontation der humanistischen Intelligenz mit dem Verhaltenskalkül der »prudentia civilis«, in dem es nicht nur um das Abwägen von Chancen auf dem hohen Parkett der Diplomatie ging, sondern auch - zumindest mittelbar - um die Bewahrung errungener Positionen des Privatmanns, nicht nur um die »conservatio rei publicae«, sondern auch um die »conservatio sui ipsius«. Moscheroschs Brief führt uns zugleich direkt in den Umkreis der deutschen Tacitisten. Denn die Rede ist von Johann Heinrich Boeckler (1611-1672), dem Straßburger Historiker.2 Zusammen mit seinem Lehrer Matthias Bern-

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HAB Wolfenbüttel, Cod. 10.5. Aug. 2°, fol. 401': »o tam didicisset natare, non adversis adeo navigasset aquilonibus. Omnia perscrutatus ipse Taciti summi viri arcana, ferre parem, parcere minori, inservire tempori, diffidere sibi, maiorum cedere gloriolae non voluit anne potuit?« Vgl. W. Kühlmann: Johann Michael Moscherosch in den Jahren 1648-1651: Die Briefe an Johann Valentin Andreae (Mit einer Aufstellung der bisher bekannten Korrespondenz Moscheroschs), in: Daphnis 14 (1985), S. 245-276, in diesem Band abgedruckt unter Nr. 13. Es geht um Boecklers Entschluß, Straßburg wegen nicht näher genannter Konflikte zu verlassen und einem Ruf Christinas von Schweden zu folgen. Er war von 1649-1652 (Rückkehr nach Straßburg) Professor in Uppsala, zeitweise auch Hofhistoriograph. Zur Person vgl. NDB Bd. 2, S. 372f. sowie Johannes Wallmann: Philipp Jacob Spener und die Anfänge des Pietismus: Tübingen 1970 (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 42), S. 78ff. (hier u.a. über die Kommentare Boecklers zu Grotius' »Jus Belli et Pacis«), Zu den zahlreichen Briefpartnern

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Wilhelm Kühlmann

egger (1582-1640), 3 dessen Mitarbeiter und Schwiegersohn Johannes Freinsheim (1608-1660) 4 und dem in den Diensten von Württemberg-Mömpelgard stehenden Diplomaten und Kanzler Christoph Forstner (1598-1668) 5 gehörte

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Boecklers - erhalten (u.a. in Wolfenbüttel) ist eine umfangreiche Korrespondenz - zählten Hermann Conring, Andreas Gryphius und Johann Christian von Boineburg, mit dessen politischen Vorstellungen Boeckler wohl sympathisierte. Vgl. E. Jirgal: J. H. Bökler, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 45 (1931), S. 322-384. - Für meine Arbeit habe ich herangezogen: a) In Corn. Taciti quinqué libros histor. superstites, Annotatio Politica. Straßburg 1648; b) Museum ad Amicum. Editio Secunda. Straßburg 1672; c) Institutiones Politicae. Accesserunt dissertationes politicae ad selecta veterum historicorum loca. [...]. Straßburg 1674; d) Orationes et programmata academia. Straßburg 1705; e) Dissertationes academicae. 2 Bde, Straßburg 1701/1710. Zu Bernegger vgl. NDB Bd. 2, S. 106f.; Erich Beraeker: Matthias Bernegger, der Straßburger Historiker, in: Julius Echter und seine Zeit. Gedenkschrift [...]. Hg. von Friedrich Merzbacher. Würzburg 1973, S. 283-314; Anton Schindling: Humanistische Hochschule und Freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538-1621. Wiesbaden 1977 (Veröffentlichung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 77), spez. S. 279-289; W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 43ff. und passim. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Fortführung und Ergänzung meiner thematisch einschlägigen Ausführungen in diesem Buch. Immer noch unentbehrlich auch Carl Bünger: Matthias Bernegger. Ein Bild aus dem geistigen Leben Straßburgs zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Straßburg 1893. - Posthum erschienen, von Freinsheim herausgegeben, Berneggers: Ex C. Cornelii Taciti Germania et Agricola quaestiones miscellaneae [...]. Straßburg 1640; dazu und zu anderen Bearbeitungen antiker Historiker vgl. Bünger S. 11 Off.; Kühlmann, spez. S. 51ff. Zum Beispiel eines politischen Sueton-Kommentars, von Moscherosch unter Berneggers Leitung angefertigt, vgl. W. Kühlmann/Walter Schäfer: Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang J. M. Moscheroschs, Berlin 1983 (Philologische Studien und Quellen, Heft 109), S. 33-45. In der wissenschaftlichen Literatur zum europäischen Tacitismus (s. Anm. 53) sind die hier angeführten deutschen Autoren nur behandelt von Else-Lilly Etter: Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, Basel-Stuttgart 1966 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 103), S. 149-168, spez. S. 153ff. Auch Freinsheim weilte 1647-1650 als Bibliothekar und Historiograph am Hofe Christinas von Schweden: Vgl. Christian Callmer: Königin Christina. Ihre Bibliothekare und ihre Handschriften. Beiträge zur europäischen Bibliotheksgeschichte. Stockholm 1977 (Acta Bibliothecae Regiae Stockholmiensis 30), S. 43ff.; ferner B. Low. In: Svenskt Biogr. Lex. 16 (1964/66), S. 484-486; für die hier genannten Gelehrten natürlich immer auch heranzuziehen Alexander Reifferscheid (Hg.): Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland während des 17. Jahrhunderts. Heilbronn 1889 (Indices!), zu Freinsheim S. 960. Zu Freinsheims deutschem und lateinischem Oeuvre fehlt eine Spezialuntersuchung. Er wird zumeist im Zusammenhang Berneggers erwähnt (dazu die oben genannte Lit.!). Vgl. Wolfgang Hans Stein: Christoph Forstner (1598-1668): Mömpelgardische Politik und humanistische Reflexion auf dem westfälischen Friedenskongreß, in: Forschungen und Quellen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Münster 1981 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neuen Geschichte, Bd. 12), S. 62-97 (mit biographischem Grundriß und dem Nachweis der - zumeist recht entlegenen - älteren Literatur). Von Forstner im folgenden herangezogen: Christophori Forstner: Austrii, Ad libros sex priores Annalium C. Cornelii Taciti, Notae Politicae. Quibus pleraque omnia, quae reliquis quoque Taciti libris continentur, suis quaeque locis explicantur. Adjuncta est in fine, ejusdem Oratio, habita in Venetiis in Excellentissimo Collegio, Mense Iulio, anno MDCXXV. Adjectus etiam Liber omissorum singularis ejusdem. Leiden 1650 (zuerst Padua 1626). Das Werk wurde später fortgesetzt: vgl. Etter (s. Anm. 3), S. 164ff. und 214.

Geschichte als Gegenwart

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Boeckler zu den maßgeblichen Repräsentanten der politisch-historischen Philologie des deutschen Späthumanismus. Von der Struktur seines Werkes her ist dieser Gruppe noch zuzurechnen der in Elbing geborene Calvinist Cyriacus Lentulus (ca. 1608-1678), Professor in Herborn, später in Marburg. Er hatte in Leiden und Basel studiert.6 Mit Bernegger in engem persönlichen Kontakt stand Janus Gruter in Heidelberg. Sein 1604 vorgelegter Tacituskommentar beweist sehr deutlich, daß es in der aktuell-politischen Reform des humanistischen Kommentationsverfahrens nicht zuletzt darum ging, eine bestimmte Zielgruppe von Studierenden zu gewinnen: die Funktionselite der fürstenstaatlichen Administration, darunter auch den Adel, der des »scholastischen Exercitiums« überdrüssig war.7 Welche Voraussetzungen und Wirkungsfaktoren, so möchte ich zunächst fragen, begünstigten die Blüte des tacitistischen Schrifttums gerade am Oberrhein? Basel, Straßburg und Heidelberg waren auch zu Beginn des Jahrhunderts noch wichtige Zentren der humanistisch geprägten Literaturproduktion. Zu beobachten ist, wie nun gewohnte Schreibkonzeptionen des akademischen Autorenkommentars auf die Anstöße der politischen Theorie und Publizistik West- und Südeuropas reagierten: auf die italienische Literatur der Staatsräson und Regierungstechnik (Machiavelli, Botero), auf die mit dem Namen Bodins verknüpfte Souveränitätsdoktrin des Absolutismus und die von Justus Lipsius vorgelegte politisch-moralistische Verhaltenslehre. Die bewußtseinsbildende Rolle der protestantischen Emigranten

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Vgl. Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlagen zu einer Hessischen Gelehrtengeschichte, 15 Bde., 1781-1806, Bd. VII (1787), S. 484-^90; C.D. Vogel: Nachrichten über das Leben und die Schriften des ehemaligen Professors und Nassauischen Historiographen Cyriacus Lentulus. In: Annalen des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung III ( 1839), S. 111-116; F. Gundlach (Bearb.): Catalogue ProfessorumAc. Marburgensis. Die Ak. Lehrer der Philipps-Universität in Marburg von 1527 bis 1910. Marburg 1927 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck XI), Nr. 805; Hans Georg Wackernagel u.a. (Bearb.): Die Matrikel der Universität Basel. III. Bd. Basel 1962, S. 450, Nr. 12; Gisela Wirth: Die Entwicklung der alten Geschichte an der Philipps-Universität Marburg. Marburg 1977, S. 48-57. - Von Lentulus' Werken habe ich benutzt: a) Augustus sive de convertenda in Monarchiam República: Iuxta ductum et mentem Taciti. Amsterdam 1645; - mit diesem Werk bis »quaestio XXX« fast identisch: b) Arcana Regnorum et Rerumpublicarum: e locuplete Cornelii Taciti penu eruta: Et spatioso veteris & nostratis aevi scriptorum mari hausta; longo peregrinationum & aularum usu corroborata: a Cyriaco Lentulo, Celsissimis Nassoviae Principibus a Belli & Pacis Commentariis Eloquentiae & cum Historia Sacra & Civili, Politices Herbornae Professore. Herborn 1655; c) Aula Tiberiana et Solertissimi ad imperandum Idea. Cornelius Tacitus monitis ex Annalium ejus medulla erutis, et liberiori disceptandi spatio ad nostri aevi usum accomodatis, civilem in orchestram & militarem productus. Herborn 1663; d) Princeps Absolutus. Cum aliis variarum rerum aulicarum, forensium, militarium, juris inprimis publici, observationibus. Politicus in sex priores Annalium Taciti libros Commentarius. Herborn 1663.

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Janus Gruter: Varii discursus sive prolixiores commentarli ad aliquot insigniora loca Taciti atque Onosandri. Heidelberg 1604 (2. Teil 1605). Vgl. Kühlmann, Gelehrtenrepublik (wie Anm. 3), S. 61 f.

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(unter ihnen Gruter, Bernegger, Forstner) war dabei unübersehbar. Mehr als andere besaßen sie ein geschärftes Sensorium für die Entwicklungstendenzen der europäischen Politik und für die entscheidenden Frontlinien des protestantisch-habsburgischen Kräfteringens. Bezeichnenderweise wurde in Basel, in der Druckerei von Emigranten (Pietro Perna) schon vor der Jahrhundertwende - zusammen mit hugenottischem Schrifttum - Machiavelli übersetzt und verbreitet.8 Bernegger, nach ihm Boeckler und Bohse in Jena9 führten das Hauptwerk des politischen Prudentismus, Lipsius' Politicorum sive civilis doctrinae libri sex (zuerst 1589), in den akademischen Unterricht ein.10 Philologie sollte in Philosophie verwandelt werden, nicht in die Philosophie einer abstrakt-praezeptoralen Ethik, sondern in eine auf die situative Urteilskompetenz abzielende lebensweltliche Verhaltenskunde. Lipsius' Gelehrtenkritik - »nec vitae, sed scholae discimus« - hatte appellativen Charakter.11 Beschleunigt wurde so der Paradigmawechsel der späthumanistischen Antikerezeption, damit auch die innere Umbildung des in Straßburg prototypisch entwickelten Sturmschen Bildungssystem. Nicht die Chimäre der römischen Republik, kaum mehr die Vision des »civis Romanus« auf deutschem Boden, vielmehr die modellhafte Analyse der erfahrenen Wirklichkeit bestimmte den Umgang mit den antiken Texten, in erster Linie den Historikern. Diese Wirklichkeit war neu und komplizierter denn je. Höchst widersprüchliche politische Maximen und mentale Traditionen überlagerten sich - gerade im politischen und militärischen Kräftefeld des Oberrheins. Auch die Vertreter eines ständestaatlichen Legalismus, die lutherischen Reichspatrioten in den Städten, blickten gebannt auf die republikanisch anmutenden Denkelemente des europäischen Calvinismus, mußten - nicht ohne Widerstand oder Erschrekken - die Vertragstheorie eines Althusius oder gar die unerhörten Thesen

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Vgl. Werner Kaegi: Machiavelli in Basel. In: ders.: Historische Meditationen, Bd. I. Zürich 1942, S. 121-181; Peter Bietenholz: Der italienische Humanismus und die Blütezeit des Buchdrucks in Basel. Basel-Stuttgart 1959 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 73), spez. S. 77f.; über die Druckgeschichte der Werke Machiavellis umfassend Adolph Gerber: Niccolo Machiavelli. Die Handschriften, Ausgaben und Übersetzungen seiner Werke im 16. und 17. Jahrhundert. Gotha 1912. Bose war Schüler Boecklers; vgl. zu ihm Hermann Kappner: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Jena vom Humanismus bis zur Aufklärung. Jena 1931 (Beihefte der Zeitschrift für thüringische Geschichte, N.F. 14.3), bes. S. 20ff. Auf den Zusammenhang von Lipsius- und Tacitusstudium deutet exemplarisch eine Publikation Boecklers: Dissertatio de Politicis Iusti Lipsii. Accessit oratio De Historia C. Cornelii Taciti. Straßburg 1642; diese Rede ist auch abgedruckt in ders.: Orationes (wie Anm. 2), S. 258-268. Mit ihr begann Boeckler 1636 eine Privatvorlesung über Tacitus' Annalen\ zu Bemeggers Bemühungen um Lipsius' Politik s. Bünger (wie Anm. 3), bes. S. 130ff. Der zitierte Satz findet sich am Schluß seiner Politik. Die verschiedenen Aspekte des »Lipsianismus« habe ich in größerem Zusammenhang behandelt und verweise deshalb hier nur auf mein in Anm. 3 genanntes Werk.

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der Monarchomachen zur Kenntnis nehmen.12 Theoretisch einzuordnen war auch das - am Beispiel der Pfalz zu studierende - aggressive Streben nach konfessioneller und fürstlicher Libertät, in dem der gesamte Komplex der reichsrechtlichen Statusfragen berührt wurde. Kaum fraglich war die Stellungnahme zur imperialen Praxis des spanisch-habsburgischen Universalismus, höchst problematisch jedoch die beobachtende Einschätzung des höfischen Zentralstaates in Frankreich, einer Macht, die ebenso bedrohlich war wie sie »Protektion« gewährte und bei der die konfessionelle Zuordnung der politischen Parteien mehr denn je gegenstandslos erschien. Dies war die Lage, die im akademischen Schrifttum beschrieben und bewältigt werden mußte. Parteinahme lag nahe, war aber jederzeit gefahrlich, forderte und förderte jene Verschlossenheit des Handelnden, die im Phänomen der »dissimulatio« und im »discidium linguae atque cordis« zur Sprache gebracht wurde. Was in der politischen Literatur argumentativ zu verarbeiten war, bot sich in den Ratskollegien und Kabinetten dar als prekäre Balance von Entscheidungs- und Verhüllungszwängen - im Hintergrund, gerade in Städten, zumeist als gefühlshafter Zwiespalt, Interessendivergenz und Orientierungsverlust. Bei all dem ging es nicht nur um die allgemeine Atmosphäre, sondern auch um konkrete Lebenserfahrung vieler Gelehrter: Freinsheim, der deutsche Patriot,13 sucht in den lothringischen Archiven nach Urkunden, um die Ansprüche der französischen Krone abzusichern,14 Bernegger brachte sich durch einen von den Kaiserlichen abgefangenen Brief beinahe um Kopf und Kragen,15 Forstner schließlich mußte mehrfach nach Paris reisen, um französische »Protektion« zu suchen, mußte dabei aber doch die Selbständigkeit und die Interessen seines Landesherrn - auch als Gesandter beim westfälischen Friedenskongreß berücksichtigen.16

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Vgl. exemplarisch das Referat und die scharfe Ablehnung dieser Theorien bei Boeckler: Institutiones (wie Anm. 2), S. 103f. Zu Althusius heißt es: »Itaque plus [als die Monarchomachen, W. K.] nocuit Althusii Politica, quae ista commenta & portenta opinionum auctoritate artis donavit, ut mirandum prorsus & dolendum sit, illud opus iuventuti commendali in ulla Academia Augustanam Confessionem profitente, cui hoc proprium est & esse debet, quod hanc philosophiam incorruptam alias servat.« Vgl. Freinsheims episches Lobgedicht auf Bernhard von Weimar: Teutscher Tugendspiegel oder Gesang von dem Stamme und Thaten dess Alten und Newen Teutschen Herkules. Straßburg 1639. Dazu im historischen Kontext Wolfgang Hans Stein: Das französische Elsaßbild im Dreißigjährigen Krieg. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 5 (1979), S. 131-152; spez.: S. 135f. Vgl. Bünger (wie Anm. 3), S. 384-386. Dazu Stein (wie Anm. 5) sowie ders.: Protection Royale. Eine Untersuchung zu den Protektionsverhältnissen im Elsaß zur Zeit Richelieus, 1622-1643. Münster 1978 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte, Bd. 9).

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Man verstand also konkret und sehr präzise, was Lipsius im Vorwort seiner epochemachenden Tacitusausgabe (1574)' 7 wie auch - unter anderen - Marc Antoine Muret formuliert hatte: daß nämlich die Welt des Tacitus dem »theatrum mundi« der Gegenwart gleiche.18 Bernegger bekräftigte 1619, sich an seine Leser und Studenten wendend, diese Analogie:19 Wenn jemals, dann, so glaube ich, ist es gewiß zu diesen Zeiten und bei dieser Weltlage angeraten, daß speziell dieser Autor - wenn man auf die >civilis prudentia< blickt, wohl der Fürst der Historiker - in die Hände der Studenten gebracht wird, damit sie aus diesem überreichen Quell Rat schöpfen, um später, jeder an seinem Platz, besser gerüstet an alle Fälle des Lebens heranzugehen.

Und so ganz ähnlich 1636 in einem Brief an Michael Virdung, den Verfasser eines genuin tacitistischen Dramas über Paetus Thrasea:20 Von der vertrauten Lektüre unseres Tacitus, der die gegenwärtige Weltszene in nicht wenigen Fällen unter antiken Personen darbietet, kann ich meine Augen und meine Hand noch nicht lassen.

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Dazu spez. José Ruysschaert: Juste Lipse et les Annales de Tacite. Une methode de critique textuelle au XVI e siècle. Toumhout 1949 (Humanística Lovaniensia, 8); zum Zusammenhang der zeitgenössischen Philologie vgl. Jean Jehasse: La Renaissance de la Critique. L'Essor de l'Humanisme Erudit de 1560 à 1614. Saint-Etienne o. J. (1976), zu Lipsius hier S. 449ff. Eine etwaige künftige Geschichte der deutschen Tacitusrezeption (unter Einschluß der Editionen, Kommentare usw.) wird sich bibliographisch zunächst nicht nur an vorliegender Forschungsliteratur zu orientieren haben, sondern mit Gewinn die zumeist weiterführenden älteren Nachschlagewerke zu Rate ziehen, z. B. (neben Struve, Fabricius, Pütter u.a.) Martinus Lipenius: Bibliotheca Realis Philosophica, Bd. II. Leipzig 1682 (Nachdr. 1967), S. 1457-1460; Johann Philipp Krebs: Handbuch der philologischen Bücherkunde. Bremen 1822/23, Bd. 2, S. 467-470; F.L.A. Schweiger: Handbuch der classischen Bibliographie, Bd. II. 2. Leipzig 1834, S. 996-1046.

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Vgl. Kühlmann (wie Anm. 3), S. 55ff. In der Vorrede der ersten Ausgabe (1619) des Kommentars zum taciteischen Agrícola (vgl. zur späteren Ausgabe Anm. 3): »Si unquam alias, his certe temporibus et hac scena rerum expedire crederum hunc talem autorem, si civilem prudentiam spectes, historicorum facile Principem, juventutis Studiosae manibus ingerì, ut haustis ex hoc uberrimo fonte praeceptis, olim in sua quisque statione ad omnes vitae casus instructiores accederent.« Abgedruckt in: Der Briefwechsel zwischen Bernegger und Johannes Freinsheim (1612, 1633-1636). [...] Hg. von Edmund Kelter. In: Beiträge zur Gelehrtengeschichte des 17. Jahrhunderts. Festschrift zur Begrüßung der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner [...]. Hamburg 1905, S. 1-72, hier S. 69: »[...] a familiari Taciti nostri lectione, quae praesentem rerum scenam sub antiquis personis in non paucis exhibet, oculos ac manum dimovere nondum possum.« Virdung (1575-1637) schrieb auch einen 1637 in Nürnberg erschienen Kommentar zu Tacitus' Agricola (nach der Angabe bei Lipenius); zu ihm vgl. ADB Bd. 40, lOf. und Reifferscheid (wie Anm. 4), S. 688; zu den Dramen Paul Stachel: Seneca und das deutsche Renaissancedrama. Berlin 1907, Nachdruck New York 1967 (Palaestra XLVI), S. 42-52, spez. zum Thrasea (beendigt 1602), S. 48ff. Eine dem heutigen Kenntnisstand und einer historisch-pragmatischen Fragestellung entsprechende Darstellung des späthumanistischen Dramas in Deutschland gehört zu den dringenden Bedürfnissen. Die in dieser Hinsicht bestehende Rezeptionslücke macht sich in neueren Darstellungen schmerzlich bemerkbar, z. B. bei Wolf-Lüder Liebermann: Die deutsche Literatur, in: Der Einfluß Sénecas auf das Europäische Drama. Hg. von Eckard Lefèvre, Darmstadt 1978, S. 371-449; vgl. bes. S. 383ff.

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Gewiß, Geschichte war auch im reformatorischen Humanismus »magistra vitae«, Verlängerung der eigenen Erfahrung, wurde demgemäß von Melanchthon gerade dem Fürsten und dem Beamten empfohlen.21 Doch diese Art von Geschichtsbetrachtung war handlungstheoretisch vordisponiert, vollzog sich in einem biblisch-naturrechtlich gesetzten moralischen Koordinatennetz, in dem das Gewissen des Einzelnen gebunden war. Überdies dominierte das biblisch fundierte, an der Vier-Reiche-Lehre ausgerichtete Modell der Reichs- und Universalgeschichte.22 Ganz zu schweigen davon, daß im religiöseschatologischen Horizont politisches Handeln grundsätzlich vorläufigen, gleichsam nur provisorischen Spielraum besaß. In den humanistischen Gelehrtenschulen des 16. Jahrhunderts lag der Akzent denn auch, wenn Historiker überhaupt gelesen wurden, auf der »sermocinalen« Interpretation, gestützt auf die Kategorien von Rhetorik und Dialektik.23 Die politische Historikerexegese dagegen zielte ausdrücklich auf Tatsachen: »res« standen gegen »verba«. Freilich, politische Tatsachen lagen nicht auf der Hand, sie waren mit »Scharfsinn« zu erkunden. An Tacitus lernte man, durch einen Verhüllungszusammenhang taktischer Positionskämpfe und scheinhafter Machtfassaden hindurchzudringen (»penetrare«) bis zu den, wie es Boeckler unübersetzbar ausdrückt, »ingenia rerum«.24 Ein Historiker wie Bernegger wehrte sich also gegen das überlieferte Pflichtpensum der kompendienhaft 21

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Vgl. Karl Hartfelder·. Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae. Berlin 1889 (Nachdr. Nieuwkoop 1972), S. 197-202. Es wurde natürlich auch noch im 17. Jahrhundert literarisch vielfach tradiert; vgl. Wilhelm Vosskamp: Untersuchungen zurZeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Lohenstein und Gryphius. Bonn 1967 (Literatur und Wirklichkeit, Bd. 1); Helmut Kappler: Der barocke Geschichtsbegriff bei Andreas Gryphius. Frankfurt 1936 (Frankfurter Quellen und Forschungen zur germanischen und romanischen Philologie, Heft 13). Vgl. Ulrich Schindel: Antike Historie im Unterricht der Gelehrten Schulen des 17. Jahrhunderts, in: Stadt - Schule - Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Hg. von Albrecht Schöne. München 1976, S. 225-242. Die Ergebnisse dieser Studie belegen ex contrario sehr deutlich, daß sich im 17. Jahrhundert Ziele und Verfahren des historischen Unterrichts an den Gymnasien einerseits, an wichtigen Hochschulen andererseits deutlich auseinander entwickelten. In der bereits erwähnten Vorrede zu den Annalen (Orationes, s. Anm. 2, spez. S. 266f.; die programmatische Wertung im ganzen ist lesenswert): »Ingenia rerum ac naturam nemo tali acumine penetravit: nemo tali concinnitate ad usum & lucem transtulit. Animorum praesertim prudentissimus, & humanarum molitionum conatuumque ad miraculum sciens. Semel hic monendum est, non exiguum in hoc autore, ut & in omni vitae sapientia esse momentum, perspectas habere in pleronimque eventuum similitudine mentes, habitusque animorum, & cogitationum sólitas in iisdem rebus vicissitudines. Hinc fontes imperandi regendique multitudinem detecti, hinc Consilia in futurum praecepta, hinc natae personarum descriptiones accuratissimae; ex quarum una plurium saepe rerum momenta petantur, quam ex integro praeceptionum libello. Huic perspicaciae debemus, deprehensas passim artes dominationis ac fraudes, & occulta aulae quae egregie Tacitus in apricum protrahit. Atque hie si vellem orationi indulgere, vereor, ne, dum ad singula respicerem, universa nunquam exhaurirem. Communissima nostra aetate regiminis forma Principatus est. De eo multa multi; aliqui praeclara, aliqui subfrigida, aliqui imperfecta, omnia autem & absolute & graviter & utiliter complexus est Tacitus. Idem qui de aularum bonis pravisque, prosperis vel adversis omni commentationum mole opulentius peregit.«

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vorzutragenden Reichs- und Universalhistorie, hatte auch wie Conring in Helmstedt eine deutliche Abneigung gegen das Rhetorenamt.25 Wenn Bodin das biblische Geschichtsbild Melanchthons als rückständig, ja als obsolet kennzeichnete,26 äußerte sich in dieser Kritik ebenso nationales Interesse wie die Abkehr von der theologisch-teleologischen Geschichtsdeutung. Politik, die sich am »status rerum« orientierte, behandelte - so Giovanni Botero, von Lentulus und vielen anderen Zeitgenossen zitiert und besprochen - die »fundatio, conservatio« und »amplificatio dominii«, Gesichtspunkte der Herrschaftstechnik also.27 Vergangenheit wurde zum Beobachtungsfeld diverser »casus«, integriert in ein entscheidungsbezogenes Konsultationsverfahren, das sich in vielen akademischen »Discursen« getreulich widerspiegelte. Tacitus bot das Stichwort für die Suche nach den »causae rationesque« des menschlichen Handelns, das - in irritierende Skepsis getaucht - dem Betrachter bisweilen nur die Formulierung alternativer Denkvorschläge erlaubte.28 Den Politiker beschäftigten die »historici pragmatici«,29 25

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Vgl. Biinger (wie Anm. 3), S. 332ff.; zu Conring vgl. Hermann Conring 1606-1681. Ein Gelehrter an der Universität Helmstedt (Ausstellungskatalog). Wolfenbüttel 1981, hier S. 30; das Schaffen Comings ist durch diesen Katalog und durch den von Michael Stolleis herausgegebenen Forschungsband mittlerweile mustergültig erforscht: Hermann Conring (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk. Symposium der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 9. bis 12. Dezember 1981, Berlin 1983 (Historische Forschungen 23); zu dem hier interessierenden Themenkomplex - Conring war Kommentator Machiavellis und schrieb eine Abhandlung über die »civilis prudentia« - vgl. hier bes. den Beitrag des Herausgebers S. 173-199 (»Machiavellismus und Staatsräson. Ein Beitrag zu Comings politischem Denken.«). Dazu Adalbert Klempt: Zur Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert. Göttingen 1960 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 31). Lentulus: Arcana (wie Anm. 6), S. 71 (und Kontext); Givanni Boteros Della ragion di Stato (Venedig 1589, deutsch Straßburg 1596) gehörte zu den meistgelesenen, auch meistplagiierten politischen Werken des frühen 17. Jahrhunderts in Deutschland. Zu Botero und Boccalini sowie zu ihrer Rezeption in Deutschland nach wie vor grundlegend Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 3. Aufl. München-Berlin 1929; vgl. auch Heinrich Lutz: Ragione di Stato und christliche Staatsethik im 16. Jahrhundert. München 1961 (Katholisches Leben und Kämpfen im Zeitalter der Glaubensspaltung 19); Roman Schnur (Hg.): Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs. Berlin 1975, hier für die deutschen Theoretiker (Clapmarius u. a.) besonders instruktiv der Beitrag von Michael Stolleis (S. 441 —464); Reinhard G. Kreuz: Überleben und gutes Leben. Erläuterungen zu Begriff und Geschichte der Staatsräson, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 173-208. Vgl. etwa Hist. I, 18; dazu und zu anderen Charakteristika der taciteischen Historiographie vgl. den glänzenden Essay von Golo Mann: Versuch über Tacitus, in: Neue Rundschau 87 (1976), H. 2, S. 249-280; aus der altphilologischen Tacitusliteratur sei hier nur verwiesen auf Reinhard Häussler: Tacitus und das historische Bewußtsein. Heidelberg 1965 (berücksichtigt auch Rezeptionsaspekte). Boeckler: Bibliographia Historico-Politico-Philologica Curiosa, Quid in quovis Sciptore, laudem censuramve mereatur [...], Germanopoli (d.i. Straßburg?) 1677, Anhang fol. R 5: »qui veritate, explanatione & judicio pollent (quae tria requirebat Lipsius in Notis ad Lib. I, Pol. c. 9, § 9), quique observant non solum, quid factum sit, sed & qua occasione, qui Consilio, quo praetextu, & quo eventu, simul & judicia de cujusque & gestis ex sententia Prudentum Virorum annectunt.«

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die, so Boeckler, sich durch Wahrheitswillen, Erklärungs- und Urteilskompetenz auszeichnen (diese drei Dinge forderte auch Lipsius in seinen Noten zu Buch I, Pol. c. 9, § 9) und die nicht nur beobachten, was geschehen ist, sondern auch bei welcher Gelegenheit, in welcher Absicht, unter welchem Vorwand und mit welchem Erfolg, und die zugleich auch die Urteile über die Taten eines jeden nach der Meinung kluger Männer beifügen.

Der analytische Blick des an Tacitus geschulten Historikers sah in der Geschichte zwar weiterhin ein applikationsbereites Exempelsubstrat, doch vor das »discrimen honestorum & turpium« schob sich - so Boeckler anhand von Tacitus, Ann. IV 33 - die Betrachtung des »utile« und des »noxium«.30 Mehr noch: Ein doppelter, für manchen Philosophen bestürzender Befund drängte sich auf, in Worten Boecklers: »Es wandelt sich die Natur des Ehrenhaften selbst.« Auch moralische Normen unterliegen historischem Veränderungsdruck. Der Handelnde wird auf sein eigenes Urteil zurückgeworfen: »Zumal da die Nachahmung von Exempeln oftmals nur in sehr ambivalenter Weise eine Mutmaßung über die Ähnlichkeit und den Nutzen erlaubt.« Der politische Pragmatismus löst schließlich potentiell die exemplarische Funktion von Geschichte auf.31 Wie dergestalt in einer Spannung zur Geschichtsteleologie und zur moralisch-didaktischen Geschichtsbetrachtung stand die tacitistische Literatur auch in einem von den Zeitgenossen sehr wohl vermerkten Konkurrenzverhältnis zur Tradition des politischen Aristotelismus. Dieses machte sich weniger bei Boeckler und Lentulus bemerkbar, die anhand der entsprechenden Tacitusstellen auch systematische Begriffsanalyse und politische Institutionen exkurshaft entwickelten, als bei den Tacituskommentaren von Praktikern wie Forstner und bei den im Fürstendienst stehenden Verfassern von Hilfsbüchern des höfischen Beamten.32 Politische Wissenschaft als »scientia«, als Lehre von den Staatsformen, den Rechtsordnungen, den institutionellen und administrativen Strukturen war zwar unabdingbarer Wissensfundus, der politische Tacitusleser aber mußte lernen, in wechselnden Personen- und Machtkonstellationen zu denken. Er hatte zu entschlüsseln, was vom Geschichtsschreiber

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Institutiones (wie Anm. 2), S. 316ff.; die folgenden Zitate ibid., S. 320: »Mutatur & variatur ipsa honesti natura«; S. 321 : »Praesertim imitatio & exemplorum saepe ancipiter similitudinis & utilitatis coniecturam habet.« So mit Berufung auf Guicciardini vermerkt bei einem der zahlreichen unbekannten Traktatschreiber um 1600: »Multi ubi quid ex iis [den Historikern, W. K.] notarunt, statim casu incidente quasi simili, ita sententiam temere ex scripto dicunt, ac si singulae rationes occasionesque exemplorum eaedem forent, summo saepe damno Reipublicae« (Johannes ab Affelen: Vir Politicus. Hanau 1599 u. ö., S. 43f.); ähnlich auch Richelieu in seinem Politischen Testament (vgl. Meinecke, s. Anm. 27, S. 209). Ich nenne nur den Heidelberger Rat Hippolytus a Collibus: Palatinus sive Aulicus. Hanau 1595; ders.: Consiliarius. Hanau 1598, jeweils mit vielen Auflagen. Zum Umkreis dieses Schrifttums (mit weiteren Literaturhinweisen) Kühlmann (wie Anm. 3), S. 47ff. Vgl. spez. Klaus Conermann: Hippolytus a Collibus. Zur Ars politica et aulica im Heidelberger Gelehrtenkreis. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Bd. I—III. Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 8-10), spez. III, S. 693-70, sowie ders.: Der Stil des Hofmanns. Zur Genese sprachlicher und literarischer Formen aus der höfischpolitischen Verhaltenskunst, ibid., I, S. 45-56.

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selbst in der Schwebe gelassen wurde, Worte und Verhalten, bei denen sich die Binnenperspektiven der Figuren mit dem Urteil des Historiographen spannungsvoll überschneiden konnten. Eingeführte Begriffe wurden differenziert und nuanciert. Die klassische Lehre von den drei Staatsformen z.B. fand bei Tacitus das Anschauungsmaterial für die alltägliche Wirklichkeit von »Dominât« und »Principat«. Die Zwischentöne des Tacitus wurden freilich oftmals wahrscheinlich ganz bewußt - überhört. Ein strenger Lutheraner wie Boeckler z. B. verschloß sich vor der Ironie der an Tiberius gerichteten Sätze: »Dir haben die Götter die Obergewalt gegeben; uns ist (nur) der Ruhm des Gehorsams geblieben.« Ihm kam es darauf an, den naturrechtlichen »ordo imperandi parendique« abzuleisten.33 Doch wenn er wie so viele den Principat, also wohl zu übersetzen: den Fürstenstaat, als die derzeit gültige »forma regiminis« benennt, gerät dieser Titel dank Tacitus in ein Zwielicht, das den Leser zum eigenen Nachdenken verführen mußte: Königsherrschaft oder Principat (so wollten es die Caesaren lieber nennen) besteht dort, wo einer allein herrscht, aber mit einem gewissen Schatten von Freiheit [...] 3

»Der gewisse Schatten von Freiheit«: Diese Formulierung band vielfältige Erfahrung und widerstand jederzeit begrifflichen Distinktionsversuchen. III Der Tacitist wandte sich an den »solertissimus ad imperandum Princeps« und dessen Ratgeber, den »consiliarius«. Fragt man, welche lehrreichen Beobachtungszusammenhänge das taciteische Geschichtswerk dem Adepten der politischen Klugheit vorlegte, lassen sich folgende Punkte herausheben: 1. Die von Tacitus geschilderten Vorgänge konzentrierten sich auf die Spannung von Machtgewinn bzw. Machterhalt und dem Verlust republikanischsenatorischer Freiheit. Politik als Geschichte stand in der Interdependenz von Familiengeschichte, d. h. dynastischen Konflikten einerseits, Hof-, Stadt- und Weltgeschichte andererseits. 2. Artikuliert wurde bei Tacitus, was auch Richelieu hervorhob: der gegenseitige Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik, von zivilen Zuständen und militärischen Vorgängen. Dies betraf vor allem zwei Problembereiche: die Befriedung des Volkes und die Verhütung sowohl ständischer wie auch damit zumeist identischer - konfessioneller Rebellion.35 Auch die deutschen

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Institutiones (s. Anm. 2), Dissertatio III, S. 327ff. (zu Tacitus Ann. VI. 8). Institutiones (wie Anm. 2), Dissertatio XV (De Regno), S. 385ff., hier S. 396: »Regnum sive Principatus (ita enim maluerunt appellare Caesares) est, ubi unus imperat, sed cum quadam libertatis umbra [...]«. Im Rückgriff auf Bodin und Grotius möchte Boeckler dann am Ende dieser Dissertation verneinen, was offenbar gefahrlich nahelag (S. 400): »Non tarnen inde recte infertur, omnem Dominatum esse tyrannidem.« Vgl. im einzelnen Rudolf von Albertini: Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus. Gießen 1951.

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Tacituskommentare umkreisten unter dem Stichwort der »tranquillitas regni« die sich hieraus ergebenden Fragen der Herrschaftstechnik, vor allem natürlich die Probleme der Gewissensfreiheit im Horizont der konfessionell-politischen Gleichschaltung. Wichtig ist, daß in der eigenen Rationalität der politischen Literatur die genuin theologische Dimension der Rechtgläubigkeit so gut wie keine Rolle mehr spielte. Aspekte der »sacra & ceremoniae« wurden zu Fragen des »jus publicum«, theologische Disputationen »de recepta religione« trugen nicht zur »amplitudo« und »tranquillitas regnorum« bei. Unverkennbar war die Tendenz, Christentum, wenn nicht als »instrumentum regni«, dann doch nur noch praktisch-moralisch, nicht mehr in der dogmatischen Kontroverse zu begreifen.36 3. Ebenfalls aus dem Gewicht, das die »conservatio dominii« einnahm, läßt sich die große Aufmerksamkeit ableiten, die viele politische Kommentatoren, auch Forstner, militärtaktischen und militärstrategischen Fragen widmeten; etwa wenn geschrieben wurde über die - seinerzeit z.B. bei Wallenstein zu beobachtende - Hinhaltetaktik, über die Psychologie des Siegers und des Besiegten, über den für Deutschland passenden Satz aus Tacitus' Agricola, daß nämlich »vom Frieden die Rede sei, wo man eine Wüste hinterlassen habe.«37 4. Man empfand sehr genau, daß Tacitus keinen staatlichen Ist-Zustand schilderte, sondern den gleitenden - ebenso bedrohlichen wie unvermeidlich scheinenden - Übergang von der Republik über die augusteische Zeit hinweg in die Epoche des Tiberius. Dieser Kaiser war die Zentralfigur der deutschen Tacitusexegeten. An ihm studiert man die »arcana imperii«,38 die politisch-

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So Lentulus - hier exemplarisch herangezogen - in seinen Arcana (wie Anm. 6), S. 605ff. Als Kontroverse sind hier u. a. die Fragen behandelt »An ex dignitate majestatis & usu publico sit, regem religioni & pietati incumbere?«; »An lectio sacrae scripturae & controversarium cognitio Principi sit conveniens?«; »Utri levius ferendi, qui novas formando statui religiones inducunt, an qui inventis se applicant?«; hier (S. 609) die grundsätzliche Vorentscheidung: »Quaestio non tam de foro conscientiae quam de utilitate fori, nec tarn de animorum quam de regni tranquillitate capienda.« Diese These wird dann im Responsionsverfahren freilich abgeschwächt. Die Hervorhebung der praktischen »pietas« des Einzelnen als Kriterium eines christlichen Lebens (dazu S. 611) entspricht biographisch ablesbaren Haltungen führender »Politiker«: Bernegger wurde wegen seines religiösen Indifferentismus von der Straßburger Orthodoxie angegriffen, Forstner wandte sich gegen Ende seines Lebens einem pietistischen Frömmigkeitsverständnis zu.

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Vgl. Forstner, Notae (wie Anm. 5), S. 187ff., zu den zeitgenössischen Praktiken bes. S. 193f.: »[...] Porro quamvis parum utilitatis, & minus gloriae habeat mos ille, quo nostri duces, cum satis in rústicos desaevierunt, ne nihil egisse videantur, interdum castellum aliquod vel oppidulum oppugnant, capiuntque; quod mox superveniente hoste, nullo negotio recipitur; ut saepius observatum sit, ter quaterque castellum aliquod captum, iterumque eodem bello amissum esse: attamen munitas urbes, hostilis annonae conditoria, armorum fabricas, exercituum refugia, vel aliam minora loca [...] post terga intacta relinquere, nulla ratio persuadere potest. Postremo ne erremus, monendi sumus, longe aliam etiam hodie esse conditionem temporum, ac olim & genere pugnae armorumque differre nostra ab antiquis seculis.« Vgl. Michael Stolleis: Arcana imperii und Ratio status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts. Göttingen 1980 (Veröffentlichungen der Joachim JungiusGesellschaft Nr. 39). Hier zum Zusammenhang von Tacitismus und Machiavellismus.

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instrumentelle Doppelgesichtigkeit von »Tugenden« und »Lastern«, vor allem aber die Spannung von »fides« und »dissimulatio« als epochale Dissoziation von Gewissensethik und machttaktischem Habitus. Der junge Veit Ludwig von Seckendorff etwa sprach bei Boeckler 1643 über das Thema: »Tiberii Revelati forma sive Ratio status aperta facie deprehensa«.39 5. Daß beim Tacitusstudium die Thesen Machiavellis zur Debatte standen, ist bekannt und braucht hier nicht weiter erläutert zu werden. Es fehlte nicht an der obligaten Polemik gegen den »coryphaeus Politicorum«,40 doch daneben war man durchaus illusionslos. Forstner, der bedeutendste deutsche Tacitist, von Lohenstein gelesen und noch von Friedrich Karl von Moser gelobt,41 stellte gelassen fest:42 Denn so wie nicht neu ist, was der unfromme N. M. an >arcana dominando und verbrecherischen Machenschaften notierte, so entspricht es nicht den Tatsachen, daß die Menschen gut und böse sind. Ich möchte sagen, daß nicht nur schon bei den Alten das in die Tat umgesetzt wurde, von dem wir annehmen, es habe N. M. erfunden [...], sondern daß es auch gebilligt und von den größten Männern verteidigt worden ist.

Mehr jedenfalls als die »arcana dominandi« irritierte die sozusagen religiöse Obdachlosigkeit der taciteischen Geschichtsbetrachtung. Hier lag eine Herausforderung gültiger Denksysteme, die schwerer wog als die Enthüllung skrupelloser Praktiken.43 Und doch gehört auch dieser Zug des antiken Werks zu seiner Attraktivität. Erlaubte es doch, politische Abläufe gleichsam zu renaturalisieren, konfessionelle Gesichtspunkte zu vernachlässigen und moralische Urteile mit dem Studium psychologischer Mechanismen zu verknüpfen. 6. Um Tiberius und die anderen Kaiser herum gruppierte sich ein moralisch und pragmatisch hervorragend zu typisierendes Figurenarsenal, ein Feld charakterologischer Studien: in der Spannung zwischen dem »bonus consi39

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Das entsprechende Programma Academicum ist abgedruckt in Boecklers Orationes (wie Anm. 2), S. 381-385; bei Tiberius ging es um den Befund (Boeckler, Inst., S. 420: »Virtutes artificiose & ad splendorem Maiestatis usumque regnandi dispensavit«, demgemäß um die Feststellung (ibid., S. 323 zu Ann. IV, 1), »virtutes non minus noxios esse quam vitia.« Eine politisch zusammenfassende Darstellung der Herrschaft des Tiberius lieferte Boeckler in seiner 1636 gehaltenen, die Annalen-Vorlesung rekapitulierenden Rede »Post absolutum [...] Principatum Tiberianum veluti (das Folgende im O. griechisch) epikritike anakephalaiosis«, in: Orationes (wie Anm. 2), S. 301-322. So Lentulus: Arcana (wie Anm. 6), S. 47 u. ö.; mit diesem Titel wurde auch Tiberius belegt. Vgl. auch Bernhard Asmuth: Lohenstein und Tacitus. [...], S. 185, 236. Auf den politischen Tacitismus geht Asmuth nur sehr beiläufig ein. - Friedrich Karl von Moser: Zum Gedächtnis des großen und gelehrten Staatsmannes Christoph Forstner, in: Patriotisches Archiv 4 (1786), S. 107-162; vgl. auch das Urteil von Johann Jacob Moser: »Er passirte, wie in seinem Leben, so noch biß diese Stunde für einen der grösten, gelehrtesten und vernünftigsten Staats-Männer, die jemals gelebt haben.« (J.J. Moser: Bibliotheca juris publici Sancti Romano-Germanici Imperii, Bd. 1-3. Stuttgart 1792-1734, hier Bd. 2, S. 761-765). Forstner: Notae (wie Anm. 5), S. 290: »Tarn enim non sunt nova, quae impius Ν. M. dominandi arcana, scelestasque artes notavit, quam non est, esse homines bonos & malos! Non dicam usurpata duntaxat veteribus, quae nos inventa N. M. vocamus [...] sed probata etiam, & a maximis vins defensa.« Vgl. Forstner, Notae (wie Anm. 5), S. 275ff.

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liarius«, der ggf. auch unter einem »malus princeps« seine Pflicht tut (ein sehr wichtiger Punkt) und z. B. Sejan, dem türkischen Günstling, den man mit Kardinal Khlesl oder Wallenstein vergleichen konnte,44 ganz zu schweigen von der im älteren Deutschland ganz ungewohnten Rolle der höfischen Frau.45 7. Schließlich das Paradigmenspektrum der Militärrevolten und städtischsenatorischen Verschwörungen unter Nero. »Diese Zeiten sind die eines Thrasea«, schrieb Bongarsius an Lipsius. Gryphius berief dies Exempel stoischer libertas zu Beginn seines Papinian-Dramas, Thraseas letzte Worte wirkten offenbar wie ein Fanal gegen die »Accomodation« an den »genius saeculi«.46 8. Politisches Handeln war diplomatisches, also sprachliches Handeln par excellence. Als Stilbewegung gehörte der Tacitismus zur gegenklassischen Wendung der frühbarocken Rhetorik, die zugleich einen Widerruf klassizistischer Regulative, eine schichtenspezifische Abkehr von wichtigen elocutionellen Normen des Schulhumanismus bedeutete. Die Varianten der neuen Diktion ließen sich aus der charakteristischen »brevitas« des taciteischen Stils selbst ableiten, bewährten sich jedenfalls vor allem beim Herrscher, wie Boeckler sagt: »in occultanda animi sententia« oder »in formanda ad decoram speciem oratione«.47 Argute »Dunkelheit« und ornamentaler »Schwulst« erwiesen sich so als komplementäre Erscheinungsformen der politischen »simulatio & dissimulati©«, das »ingenium« des Sprechers und des Hörers hatte sich im Vorgang der Verschlüsselung und Entschlüsselung zu bewähren. Ich habe darüber an anderer Stelle gehandelt48 und möchte diesen entschieden politischen, auch

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Khlesl bei Boeckler: Seculo IV à Christo nato priora [...]. Frankfurt-Leipzig 1699, S. 55 (mit Hinweis auf »Baronis Enenkelii Latinum, titulo Sejanus, occasione Cardinalis Cleselii; Verf. also wohl Job H. oder Georg Achaz von Enenkel); Sejan bei Jacob Balde S.J. in einem Gedicht zu Wallensteins Tod (Od. II, 37); Sejan als Prototyp zahlreicher Figuren der neueren europäischen Geschichte bei Forstner: Notae (wie Anm. 5), S. 350ff., 585ff. So Boeckler in einem Katalog der höfischen Machtkämpfe (In quinqué libros, s. Anm. 2, S. 32f.): »Quantae contentiones, molitiones, obtractationes si in plures divisa sit Principum potentia? Quod si unus rerum summam in aula tenet, per quot semitas, & divertiuncula, vel declinandum est iter, ad Gratiae aulicae, non dicam adyta, sed limina? Saepe tamen per devia, saepe per saltum, saepe per moras, praecurrunt, quibus favet tempus, & aulici genii, quo nihil incertius, lubido. Neque enim hoc negotium, in praecipuorum aulicorum manu semper positum est. Nonne feminarum lata hic & ampia gratia? [...]» Ann. XVI, 2: »[...] ceterum in ea tempora natus es, quibus firmare animum expediat constantibus exemplis.« Zu den erwähnten und weiteren Belegen, die sich vermehren ließen, s. Kühlmann (wie Anm. 3), passim (vgl. Register sub verbo); vgl. auch Verf.: Der Fall Papinian. Ein Konfliktmodell absolutistischer Politik im akademischen Schrifttum des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von ElgerBlühm, Jörg Garber, Klaus Garber. Amsterdam 1982 (DaphnisBd. 11, Heft 1-2,1982), S. 223-252. Boeckler: Institutiones (wie Anm. 2), S. 420: »Cum minime Regium duceret, sensus Principis profanis obtutibus patere, ambigua & implexa oratione usus est, qua sibi semper integram interpretationem reservavit.« - (Die komplementäre Alternative) »Interim cum dignitatem curia, aut negotium auctoritatem postularet, speciosissimo ore, & compositis in publicam magnificentiam verbis utebatur.« Kühlmann (wie Anm. 3), bes. S. 220-254.

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als politisch erkannten Grundzug epochaler literarischer Stilqualitäten nur noch einmal hervorheben. Hier liegt ein wichtiger, wenn nicht der entscheidende Ansatz für eine sozial- und funktionsgeschichtliche Analyse des sog. Barockstils und seiner koexistenten Gegenbewegung. Ergänzend zu diesem Gesichtspunkt, der vor allem die Diskussion der Darstellungssprache des Tacitus angeht, tritt das offensichtliche Bestreben der Kommentatoren, für alle herrschafts- und gesellschaftsspezifischen Kasus der Beredsamkeit und ihre »colores politici« an Tacitus, d. h. an die Rede dargestellter Figuren anzuknüpfen. Dies gilt für die Zone scherzhafter Geselligkeit und sententiösen Scharfsinns, genauso aber für die Panegyrik oder die repräsentative Herrscherrede vor jeweils verschiedenem Publikum. Doch auch hier dominierte die Analyse des situativen und pragmatischen Redeverhaltens. Beispiel dafür etwa ist die große Aufmerksamkeit, die Boeckler den Reden des Galba und des Piso (Tac. Hist. I, 14ff.) widmet.49 Kennzeichnend für das vorwaltende Erkenntnisziel ist dabei die Bemerkung: Nichts werden wir über die Kunst der Rede sagen, soweit es die [Schul-] Rhetoren betrifft. Vielmehr werden wir auf beiden Seiten manches lernen, soweit es sich um die Behandlung einer politischen Entscheidung handelt.

Der Erörterungswert dieser Tacituskapitel ergibt sich aus dem illustrierten politischen Sachverhalt. Es geht um die Herrschersukzession, ein wichtiges Teilgebiet des »jus politicum«: Die antike Adoptionsregelung widersprach dem Prinzip der dynastischen Erbfolge und der »electio« des Kaisers durch die Kurfürsten. Boeckler weiß, daß hochaktuelle deutsche Fragen sich aufdrängen. Der antike Präzedenzfall macht nachdenklich und konfrontiert den Betrachter mit dem Problemkomplex monarchischer Legitimität. Boeckler hält sich nach dem Prinzip des »custodite loqui« sprachlich bedeckt, weil es letztlich auch um die Ursache des Dreißigjährigen Krieges geht, die böhmische Thronfolge. Das Problem wird dadurch noch komplizierter, daß auch der Winterkönig seinerzeit ja von den böhmischen Ständen durch »electio« berufen wurde. Als Urteilskriterium bleibt letztlich nur die Analyse des gegebenen »status civilis«, d. h. aber die Kalkulation der tatsächlichen Machtverhältnisse.50 Ansonsten ist nicht zu verneinen, daß es Zeichen einer Weisheit ist, die größere Sicherheit verspricht und der Ruhe des menschlichen Lebens besser angepaßt ist, wenn der Schutz der

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Boeckler: In quinqué libros (wie Anm. 2), S. 33ff.; das folgende Zitat S. 33: »Nihil dicemus de arte orationis, quatenus ad rhetoras spectat. sed quatenus consilii politici est tractatio, quaedam de utraque parte delibabimus.«

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Ibid., S. 34: »Alias negandum non est, tutioris & ad vitae Humanae tranquillitatem accomodatioris sapientiae esse, Regnorum tutelam successione generis, quam electione meritorum definire. Quamquam enim longe magis speciosa sint, quae pro Electione iactantur, in rebus humanis tarnen praecipua commendationis ratio ex usu tractatuque rei, ex facúltate & difficultate arcessenda est. [ . . . ] Frustra scilicet in civilis vitae statu actuque pro optimis venditari existimat, quae vix obtineri, certe non custodiri possunt in eo habitu, qui aliquid utilitatis promittit.« Vgl. auch die Behandlung des Themas in Boecklers Institutiones (wie Anm. 2), S. 387ff. (mit schließlichem Rekurs auf die biblische Begründung des Königtums).

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Reiche durch dynastische Erbfolge als wenn er durch die Wahl nach Verdiensten bestimmt wird. Denn obwohl das bei weitem eindrucksvoller ist, was für das Wahlverhalten ins Feld geführt wird, so muß trotzdem das in den Verhältnissen der Menschen vernünftigerweise zu Empfehlende aus der gewohnten Behandlung einer Sache, aus dem Abwägen von Tunlichkeit und Schwierigkeit abgeleitet werden. [...] Denn wer etwas von Nutzen verspricht, glaubt vergebens bei dem tatsächlichen Zustand des bürgerlichen Lebens etwas für das Beste zu verkaufen, was kaum erlangt, gewiß nicht in diesem Zustand bewahrt werden kann.

Die Stelle zeigt exemplarisch, wie »civilis prudentia« und »pragmatisches Urteil« in einem Modellfall vermittelt wurde, der nur als Herausforderung dynastischer Ansprüche verstanden werden konnte. »Similitudo temporum« zwischen Kaiserzeit und Gegenwart als Analysekonzept enthüllt sich hier auch als potentielle Erfahrung eines fremden politischen Handelns, das einerseits Theoreme aktivierte, die in der gegebenen politischen Situation nur vorsichtig zu umschreiben waren, das jedoch andererseits auch zur Stellungnahme herausforderte. Boecklers Formulierung weist auch hier nicht auf eigene Überzeugungen, sondern auf die politischen Umstände, in denen politische Meinungen erwünschte oder unerwünschte Folgen nach sich ziehen:51 So weiß ich nicht, ob jemand im Deutschen Reich, um ein naheliegendes Beispiel anzuführen, den Namen eines guten Bürgers behalten kann - gewiß wird er den Makel einer augenfälligen Unklugheit nicht vermeiden - , der gegen Sitte und Rechte des Wahlverfahrens, die durch so heilige Gesetze begründet, durch so viel gefährliche Mühen früherer Zeiten verteidigt sind, zu disputieren oder blindlings seine eigenen Weisheiten vorzutragen wagt.

9. Ein Aspekt, auf den ich nur stichworthaft verweisen kann: Auch zu Beginn des 17. Jahrhunderts verläuft, im Anschluß an die entsprechende Literatur der Renaissance, eine wichtige Argumentationslinie der nationalen und reichspatriotischen Selbstverständigung weiterhin im Anschluß an die Rezeption von Tacitus' Germania und die entsprechenden Passagen der Kaiserhistorie. Die Frage, wie hier im einzelnen aktuelle politische Gehalte eingeblendet wurden, würde eine nähere Untersuchung verdienen. IV In knappen Thesen und Beispielen habe ich bisher die maßgeblichen Vertreter des deutschen Tacitismus vorgestellt, die historischen Rahmenbedingungen ihres Schaffens skizziert und die Erörterungsziele sowie Verständigungsinteressen der prudentistischen Tacitusexegese umrissen. Ich gehe nun über zu ergänzenden Beobachtungen, die das Formenspektrum dieses Textkorpus, seinen gesamteuropäischen Rezeptionshorizont sowie die von den Verfassern beabsichtigten Modalitäten des Textumgangs betreffen.

Ibid., S. 43f.: »Sic in imperio Germanico, ut exemplum e propinquo petamus, nescio an boni civis nomen tueri possit, insignis certe imprudentiae notam non effugiet, qui adversus morem & jura Electionis, tam sanctis legibus constitutae, tot laboribus ac discriminibus priorum temporum defensae, disputare aut importune sapere ausus fuerit.«

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Die Literatur des deutschen Tacitismus entfaltete sich in der Spannweite zwischen den eingebürgerten Schreibweisen des akademischen Kommentars bzw. der rhetorisch-dialektisch behandelten »quaestio« und den offenen Diskursformen, die sich - im Vorfeld der späteren Essayistik52 - zunächst in Italien, später auch in Frankreich herausbildeten. Über diese romanische Tacitusliteratur gibt es eine reiche Forschungsliteratur,53 während der deutsche Flügel dieser gesamteuropäischen Bewegung bisher kaum beachtet wurde. Wir haben es, wie bereits angedeutet, zu tun mit folgenden Textgruppen: 1. mit programmatischen Reden deklamatorischen Charakters, gedacht als Hinführung zur Tacituslektüre, zumeist im Zusammenhang von Vorlesungen gehalten;54 2. mit Einzeldissertationen, zum Teil in Kommentarform, zum Teil auf Sachfragen hin angelegt, die manchmal als Sammelwerke publiziert wurden. Zu beachten ist, daß nicht nur Professoren der Geschichte und Politikwissenschaft, sondern auch Moralphilosophen den Tacitustext in ihrer Lehrtätigkeit verwandten;55 3. mit Kommentaren, die den Text linear begleiten und diesen passagenweise in teils knappen Glossen oder Stellungnahmen, teils längeren Ausführungen erörtern. Diese Exkurse entwickelten sich bei einem Praktiker wie Forstner zu historisch reich belegten Fallstudien, in denen das Exempelmaterial auf die handlungsleitenden »Consilia« hin befragt wurde. Bei akademischen Lehren dominierte das Interesse an der Schematisierung von politischen Zweifelsfragen (»Dubia«), die bei Lentulus kontrovers, z. T. in Wechsel von »quaestio« und »responsio«, oder - bei Boeckler - mit dem Ziel klarer Begriffsdistinktionen abgehandelt wurden; 4. mit Sammlungen von politischen Aphorismen und »Regulae«, nicht zuletzt von Guicciardinis Ricordi angeregt, darunter auch Florilegien, die 52

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Vgl. Peter M. Schon: Vorformen des Essays in Antike und Humanismus. Wiesbaden 1954 (Mainzer romanistische Arbeiten 1). Neben dem Buch von Etter (wie Anm. 3) sind vor allem zu nennen: Guiseppe Toffanin: Machiavelli e il »Tacitismo«, la »politica storia« al tempo della Controriforma. Padua 1921; Arnaldo Momigliano: The first political Commentary on Tacitus, in: The Journal of Roman Studies XXXVII (1947), S. 91-101 ; Jürgen von Stackelberg: Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich. Tübingen 1960; Etienne Thuaut: Raison d'Etat et Pensée Politique à l'Epoque de Richelieu, o. O. o. J. (Athen 1966); Peter Burke: Tacitism, in: Tacitus ed. T.A. Dorey. London 1969, S. 149-171; Kenneth C. Schellhase: Tacitus in Renaissance Political Thought. Chicago-London 1976; J. H. Whitfield: Livy-Tacitus, in: Classical Influences on European Culture A.D. 1500-1700. Ed. R.R. Bolgar. Cambridge usw. 1976, S. 282-294, sowie ibid. A. La Penna: Vivere sotto il tiranni: un thema tacitiano da Guiccardini à Diderot, S. 294-304. Neben den bereits erwähnten Reden Boecklers vgl. besonders drei Reden des Daniel Heinsius, in: ders.: Orationum Editio Nova. Amsterdam 1657, Nr. XV-XVII, S. 166-199. Ich stieß auf eine längere Dissertation des aus Ungarn stammenden Johannes Feyerabend, angefertigt unter dem Straßburger Professor für praktische Philosophie Jacob Schaller: Manius Lepidus sive Bonus Consiliarius sub Malo Principe. Ex Taciti Annalium IV. 20.2. delineatus. [...] Straßburg 1651 (HAB Wolfenbüttel, 34.16. Pol. fase. 25).

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fast nur aus Tacitus schöpften.56 Diese teils assoziativ, teils - wie bei Lipsius - systematisch geordneten Sammlungen konnten durch historische Belege abgesichert, die Analyse solcher Präzedenzfälle wiederum im Hinblick auf die praktische Applikation der politischen Gemeinplätze hin angelegt werden. Lentulus z.B. beleuchtet das Axiom »rarus virtuti ad superborum regum gratiam aditus« anhand des Verhältnisses von Memmius Regulus zu Nero (Tac. Ann. XIV, 47), um dann im einzelnen die Verhaltensmaximen und Voraussetzungen zu formulieren, die auf die Frage Antwort geben: »Was also entriß den Regulus den Händen eines Tyrannen, der vor den Guten einen Abscheu hatte?«57 Aus dem - als Synthese historischer Erfahrung - besprochenen Gesichtspunkt der »virtus invisa« findet er den Übergang - im »locus a contrario« - zu einer knappen, vernichtenden Karikatur des servilen Höflings58 und zur Übertragung

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In einer noch ausstehenden Rezeptionsgeschichte der italienischen Literatur im Deutschland des 17. Jahrhunderts müßte Guicciardini einen wichtigen Platz einnehmen. Seine Ricordi erschienen in Deutschland in lateinischer Übersetzung: Hypomneses Politicae Domini Francisci Guicciardini [...], in: Speculi aulicarum atque politicarum Observationum Libelli Tredecim [...], Straßburg 1621; Caspar Ens (nicht »von Ens« wie vielfach zu lesen!) gab »Axiomata seu selectissimae Sententiae ex Historia Francisci Guicciardini collectae« in seinem »Nucleus Historico-Politicus« heraus (Köln 1618 u. ö.) und veröffentlichte - zum Sprachenstudium - ibid. 1622 Guicciardinis Höre di Recreatione in einer italienisch-französisch-deutschen Version. Eberhard von Weyhe (1553-1633, im Dienst u. a. des Herzogs Friedrich-Ulrich von Braunschweig) bezieht sich in der Vorrede seiner Maximensammlung (Aulico-Politicus. Hannover 1596, unter Pseudonym, danach Frankfurt 1615) auf Tacitus und die italienischen Vorbilder Guicciardini, Lottini und Sansovino. Man stößt auf diesem Sektor der aphoristisch-apophthegmatischen Sammlungen immer wieder auf apokryphe Texte wie z. B. (den italienischen Rezeptionskreis betreffend): Caroli Moscheni, Anconitati [...] Tacitus Historiatus, Sive Aphorismi Politici, Taciti Regulis accommodati, ex idiomate Italico in Latinum transfusi [...] Tradente Jacobo Le Blev V.I.D. & P.P.; Giessen 1667; Insigniores Aphorismi: Erlesene Kriegs und Regenten Regulen. Auß Cornelio Tacito Historicorum Principe. Mit schönen nutzlichen Lehr=Puncten neben historischen observationibus. Durch Quirinum Ertzbischofen zu Nixia und Pavia Italienisch: Jetzo aber in Hoch Teutschem vorgestellt Durch Georgium Fridericum Messerschmidt. Not. Caes. Pubi. Gedruckt zu Heylbronn bey Christoff Krausen. Anno 1633. Der Zeitpunkt gerade dieser Publikation ist äußerst interessant! Das Buch wendet sich offensichtlich an die Stände des Heilbronner Bundes (1633), versteht sich als eine Art Handreichung für die politische Entscheidungsfindung. Der Übersetzer, mit Sebastian Hommolt, dem Württembergischen Rat bekannt, trat auch sonst als Übersetzer italienischer Literatur hervor. Zu den hier im Zusammenhang genannten italienischen Verfassern kann ich im gegebenen Rahmen nur auf die zitierte Forschungsliteratur sowie auf T. Bozza: Scrittori politici italiani dal 1550 al 1650(1949), verweisen. Vgl. zur Textsorte auch S. Anglo: Aphorismes politiques. Evolution d'une fragmentation systématisée, in: L'Automne de la Renaissance. Ed. par Jean Lafond et André Stegmann. Paris 1981, S. 271-281. - An spezifisch tacitistischen Sammlungen deutscher Gelehrter notiere ich noch: Johannes Theodorus Sprengerus: Tacitus Axiomaticus de principe, ministris & bello cum sacris exemplis & Thucydide locis congruis sparsim collatus. Frankfurt 1658; femer (mir nur aus Lipenius bekannt) Georg Schöbel(ius) - aus dem Umkreis Zesens - : Flores ex Cornei. Taciti Horto decerpti. Leipzig 1665: Theodor Steinmetz: Flores Politici ex Corn. Taciti Annalibus & Historiis. Erfurt 1669; Frankfurt-Leipzig 1672. Lentulus: Princeps absolutos (wie Anm. 6), S. 266f.: »Quid igitur manibus tyranni, bonos reformidantis, Regulum eripuit?« Ibid., S. 267: »Ita fit, ut his a conspectu fugatis, mancipia ventri & inguini servientia, hebetis ingenii, & veritatem fugientia, dignum tali palatio consortium, in oculis & in commercio ferant.«

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des gegebenen »theorema« auf ein analoges Beobachtungsfeld: »Rara virtuti ad pecuniam, alterum mundi tyrannum, accessio«; 5. mit einer weitläufigen Traktatliteratur zum Thema Hof- und Fürstenlehre, zur politischen Erziehung, Herrschaftstechnik und Staatsräson, die - wie schon in der Romania z.B. bei Botero - nicht selten Tacitus oder tacistische Publikationen benützt.59 Kennzeichnend für den Autorenkreis und die Gruppe der implizierten Leser dieses Schrifttums in Deutschland ist die Tatsache, daß hier das tacitistische Schrifttum durchweg lateinisch abgefaßt wurde. Übersetzungen in die Muttersprache kenne ich nicht. Dies entspricht dem auffälligen Befund, daß die Kaiserhistorien des Tacitus zwischen der Übersetzung des Micyllus (1535) und der deutschen Version des Carl Melchior Grottnitz von Grodnow (1657) nicht in deutscher Sprache erschienen.60 Man konnte sich zwar mit französischen Fassungen behelfen, doch die in erster Linie angesprochenen höheren Beamten rekrutierten sich aus dem Kreis der gelehrten Juristen bzw. der noch studierenden regimentalen Führungselite, für welche die Beherrschung des Lateinischen noch selbstverständlich war. Latein war aber offenkundig nicht nur - vorläufig noch - internationale Verkehrssprache, erst recht Sprache der Wissenschaft, es war auch Arkansprache, in deren Schutz man offener, an ein abgegrenztes Publikum sich wendend, über die »arcana« der Fürstenherrschaft reden konnte. Für die heutigen Leser ist der in diesem Rezipientenkreis vorausgesetzte Lektürestandard nicht selten unangenehm. Denn es fehlen oftmals nicht nur die Stellenangaben der angegebenen Tacitusbelege, das betreffende Kapitel wird auch - so bei Forstner - nur kurz anzitiert, der Wortlaut des Bezugstextes als bekannt oder jederzeit greifbar vorausgesetzt. Dies hängt damit zusammen, daß die Kommentare nicht - oder jedenfalls nicht primär - auf eine sukzessive Lektüre der antiken Vorlage hin angelegt waren. Kommentare wurden offensichtlich mit Hilfe des Registers benutzt, im Verfahren der historischen Konsultation. Unterschiede ergaben sich dabei in der Aufschlüsselung unterrichtsbezogener und historisch-pragmatisch konzipierter Sammlungen. Lentulus bringt anhangsweise eine detaillierte Liste der behan-

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Zeitgenossen (Conring, Boeckler) sprachen von einer »Welle« politischer Literatur, die zu Anfang des neuen Jahrhunderts über Deutschland hereinbrach. Die einschlägigen Themenund Textgruppen - unser Untersuchungsfeld bildet nur ein begrenztes Spektrum - sind sehr hilfreich erschlossen von Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus und Absoluter Staat. [...] Wiesbaden 1970 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 55). Seit 1653 Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft (Nr. 601, »Der Behütende«), Verfasser auch eines »Teutsch gekleideten Regiments-Rats« (Stettin 1647). Grodnow mag zu seiner Tacitus-Übersetzung durch die Bemegger-Schule angeregt worden sein. Er war zeitweise Hauslehrer der jungen Pfalzgrafen Christian und Johann Carl und hielt sich im August 1647 noch im Elsaß auf: nach der Erwähnung in einem Brief des J. Rompier von Löwenhalt, abgedruckt bei Anna H. Kiel: Unveröffentlichte Briefe des Jesaias Rompier von Löwenhalt an Johann Heinrich Boeder, 1647-1648, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. 56 (1943), S. 235-255, hier S. 241.

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delten Quaestionen, Forstner jedoch ordnet seinen Index nach thematischen Lemmata. Die unter dem Stichwort »princeps« subsummierten »casus« und »Consilia« lesen sich wie eine umfassende Phänomenologie des fürstlichen Handelns und Verhaltens. Den deutschen Tacitisten waren die italienischen Kommentatoren bekannt, obwohl deren Schriften nur zum kleinsten Teil, wenn nötig in lateinischer Fassung, in Deutschland verlegt wurden. Scipio Ammiratos berühmte Discorsi sopra Cornelio Tacito (Florenz 1594) fanden vor allem Verbreitung in der lateinischen Übersetzung des Julius Pflug (Frankfurt 1609, 1618).61 Forstner stützte sich besonders auf Boccalini, nicht nur auf dessen Ragguagli del Parnasso (Venedig 1612/13), sondern - das wäre zu überprüfen - vielleicht auch auf dessen lange Zeit nur handschriftlich umlaufenden Tacituskommentar (Amsterdam 1677).62 An seinen Notae ad Taciturn begann Forstner nämlich während der Studienzeit in Italien, bei Aufenthalten in Padua und Venedig zu schreiben. In Padua erschienen 1626 die Noten zu den ersten sechs Büchern der Annalen, gedacht nicht zuletzt als »antischolastische« Kampfschrift, dem Dogen von Venedig gewidmet.63 Die italienischen Eindrücke mögen Forstner dazu veranlaßt haben, mehr als andere deutsche Kommentatoren in der italienischen Geschichte, in der Geschichte von Florenz vor allem, Herrschaftsphänomene und die Spannung von »libertas« und Autokratie zu studieren. Forstner hat das gesamte europäische Schrifttum der antiken und modernen Historiker gelesen, auch die Autoren der älteren Kaisergeschichte, doch den Werken von Francesco Guicciardini (Historia di Italia, Florenz 1561, vollständig Venedig 1567) und Jaques Auguste de Thou (Historiae sui temporis-, Paris 1604ff.) kam offenbar ein besonderer Informationswert zu. Was Forstner auszeichnet, ist nicht nur diese Weite des Reflexionshorizonts, sondern auch die persönliche Perspektive, seine spontane Urteilsfreude und der immer wieder durchscheinende autobiographische Hintergrund seiner Deduktion von historischer Erfahrung. Forstners Abspiegelung von Gegenwart im Vergangenen bleibt nicht stecken in der Reihung von Exempeln und der Formulierung von allgemeinen Handlungsvorschlägen, sondern stößt immer wieder auch zu handfester Kritik zeitgenössischer Realität vor, etwa im Blick

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Ferner Pietro Canonieri (Canonherius): Dissertationes Politicae, acc. Discursus vani in C. Cornei» Taciti annalium libros [...]. Zuerst Venedig 1609, dann Köln bzw. Frankfurt 1610; vorher schon eine Ausgabe von Annibale Scoto: In P. Comelii Taciti Annales et Historias commentarli ad politicam et aulicam rationem praecipue spectantes. Rom 1589, danach Frankfurt 1592. Ein weiteres Indiz für die weitverzweigte Boccalini-Rezeption gerade in Deutschland, für deren Kenntnis wir nach wie vor zurückzugreifen haben auf Paul Stötzner: Der Satiriker Trajano Boccalini und sein Einfluß auf die deutsche Literatur, In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literatur 103 (1899), S. 107-147; vgl. auch Manfred Kremer: Die Rezeption der italienischen religiösen Polemik und politischen Kritik im Deutschland des 17. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, 8 (1980), S. 18-23. Vgl. Etter (wie Anm. 3), S. 186f.

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auf die Mißstände des Gerichtswesens oder den Luxus des oberösterreichischen Adels.64 Die tacitistische Literatur in Deutschland ist also - ich komme zu einigen abschließenden Bemerkungen - ein wichtiger Quellenfundus für die literarische Verarbeitung politischer Prozesse des frühen 17. Jahrhunderts, für die »Akkomodation« humanistischer Literarizität an eine sich wandelnde Publikumsstruktur und die damit verbundenen aktuellen Verwendungsbedürfnisse akademischer Literatur im Grenzraum von Universität und gelehrter Beamtenschaft. Die politische Wendung des deutschen Humanismus beginnt nicht erst bei Christian Weise,65 sie beginnt gut fünfzig Jahre früher, wenn man den Blick nicht auf die historisch eher marginale, zudem hochschematisierte Tradition der rhetorischen Didaxe verengt. Das humanistisch-lateinische Schrifttum erwies sich so immer noch als selbst historisch wandlungsfähig, in gemeineuropäischen Zusammenhängen stehendes Artikulationsmedium der seinerzeit dringlichen Problemzusammenhänge, Denkpostulate und Darstellungsbedürfnisse. Im Gesamtfeld der politischen Literatur der Zeit gewinnen wir bei der Lektüre der deutschen Tacituskommentatoren auch einen weiterführenden Ansatz zur funktionsanalytischen Würdigung nicht nur der Themen und Argumentationsformen des barocken Trauerspiels, sondern auch der rhetorischen Wirklichkeitsdarstellung und Wirklichkeitsverhüllung im politisch-heroischen Roman. Barclays Argents, von Opitz übersetzt, gehört zum Belegfundus des von mir hier in einem ersten Umriß vorgestellten Schrifttums.66

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Forstner (wie Anm. 5), S. 213ff. (zu Ann. II, 34, 1): »Haec etiamnum optimi cujusque querela est. Unde factum, ut jura & judicia, res sanctissimas & humano generi salubérrimas cuncti abhorreant, abominentur, detestentur: vereque dici possit, tres esse Iustitiae capitales pestes, corruptos judices, longas ac pene aeternas lites, & denique advocatorum inscitiam improbitatemque. D e singulis quaedam ad hunc locum notabo [ . . . ] « - I b i d . , S. 581 f. (zu Tacitus Ann. III, 5 5 , 2 : »Dites olim familiae studio magnificentiae prolabebantur.«): »Haec causa plerasque in Austria mea dites olim nobilium familias afflixit. Incredibile est, quantum prodegerint in luxu mensae, vestís, equorum, domestici instrumenti. Sola Bacchanalium insana pompa, in honorem Caesaris (ita loquebantur, instituta) integra patrimonia abligurivit [...]«

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Weises Lehrer Friedrich Franckenstein ließ Gruters Tacitus-Discurse (s. Anm. 7) 1679 neu drucken. Bamer (Barockrhetorik. Tübingen 1970, S. 198f.) weist die These zurück, Weises »politische Lebenslehre« sei von Franckenstein bereits beeinflußt und stehe damit auch in der Kontinuität der politisch-historischen Philologie. Im Lichte des hier behandelten Schrifttums wäre die Frage neu zu bedenken.

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Boeckler z.B. tadelt eine Stelle aus diesem Roman (»dissertatio de natis Regibus« als zu wenig »iudicio politico attemperata« (In libros quinqué, s. Anm. 2, S. 37).

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Ein schlesischer Dichter am Oberrhein. Unbekannte Gedichte aus der Straßburger Studienzeit Daniel von Czepkos

Die wichtigsten Werke des schlesischen Dichters Daniel von Czepko (1605-1660) wurden zu seinen Lebzeiten nur handschriftlich verbreitet. Erst die Ausgabe der geistlichen Schriften und weltlichen Gedichte durch Werner Milch (Breslau 1930 bzw. 1932; Nachdruck Darmstadt 1963) machte seine Produktion einem breiteren Publikum bekannt.1 Czepko war ein universaler Geist: Gelehrter in der Tradition des Humanismus, religiöser Grübler, Naturphilosoph, Diplomat und Verwaltungsbeamter. Im Spektrum dieses Wirkens offenbart sich nicht nur eine vielschichtige Persönlichkeit, sondern auch eine von großen Spannungen durchzogene Zeit. In der Forschung fand insbesondere das geistliche Schrifttum Interesse. Lyrische Sammlungen wie Das innwendige Himmel Reich zeugen von der Kontinuität mystischen Denkens. Czepkos Sexcenta Monodisticha Sapientium wirkten auf den Cherubinischen Wandersmann des Angelus Silesius. Freilich entstanden diese Dichtungen erst nach der endgültigen Rückkehr Czepkos nach Schlesien und unter dem Einfluß religiös erregter Zirkel des dortigen Landadels. Eine andere Seite von Czepkos Schaffen, die sich später nur noch hin und wieder manifestiert, weist auf die Bemühungen um die Begründung einer deutschsprachigen, vom späthumanistischen Kunstverständnis geprägten Dichtung im Umkreis von Martin Opitz. Der folgende Beitrag trägt zur Kenntnis dieser Frühphase in Czepkos Leben und Werk bei. Es wird wie im Falle zahlreicher anderer Schlesier (ja wie im Hinblick auf die Impulse der frühbarocken »Moderne« schlechthin) von neuem Eine Bibliographie der Schriften Czepkos sowie der Forschungsliteratur findet sich bei Erdmann Neumeister: De Poetis Germanicis. Hg. von Franz Heiduk in Zusammenarbeit mit Günter Merwald. Bern-München 1978, eine kommentierte Edition des 1695 erschienen Nachschlagewerkes; dazu ist zu ergänzen: Sibylle Rusterholz: Rhetorica mystica. Zu Daniel Czepkos Parentatio auf die Herzogin Louise. In: Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Bd. 2 (1979), S. 235-253; Bernard Gorceix: Natur und Mystik im 17. Jahrhundert. Daniel Czepko und Catharina Regina von Greiffenberg. In: Antoine Faivre/Rolf Christian Zimmermann (Hg.): Epochen der Naturmystik. Berlin 1979, S. 212-226; Marian Szyrocki (Hg.): Daniel Czepko von Reigersfeld. Ungedruckte satirische Gedichte. In: Germanica Wratislaviensia 32 (1978), S. 135-147. - Eine historisch-kritische Ausgabe, die Milchs Edition eines Tages ersetzen wird, hat soeben zu erscheinen begonnen: Daniel von Czepko. Sämtliche Werke, hg. von Marian Szyrocki und Hans-Gert Roloff. Bd. 4: ProsaSchriften 1. Berlin-New York 1980 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts); Werner Milch: Daniel von Czepko. Persönlichkeit und Leistung (Breslau 1934); ders.: Drei zeitgenössische Quellen zur Biographie Daniel von Czepkos. In: Euphorion 30 (1929), S. 257-281; Karl Theodorf Strasser: Der junge Czepko. München 1913.

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deutlich, welch bedeutsame Rolle die literarischen Zentren des Oberrheins Heidelberg und Straßburg - in der kulturellen Bewegung jener Zeit gespielt haben. Erst hier ergab sich für die zeitgenössische literarische Intelligenz der direkte Kontakt mit den literarischen Strömungen Westeuropas, die Begegnung mit einem Niveau von Dichtung, das zu erreichen sich die deutschen Poeten im Kreis der Sprachgesellschaften noch angestrengt bemühen mußten. Nach den bislang nicht überholten Forschungen von Milch und Strasser stellt sich der Werdegang des jungen Czepko (geb. am 23.9.1605) wie folgt dar: Nach dem Besuch der Lateinschule in Schweidnitz folgen zwei Studiensemester in Leipzig (Winter 1623 - Winter 1624). Spätestens im April 1624 finden wir den Dichter in Straßburg, dorthin empfohlen durch seinen Vetter, den Breslauer Stadtarzt Caspar Cunrad (1571-1633). 2 Czepko bleibt am Oberrhein bis zu seiner Rückreise nach Schlesien (Herbst 1626). An die Stelle der medizinischen treten nun juristische Studien. Bezeugt sind kleinere Ausflüge in die Schweiz und nach Frankreich. In Speyer wird die Gelegenheit genützt, sich mit der Organisation und der Praxis des Reichskammergerichts vertraut zu machen. Aus den Briefen an Bernegger geht aber keinesfalls hervor, daß sich Czepko, wie Strasser offenbar annimmt, seit dem Frühjahr 1625 im wesentlichen in Speyer aufgehalten hätte.3 Auch die im folgenden abgedruckten Gedichte widersprechen einer solchen Vermutung. Von Czepkos ersten poetischen Versuchen wissen wir wenig.4 Noch in die Schulzeit fallen lateinische Epigramme sowie ein kurzes Widmungsgedicht. Für 1624 ist ein lateinisches Epicedium bezeugt. In Straßburg entstehen dann undatierte Glückwunschoden für Bernegger sowie Xenien an Balthasar Venator. Dazu kommt 1626 eine pindarische Ode in einem Band mit Hochzeitsgedichten. Über einen gegenüber Bernegger brieflich erwähnten Euphormio läßt sich nichts ausmachen. Daß in den Straßburger Jahren, unter dem Eindruck der Werke von Martin Opitz, Czepkos eigene dichterischen Ambitionen geweckt wurden, belegen die von Milch in die Studienzeit datierten fragmentarischen Entwürfe größerer Werke: Das epische Bruchstück Sylvie aus dem Elsaß war eine Vorarbeit zu dem großen Schäfergedicht Coridon und Phylis, während sich unter dem Titel Die verliebte Venus eine Bearbeitung des Adonis-Themas frei nach Ovid verbarg.

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Vgl. zum folgenden Milch S. 7f.; Strasser S. 8ff. Cunrads Schreiben an Bemegger ist abgedruckt bei Alexander Reifferscheid (Hg.): Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland. Bd. 1 (mehr nicht ersch.): Briefe G.M. Lingelsheim, M. Berneggers und ihrer Freunde. Heilbronn 1889,Nr. 140,S. 185f. Hierauch weitere Briefe Cunrads mit Kommentar (vgl. den Index!). Czepkos Briefe an Bernegger bei Reifferscheid Nr. 162,164,214 und 229; die 1625 geschriebenen Briefe (162 und 164) wie das Schreiben von 1626 (214) können sehr wohl auch in Straßburg geschrieben sein. Schlußformeln wie das hier gebrauchte »in Eile geschrieben« haben topischen Charakter und lassen keinen Rückschluß auf die Tätigkeit des Verfassers zu. Vgl. den zusammenfassenden Katalog der Handschriften und Publikationen bei Milch (wie Anm. 1), S. 231 ff.; dazu Strassers Aufstellungen zu Beginn seines Buchs (wie Anm. 1).

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Milch verbindet diesen Befund mit der Feststellung, Czepko sei »nie ein Neulateiner gewesen« (S. 57). Das stimmt gewiß im Vergleich zum literarischen Profil der meisten Zeitgenossen. Das erste von drei unbekannten Gedichten, die ich in der Heidelberger Sammlung von Leichenpredigten gefunden habe (Ub Heidelberg, Sign. F 2791), belegt jedoch sehr wohl, daß sich Czepko souverän auf einem anspruchsvollen Niveau lateinischer Poesie zu bewegen vermochte. Es handelt sich hier (Fase. V, Nr. 5) um eine Elegie auf den Tod des holsteinischen Adeligen Johann von Ahlefeldt, enthalten in einem Konvolut mit dem Titel: NAENIAE, super Obitum praematurum vereque luctuosum NOBILISSIMI ET GENEROSI Viri Juvenis, DN. JOANNIS AB ALEFELDT, Equitis Holsati: Admodum Strenui, Magnifici & Generosi DN. GREGORII AB ALEFELDT, HAEREDITARII in Sehgam & Gravvenstein p. m. filii. Qui dum in florentissima Argentoratensium Universitate, Literis & Equestribus virtutibus operam daret, summo bonorum cum luctu obiit, 12. Julii. Anno christogonias [i.O. griechisch] 1625. Aetatis 19. Cujus funus ultimo mensis Septembris solenni deduetione Terrae magnae creditum est, in Coemeterio D. Gallo sacro; factae & litatae ab Amicis condolentibus. Argentorati, Typis JOANNIS REPPII, Anno 1625.

(Titelblatt; verso blank; Bogenzählung A 2 - Β 3; 16 ungez. Seiten. In der Wiedergabe sind hier wie in den folgenden Texten die gängigen Kürzel aufgelöst. Adscribiertes »e« erscheint getrennt.) Czepkos Beitrag lautet: ELEGIDION Nox erat, & fessis argentea Cynthia mulis Ibat, ut infelix ibat ab axe dies. Non velut ante, jubar, Titonia, praevia Solis Rorat, non rorat Sol, velut ante, jubar. E causa est. lessûs se provolvêre, choreas Nam roseo plorant, nigra pheretra, lacu. Pullo deflevit domus aevi publica tactu, Nox adolescentem, fudit opaca, facem: Ex quo conjurât natas Heroide mentes, Istud Syderii, flebile theta, fori. Limpida Naiades quà ducunt balnea Rheni,

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Wilhelm Kühlmann Fatiferas gemuit, terra treboca, minas. Quàm montes densat, furor irae, quámque Medusae Ventilat, accensas, dextera laeva, faces. Nec mora. Concurrunt. stringit dum missile ferrum Alter, adit, velox alter, & alter obit. O rigidam Lachesin! ô lenti sanguinis umbras! Spiritus ob segnes, nubilat ipse, locos. Non avis incentrix ibi nundinat, accola pinus Non crines, optât non ibi Flora, thoros. Exequias ivit Fati non inscia tellus, Qua pro rore pluit Choridi sanguen, ager! O Casus gravis iste nimis, quâm dicere posses, Scribere quàm posses casus ô iste gravis! Quam Spes décollât, de te quam foverat, illa Quae célébrât cunas, Holsata terra, tuas. Aenea sic duri voluit, sed sanctio Fati Ut répétant sedem summa suam, ima suam. Qui dédit ante, dédit mentem defunctus olympo, Telluri corpus, quae dédit ante, dédit. Debita jam solvit. Nostrum est nos solvere, nostrum est Solvendo ut simus, dum perimendo sumus. Dan. Czepko. è Ligijs.

Gelegenheitsgedichte wie diese bilden, durchaus unterschiedlich in der Qualität, die große Masse der literarischen Produktionen des 16. bis frühen 18. Jahrhunderts. Sie geben einen Einblick in die literarische Praxis des Alltags. Im Detail läßt sich an ihnen studieren, was auch für die allermeisten »großen« Dichtungen vor allem des barocken Jahrhunderts galt: Poesie war der Gelegenheit verpflichtet, eingebunden in die gesellschaftlichen Lebensformen und sozialen Konventionen. Poetische Normen reflektierten immer zugleich soziale Verbindlichkeiten. Gattung und Stil der Poesie hatten sich dem Gegenstand, dem Anlaß und dem Adressaten anzupassen. Im Zuge einer sozialgeschichtlichen Würdigung der Literatur des Zeitalters hat die Kasualdichtung deshalb in letzter Zeit auch die erhöhte Aufmerksamkeit der Forschung gefunden.5 Der Quellenwert für die Personalgeschichte, aber auch für die Erschließung von Mentalitätsund Bildungsvoraussetzungen der jeweiligen Epoche ist unbestritten.6 5

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Grundlegend das Buch von Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977; die Bandbreite der Forschung im Spektrum der verschiedenen Gattungen ergibt sich aus dem Sammelband von Dorette Frost und Gerhard Knoll (Hg.): Gelegenheitsdichtung. Referate der Arbeitsgruppe 6 auf dem Kongreß des Internationalen Arbeitskreises für Deutsche Barockliteratur. Wolfenbüttel, 23.8. bis 31.8.1976. Bremen 1977. Vgl. den Bericht von Rudolf Lenz: Die Forschungsstelle für Personalschriften. Aufgaben, bisherige Ergebnisse und Vorhaben. In: Wolfenbütteler Barocknachrichten VI, Heft 1 (1979), S. 271 f.; grundsätzliche Bemerkungen zur historischen Erschließung von Kasuallyrik gibt im Rahmen einer beispielhaften Untersuchung Dieter Mertens: Zu Heidelberger Dichtern von Schede bis Zincgref. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 103 (1974), S. 200-241. Vgl. auch Sibylle Rusterholz: Leichenrede. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven ihrer interdisziplinären Erforschung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 4 (1979) S. 179-96.

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Czepkos Gedicht ist in seiner engen Fügung so gut wie unübersetzbar. Er benutzt die traditionell als Trauergedicht ausgewiesene Form der Elegie. Verschiedene Merkmale beweisen, daß eine hohe Stillage angestrebt ist. Dem entspricht bereits der Anfang mit seinem mythologisch umschriebenen Rückgriff auf den Topos der »mitfühlenden« Natur. Die verschiedenen Aussagen, die Anlaß und Schreibsituation betreffen, sind durch die schmuckvolle Diktion verhüllt und erhöht. Pathosformeln (Ausrufe) wie diverse rhetorische Figuren (Periphrasen, Allegorien, emphatische und artifizielle Wortanklänge, Wortstellungen und Satzbrechungen), dazu auch ein bis zur Dunkelheit reichendes Vokabular dokumentieren das Bestreben des Verfassers, mit seinem Beitrag den verschiedenen Aspekten des Anlasses gerecht zu werden. Der hohe Stil symbolisiert ostentativ die eigene Emotion, spiegelt sich zugleich den Rang des Toten wie auch den Status der Hinterbliebenen und der Trauergemeinde, an welche der kleine Gedichtband verteilt oder versandt wurde. Der Tote war ein Ahlefeldt, gehörte also zu einem berühmten und weitverzweigten holsteinischen Adelsgeschlecht.7 Straßburg war eine bevorzugte Ausbildungsstätte für Adelige. Hier an der Grenze der französischen Einflußsphäre konnte man die Kenntnis der französischen Sprache verbessern und sich die Tugenden der modernen Weitläufigkeit aneignen. Neben den Juristen lockte auch das Studium der »politischen Wissenschaften«, die unter der Ägide des Professors für Geschichte Matthias Berneggers (1582-1640) nicht im scholastisch-aristotelischen Zusammenhang, sondern in Form der politischen Textexegese, ganz im Dienste der politischen »Klugheit«, betrieben wurden.8 Freilich boten diese adeligen Studenten nicht immer das beste Beispiel für die Bürgersöhne. Keinen Einzelfall stellten jene drei jungen Leute aus dem holsteinischen Hause Rantzau dar, die, wie Bernegger schreibt, »nicht um der Studien willen hier verweilen - das nämlich ist ihnen obsolet und beinahe 7

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Über die Person des Verstorbenen und die seines Vaters konnte ich in den mir zur Verfügung stehenden Nachschlagewerken nichts Näheres ausmachen (vgl. vor allem die Artikel zur Familie Ahlefeldt in C.F. Bricka u.a.: Dansk Biografisk Lexikon, Bd. I, 1887); Lebenswelt und Kulturtradition des holsteinischen Landadels sind nun - mit reicher Literatur - dargestellt in dem Sammelband von Dieter Lohmeier (Hg.): Arte et Marte. Studien zur Adelskultur des Barockzeitalters in Schweden, Dänemark und Schleswig-Holstein (Neumünster 1978); das authentische Zeugnis eines nahen Verwandten des Verstorbenen hat Lohmeier gewürdigt: Adlige Geisteswelt im 17. Jahrhundert. Detlev von Ahlefeldts Memoiren. In: Nordelbingen. Beiträge zur Kunst und Kulturgeschichte 44 (1975), S. 127-141. Zu Bernegger s. NDB II, 106f.; Carl Bünger: Matthias Bernegger. Ein Bild aus dem geistigen Leben Straßburgs zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Straßburg 1893; Erich Berneker: Matthias Bernegger, der Straßburger Historiker, in: Julius Echter und seine Zeit. Gedenkschrift. Hg. von Friedrich Merzbacher. Würzburg 1973, S. 283-314; zur Rolle der Bernegger-Schule im europäischen Zusammenhang vgl. Else-Lilly Etter: Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Basel 1966, spez. S. 155ff.; über den hohen Anteil der adeligen Studenten bes. in der juristischen Fakultät vgl. Arthur Schulze: Die örtliche und soziale Herkunft der Straßburger Studenten von 1621-1793. Frankfurt 1926; grundlegend zur Geschichte und zum Lehrplan der Straßburger Akademie jetzt das Werk von Anton Schindling: Humanistische Hochschule und Freie Reichsstadt. Wiesbaden 1977.

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unehrenhaft - , sondern um Reiten und Fechten zu lernen«.9 Es ist eigentümlich und mag vielleicht mit der später bei Czepko zu beobachtenden aristokratischen Attitüde zusammenhängen, daß auch die beiden anderen Gedichte aus dieser Zeit adeligen Bekannten gelten. Das erste stammt aus dem Jahre 1625 und darf somit als das erste bisher bekannte deutschsprachige Poem Czepkos gelten. Es steht in einem Faszikel mit Trauergedichten: SILICERNIUM In Funere praematuro Generosi & Nobilißimi Viri SIGISMUNDI à Gersdorff und Lipsen etc. EQUITIS LUSATI apparatum ARGENTORATI XIV mo VII br Anno M.DC.XXV. Typis CONRADI SCHER.

(Fase. X, 15, angebunden an eine Sammlung von anderen »Parentalia« auf den Tod derselben Person.10 Kollation: Titelblatt; Bogenzählung A2-A4; 10 ungezählte Seiten). Von Czepko stammt ein auf der zweiten Seite stehendes »Epitaphium«, signiert »D.C.«. Es stellt nicht mehr vor als die genauen Personalien des Verstorbenen." Fol. A 3 (ν) folgt ein anspruchsvolles »Begräbnuß Gedicht« (Nr. V): 9

Bemegger an Kepler, 5. Juni 1627 (i.O. lateinisch), zitiert bei Edmund Kelter (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Matthias Bernegger und Johann Freinsheim (1629. 1633-36), in: Beiträge zur Gelehrtengeschichte des siebzehnten Jahrhunderts. Festschrift zur Begrüßung der 48. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner. Hamburg 1905, S. 1-72, hier S. 64; auch in seinen Reformvorschlägen hat Bernegger an die Kavaliere gedacht, die sich der rhetorischen »exercitien beschämen« und von denen »seither die reitschul in solchem flore ist [...] die Academia nit allein negligili, sondern auch verhasst und verspottet werden will« (vgl. Biinger - wie Anm. 8 - S. 213, 226); das Problem ausführlich behandelt in Bernegger: Ex C. Cornelii Taciti Germania et Agricola quaestiones miscellaneae [...], ed. Io. Freinshemius (posthum Straßburg 1640), hier Quaestio 174: »Qualia illustri natorum loco studia esse debeant«.

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Im folgenden zitiert als »1625, Teil I«: »PARENTALIA [...] DN. SIGISMUNDO A GERSDORF, & LIPSEN, EQU. LUSATO [...] Argentorati, Typis Johannis Reppij. Unterschrift »D.C.«; nachgeahmt ist der Charakter einer Inschrift (ich zitiere ohne Zeilendifferenzierung): CHRIST. PERRVPT. SACR. Statutum semel est hominib. MORI; Vita via est. Mortis via praevia, cautè, Homo, cautè Carpe viam, in mediâ, fors moriêre, via. Exemplo est, atque ô non esset exemplo! SIGISMUND, à GERSSDORF, & Lipsen &c. Eq. Lusat. ex. Generös. & Nobiliss. Prosap. Oriund. Qui, postquàm, Anno CHRISTI MDCII. in Supr. Lusat. Natus Patre Generös. Magnifie. Nobiliss. WOLFFG. CASP. à GERSDORFF &c. Eq. Lusat. in Sup. Lusat. Capitaneo. Matre Foemina Nobiliss. MARGARETHA, è Generös. Famil. LüttichoR. oriund. educatus in pietat. & bon: art. Stud. Primar, in Germ. Academ. adeundo,

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Gleich wie das wilde Meer/ die stoltzen Wellen traget/ So da die tolle Schaar/ der rauwen Wind' erreget/ Biß zu dem Phaeton/ auch widerumb den Sund Der Wasserberge wirfft biß an Cocytus Schlund: So ist das Leben auch der Menschen/ die gezeichnet Das Blut deß Lammes hat/ von Wiegen an vergleichet: Da lauffet sie bald an der dreyköpffichte Hund/ Bald kompt der schwartze Todt/ und fordert seine Schuld. Die unglückhaffte Stimm/ der listigen Syrenen/ Thut in der Thetis Saal/ offt jhren Klang erthänen: Die ungehewre Thier/ Neptunus Burgerschafft/ Beweist am schwachen Schiff/ auch seine starcke Macht. So ist die schnöde Luft/ die weht auß jhrem Rachen/ Das zauberische Gifft/ verschlaget offt die Nachen/ Der nicht das Ancker ist die Lieb/ der zeige Stein Die Hoffnung/ der Compaß der Glaub/ ohn falschen Schein. Bald rafft ein schwebend Hauß/ ins schwimmend Feld gebawet/ Daß seine Segel hat dem Nordwind anvertrawet/ Ein wütende Maree: bald zürnet da die Lufft/ Bald mischet sich mit jhr/ die nimmer stille Flut. So brichet endlich noch auff diesen trüben Wellen/ Deß Lebens müde Schiff/ nach so viel widerbellen/ Und wird der Clippen Raub: der Charon segelt auß/ Und hänget seine Beut in das verschwigne Hauß. Was ruff ich aber doch den Rath bey mir zu sitzen/ In meiner Sinne Thor/ weit von deß Glückes spitzen: So bald der Arme kahn zu drimmern untergeht/ So bald siht man den Port/ darnach man embsig steht. Herr Gerßdorff/ so ist es nun auch mit euch gerahten/ Euch dem gebehnt den Weg zu Adelichen Thaten/ Die gütige Natur/jhr Cron der Ritterschafft/ So auß der HeldenBurg die Tugend hat gerafft. Als Iher [sic!] in ewer blüht der Jugend habt gestrichen/ Ins hohe Meer der Ehr/ hat euch der Wind begriffen/ Die Segeil umbgewand/ Es hat dem freyen Geist Der Himmel selbst den weg zur Ewigkeit geweist. Wir denen nach auß gunst/ deß Lebens drey Göttinnen Mit außgespanter Hand/ den schwachen Faden spinnen/ Seind auff dem wüsten Meer der Unglückhafftigkeit/ Das Meer/ das auffgeschwelt der Bürgerliche Streit: Der glüende Marast/ das donnern der Carthaunen/ Das stählerne Gewülck/ das ungestüm und grawen/ Vom Schwefel angeregt/ bläst da die Flammen auß/ Und stecket in den Brand/ die Welt das grosse Hauß: Nun euch ist recht und wol/ nun ist quit von den Banden/ Ewr himmlisches Gemüt deß Leibes/ ist gegangen/

exercit. Heroic, adscit. peregrinando, Anno CHRISTI MDCXXV. XImo VIIbris AETAT. XXIII. Augustae Treboc. in media via, communi more, ad viam ivit communem relinquens Patriae desiderium, Agnatis moerorem, Amicis memoriam. Ista qui legis, quî sis, cogita quid fuit, qui Fuit, nam mox olim eris, quod nunc est, qui Fuit. - Die Ansprache an den Leser ist zwar auch in Buchepigrammen topisch, doch deutet die ganze Anlage dieses »Epitaphiums« darauf hin, daß es möglicherweise als Entwurf für ein Grabdenkmal gedacht war.

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Wilhelm Kühlmann Wo es verschrieben hin schon das verhängnuß hat/ Als jhr und auch die Welt noch ungeschaffen ward. Da gehet jhr jetztund/ und sehet wie wir rennen/ Im trüben Sund der Noth: da lernet jhr recht kennen/ Was uns noch unbekandt. Ihr seht die Ewigkeit/ Deß Himmels Burgerschafft/ hat euch den weg bereit. Du Adeliches Hauß verhüllet mit Cupressen/ Thu nun der Zähren Bach/ thu nun deß Leids vergessen. Die Seel ist schon bey Gott/ der Leib ligt in der Erd/ Biß daß das letzte Recht/ wol außgelassen werd. Daß nicht dein schwaches Schiff/ die Kirche werd umbgeben/ Laß deines Geistes Wind in dessen Segel wehen/ O Gott du höchstes Gut/ wirff dessen Ancker ein/ An Eckstein/ der du bist/ so wird es ewig sein, DAN. CZEPKO è Ligiis.

Ein nach antiken Vorbildern und den Regeln der Rhetorik kunstgerecht gebautes »Epicedium«12, im 17. Jahrhundert von fast allen Dichtern gepflegt, Pflichtleistung und Kompetenznachweis des gelehrten Poeten im Rahmen der sozial gebundenen Gelegenheitsdichtung. Trauerlyrik dieses Genres hatte drei Funktionen zu erfüllen: erstens, Klage, Bestürzung und Trauer um den Toten wachzurufen; zweitens, die Persönlichkeit des Verstorbenen zu »loben«; drittens, den Hinterbliebenen Trost zu spenden. Czepko erfüllt diese drei Bedingungen; sie formen den Gedankengang des Gedichts. Den Anfang macht die »Klage«, entwickelt auf einer abstrakten Ebene, die das Einzelschicksal nur als Paradigma menschlichen Schicksals begreift. Anhand des allegorischen Bildfeldes der »Schiffahrt menschlichen Lebens«, die in variierter Auslegung das ganze Gedicht durchzieht, wird das Ereignis des Todes umschrieben. Der heidnische Mythos der Unterwelt macht die scheinbare Trostlosigkeit des Sterbens sinnfällig, wird jedoch bereits mit einem Lebensgang kontrastiert, dem die Orientierung an den drei christlichen Tugenden (Glaube, Hoffnung und Liebe) den Ausblick auf den rettenden »Port« verheißt. Christliche Trostgründe und stoische Argumente (die Apostrophe des »freien Geistes«) sind kombiniert. Die Umstände des Todes verstärken das Trostangebot. Das »Meer« der Welt ist konkretisiert in der grausamen Bürgerkriegsszenerie des Dreißigjährigen Krieges. Der Tod wird zur Befreiung von irdischem Übel. Gegenüber dieser geistlichen Ausdeutung muß - der Jugend des Todes entsprechend - der paraenetische Teil des Epicediums kurz ausfallen. Vermerkt werden konnte nur die Aussicht auf ein Leben, das dem

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Grundlegend dazu Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89-147; vgl. auch Wulf Segebrecht: Steh, Leser, still! Prolegomena zu einer situationsbezogenen Poetik der Lyrik, entwickelt am Beispiel von poetischen Grabschriften und Grabschriftenvorschlägen in Leichencarmina des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 403^168.

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Herkommen, der adeligen »Tugend«, Ehre machen sollte. Czepko beherrscht schon weitgehend den heroischen Vers, den Alexandriner: paarweise gereimt mit abwechselnd männlicher und weiblicher Endung. Grundsätzlich sind die Regeln beherzigt, die ein Jahr zuvor Martin Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey kodifiziert hatte. Die alternierende Metrik wird nur von relativ wenigen Tonbeugungen gestört. Dialektanklänge fehlen fast völlig. Freilich zeigen die nicht seltenen - nach Opitz unstatthaften - Synkopen und Apokopen, daß von einer vollgültigen Nachfolge des verehrten Meisters noch keine Rede sein kann. Gersdorf starb am »schwarzen Tod«, an der Pest. Sie wütete Mitte der Zwanziger und Anfang der Dreißiger Jahre in Straßburg und forderte zahlreiche Opfer: »Die lute, die do sterbent, die sturbent an bülen und an drusen, die sich erhubent und den armen und oben an den beinen, und wen die bülen ankomment, die do sterben soltent, die stuben an dem Vierden tage oder an dem driten oder an dem andern.«13 Vor dieser furchtbaren Wirklichkeit wirkt das dritte Gedicht Czepkos gerade wegen seiner artistischen Ansprüche aus heutiger Sicht beinahe inadäquat. Es handelt sich (fol. A4, ν; Nr. VII) um eine horazische Ode im alkäischen Versmaß. Der Stil ist dunkel, voller seltener, erlesener Vokabeln, gewählter Umschreibungen und mythologischer Verbrämungen. Ich zitiere nur die erste der sechs Strophen, die durch die Unterschrift »D. C.« eindeutig Czepko zugewiesen werden müssen: Exesto, planctus fundere Praeficas fas est añiléis, Gens Hyperionis quam lampas, Antaecis hetruscô, Nunciat, Eugenies relatu.

Nicht unwichtig ist der Einblick in die Formenvielfalt, die der junge Dichter bereits beherrscht. Zu Gebote stand nicht nur die horazische, sondern auch die pindarische Ode. Czepko benutzt sie - in deutscher Sprache - knapp ein Jahr später beim Tode eines anderen Gersdorf, welcher der gleichen Seuche zum Opfer fiel. Es handelt sich wieder um ein Konvolut mit Trauergedichten (Heidelberg a.a.O., Fase. X, 14): In OBITUM VIRI STRENUI NOBILISSIMI ET ANTIQUISSIMA FAMILIA ORIUNDI, DN. ADAMI GODTFRID von Gerstorff HAEREDITARII in Schwartz & Weichau/Equitis Silesii; Literis & Armis clari:

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Aus den Aufzeichnungen eines zeitgenössischen Chronisten, hier zitiert nach E. Bemeker (wie Anm. 8) S. 303; dort weitere Angaben aus dem Bernegger-Briefwechsel.

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Wilhelm Kuhlmann QUI PRAEMATURO QUIdem, sed placido & beato obitu in Christo Servatore obdormivit Argentorati 29. Augusti Anno Salutis 1626. Has naenias Veluti famam posthumam posuerunt Moesto corde, & tristi manu, Cognati, amici, & populares. ARGENTORATI, Typis RIHELIANIS. Anno M.DC.XXVI.

Die Lyrik Pindars war seit dem Erstdruck (1513) auch den deutschen Humanisten bekannt. Melanchthon schuf eine lateinische Prosaübersetzung (1558), verschiedene Neulateiner, vor allem Schede Melissus (1539-1602), schrieben pindarische Oden. Sie galten als Beispiel des »genus sublime«, als Muster enkomiastischer Lyrik, in deren vermeintlicher Regellosigkeit sich der »furor poeticus« abbilden sollte.14 Für die muttersprachliche Dichtung wurde Ronsard bestimmend, der durch die 14 pindarischen Oden seines Ersten Odenbuchs (1550) dem Genre zu internationalem Ansehen verhalf. Neben Weckherlin (1618/19) hat Martin Opitz Musterbeispiele vorgelegt und die Regeln des kunstvollen Aufbaus beschrieben. Verbindlich war die Einteilung der Strophe, Antistrophe und Epode, wobei die ersten beiden in der Anordnung der Reime übereinstimmen mußten. Man glaubte die »Regellosigkeit« Pindars nachzuahmen, indem in allen Teilen Versmaß und Reimbindung freigestellt wurden.15 Die Triade von Strophe, Antistrophe und Epode konnte sich mehrfach wiederholen. Wenn Czepko zur pindarischen Ode griff, wollte er gewiß seine Kunstfertigkeit in einer eben erst für die deutsche Sprache gewonnenen lyrischen Gattung unter Beweis stellen. Bot diese Form doch zugleich eine willkommene Abwechslung im Einerlei der elegischen Trauerlyrik. Insofern die Anlehnung an Pindar ein Bekenntnis zur hohen »heroischen« Stillage bedeutete, war damit zugleich die Persönlichkeit des Toten in angemessener Weise repräsentiert. Das Gedicht lohnt den Abdruck (fol. Β 2, Nr. Χ):

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Vgl. Karl Vietor: Geschichte der deutschen Ode. München 1923 (Geschichte der deutschen Literatur nach Gattungen, Bd. I), bes. S. 68ff.; zur neulateinischen Tradition vor allem Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Conrad Celtis - Georg Fabricius - Paul Melissus - Jacob Balde. Wiesbaden 1976, bes. S. 75ff. Ferner D. Janik: Geschichte der Ode und der »Stances« von Ronsard bis Boileau. Bad Homburg v.d.H. usw. 1968 (Ars poetica, Bd. 2), spez. S. 28ff. Vgl. Martin Opitz, Buch von der deutschen Poeterey (1624), Kap. VII, hg. von Cornelius Sommer. Stuttgart 1970 (RUB 8397/98), S. 5ff.

Ein schlesischer Dichter am Oberrhein STRO.a O Du wolgestalter Cörper/ Muß dein blüendes Gebein Auch verarestiret sein/ In deß schwartzen Todes Kercker/ Jetzt im Mertzen deiner zeit: Ach! und weh! in dem bereit Bey der Sterne giildnen schantzen Das geruthe Lob zu pflantzen/ Sihet man in Marmelstein Bey dem sterblichen gesippe Dein verzehretes gerippe Traurig jetzt gegraben ein. ANTISTRO. α Du woltst/ weil die Jugend bliithe/ Fechten mit geharnschter hand Vor das liebe Vatterland. Ja der Kriegesgott der riethe/ Dir endgegen in das Feld/ Schwung die Fahnen beim Gezelt. Es erthönten die Trompeten Bey den fliegenden Cometen Salve, aber solcher muth Ward geleget dir zun Füssen: Du must auff dem Feder küssen Jetztund sterben ohne blut EPOD.a Wie hastu Atropos mit deiner eisern spille Das der Clotho hand So bald umbgewand Das sonsten schnelle rad so können halten stille: Bistu dann Lachesis bewachsen umb und an/ Von dem harten grund Auß deß Aetna schlund Auff das dein stälera Hertz/ auch nichts verfassen kan. STRO.ß Nein O nein, den keine Lantze/ Kein gewand Pferdt kein Pistol/ Ob sie führt der Ritter wol/ Treibt den Todt auß seiner schantze: Es bleibt in desselben streit Jung und nicht jung jeder zeit. Wie das Korn wächst auß der erde Daß es eingesamlet werde: Also/ wann das blat gewand/ Ist ein jeder Mensch entsprossen Das er werde gantz verschlossen In deß stillen grabes Sand.

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Wilhelm Kühlmann ANTISTRO. β Man wird aber dich beklagen So weit als der grosse Rein Und die Oder kundbar sein: Hier zu Straßburg hört man sagen Durch den gantzen Helicon Ist er ist er nuhn darvon? Glogaw das ist gantz verhüllet Von der Glocken klang erfüllet: Auch die schwartze Thier bekandt: Beide haben hart betrauret Ihres Leides eingemauret Solchen Bürgen/ solches Pfand. EPOD.ß Es ringt der nützlich hat viel örter durchgereiset/ Das er früh und spath That durch reiffen rath Brecht in das Vatterland/ vom Tod ins Grab geweiset. Ich bitt O wandersman/ bedencke das Gedicht/ Wünsche dem Gebein Das es schlaffe fein Biß der Trompeten schall das letzte urtheil spricht. Dan. Czpeko von der Lignitz.

Beide Gersdorfs gehörten zu verschiedenen Linien des für Schlesien und die Lausitz so bedeutsamen Geschlechts.16 Sie waren »Vettern«, wie Christopherus Coleras im Gedicht Nr. XII. desselben Bandes schreibt: [..·] Schiaffi jhr zu Hause nicht / doch wol bey ewers gleichen/ Ja wie sichs eben schickt/ bey ewres Vettern Leichen/ Der im vergangnen Herbst hieher auß Franckreich kam/ Und in dem heimziehn auch wie jhr sein Ende nam. [...]

Der Aufenthalt in Straßburg war eine Station auf der Rückreise in die Heimat. Sie hatten die standesgemäße Kavalierstour hinter sich gebracht, deren Zwecke das Gedicht Nr. II im Band von 1625 genauer angibt: In Galliam te miserant Ortu parentes nobili, addisceres ut linguas, prudentiam politicam acquireres, ad subditos bono gerendos omine. [...] Dum jam paras te gnaviter ad jurium scientiam, 16

Zur Familie vgl. Nicolaus Henelius ab Hennenfeld: Silesiographia Renovata. Breslau und Leipzig 1704, hier Bd. II, S. 498ff.; E.H. Kneschke, Neues allgemeines deutsches Adelslexikon, Bd. I-IX (1859ff.), hier Bd. III, S. 494ff.

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gymnasmata ad politica: tibi rete struxit pallida Mors, & laboris terminimi velocibus telis dedit. 17

Das Studium von Jura und Politik war nicht nur standesgemäß, es sicherte auch den Aufstieg in Stellen der gehobenen Verwaltung. Im Jahre 1646 kam z.B. auch Gryphius nach Straßburg, um dort die Vertreter beider Fächer zu hören. Für schlesische Studenten besaß die Straßburger Universität eine besondere Anziehungskraft. In den Jahren 1624-1629 immatrikulierten sich hier mehr als 120 Schlesien18 So wundert es nicht, unter den Beiträgern der genannten Gersdorf-Drucke neben Czepko eine Reihe anderer Landsleute (»populäres«) anzutreffen. Von Christoph Köhler (Coleras) wissen wir, daß er mit Czepko zusammen an den Rhein kam (immatrikuliert am 19. Mai 1624). Er gehörte zu den frühen und eifrigsten Anhängern des Martin Opitz. Sein umfangreiches Œuvre deutscher und lateinischer Gedichte blieb in Handschriften und Einzeldrucken verborgen. Max Hippe erst ermöglichte 1902 einen genauen Überblick.19 In seinen Aufstellungen wie auch in den neueren Arbeiten20 fehlen Köhlers Gedichte auf die Gersdorffs (1625, 1. Teil, Nr. V; 1626, Nr. XII). Im Gegensatz zu Czepko und den anderen Verfassern scheut sich Köhler nicht, auch zu drastischen Mitteln zu greifen, um die Emotionen des Lesers zu wecken. Die Art, wie von ihm der Tod des »Adam Godtfrid von Gerstorff« geschildert wird, scheint beinahe dem Trostgebot des Epicediums zu widersprechen: [•··]

Ja auch dem Menschen selbst ist es so Essig sawer/ Wenn man ans sterben denckt: es kompt jhn an ein schauer/ Wann er sich strecken muß und ligt gefährlich kranck/ Der kalte Todes schweiß ist jhm ein Wermut-tranck. Das haben wir gesehn an euch/jhr Edler Ritter/ Dem auch die Todes forcht gieng ein so mächtig bitter. Wie wehret jhr euch noch bey manchem Hertzens-stoß/ Und da die Seele wolt' auß jhres Leibes Schloß.

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Konvolut 1625, Teil I, Nr. II; Verfasser ist der 1622 in Straßburg zum Dichter gekrönte Johann Giithereus aus Pommern. Er hat sich auch an der Sammlung von 1626 beteiligt (hier Nr. VII). Schlesien besaß bekanntlich keine eigene Universität. Die Studenten mußten also ins »Ausland« gehen, wobei neben Straßburg auch die Niederlande (Leiden) zahlreich frequentiert wurden. Dazu Herbert Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz zu Christian Wolff. Frankfurt/M. 21956, bes. S. 30ff, 47ff. (zu Straßburg S. 51). Max Hippe: Christoph Köhler, ein schlesischer Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. Sein Leben und eine Auswahl seiner deutschen Gedichte. Breslau 1902. HierS. 72ff. ein Verzeichnis der in Einzeldrucken erhaltenen Gedichte; Kap. I unterrichtet über Köhlers Jahre in Straßburg (1624-1629). Gerard Kozielek: Aus dem handschriftlichen Nachlaß Christoph Kölers. In: Euphorion 52 (1958) S. 303-311.; ders.: Die Lyrik des Opitzschülers Christoph Köler, in: Germanica Wratislaviensia 3 (1959), S. 157-173.

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Wilhelm Kühlmann Das Haar gen Berge stund / es flössen milte thränen/ Von ewren wangen a b / j h r Knirschtet mit den Zänen/ Schlugt mit den Händen umb/ und stießt mit füssen zu/ Seufftzt tief nach dem Gesund/ und hattet keine ruh. Vielleicht wird dieses euch zu Hertzen sein gestiegen/ Das jhr in bester Bliit' auff gehlings müsset fliegen/ Da alles lebt an euch/ seit lustig/ schön/ und starck/ Vermögend und geehrt/ und müsset in den Sarck. Es wird auch dieses ein/ das alles jetzt verdorben/ Was jhr mit grosser müh habt in der frembd' erworben/ Erfahrung/ witz/ verstand/ und alle Ritterspiel/ Und was dem Adel mehr gar wol gebüren will. Es wird euch haben auch nicht wenig das gekräncket/ Das jhr in frembden grund solt werden eingesenckt/ Das nicht die ewrigen euch Wartung können thun/ Und bey den Ahnen Ihr solt' in der stamm grufft rhun. Das euch kein denckstein steht/ kein fahn und Wapen hencken/ Und das mein Opitz nicht soll ewrer nachgedencken. Nuhn wer kann wider Gott/ der macht es für und für Mit allen Menschen nur wie er will/ nicht wie wir. [...]

Zu den engeren Bekannten Czepkos zählte neben Köhler auch Balthasar Venator (1594-1664), derzeit als Erzieher im Hause Lingelsheims zu Heidelberg tätig.21 Er hatte sich an den von Zincgref gesammelten Auserlesene[n] Gedichte[n]) Deutscher Poeten beteiligt, die 1624 als Anhang zur Ausgabe der Opitz'schen Gedichte erschienen. Eine mit »B.V.« gezeichnete Elegie muß ihm zugewiesen werden (1626: Nr. VI). Ein Bruder des ebenfalls in Zincgrefs Anthologie vertretenen Balthasar Wessel war Elias Wessel, Sohn des Pastor Primarius von Bunzlau. 22 Kasualdrucke der hier vorliegenden Art geben, wie man sieht, guten Aufschluß über die persönlichen Verbindungen des Opitzkreises. Literarische Sympathien hingen mit direkten Kontakten zusammen, erwuchsen nicht zuletzt auf der Grundlage landsmannschaftlicher Solidarität. Diese war es auch, die das Übergewicht der Schlesier unter den Trauernden erklärt. Dazu zählen Caspar Senftieben, 23 Heinrich von Rindtfleisch, der sich als »Eques Lusat[us]« 21

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23

Zu ihm neben den Anmerkungen bei Reifferscheid (wie Anm. 2) S. 780f., vor allem Erich Volkmann: Balthasar Venator. Diss. phil. Berlin 1936. Dazu Reifferscheid (wie Anm. 2), u.a. S. 768, 772f. (vgl. den Namensindex!). Die Frau des Johann Wessel war Opitzens Tante. - Das Gedicht von Elias Wessel auf Gersdorff: 1625, Nr. V. 1625, Teil I, ein »Epitaphium« am Schluß (nicht numeriert); ein Brief von ihm an Bemegger bei Reifferscheid (wie Anm. 2), S. 304f. Der Brief ist im Jahre 1627 unmittelbar nach der Rückkehr nach Breslau geschrieben. Er berichtet über literarische Neuigkeiten und das Schicksal der Freunde (Coleras, Kirchner u. a.); dabei ist auch die Rede von Briefen Czepkos an Bernegger und Lingelsheim. Senftieben hat, wie daraus hervorgeht, Czepko in Leipzig getroffen und die Weiterbeförderung der Briefe besorgt. Zu der in Bunzlau ansässigen Familie Senftieben gehörten mehrere Mitglieder, die in Opitzens Leben eine Rolle spielten. Ein Valentin Senftieben war seit 1606 Rektor der dortigen Schule. Vgl. neben den diversen Angaben bei Reifferscheid (Index!) auch Martin Szyrocki, Martin Opitz (Berlin 1956), passim (vgl. auch hier den Index!).

Ein schlesischer Dichter am Oberrhein

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tituliert,24 nicht zuletzt auch die aus Schlesien stammenden Lehrer an der Straßburger Akademie bzw. Universität: Paulus Gnilius25 und Gregorius Biccius.26 Die Muttersprache allerdings benutzen nur Czepko und Köhler. Beider Gedichte repräsentieren die zuerst an Oder und Rhein um sich greifenden Anstrengungen, eine deutsche Nationalliteratur zu begründen, die den Standard der neulateinischen Dichtung und der romanischen Formkultur erreichen sollte. Wie am Beispiel des frühen Czepko ersichtlich wird, handelt es sich hierbei zunächst nur um die deutschsprachige Transformation der literarischen Äußerungsformen des Späthumanismus. Czepkos Anlehnung an Opitz blieb - bei aller Verehrung - nur ein Durchgangsstadium auf dem Wege zu poetischer Selbständigkeit und zur Entwicklung eines eigenen geistigen Profils, das sich von der hier behandelten Frühphase des Schaffens in wichtigen Punkten unterschied.

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1625, Teil II, Nr. II; 1626, Nr. III; der Verfasser gehörte offenbar zu einem geadelten Zweig der weitläufigen Familie, deren gelehrte Vertreter sich latinisiert »Bucretius« nannten. Sie spielte im schlesischen Späthumanismus eine große Rolle. Dazu neben der bisher genannten Literatur mit weitem Überblick das nach wie vor unverzichtbare Standardwerk von J. F.A. Gillet: Crato von Crafftheim und seine Freunde. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte. 2 Bände. Frankfurt 1860-61. Hier wird besonders deutlich, daß die Verbindungen zwischen Schlesien und dem Oberrhein (Heidelberg) wesentlich durch die offenkundigen oder latenten Sympathien mit dem Calvinismus bestimmt waren. Konvolut 1625, Teil II, Nr. III. Konvolut 1625, Teil II, Nr. IV; 1626, Nr. IX; Biccius (Bitsch), 1603-1657, stammte aus Bautzen in der Lausitz und hatte als Nachfolger seines Vaters seit 1637 einen juristischen Lehrstuhl inne. - Neben diesen akademischen Lehrern unterzeichnen andere, auf die ich hier nicht im einzelnen eingehen möchte (J. P. Crusius, S. Gloner, J. P.Th. Walliser).

Wilhelm Kühlmann

Alamode-Satire, Kultursemiotik und jesuitischer Reichspatriotismus - Zu einem Gedichtzyklus in den Sylvae (1643) des Elsässers Jacob Balde SJ

ι Auf den ersten Blick muß es kühn erscheinen, im thematischen Zusammenhang der >oberrheinischen Satire< einen Autor ins Feld zu führen, der zwar im elsässischen Ensisheim als Sohn eines kaiserlichen Beamten geboren wurde, im Elsaß auch die Jahre der ersten Schulzeit verbrachte, jedoch seiner gesamten literarischen Leistung nach in der bayerischen Jesuitenkultur wurzelte, ja maßgeblich zu deren internationaler Ausstrahlung beitrug: den Jesuiten Jacob Balde (1604-1668).' Durch die Kriegswirren vertrieben, durchlief er in Bayern, zeitweise auch in Innsbruck, die geistlichen Staffeln, auch Lern- und Dozentenstationen der Societas Jesu, lehrte seit 1637 Rhetorik in München und gehörte als Hofprediger sowie zeitweise (1640-1648) als Historiograph Kurfürst Maximilians I. zum intellektuellen Milieu der Münchener Residenz. Dieter Breuer hat die Komplikationen und Interessengegensätze beleuchtet, die Balde schließlich zum Rücktritt vom Amt des dynastisch gebundenen Geschichtsschreibers veranlaßten, und dabei die komplexen Loyalitäten eines Autors hervorgehoben, der so engagiert wie kein zweiter deutscher Dichter alle Verwicklungen des Dreißigjährigen Krieges literarisch begleitete.2 Durch seine Kontakte mit Claude de Mesme, Comte d'Avaux, dem maßgeblichen Pariser 1

Zu Leben und Werk im Überblick Wilhelm Kühmann (sub verbo), in: Literaturlexikon, hg. von Walther Killy. Bd. 1. Gütersloh-München 1989, S. 296-298; ferner den einleitenden Essay der Herausgeber samt Bibliographie in: Jacob Balde S.J.: Opera Poetica Omnia. Bd. I—Vili. Nachdruck der Ausgabe München 1729. Hg. von W. Kühlmann und Hermann Wiegand. Frankfurt/M. 1990 (Texte der Frühen Neuzeit, 1), Bd. I, S. 5-48; grundlegend immer noch die Biographie von Georg Westermayer: Jacobus Balde (1604-1668). Sein Leben und seine Werke. München 1868. Neu hg. von Hans Pörnbacher und Wilfried Stroh. Amsterdam & Maarssen 1998 (Geistliche Literatur der Barockzeit. Texte und Untersuchungen, Sonderbd. 3), hier im Anhang eine neue Bibliographie der Werke Baldes, der Übersetzungen und der Forschungsliteratur. Für Einzelheiten auch immer noch heranzuziehen Joseph Bach: Jakob Balde. Ein religiös-patriotischer Dichter aus dem Elsaß. Freiburg i. Br. 1904 (Straßburger Theologische Studien, 6).

2

Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979 (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Beiheft 11), S. 218-276, in diesem Zusammenhang bes. S. 222-249; Wilfried Strohs Einwände (Nachwort der Neuausgabe von Westermayer, wie Anm. 1, S. 13) überzeugen mich nicht; wichtige Elsaß-Gedichte sind behandelt und ins Französische übersetzt von Andrée Thill: L'Alsace et l'exil dans l'oeuvre lyrique de Jacob Balde, in: Jacob Balde und seine Zeit. Hg. von Jean-Marie Valentin. Bern usw. 1986 (Jahrbuch für Internationale

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Wilhelm Kühlmann

Diplomaten, war er sogar mittelbar in die bayerisch-französischen Verhandlungen der vierziger Jahre verwickelt. Sich an der propaganda fides, zumal im Sinne der territorialpolitisch favorisierten Marienfrömmigkeit, zu beteiligen und seinem Kurfürsten bzw. dem neuen Heimatland bei Gelegenheit auch den panegyrischen Tribut zu zollen, fiel Balde gewiß nicht schwer. Gleichzeitig aber hat er »mit provozierender Hartnäckigkeit Anspielungen auf seine elsässische Herkunft, auf das Schicksal seiner Heimat und seiner im Exil lebenden Landsleute über sein ganzes Werk verteilt« (Breuer), hat sich als »Columbus Alsatiae« (Lyr. I, 5) als »vates« bzw. »poeta Alsata« (Silv. I, 16 bzw. II, Parth. 6) oder einfach als »Alsata« (Silv. V, 2 u. ö.) bezeichnet. Gleichfalls Dieter Breuer verdanken wir die Erkenntnis, daß Baldes literarische Rollenmaske des gesinnungstreuen Elsässers argumentativ als Implikat und Konsequenz einer oft genug genuin reichspolitischen, auf das Habsburger Kaiserhaus gerichteten, wenn auch mit Kritik nicht sparenden Schreibstrategie zu verstehen ist.3 Unter diesen Auspizien und über die von Breuer vorgelegten Interpretationen hinaus verdient ein ehrgeiziger Gedichtzyklus besondere Aufmerksamkeit, der unter dem Titel De Moribus veteris ac novae Germaniae als drittes Buch der Sylvae Lyricae, also der »poetischen Wälder«, zuerst 1643 in München erschien:4 eine meines Wissens im gesamten jesuitischen Schrifttum Deutschlands beispiellose poetische Diatribe aus dem Geist der althumanistischen Reichsmoralistik, in deren keineswegs mehr selbstverständlichem Gefolge wieder einmal - schon im Titel angedeutet - der taciteische Germanenmythos zur hellen Folie einer dunklen Gegenwart ausgemalt wurde.5 Die Horazischen Odenformen qualifizierten dieses Werk zum modernen Äquivalent der älteren Reichsdichtung eines Konrad Celtis (1459-1508). 6 Mehr noch: In der Erhöhung Germanistik, Reihe A, Bd. 16), S. 64—90; zur politischen Lyrik Baldes vgl. Anton Henrich: Die lyrischen Dichtungen Jakob Baldes. Straßburg 1915 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der Germanischen Völker CXXII.), S. 60-93; auch zu dem hier behandelten Zyklus (Silv. III) Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Conrad Celtis - Georg Fabricius - Paul Melissus - Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands. Wiesbaden 1976, bes. S. 232-249 (»Politische Lyrik: Römischer Bürgerkrieg und Dreißigjähriger Krieg«); ferner Jean-Marie Valentin: Balde et la Bavière de Maximilian, in: Valentin (Hg., wie oben), S. 48-63. 3

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Exemplarisch zum Kreis einschlägiger Gedichte W. Kühlmann »Magni fabula nominis« Jacob Baldes Meditationen über Wallensteins Tod, in: Renaissance und Barock. Gedichte und Interpretationen. Hg. von Volker Meid. Stuttgart 1982, 2 1988 (RUB 7890), S. 187-197; George C. Schoolfield: The Eagle of the Empire [zu Ode 1,38]. In: Literary Culture in the Holy Roman Empire 1555-1720. Ed. by James A. Parente [et alii]. Chapel Hill and London 1991, S. 109-125. Zum Sammel- und Publikationstypus der »Silvae« s. Wolfgang Adam: Poetische und kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens >bei Gelegenheit«. Heidelberg 1988 (Beihefte zum Euphorion, H. 22), zu Balde S. 11-13 und 122-126. Dazu zuletzt im Traditionszusammenhang W. Kühlmann: Sprachgesellschaften und nationale Utopien. In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München 2000, S. 245-264. Vgl. nun die zweisprachige Auswahl mit umfangreichen Literaturhinweisen und Kommentaren in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch-deutsch. [...] Hg. vonW. Kühlmann,

Alamode-Satire,

Kultursemiotik

und jesuitischer

Reichspatriotismus

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des gelehrten Dichters zum Praezeptor der Nation hat die Gedichtgruppe, worauf schon Eckart Schäfer hinwies, nicht nur als fernes Echo, sondern als bewußte ästhetisch-symbolische wie historisch aktualisierende Adaption der ebenfalls den Schrecken langdauernder Bürgerkriege verarbeitenden Horazischen >Römeroden< (carm. 3,1-6) zu gelten.7 Schon in der Sechszahl derOden kongruierend, wirkt Horaz' Restaurationsdichtung als ferner Praetext eines poetischen, kompositioneil ungemein verdichteten Manifestes. Daß wir im Mittelpunkt dieser sechs Oden zwei Gedichte finden, die bereits in ihrem Titel - lateinisch verfremdet - das zeitgenössische Schlagwort der Alamode-Kultur aufgreifen, zeigt die thematischen, die kulturdiagnostischen Korrespondenzen dieser der Form nach klassizistischen Dichtung nicht nur mit der - vor allem reichsstädtischen - Publizistik etwa in Gestalt der Flugblattliteratur,8 sondern auch mit den zuerst 1640 in Straßburg erschienenen Gesichten Johann Michael Moscheroschs (1601-1669), Balde vielleicht nicht unbekannt.9 Es ist jedenfalls kein Zufall, daß gerade Balde, der elsässische Reichspatriot »im Exil«, sich ganz abseits des ordensspezifischen Universalismus zur selben Zeit wie Moscherosch oder die Mitglieder der Straßburger Tannengesellschaft10 am deutsch-französischen Grenzsaum im Alamode-Komplex das diskurs- und konfessionsiibergreifende Argumentationszentrum eines kulturpatriotischen Protestes zu eigen machte, der gerade die >modernistische< Semiotik des sozialen Handelns zum Indiz, ja Symptom historisch fataler Vorgänge erhob. Daß Balde diesen Protest in Odenform poetisierte, nicht aber die ihm später in

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Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 146. Bibliothek der Frühen Neuzeit, 1. Abteilung, Bd. 5), S. 12-137, 920-1029; hier zum taciteischen Simplicitas-Ideologem im Rahmen seiner mit Balde vergleichbaren kulturkritischen Lyrik Ode 4,4 und Amores 2,9. Vgl. Schäfer (wie Anm. 2), bes. S. 234-238. Faszinierende Einblicke bieten die von Wolfgang Harms und Mitarbeitern hg. und kommentierten Blätter. In: Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. I—III. Die Sammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 1. Teil/Bd. Tübingen 1985, hier unter anderem Nr. 120, 123, 130, 132. Vgl. W. Kühlmann: Moscherosch und die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts - Aspekte des barocken Kulturpatriotismus. In: Bibliothek und Wissenschaft 16 (1982), S. 6 8 - 8 4 , abgedruckt in diesem Band unter Nr. 11 ; W. Kühlmann und Walter E. Schäfer: Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang J.M. Moscheroschs. Berlin 1983 (Philologische Studien und Quellen, Bd. 109). Zum satirischen Typus der Gesichte vgl. jetzt Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 132), S. 189-201; W. Kühlmann: Kombinatorisches Schreiben »Intertextualität« als Konzept frühneuzeitlicher Erfolgsautoren (Rollenhagen, Moscherosch). In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Hg. von W. Kühlmann und Wolfgang Neuber. Frankfurt/M. usw. 1994 (Frühneuzeit-Studien, Bd. 2), S. 111-139, abgedruckt in diesem Band unter Nr. 14. Zur Tannengesellschaft s. die kommentierte Ausgabe mit hier einschlägigen kulturkritischen Gedichten (so »Das rasend Teutschland«, 1634, S. 87-89) von W. Kühlmann und Walter E. Schäfer (Hg.): Des Jesaias Rompiers von Löwenhalt erstes gebüsch seiner Reim-getichte 1647. Tübingen 1988 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, Bd. 38).

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Gestalt seiner Medizinersatiren11 durchaus geläufige Tradition der satirischen Versdichtung benutzen wollte, hatte mit der Dignität des nationalen Themas, also auch mit der adäquaten Stilhöhe der Odenpoesie gewiß genauso viel zu tun wie mit dem beabsichtigten ästhetischen Rekurs auf den Horaz der augusteischen Reform und die ältere Humanistendichtung. In seinem ausgreifenden Vorwort an einen adeligen, von seiner europäischen Kavalierstour kürzlich zurückgekehrten jungen Mann, der mit fingiertem Namen als »Nicolaus Warsenius« angesprochen wird,12 wollte Balde keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß sich das Publikum im sozialtherapeutisch-aggressiven »Witz« der Texte auf satirische Diatriben in Form sapphischer Oden gefaßt machen sollte, daß also diese Oden formtypologisch als »milder« Ersatz der Satiren nach antikem Muster zu verstehen seien. Balde tut kund, daß ihm, dem Ordensgeistlichen, der scharfe Stilgestus der antiken Satiriker nicht »ziemte« (»non decebat«). Ich gebe im folgenden eine Übersetzung dieses Vorworts nach der späteren Gesamtausgabe von 1729 (Nachdruck 1990, Bd. II, S. 66f., Absätze von mir) mit dem oft zu bestätigenden Hinweis, daß Balde im Gegensatz zu Ordensgenossen wie zum Beispiel Jacob Masen (1606-1681) einer systematischen Poetik wenig zugeneigt war, stattdessen Programm, Intention, Faktur und Pragmatik seiner Dichtungen vornehmlich in Vorreden zu exponieren beliebte: Unversehens sind wir, bester WARSENIUS, in jene Epoche geraten, die angesichts der Härte der Kriege und der verbreiteten Symptome der Zwietracht gar keinen Hehl daraus macht, aus den schlechteren Metallen vor allem das Eisen an sich gezogen zu haben: überall Verwüstung, Scheiterhaufen, Gemetzel, Geheul, Klage. Inmitten dieser Erfahrungen pflege ich dennoch jenen berühmten Ausruf Ciceros anzustimmen: »O Tempora, o Mores!« Wenn es Steine und Blut regnet, wenn die Bäume vom Himmel getroffen werden, wenn zuckende Blitze den Schnee durchfurcht haben, wenn ein verderbenbringender Komet erschien, dann suchen wir nach den Ursachen. Jahrelang werden wir bis zum Überdruß gequält. Weshalb aber und woher die schrecklichen Strafen so anwachsen, darum kümmern sich fragend nur der Scharfsinn und die Scham weniger. Bekennen muß man, daß Deutschland vom Triumphwagen herabgestoßen ist, ja auf alle nur denkbare Weise heimgesucht wird. Aber es darf auch nicht vertuscht werden, daß es 11

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Dazu Carl Joachim Classen: Barocke Zeitkritik in antikem Gewände. Bemerkungen zu den medizinischen Satiren des »Teutschen Horatius« Jacob Balde S.J. In: Valentin (Hg., wie Anm. 2), S. 67-125; Hermann Wiegand: »Ad vestras, medici, supplex prosternitur aras«. Zu Jacob Baldes Medizinersatiren. In: Udo Benzenhöfer und W. Kühlmann (Hg): Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit, Bd. 109), S. 247-269; zu anderen satirischen Texten Baldes vgl. Doris Behrens: Jacob Baldes Auffassung von der Satire, in: Valentin (Hg., wie Anm. 2), S. 109-126. Warsenius: einer der vielen (keinesfalls nur anagrammatisch) verschlüsselten Namen von Adressaten in Baldes Paratexten und poetischen Werken; um ihre Identifizierung hat sich die neuere Forschung leider kaum mehr gekümmert; anders Westermayer im Kreis seiner Baldefreunde, die auch über Warsenius diskutierten, wobei Westermayer den jungen Freiherrn Stephan von Closen in/auf Wa[c]kerstein a. d. Donau vorschlug. Der junge Closen gehörte wohl zu den früheren Schülern Baldes während der Ingolstädter Zeit ( 1631/32); s. W. Kühlmann: Georg Westermayer und die bayerische Balde-Rezeption des 19. Jahrhunderts: Die Briefe Westermayers an Otto Voggenreiter (1872/73). In: Daphnis 23 (1994), S. 85-108, hier S. 104f.

Alamode-Satire,

Kultursemiotik und jesuitischer

Reichspatriotismus

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beinahe schon in absichtlichem Lauf in den Graben stürzt. Beim Herkules, ich weiß nicht, ob die Zahl der Zugrundegerichteten größer ist oder das Streben, zugrunde zu gehen. Obwohl ich es für barbarisch und grausam halte, das heimgesuchte Vaterland, wenn auch ein unfrommes, aufzuscheuchen, so halte ich es für nicht weniger unwürdig, gänzlich zu schweigen über das in Qualen sich am Boden windende [Vaterland]. Was aber, wenn dem Magen eines Kranken eine willkommene bittere Arznei eingeflößt wird, ein erfreuliches Heilmittel in Gestalt eines bitteren Pilzes, wodurch - einmal in die Adern aufgenommen - der Kranke bald zu mehr Leben kommt und die Krankheit zu hassen beginnt, auch sich darüber freut, daß seine Irrtümer mit dem Stachel der Wahrheit hart bedrängt werden? Dies will ich in aller Kürze tun. Um die Wunden nicht vollends aufzureißen, habe ich zuerst die mildeste Art des Gesanges ausgewählt, wie sie die Dichterin Sappho erfand. Dann habe ich den für zarte Liebesgeschichten erschaffenen Vers mit erträglicher Bitterkeit durchsetzt. Manchmal war scharfer Witz hinzuzufügen, womit der von Lastern gezeichnete Körper abgerieben werden sollte, damit er nicht in Fäulnis übergehe. Ich hätte das spöttische Lachen des Horaz, den Rauch des Persius, die Säge des Lucilius, die Hacke Juvenals dabei gebrauchen können. Es ziemte mir nicht. Gelinden Zugang suche ich zu den Geheimnissen der bejammernswerten Königin [Deutschland]. Ich zeige die Samen der Übel, welche die Blüte der alten Biederkeit aussaugen. Dabei erwähne ich nicht die Grausamkeiten, die Deutschland verübt und wodurch es nicht so sehr seiner eigenen Veranlagung nach als unter dem Einfluß anderer sündigt. Mit dem Finger zeige ich nur auf vier Quellen, aus denen vor allem das höchst gegenwärtige Gift herbeiströmt. Wenn man diese [Quellen] verstopft, dann wird man wieder aus der goldenen Ader der Alten Zeit reine Glückseligkeit trinken dürfen. Ich führe eine kühne Sprache, WARSENIUS. Zu unserem schicksalsträchtigen Unheil mißachten wir das Unsere, weil wir immer das Fremde für besser halten. Die Gewohnheiten aller Völker ahmen wir nach und werden so zum Spottbild aller. Mit der ausländischen Kleidung ziehen wir tausend fremde Laster an, um ebensoviele Arten von Strafen zu verdienen. Indem wir die Spuren der Vorfahren auslöschen, verirren wir uns in gewohnter Abweichung täglich auf neue Pfade anderer Nationen. Was man fernhalten sollte, wird mit Vorliebe gehegt, ja sogar mit großem Geldaufwand gekauft, von einer törichten Femreise nicht ohne Beifall nach Hause gebracht. Entartet, wie wir sind, hätten wir mit geringerem Aufwand zugrunde gehen können, wenn wir es nicht vorgezogen hätten, die Mischung des Unheils mit den Beweiszeichen einer noch mehr verbreiteten Dummheit zu überhäufen. Daß dies freilich nicht notwendigerweise und nicht von allen so getan wird, sondern nur von den meisten, gewissermaßen in der Gewohnheit einer stolzen und frechen Unbekümmertheit, dafür bist du der reichste Zeuge. In ausländische Königreiche und verschiedene Provinzen gesandt, hast du deinen Geist nur ausgebildet, nicht aber zugrunde gerichtet: Du hast deine Begabung gebildet, nicht aber schmachvoll besudelt. Mehr als vier Jahre sind es her, seitdem du, uns wiedergegeben, die willkommenste Zier männlicher Klugheit und das Unterpfand des bewahrten Glaubens verkörperst. Keine äußeren Verlockungen haben dich verändert: Nicht verweichlichten dich das Auftreten der fremden Völker, nicht ihr Verhalten, nicht ihre Beispiele. Nach Vätersitte lebst du, empfiehlst die gute Tradition deiner Familie. Reine Gesinnung, altertümliche Strenge und eine unbefleckte Sorge um das Ehrenhafte bleiben bestehen. Vom Tejo in Spanien, der Marne in Frankreich, dem Tiber und dem Po in Italien hast du getrunken. Trotzdem bevorzugst du den Rhein und die Donau dank der Würde deines Ursprungs und der Liebe zu deiner Herkunft. Du wirst also die Gedanken deiner wie gleichermaßen unserer Gesinnung wohlwollend aufnehmen und das, was nur auf ganz wenigen Seiten zum Ausdruck gebracht ist, in wechselseitiger Zustimmung und gegenseitigem Respekt bestärken.

Es geht hier nicht um dieses oder jenes zeitgeschichtliche Phänomen, sondern um die - wie in Opitz' Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Kriegs (Prooemium des ersten Buches) - durch eine Fülle von Prodigien angekündigte moralische wie machtpolitische Depravation Deutschlands, die in den Greueln des mörderischen Bürgerkrieges nicht eigentlich ihre Ursachen, sondern ihre manifesten Konsequenzen zeitigt. Die im späthumanistischen Schrifttum nicht ungewohnte

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Frage nach der >Felicitas saeculipolitische< Krankheitsdiagnose, der das überkommene sozialtherapeutische Konzept eines satirischen Schreibens entspricht, das dem »kranken Körper« (der Nation oder des Staates) bittere, aber wohltuende Medizin verabreicht.14 Die Krankheitsdiagnose verlangt Ursachenforschung. Indem Balde vier Ursachen (»Quellen« des Übels) postuliert, gibt er die Themen des von zwei Rahmengedichten umgebenen Mittelteils des Odenbuches vor. Den heutigen Leser führt die Textinterpretation auch zu einigen thesenhaften Überlegungen anhand der Frage, ob wir in der weitgespannten, fast alle Gattungen durchziehenden literarischen Alamode-Diskussion nur das historisch hoffnungslose Residuum >altdeutscher< Rückständigkeit15 oder nicht vielmehr einen epochenspezifischen Diskurs der Kulturanthropologie16 von überragendem Indizwert zu entdecken haben. 13

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Dazu W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3), S. 17-112 und bes. 136-165. Die medizinische Metaphorik der Satiretheorie entspricht der politischen Körpermetaphorik; zur wirkungsästhetischen Gattungstheorie Ansatzpunkte bei Mary Claire Randolph: The Medical Concept in English Satiric Theory: Its Possible Relationship and Implications. In: Studies in Philology 38 (1941), S. 125-157. Die Reduktion des Alamode-Schrifttums auf antihöfische Tendenzen oder stilistische Atavismen in der älteren Literatur (Vogt, Windfuhr) greift in kulturgeschichtlicher Sicht (gerade bei Balde zu beobachten!) ebenso zu kurz wie die genuin linguistische Reduktion auf den Fremdwortpurismus und ähnliche Argumente; dazu allerdings neuerdings der äußerst materialreiche Quellenband von William Jervis Jones: Sprachhelden und Sprachverderber. Dokumente zur Erforschung des Fremdwortpurismus im Deutschen (1478-1750). Berlin-New York 1995 (hier auch die sprachhistorische Literatur aufgeführt); vgl. auch die Zusammenfassung von Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin, New York 1994 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N.F. 108), S. 148f., 166ff., 428ff. u.a. Aus den wenigen neueren Einzelstudien zum Alamode-Komplex (das Thema ist wegen der nationalen Konnotationen in der deutschen Literaturwissenschaft stigmatisiert) seien genannt Horst Langer: AlamodeGebaren und altdeutsches Wesen in Johann Michael Moscheroschs Satire »Gesichte Philanders von Sittewalt«. In: Deutung und Wertung. Festschrift zum 60. Geburtstag von W. Spiewok. Greifswald 1989, S. 152-161 ; Gonthier-Louis Fink: Vom Alamode-Streit zur Frühaufklärung. Das wechselseitige deutsch-französische Spiegelbild 1648-1750. In: Recherches Germaniques 21 (1991), S. 3^t7; (zu einem anti-italienischen Beispiel) Italo Michele Battafarano: Zettelkraut statt Zitronen. Nationaler Stolz aus defensiver Kritik an Ausländerei und Exotismus bei Hippolytus Guarinonius. In: Simpliciana XVII (1995), S. 141-153. Anregend nach wie vor die Aufsätze von Georg Simmel, darunter: Zur Psychologie der Mode, neugedruckt, in: ders.: Soziologische Ästhetik. Hg. und eingeleitet von Klaus Lichtblau. Bodenheim 1998 (Kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 1); René König: Kleider und Leute. Zur Soziologie der Mode. Frankfurt/M. 1967 (Fischer-Tb. 822); vgl. auch zum Stand der Diskussion Udo H.A. Schwarze: Das Modische. Zur Struktur sozialen Wandels der

Alamode-Satire, Kultursemiotik und jesuitischer Reichspatriotismus

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1. Deutschland, metonymisches Subjekt kollektiver Gesinnung und kollektiven Handelns, ist für Balde Agent der Grausamkeiten und ihr Opfer zugleich. Denn seine Ursachendiagnostik läuft auf die Differenzierung des Deutschen und des Undeutschen zu: des Eigenen und des Fremden, des angeblich genuin Bodenständigen, im ehemals fraglosen Traditionalismus Überkommenen und des von außen nicht nur machtpolitisch Erzwungenen, sondern in Verblendung Importierten. Ursachenforschung zielt für den Moralisten auf Fragen der Lebensführung. Zum daraus entwickelten Dekadenzsyndrom gehört dialektisch das Lob der germanischen Frühe und eines imaginären Status der Makellosigkeit. Differenzen werden so scheinbar historisiert und mit nationalen Stereotypen, vor allem mit antiromanischer (nicht unbedingt nur antifranzösischer) Polemik aufgeladen. Diese war, wie auch Balde nahelegt, in erster Linie innenpolitisch motiviert, wenngleich gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges die militärisch-politische Katastrophe des Reiches als Evidenzargument basaler Veränderungen zu instrumentalisieren war. 2. Die in modischen Phänomenen sinnfällige Pluralisierung habitueller Lebensmuster erscheint als Abfall, der potentiell korrigiert werden könnte. Solche Korrektur meint die Immunität oder gar den Widerstand gegen den Zwang des als modern auftretenden Konformismus, einen Widerstand, wie ihn Balde exemplarisch im Adressaten der Widmungsvorrede verkörpert sieht. 3. Wie im Fall der zeitgenössischen oberrheinischen Autoren wendet sich Baldes traditionalistischer Integralismus, moralisch artikuliert und nationalromantisch aktualisiert, gegen den geschichtlichen Verlauf selbst, d. h. gegen die den sozialen >status quo< immer von neuem gefährdende Dynamik der Alltagsgeschichte im Sinne einer Veränderung von Mentalitäten und Anpassungsdirektiven. Zu Frage steht die futurische Offenheit der Geschichte als Inbegriff faktischer, legitimer oder illegitimer Mutationen. In dieser Bewertungsoptik entspricht dieses Buch der Sylvae einem beachtlichen Teil der zeitkritischen Literatur der dreißiger und vierziger Jahre des 17. Jahrhunderts. AlamodeKritik, argumentationslogisch nur als >laus temporis acti< zu formulieren, nun vor allem nationalpolitisch gewendet, gehört dabei allerdings unrettbar zur Distinktionsfunktion des Modischen selbst, insofern Mode zunächst nichts als die reine Differenz an der Scheide des als zeitlich dekouvrierten Vergangenen und der vorweggenommenen Zukunft bezeichnet. Mode meint so die ästhetisch markierte Aktualität zwischen den historischen Zeitdimensionen, ist dabei geradezu darauf angewiesen, wahrgenommen und besprochen zu werden. 4. Im Alamode-Diskurs werden Konflikte der Sinnhaftigkeit und derZweckhaftigkeit des Verhaltens im wahrsten Sinne des Wortes symbolisch ausgetragen, indem - eigentlich ganz >modern< - die Symptomatik lebensweltlicher Moderne. Berlin 1982 (Soziologische Schriften, Bd. 38), hier S. 107-112 auch ein knapper Exkurs: Die modische Nachahmung in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts; H. Brinkmann/H. R. Konersmann: Artikel >ModeNeue< kreisenden moralischen, historischen und sozialpsychologischen Reflexion. Wohl kein anderes Argumentationssystem des späten 16. und vor allem des 17. Jahrhunderts bot demnach für die intentionale Aktualisierung kritischer Diskurse (sprach- und stilkritisch, moralistisch, politisch, juristisch-policeyrechtlich, sozialtheologisch, sozialgeschichtlich, ökonomisch-merkantilistisch, kulturtheoretisch und geschichtsphilosophisch) so vielfältige Anhaltspunkte wie das Arsenal der Alamode-Kritik. Jedes der hier in Frage kommenden Werke sollte daraufhin überprüft werden, welche dieser diskursiven Elemente in einer gegebenen Schreibsituation aufgegriffen und mit jeweils anderen, literarisch faßbaren Traditionsbeständen kombiniert werden. Dies kann im folgenden nur in einigen Anmerkungen geschehen. II Balde hat das dritte Sylven-Buch sorgfältig komponiert. Dem poetischen Erinnerungsakt der ersten Ode, konzentriert auf den »felix status« des alten Germaniens, korrespondiert zuletzt (Ode VI) in adhortativem Resümee das »Consilium Auctoris«. Atavistische Imaginationen entfalten sich in der Ver-

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schränkung von Bildern und Kommentaren. So wird mit taciteischem Kolorit eine vor aller zivilisatorischen Verderbnis angesiedelte Frühzeit beschworen, Konstruktionsmodus einer politisch-moralistischen Kulturkritik, die prärousseauistische Funktionen einer Romantik des Natürlichen verrät. Dialektisch wird - in der zyklischen Kohärenz der Gedichte - diese Schilderung bereits ausgerichtet auf die aggressiv-sarkastischen Anklagen der Mitteloden: Indem Ode II im Titel die »prava aut perfunctoria Germanicae juventutis educatio« thematisiert, findet sie ihr expositorisches Contra in Bildern altgermanischer >AbhärtungWelschesemporium mundicuriositasOrtenau< von 1934 und 1984, oder auch Artur Bechtold: Die Ullenburg bei Tiergarten (in: Die Ortenau 4 (1913), S. 106-122) oder Berta Freifrau von Schauenburg: Die Ullenburg bei Tiergarten (in: Die Ortenau 21 (1934), S. 246-249), dann greift man auch hier ins Leere. Offenbar hat sich erst im 20. Jahrhundert jemand die Freiheit genommen, eine historisch relativ gut dokumentierte Figur wie Dr. Johann Küffer in eine Sagengestalt zu verwandeln. Wir lassen diesen bedenklichen Fall beiseite. Einen tüchtigen Beitrag dazu, daß sich um die Gestalt des Straßburger Arztes der Nimbus des Sagenhaften bilden konnte, hat Grimmelshausen selbst geleistet. Er hat, so vermutet man längst, in einem zentralen Teil des Simplicissimus, in den ersten fünf Kapiteln des vierten Buches, Dr. Küffer unter dem Namen Monseigneur Canard zu einer Figur - einer recht fragwürdigen Figur - seines Romans gemacht. Die Hinweise auf einzelne Züge der Person Küffers sind so dicht, daß daran kein Zweifel mehr sein kann. Das fängt mit dem Beruf Küffers an: Monseigneur Canard verdient als Arzt hochadliger Kreise reichliche Honorare. Es betrifft den gesellschaftlichen Umgang mit vornehmen Leuten, geht dann aber bis in solche Details wie Sprachkenntnisse,

Sagen und Schwänke vom Oberrhein. Konstanz 1965, S. 176-178.

Dr. Johann Kiiffer (1614-1674)

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die beide, Kiiffer und Canard, haben. Von Canard heißt es: »Dieser Doctor redte so gut teutsch/ als ich/ und das Italiänisch/ wie seine Muttersprach«2 für Dr. Küffer ohne weiteres plausibel: er hatte längere Zeit in Padua Medizin studiert. Simplicissimus im Roman fragt Canard: »Warumb er sich nit von seinem Adelichen Sitz schreibe/ den er neulich nahend Pariß umb 20 000. Cronen gekaufft hätte? item/ warumb er lauter Doctores auß seinen Söhnen zu machen gedencke/ und sie so streng studiren lasse?«3 In der Tat hatte Küffer 1661 die Ullenburg vom Haus Württemberg als Lehen gekauft, erhob Prätentionen auf den Adelsstand (davon gleich mehr), nannte sich aber nicht nach der Ullenburg. Über seine vier Söhne ist wenig bekannt, doch weiß man von einem sicher, daß er Medizin studierte und in Straßburg 1675 zum Doktor der Medizin promovierte.4 Die Leser von Grimmelhausens Lebensbeschreibung, soweit sie in Straßburg und der Ortenau zuhause waren, mußten die Züge Dr. Küffers wiedererkennen und die Satire verstehen: Monseigneur Canard im Roman sorgt sich nicht nur um die Gesundheit seiner hochadligen Patienten, er verschafft ihnen auch Vergnügungen, gibt Gastereien, läßt köstliche Speisen auftragen, denen gelegentlich Aphrodisiaka beigemischt sind, und vermittelt auch schon einmal Liebesdienste. Der Umgang mit dem Hochadel ist ihm zu Kopf gestiegen: »dann weil Möns. Canard sehr reich/ als war er auch überauß hoffärtig [...]«. Mehr noch, er konnte es wagen, sich Monseigneur anreden zu lassen, mit dem Titel, der sonst nur Prinzen und Bischöfen zukam. Küffer, so weiß man aus einigen Urkunden, ließ sich mit >Excellenz< ansprechen.5 Weniger bekannt, auch in der Forschungsliteratur, ist, daß auch eine Passage in der frühesten Schrift Grimmelshausens, im Satyrischen Pilgram (1666) deutlich auf Johann Küffer zielt. Es heißt da zunächst von Ärzten allgemein, unter Hinweis auf Johann Michael Moscheroschs Gesichte: »Aber die grosse

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Grimmelshausen: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi. Hg. von Rolf Tarot. Tübingen 21984, S. 293. Ebd. S. 295. Erste Informationen über Dr. Johann Küffer und seine Familie sind bei Julius Kindler von Knobloch: Oberbadisches Geschlechterbuch. Bd. 2,2. Heidelberg 1905, S. 401, zu finden, hier auch über die Promotion des ältesten Sohnes Wilhelm Christian zum Dr. med. 1675. Von Seiten der Literaturwissenschaft sind in jüngerer Zeit zwei Beiträge zur Biographie Dr. Küffers erschienen: Peter Heßelmann: Grimmelshausen - »gesellschaftlich alleingelassen«? Auf den Spuren seiner Gönner und Leser im 17. Jahrhundert. In: Simpliciana VIII (1986), S. 61-70. Susanne Hast: Die beiden Johann Küffer und ihre Beziehungen zu Grimmelshausen. In: Simpliciana X (1988), S. 199-210. Ich ziehe zusätzliches Archivmaterial und Druckschriften des 17. Jahrhunderts heran. In früheren Darstellungen, z.B. in Otto Winckelmann: Zur Geschichte des Badischen und Nassauischen Hofs in Strassburg - eine sonst wichtige Studie zum Wohnsitz Dr. Küffers in Straßburg - in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. 24 (1909), S. 569-596, sind dadurch Irrtümer entstanden, daß es in drei aufeinanderfolgenden Generationen Familienmitglieder gibt, die den Namen Johann Küffer tragen, nämlich Dr. Johann Küffer der Ältere (1579-1648), Dr. Johann Küffer der Jüngere (1614-1674) und dessen Sohn Johann Albrecht, der die militärische Laufbahn einschlug. Gustav Könnecke: Quellen und Forschungen zur Lebensgeschichte Grimmelshausens. Hildesheim, New York 1977 (reprogr. Nachdruck der Ausgabe Weimar 1926-1928), S. 169.

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Walter Ernst Schäfer

und Nobilissime Herren Doctores Medicinae haben eben so wohl auch ihre Mängel.« Dann wird es persönlich:6 »Der allergröste aber bediinckt mich dieser zu sein/ daß wann ihnen ein paar Proben gerathen/ also/ daß sie in einen Rueff kommen/ und sie sich bey grossen Herren insinuiren, und bekant machen können/ daß sie alsobald anfangen hoffartig zu werden/ seind stracks keine Dreybatzen=Docior mehr/ und sehen keinen armen Patienten mehr an/ dem sie sonst gern umb Gottes Willen wo nit geholffen: doch wenigst einen Gifft gegen seinem Antidoto ahn ihnen probiret hetten/ dann sie haben jetzt wohl andere Kühe zu melcken; lassen sich anfänglich für kurtzweilige Räthe oder Cupler gebrauchen [wieder eine Anspielung auf spezielle Dienstleistungen! W.E. Schäfer]/ biß sie endlich so kirr werden/ daß sie mit den Fürsten schertzen dörffen/ wie vor diesem des Königs in Ungarn Balbirer thät [...] [dezente Ablenkung des Lesers in eine unverfängliche Richtung! W.E. Schäfer].«

Es muß sich in Grimmelshausen allerhand Unmut gegen seinen früheren Dienstherrn aufgestaut haben, daß er ihn solcherart zum Repräsentanten der höchsten Schicht des Berufsstandes macht. Soweit ich sehe, hat sich in der Fachliteratur bisher niemand über den Namen Canard Gedanken gemacht. Le canard, die Ente, hat in Fabeln und allegorischen Tierdarstellungen keine eindeutigen stereotypen Qualitäten. Von daher ist wenig zu gewinnen. Doch bemerkt man nach einigem Suchen in der zeitgenössischen Literatur eine topische Verbindung zwischen der Vorstellung von der Stadt Paris und der von Enten. Johann Fischart, von dem Grimmelshausen ohnehin manche Idee und manches Motiv aufgenommen hat, beschäftigt sich im 14. Kapitel der Geschichtsklitterung eingehend mit Paris (Lutetia), mit dem Namen der Stadt, seiner Etymologie und schlägt, als Witz, einen unter andern Erklärungsversuchen des Namens vor: »Viel heißen die statt von luto, weils Luter Kaat Endten da hat«.7 - Schmutz und Dreck (lutum), Wasser (die Seine) und Enten, die im Schlamm wühlen - das scheint eine feste Assoziationskette zu sein. Daß man auch für Grimmelshausen auf der richtigen Spur ist, bemerkt man spätestens dort, wo er vom Empfang des Simplicissimus in der vornehmen Pariser Liebeslaube durch eine adlige Hofdame erzählt: »Diß war unser Diseurs, dieweil mir eine Adeliche Jungfer/ so dem Feuer pflegte/ Schuh und Strümpff außzoge/ die ich überall im Finstern besudelt hatte/ wie dann Pariß ohne das eine sehr kothige Statt ist«.8 Sumpftümpel und Enten gehören zusammen, so wie Paris und Monsieur Canard.

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Grimmelshausen: Satyrischer Pilgram. Hg. von Wolfgang Bender. Tübingen 1970, S. 143. Johann Fischart: Geschichtsklitterung (Gargantua). Synoptischer Abdruck der Bearbeitungen von 1575, 1582 und 1590. Hg. von Albert Aisleben. Halle a. S. 1891 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts Nr. 65-71), S. 233. Auf diese Motiventsprechung bei Fischart und Grimmelshausen hat Dieter Breuer: Grimmelshausen und Fischart. In: Simpliciana XII (1990), S. 163 aufmerksam gemacht. Simplicissimus (wie Anm. 2), S. 304. Welche Vorstellungen mit Enten verbunden waren, erhellt z.B. aus Antoine Furetière: Dictionnaire universel. Bd. I. La Haye 1690, unter dem Lemma Canard (keine Paginierung): »Oiseau aquatique ... Le canard domestique qu'on nourrit près des moulins est peu estimé, & on l'appelle barbotteur, pareequ'il trempe toujours son bec dans la bourbe« - im Gegensatz zu den Wildenten, die mehr geschätzt werden.

Dr. Johann Küffer

(1614-1674)

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Trägt man nun die in zeitgenössischen Zeugnissen der verschiedensten Art und in der Forschungsliteratur weit verstreuten Fakten über den historischen Dr. Küffer zusammen, so verliert die Figur einiges von ihrem sagenhaften Nimbus, bleibt aber erstaunlich genug. Ihr Reichtum und ihr Ruf bei Fürsten und großen Herren erklärt sich zum guten Teil aus den Vorleistungen und Vorgaben der vorhergehenden Generationen, besonders des Vaters. Schon Johann Küffer der Ältere (1579-1648), der aus Eßlingen stammte, hatte in Straßburg Humanwissenschaften studiert, 1600 bzw. 1601 an der Straßburger Akademie die Grade des Baccalaureus, dann des Magisters erlangt und danach - nach dem Erwerb des Doktordiploms in Basel 1605 - sich in Straßburg auch niedergelassen.9 Durch seine Heirat im Jahr 1607 mit Maria Jacobe Hoffmann, der Tochter eines baden-durlachischen Hofrats, muß er mit höfischen Kreisen in Kontakt gekommen sein, blieb aber in Straßburg und erwarb hier 1609 das Bürgerrecht. Im Mannesalter stand schon er, nicht erst sein Sohn, im gelegentlichen oder andauernden Dienst regierender Fürsten. 1625 übernahm er den Auftrag des Markgrafen Wilhelm von Baden-Baden (reg. 1622-1677), eine Empfehlung und Beschreibung der Baden-Badener Quellen und Kuren zu erarbeiten. Die Schrift erschien unter dem Titel Beschreibung des Marggrävischen Warmen Bades Sampt Beygefiigtem Natürlichem diseurs von allerfliessenden und insunderheit der warmen wasser ursprung 1625 in Straßburg.10 In noch bedeutendere Funktion stieg er als Leibarzt des württembergischen Hofes unter Eberhard III. auf, der sich mit seinem Hofstaat nach der Niederlage der protestantischen Sache 1634 vor Nördlingen nach Straßburg geflüchtet hatte. Als Herzogin Barbara Sophia von Württemberg, die Witwe des bis 1628 regierenden Herzogs Johann Friedrich, 1636, während des großen Seuchenjahrs in Straßburg, gestorben war, schritt Küffer der Ältere, zusammen mit einem zweiten Leibarzt, in dem pompösen Leichenzug mit, der sich durch die Stadt bewegte. Die erhaltene Darstellung dieses Zeremonialaktes - bisher unbekannt - vermerkt als Trauernde, die unmittelbar hinter dem elsässischen Hochadel piaziert sind:11 Auff dise seynd gefolgt/ beede Fürstl. Leib-Medici Johann Küffer/ Med. Doct. Gottlieb Breuning/ Med. doct.

(Übrigens marschierte im Trauerzug auch Anton von Lützelburg,12 der spätere Oberamtmann des württembergischen Herzogs in Oberkirch, mit, mit dem Grimmelshausen später geschäftlich als Schaffner zu tun bekam.) Es muß sich wohl um eine feste Anstellung als Leibarzt gehandelt haben, ein Faktum, das 9 10

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Die Daten nach J. Kindler von Knobloch und Susanne Hast (wie Anm. 4). Jacques Betz (Hg.); Répertoire bibliographique des livres imprimés en France au XVIIe siècle. T. VI. Baden-Baden 1984 (Bibliotheca bibliographica Aureliana 92), S. 110. Ich fand diese für das württembergische Herzoghaus im Straßburger Exil aufschlußreiche Darstellung im Hohenlohischen Zentralarchiv Neuenstein unter der Nr. LP SA Bd. Ν (4) 1. Anton von Lützelburg (1595-1662), 1629-1633 Württemberg. Oberamtmann in Oberkirch. S. Walther Pfeilsticker: Neues Württembergisches Dienerbuch Bd. 2. Stuttgart 1963, § 2719. Gustav Könnecke (wie Anm. 5), S. lOOff.

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dann die engen Beziehungen des jüngeren Küffer zum württembergischen Hof, auch als dieser nach Stuttgart zurückgekehrt war, verständlich macht. Doch müssen noch andere regierende Häupter die Dienste des älteren Küffer in Anspruch genommen haben. Denn ein Epicedium des Straßburgers Johann Matthias Schneuber, des in allen Straßburger Leichabdankungen der Zeit am häufigsten mit Trauergedichten vertretenen Mitglieds der Tannengesellschaft, auf Johann Küffer den Älteren trägt den Titel: In obitum JOHANNIS KÜFFERI Consummatae Doctrinae & peristiae Medici, variorumque Principum & Magnatum Archiatri, & Consilarii.13 Ganz ähnlich werden die Formeln beim Tod des Sohnes lauten. Die herausragende Position des Vaters innerhalb der Straßburger Bürgerschaft, seine Dienste und seine Bekanntschaft an fürstlichen Höfen legten den Grund für die eminente soziale Position des Sohnes. Johann Küffer der Jüngere, 1614 in Straßburg geboren, genoß in den dreißig Jahren bis zum Tod seines Vaters 1648 eine sorgfältige, wohlüberlegte Erziehung. Er schrieb sich im Januar 1633 in die Matrikel der Humanistenfakultät in Straßburg ein, im Jahr der Gründung der literarischen Gesellschaft von der Tanne durch Jesaias Rompier von Löwenhalt und Johann Matthias Schneuber, war etwa gleichaltrig wie die gleicherweise frisch immatrikulierten Mitgenossen dieser Gesellschaft Andreas Hecht und Peter Samuel Thiedrich, poetisch begabt und zögerte nicht, ein Poem beizutragen, wenn es um eine Feier, eine Trauerfeierlichkeit ging.14 Es sind nicht wenige meist deutschsprachige Gedichte seiner Hand in den Sammlungen der Gelegenheitsschriften Straßburgs erhalten. Er konnte sich, mehr als die andern, mit den Studien Zeit lassen. Im Herbst 1633 und im nächsten Jahr ist er als Medizinstudent in Basel nachweisbar, im Herbst 1637 in Padua, einer Hochburg medizinischer Studien. Man trifft ihn 1638 in London an, wo er dem aus Württemberg stammenden Georg Rodolf Weckherlin (1584—1653), zu dieser Zeit Sekretär im Dienst der englischen Krone, einen Besuch machte, der sich in einem Tagebucheintrag dokumentiert.15 Italien und England waren jedoch nicht die einzigen Länder, in denen er, während zu Hause in Straßburg Hungersnöte und Seuchen die Bevölkerung dezimierten, seine Studien fortsetzte. Er muß sich auch in Frankreich und den Niederlanden aufgehalten haben16 - eine Ausdehnung und Zeitdauer der akademischen 13 14

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Matthias Schneuber: Fasciculus Poematum Latinorum. Straßburg 1656, S. 13. Die Lebensdaten Kiiffers d. J. nach der akademischen Trauerrede von Julius Reichelt: Programma Funebre Jean Küffer, Straßburg 1674 (BNU Strasbourg Mg 25927) in Übereinstimmung mit G. Könnecke und Susanne Hast. Über die >Tannengesellschaft< informiert Karl F. Otto: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1972, S. 57ff. und unsere Edition: Des Jesaias Rompiers von Löwenhalt erstes gebiisch seiner Reim-getichte 1647. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Walter E. Schäfer. Tübingen 1988, Nachwort S. 51-96. Vgl. auch Wilhelm Kühlmann: Rompier, Hecht und Thiederich - Neues zu den Mitbegründern der Straßburger Tannengesellschaft, abgedruckt in diesem Band unter Nr. 7. Darauf machte Leonard Forster: Aus der Korrespondenz G.R. Weckherlins. In: Schiller Jb. 4 (1960) S. 182-184 aufmerksam. Nach der Gedächtnisrede von Julius Reichelt (wie Anm. 13).

Dr. Johann Küffer

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Studienreise (peregrinatio), die sich seine Freunde in der Tannengesellschaft nicht leisten konnten. Erst am 9. April 1640 - die Kriegssituation am Oberrhein hatte sich etwas beruhigt - stellte er sich der Disputation an der Straßburger Universität, die den Erwerb der medizinischen Doktorwürde abschloß. Noch im gleichen Jahr ehelichte er Anna Maria Eyselin, Tochter des Brandenburgisch-Ansbachischen Geheimen Rats Philipp Eyselin, und nahm endgültig in Straßburg Wohnung und Praxis. Dank des Vaters hatte er keine Mühe sich zu etablieren. Seine Kundschaft waren zunächst bürgerliche Patrizier und Adelsfamilien im Straßburger Umkreis. (Wenn man die Andeutungen Grimmelshausens in Bezug auf Monsieur Canard auf Küffer beziehen darf, dann behandelte er ärmere Leute selten und nur, um dem Ruf ausschließlichen Profitstrebens zuvorzukommen.) 17 . Aus dem Bereich seiner Straßburger Tätigkeit sind wenig Spuren geblieben. Doch versteht sich, daß man sich den Beruf eines Arztes vielseitiger als in der Moderne vorstellen muß. Johann Küffer hatte eine gesellschaftliche Stellung (ohne daß man von einem Sitz in einem der Ratsgremien Straßburgs wüßte), die es mit sich brachte, daß er an den Festund Trauerakten der guten Gesellschaft der Stadt teilnahm. In einigen Fällen läßt sich die Art der Teilnahme dokumentieren, so, als ein junger Adliger aus Danzig, Konstantin Kratzer, der an der Straßburger Universität studiert hatte und Anfang 1642 im Alter von 21 Jahren plötzlich gestorben war, beerdigt wurde. Sehr wahrscheinlich, daß Küffer ihn behandelt hatte. Zu den in diesem Fall aufwendigen Trauerfeierlichkeiten trug Küffer ein Gedicht, ein Epicedium, bei, das wohl, zusammen mit andern Gedichten auf den Verstorbenen, nach dem Trauergottesdienst in oder vor der Kirche gedruckt verteilt worden ist:18 Der Bimbssteins-Augen hat/ das Hertz gantz von Corallen; Kan jetzt nicht ohnbewegt/ noch ohne thränen sein: Kombt liebste Jugend kombt/ stelt' Euch im Klag-hauß ein/ Uns ist die schönste Blum von unsrem Krantz gefallen/ Ein jeder lasse heut ein Todten-liedt erschallen/ Ein jeder under uns nehm' einen augenschein/ Und Lehme daß der weg auch Jungen sey gemein/ Gewiß der Sicherst folgt am ersten von uns allen/ Herr Kratzer gehet nur ein wenig zeit voran/ Uns last Gott noch ein weil allhier zum biissen gehen/ Er nimbt die Rosen weg/ und last die distlen stehen. Wer in den Garten will der suche Gottes Lohn. Der guten meinung ist/ der seh' in dieses grab Gib Ihm den letzten grüß/ wisch dan die thränen ab.

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Simplicissimus (wieAnm. 2), S. 295: »er theilte zwar geringen Leuten auch von seinen Mitteln mit/ er nam aber kein gering Geld/ sondern schenckte ihnen eher ihre Schuldigkeit/ damit er einen grossen Namen haben möchte.« Parentalia Beatis Manibus Juvenis Nobilissimi Eruditissimis DN. Constantini Kratzer Gedanensis Borussi [...] Straßburg 1642 (British Library London, 11408 ec-2).

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Bezeichnend, daß Küffer mit keinem Wort von der Art der Krankheit des Verstorbenen, von ärztlichen Bemühungen spricht. Nachdem es im Ratschluß Gottes so beschlossen war, daß der junge Student sterben mußte, erfüllte auch der Arzt Küffer Christenpflichten und rückte das Ereignis in die Perspektive christlicher Heilshoffnung. Zugleich ist das Gedicht in der Leichtigkeit seiner Versbindungen, in der Wahl der Metaphern, ein Zeugnis für die poetische Begabung Küffers. Einer, der es wissen mußte, Balthasar Venator (1594-1664), zu dieser Zeit Hofrat in Zweibrücken und selbst vielseitiger Literat, zählte Küffer gleich nach Jesajas Rompier von Löwenhalt zu den herausragenden Vertretern der Poesie in Straßburg und Schloß eines seiner Gedichte so:19 Ach daß das Elsas müsst' an statt der dreyen Buchen Drey Lorbörbäum' anheim zur stethen pflanzung suchen/ Darab Herr Rumpier hätt' offt eine newe Cron: Doch daß Herr Kieffer auch bekam' ein theil darvon.

Doch gehen wir hier auf die weiteren erhaltenen Gedichte Küffers nicht ein und wenden uns jenen Geschäften des Arztes zu, mit denen er in die Spuren seines Vaters trat. Auch er war Leibarzt am Württembergischen Hof, jetzt in Stuttgart, am Hof Eberhards III., wie die Hofämterregister ausweisen, um 1660 in der Stellung des dritten »Leibmedikus«.20 Sicher nicht bloßes Ehrenamt. Küffer begleitete den württembergischen Herrscher auf Reisen, so schon 1652 auf den Reichstag in Regensburg. Er muß darüber hinaus an zahlreichen anderen Höfen medizinischen Rat gegeben haben. Jedenfalls führt der Verfasser der akademischen Gedächtnisrede auf Küffer, der Mathematikprofessor Julius Reichelt, nach seinem Tod 1674 weitschweifig aus, Küffer habe drei Kurfürsten, zwei Kardinälen, drei Bischöfen, acht Fürsten, neun Prälaten, sechs Grafen und einer Reihe von Freiherrn ärztliche Dienste geleistet.21 Da mag es sich um gelegentliche Beratungen gehandelt haben, die nun, wie so oft in Gedächtnisschriften, zum Lob des Verstorbenen aufgebauscht wurden. Doch muß sein ärztliches Renommee groß gewesen sein. Nur in einem Fall, über Eberhard von Württemberg hinaus, läßt sich ein festes Anstellungsverhältnis nachweisen. 1652 wurde Küffer durch den Probst Norbert Hodapp von Allerheiligen zum Klosterarzt bestellt und seine Pflichten schriftlich geregelt:22

"

Des Jesaias Rompiers von Löwenhalt [...] Reim-getichte (wie Anm. 14), S. 232. Nach alter Überlieferung soll an der Stelle, wo sich heute das Straßburger Münster erhebt, in vorchristlicher Zeit ein Heiligtum der Druiden unter drei Buchen gewesen sein. Vgl. Johann Daniel Schoepflin: Alsatia Illustrata Celtica Romana Francica, Bd. I),Kolmar 1751, S. 87, 134-135. August Stöber: Die Sagen des Elsasses. St. Gallen 1858, S. 451^154.

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Walther Pfeilsticker (wie Anm. 12), Bd. I. Stuttgart 1957, S. 329. Wie Anm. 14. Herrmann Baier: Die zeitgeschichtlichen Aufzeichnungen des Probstes Norbert Hodapp von Allerheiligen (1640-1653). In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. 32 (1917), S. 118. Vgl. auch Gustav Könnecke (wie Anm. 5) Bd. II, S. 169.

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October. 15. dedimus d. doctori Kiieffer literas sub sigillo praepositi et conventus und ihn pro medico monasterii confirmiert. Soll im früeling und herbst vor und in der aderlässe aufwarten, dafür haben 12 ohmen wein, 12 fiertel körn und 12 daler, item darbey obligiert sein, zu allen religiosis infirmis, auch den pfarherrn zu kommen, solle aber seine aigne pferdt haben und ihm das kloster niemahl ein pferdt zu schickhen schuldig sein. Doch soll ihm das kloster wegen der pferdt järlich 10 frtl. haber geben und wan er auserhalb obbemelten Zeiten zu einem kranckhen erfordert wirdt, ihme täglich ein daler gegeben werden.

Wie lange dieses Vertragsverhältnis gedauert hat, ließ sich nicht ermitteln. Doch ist es sicher noch für Grimmelshausen als Schaffner Küffers auf der Ullenburg bedeutsam geworden. Auch war Küffer einige Zeit Leibarzt eines Grafen von Nassau, zumindest, wenn dieser in seiner Straßburger Residenz abstieg.23 Ärztliche Verpflichtungen an anderen Höfen lassen sich auf Grund spärlicher Hinweise vermuten, so am Hof Franz Egons von Fürstenberg in Zabern, dem Straßburger Bischof, auch am Hof in Baden-Baden.24 Der dortige Markgraf Wilhelm bestimmte Küffer 1662 zu seinem Residenten, seinem diplomatischen Vertreter also, bei der Stadt Straßburg. Als solcher trat Küffer 1662 auf, als es darum ging, für Markgraf Wilhelm Erkundigungen über die Pläne Johann Michael Moscheroschs einzuholen, der sich zu dieser Zeit in Straßburg aufhielt.25 Man kann annehmen, daß Aufenthalte Küffers an diesem Hof in ärztlichen Angelegenheiten vorausgingen. Solche diplomatischen Funktionen ergaben sich in dieser Epoche öfters aus einer beruflichen Tätigkeit an Höfen, als ein Teil der Belohnung. Matthias Merian der Jüngere zum Beispiel, der als Porträtist häufig an Höfen verkehrte, auch am Hof in Baden-Baden, wurde mit diplomatischen Missionen, selbst vom Kurfürsten von Brandenburg, betraut.26 Voraussetzung war allerdings gewiß, daß man solchen Ärzten und Malern diplomatisches Geschick zutraute. Man geht sicher nicht fehl in der Annahme, die Honorarsätze für die ärztlichen Dienstleistungen Küffers an Höfen seien nicht weniger fürstlich gewesen als die - nachweislich - fürstlichen Honorare, die sich Matthäus Merian d. J. für seine Porträts bezahlen ließ.27 Jedenfalls brachte es Küffer d. J. nicht allein durch sein Erbe zu beträchtlichem Reichtum. Er investierte ihn in einen Land23 24

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Nach Otto Winckelmann (wie Anm. 4), S. 582, allerdings ohne Beleg. Franz Egon von Fürstenberg forderte ihn 1663 auf, nach Zabern zu kommen. S. Jan Hendrik Schölte: DerSimplicissimus und sein Dichter. Tübingen 1950, S. 124. Ein Epicedium Küffers von 1649 trägt die Unterschrift »Johannes Küfer. Fürstl. Badischer wie auch vieler andern Fürsten und Herrn Leib Medicus.« (Rudolf Lenz (Hg.): Katalog der Leichenpredigten in Bibliotheken und Archiven der Vogelsbergregion/. Marburg 1987 (Marburger Personalschriften-Forschungen Bd. 9), S. 261, Nr. 68). Jan Hendrik Schölte (wie Anm. 24), S. 125. Krieger: Wallerant Vaillant und Matthäus Merian der Jüngere am baden-badischen Hofe. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N. F. 8 (1893), S. 381-382. Markgraf Carl Ludwig von Baden-Baden schätzte Merian d.J. so ein: »Er vertieffet sich bißweilen zimblich in die Politic und Historie, aber nicht viel in die Moralitet, wann er einem ein 100 Rth. vor ein Contrefait zu mahlen abfordert. Ich aestimire seine Kunst aber nicht seinen Preis.« (Krieger, wie Anm. 26, S. 382).

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sitz und in ein Straßburger Stadtpalais, die beide wohl mehr der Repräsentation dienten als den Wohnbedürfnissen seiner, zugegeben, großen Familie - er hatte vier Söhne und zwei Töchter. Das Bemühen um Hebung seines sozialen Prestiges, über das städtische akademische Großbürgertum und den Stadtadel hinaus, ist schon beim Erwerb der Ullenburg bei Tiergarten im Jahr 1661 bemerkbar. Er kaufte die im Dreißigjährigen Krieg zerstörte Ullenburg vom Haus Württemberg als sogenanntes Pfandlehen, nur auf eine beschränkte Zeit über seinen Tod hinaus und mit der Auflage, die Burg wieder instand zu setzen.28 Das Terrain selbst und die Burgreste können nicht sonderlich wertvoll gewesen sein. Es kam Küffer wohl mehr auf jene zwei Rebhöfe an, die der Ullenburg zugehörten, und auf die Standesrechte, die an sie gebunden waren. Zwar war Küffer schon seit etwa 1640 (wohl durch das Erbe seines Vaters) Mitglied der Ortenauer Reichsritterschaft aufgrund von freiadligen Gütern in Durbach. Er hatte Sitz und Stimme auf den Rittertagen in Offenburg, zwischen den Landadligen aus dem Elsaß und der Ortenau. Doch der Besitz der Burg gab ihm in diesem Umkreis zusätzliches Gewicht.29 Ähnliche Motive müssen im Spiel gewesen sein, als Küffer im Herbst 1663 in der Krutenau, in einer Vorstadt am östlichen Rand der Altstadt Straßburgs, das traditionsreiche Haus »Zum Seidenfaden« erwarb.30 Auch dieses Anwesen war in baufälligem Zustand, kam aber aus hochadligem Besitz. Graf Johann von Nassau-Saarbrücken hatte es besessen, jedoch die Hypotheken nicht abtragen können oder wollen, die auf ihm lagen. Küffer überraschte 1663 den Magistrat der Stadt mit der Mitteilung, daß Johann von Nassau-Saarbrücken, dessen Leibarzt er wohl schon war, ihn beauftragt habe, die Gläubiger des Grafen auszuzahlen und auf diese Weise das Haus zu »liberieren«. Dafür wurden ihm die Besitzrechte übertragen. Der »Seidenfaden« hatte eine Generation zuvor den Wild- und Rheingrafen gedient. Johann Michael Moscherosch erzählt in der Patientia die Episode, wie sich ein gerissener junger Mann ohne ernsthaftes Studium, ein »Politisch kerl aber ein schlechter Christ« 1629 in diesem Haus bei Johann Georg, Wild- und Rheingraf (gest. 1650), um eine Sekretärstelle bewarb.31 Offenbar war es schon seit Generationen Residenz regierender Herren, das Ambiente, das Küffer suchte. Und er erweiterte den Besitz durch Zukäufe, im Mai 1664 durch den Erwerb eines angrenzenden Gartens, im Juli dieses Jahres durch den Kauf des daneben liegenden sogenannten Boschschen Anwesens, des späteren Badischen Hofes, der an einem Wasserlauf, am 28 29

Über den Kauf informiert detailliert Gustav Könnecke (wie Anm. 5), S. 168-170. Die Matrikel der Reichsritterschaft Ortenau von 1664 (GLA Karlsruhe 127 - Fase. 274, Blatt 67) führen an: »Item Herr Johann Kieffer der Artzney Doctor hatt Fünff Rebhöff in Durbach Das Schloß Ulenburg Undt dabey zwey Rebhöff«

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Über diesen Kauf ausführlich Otto Winckelmann (wie Anm. 4). H.M. Moscherosch: Die Patientia. Hg. von Ludwig Pariser. Hildesheim 1976 (Reprogr. Nachdruck der Ausgabe München 1897), S. 105.

Dr. Johann Küffer

(1614-1674)

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Rheingiessen, lag. Die idyllische Umgebung inspirierte Küffer zu der Idee, ein Sommerhaus auf die den Garten gegen den Rheingiessen abschließende Stadtmauer setzen zu lassen. Am Ende des Jahres 1664 muß auf diesem breiten Platz ein Anwesen von herrschaftlichem Gepräge zu sehen gewesen sein. Von ihm gibt nun, nach den Ausgrabungen des Jahres 1990, eine Brunnenfasssung mit dem Allianzwappen Küffer/ Eyselin und der Jahreszahl 1666 Zeugnis. Mag sein, daß der Brunnen den Abschluß der Bauarbeiten krönte.32 Dem sozialen Ansehen diente sicher auch das Kunstkabinett, das Küffer in diesem Haus einrichtete. Zwar hat sich nicht, wie bei andern Straßburger Sammlungen der Zeit, ein Inventar erhalten, doch muß es zu den sehenswertesten Sammlungen der an Kunstdenkmälern reichen Stadt gehört haben. Dafür spricht auch, daß die Sammlung später an eine »fürstliche Person«, wahrscheinlich an einen Markgrafen von Baden-Baden, verkauft wurde.33 Die andauernden und, wie es scheint, systematisch angelegten Bemühungen um Verbesserung des sozialen Status zielten letztendlich auf die Standeshebung, auf das Adelsprädikat. Dr. Küffer erreichte dieses Ziel nicht mehr. Erst seinen Söhnen gelang es, am Anfang des 18. Jahrhunderts das Adelsprädikat zu erlangen - Ergebnis von Bemühungen über drei Generationen hinweg. Doch auch die Ehrungen, die Dr. Küffer zu Lebzeiten erfuhr, sind beträchtlich. Mehrere Fürsten - sicher gilt dies von Herzog Eberhard III. von Württemberg - ernannten ihn zum Hofrat. Der renommierteste deutsche Porträtist der Zeit, eben Matthäus Merian der Jüngere, der ansonsten nur von Höfen Aufträge entgegennahm, porträtierte ihn 1669 und titulierte ihn als »diversorum Electorum et Principum Consilarius et Medicus artis pictoriae ac omnium Elegantiarum admirator«.34 Der Titel »Exzellenz«, mit dem Küffer in vereinzelten Urkunden bedacht wurde, scheint dagegen nicht fürstlicher Ehrung und höfischen Diensten zu verdanken, vielmehr reichsstädtischen sozialen Rangbezeichnungen zu entsprechen, denen zufolge Küffer die höchste Würde innerhalb der Bürgerschaft zukam.35 Man kann sich vorstellen, daß diese außergewöhnlichen Ehrungen eines Mitbürgers in Straßburg Aufmerksamkeit, Staunen und wohl auch Gerüchte 32

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S. den Bericht darüber von Carl Helmut Steckner: Fund des Kiiffer'schen Wappens in Straßburg. In: Die Ottenau 71 (1991), S. 681-685. Spärliche Berichte darüber bei Léon Dacheux: Fragments des anciens chroniques d'Alsace. In: Bulletin de la société pour la conservation des monuments historiques d'Alsace Bd. XVIII, Straßburg 1898, S. 140, und Hans Rott: Straßburger Kunstkammern im 17. und 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. 44 (1931), S. 25. Dieses Porträt ist reproduziert in dem Katalog: Simplicius Simplicissimus. Grimmelhausen und seine Zeit. Hg. vom Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster in Zusammenarbeit mit dem Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität. Münster 1976, S. 178. Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart. Bd. 1. Leipzig 1774, S. 1986: »In den alten Reichsstädten hat dieser Titel noch mehr von seiner Würde verloren, indem er daselbst sogar den Doctoren der Medicin beigelegt wird.«

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hervorriefen. Das mag der emotionale Grund für Sagenstoffe gewesen sein immer vorausgesetzt, daß die eingangs wiedergegebene Sage nicht erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts als schöne Literatur entstanden ist. Im Grunde aber repräsentiert Dr. Küffer nur einen gewissen Typ des städtischen akademischen Großbürgers im letzten Drittel des 17. Jahrhundert, der die durch seinen Reichtum und durch seinen Zugang zu fürstlichen Familien sich eröffnenden Möglichkeiten nutzte, um sich in seiner Lebensführung und seinem sozialen Prestige dem Hofadel anzugleichen. Anders als der zu gleicher Zeit sich etablierende Amtsadel legte er Wert auf einen repräsentativen Lebenszuschnitt und gab sich gern als Mäzen (»artis pictoriae ac omnium Elegantiarum admirator«). Einheirat in Familien des Hofadels, Kauf von landadligen Gütern, Verwendung in diplomatischen Diensten, waren die Mittel des sozialen Aufstiegs, der häufig in den ersten Dezennien des nächsten Jahrhunderts Söhne oder Enkel in den Adelsstand führte.36 Daß dieser soziale Ehrgeiz letztendlich das Band der stadtbürgerlichen genossenschaftlichen Gemeinschaft zerstören mußte, versteht sich von selbst. Hier mag eine tiefere Ursache der Aversionen Grimmelshausens, über persönliche Gegensätze hinaus, gegen Küffer/ Canard liegen.

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Den Prozeß der Angleichung der obersten Schicht des städtischen Bürgertums an den Hofadel hat u. a. Otto Brunner in: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 3 1980, S. 275ff. am Beispiel österreichischer Verhältnisse dargestellt.

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Jesajas Rompier von Löwenhalt als Satiriker und die Straßburger Tannengesellschaft

Das neu erwachte Interesse an den Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, die Bemühungen, über die frühere, unter sprachhistorischen Aspekten stehende Forschung hinaus zu einer genaueren Erfassung ihrer literarischen Programme und Wirkungen und deren historisch-soziale Voraussetzungen zu gelangen, sind bislang an jener Gesellschaft vorbeigegangen, die im Zeitalter nationalbewußter Germanistik mehr Beachtung gefunden hatte als der derzeit diskutierte Pegnesische Blumenorden oder die Deutschgesinnte Genossenschaft Zesens, an der Aufrichtigen Gesellschaft von der Tannen in Straßburg.1 Diese Verlagerung nicht nur der Erkenntnisinteressen, auch der Arbeitsfelder, läßt sich wissenschaftsgeschichtlich erklären. Die Aufmerksamkeit wendet sich Bereichen zu, die von der belastenden Hypothek nationaler Kulturpropaganda frei sind, die deutsche Literatur unter anderem als Produkt der Wechselwirkung mit übernationalen literarischen Strömungen aufweisen oder aber zukunftsweisende, progressive Tendenzen erkennen lassen - wie auch immer der Fortschritt verstanden sein mag. Die Straßburger Gesellschaft gilt - im Zeichen der deutschen Tanne gegen die Palme der Fruchtbringenden - als an nationalen Werten orientiert und als stadtbürgerliche Opposition gegen den seiner stärksten Machtentfaltung zustrebenden Absolutismus. Eine ernsthafte Überprüfung dieser von Erika Vogt, von Jan Hendrik Schölte und andern zwischen 1920 und 1940 vertretenen Auffassungen über den kulturpolitischen und sozialen Standort der Tannengesellschaft hat nie stattgefunden. 2 Einer solchen Revision stehen allerdings - eine weitere Ursache für die Vernachlässigung der Straßburger - in dem Mangel an geeignetem Kontrollmaterial beträchtliche Schwierigkeiten entgegen. Es fehlen vorerst fast alle philologischen Voraussetzungen für eine systematische Untersuchung deren Zielsetzungen und Aktivitäten. Es mangelt an einer Liste der Gesell1

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Vgl. den zusammenfassenden Forschungsbericht Ferdinand van Ingens: Überlegungen zur Erforschung der Sprachgesellschaften. In: Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur. Band 1. Wolfenbüttel 1973, in dem - S. 101 - der Referent die Überzeugung ausspricht, daß »die Zeit für eine systematische, von neuen Fragestellungen bestimmte Erforschung der Sprachgesellschaften reif« sei. Erika Vogt: Die gegenhöfische Strömung in der deutschen Barockliteratur, Leipzig 1932 (Von deutscher Poeterey, Band 11), S. 41^43; Jan Hendrik Schölte: Der »Simplicissimus Teutsch« als verhüllte Religionssatire. In: Der Simplicissimus und sein Dichter, Tübingen 1950, S. 17^17; ders.: Wahrmund von der Tannen. In: Neophilologus 21 (1936), S. 265-287.

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schafter, an der Kenntnis ihrer Biographien, an zuverlässigen Bibliographien ihrer Schriften. Dieser desolate Forschungsstand läßt sich exemplarisch belegen am Beispiel des mutmaßlichen Gründers und Wortführers der Gesellschaft. Jesaias Rompier (oder auch Rumpier) von Löwenhalt gründete die Gesellschaft mit einer Handvolljunger Leute, in der Mehrzahl Studenten der Straßburger Universität, 1633, als zweite deutsche Sprachgesellschaft sechzehn Jahre nach der Gründung der Fruchtbringenden. Seine Herkunft, sein Beruf und seine Ämter, seine soziale Position lagen bis vor kurzem noch völlig im Dunklen. Der wohlklingende, gravitätische Name (Rompier selbst hat in mehreren seiner Gedichte den Wortstamm rump, rumpeln zu lautmalerischen Effekten genutzt) schien auf adlige Abkunft zu deuten, die sich mit dem Schimmer des Fremdländischen verband. Denn der Namenszusatz »Neapolitanus« in der Straßburger Universitätsmatrikel (= aus Wiener Neustadt gebürtig) und der Nachweis einer österreichischen Adelsfamilie gleichen Namens lieferten die einzigen Indizien für seine Herkunft.3 Demgegenüber konnte schon die Verfasserin der einzigen Monographie über Rompier, Anna Hendrika Kiel, in ihrer Dissertation von 1940, die Lesart »Neapolitanus« in »Zeapolitanus« (= aus Dinkelsbühl gebürtig) berichtigen.4 Schließlich entdeckte jüngst Franz Heiduk den Immatrikulationseintrag Rompiers in den Matrikeln der Universität Altdorf, wo er als »Jesaias Rumpier, von Dinkelspihel« geführt wurde.5 Nach dessen minutiösen Recherchen steht soviel fest: Rompier stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, sein Vater war Kirchenpfleger in Dinkelsbühl oder doch in einem Dorf nicht weit davon. Den Nimbus des Aristokratischen hat ihm die Forschung zu unrecht verliehen (auch wenn er das seine dazu getan hat). Auch sein Bildungsweg, das Jurastudium an den lutherischen Universitäten in Altdorf, Tübingen und Straßburg von 1626 bis ca. 1630, seine Funktion als Hofmeister von 1641 bis 1644, deuten nicht auf einen durch Geburt oder Protektion Begünstigten. Wie Rompier zur Prätention adliger Abkunft gekommen ist, wie diese mit seiner sozialen Stellung in Straßburg und vor allem mit dem Ideal der altdeutschen Aufrichtigkeit der von ihm gegründeten Gesellschaft zu vereinbaren war, bleibt zu klären. Ungewisser noch sind die Umrisse des literarischen Werkes Rompiers. Die gängigen Bibliographien verzeichnen neben seinem Hauptwerk, der lyrischen Sammlung Des Jesaias Rompiers von Löwenhalt erstes gebüsch seiner Reim-

getichte, Straßburg 1647, nur eine Reihe von Gelegenheitsdichtungen, Epithalamien und Epicedien auf gelehrte und fürstliche Personen in den Zentren Mömpelgard, Straßburg und Baden-Durlach. Franz Heiduk konnte das bisher

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So Ernst Martin ADB 29, S. 673/74, J. H. Schölte: Religionssatire (wie Anm. 2), S. 25. Anna Hendrika Kiel: Jesaias Rompier von Löwenhalt, ein Dichter des Frühbarock. Utrecht o.J. [1940], S. 3. Franz Heiduk: Jesaias Rompier von Löwenhalt. Neue Daten zu Leben und Werk. In: Daphnis Bd. 2 (1973), S. 202-4.

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Bekannte durch den Fund dreier weiterer Leichengedichte erweitern. Das schmale Werk zusammengenommen scheint Rompier in der Tat, wie Schölte vermutet, eher durch seinen Ruf als Philologe denn durch seine literarische Leistung zum Gründer und Sprecher der Tannengesellschaft prädestiniert gewesen zu sein.6 Er würde sich insofern von Harsdörffer und Zesen, den Häuptern der Nürnberger und Hamburger Gesellschaften, unterscheiden. Doch scheint es ratsam, ein solches Urteil vorerst hypothetisch zu formulieren. Die Vorarbeiten von Schölte und seiner Schülerin Anna Hendrika Kiel waren nicht umfassend genug, um noch mögliche Entdeckungen auszuschließen. Wie aus einem Brief Rompiers an den Straßburger Historiker Boeder hervorgeht, lag 1648 ein zweiter Band Gedichte handschriftlich vor, der nie zum Druck gelangte. Ich selbst kann vorerst auf ein in Bibliographien nicht erfaßtes und umfängliches Hochzeitsgedicht verweisen, das die Württembergische Landesbibliothek Stuttgart verwahrt.7 Das bisher bekannte Werk zeigte seinen Autor gewiß als einen Adepten der historiographischen Schule Matthias Berneggers (1582-1640). Wer wie Rompier, wie seine Gesellschafter, die Studenten Johann Matthias Schneuber (1614-1665), Andreas Hecht (gest. 1634), Peter Samuel Thiederich (gest. 1634), wie die aus Heidelberg vertriebenen Zincgref, Freinsheim, Venator an die erst 1621 begründete, jedoch schon weit renommierte Straßburger Universität kam, geriet unter den Einfluß dieses Historikers, Rhetors, Philologen und Editors, der ohne Zweifel - auch wenn hierüber keine Aufzeichnungen erhalten sind - einer der Inspiratoren des Programms der Tannengesellschaft gewesen sein muß. Von daher das Interesse an der nach dem Idealbild des Tacitus entworfenen altdeutschen Vergangenheit und die Apologetik teutscher Tugenden gegen sprachliche und kulturelle Überfremdung, die sich im Programm der Tannengesellschaft niederschlagen, wie es in der Vorrede zum »Reimgebüsch« festgehalten ist. Aber auch bis in die einzelnen Carmina Rompiers konnte Anna Hendrika Kiel dessen Vorliebe für Schilderungen von Sitten und Landschaften der germanischen Frühzeit, das Interesse an der Genealogie altdeutscher Geschlechter, das Pochen auf Aufrichtigkeit und Redlichkeit als nationale Tugenden nachweisen. Es sind diese Tendenzen Rompiers, die sein Bild und das der Tannengesellschaft in der Literaturgeschichtsschreibung festgelegt haben. Dagegen hat man kaum Notiz genommen von ganz andersartigen Tendenzen Rompiers, auf die Schölte und, eindringlicher noch, Anna Hendrika 6

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Vgl. die Ausführungen Scholtes über die Anerkennung, die Rompier als Sprachforscher im Straßburger Umkreis gefunden hat und über seine Absicht, eine Grammatik oder Stillehre zu verfassen: Wahrmund von der Tannen (wie Anm. 2), S. 267-270. »Willkomm und Glückwunsch zu Hoch-Fürstlicher Vermählung Herren Albrechten Markgrafen von Brandenburg und Princessin Christinen Markgräfin von Baden in dem Fürstlichen Schloß Karolsburg unterthänigst g. durch Jos. [sie!] Rompier von Löwenhalt den 27. tag des Heumonats 1665. Getrukt zu Speyer bey Christian Dürren« (deutsche Dichter 4, Kaps. 211).

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Kiel Nachdruck gelegt hatten. Das geistige und öffentliche Leben Straßburgs war, seit Ende der Zwanziger Jahre, mehr noch in den Katastrophenjahren der lutherischen Stände nach der Niederlage bei Nördlingen 1634, weitaus stärker von den kirchlichen Institutionen als von der Universität bestimmt. Die überragende Persönlichkeit an ihrer Spitze, der langjährige Dekan Johann Schmidt (Präsident des Kirchenkonvents von 1629 bis 1658), im Verein mit renommierten Theologen der Universität, übte über seine Anhänger im Magistrat der Freien Reichsstadt durch deren Gesetzgebung, durch Sittenmandate und Polizeiordnungen, einen weitaus intensiveren Einfluß aus als die späthumanistische Schule von Bernegger.8 Dem Theologen und Kirchenreformer Schmidt waren die literarischen Neigungen der »poetae«, war die schillernd indifferente religiöse Haltung Berneggers, die »irenäische« Position des Humanisten zutiefst suspekt, es bestand ein ausgesprochen gespanntes Verhältnis zwischen beiden.9 Von daher der Rückzug Berneggers von öffentlicher Wirksamkeit, die Beschränkung auf philologische Gelehrtenarbeit in den Dreißiger Jahren, zur Zeit der Gründung der Tannengesellschaft, die sein Biograph Carl Bünger vor allem seiner angegriffenen Gesundheit zuschreiben möchte.10 In den Straßburger Kirchengemeinden selbst leitete Johann Schmidt »ohne Schonung seiner Kräfte und zeitweise bis zum gesundheitlichen Zusammenbruch« (Johannes Wallmann) jene Kirchenreform ein, die als »Frühphase des Pietismus« oder auch »laistische Enttheologisierungsbewegung« wachsendes Interesse der lutherischen Kirchenhistoriker findet. Die Anstrengungen des Kirchenkonvents und der Gemeindepfarrer verlagerten sich von der Verteidigung und Lehre des reinen Dogmas augsburgischer Konfession auf die Anleitung zur praktischen Lebensführung und zur persönlichen Heiligung der Gläubigen. Diese unter dem Argwohn der wachsamen lutherischen Orthodoxie unauffällig vollzogene Wende konnte nur dann wirksam werden, wenn es gelang, von den Pfarrern weg den Laien selbst Verantwortung für ihre Lebensführung zu übertragen.

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Einen Überblick über die von der Kanzel abgekündigten amtlichen Ordnungsmaßnahmen unter dem Einfluß Schmidts gibt Wilhelm Homing: Handbuch der Kirchengeschichte Straßburgs im 17. Jahrhundert. Straßburg 1903, S. 155ff. Vgl. den Briefwechsel zwischen Johann Valentin Andreae und Johann Schmidt in: Karl Friedrich von Moser: Patriotisches Archiv für Deutschland, Band VI, Mannheim und Leipzig 1787, besonders S. 336ff. Eine These, die Schölte unbesehen übernahm. Vgl. Carl Bünger: Matthias Bernegger. Ein Bild aus dem geistigen Leben Straßburgs zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Straßburg 1893, S. 366ff. und Schölte: Wahrmund von der Tannen (wie Anm. 2), S. 271. Die lutherische Kirchengeschichtsschreibung hat seit der konfessionspolemischen Darstellung von August Tholuck: Lebenszeugen der lutherischen Kirche, 1859, bis hin zur jüngsten Arbeit zur Kirchengeschichte Straßburgs von Johannes Wallmann: Philipp J. Spener und der Pietismus. Tübingen 1970 (Beiträge zur historischen Theologie Bd. 42), die überragende Bedeutung Johann Schmidts für das öffentliche Leben Straßburgs im angesprochenen Zeitraum erkannt. In der Literaturgeschichte hat sein Name noch keinen Platz neben dem Berneggers gefunden.

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Die Straßburger Gemeindeordnung war diesen Bestrebungen günstig. Sie ließ der Eigenverantwortung des Kirchenvolks mehr Spielraum als in anderen lutherischen Ständen. Religionspädagogische Maßnahmen mußten hinzukommen, es galt, den Gemeindegliedern Handreichungen für die Hausandachten, für das persönliche Gebet und die Selbstüberprüfung des Lebenswandels zu geben. Johann Schmidt wurde zum Initiator einer umfangreichen literarischen Tätigkeit zum Zweck der Produktion (oft auch Übersetzung) religions- und moralpädagogischer Schriften. Für Jugendliche wurden neue, das Dogma in altersgemäßer Methode erschließende Katechismen eingeführt, die biblischen Historien illustriert und mit leichtverständlichen Noten versehen dargeboten. Den Erwachsenen wurden Anleitungen zur Meditation gegeben: Sündenspiegel als Leitfaden zur psychologischen und ethischen Selbsterkenntnis, Gebetsmuster für die individuelle Lebenslage und nicht zuletzt Anweisungen an Familienväter zur Überwachung des religiösen Lebens der Kinder und des Gesindes. Die Kirchenpolitik Johann Schmidts bildet den Bezugsrahmen, innerhalb dessen die geistliche Lyrik Rompiers und darüber hinaus die Tugendpflege der Tannengesellschaft ihre Wirksamkeit gewannen. Die Lieder zum Preis Gottes für persönlich erfahrene Gnaden, die Bußlieder aus der Gewissensangst eines verinnerlichten Sündenbegriffs, die Anna Hendrika Kiel aus dem Reimgebüsch zitiert, aber auch zum Beispiel das »geistlich liedt von Mr. Rumpier«, das Schölte aus den handschriftlichen Aufzeichnungen badisch-durlachischer Prinzessinnen publizierte, sind, was den individuellen Ausdruck der Gotteserfahrung, was die Betonung der Kreuzestheologie, der persönlichen Heiligung durch meditative Bewältigung erfahrenen Unheils und Leids betrifft, den Anstößen durch Johann Schmidt verpflichtet und wohl als Beitrag zu dessen Bestrebungen gedacht. Wenn diese Theme stimmt, dann wiederholt sich in der lutherischen Reichsstadt Straßburg ein Konstellation, auf die Ferdinand van Ingen mit dem Blick auf die Pegnitzschäfer in der lutherischen Reichsstadt Nürnberg hingewiesen hat:11 die in den Programmen der Sprachgesellschaften enthaltene Verpflichtung der Gesellschafter zur Weckung ethischen Bewußtseins mit dem Medium der Literatur scheint in Zusammenhang zu stehen mit den weitverzweigten ReformFerdinand van Ingen (wie Anm. 1), S. 96: »Es bedürfte einer genaueren Untersuchung, ob die anfängliche nationalpatriotische Begeisterung [...] bei den Niirnbergem nicht allmählich anderen Idealen weicht oder ob zumindest nicht von einer allmählichen Akzentverlagerung zugunsten einer religiösen Orientierung gesprochen werden kann. Zweifellos steht in der 2. Hälfte des Jahrhunderts die Arbeit an der Sprache im Blumenorden nicht, wie bei der FG [Fruchtbringenden Gesellschaft, W. Sch.], vorwiegend im Dienst einer nationalen Erneuerung aus dem Geist der lingua theodisca, sondern dient zusehends und immer deutlicher einem betont »gefühlvollen« Frömmigkeitsideal. Es wäre zu überlegen, ob nicht gerade diese ihre religiöse Ausrichtung Momente enthält, die, über das Private hinausgehend, durchaus auch auf das geistige Gemeinwohl abzielten.« Schließlich die Vermutung van Ingens, daß »zwischen dem seelsorgerischen Programm Dilherrs [des Superintendenten in Nürnberg, W. E. Sch.] und den Zielen des Blumenordens innere Zusammenhänge bestehen.«

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bestrebungen innerhalb der lutherischen Orthodoxie, die ihre Zentren in den Herzogtümern Braunschweig-Lüneburg und Sachsen-Gotha einerseits, den freien lutherischen Reichsstädten andererseits hatten. Von daher sollte sich ein Ansatz zum Verständnis der sozialen Funktion der Sprachgesellschaften ergeben. Der Protagonist nationalbewußter Sprach- und Kulturleistungen aus der Schule Berneggers und der Proselyt der frühpietistischen Bewegung unter der Ägide Johann Schmidts - auf die ohnehin verwirrende, vieldeutige Figur Rompiers fällt unerwartet neues Licht, wenn wir eine verschollene Schrift von seiner Hand heranziehen, die der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts völlig unbekannt geblieben ist. Die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel verwahrt einen Sammelband satirischer Schriften, unter denen sich ein längeres Gedicht in Alexandrinern findet mit dem Titel:12 Klag Über der Panonyme Flöhe Getrukt zu Straßburg

Ein Hinweis auf den Verfasser fehlt - wie so oft in satirischen Schriften - doch schließt das Gedicht mit dem Hinweis: Durch W. von der Tannen den 22. Maien-tag/ deß 1640. Jars

Wahrmund von der Tannen jedoch, das ist der im Straßburger Umkreis bekannte, auf die Tannengesellschaft bezügliche und »teutsche Aufrichtigkeit« als Gesellschaftsideal verheißende Deckname Rompiers, mit dem er vor allem seine programmatischen Ausführungen zur Satire in den Vorreden zu Moscheroschs Gesichte gezeichnet hat, der aber auch über die Grenzen Südwestdeutschlands hinaus in den Literaturzentren von Nürnberg und Hamburg, im Pegnesischen Blumenorden und Elbschwanorden bekannt war, und den Rompier seit der Gründung der Straßburger Gesellschaft zu führen scheint. Auch die Kurzform dieses Namens läßt sich belegen: am Ende eines undatierten, handschriftlich überlieferten galanten Gedichts, das Jan Hendrik Schölte 1936, nach seinen Recherchen im Hausarchiv der badischen Großherzöge publizieren konnte, zeichnet Rompier mit »W. v. der T.«.13 Deuten somit schon Signierung, in Verbindung mit der Datumsangabe und dem Druckort (es sind andere Straßburger Drucke Rompiers aus dem Jahr 1640 belegt) auf die Autorschaft Rompiers hin, so weisen die orthographischen Besonderheiten des Gedichts, die Schreibweisen »adle« (v. 40), »fleuß« v. 31, »feund« v. 34, und andere Rompier mit Bestimmtheit als Verfasser aus. Sie entsprechen den Grundsätzen seiner Rechtschreibreform.14 12 13 14

Katalog Nr. 189.4 quodl. J. H. Schölte: Wahrmund von der Tannen (wie Anm. 2), S. 278. Vgl. Emst Martin, ADB 29, S. 674. J.H. Schölte: Religionssatire (wie Anm. 2), S. 27-28, 36-37.

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Zunächst bleibt nachzutragen, daß alle mir bekannten Bibliographien des 20. Jahrhunderts dieses Gedicht, sicher eines der gelungensten, weil einfallsreich, witzig und in seiner Rhythmik überaus suggestiv, nicht kennen. Nach vorläufiger Prüfung scheint es nur noch in dem einzigen Exemplar der Wolfenbüttler Bibliothek vorhanden zu sein - die Bibliotheken in Straßburg und Karlsruhe, an den Wirkungsorten Rompiers, ansonsten mit Schriften aus seiner Feder versehen, enthalten keinen Hinweis. Allerdings war Emil Weller, der bedeutendste Schweizer Bibliograph des 19. Jahrhunderts, bei den Arbeiten für seine breit angelegte, wenn auch in der Konkurrenz mit Karl Goedeke etwas flüchtig erstellte Titelsammlung Annalen der poetischen Nationalliteratur auf diesen Titel gestoßen - ohne sich die Mühe zu machen, das Pseudonym »W. von der Tannen« aufzuschlüsseln.15 Daß gerade ihm, dem Verfasser des Index Pseudonymorum diese Nachlässigkeit unterlief, hat die Germanistik daran gehindert, das Werk zur Kenntnis zu nehmen und Rompier zuzurechnen. So kam es aus Unkenntnis zu den lange Zeit geläufigen Abwertungen Rompiers, wie sie am bündigsten in dem Urteil Goedekes zusammengefaßt sind - Rompier als einer aus der Schar der südwestdeutschen Neider gegenüber Opitz als dem Neubegründer der deutschen Poesie, einer der »Groller« ohne eigene Leistung, »seine Gedichte fast nur Gelegenheitsgedichte an meistens unbekannte Personen.« - Man fragt sich, wie der solchermaßen Abqualifizierte (das Urteil hat sich bis zur Gegenwart nicht wesentlich geändert) seine nachgewiesene Wirkung auf die literarische Produktion von Johann Michael Moscherosch, von Philipp von Zesen, auf Matthias Schneuber und andere ausüben konnte - ist denkbar, daß Rompier schon allein aufgrund seiner Reputation als Philologe, auf die vor allem Schölte hingewiesen hat,16 die Funktion des Anregers, des Gründers einer Sprachgesellschaft mit weitreichenden literarischen Beziehungen erfüllen konnte? Das aufgefundene Versgedicht zeigt ihn als Satiriker, es zeigt ihn bewandert - die Wahlheimat Straßburg legt es nahe - im dichten Traditionszusammenhang bürgerlich-lutherischer satirischer Schriften des Elsasses, der von Fischart über den völlig vergessenen Georg Friedrich Messerschmid um die Jahrhundertwende über Wolfhart Spangenberg (ca. 1570 bis ca. 1636) zu Johann Michael Moscherosch (1601-1669) reicht und in den Nachahmern Moscheroschs abbricht. Insofern besaß Rompier dem älteren Moscherosch gegenüber die Autorität, die den Verfasser der Gesichte veranlaßte, Rompier um die programmatische Einführung des Lesers in Theorie und Wirkungsabsicht der Satire zu bitten, die als Unterricht Wahrmunds von der Tannen in die Erstausgabe der Gesichte eingegangen ist.17 Das Erfolgswerk Moscheroschs 15 16

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Emil Weller: Annalen der poetischen Nationalliteratur. Bd. I. Freiburg 1864, S. 404 (Nr. 690). J. H. Schölte: Wahrmund von der Tannen, (wie Anm. 2), S. 267/8. Ich habe die zentralen Begriffe der Satiretheorie Rompiers in dem Beitrag: »Der Satyr und die Satire« zur Festschrift für Günther Weydt: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Hg. von Wolfdietrich Rasch, Hans Geulen, Klaus Haberkam. Bern und München 1972, S. 217ff. darzustellen versucht. In diesem Band abgedruckt unter Nr. 15.

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erschien im gleichen Jahr (1640 in Straßburg), in dem Rompier sein satirisches Gedicht verfaßte. Wir glauben uns berechtigt, angesichts der Möglichkeit, daß es sich bei dem Druck in Wolfenbüttel um ein Unicum handelt, angesichts aber auch der Chance, das undeutlich-bedeutungslose Bild Rompiers in der Literarhistorie in schärferen Konturen zu zeichnen, den Text des Gedichts in Gänze wiederzugeben. Abgesehen von der Umschrift von m bzw. η (jeweils mit Tilde) in mm bzw. nn und von ae, oe, ue in ä, ö, ü wird der Text orthographisch getreu wiedergegeben. Klag Uber der Panonyme Flöhe Getrukt zu Straßburg

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Panonyme/ du fragst zwahr sonst nicht vil nach sachen/ Die in dem Krieg forgehn. Was jetzt Panier wird machen/ Wie er sein Kriegs-volk stell', und wie deß Kaisers macht Ihm stark entgegen zieh', auff was der Spanier tracht, Was Frankreich listig such, warauff die Staaden sinnen/ Bekümmert dich nicht vil: das nähen und das spinnen/ Das künstliche gewürk/ und striken ist dein frewd. Doch under dessen thut ein andrer Krieg dir leyd/ Den du offt tag und nach must mit den Flöhen führen. Dann diß verwegne heer laßt unauffhörlich spühren/ Daß kein gewalt und zeit/ daß auch kein niderlaag/ Wie groß sie immer ist/ die feindschaft enden mag/ So wider Weibs-geschlecht den Flöhen angebohren Und auffgeerbet ist, warauff sie auch geschwohren. Dann/ wie mir in geheim ein altes Weib gesagt/ Muß jeder Floh/ eh er den ersten sprung auch wagt/ Den altern einen aid mit seiner Rechten schwehren/ Daß er in solchem Krieg sein leben woll verzehren / Dahero kommt es dann/ daß sie in aller noth Vermessen-hertzhafft seyn/ und förchten keinen tod. Sonst bin ich wol gewiß/ wann jemand sie könt dämpffen/ So kriegtest du den preuß. Ich hab dich sehen kämpffen, Zwahr dir gantz unbewußt (verzeih mir/ waß ich sag!) Das unglük war mein glük. An jenem heysen tag/ Als ich die ehr gehabt/ mit dir zunacht zuessen/ War ich zwahr gerne noch ein weil bey dir gesessen/ Du eiltest aber sehr hin in dein schlaff-gemach. Ich weys nicht waß mich trieb/ ich schliech dir heymlich nach/ Vermerkte daß du dir ein liecht erst angezindet, Und (wie der gührig fleuß dann leichtlich etwas findet) So fand ich an der thür zum vortheyl einen spalt/ Durch den ich sehen könnt. Du legtest aliso bald Die kleyder von dir ab, ich dacht'/ du wolltest schlafen/ Da rüstest du dich so zumm streit/ die feünd zustrafen/ Weil sie den gantzen tag dir vil zuleyd gethan. Du grieffst die sach zugleich mit list und kühnheit an: Die wol geübte hand war hurtig/ zuerhaschen Diejenigen so noch gantz sicher wolten naschen

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Von deinem ädlen bluth, ein mancher/ eh er wiech'/ Hielt' diß für seine raach/ daß er dir einen stich Zur letze geben möcht/ und sollt er ja sein leben (Wie vilen widerfuhr) dir darum müssen geben. Du huebst fein allgemach die zarte leinwath auff/ Damit nicht sporenstreychs der gantze leichte hauff Sich flüchtig retten könnt. Dann weil sie wahr-genommen/ Daß änderst/ als mit flucht dir keiner möcht entkommen/ So trungen sie darauff. Ach waß behändigkeit Erschiene beyderseits/ in dem das letzte kleyd Auch follends von dir kam! ihr springen und ihr hupffen, Dein finger-leken/ und dein link- und rechtes dupffen War überauß geschwind, die niderlaag war groß/ Der tod gar mancherley, und waß sie sehr vertroß War' eben sonderlich das wärglen/ und ertränken In deinem nacht-geschirr, will knällens nicht gedenken, Vil hast du in dem liecht mit grossen grimm verbrennt, Imm unschlit theyls erstökt, das hemet um-gewendt/ Bist (würgens-mied) damit dem laden zugelauffen Aida du letztlich auch den überigen hauffen tief in die lufft gesprengt. Als nun der grausam krieg Für dißmal auff-gehört und du gantz foller Sieg Als triumpfirend stuhndst/ da gieng erst mir zuhertzen/ Waß du/ biß in die nacht/ für unerhörte schmertzen Und peün erlitten habst von diser losen Schaar/ Weil fast dein gantzer leib voll rother fleken war/ Insonderheit die weych und brüst for andern orten, Ich sah imm hemet auch gar häuffig da und dorten Die Staffen und die spuhr von disem raub-gesind/ Beforab in der mitt/ da sich die gürtel bindt/ Und alles voll fällten stekt/ da schwerlich zuzukommen. Doch weil ich eben auch zugleich in acht genommen Den herrlichen triumpf/ der sieges-zeychen pracht/ Hat solches auff ein news mir wider frewd gemacht. Dann du beklagtest nicht den überstandnen schaden; Redst heymlich mit dir selbst von deinen helden-thaten; Schaust deine nägel an die noch gantz blutig seyn; Durchgehst die waal-staat erst/ da alles voller beyn/ Voll schnäbel/ köpff/ und bälg'/ und toder leichnam liget; Betrachtetest/ wie du dem und jenem ob-gesiget; Wie etlicher gedärm zumm schwartzen bauch auß-hangt; Und was desgleichen mehr. Nach dem du lang geprangt/ Hast du das liecht gelöscht/ bist in das bett gestiegen. Dann hatt ich zeit nach hauß, hielt alles hoch verschwiegen/ Gedacht' doch immer nach/ und legte mich zuruh: Es giengen aber mir die äugen noch kaum zu/ So träumte mir gewiß von lauter krieg und waffen/ Ich hatt' die gantze nacht zuschiken und zuschaffen Daß ich mich meiner haut und meines lebens wehrt'. Amm morgen/ als die Sonn den lieben tag beschehrt/ Erwach ich auß dem träum, besinn mich/ ob ich lebe; Bedenck auch/ wie es sich doch immer mehr begebe/ Daß einem underweil so seltzam träumen kan. Indessen sitz ich auff/ und leg das hemet an/ Doch sink ich wider um/ den sachen nach-zusinnen;

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Wird gar in kurtzer weil deß alten handels innen Das hemet war' erwärmt/ es krabelt da und dort/ Es kiitzelt/ beist und sticht an dem und jenem ort. Dann was ich forigs tags von dir hab auf-gelesen/ Ist hungrig also früh schon auff der beiith gewesen. Panonyme/ für wahr ich brauchte deine kunst/ Und jag' dem Vöklein nach/ doch meistentheils umsunst/ Ich war nicht so geübt/ wie du/ sie ein-zufangen/ Deshalben seyn sie mir fast allesammt endgangen. Doch kriegt' ich ihrere zwehn/ so haupt-leüth' (als ich meyn) Und fomehm von geschlecht vielleicht gewesen seyn/ Die schämten sich der flucht/ und wollten lieber sterben: Allein ich liesse sie nicht alsobald verderben/ Forscht alles waß ich kont'/ und nähme recht in acht Wie künstlich die Natur auch sie hat außgemacht. Es waren schöne flöh/ for allen auß-erlesen/ Doch ist vil underscheyd an ihnen auch gewesen: Der eyne war nicht hoch/ war aber dik und mast/ Hatt' auch schon zimlich bluth in seinen wanst gefasst. Der andre waagenhals hatt' dirre raane lenden/ Und konnte sich geschwind auff alle Seiten wenden/ Die Schenkel waren lang/ der bogen-ruk gar schmal/ Die klauen scharpff' und kleyn/ der leib fast überall Hüpsch gläntzend dunkel-braun. Der wollt' in band und eissen Als ein gefangener mir noch ein stüklein weissen Seins unverzagten muths: er sprang mir auff die hand/ Und gab mir einen stich/ daß ich gar wol empfand/ Waß er für kräfften hatt'. Zudem mich das vertrossen/ Da hab ich beyder bluth auß zorn und raach vergossen/ Und alle flöh geschmächt. Doch fiel mir endlich einn Daß dise/ so mit mir nach hausse kommen seyn/ Bey dir/ Panonyme/ zufor sich auff-gehalten Und deines bluths gelebt; drum sagt' ich alsobalden: Ach komt/ ihr lieben Flöh/ und zehrt von meinem bluth: Ich will daß ihr auch mir/ wie meiner liebsten/ thut. Gespilt zu Flehende Durch W. von der Tannen den 22. Maien-tag/ deß 1640. Jars ENDE

Die aus der Perspektive des männlichen Partners umrissene erotische Situation zeigt den Verehrer zunächst in der Haltung höflicher Achtung. Er feiert die verehrte Panonyme, indem er, in konventioneller Weise galanter Lyrik, das Lob der Dame anzustimmen scheint. Sparsam gesetzte Stilmittel, amplifizierende Adjektive (»Die wol geübte Hand«, v. 37, »ädles Bluth«, v. 39) und vereinzelte Concetti (»Das unglük war mein glük«, v. 24) genügen, um diese Haltung zu konturieren. Zugleich jedoch, von Beginn an, wird auch der erotische Bezug in Frage gestellt durch die sich vordrängenden parodistischen Momente. Das Lob der Dame bezieht sich nicht auf Tugend und Schönheit, nicht auf Sittsamkeit und Rosenwangen, vielmehr auf die Hurtigkeit ihrer Hände beim Läuseknacken.

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Dort, wo die Gunst der Stunde den unverhüllten Anblick eines vollkommenen Leibes zu verheißen scheint, kommen häßliche Flecken eines geplagten Körpers zum Vorschein und dies an den delikatesten Stellen (v. 65). Jedoch auch der Verehrer selbst fallt aus dem Rahmen der Etikette. Wo Rücksicht und Dezenz sein Betragen bestimmen sollten, brechen solch elementare Regungen hervor wie der »gührig fleuß«, der »leichtlich etwas findet« (v. 30). Das Gedicht lebt aus den Ambivalenzen des lyrischen Ich, aus dem Spannungsverhältnis zwischen Verehrung und heimlicher Schadenfreude, zwischen Erwartung und Desillusionierung. Es gewinnt andererseits seinen Reiz durch den durchgängigen parodistischen Bezug auf die Topoi galanter Dichtung. Beide Momente führen zur Schlußpointe hin, die das in satirischer Literatur verbreitete Ovidsche Motiv aufnimmt, daß der Verehrer die Flöhe ihres körpernahen Umgangs mit der Geliebten wegen beneidet und damit die petrarkistische Formel der Sehnsucht nach Vereinigung verspottet. Dem literaturkundigen Zeitgenossen als Leser mußte schon durch Titel und Prolog die Materie und die Intention des Gedichts klar werden. Der Titel reiht es ein in die Flohliteratur und das satirische Tierepos des vorangegangenen Jahrhunderts, der Prolog, welcher den im folgenden geschilderten Vorgang als ein Exempel für die Feindschaft zwischen Weibern und Flöhen einführt, bezieht sich zurück auf jene kecke Erweiterung des biblischen Schöpfungsberichts, mit welcher der »Flöhkanzler« im zweiten Teil von Fischarts Flöh Hätz Weiber Tratz (v. 2843-2924) in seiner Funktion als oberster Richter im Rechtsstreit zwischen Weibern und Flöhen den ewigen Krieg zwischen beiden Parteien heilsgeschichtlich einordnen und damit als natumotwendig erklären will. Die Flöhe im Haus der Eva, der Stammutter der Menschen, so fabuliert Fischart, die in ihrem paradiesischen Zustand zunächst harmlos und friedliebend waren, haben von einer andern Species der Flöhe, die sich anfänglich mit dem Hund der Eva begnügt hatten, gelernt, daß man auch die Kinder Adams und Evas stechen und anzapfen kann. Die darüber erboste Eva machte sich auf die Jagd nach den ihr unbekannten Übeltätern, die ihre Kinder malträtierten. Die Flöhe dagegen gebrauchten die List, aus den Pelzen der Kinder in den Pelz ihrer Verfolgerin hinüberzuspringen. Seither müssen alle Even die Flöhe am eigenen Leib aufspüren. - Der Mythus Fischarts wurde zum geläufigen Diktum der Weibersatire, bei Grimmelshausen ebenso wie hier bei Rompier.18 Bei genauerem Studium zeigt sich schnell, daß die Bezüge zwischen den Alexandrinerversen Rompiers und den Knittelversen von Fischarts »Flöh-Hatz, Weiber-Tratz« überaus dicht sind, - so frisch auch immer die rund 70 Jahre später entstandene Satire inventiert zu sein scheint. Schon der Umriß der für die Dame peinlichen Situation, in der sie unter dem Zwang der Etikette es sich verkneifen muß, zu kratzen, ist bei Fischart vorgebildet. Der die Klage 18

Zum Beispiel in der ersten der Kalendererzähiungen des »Ewigwährenden Kalenders« Grimmelshausen, Hg. von Klaus Haberkamm. Konstanz 1967, S. 104: Läuß/ Flöhe/ Tabak/ böse und schöne Weiber eins Dings.

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gegen die Weiber führende Floh in Fischarts Flohgedicht berichtet der Muck (Fliege), seinem geduldigen Konversationspartner, von dem größten aller seiner Abenteuer, dem Angriff auf eine junge Edeldame in den besten Jahren (»Das plut scheint durch die weise haut/ Als rot Rosen durch Lilgenkraut«, v. 989-990), für den er sich die Strategie zurechtgelegt hatte, das Ziel seines Verlangens - hier ist der Floh der Verliebte (»Mein herz ist gegen ir gar wund« v. 2140) - in einer Lage anzugehen, die sie wehrlos macht, nämlich auf einem Hochzeitsbankett, wo Sitte und Anstand ihr verbieten, sich gegen ihre Peiniger zu wehren (v. 2164ff.). Der Plan gelingt fürs erste, jedoch die junge Dame in ihren Nöten täuscht ein Nasenbluten vor, um schleunigst sich in ihre Gemächer zurückzuziehen, sich auf ihrem Bett zu entkleiden und dem Angreifer seine Lektion zu geben. In der Schilderung dieses Streiches wie in jenen, die der Vater des Flohhelden aus seiner Erfahrung im Umgang mit hübschen Weibern zum besten gibt, schlägt ganz so wie bei Rompier die Anziehung und der Reiz des nackten Leibes, die erotische Faszination, in Enttäuschung und Ekel um, wo dieser Leib in seiner kreatürlichen Bedürftigkeit zur Anschauung kommt. Der erotische Höhenflug der Flöhe endet auch schon bei Fischart im Pot de Chambre - mit dem bezeichnenden Unterschied, daß dieses Geschirr, das der Darstellung ausgezogener Körperlichkeit die Pointe setzen muß, bei Fischart noch ganz ungeniert als »saichkachel« (v. 1570,3402) eingeführt wird, während Rompier mit der dezenteren Vokabel »Nachtgeschirr« seinem Publikum genug bedeutet zu haben weiß. Auf motivische Entsprechungen, die bis ins Detail gehen, sei nur kurz verwiesen: Die lange Liste der variationsreichen Todesarten, die die Flöhe unter den Händen der Frauen erleiden, von Fischart in lustvollem Unterton häufig vorgetragen (z. B. v. 1209ff.), kehrt bei Rompier wieder - vom »Knällen« (im Feuer zerplatzen lassen) bis zum Ersticken im Unschlitt (Talg der Kerzen). Die Metropole der Flöhe, bei Fischart »Publicana« (v. 1109,1113, von lat. pulex) genannt, ergibt bei Rompier offenbar die fiktive Ortsangabe »Flebende« am Ende seines Gedichts. Rompier nutzt wie Fischart - noch zwei Generationen nach ihm kann er die Vertrautheit des Straßburger Lesers mit dessen Satiren voraussetzen das zentrale Thema der Flohliteratur, die Urfeindschaft zwischen Flöhen und Weibern, zu einem satirischen Angriff auf den kultivierten Eros in Literatur und Gesellschaft. Was in der Generation von Fischart, etwa im Erfolg des Amadis und der Wiederentdeckung Heliodors sich erst ankündigte, die Sublimierung und Konventionalisierung zwischengeschlechtlicher Beziehungen, war in der Generation Rompiers in galanter Lyrik und höfischem Roman voll ausgeprägt und fand das Wohlgefallen auch bürgerlicher Schichten. Die Norm jedoch, von der aus der satirische Angriff vorgetragen wurde, war im wesentlichen offenbar die gleiche: das lutherische Verständnis des Menschen als gefallene Natur und die Auffassung des Leibes als vergäng-

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licher Madensack.19 Hier dürfte der gemeinsame Bezugspunkt liegen, der das vorerst heterogen wirkende schmale Werk Rompiers zusammenhält, der Horizont, unter dem seine geistlichen Preis- und Bußlieder und die Satire auf Panonyme zusammenrücken. Es ist der Horizont Straßburgs in der Ära des Kirchenpräsidenten Johannes Schmidt, im Todesjahr Matthias Berneggers, 1640. Eine andere Frage ist, wie sich ein solches literarisches Programm mit dem gesellschaftlichen Status Rompiers in Straßburg (über den wenig Konkretes bekannt ist) und seinen Ambitionen vereinbaren ließ. Die aus dem Kleinbürgertum stammenden Juristen wie Rompier waren, soweit sie nicht wie Moscherosch in Straßburg selbst zu Amt und Anstellung kamen, im wesentlichen auf die Gunst des Feudaladels und der Höfe angewiesen. Gewiß mögen einige der nach der Schlacht von Nördlingen 1634 in die Mauern der Stadt geflüchteten regierenden Häupter der lutherischen Partei - Anna Hendrika Kiel (S. 19/20) nennt den Markgrafen Georg Friedrich von Baden-Durlach und dessen Enkelinnen, den Grafen Eberhard von Rappoltstein - den Tendenzen der Schmidtschen Kirchenreform, der »subjektivistischen Auflockerung der lutherischen Dogmatik« (Anna Hendrika Kiel) aufgeschlossen gewesen sein. Rompier jedoch finden wir 1641, ein Jahr nach der Niederschrift seiner Satire, als Hofmeister in den Diensten eines Obersten und Gesandten des württembergischen Herzogs auf dem Weg nach Paris (bis 1644). Dieser Bernhard Schaffalitzky von Mukodell auf Freudenthal scheint nach allem, was Anna Hendrika Kiel berichtet,20 ein Haudegen und Lebemann gewesen zu sein, der Rompiers Neigungen kaum geteilt haben dürfte. Der Weggang von Straßburg in das Zentrum des absolutistischen Geistes und höfischer Gesinnung muß eine Cäsur, wenn nicht das Ende der Bestrebungen der Tannengesellschaft gewesen sein.

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Insofern bestätigt sich das Urteil Günther Müllers in: Deutsche Dichtung von der Renaissance bis zum Ausgang des Barock. Darmstadt 21957, S. 187: »Seine [Fischarts, W. E. Sch.] Sittenlehre stellt noch einmal das renaissancebürgerliche Familienideal mit der Schätzung der Frau als der treuen Haushälterin und Gebärerin auf gegenüber dem heraufziehenden erotischen Kultus der Jungfrau und des Weibes. Bemerkenswert, wie im »Ehzuchtbüchlein« Plutarch und Erasmus nicht nur sprachlich, sondern auch geistig dorthin »übertragen« sind. Grimmelshausens Erscheinung würde schon allein zeigen, wie die Haltung Fischarts den unteren Ständen während des 17. Jahrhunderts eigen bleibt.« - Über die Wirkungsgeschichte des »Amadis« vgl. W. E. Schäfer: Hinweg nun Amadis und Deinesgleichen Grillen. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF XV, H. 4, S. 306-384. Anna Hendrika Kiel (wie Anm. 4), S. 226, Anm. 18.

Wilhelm Kühlmann

Moscherosch und die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts Aspekte des barocken Kulturpatriotismus* 1. Zur Charakteristik der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts Das literarische Gedächtnis der Deutschen, wer würde es bezweifeln, ist kürzer als das der anderen europäischen Nationen. Lessing ist heute noch Kronzeuge kritischer Rationalität, auf Klopstock und Wieland fällt der gelegentliche Blick des literarisch Interessierten. Was jedoch zeitlich hinter der Schwelle des anhebenden bürgerlichen Zeitalters< liegt, verschwimmt zumeist in einer nebelhaften Undeutlichkeit, aus der nur noch wenige Namen und Texte in das aktuelle Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit ragen: Grimmelshausens Simplicissimus, Gedichte von Fleming, Gryphius und Günther, dazu die Gruppe unvergeßlicher Kirchenlieder. Moscheroschs Werke gehören zu einem versunkenen literarischen Kontinent. Erst neuere bibliographische Bestandsaufnahmen haben gezeigt, daß sich selbst die Barockforschung bisher lediglich mit einem relativ schmalen Kanon approbierter Autoren beschäftigt hat. Untersuchungen und Editionstätigkeit sparen bisher große Bereiche des »barocken Eisberges« (G. Dünnhaupt) aus. Das gilt für Dichter von Rang wie Canitz, Dilherr, Homburg, Lauremberg, Rachel, Rinckhardt, Rollenhagen, Schirmer, Stubenberg, Tersteegen, für Reuter, Titz und Tscherning, das gilt vor allem für das allerdings unwegsame Terrain des neulateinischen Schrifttums.1 Auch um die beiden führenden Gestalten des oberrheinischen Frühbarock, um Moscherosch und Rompier, hat man sich in den letzten Jahrzehnten - von Ausnahmen abgesehen - wenig gekümmert. Die süddeutschen Archive und Bibliotheken (Straßburg, Karlsruhe, Ulm u. a.) bergen einen beachtenswerten Bestand an Drucken und Handschriften, der erst in neuester Zeit, nicht zuletzt bei den Vorarbeiten für die Karlsruher Moscherosch-Ausstellung erschlossen worden ist.1" *

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Der vorliegende Aufsatz stellt den Abdruck eines Vortrage dar, der am 18. Mai 1981 in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe im Rahmen der dortigen Moscherosch-Ausstellung gehalten wurde. Hinzugekommen sind nur die notwendigsten Anmerkungen. Gerhard Dünnhaupt, der Herausgeber des Bibliographischen Handbuchs der Barockliteratur (3 Bde., Stuttgart 1980/81) hat in einem lesenswerten Aufsatz auf Defizite der Forschung hingewiesen, die mit der mangelnden buch- und druckgeschichtlichen Erschließung des Textmaterials zusammenhängen: Der barocke Eisberg. Überlegungen zur Erfassung des Textmaterials des Schrifttums des 17. Jahrhunderts. In: Aus dem Antiquariat H. 10 (1980), S. 441-446. Zur Geschichte der Moscherosch-Rezeption, von der Romantik bis ins Kaiserreich sehr rege, finden sich Hinweise im Katalog der oben genannten Ausstellung: Johann Michael Moscherosch. Barockautor am Oberrhein, Satiriker, Moralist. Eine Ausstellung der Bad.

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Freilich hat die Zurückhaltung des Publikums gegenüber barocker Literatur durchaus Gründe, die nicht nur mit dem Schwinden des historischen Bewußtseins und dem gebrochenen Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte zusammenhängen. Gemessen an den weltliterarischen Leistungen eines Tasso, eines Corneille, Racine, Molière, Montaigne, La Bruyère, eines Shakespeare und Cervantes, mangelt es den bedeutenden Werken der deutschen Barockliteratur gewiß nicht an formaler Perfektion. Was die Entfremdung bewirkt und eine gewisse Diskrepanz zur Literatur des zeitgenössischen Europa bezeichnet, ist ein Defizit an Modernität. Darunter ist zu verstehen, daß unsere Weise empirisch-sinnlicher Welterfahrung und praktisch-rationaler Weltorientierung in der Barockliteratur keinen direkten Widerhall findet. Sie ist geschrieben in der Perspektive einer »bestrittenen Subjektivität« (C. Wiedemann). Gerade die repräsentativen Werke jener Zeit bestärken die überindividuelle Geltung von ästhetischen, moralischen und sozialen Normen und Traditionen. In ihnen artikulieren sich Ordnungsvorstellungen, welche ihre Indienstnahme durch Staat und Kirche implizierten. Selbst wo sich wie im Falle Moscheroschs die Stimme satirischer Kritik erhebt, gilt diese nicht fehlender progressiver Emanzipation als vielmehr Widersprüchen und Ordnungsdefiziten, die dem verfehlten Streben des Individuums zur Last fallen. Nicht umsonst bildeten Moscheroschs »Gesichte« das literarische Pendant zu seiner Tätigkeit als »Polizeidirektor« in Straßburg (1645-1655).2 Wer sich mit barocken Texten befaßt, wird dies - jenseits fehlgeleiteter Aktualisierungen - tun müssen im Bewußtsein einer nicht nur chronologischen Distanz. Darin liegt freilich die Chance zu einem Gewinn an Erkenntnis. Barocke Texte beantworten recht direkt die Frage nach ihrem öffentlichen Belang, weil sie das Persönliche, nur Subjektive gering achten. Der heutige Leser wird aus dem Horizont eines liberalen Zeitalters gerissen. Er wird Zugang finden müssen zu einer Epoche, in der man in der freigesetzten Vernunft und Sinnlichkeit des Menschen das Sündhafte, Anarchische, Bedrohende witterte. Im Gegensatz zur Entdeckung menschlicher Würde und Macht in der Renaissance mißtraute man der natürlichen Soziabilität des Individuums auf Grund historischer Erfahrungen, die den Satz »homo homini lupus« zu bestätigen schienen. Dem Gedanken humaner Autonomie stellten viele Autoren das zwingende Bild kosmischer, moralischer und sozio-politischer Ordnungssysteme entgegen, geborgen und begründet in den revitalisierten Überlieferungen christlichen Glaubens. Das Typisierende der Barockliteratur hat weniger mit einem Realitätsverlust zu tun als mit dem Willen, die schlechte Wirklichkeit

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Landesbibliothek Karlsruhe in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Offenburg. Karlsruhe 1981 ; der Band faßt den Stand der Forschung zusammen und bietet darüber hinaus eine Reihe bisher unbeachteter Zeugnisse und unbekannter Informationen. Vgl. Walter E. Schäfer: Johann Michael Moscherosch. In: Katalog der Moscherosch-Ausstellung Karlsruhe (s. Anm. la), spez. S. 25.

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Ordnungsutopien zu unterwerfen. Das war ein Akt der Vernunft, die sich über die Triebnatur des Menschen, seine Kreatürlichkeit und Erlösungsbedürftigkeit, zu erheben suchte und ihrer doch ständig bewußt blieb. Diese Vorbemerkungen wollen nicht besagen, alles, was in der Literatur des 17. Jahrhunderts verhandelt wurde, sei geschichtlich gelöst, aufgehoben, entrückt. Wer sich in die Geschichte vertieft, um die Vorgeschichte der eigenen Gegenwart zu gewinnen, wird sich dem Barock in vielerlei Hinsicht zuwenden müssen. War es doch die Epoche der sich entfaltenden Naturwissenschaften, die Epoche der Entstehung des modernen Verwaltungsstaates und nicht zuletzt das Zeitalter, in dem in Theorie und Praxis der Grund für eine deutsche Nationalliteratur und ästhetisch bewußte Kunstdichtung gelegt wurde. Es bezeugt der Weitblick von Günter Grass, daß er in seiner 1979 erschienenen Erzählung Das Treffen in Telgte das ihn bewegende, höchst prekäre Verhältnis von deutscher Nation und deutscher Literatur im Rekurs auf das 17. Jahrhundert behandelte. Grass projiziert in das Jahr 1647 die Gründung der »Gruppe 47«. Er beschreibt ein imaginäres, in Wirklichkeit undenkbares Treffen der bedeutendsten deutschen Barockautoren im Schatten der Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück. Moscherosch und der Straßburger Johann Matthias Schneuber sind mitten unter ihnen. Grass sieht die innere Solidarität seiner Figuren, der barocken Literaten, in dem verbindenden Bewußtsein, daß in ihnen, den ohnmächtigen Dichtern, das wahre Deutschland repräsentiert sei. Ein Echo übrigens des Selbstbewußtseins moderner Schriftsteller des Exils von Thomas Mann und Karl Wolfskehl, eine Variante auch des Hofmannsthalschen Diktums vom Schrifttum als dem geistigen Raum der Nation. Es ist die gegenwärtige Zerrissenheit des Vaterlandes, von der Grass seine Gestalten bewegt erzählen läßt, bemüht um das letzte gemeinsame Band: die deutsche Sprache. Auch Moscherosch ist ihm Gewährsmann für den Versuch, im Plädoyer für die Reinheit des Deutschen den Kampf gegen politische und militärische Entmächtigung fortzusetzen. Grass zeichnet in imponierender Kenntnis der Forschung die Profile der barocken Dichter, die Frontbildungen und Spannungen zwischen den diversen Persönlichkeiten und Gruppierungen: den orthodoxen Lutheranern und mystischen Spiritualisten, den nur gesprächsweise genannten Calvinisten und Katholiken, den Höflingen, Aristokraten, humanistisch gesonnenen »Ironikern« und - das betrifft Moscherosch - den altdeutsch gestimmten Patrioten. Wie gesagt, ein solches Treffen hat es nie gegeben und konnte es nicht geben. Dennoch entbehrt die rückwärtsgewandte Utopie des modernen Werks nicht der historischen Schlüssigkeit. Denn in dem, was Grass und seinen Figuren vorschwebt, sind wesentliche Impulse der barocken Sprachgesellschaft getroffen. Es ist also nicht nur von antiquarisch-historischem Interesse, zu fragen, was wir unter jenen Gesellschaften zu verstehen haben, in denen sich ein Großteil der barocken Autoren im Wirken für deutsche Sprache und Lite-

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ratur zusammenfand. Wo lagen die Motive dieser Gesellschaften, wo der gemeinsame Nenner, wo erkennbare Differenzen? Wo die Schranken, wo die weiterreichende Geltung ihrer Tätigkeiten? Ich möchte Ihnen dazu einige Aspekte einer historischen Würdigung entwickeln.3 Im Mittelpunkt soll dabei Moscherosch stehen. Das ist sinnvoll in doppelter Weise: Moscherosch war Mitglied zweier Sprachgesellschaften. Diese Zugehörigkeit ist ein wichtiges Element seiner Biographie. Mit Moscheroschs Namen verknüpft sich die Erinnerung an mißdeutbares und mißgedeutetes nationales Pathos. Im Blick auf die Sprachgesellschaften ist zu überprüfen, welche besonderen historischen Voraussetzungen dem barocken Kulturpatriotismus zugrunde lagen.

2. Konservative und fortschrittliche Elemente in der »Fruchtbringenden Gesellschaft« Die bedeutendste Sprachgesellschaft war die 1617 gegründete »Fruchtbringende Gesellschaft« (im folgenden mit FG bezeichnet). Sie blühte vor allem unter ihrem ersten Oberhaupt, dem Fürsten Ludwig von Anhalt-Köthen (bis 1650). Moscherosch gehörte ihr seit 1645 an. Seine Mitgliedschaft war vermittelt durch den Nürnberger Patrizier und »Großliteraten« Georg Philipp Harsdörffer, Moscheroschs Freund (1607-1658). In einem Brief vom Sommer 1646 an Fürst Ludwig bedankt sich Moscherosch für die Übersendung der Gesellschaftsinsignien. Dazu gehörte das sog. »Gemälde«, abgebildet auf dem am Bande zu tragenden »Gesellschaftspfennig«, ein erläuternder Name und der dazugehörige Wahlspruch. Moscherosch hieß »Der Träumende« mit Bezug auf die Traumvisionen der »Gesichte«; er führte im Gemälde das Nachtschattengewächs und die Devise »Hohe Sachen«. Derlei allegorisie-

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Die ältere Literatur zu den Sprachgesellschaften ist zusammengefaßt von Karl F. Otto: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1972 (Sammlung Metzler Bd. 109); Christoph Stoll: Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts. München 1973 (List Taschenbücher der Wissenschaft 1463); vgl. ferner Ferdinand van Ingen: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 1, Heft 1 (1972), S. 14-23; ders.: Überlegungen zur Erforschung der Sprachgesellschaften. In: Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur 1. Erstes Jahrestreffen (1973). Vorträge und Berichte. Hamburg 2 1976, S. 82-106; dazu kommen die fundierten, vor allem sozialgeschichtliche Fragen behandelnden Aufsätze in dem Sammelband: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 28. bis 30. Juni 1977; Vorträge und Berichte. Hg. von Martin Bircher und Ferdinand van Ingen. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 7); zum weiteren Umkreis der europäischen Societätsbewegung: Der Akademiegedanke im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Fritz Hartmann und Rudolf Vierhaus. Bremen-Wolfenbüttel (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 3); K. Müller: Zur Entstehung und Wirkung der wissenschaftlichen Akademien und Gelehrten Gesellschaften des 17. Jahrhunderts. In: Universität und Gelehrtenstand. Büdinger Vorträge 1966. Hg. von Hellmuth Rössler und Günther Franz. Limburg/L. 1970 (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, Bd. 4), S. 127-144; sehr lesenswert u. a. wegen des Einbezugs der naturwissenschaftlichen Gesellschaften: R.J.W. Evans: Learned Societies in Germany in the Seventeenth Century. In: European Studies Review 7 (1977), S. 129-151.

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rende Kennzeichnungen stammten aus der italienischen Akademiebewegung. Sie dienten symbolisierter Selbstdarstellung und Selbstverständigung, hatten jedoch auch einen praktischen Zweck.4 Dies ergibt sich aus der an die Mitglieder gerichteten Forderung, in ihrem Briefwechsel wie auch bei der Publikation ihrer Werke nur den Gesellschaftsnamen zu verwenden: »daß so unter ungleichen Stanspersonen [sie!] [...] eine Gleichheit und Gesellschaft getroffen würde; anders theils, daß sie unter solchen Titeln ihre Schriften ohne Ehrgeitz und eigenen Namensruhm an Tag geben/ und vielmehr auf den gemeinen Nutzen/ als der Lesere stoltzes Lobsprechen sehen möchten«.5 Die Gesellschaftsnamen sollten also die sozial vorgegebenen Rang- und Standesunterschiede samt den damit verbundenen zeremoniellen Umgangsformen überspielen und »Gleichheit und Freundschaft« innerhalb der Sozietät ermöglichen. Freilich galt diese Freiheit nur für »Gesellschaftssachen«. Doch war es immerhin in diesem Rahmen möglich, die Kluft zwischen Geburts- und Gelehrtenadel, nobilitai litteraria und nobilitas

generis

oder - wie es auch hieß - dem »Adel des Degens« und dem »Adel der Feder« zu überbrücken. Jedenfalls unter der Ägide Fürst Ludwigs öffnete sich die FG - etwa ab 1640 - den bürgerlichen Literaten, soweit sie literarische Reputation besaßen und in ihrer beruflichen Stellung und persönlichen Lebensführung den programmatischen Tugendidealen zu entsprechen schienen. Es war Fürst Ludwig selbst, der einstweilen aristokratisch-exklusive Tendenzen abwehrte, die nach der Jahrhundertmitte der FG den Charakter eines literarisch zuletzt belanglosen Ritterordens verliehen. Der oben zitierte Hinweis auf den »gemeinen Nutzen« deutet auf die tieferliegende sozial- und kulturpolitische Zielsetzung der Gesellschaft. Adel und Gelehrtenbürgertum sollten sich unter Verzicht auf Rangstreitigkeiten in der gemeinsamen Arbeit für das Wohl des Staates verbinden. Insofern hängt die Sozietätsbewegung mit einem grundlegenden Vorgang des 17. Jahrhunderts zusammen: der Herausbildung eines von Staatsloyalität durchdrungenen Beamtenapparates, dessen Angehörige im Fürstendienst zu einer homogenen Gruppe zusammengeschweißt werden sollten. Auch im Werk Moscheroschs finden 4

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Der erwähnte Brief vom 26. Juli 1646 ist abgedruckt bei Gottlieb Krause: Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein. [...] Leipzig 1855, S. 60/61; hier auch weitere Moscherosch betreffende Briefe: S. 172, 176, 341, 344, 347, 349, 355/56; 376/77; 454; vgl. auch das Schreiben Harsdörffers an Ludwig von Anhalt-Kothen (1.12.1645) bei Friedrich Wilhelm Barthold: Geschichte der Frachtbringenden Gesellschaft. [...] Nachdruck der Ausgabe Berlin 1848: Hildesheim 1969, S. 314-16. - Vgl. Klaus Conermann: War die Fruchtbringende Gesellschaft eine Akademie? Über das Verhältnis der Fruchtbringenden Gesellschaft zu den italienischen Akademien. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen (s. Anm. 3), S. 103-130; W. Brednow: Beinamen in wissenschaftlichen Gesellschaften und Zirkeln. Ein Beitrag zur anthropologischen Bedeutung der cognomina. In: Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966), S. 242-61. Carl Gustav von Hille: Der Teutsche Palmbaum. Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1647 München 1970 (Die Fruchtbringende Gesellschaft. Quellen und Dokumente in vier Bänden. Hg. von Martin Bircher. Zweiter Band), S. 138.

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sich die Konturen der dazu notwendigen Anpassung an die Ideale des geselliggesellschaftlichen Verkehrs innerhalb der neuen höfisch-administrativen Elite.6 Vom Gelehrten wurde das Ablegen scholastischen Dünkels und ein praxisnahes Denken erwartet, vom Adel das Bemühen um Bildung und die Anerkennung des Leistungsprinzips als Voraussetzung sozialer Geltungsansprüche. Die Kritik des akademischen Pendantismus in Moscheroschs Gesichten7 korrespondiert der unmißverständlichen Forderung in einem Gedicht auf Carl Gustav von Hilles Teutschen Palmenbaum·. [...] Adel/ laß dich doch gewinnen!/ Jage fort den falschen Wahn/ Ob Sanftmut/ Kunst/ freye Sinnen Stünden nicht dem Adel an/ Der von Hill schreibt ohne Tadel. g Desto mehr ist er von Adel.

Aus der Verpflichtung der FG auf das Gemeinwohl erklärt sich auch der Widerwille gegen den Grabenkrieg der Konfessionen. Theologen wurden bis auf zwei Ausnahmen (Rist, Andreae) nicht akzeptiert. Dies im Unterschied zu den Gepflogenheiten der bürgerlichen Gesellschaften, in denen die protestantische Geistlichkeit - man denke etwa an die Nürnberger »Pegnitzschäfer« - eine bedeutende Rolle spielte. Fürst Ludwig verstand sich als Christ, wandte sich jedoch gegen die »rottischen« Bezeichnungen »Calvinist« oder »Lutheraner«.9 Diese Gesinnung entsprach freilich nicht zuletzt den Interessen eines calvinistisch-reformierten Herrscherhauses. Denn erst der Westfälische Frieden brachte den Calvinisten die Anerkennung als offiziell geduldeter Religionspartei. Sie entsprach aber auch den Unionsbemühungen innerhalb des Protestantismus in der Abwehr der habsburgisch-katholischen Gegenreformation. Die Überwindung der Standes- und innerprotestantischen Konfessionsgrenzen wie auch immer wieder unvollkommen verwirklicht - spiegelt das alle gesellschaftliche Kräfte nutzbar machende Prinzip absolutistischen Staatsdenkens und weist - im Horizont der politischen Situation des Reichs - auf die Formation einer »deutschen« Bewegung. Wir wissen aus der Geschichte Wal-

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Zu dem hier wirksamen Ideal der »civil conversatione« (Guazzo); Konversation im doppelten Sinne des Sprechens und Verhaltens, vgl. Conermann (s. Anm. 4), S. 112ff. Vgl. besonders die Gesichte Hoff-Schule (I 7) und Hanß hieniiber. Ganß herüber (II 2) in Moscheroschs »Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt«. Nachdruck der Ausgabe Straßburg 1642/Zweiter Teil, 1643: Hildesheim 1974. Zahlreiche bildungskritische Passagen auch in Moscheroschs Neuausgabe von GEORGIUS GUMPELZHAIMERUS: Gymnasma de exercitiis academicorum [...] Straßburg 1652 - sowie im Briefwechsel mit Harsdörffer (vgl. unten Anm. 15). C. G. v. Hille: Der Teutsche Palmbaum (s. Anm. 5), S. 59 (neue Paginierung) des Vorspanns. Zum Gesamtkomplex der Rivalität zwischen Gelehrtenelite und Geburtsadel vgl. Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Sozialgeschichtliche Bedingungen des Normenwandels im 17. Jahrhundert. Göttingen 1978 (Palaestra Bd. 269), S. 207ff. Vgl. den Brief Ludwigs an Christian II. von Anhalt, abgedruckt bei Stoll (s. Anm. 3), S. 40f.

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lensteins, daß es in Sachsen, Brandenburg und in den Reichsstädten - mit wachsender Dauer des Krieges - eine zunehmende Zahl von Politikern gab, die eine Rückbesinnung auf die genuin deutschen Interessen verlangte. Eine solche Sorge um das »arme Vaterland« konnte sich der Lage der Dinge nach nur an die mittleren Stände des protestantischen Deutschland klammern. Der Kampf für das »Glaubens- und Gewissensrecht« und die alte »Libertät«10 mußte - sehr zum Leidwesen der Lutheraner - im Kaiser den Agenten des habsburgisch-katholischen Universalismus sehen; doch bewies der Verlauf des Krieges, daß das Wohl des Reiches auch von der Übermacht der fremden Mächte - vor allem von Frankreich - bedroht war. Gewiß haben diese politischen Konstellationen bei der Gründung der FG noch keine Rolle gespielt, doch ist zu fragen, ob nicht in der weiteren Geschichte dieser und anderer Gesellschaften geistige und personale Querverbindungen zu einer sich auch politisch als »deutsch« definierenden Partei bestanden. Dies wäre eine der möglichen Erklärungen für die Mitgliedschaft vieler literarisch kaum hervortretender oder kaum interessierter Persönlichkeiten. Die Rezeption dieser Standesherren und Militärs wäre also gegebenenfalls nicht nur als politisch-taktische Geste oder als höfische Gefälligkeit zu bewerten. Jedenfalls war von Anfang an klar, daß die FG sich nicht nur auf die Pflege der deutschen Sprache und Literatur beschränken sollte. Sie verstand sich auch als höfisch akzentuierte »Tugendgesellschaft«.11 Man knüpfte an ritterlich-heroische Verhaltensideale an und verband sie mit Vorstellungen altdeutscher »Redlichkeit«; im Leitbild des Biedermanns, das gerade Moscherosch verfocht, äußerte sich eine Mentalität, die man nicht umstandslos als »bürgerlich« einordnen kann. Auch weite Kreise des alten Adels konnten sich mit ihr identifizieren. Die germanisch-altdeutschen Helden in Moscheroschs Gesichten gehören zu einer Reichsromantik, die im Geschichtsbewußtsein des reichsstädtischen Bürgertums wie auch im Selbstverständnis der landsässigen Nobilität verankert war. Gemeinsam war beiden die in moralischen Kategorien formulierte Abwehr gegen die wachsende Undurchsichtigkeit und Formalisierung sozialer Beziehungen, repräsentiert in den zeremoniellen Zwängen und Abhängigkeiten des Hoflebens. Altfränkische Gesinnungsethik wurde ins Feld geführt gegen den Funktionalismus und Rationalismus moderner Staatsraison. Gemeinsam war auch die Abwehr gegen eine ständebedrohende Wirtschaftsgesinnung und die damit verbundene soziale Mobilität, die sich von Moscherosch bitter vermerkt - im modischen Gebaren und in der sprachlichen Attitüde selbst niedriger Volksschichten kundtat.12 Der sog. antihöfische Grundzug in Moscheroschs Schriften hat also nichts zu tun mit einem Wider10 11

12

Vgl. e . G . V. Hille: Palmbaum (s. Anm. 5), S. 6-15. Zu diesem Aspekt besonders die Arbeiten von Van Ingen (s. Anm. 3) sowie Berns, J. J.: Zur Tradition der deutschen Sozietätsbewegung im 17. Jahrhundert. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen (s. Anm. 3), S. 39-52. Vgl. bes. das Gedicht Moscheroschs im »A la mode Kehrauß«: Gesichte (s. Anm. 7), Zweiter Teil, S. 127.

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stand gegen die monarchisch gedeckte hierarchische Gesellschaftsordnung im Gegenteil, sie setzte sich gerade gegen egalitäre Tendenzen zur Wehr, die aus der Ständegesellschaft den Untertanenverband bildeten.13 Wir sehen, daß sich in den Sprachgesellschaften vorwärtsweisende Momente in irritierender Weise mit konservativen Grundhaltungen vermischen. Das Dilemma des maßgeblich von bürgerlichen Gelehrten getragenen Kulturpatriotismus lag in der unausweichlichen Konjunktion des nationalen Gedankens mit dem Kampf um bedrohte »Libertät«. Da der Kaiser für das protestantische Deutschland eine Gefahr bildete, mußten sich die nationalen Hoffnungen auf die Fürsten verlagern, die an einer politischen Stärkung des Reichs kein Interesse haben konnten. Infolgedessen gab es unter ihnen nur wenige, die den ausgreifenden Hoffnungen der »Deutschgesinnten« entgegengekommen wären. 3. Staatsmacht und Kultur: Probleme einer möglichen Allianz Bereits die komplizierte Lagerung der den barocken Kulturpatriotismus bestimmenden politischen und sozialen Probleme verbietet es kategorisch, diesen in die Nähe eines modernen Chauvinismus zu rücken. Gewiß hatte das gelegentlich befremdende nationale Pathos auch kompensatorischen Charakter. So deutlich etwa von Moscherosch in Bezug auf die FG formuliert: Der Gesellschaft/ die den Teutschen Treibet von dem Rukken weit/ Fremder Zungen Joch und Peutschen/ Welscher Sprachen Dienstbarkeit: Ohne Schwertstreich/ ohne Kriegen/ Können wir jetzt obesiegen. 14

Wie wenig aber der aggressive Ton Moscheroschs zu tun hat mit einer distanzierten Überheblichkeit gegenüber Frankreich, seiner Sprache und seiner Kultur, läßt sich sehr gut nachweisen anhand eines Briefes, der in der älteren Forschung kaum beachtet worden ist. Es handelt sich um ein längeres Schreiben an Harsdörffer, datiert vom 18. August 1645.15 Es ist genau der Zeitpunkt, an dem Moscherosch, wie er wußte, die Mitgliedschaft in der FG zugesagt wurde. Moscherosch schreibt in Paris - in französischer Sprache. Er weilte dort im Auftrag der Stadt Straßburg, um Beschwerden vorzubringen sowie die 13

14 15

Zur »antihöfischen« Bewegung des 17. Jahrhunderts vgl. Vogt, E.: Die gegenhöfische Strömung der deutschen Barockliteratur, Leipzig 1931. Moscheroschs politische Position in Fragen des Widerstandsrechts ergibt sich aus der Verurteilung der Cäsarmörder im Gesicht »HoffSchule« (17), Nachdruck (s. Anm. 7), S. 425ff., sowie in seinem Kommentar zum Frankfurter Fettmilch-Aufstand (Gesichte - s. Anm. 7 - , 14, S. 190f.). Hille, C. G. v.: Der Teutsche Palmbaum (s. Anm. 5), S. 57 des Vorspanns. Abgedruckt mit der Antwort Harsdörffers in J.M. Moscherosch: Centuria Prima (-Sexta) Epigrammatum. Frankfurt 1665, spez. S. 102-109. Ich habe diesen Briefwechsel übersetzt und im Werkzusammenhang anderweitig behandelt: Wilhelm Kühlmann - Walter E. Schäfer: Der junge Moscherosch. Studien zur Stadtkultur des Frühbarock in Straßburg. Berlin 1983.

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politischen Pläne Ludwigs XIV. zu erkunden. Es war eine Zeit, in der Paris von Deutschen wimmelte. Rompier von Löwenhalt, der Begründer der Straßburger Tannengesellschaft, hielt sich hier 1643-1644 im Gefolge Christoph Forstners auf, des um Protektion nachsuchenden Kanzlers von WürttembergMömpelgard. Er traf dort Zesen und hätte um ein Haar auch Gryphius begegnen können, den seine Studienreise im Juli 1644 in die Seinemetropole führte. Von keinem Autor jener Zeit hat sich ein derart aufschlußreiches Zeugnis des Paris-»Erlebnisses« erhalten wie von Moscherosch. Ich hebe aus dem langen Brief, der beinahe Traktatform annimmt, nur die hier interessanten Punkte heraus. Es geht um die Frage, ob die Dichter für die Angelegenheiten des Staates und die Belange der Gesellschaft geeignet seien. Moscherosch möchte zwischen zwei Arten von Poeten differenzieren: zwischen denjenigen, die, ihren Phantasien nachhängend, sich auf nichts verstehen, als lange Elegien zu drechseln, und in bloßer formaler Fertigkeit steckenbleiben, und denjenigen, die, von natürlicher geistiger Beweglichkeit, genau zu unterscheiden wissen zwischen beruflicher Verpflichtung und literarischer Liebhaberei. Diese sind es auch, die - nach Moscherosch - literarische Tätigkeit mit politischen Funktionen in rechterWeise zu verbinden wissen. In ihnen verkörpert sich eine harmonische Allianz von Macht und Geist, eine Personalunion von Bildung und politischer Wirksamkeit. Dafür stehen Männer wie Montaigne und die großen französischen Späthumanisten, die zur Gruppe der die französischen Staatsgesinnung maßgeblich bestimmenden »Politiker« zählen: Du Vair, Pascal, Pasquier.16 Vor allem aber preist Moscherosch Richelieu:17 Hat die Sonne in ihrem Lauf [...] je einen Mann gesehen, der nicht nur Frankreich, sondern fast der gesamten Welt [...] sein Gesetz gab [...]; zur Zufriedenheit seines Königs und zum Wohl seines Vaterlandes; [Richelieu] der, so überladen er mit Geschäften war, dennoch den Preis des besten Dichters davontrug, den Frankreich jemals besessen hat?

Es folgt eine Apotheose von Paris: Denn mir ist, nachdem ich auf dem Weg über Lyon zweihundert Meilen zurückgelegt habe, das Glück widerfahren, diese Stadt Paris zu sehen, diese Welt, dieses Universum, dieses irdische Paradies, woher alles kommt, wohin alles geht. Und was weder Deutschland, weder Spanien, weder Italien noch England, auch nicht die anderen Königreiche bieten und sehen lassen können - Paris wird es Euch vorweisen. Und obwohl ich schon zweimal zuvor hier gewesen bin [gemeint sind die Aufenthalte seiner Studienreise, - W. K.], ist die Stadt, verglichen mit dem, was sie damals war, von einem Teil zu einem Ganzen geworden, eine vollkommen andere Welt, so groß, so schön, so prächtig und majestätisch sie auch zuvor gewesen sein mag. Doch vor allem preise ich mich glücklich, den König, Ludwig XIV., hier gesehen zu haben [...]

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Mit Pascal ist nicht der berühmte Mathematiker gemeint, sondern Charles Paschal, ein Diplomat und Verfasser historischer Werke aus dem Kreis um Heinrich III. Zu der von Moscherosch angesprochenen Gruppe der französischen »Politiker« vgl. Roman Schnur: Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Berlin 1962; Emst Hinrichs: Fürstenlehre und politisches Handeln im Frankreich Heinrichs IV. Untersuchungen über die politischen Denk- und Handelsformen im Späthumanismus. Göttingen 1969. Wie Anm. 15, spez. S. 105, das folgende Zitat S. 108.

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Der Brief beweist eine Erkenntnis, die vielen deutschen Reisenden jener Jahre zuteil geworden ist: die Erkenntnis der deutschen Zurückgebliebenheit. Gewiß steckt in diesen Zeilen ein gut Stück werbender, demonstrativer Weitläufigkeit. Moscherosch schlüpft in die Rolle des Diplomaten. Doch wäre es Harsdörffer gegenüber nicht nötig gewesen, der französischen Kultur und Politik zu schmeicheln. Das Schreiben hat nichts mit ideellem Landesverrat zu tun, sondern will, wie ich meine im Blick auf die FG, ein Ziel illustrieren, das den deutschen Literaten vorschwebte: eine staatstragende, politisch relevante Rolle der gelehrten Intelligenz, ein Bündnis von Kunst und Politik, getragen vom Sachverstand und vom Engagement der Machthaber, Basis einer Mitspracheund Mitgestaltungsmöglichkeit. Gerade erst (1635) war die Académie française gegründet worden, Instrument und Denkmal absolutistischer Kulturpolitik. Das wird Moscherosch nicht entgangen sein. Sie wurzelte ebenso wie die FG im Akademiewesen der italienischen Spätrenaissance. Dazu gehörte maßgeblich die Academia della Crusca, in der Fürst Ludwig Mitglied war und deren Gebräuche und Zielsetzungen ihn entscheidend angeregt hatten.18 Moscheroschs Brief zeigt, was sich die deutschen Patrioten erhofften. Es ist kein Zufall, daß man noch in Kreisen der Deutschen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts die FG mit der französischen Akademie in Parallele setzte.19 Freilich: Die Diskrepanz zwischen Paris und Kothen war unübersehbar. Nachdem die FG ihren anfänglichen Charakter als regional begrenzter und höfisch zentrierter Akademie zugunsten größerer Breitenwirkung verloren hatte, blieb der interne Kontakt der Gesellschaftsmitglieder locker. Statt gemeinsamer Unternehmungen mußte man sich im wesentlichen auf Briefwechsel, Widmungen, gegenseitiges Lob und gelegentliche fördernde Kritik beschränken. Es fehlte, das konnten die Sprachgesellschaften nicht ersetzen, ein überregionales kulturelles Zentrum. Was das bedeutete, ermißt man im Vergleich etwa mit dem Theaterleben Londons oder dem Publikum in Paris, in dem sich »la cour et la ville« verbunden hatten. 20 Doch darf man nicht verkennen, daß es in der allgemeinen Tristesse der deutschen Verhältnisse für den nicht selten isolierten Literaten eine willkommene Unterstützung bedeutete, sich der Anerkennung hochgestellter Persönlichkeiten und der Solidarität seiner Mit-»genossen« versichern zu können. Überhaupt ist eine abschließende Bewertung der Sprachgesellschaften längst noch nicht möglich. Erst neuerdings sind wir durch Funde umfangrei18 19

20

Dazu Conermann (s. Anm. 4). Ein ausführlicher Vergleich findet sich in der in anderem Zusammenhang recht bekannten Schrift eines gewissen Megalissus (d.i. Georg Litzel aus Jena): Der Undeutsche Katholik. Jena 1731, spez. S. 104ff. Behandelt wird hier ein Akademieprojekt, das der kaiserliche Rat Carl Gustav Heraus in Wien durchzusetzen suchte. Der Verfasser bespricht die Faktoren, die dem Erfolg und der Wirksamkeit der FG im Wege standen. Dazu nach wie vor lesenswert die berühmte Studie von Erich Auerbach: La cour et la ville, zuerst 1951, abgedruckt in: Wege der Literatursoziologie. Hg. von Hans Norbert Fügen. Neuwied und Berlin, 2 1971 (= Soziologische Texte 46), S. 344-388.

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cher Materialien über das bisher ungeahnte Spektrum der zivilisatorischen und literarischen Bemühungen in der Frühphase der Köthener Gesellschaft unterrichtet.21 Kothen war nicht nur Mittelpunkt der Gesellschaft, sondern auch ein bedeutender Druckort. Fürst Ludwig, selbst als Übersetzer und Literaturtheoretiker aktiv, ließ Werke der europäischen >Belletristik< übertragen, widmete sich aber auch der theologischen und religiös-erbaulichen Literatur. Gleiche Bedeutung gewann der Gesamtbereich der Staatslehre und Politik im weitesten Sinne, der Verhaltensethik und der enzyklopädischen Wissenschaften. Dazu kamen als unerläßliche Hilfsmittel Grammatiken, Textsammlungen und Wörterbücher. Auch gewichtige fremdsprachige Texte erschienen in Kothen, wie ζ. B. Werke von Campanella. Man sieht, wie Moscheroschs Übersetzungen und seine Technologie allemande etfrançoise (1655), ein nach Sachgruppen geordnetes deutsch-französisches Wörterbuch, den in Kothen gehegten Ambitionen entsprachen. Das gilt auch für die pädagogischen Schriften Moscheroschs. Fürst Ludwig teilte das weitverbreitete Unbehagen über die Ineffizienz und scholastische Erstarrung des deutschen Gelehrtenschulwesens. Seine Pläne zur Schulreform waren inspiriert von den Vorstößen der zeitgenössischen Reformpädagogik (Ratke). Hinter solch umfassendem Bildungs- und Literaturprogramm stand, das ist unverkennbar, der entscheidende Wille, die deutsche Kultur und Wissenschaft dem Niveau der westeuropäischen Renaissance anzugleichen. Der Name »Fruchtbringende Gesellschaft« war mehr als eine fürstliche Marotte. Was die anderen, regional begrenzten und vom gebildeten Bürgertum getragenen Sprachgesellschaften mit der FG verband, war die Integration der sprachlich-literarischen Reformationsbemühungen in umfassendere sozialethische Zielsetzungen. Innerhalb solcher Gemeinsamkeiten sind, abgesehen von der unterschiedlichen Wirksamkeit und Reichweite der Sozietäten, auch Differenzen im literarischen und geistigen Profil unverkennbar. Dies läßt sich vor allem an der kleinsten, kurzlebigsten Gesellschaft nachweisen, der Straßburger Tannengesellschaft. 4. Zum Selbstverständnis der »Straßburger Tannengesellschaft« Die »Straßburger Tannengesellschaft« wurde 1633 gegründet von einem kleinen Kreis junger Leute ohne Rang und Namen. Initiator war der aus Dinkelsbühl stammende Jesaias Rompier von Löwenhalt, der uns im Vorwort seiner 1647 erschienenen Gedichtsammlung die Motive und leitenden Vorstellungen

Klaus Conermann: Erschließung von Handschriften und Drucken der Fruchtbringenden Gesellschaft und des Kreises um Fürst Ludwig bis zum Jahre 1650. In: Wolfenbiitteler BarockNachrichten VI, Heft 1 (1979), S. 258-262; hiernach die folgenden Angaben. Zur späteren Phase der FG vgl. Martin Bircher: Die Fruchtbringende Gesellschaft. Neue Forschungsergebnisse. In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses. Cambridge 1975, Heft 3. Bem und Frankfurt 1976, S. 104-109.

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dieser Gruppe erläutert. Ich erspare mir Bemerkungen zu Leben und Werk der Mitglieder, deren literarisches Profil nicht zuletzt in einer Vielzahl von Gelegenheitsdrucken faßbar ist. Die noch kaum erschlossenen Bestände des Kasualschrifttums vor allem der süddeutschen Bibliotheken bieten hier wichtiges Quellenmaterial. Jedenfalls ist der Kreis der Tannengesellschafter bislang nicht definitiv zu bestimmen; er umfaßte jedoch gewiß auch Moscherosch.22 In bewegenden Worten schildert Rompier das Elend jener Jahre: Krieg, Teuerung, Hungersnot und »Sterb-seuchen«: Solcher gestalt ist das unglückliche Teutschland ein Sammelplatz des Heers aller völcker/ ein näst viler tausend raubvögel/ eine khot-pfiitz der wüstesten laster/ ein plan tägliches mätzelens/ ein schluckender und zugleich rach-schreiender schwam übel-vergossenen Christenbluhts/ ein lustbad der bösen gaister/ j a schier gar eine Gotlose Holl worden: unser Teutschland (sag ich) der Kaiserliche sitz/ die grundfaste des Römischen Reichs/ die vormaur wider die Ungläubigen; so weilend für einen blühenden garten/ für eine wohnung der Tugend/ und aigendliche haimat aufrichtiger Redlichkeit/ auch für eine werckstatt aller Wissenschaften und Künste gehalten worden.

Bereits die Wahl des Gesellschaftsemblems, der schlichten bodenständigen Tanne, markiert den Abstand, ja die latente Opposition zur FG, die den exotischen Palmenbaum zu ihrem Zeichen gemacht hatte. Rompier und seine Freunde identifizierten sich mit der oberdeutschen, von den Reichsstädten bestimmten Kulturtradition. Eine Nähe zur zünftigen Bürgerlichkeit der Meistersinger ist ebenso unverkennbar wie eine betont lutherische Grundhaltung. Sie implizierte eine kaisertreue Reichsgesinnung und eine personale, stark akzentuierte Frömmigkeit. Rompier stand zeitlebens in engem Kontakt mit den Markgrafen von Baden-Durlach, die für die Sache des Luthertums und des Protestantismus an hervorragender Stelle gekämpft hatten. Rompiers Gedichte offenbaren eine Geistigkeit, wie wir sie auch in Moscheroschs religiös-erbaulichen Schriften, vor allem in seiner Insomnis cura parentum ( 1643) antreffen. Diese Schrift - auf deutsch Schlaflose Sorge der Eltern gibt sich als »christliches Vermächtnis« an seine Kinder. Sie steht im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Reformbewegung innerhalb der lutherischen Orthodoxie. Repräsentant dieser Bewegung in Straßburg war der Theologieprofessor und Präsident des Kirchenkonvents Johannes Schmidt (1594-1658). Neuere Forschungen haben nahegelegt, in ihm und nicht, wie bisher angenommen, in Matthias Bernegger, dem Straßburger Professor für Geschichte, den eigentlichen Mentor der Tannengesellschaft zu sehen.24 Schmidt bemühte 22

23

24

Nähere Angaben mitsamt der bisherigen Forschung bei W. Kühlmann: Rompier, Hecht und Thiederich. Neues zu den Mitbegründern der Straßburger Tannengesellschaft. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 25 (1981), S. 171-195, in diesem Band abgedruckt unter Nr. 7. Des Jesaias Rompiers von Löwenhalt erstes gebüsch seiner Reim-getichte. Strasburg 1647, Vorred (unpag.) Bl. ij v. - Zu Rompier grundlegend: Anna H. Kiel: Jesajas Rompier von Löwenhalt. Ein Dichter des Frühbarock, Utrecht o. J. (1940). Vgl. W. Schäfer: Jesajas Rompier von Löwenhalt und die Straßburger Tannengesellschaft. In: Daphnis 5 (1976), S. 127-143; ders.: Straßburg und die Tannengesellschaft. In: Daphnis 5 (1976), S. 531-547, in diesem Band abgedruckt unter Nr. 10 bzw. 7.

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sich in katechetischen Schriften und Predigten um eine Hebung des religiösen Lebens im Sinne einer alle Bereiche durchdringenden praktisch-moralischen Frömmigkeit. Diesem Ziel sollten Maßnahmen der Jugenderziehung ebenso dienen wie Verbesserungen des theologischen Studiums und die Förderung religiöser Unterweisung in der Familie. Obrigkeit und Geistlichkeit sollten dem entgegenwirken, was als Verlust sozialer Ordnungen empfunden und als allgemeiner Sittenverfall, als Symptome einer »verkehrten Welt« beklagt wurde. Der Lektüre erbaulicher Schriften, nicht nur der Bibel, kam in diesem Programm eine besondere Bedeutung zu. Die Poesie Rompiers hat zu weiten Teilen einen geistlich-meditativen Charakter und entspricht somit dem Anliegen Schmidts. Die Pflege der deutschen Sprache hatte in den Augen Rompiers mehr als praktische Bedeutung. Sie war Zeichen religiöser Gesinnungsethik; sie symbolisierte den Widerstand gegen eine radikal verwandelte Welt ohne »Gottesfurcht« und »Redlichkeit«. In diesem Ethos sollte eine Identität von Wort und Sache erhalten werden, die in den akuten Widersprüchen von Lebenspraxis und überlieferten Moralbegriffen zu schwinden drohte. Rompier weist besonders auf die sozialen Schäden hin, die in solchen Phänomenen seiner Meinung nach zu Tage traten. Zwar knüpfte auch Rompier an die europäische Akademiebewegung an, doch Movens seiner Unternehmungen war nicht die Erkenntnis deutscher Provinzialität, sondern die Überwindung einer Krise der Gesellschaft, der »altdeutschen« Ordnung. Die Vergangenheit war Palladium gegen eine entartete Gegenwart. In seinen Vorstellungen einer Reform des Schul- und Universitätswesens dominiert die Klage über das Vordringen eines intellektuellen Formalismus. Rompier verteidigt die Grundlagen des reformatorischen Humanismus, hält sich jedoch fern von höfisch-weltmännischen Bildungsvorstellungen. Dementsprechend konservativ sind auch die von ihm formulierten ästhetischen, im engeren Sinne literarischen Richtlinien. Rompier wandte sich gegen eine strenge Normierung in Wortwahl und Stil, gegen die von Opitz kodifizierten Regeln höfischer Eleganz. Beklagt werden Tendenzen zu einer schwülstigen, dunklen Bildlichkeit und pointiert-scharfsinnigen Sprechweise, die sich als ästhetische Reizmittel zu verselbständigen drohten und die Sachbezogenheit auch der Poesie unterhöhlten: Wahr ist es/ daß zu gelahrter oder ziehrlicher beschreibung guter sachen/ auch die gute und die raine ziehrd der sprachen erfordert wird/ da man zufällig von art und gebrauch der Wörter und buchstaben zuhandlen/ und ihren aigenschaften gemäß zuurthailen hat: daß man aber solches für das hauptwerck halten/ und den sachen selbsten vorziehen wolte/ hiese den Esel von hinden aufgezäumet; spreuer für kom gemahlen; und vergeßlich aus der acht gelassen/ wan ein ding blos mit dem mund geredt wird/ daß man da weder einen oder den anderen stritigen buchstaben vor äugen siehet/ und dannoch die sachen der rede richtig und wol müsen beschaffen seyn. Zudem/ so trift dis wäsen kein stück des seligmachenden glaubens an; stehet in eines ieden freyer willkhür/ wie er die buchstaben deiten/ und die Wörter darmit schreiben 25 will: wan man nur imm verstand der sachen miteinander übereinkomt.

25

Wie Anm. 23, Vorred Bl. iij v.

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Diese Position sowie das Bewußtsein oberdeutscher Selbständigkeit haben Rompier bewogen, sich nicht auf Opitz zu berufen, sondern auf das Frühwerk Georg Rudolf Weckherlins, in dem noch vor der Opitz'schen Poetik Renaissancelyrik in deutscher Sprache vorgelegt war. Die FG und die Tannengesellschaft markieren sozusagen die äußersten Pole der deutschen Sozietätsbewegung. Im Kreis Rompiers dokumentiert sich die Kontinuität älterer oberrheinischer Tradition. Für das Spektrum frühbarocker Literarizität ist diese Gruppe von besonderer Bedeutung, nicht zuletzt in der Frage nach den weiterwirkenden Momenten bürgerlichen Denkens im 17. Jahrhundert. Auch hier ist erkennbar, wie sich der Kulturpatriotismus mit sozialreformerischen Motiven und moralischen Haltungen verknüpft. Daß der Tannengesellschaft kein langes Leben beschieden war, hängt mit der politischen und militärischen Entwicklung des südwestdeutschen Raumes zusammen. Die anderen Gesellschaften erhielten sich jedenfalls der äußeren Form nach bis ans Ende des Jahrhunderts, ja z.T. darüber hinaus. Trotz späterer Kritik - etwa bei Thomasius - blieben sie keine Episode, sondern setzten sich in den deutschen und patriotischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts fort. Von dort aus ergeben sich Verbindungen bis hin zur Nationalstaatsbewegung der Romantik. Zwar scheiterten die Sprachgesellschaften am Mißlingen des avisierten Bündnisses von Adel und Gelehrtenbürgertum, an der Rearistokratisierung des Staatsapparates im späteren 17. Jahrhundert, an der immer engeren Perspektive der deutschen Kleinstaaterei; doch die Bedürfnisse, denen sie ihre Entstehung verdankten, blieben gegenwärtig und gehören zum Schicksal der deutschen Nation auf der Suche nach kultureller Einheit und Identität jenseits der Schranken von Ständen und Territorien.

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Alchemie und späthumanistische Formkultur. Der Straßburger Dichter Johann Nicolaus Furichius (1602-1633), ein Freund Moscheroschs*

I. Literatur abseits von Schule und Kirche Der berühmteste Satiriker der Barockepoche, zugleich einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit war Johann Michael Moscherosch (1601-1669). Sein Werk ist getragen von verschiedenen literarischen Traditionen, die zusammen das geistige Umfeld der frühbarocken Stadtkultur Straßburgs erkennen lassen. Soziale Orte bestimmen dabei kulturelle Äußerungsformen: Moscheroschs Gesichte Philanders von Sittewalt (zuerst 1640) spiegeln auf satirische Weise die Konflikte und das Ordnungsbedürfnis der städtischen Gesellschaft und stehen in Zusammenhang mit der amtlichen Tätigkeit des Verfassers. Moscherosch war von 1645 bis 1655 »Frevelvogt«, also Polizeichef von Straßburg. Seine neulateinischen Werke (Epigrammbücher u.a.m.) gehören zum literarischen Einzugsbereich der vom Humanismus geprägten Straßburger Hochschule (seit 1621 Universität). Auf die das ganze soziale Leben umgreifenden kirchlichen Reformbestrebungen der Zeit verweisen Moscheroschs erbauliche Schriften, darunter besonders die Schlaflose Sorge der Eltern (Insomnis cura parentum, 1643). In diesem Werk geht es um eine religiös fundierte Ethik der Familie.1 Der vorliegende Beitrag entstand im Zusammenhang weitläufiger Studien zu Moscheroschs Leben und Werk. Die darauf bezogenen Erkenntnisse sollen hier nicht im Vordergrund des Interesses stehen. Die Beschäftigung mit Furichius kann vielmehr dazu verhelfen, genaueren Aufschluß über das intellektuelle Leben im engsten Umkreis Moscheroschs zu gewinnen. Denn in seinen bekannten Publikationen erschließt sich keineswegs die ganze Bandbreite der zeitgenössischen Straßburger »Literaturszene«. Dies ist u. a. dadurch begründet, daß Moscheroschs Schaffensjahre in die für den Oberrhein härte-

Herm Dr. J. Teile (Heidelberg) danke ich herzlich für wertvolle Hinweise bei der Endredaktion des Aufsatzes. Zu Moscheroschs Leben und Werk alles Nähere mit weiterführenden Verweisen in: Johann Michael Moscherosch. Barockautor am Oberrhein, Satiriker und Moralist. Ausstellungskatalog der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe. Karlsruhe 1981; die grundlegende Biographie stammt von Walter E. Schäfer: Johann Michael Moscherosch. Staatsmann, Satiriker und Pädagoge. München 1982; femer zu vgl. Wilhelm Kühlmann/Walter Schäfer: Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang J. M. Moscheroschs (1601-1669). Berlin 1982.

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ste Zeit des Dreißigjährigen Krieges fallen. Moralistische Verengungen der Perspektive und die konservative Note in manchen seiner Schriften reflektieren eine Atmosphäre angstvoller Unsicherheit. Sie drücken zugleich einen verschärften Konformitätszwang aus, der in der Ordnungsmentalität der von Kirche und Obrigkeit bestimmten »Policey«-Gesetzgebung seinen äußeren Ausdruck fand. Moscheroschs Schulzeit reicht demgegenüber in eine ideologisch liberalere, dadurch freilich spannungsgeladenere Epoche, in die Ära Kaiser Rudolphs II. Am Beispiel des Furichius wird greifbar, daß wie in anderen Städten so auch in Straßburg abseits der Institutionen eine Art von Literatur Platz fand, welche unmittelbar zu der von diesem Kaiser repräsentierten Sphäre unorthodox-spekulativer Geistigkeit gehörte. Es handelt sich hier um die in einem weitverzweigten Schrifttum manifest werdenden Strömungen der Naturmystik und hermetisch-alchemistischen Geheimlehren. R.J.W. Evans hat in einem epochemachenden Werk nachgewiesen, wie sich im Umkreis Rudolphs II., vor dem endgültigen Sieg der Gegenreformation, eine gesamteuropäisch und transkonfessionell orientierte Atmosphäre >moderner< Intellektualität ausbreitete: gespeist von platonischer Naturspekulation, manieristischer Kunstausübung und einer nervösen Suche nach wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungssystemen hinter der konfusen Welt sich überkreuzender Erfahrungen und Denkanstöße. Auch die kulturelle Blüte Schlesiens gegen Ende des 16. Jahrhunderts ist ohne die aus Böhmen herüberreichenden Einflüsse nicht zu denken.12 Die Suche nach den Geheimnissen der Natur war dabei höchstens sehr indirekt von ökonomischen Verwertungsbedürfnissen diktiert. Vielmehr ging es darum, jenes unverfälschte Wissen um den Gesamtzusammenhang von Welt, Mensch und Gott wiederzuerringen, das durch die Zeiten verschüttet, im »Buch der Natur« verborgen, jedenfalls aber in der reinen Buchgelehrsamkeit nicht zu finden war. Dahinter stand der Versuch, die auseinanderstrebenden Bereiche des Wissens, darunter auch der empirischen Erkenntnisse in einem pansophischen, z. T. theosophischen Universalismus zu harmonisieren und mit den eigenen religiösen Bedürfnissen zum Ausgleich zu bringen. In Süddeutschland ließ sich Ähnliches im Kreis der »Rosenkreuzer« beobachten, jener schillernden, sich größtenteils aus der freien akademischen Intelligenz rekrutierenden Gruppe von Unzufriedenen, als deren Kern der

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Robert J.W. Evans: Rudolph II and his world. A study in intellectual History 1576-1612. Oxford 1973: vgl. bes. S. 196ff. (»Rudolph and the Occult Arts«) sowie die folgende Zusammenfassung, S. 243ff. (Kap. 7: Prague Mannerism and the Magic Universe); zur Literaturszene Schlesiens, für Opitz und andere bedeutend, vor allem S. 147ff. und passim. Unter den neueren Arbeiten zum »Fin de siècle-Humanismus«, die den Epochebegriff des »Manierismus« geistesund sozialgeschichtlich erhellen, sei noch verwiesen auf Tibor Klaniczay: Renaissance und Manierismus. Berlin 1977, hier bes. S. 79ff.

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Kreis um den jungen Andreae zu gelten hat.2 Moscherosch hat des öfteren seine etwa von 1615-1620 in Straßburg erscheinenden zeitkritischen Schriften in den eigenen Werken verwendet. 3 Persönlich konnte er zu ihm durch den Straßburger Historiker Matthias Bernegger (1582-1640) Kontakt finden. 4 Daß sich Andreae sehr bald von den unorthodoxen Seiten seiner Jugendwerke distanzierte und ebenso wie Moscherosch die vulgären Formen der Alchemie verspottete,5 spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Die ernstgemeinten wissenschaftlichen und gesellschaftsreformerischen Impulse im Umkreis der Rosenkreuzer ließen sich nicht verleugnen und standen im Zusammenhang eines epochalen Reformbegehrens. Andreaes Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz (Straßburg 1616) beweist dabei exemplarisch die Rolle, welche der alchemistischen Symbolwelt als Äußerungsform einer Natur und Gesellschaft umgreifenden Universalwissenschaft zukam. In jüngster Zeit hat die Forschung dieser von der Antike bis spät ins 18. Jahrhundert reichenden Zone eigenständiger Sprach- und Bildwelten verstärkte Aufmerksamkeit zugewandt und sie als einen wichtigen Bereich frühneuzeitlicher Literarizität gewürdigt.6

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Dazu die neueren weiträumigen Untersuchungen von Richard, van Dülmen: Die Utopie einer christlichen Gesellschaft. Johann Valentin Andreae (1586-1654). Teil 1. Stuttgart 1978 (Kultur und Gesellschaft, Bd. 2/1) und John W. Montgomery: Cross and Crucible. Johann Valentin Andreae (1586-1654). Phoenix of the Theologians. 2 Bde. The Hague 1973, letzterer in Bd. II mit einer (fast) kompletten, kommentierten Bibliographie der Quellen und der Forschung. Mit Montgomerys Akzentuierung der orthodoxen Grundhaltung Andreaes kann ich mich nicht befreunden; gleichwohl wertvoll bleibt der auf intimer Quellenkenntnis entworfene Umriß des Frühwerks, bei dem die Rolle der hermetischen Philosophie besonders hervorgehoben wird (S. 241ff. des ersten Bandes).

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In einem Lobpreis von Andreaes Theophilus bemerkt Moscherosch, die Schriften des Tübingers hätten ihn »von Kindheit an zu aller Tugend hingeleitet« (vgl. van Dülmen, wie Anm. 2, S. 195f.). In den wichtigen Werken Moscheroschs wird Andreae öfters zitiert. Beide standen später in Briefwechsel. Zu Bernegger vgl. Carl Bünger: Matthias Bernegger, ein Bild aus dem geistigen Leben Straßburgs zur Zeit des dreißigjährigen Krieges. Straßburg 1893; Erich Bemeker: Matthias Bernegger, der Straßburger Historiker. In: Julius Echter und seine Zeit. Gedenkschrift. Hg. von Friedrich Merzbacher. Würzburg 1973, S. 283-314; W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. [...] Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3). Bernegger gehörte zu der von Andreae projektierten »Societas Christiana« (vgl. van Dülmen, wie Anm. 2, 148ff. spez. 151 ). Sie war gedacht als Kernzelle eines praktischen Christentums und nahm in entmystifizierter Form manche Gedanken des Rosenkreuzer-»Spiels« auf. Die Verspottung der Alchemie steht bei Andreae im Zusammenhang einer umfassenden, mehrfach vorgetragenen Kritik der »curiositas«. So z. B. im Drama Turbo (1616), das Moscherosch in der Alchemisten-Satire seiner Gesichte zitiert (vgl. Ed. 1642, Nachdruck: Hildesheim-New York 1974, S. 360f„ 389ff„ auch 173ff.). Die augenblickliche Forschungsdiskussion im internationalen Rahmen repräsentiert - durch Indices gut erschlossen - der Sammelband von Antoine Faivre/Rolf-Christian. Zimmermann: Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt. Berlin 1979, hier bes. S. 52ff. zur Naturmystik bei Paracelsus (W. Pagel). Wichtig die Differenzierung von Naturmystik, Naturwissenschaft und Naturphilosophie (u.a. S. 447). Zur Alchemie spez. vgl. Karl Frick: Einführung in die alchemiegeschichtliche Literatur. In: Sudhoffs Archiv 45 (1961), S. 147-163; dazu die entsprechenden Abschnitte in dem umfassenden Forschungsbericht von Fritz Krafft: Renaissance der Naturwissenschaften - Naturwissenschaften der

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Wir haben es hier mit einem schwer zugänglichen >Code< zu tun, der in seiner Hermetik dem Verständnis des Adepten nach genau die »Subtilität« einer hinter den Dingen verborgenen Wirklichkeit, die in der natürlichen Gotteserkenntnis, wie auch immer biblisch abgesichert, den dynamischen Zusammenhang des Universums faßbar machen sollte. Die nonkonforme Ambition dieses Erkenntnisweges steht in Analogie zu dem Rosenkreuzerischen Programm einer von den Gebildeten aller Konfessionen ins Werk zu setzenden »Generalreformation der ganzen Welt«. 7 Willkommen oder unwillkommen fanden sich die Rosenkreuzer in der Abkehr von Orthodoxie, Verbalgelehrsamkeit und einer sich in Kirche und Schule verfestigenden Intoleranz an der Seite von Weigelianern und Schwenkfeldianern, wenn nicht sogar in der Nähe eines häretischen Synkretismus. 8 Es ist kein Zufall, daß sowohl Andreaes erbitterte Zeitsatiren wie auch die Chymische Hochzeit in Straßburg, letztere bei Lazarus Zetzner, publiziert wurden. Hier war neben Frankfurt und Basel ein verlegerisches Zentrum der sich mit den occulten Wissenschaften befassenden Literatur. Das Interesse an der Alchemie verband sich dabei nicht selten mit der Hinwendung zu der von Paracelsus geförderten Chemiatrie als deren medizinischer Variante.9 Deshalb wurde z.B. die Husersche Quartausgabe (Basel 1589-90) von Zetzner in

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Renaissance. Ein Überblick über die Nachkriegsliteratur, in: Die Humanismusforschung seit 1945. Ein Bericht aus interdisziplinärer Sicht. Boppard 1975 (Kommission für Humanismusforschung Mitteilung II), S. 111-184; vgl. ferner den Sammelband von E.E. Ploss u.a.: Alchimia. Ideologie und Technologie. München 1970; dort S. 122 eine Statistik der Publikation einschlägiger Werke im 16. und 17. Jahrhundert; umfassende Information liefern S.S. Hartmann/Joachim Teile: Artikel »Alchemie«. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 2, Berlin-New York, 1977, S. 195-227; hier zur alchemistischen Literatur bes. S. 214f. (»Der Bestand alchemistischer Lehrdichtung ist nur unzureichend bekannt.«); bibliographisch vor allem noch immer unentbehrlich die älteren Werke von Hermann Kopp: Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit. Heidelberg 1886, bes. der Anhang im zweiten Teil, S. 308ff.; Carl Christoph Schmieder: Geschichte der Alchemie. Ulm 1959 (Nachdruck der Ausg. 1832); Lynn Thomdike: A History of Magic and Experimental Science, bes. Bd. V und VI, New York 1941, sowie Bd. VII, ebd. 1958. Näheres über Furichius in keinem dieser Werke, auch nicht - soweit ich sehe - in der sonstigen Forschung. Das Programm der »Generalreformation« in der Fama Fratemitatis (1614): vgl. die Edition von Richard van Dülmen. Stuttgart 1973, S. 17ff. Zu dieser Schrift und ihrem Kontext: van Dülmen, wie Anm. 2, S. 73ff.; wertvoll natürlich trotz mancher Einwände der Forschung noch immer Will Erich Peuckerts Rosenkreuzerbuch (1928), das nun in überarbeiteter Form (1973) vorliegt. Vgl. hierzu bes. die Ausführungen zum Tübinger Freundeskreis Andreaes bei van Dülmen (wie Anm. 2, S. 46 bzw. S. 116ff.); ein Straßburger Schwenckfeldianer war der als Liederdichter bekannte Daniel Sudermann; dazu mit der älteren Literatur Joachim Seyppel. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 79 (1960), S. 150ff. Zu Paracelsus' Leben und Werk existiert eine kaum noch überschaubare Literatur; ich verweise nur auf die grundlegenden Werke von Walter Pagel: Paracelsus. An Introduction to Philosophical Medicine in the Era of the Renaissance. Basel-New York 1958; ders.: Das medizinische Weltbild des Paracelsus. Seine Zusammenhänge mit Neuplatonismus und Gnosis. Wiesbaden 1962 (Kosmosophie, Bd. 1), sowie auf die Gesamtwürdigung von Heinrich Schipperges: Paracelsus. Der Mensch im Licht der Natur. Stuttgart 1974 (Edition Alpha 4).

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Straßburg neu ediert (1603-1605). Ihr folgte 1618 noch ein gesonderter Druck der chirurgischen Schriften.10 Die Grenze zwischen einem medizinischen Interesse an Paracelsus und einem naturmystischen Erkenntnisdrang ist bei den verschiedenen Autoren nicht immer leicht zu ziehen. Beide Aspekte verfolgten jedenfalls Männer wie Leonard Thuraeysser (1530-1596), Adam von Bodenstein (1528-1577) und Michael Schütz, genannt Toxites (1515-1584), Repräsentanten der am Oberrhein beheimateten Paracelsusanhänger." Gedruckt wurde in Straßburg auch Heinrich Khunraths (1560-1605) De Igne Magorum Philosophorumque (1608) oder die Pandora Magnalium Naturalium Aurea et Benedicta (1608)12 des zeitweise in Tübingen lebenden Benedictus Figulus.13 Jedenfalls erreichte kurz nach 1600 die Produktion alchemistischer Literatur einen Höhepunkt.14 Daß man mit einem größeren Publikum rechnen durfte, beweist das 1602-1622 bei Zetzner in Straßburg erschienene großangelegte Sammelwerk Theatrum Chemicum, in dem die einschlägigen Werke der an »antiquitate, ventate, jure, praestantia & operationibus« bemerkenswerten Autoren der Vergangenheit zusammengestellt waren.15 Diese wenigen Andeutungen sollen nur auf den geistigen Großraum hindeuten, an dem Furichius Anteil hatte und auf den er sich bezieht. Es handelt sich um ein - von heute aus gesehen - weitgehend unterirdisches Massiv naturmystischen oder naturphilosophischen Schrifttums, das in teilweise prononciertem Gegensatz zur Universitätswissenschaft stand. Die bei Moscherosch zu findenden scharfen Angriffe gegen die akademische Medizin deuten in satirischer Zuspitzung das Unbehagen an, von dem auch die »Welle« paracelsischer Literatur getragen war. 16 Demgegenüber formulierte Matthias Bernegger 1619 in einer Rede De parandae doctrinae modis illegitimis das

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Genauere Angaben bei Karl Sudhoff: Bibliographia Paracelsica. Reprint Graz 1958 (zuerst 1894). Hier S. 709 eine Übersicht über Straßburg als Verlagsort paracelsischer Schriften. Vgl. Johannes Karcher: Theodor Zwinger und seine Zeitgenossen. Episode aus dem Ringen der Basler Ärzte um die Grundlehren der Medizin im Zeitalter des Barock. Basel 1956 (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel III), spez. S. 27ff. ; zu Schütz, der sich auch als Dichter einen Namen machte, die Monograpie von Charles Schmidt (1888); ferner Carlos Gilly: Zwischen Erfahrung und Spekulation. Theodor Zwinger und die religiöse und kulturelle Krise seiner Zeit: In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 77 (1977), S. 57-137 und 79 (1979), S. 125-223. Eine Monographie über ihn fehlt: verstreute Angaben bei Frances A. Yates: Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes. Stuttgart 1975, S. 47f.; Montgomery (wie Anm. 2), Bd. I, S. 17f. u. 8; Evans (wie Anm. 2), bes. S. 213-215; Khunrath verstand den ganzen Kosmos christozentrisch. Johann Arndt schrieb einen Kommentar zu Khunraths Ampitheatrum sapientiae aetemae« er war gedruckt im Anhang des in Straßburg gedruckten Werks (1608). Zu Figulus jetzt van Dülmen, wie Anm. 2, bes. S. 5 Iff. Vgl. die glänzende Darstellung bei Evans (wie Anm. la) S. 199ff. (»Alchemy was the greatest passion of the Age in Central Europe«). Die drei ersten Bände wurden für Zetzner in Ursel 1602 gedruckt. Zetzners Erben veröffentlichten 1659/61 eine erweiterte sechsbändige Ausgabe. Vgl. Gesichte, Ed. 1642 (wie Anm. 5), u. a. S. 246, 257ff„ 130ff.

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Mißtrauen, mit dem man - aus gutem Grand - auf die Verletzung akademisch lizensierter Lehrsystematik reagierte. Bernegger polemisiert hier nicht nur gegen die Verachtung der alten Sprachen, sondern auch gegen die »compendia eruditionis memoria artificialis«, also gegen die aktuelle Mnemotechnik, wie sie besonders im Kontext der Rezeption von Raimundus Lullus ausgearbeitet wurde.17 Sich dieser Hilfen zu bedienen, bedeutet nach Bernegger, die dem Menschen im Sündenfall gesetzte Bestimmung zu verletzen, den Zwang zur Arbeit »im Schweiße des Angesichts«. Lullus verstoße darüber hinaus gegen die natürliche, von Aristoteles kodifizierte Ordnung der Disziplinen mit je eigenem Gegenstand und eigenen Prinzipien. Dies gelte auch für die Kabbala, ein Spiel von Allegorien mit ebenso abergläubischem wie blasphemischem Hintergrand. Es verdient Beachtung, daß diese »illegitimen« Wissensbezirke und ihre Methoden hier nicht nur mit vulgären Formen der »magia naturalis« auf eine Stufe gestellt18, sondern auch in einem Atemzug mit den Rosenkreuzern bekämpft werden, »einer irgendwie im Winkel verborgenen Bruderschaft verborgener Christen«. Bernegger beruft sich auf einen »gelehrten Mann aus dem Kreis jener Brüder in dieser Stadt«. Es sei verdreht und lächerlich, mit vollen Backen zu versprechen, was durchaus unglaubwürdig und teils der Vernunft, teils der Heiligen Schrift diametral entgegengesetzt sei. Um die geistige Atmosphäre dieser für Moscherosch wie für Furichius bestimmenden Jahre zu begreifen, lohnt sich ein Zitat der von dem Redner vorgetragenen Kritik (in Übersetztung): Denn welcher Bibelkundige könnte glauben, was sie über die Generalreformation der ganzen Welt und über Zurückführung in den ersten Zustand paradiesischer Unschuld und eine in jeder Beziehung erfüllte Glückseligkeit prahlen? Wer könnte ihren geschwollenen Versprechungen glauben: über dauernde gute Gesundheit, über mehr als königliche Paläste, über unausgeschöpfte Schätze, über magische Kenntnisse dessen, was jenseits des Ganges, in Peru und in anderen sehr entfernten Orten geschieht, über ein Buch, das alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige umfaßt und über andere Dinge, wer anders könnte ihnen glauben als ein Mensch, der sein Gehirn in den Füßen, nicht aber im Kopfe trägt? Das aber, was Bezug hat auf unsere Einrichtung im engeren Sinne und was sie schreiben über eine von ihnen zu unternehmende gänzlich neue Organisation der Wissenschaften und Künste, von dem werden sie uns erst dann überzeugen, wenn sie gezeigt haben, daß etwas in den Bereich einer wandelbaren und nicht feststehenden Natur fällt, die doch, wie wir wissen, unveränderlich und unwandelbar ist; und da die Axiome, auf denen unser Wissen beruht, aus der Natur selbst

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Matthias Bernegger: Orationes (Straßburg 1640): die Rede S. 39-76 (Nr. II), spez. S. 47ff.; zur ars Lulliana, S. 55-58; Lullus fand nicht nur in Herborn bei Johann Heinrich Aisted starke Beachtung (1610: Systema Mnemonicum Duplex) sondern auch in Straßburg, wo im gleichen Jahr das von Lullus beeinflußte Gazophylacium artis memoriae des Lambert Schenckel herausgegeben wurde. Vgl. neben Evans (wie Anm. la), bes. S. 229-234 sowie 252-254, das grundlegende Werk von Frances A. Yates: The Art of Memory. London 1966. - Das Gegenstück zu dieser seiner Rede lieferte Bernegger noch im gleichen Jahr: De doctrinae parandae ratione (1640, S. 77-112); zu beiden vgl. Bünger (wie Anm. 4), S. 236ff.

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Es geht um die Studenten, die sich mit Hilfe eines »spiritus familiarise das nötige Wissen bereitzuhalten erhofften.

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wie aus einem Quell hervorgegangen sind, wissen wir, daß auch die Wissenschaften selbst unwandelbar sind. Die diese umstürzen wollen, müssen die Natur selbst pervertieren und sie mit einem mehr als gigantischen Wagemut besiegen [ . . . ] "

Man darf bezweifeln, ob Bernegger in Person hinter all dem stand, was er in seiner Rolle als Hochschullehrer und Erzieher der Jugend vortragen mußte. War er doch selbst mit seinen Galilei-Übersetzungen und seiner nicht zunftgemäßen Beschäftigung mit Mathematik und Astronomie an die Peripherie der Straßburger Gelehrtenwelt geraten. Freilich konnte er gewiß wenig Geschmack an einem mystisch-spekulativen Erkenntnisweg finden, der zu dem eigenen Methodenbewußtsein in Widerspruch stand. Kritik war ja auch insoweit durchaus berechtigt, als in dem erhitzten Klima der Rosenkreuzer und Hermetiker auch mancherlei chiliastische Erwartungen und phantastische Spintisierereien Resonanz fanden.20 Auf jeden Fall werden die geistigen Fronten klar, bei denen es in solchen Abwehrreflexen der akademischen Wissenschaft ging. Die Generalreform der Wissensbegriffe und Wissenschaftspraktiken, wie sie gleichzeitig auch von Comenius und Ratke gefordert, in England von Francis Bacon programmatisch entworfen wurde,21 konnte jedenfalls in Deutschland nur abseits der Universität in kleinen Zirkeln praktisch in Angriff genommen werden.22 Die diesbezügliche 19

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Matthias Bernegger: Orationes, Straßburg 1640, S. 62: »Quis credat enim cui sacra Biblia lecta, quae de generali totius mundi reformatione & ad primum innocentiae paradisiacae statum omnibusque numeris absolutam felicitatem reductione iactitant? quis tumidis eonim promissis de perpetua valetudinis prosperitate, de Palatiis plusquam regiis, de thesauris inexhaustis, de Magica cognitione eonim quae ultra Gangem & in Peruana locisque remotissimis aliis accidunt; de libro omnia praeterita praesentia futura complexo, de rebus aliis fidem adhibeat, nisi qui forte cerebrum in calcaneis, non in capite gestat? Id vero quod ad nostrum proprie pertinet institutum, quodque de nova piane scientiarum & aitium conformatione a se instituenda scribunt, nobis tum demum fidem facient, si ostenderint, aliquid in naturam varietatis & inconstantiae cadere, quam nos »ametableton« & immutabilem esse scimus: cumque axiomata, quibus nostrae scientiae nituntur, ex ipsa natura ceu fonte defluxerint ipsas quoque scientias immutabiles esse, quas invertere volunt, eos naturam ipsam pervertere & ausu plusquam giganteo expugnare necesse est [...]« Figulus z. B. erwartete mit Paracelsus die Wiederkunft des Elias Artista, der vor dem letzten Weltgericht ein Zeitalter der Weisheit herbeiführen sollte; theosophische und chiliastische Ideen z.B. auch bei Aegidius Gutmann und Simon Studion: dazu im Zusammenhang van Dülmen (wie Anm. 2), S. 49ff. Auch Bacon arbeitete mit der Vorstellung des adamischen Wissens und begreift die »Rekonstitution des Paradieses als Geschichtsziel«: vgl. Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt/M. 1973, S. 193ff.; zur hermetischen Tradition bei Bacon speziell Paolo Rossi: Francesco Bacone. Dalla magica alla scienza. Bari 1957. Beispielhaft der Kreis um Joachim Jungius, der in Rostock 1622 seine »societas ereunetica« gründete: dazu noch immer nicht überholt das Buch von G. E. Guhrauer: Joachim Jungius und sein Zeitalter. Stuttgart-Tübingen 1850, sowie R. C. B. Avé-Lallemant: Des Dr. Joachim Jungius aus Lübeck Briefwechsel mit seinen Schülern und Freunden. Lübeck 1863. Die Initiativen vor allem nach 1648 behandelt in einem intelligenten Überblick Robert J.W. Evans: Leanied Societies in Germany in the Seventeenth century, in: European Studies Review 7 (1977), S. 129-151; ferner vgl. Kurt Müller: Zur Entstehung und Wirkung der wissenschaftlichen Akademien und Gelehrten Gesellschaften des 17. Jahrhundert. In: Hellmuth Rössler und Günther Franz (Hg.): Universität und Gelehrtenstand. Limburg/L. 1970, S. 127-144. Fritz Hartmann/Rudolf Vierhaus (Hg.): Der Akademiegedanke im 17. und 18. Jahrhundert. BremenWolfenbüttel 1977 (Wolfenbütteler Forschungen Bd. 3).

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Polemik darf allerdings als Indiz für die geistigen Energien gelten, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch in den Kreisen der deutschen Intelligenz freigesetzt waren. Es läßt sich nachweisen, daß der junge Furichius bereits in Straßburg mit naturphilosophischen Strömungen in Berührung gekommen ist. II. Leben, Werk und Beziehungen zu Moscherosch Johannes Nicolaus Furichius wurde im Jahre 1602 als Sohn des Schreibzeugmachers (»opifex atramentariorum«), Johannes Nicolaus Furichius und seiner Ehefrau Elisabeth, geb. Huasch, in Straßburg geboren. Die Eltern waren Franzosen, also möglicherweise Glaubensflüchtlinge. Zu Hause sprach man französisch. Nach dem Besuch der Akademie erlangte Furichius, während Moscherosch zum ersten Mal öffentlich deklamierte, an 28. November 1622 die Würde eines Magisters und »kaiserlich gekrönten Dichters«.23 Er gehörte zu den ersten Studenten, die in Straßburg nach dem Poetentitel griffen.24 In seinen Libelli Carminum Tres von 162225 legte der junge Dichter seine ersten Arbeiten vor. Sie beweisen in thematischer und formaler Vielfalt eine größere Bandbreite als Moscheroschs Epigramme. Selbstverständlich beherrscht Furichius die Genera der Kasuallyrik, also Reisegedichte, Geburtstags- und Hochzeitsgedichte. Dazu treten das Lob der »artes« und der antiken Autoren, Programmatisches und Apologetisches zu Amt und Aufgaben des Dichters26 sowie die hier nicht nur auf »Kürze« bedachte Epigrammpoesie: Invektiven, besonders gegen die Jesuiten, aber auch Fabeln und Schwänke. Politik und Zeitgeschichte spielen ebenfalls eine Rolle, etwa in einer längeren Klage über die »Actiones sceleratorum Militum quorundam«.27 Auffällig und Indiz persönlichen Interesses sind hier schon die poetischen Verarbeitungen naturphilosophischer Themen. Unter anderem lesen wir ein Gedicht De Universo

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Die persönlichen Daten und Angaben nach dem erhaltenen Programma funebre, das der Theologieprofessor Johannes Schmidt verfaßte (Straßburg, Thomasarchiv). Das Geburtsjahr ist nur zu erschließen aus der Formulierung »trigesimum annum demum compleverat«. Zur akademischen Graduierung vgl. A. Schmidt: Zur Geschichte der Straßburger Schulkomödie. In: Euphorion 5 (1898), S. 48-58, S. 181f.; Carl Gustav Knod: Die alten Matrikeln der Universität Straßburg 1621-1793. Urkunden und Akten der Stadt Straßburg III. 3 Bde. Straßburg 1897-1902, Bd. I, S. 519 und 586. Vgl. die Aufstellungen bei Knod (wie Anm. 23), Bd. I, S. 586ff.; der Befund müßte gedeutet werden im Zusammenhang der rechts- und sozialgeschichtlichen Aspekte der Dichterkrönung, die neuerdings Theodor Verweyen ins Licht gerückt hat. In: Literatur und Gesellschaft, Heidelberg 1979 (GRM-Beiheft 1), S. 7ff. Johannes Nicolaus Furichius: Libelli Carminum Tres, Quarum Primum Epigrammata; Altera Anagrammata; Tertius Carmina ad Vitam Pertinentia continent Argentorati Typis Johannis Andreae Anno M.DC. XXII (Exemplar: Stadtarchiv Weißenburg, Sign. 784/3). So etwa fol. Β 3 (ff.) die Titel Ad Poetam quendam nil nisi res in carmine postulantem (zum Problem der »novitas« in der Dichtung); fol. C 4: Ad Poetam materia scribendi exhaustum. Fol. A 5. Generell dominiert eine scharf antikatholische Tendenz.

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sowie eine poetische Comparatio Mundi cum Hornine.n Wenn sich Furichius auch hier noch auf Aristoteles beruft und die Analogie zwischen Makro- und Mikrokosmos erst vergleichsweise gezogen wird, ergibt sich doch schon eine Affinität zum Korrespondenz- und Konkordanz-Denken im Weltbild des Paracelsus. Aus den ersten panegyrischen Versen »In exercitationes Scaligeri« ist ersichtlich, daß Furichius auch mit der außerdeutschen Naturphilosophie Bekanntschaft gemacht hatte.29 Eine zweite Gedichtsammlung erschien 1624 und ist den Studienkameraden der Artistenfakultät, darunter Moscherosch gewidmet. 30 Unter den Geleitgedichten (S. 9, Nr. IX) finden sich zwei bisher unbekannte frühe lateinische Glückwunschepigramme Moscheroschs. Umgekehrt hat Furichius Moscheroschs Werdegang poetisch begleitet: so bereits in zwei kurzen Anagrammen auf Moscheroschs Baccalauréat in der Gedichtsammlung von 1622 (s. Anm. 25 ; hier in Buch II, unpag., fol. D 4), später in zwei Carmina zu Moscheroschs Magisterwürde31 sowie in drei Gedichten der Ausgabe von 1624: Ad Michaelem Moscherosch de Logicis disputantem (S. 92, Nr. CVI); Ad Michaelem Moscherosch de Caesaris Exequijs disputatomi (S. 96f., Nr. CXIII); Ad loh. Michaelem

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Fol. Β 3; vgl. auch fol. F ein Gedicht De Somniis Naturalibus, in dem die Träume rein affekttheoretisch erklärt und abergläubische Vorstellungen abgelehnt werden. Fol. C 5. Die Schlußverse: [...] Hic ita Naturae visit peritißima claustra Illius ut merito mysta vel augur eat. Sic is abstrusis verum quaesiverat: Ut veri vertex fertilitasque cluat.

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Das so gepriesene Werk sind Julius Cäsar Scaligers: Exotericarum exercitationum libri XIV. De subtilitate ad Hieronymum Cardanum. Frankfurt 1607 (und andere Ausgaben). Sie werden auch in den Anmerkungen der Chryseis, 1631, zitiert. Poemata Miscellanea. Lyrica, Epigrammata, Satyrae, Eclogae, Alia. Argentorati. Typis exscribebat Hollandus Findlerus Anno M.DC. XXIV. (UB Freiburg, Sign. 9381f.) Neben Moscherosch die weiteren Adressaten der Widmung: der Mediziner Lazarus von Heyden, Johann Werner Bygel (dazu s.u.) sowie die Straßburger Johann Peter Kirchhoffer, Johann Strohecker und Johann Nicolaus Gambs. Vgl. die bisher nicht herangezogenen Einzeldrucke zu Moscheroschs akademischen Prüfungen: Laurea Philosophiae Prima Quam [...] Favente [...] Dn. Adamo Zorn à Plopsheim, Praetore, Scholarcha, et Academiae Cancellarlo [...] sub Rectoratu [...] Dn. M. Tobiae Specceri [...] Contribuit [...] Dn. M. Laurentius Thomas Walliserus [...] Decanus In inclytaArgentinensium Academia, die 24. Maij, Anno 1621. Johanni Michaele Moscherosch, Wilstadiensi-Hanoico [...] Argentorati. Typis Iohannis Caroli. M. DC. XXI. (vorhanden Stadtarchiv Ulm, Sign. G 2, s.v. Moscherosch): hier unter 27 (!) Gratulanten die Gedichte des Furichius (die beiden erwähnten Anagramme sowie ein drittes, längeres Glückwunschcarmen) als Nr. XX. Femer: Laurea Philosophiae Secunda quam [...] favente [...] Dn. Bernhardo à Kageneck/ etc. Praetore, Scholarcha, & Universitatis Cancellarlo [...] Sub Rectoratu [...] Dn. Thomae Wegelini [...] Contribuit [...] Dn. M. Mattias Bemeggerus, Historiarum Professor publicus [...] die 8. Aprilis Johanni Michaeli Moscherosch. Wilstadiensi Hanoico. [...] Typis Johannis Andreae, 1624. Hier unter 52 (!) Gratulanten die zwei Gedichte des Furichius als Nr. XXVI. (Standort wie oben).

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Moscherosch (S. 99, Nr. CXXII). 32 Zu Epigrammen Moscheroschs lieferte der Freund Komplimentiergedichte; auch in den Gesichten finden wir seinen Namen, obwohl diese doch erst sieben Jahre nach seinem Tod erschienen.33 Im Gegensatz zu Moscherosch widmete sich Furichius dem Studium der Medizin. Mit der Würde des »Poeta laureatus« war auch der Magistergrad verbunden.34 Deshalb konnte Furichius wohl im Frühjahr 1623 in die höhere Fakultät überwechseln. Hier studierte er bis 1625, bis zum Beginn seiner über die Schweiz nach Italien führenden Studienreise. Aus dieser Zeit stammen mehrere handschriftlich überlieferte Briefe, aufbewahrt in der Universitätsbibliothek Straßburg (Ms. 3, Latin 2). Sie gehören zu einem Konvolut mit Schreiben an den Schaffhauser Prediger Melchior Hurter (1584—1655).35 Dieser kümmerte sich vor allem um zwei junge Schweizer Studenten, als deren Präzeptor sich Furichius verdingt hatte: Johann Wernher Bygel und Bartholomäus Peyer.36 Grüße läßt Furichius auch bestellen an die Schaffhauser Familie Oschwald, die er als einen alten Gönner bezeichnet. 37 Es geht in diesen Briefen nicht nur um Studienfortschritte und Lebensgang seiner Zöglinge, sondern hin

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Die Verse auf Moscheroschs Magisterdissertation (»de Caesaris Exequijs disputaturum«) auch im Einzeldruck der Dissertation: In: C. Suetoni Tranquilli XII. Caesares Diatribe XV. Quam [...] Examini publico submittet [...] Johannes Michael Moscherosch [...] Argentorati Anno M. DC. XXIII). (recte M.DC.XXIII). Auf viele wertvolle Fingerzeige, die Einzeldrucke wie auch generell die Gedichtbände des Furichius für eine Prosopographie der Straßburger Gelehrtenwelt im Umkreis Moscheroschs geben, kann ich hier nicht weiter eingehen. Vgl. dazu (mit Hinweisen auf hier nicht aufgeführte bisher unregistrierte Moscherosch-Texte) die Beiträge in dem angekündigten Buch von W. Kühlmann/W. Schäfer (s. Anm. 1).

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Vgl. Centuria Prima (-Sexta) Epigrammatum. Frankfurt 1665, S. 8/9, so auch in der Edition 1643 und 1630; vor dem zweiten Teil der Gesichte (ed. 1643 - s. Nachdruck, wie Anm. 5, Bl. 2v) ist der Name abgekürzt (»J.N.F.P.L.C.«), in der Städelschen Ausgabe von 1665 ist diese Abkürzung aufgelöst. Furichius hat dies Widmungsgedicht in Genf verfaßt (»Amico intimo posuit Genevae«), also 1625/26 (vgl. im folgenden die Daten!). Das bedeutet, daß Moscherosch sich mit dem Plan der Gesichte schon sehr früh beschäftigt hat. Ein »Poema Funebre« (1633) auf den Tod Gustav Adolphs, dem schwedischen Residenten in Straßburg, Josias Glaser, gewidmet, findet sich in der Lb Darmstadt (Sign. N. 2799/15). Vgl. Anm. 23. Hurter führte 1642 den Heidelberger Katechismus in Schaffhausen ein. Vgl. HistorischBiographisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Neuenburg 1927, S. 325; zur Familie ferner Leu: Allgemeines Helvetisches [...] Lexikon, Bd. X, 1756, S. 388f. Von Furichius stammen auch die Briefe Nr. 127, 140, 144, 146, 152, 154, 159, 163, 174, 175, 180, 321 und 329 aus den Jahren 1624 bis 1632; von Bygel: Nr. 117, 122, 125, 126 aus den Jahren 1622 bis 1624. Zur Familie Peyer s. Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz, Bd. V, Neuenburg 1929, S. 410ff.; spez. 412 (ein Bartholomäus Peyer, Dr. jur. genannt: Sohn eines Zunftmeisters und Mitglied des kleinen Rates); Leu: Allgemeines Helvetisches [...] Lexikon, Bd. XIV, 1758,457ff. Zur Familie Oschwald s. Leu: Allgemeines Helvetisches [...] Lexikon, Bd. XIV, 1758, 325. Mehrere Gedichte auf Mitglieder der Familien Peyer und Oschwald in Furichius' Gedichtsammlungen von 1622 und 1624. Daraus geht unter anderem hervor, daß er einen Johann Jacob Oschwald noch vor 1622 zu betreuen hatte (»quondam Discipulus percharus«). Dieser wurde neben einem Heinrich Beyer auch von Bernegger empfohlen; s. auch Reifferscheid: Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers und ihrer Freunde, Heilbronn 1889 (Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland während des 17. Jahrhunderts, Bd. 1), S. 856 zu 315, 35ff.

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und wieder auch um aufschlußreiche Stellungnahmen in eigener Sache. Unter dem Datum vom 19.3.1624 (Nr. 127) finden wir ein eindeutiges Bekenntnis zu Paracelsus, verbunden mit einer vorsichtigen Distanzierung von konfessionellen Streitigkeiten (in Übersetzung): Du wirst auch das eine oder andere Theologische lesen, aber nichts der Art, daß es mir irgendwelchen Wirbel erregen könnte. Ich bin vorsichtig [...]. Ich liebe die Freiheit, suche die Ruhe und kehre mich - zu Recht - ab von den Zänkereien und Streitigkeiten. Mehr zu wissen ist besser als zu sprechen, das ist Weisheit. Das Epigramm, das ich über die Wirkkraft des Glaubens geschrieben habe, könnte aus den Schriften des Theophrastus Paracelsus erbettelt sein. Denn dieser neue Sprößling enthält viel Bewundernswertes über den Glauben. Aber bevor ich, in süßer Muße eingeschläfert, überhaupt die Schriften dieses Mannes zu wälzen mich entschlossen hatte, habe ich dies Gedicht geschrieben, nicht so sehr meiner Rede wie meiner Vernunft mächtig. Denn es stützt sich nicht auf dessen Dogma. Denn dieser Autor trägt vieles vor, auf Grund dessen ein Ketzer, stieße er darauf, einen Aufruhr erregen könnte, wie es von Weigel feststeht, der, während er sich in diesen Autor vertiefte, durch weiß nicht welchen Wirbel entrissen, derart Ungeheuerliches hinzudichtete, daß menschlicher Sinn davor nur ganz fassungslos stehen kann. Dieser ist auch schon von den Theologen unserer Akademie mit öffentlicher Zensur belegt worden. Möchte er doch nur nicht in die gedankenlosen Ohren Ungebildeter dringen! 38

Hurter hatte Furichius also offensichtlich auf Grund eines Gedichtes angemahnt. Der Briefschreiber distanziert sich vor allem von den potentiell häretischen Gedanken des Paracelsus, die an Weigel gemahnten. Es handelt sich wohl weitgehend um Schutzbehauptungen, galt es doch die Bedenken eines calvinistisch orthodoxen Theologen auszuräumen, der nicht zuletzt einen schlechten Einfluß auf die von Furichius zu betreuenden Studenten befürchten mußte. Der Brief vom 11. April 1625 ist in Genf geschrieben. Auch hier verrät Furichius seine Paracelsuslektüre.39 Ob Moscherosch am Ende seines Genfer Aufenthalts (September 1624 bis April 1625) noch mit seinem Freund zusammengekommen ist, ist wahrscheinlich, muß jedoch im Ungewissen bleiben. Beider Wege trennten sich. Der angehende Jurist, der »politisch« Interessierte zog nach Frankreich, der Mediziner nach Italien. Es gebe keinen Grund, weiter in Genf zu bleiben, schreibt Furichius am 25. Februar 1626 (Nr. 174). Er könne hier nur bereits Gelerntes weitertreiben. Mit Hilfe Gottes sei er in der Medizin

»Leges etiam unum atque alterum Theologicum, verum non eiusmodi, quale mihi ullam turbam concitare posset. Cautus sum [...] Libertatem amo: tranquillitatem quaero: rixas & litigia aversor, atque iure. Plus scire satius est quam loqui, ea sapientia est. Epigramma quod de fidei efficacia conscripsi, videri possit e scriptis Theophrasti Paracelsi emendicatum. Habet enim multa & miranda de fide nova ista soboles. Verum prius quam unquam eius viri scripta volutare animum induxissem, suavi otio sopitus, carmen id non tarn oratione, quam ratione valens conscripsi. Neque eius nititur dogmate. Talia enim proponit Author ut siquis Schismaticus in eundem indicat, abunde reperiat, quo moveat seditionem, quemadmodum de Wigelio constat qui dum in eo authore versabatur, nescio quo abreptus turbine [eine Anspielung auf Andreaes »Turbo«?] tarn prodigiosa affinxit, ut inde sensus humanus prorsus [Lesung fraglich] obstupeat. Iste jam a nostrae Academiae Theologis publica censura exponi cepit. Utinam non in rudiorum aures exmentes emanascat.« »Admirado, quae ut Paracelsus ait, semper inertiae signum est, hanc ad orationem me adegit. Admirantur enim omnes Morum virorum constantiam propterea, quia inpares sumus.«

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soweit gekommen, daß ihm nur noch die Praxis fehle. Freilich stellten sich der Weiterreise Schwierigkeiten in den Weg; Furichius muß allein reisen und gerät in die Kämpfe um das Veltlin. In Brescia - am 8. Mai 1626 - lebt er »unter dem Klang der Waffen« und verdient sich ein Zubrot als Hauslehrer eines Offizierssohnes (vgl. Brief Nr. 180). Auf diese Zeit beziehen sich die Gedichte im Vorspann von Moscheroschs Epigrammsammlung; Furichius arbeitete, wie daraus hervorgeht, an epischer Dichtung, also wahrscheinlich an seinen Lehrgedichten.40 Es bestehen Aussichten, mit dem Heer nach Verona zu gehen. Von dort sei es nicht weit bis Padua: »Dort ist das neue Athen. Dort werde ich, wie ich hoffe, meine Medizin bis zum letzten Ende weiterführen.«41 Am 15. Oktober 1626 immatrikulierte sich Furichius in Padua als Student der Medizin.42 Was ihn hierher gezogen hatte, war sein Drängen zur »Praxis«. In Padua war man in dieser Beziehung weiter als an den meisten europäischen Universitäten, weiter auch als die Straßburger Hochschulmedizin. Zwar wurde hier um 1620 endlich ein botanischer Garten angelegt, fanden auch wenigstens vereinzelt Sektionen statt, doch hatte diese vorsichtige Hinwendung zur »Empirie« die galenisch-hippokratische Textexegese nicht wesentlich erschüttert. In Padua dagegen lebte die Schule des großen Anatomen Andreas Vesalius (1514-1564), gerade erst war Adriaan van Spieghel gestorben (1578-1625), der die anatomische Terminologie entscheidend verbessert hatte 43 Was die Tradition des Paduaner Aristotelismus für den Studenten bedeutete, läßt sich nicht beurteilen. Jedenfalls stand er auch in seinen hermetischen Neigungen subjektiv nicht in ausgesprochenem Gegensatz zu Aristoteles, versuchte vielmehr wie zahlreiche andere Zeitgenossen, die Vorstöße der unorthodoxen Naturphilosophie neuplatonischer Herkunft mit der Geltung des »divinus philosophus« zum Ausgleich zu bringen.44 Mit seinem Aufenthalt an der unter dem Schutz Venedigs stehenden Universität trat Furichius in die Fußstapfen vieler deutscher Humanisten seit den Tagen eines Steinhöwel, Luder, Locher, Hartmann Schedel und Willibald Pirckheimer: Unter den poetischen Itinera-

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Moscherosch, Epigramme 1665, S. 9: Cum me Brixia militem fovebat, Ad Musas monitis tuis redivi. Tu, cum Celtica rura permearas, Ut vitam excoleres probe futuram [...]

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»Hi novae Athenae. Ubi, ut spero, Medicinam ad extremum perducam umbilicum.« Vgl. Carl Gustav Knod: Oberrheinische Studenten im 16. und 17. Jahrhundert auf der Universität Padua. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 54 = N. F. XV (1900), S. 197-258 und 432-453, hier S. 441, Nr. 141. Zur Schule von Padua vgl. Alistair Cameron Crombie: Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaften. München 1977 (DTV-Tb, WR 4285), S. 167f., 261ff„ 453ff., 522; zur Entwicklung der Anatomie s. Marie Boas, Die Renaissance der Naturwissenschaften. 1450-1630. Das Zeitalter des Kopernikus. Gütersloh 1965, S. 142ff.; weitere Literatur unter anderem zur Würdigung des Paduaner Aristotelismus bei Fritz Krafft, wie Anm. 6, S. 13 Iff. Dies ergibt sich aus den Scholien zu Furichius' Chryseis (1631), S. 57ff.

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rien des 16. Jahrhunderts findet sich mehrfach das »iter Patavinum«45; Petrus Lotichius schrieb ein bekanntes Gedicht De Patavij celebritate & studiis suis46, und auch das humanistische Städtelob trug mit dazu bei, den Nimbus von Stadt und Universität literarisch zu befestigen. [...] Herbarum omne genus Medicarum excultior hortus Educat, in rigui margine Medoaci. Huic Guilandrinus cultor, qui nomina florum Mille, potestates vertice mille tenet. Nobile gymnasium per se cluet: idque frequenti (Quis neget?) evadit Teutone nobilius. 47 (Ein exquisiter Garten zieht alle Arten medizinischer Pflanzen, am Rande des wasserreichen Medoacus. Ihn pflegt Guilandrinus, der tausend Namen von Pflanzen, tausend ihrer Kräfte im Kopf hat. Die edele Hochschule ist an sich schon berühmt: und sie [wer könnte es leugnen?] wird noch edler durch die zahlreichen Deutschen.)

Zu diesen »zahlreichen Deutschen« in Padua zählten auch, um Zeitgenossen zu erwähnen, Joachim Jungius und Johann Valentin Andreä.48 Mit seiner Immatrikulation war Furichius automatisch Mitglied der »deutschen Nation«, also einer der korporativen Studentenvereinigungen, die mit den Lehrern zusammen das Ganze der Universität bildeten. Den »Häuptern« der juristischen und medizinischen Fachschaft dieser deutschen Nation widmete Furichius das erste seiner alchemistisehen Lehrgedichte. Es erschien 1627 und war bisher verschollen. Die wahrscheinlich geringe Auflage mag dazu beigetragen haben, daß es fast allen alchemistischen Fachlexika des 17. und 18. Jahrhunderts entgangen ist.49 Den medizinischen Doktorgrad hat Furichius nicht in Italien erworben. Nach dem Eintrag in die Straßburger Matrikel muß er spätestens um die Jahreswende 1627/28 nach Straßburg zurückgekehrt sein. Die erhaltene Dissertation nennt als Promotionsdatum den 1. März 1628.50 Der feierliche Promotionsakt fand im Juni 45

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Vgl. Nicolaus Reusner (Hg.): Itinerarium totius Orbis sive opus peregrinantium variarum [...] Secunda Editio. Basel 1592, hier Buch III, Nr. 7, S. 224ff. »Georgij Fabricij iter Patavinum«, sowie Buch IV, Nr. 2, S. 275ff.: »Joanni Aurbachij Boij iter Patavinum«; zu Padua auch Reusner, Nicolaus: De Italia, Regione Europae Nobilissima Libri Duo. Straßburg 1595, S. 108-117. P. Lotichius Secundus, Opera omnia, Leipzig 1586, S. 78ff. Paul Schede Melissus: Epigrammata in urbes Italiae. O . O . 1585, angebunden an Reusner: De Italia (wie Anm. 45), fol χ 5. Jungius in Italien und Padua: Guhrauer (wie Anm. 22), S. 48-50; zu Andreae vgl. van Dülmen (wie Anm. 2), S. 38; um 1590-1609 waren in Padua 3145 deutsche Studenten eingeschrieben. Eine kurze Notiz bei Petrus Borellius: Bibliotheca chimica 2 1656 (Repr. 1969), S. 95; keine Hinweise in den spärlichen Angaben zu Furichius bei Jöcher/Adelung, Bd. II; 1787, S. 1299 sowie in den Bemerkungen von Rudolf Reuss (Samuel Gloner. Ein Straßburger Lehrerbild. In: Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestehens des protestantischen Gymnasiums zu Straßburg 1888, S. 143-226, S. 189f.), der, soweit ich sehe, als einziger der neueren Forschung Furichius' Werke zur Kenntnis nimmt. Eintragung in die Straßburger Matrikel der Candidaten der Medizin am 20. Januar 1628 (s. Knod, wie Anm. 23, Bd. II, 1892, S. 126); die Dissertation trägt den Titel Disceptatio de Phrenitide. Der Einzeldruck, Straßburg 1628, hat sich erhalten (UB Straßburg, Sign. M 128.456).

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statt.51 Der junge Arzt heiratete die Tochter eines Goldschmieds und eröffnete eine medizinische Praxis. In seinen »Nebenstunden« widmete er sich - was sich schnell in der Gelehrtenwelt verbreitete - »mit Hingabe neuen poetischen Werken«.52 1631 erschien das zweite große Lehrgedicht: Chryseidos Libri IUI, sein ehrgeizigstes Projekt und Summe der eigenen alchemistisch-hermetischen Philosophie. Bald daraufhielt - nicht zum ersten Mal - die Pest Einzug in Straßburg. Sie raffte in der nur knapp 40000 Einwohner zählenden Stadt in einer Woche mehr als dreihundert Menschen dahin. Das Gymnasium mußte geschlossen werden. Selbst an Ärzten begann die Stadt Mangel zu leiden. Furichius entging der Ansteckungsgefahr nicht und starb am 14. Oktober 1633. Georg Michael Lingelsheim schrieb am 28. Oktober an Bernegger: »Der Tod des Furichius hat mir das Herz gerührt. Ich habe den Mann geliebt.« 53 Moscherosch dürfte ähnlich empfunden haben, auch nach den Studienjahren muß die alte Freundschaft intakt geblieben sein. Denn es war einzig Moscherosch, der die Chryseis mit zwei Glückwunschgedichten begleitete. Sie sind bisher unbekannt:54 ADAUTHOREM Philosophus, Vates, Medicus, Chymicusque tacendi Materiem suadent quatuor ista mihi. Quatuor ex istis in Te (non fallor, Amice) Quod magis excellât dicere, poena fuit. Poena fuit. Quid enim juvat ista silere? Tacendo Qui peccat, duplo crimine peccat, Amor. Ingenii tinotura tui, color aureus iste Producet Famae Chrysotoreuma (i. O. griechisch, W. K.) tuae: Ex debito f.[ecit] Johannes Michael Moscherosch (Philosoph, Dichter, Mediziner und Chemiker, diese vier empfehlen mir einen Stoff zum Schweigen. Strafe war es zu sagen, was von diesen vier bei Dir (Freund, es entgeht mir nicht) mehr hervorragt. Strafe war es. Denn was hilft es, diese zu verschweigen? Eine Liebe, die mit Schweigen sündigt, sündigt in doppelter Schuld. Die Tinktur Deines Geistes, diese goldene Farbe wird die goldenen Standbilder Deines Ruhms hervorbringen.) AD LIBRUM Culte Liber. Linguae non est vereare furorem: Sat tibi scutorum. Candor, Doctrina, Patronus, In te vel Momo meruerunt, judice Palmam. I modo: perge foras, aevum mansure. Necandi MORSIUS in te jus, sed MORS jus non habet in te. (Kunstvolles Buch. Du brauchst die Wut der Zunge nicht zu fürchten: Du hast genug Schilde. Reine Gesinnung, Gelehrsamkeit, der Gönner, haben selbst nach Meinung eines Momus für Dich die Siegespalme verdient. Geh nur: dringe nach draussen, ein Zeitalter überdauernd. Zu töten hat Morsius gegen Dich Recht, aber der Tod hat kein Recht über Dich.)

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So das »Programma funebre«: vgl. hier Anm. 23. Diese Formulierung in einem nach dem Tode von Furichius geschriebenen Brief von J. Styrtzel an S. Gloner: Thomasarchiv Ms. 164, Nr. 109 vom 8.12.1633. Reifferscheid (wie Anm. 37) S. 523, Nr. 46, Ζ 6 - 8 : »Furichi decessus cor mihi tetigit, amavi virum et iam locum aulici medici apud Bipontinum conciliarat gener meus Spina, sed illi iam prospectum.« Zur Seuche in Straßburg s. Berneker (wie Anm. 4), S. 304f. Furichius, Chryseis, 1631, letztes Blatt (S. 88v.).

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III. Naturphilosophische Spekulation und poetische Phantasie: Die Lehrgedichte des Furichius Werke wie die des Furichius zu würdigen führt unweigerlich in die Intermundien zwischen den Disziplinen. Es handelt sich um Dokumente, deren intensive Analyse nur in der Zusammenarbeit von Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Literaturwissenschaft und Kunsthistorie zu leisten ist. Es kann hier nur darum gehen, eine erste Bekanntschaft zu vermitteln und die literarisch-geistige Position des Furichius wenigstens in Umrissen zu bestimmen. Das ist bereits schwierig genug. Denn die allegorische Bilderwelt und Mythenexegese, 55 die begriffliche Hieroglyphik und der synkretistische Symbolismus der Alchemie verbinden sich bei Furichius mit dem hochgespannten Ehrgeiz, den poetischen Standard und die kunstvolle Eleganz der antiken bzw. neulateinischen Lehrdichtung zu erreichen. Poetische Referate alchemistischer Lehren und hermetischer Weisheit hat es seit der Antike gegeben. Mit dem Aufblühen der neuplatonisch hermetischen Tradition in der Renaissance wuchs die Zahl derartiger Gedichte, auch in Deutschland.552 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts entwickelt sich eine spezielle Form alchemistischer Emblematik. Beispiele dafür sind di e Atalanta fugiens des berühmten Michael Maier (1568-1622), des Leibarztes Rudolfs II., sowie das Chymische Lustgärtlein des Daniel Stoltzius von Stoltzenberg (deutsch 1624).56 55

Geschichten und Mythen im »sensus chymicus« zu interpretieren (der Ausdruck etwa noch bei Thomasius, Ausübung der Vernunftlehre, Halle 1861 = Nachdruck 1961, S. 222f.) wird auch im Theatrum Chemicum ausdrücklich bestätigt; vgl. Bd. I der Ausgabe Straßburg 1659, Cap. I, S. 20f. Hier die Berufung auf G. Pico della Mirándolas De dignitate hominis: Veteres consueverunt res divinas altas & sublimes, sub velo multorum aenigmatum, & fabularum poeticarum scribere«. »Verhüllungen« in diesem Sinne waren die Geschichte von Cadmus und den Drachen, das Opfer Hecates bei Orpheus, die Kunde von Medea, die Aeson das Leben wiedergibt, Juppiter und Daphne, Juppiter und Ganymed, auch Daedalus und Icarus sowie Isis und Osiris. Dazu Joachim Teile: Mythologie und Alchemie. Zum Fortleben der antiken Götter in der frühneuzeitlichen Aichemieliteratur. In: Humanismus und Naturwissenschaften. Hg. von Rudolf Schmitz und Fritz Krafft. Boppard 1980 (Beiträge zur Humanismusforschung, 6), S. 135-154.

55s

Zur alchemistischen Poesie vgl. die in Anm. 6 genannte Literatur: spez. Kopp, Theil II, S. 310ff.; Ploss u.a.: S. 169ff.; zu einem alchemistischen Rätselgedicht Philipp v. Zesens vgl. L. Lensing. In: Daphnis 6 (1977), S. 123ff.; einen Überblick über die Breite und Vielfalt der Alchemistendichtung bieten die Arbeiten von Joachim Teile: Ein altdeutsches Spruchgedicht nach der »Turba philosophorum«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 95 (1976), S. 416-443; Der Alchemist im Rosengarten. Ein Gedicht von Christoph von Hirschenberg [...]. In: Euphorion 71 (1977), S. 283-305; Bemerkungen zum »Viatorium spagyricum« von Herbrandt Jamsthaler und seinen Quellen. In: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel. Hg. von Herbert Anton u.a.. Heidelberg 1977, S. 427-442. Paracelsus im Gedicht. Materialien zur Wirkungsgeschichte Theophrasts von Hohenheim im 16. und 17. Jahrhundert. In: Fachprosa-Studien [...]. Hg. von Gundolf Keil. Berlin 1982, S. 552-573; ferner die Monographie Teiles: Sol und Luna. Literar- und alchemiegeschichtliche Studien zu einem altdeutschen Bildgedicht. Hürtgenwald 1980. Das Werk von Stoltzius liegt im Neudruck vor (Darmstadt 1964); zu Maier vgl. Helen M. E. de Jong: Randbemerkungen zu Michael Maiers Atalanta Fugiens, in: Sibylle Penkert (Hg.): Emblem und Emblematikrezeption. Darmstadt 1978, S. 160ff.

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Furichius' didaktische Epen schließen sich dagegen an eine Tradition an, die mit den 1515 in Venedig, 1518 in Basel veröffentlichten Chrysopoeiae Libri; III des Giovanni Aurelio Augurelli (1441-1524) begründet wurde. Man konnte sie in Band III des erwähnten Theatrum Chemicum finden57, als Autor einer deutschen Übersetzung, die erst im frühen 18. Jahrhundert erschien, galt Valentin Weigel. Im 16. Jahrhundert bildete dieses Werk Muster und Vorbild der französischen PoetenAlchemisten. Sie lasen es sowohl in einer Prosaübersetzung (1548) als auch in einer Versübertragung (1550, Neuauflage 1626).58 Man darf annehmen, daß Furichius in kulturpatriotischem Eifer einerseits mit diesen Werken wetteifern, andererseits die muttersprachlichen, zumeist »kunstlosen« Knittelvers-Gedichte übertreffen wollte. Von einer Nachahmung Augurellis kann, wie ein Vergleich ergab, im engeren Sinne keine Rede sein. Gattungstypologisch betrachtet, gehören beide Werke zur Formtradition der in der Antike von Vergil, Lukrez und Manilius ausgebildeten Lehrdichtung. Diese erfreute sich unter den Humanisten in ganz Europa einer besonderen Wertschätzung. Aristoteles' Verdikt gegen die Lehrpoesie schlug nicht durch, vielmehr schien hier die Synthese von »delectare« und »prodesse« geglückt. Die rhetorische Trennung von »res« und »verba«, das Verständnis von Dichtung als »gebundener Rede« begünstigten die Gattung. Gerade an ihr ließ sich der »Nutzen« der Poesie demonstrieren und die Einheit von Wissenschaft und Dichtung nachweisen.59 In der Gemeinsamkeit des didaktischen Anliegens und der dadurch vom Verdacht des Zwecklosen befreiten Eleganz konnte besonders ein gebildetes bürgerliches Publikum angesprochen werden: Hier liegen die Ursachen für die auffällige Attraktivität des Genres sowohl im 16. wie im 18. Jahrhundert.60 Der Kunstanspruch der Lehrepik stand in direktem Verhältnis zur Schwierigkeit des Themas. Es gibt insofern kaum einen Wissensbereich, der ausgespart worden wäre. In den von Janus Gruter herausgegebenen Sam57 58

59

60

Theatrum Chemicum, Bd. III der Ausgabe Straßburg 1659, S. 197-244. Vgl. Albert-Marie Schmidt: La Poesie Scientifique en France au Seizième Siècle, Paris o. J., Kap. VI, S. 317-359; zu Augurelli s. den Artikel von Joachim Telle. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. I. München-Zürich 1977, Sp. 1218 (mit Lit.). Daß Furichius mit der französischen Dichtung nicht unvertraut war, zeigt u. a. die Tatsache, daß er im Kommentar zur Chryseis« (1631), S. 58, auf eine Anlehnung an Ronsards Hymne de l'or (hymnus auri) verweist: vgl. Oeuvres Complètes, ed. Pierre de Nolhac, Paris o. J., S. 18ff. Zur Wertschätzung des Lehrgedichts in der humanistischen Tradition s. August Buck: Die humanistische Tradition in der Romania. Bad. Homburg v.d.H. usw. 1968, S. 176ff. Vgl. auch Georg Roellenbleck: Die lateinische und epische Lehrdichtung Italiens im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. München 1975 (Münchner Romanistische Arbeiten, Heft 43). Opitz, der selbst eine Reihe von Lehrdichtungen verfaßte, hat wie viele andere diese Gattung hervorgehoben: Buch von der Deutschen Poeterey, Kap. III, fol. Β III r. Zur Gattungstheorie und Gattungsgeschichte: Bernhard Fabian: Das Lehrgedicht als Problem der Poetik. In: Die nicht mehr schönen Künste. Hg. von Hans Rudolf Jauß. München 1968 (Poetik und Hermeneutik 3), S. 6 7 f f ; Leif L. Albertsen: Das Lehrgedicht. Eine Geschichte der antikisierenden Sachepik in der neueren deutschen Literatur. Aarhus 1967; dazu (kritisch) Hans-Wolf Jäger: Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 44 (1970), S. 544ff.

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melbänden der europäischen neulateinischen Dichtung (Frankfurt 1608ff.) konnte Furichius zahlreiche Vorbilder finden.61 Nicht zuletzt das Interesse an der kosmologischen Thematik führte zur weiten Verbreitung, Nachahmung und Übersetzung z.B. von Du Bartas' Premiere Sepmaine ou Creation du Monde (zuerst 1578), aber auch des bereits 1534 erschienenen Zodiacus Vitae von Marcellus Palingenius Stellatus.62 Von diesen Autoren war ein Niveau vorgegeben, dem sich der Verfasser von Lehrdichtung stellen mußte. Furichius bleibt, das darf man sagen, hinter solchen Vorbildern nicht zurück. In der Geschichte der deutschen Lehrepik, die freilich für das 16. Jahrhundert noch weitgehend im Dunkeln liegt, erschloß er ein bisher unbeackertes Gebiet und konnte nachweisen, daß sich der schwierige Sprachraum der hermetischen Spekulation in den ästhetischen Erwartungshorizont der humanistischen Gelehrtenwelt integrieren ließen. Das bedeutete sowohl eine Aufwertung für die Kunst wie für die dargestellte »Sache«. Das zuerst veröffentlichte Werk trägt den Titel AUREA CATENA SIVE HERMES POETICUS de Lapide Philosophorum (PATAVII. Typis Crivellarianis [...] M.DC.XXVII.) und enthält ohne jede weitere Untergliederung auf 56 Textseiten etwa 1700 Verse. Stilistisch dominieren Lukrezanklänge. Der Titel greift, in Anlehnung an eine Stelle bei Homer (Ilias VIII, 18ff.) ein bis ins 18. Jahrhundert verbreitetes kosmologisches Sinnbild auf.63 In ihm faßte man den neuplatonisch gedachten Zusammenhang der oberen und unteren Welt, die Einheit der von Gott und zu Gott fließenden Naturkräfte. Mit dem Stichwort »Hermes« erinnert Furichius einerseits an den mythischen Gründer der »hermetischen« Kunst, tritt andererseits in das alchemistischer Literatur geläufige Vexierspiel von Fachterminologie, mythischer Allegorese, metaphysischer Übertragung und astrologischer Zuordnung ein. Hermes verschmilzt mit Apoll-Merkur, beide symbolisieren die Sonne, das Gold und nicht zuletzt - gut paracelsisch - das Quecksilber in seinen verschiedenen Formen. Es bedürfte hier wie im folgenden alchemistischer Detailkenntnisse, die ich nicht besitze, um genau festzustellen, welchen theoretischen Linien und Akzenten Furichius im einzelnen folgt. 61

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63

Neben den hier vorliegenden Mustern müssen wir immer eine Schicht von Dichtungen voraussetzen, die uns weitgehend unbekannt ist, so ζ. Β. - in Anlehnung an Ovid - die voluminösen Fastorum Ecclesiae Christianae Libri Duodecim, Hanau 1584, des berühmten Theologen Nathan Chytraeus. Der Artikel »Neulateinische Dichtung« von Georg Ellinger/Brigitte Ristow (RL II, 1965, 620ff., bes. 642f.) kann hier nur Andeutungen liefern. Vgl. Luzius. Keller: Palingène - Ronsard - Du Bartas. Trois Etudes sur la Poésie Cosmologique de la Renaissance. Bern 1974. In Anlehnung an Palingenius gab der Deutsche Caspar von Barth 1623 einen »Zodiacus vitae christianae« heraus. Du Bartas fand in Johann Valentin Andreae und Tobias Hübner (1619 u.ö.) deutsche Übersetzer. Zum französischen Umkreis vgl. auch Dudley Wilson: French Renaissance Scientific Poetry. London 1974. Mein Exemplar: UB Padua, Sign. Ba 1074/3. Zum Titel vgl. W. Fauth: Catena aurea. Zu den Bedeutungsvarianten eines kosmischen Sinnbildes. In: Archiv für Kulturgeschichte 56 (1974), 270-295; Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being. Cambridge/Mass. 1936. Von Goethe wurde noch ein anonym erschienenes gleichnamiges Werk benutzt (Verfasser war wahrscheinlich der Österreicher A. J. Kirchweger); dazu Hermann Kopp: Aurea Catena Homeri. Braunschweig 1880.

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Behandelt werden jedenfalls Varianten derElementen-Lehre, die Bedeutung des Feuers in seiner gewöhnlichen und sublimierten Form und die metallurgischastronomischen Korrespondenzen. Antike Mythen dienen der Illustration: die Geschichte vom Goldenen Vlies, die Äpfel der Hesperiden, der goldene Zweig des Äneas. Bewegender für den heutigen Leser ist die innere Haltung, die aus dem Dichter einen Künder »orphischer« Offenbarungen macht. Furichius hält das hermetische Wissen für einen unverzichtbaren Bestandteil der ärztlichen Kunst. Er weiß, daß tiefsinnige Erleuchtung, daß subjektives Eindringen in uralte Menschheitserkenntnisse gefährlich ist. Das Proömium entwickelt sehr gut die Ambivalenz solchen Unterfangens (S. 1/2): Hanc qui non poscit, misera sub nocte iacebit: Haerebit medijs alter Palinurus arenis. Qua sine quum medicus, genuit quem Pergamus olim, Proposuit morbos aegris arcessere membris, Tradidit infirmam sterilemque nepotibus artem. Sed quoque virus habet penitis immane medullis, Quod qui dégustant, rabiem vertuntur in atram, Atque Deum truce dente petunt, nec sceptra verentur. Dispereant Grai, quorum deliria mentes Inficiunt hominum, nulla ut primordia Mundi Esse putent, animasque rapi letalibus umbris Permisit nobis summi dementia patris Liberius sentire animis: sed facta patrandi Impia, nulla dedit venerandus semina rector. Icarus in mediis quondam submergitur undis, Audet dum rapidis Solem contingere pinnis, At rediit salvus ceratis Daedalus alis, Dum prudens citimo decrevit in aere ferri. Nos vero ad cáelos audacibus ire carinis Non formidamus, summi nec Apollinis auram Adspirare pudet depressae lumine mentis. Heu quotus in tanta cupiens errare Charybdi Naufragium patitur? Quotiens mens, luce superba Dum voluit lustrare Deum, de vertice summi Deturbata poli, tenebras remeavit ad imas. Quare Mercurius sibi eredita muñera promens, Nos vocat ad melius, serisque nepotibus offert Sanctius exemplum: cibat is melioribus escis Esurientem animam, genialem nempe medelam Tenigenis proait, quam per tot sécula nostri Quaesivere patres. [...] (Wem nach dieser [hermetischen Weisheit] nicht verlangt, der wird liegen in elender Nacht: Er wird, ein zweiter Palinurus, 64 mitten im Sand steckenbleiben. Wenn der Arzt, den einst Pergamon zeugte, 65 vorschlug, ohne diese die Krankheit der elenden Glieder zu untersuchen, 64 65 66

Anspielung auf Vergil, Aeneis, V, V. 833ff. Gemeint ist Galen, der ca. 130 n. Chr. in Pergamon geboren wurde. Dies vor allem waren die häretischen Theoreme des nichtchristianisierten Aristotelismus, wie sie z.B. von Pomponazzi (1462-1525) vertreten wurden. Seine Schrift De immortalitate animae erschien 1516 in Padua. Im Hintergrund steht natürlich auch immer der Materialismus des Lukrez.

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so überlieferte er den Enkeln eine schwache und sterile Kunst. Aber sie hat auch tief im Mark ein ungeheures Gift. Wer davon kostet, wendet sich zur schwarzen Raserei, greift Gott an mit bleckendem Zahn und scheut kein Szepter. Vergehen sollen die Griechen, deren Phantastereien die Geister der Menschen so verwirren, daß sie glauben, es gebe keinen Anfang der Welt und daß die Seelen geraubt würden von tödlichen Schatten. 66 Die Gnade des höchsten Vaters erlaubte uns freier zu denken: aber ruchlose Taten zu tun gab uns keine Samen der verehrungswürdige Lenker. Icarus versinkt vor Zeiten inmitten der Wellen, während er wagt, die Sonne mit rasenden Schwingen zu berühren. Aber wohlbehalten kehrte Daedalus zurück mit gewachsten Flügeln, weil er sich klug entschloss, im nächsten Luftraum zu gleiten. Wir aber scheuen uns nicht, mit kühnem Kiel zu Himmel zu fahren und schämen uns nicht, mit dem Licht unseres gedrückten Geistes die Sphäre des höchsten Apoll anzustreben. O wie viele, die wünschten, in solcher Charybdis zu irren, erleiden Schiffbruch? Wie oft kehrte der Geist, weil er mit stolzem Licht Gott schauen wollte, vertrieben von der Spitze des höchsten Himmels, zurück in die tiefste Dunkelheit? - Deshalb ruft uns Merkur, wenn er die ihm anvertrauten Gaben hervorholt, zu Besserem und bietet den späteren Enkeln ein heiligeres Beispiel: mit besseren Happen speist er die dürstende Seele, verkündet er doch den Erdgeborenen erfreuliche Heilung, welche durch soviel Jahrhunderte unsere Väter suchten.)

Furichius hat einen Teil dieser Verse in den Eingang auch seiner Chryseis übernommen. Hier wie dort wollte er sich von der »Freigeisterei«, den Atheisten der Antike und ihren Nachfolgern absetzen. Die Icarus-Mythe - man denke an Breughels Gemälde! - warnte vor menschlicher Überhebung. Betont wird der heilkundliche Nutzen des »philosophischen Steins«. Er entsteht am Ende eines komplizierten Verfahrens, vom Adepten mit einer Inbrunst ersehnt, die sich auch in den Versen niederschlägt, welche das große Ereignis zu beschreiben versuchen (Aurea Catena, S. 54/55):67 Tunc roseus prodit sanguis, seu sanguine siquid Purpureum magis est, laniati pectoris humor, lile tuus lapis est, quem per tot millia rerum Quaesisti: quem per Septem signacula monstrant. Est igitur lapis haut aliud, quam purius aurum, Nullis pollutum maculis, speculique nitentis Fusum instar: cui non potenint elementa nocere. Non venti infestent, non proteret aetheris via: Fermentum cunctis: cunctis tutela creatis: Temperie in media positum, similique colorans, Omnia quae tangit, radio: coma denique Solis: Non in marcenti consistens corpore noctis; Tota sed aetherium spirans, divinaque tela. (Dann tritt rosenfarbenes Blut hervor oder, wenn es etwas purpurfarbener als Blut ist, die Feuchtigkeit einer zerfleischten Brust. Jener ist Dein Stein, den Du in soviel tausend Dingen gesucht hast: den man an sieben Zeichen beweist. Der Stein ist nichts anderes als reines Gold, von keinem Makel befleckt, hingegossen wie ein glänzender Spiegel. Ihm können die Elemente nicht schaden, die Winde können ihn nicht angreifen, nicht abnützen der Weg des Aethers. Für alles ein Gärungsmittel, ein Schutz für alles Geschaffene, der Mischung nach

67

Zur Charakterisierung des Steins vgl. u.a. Ploss (wie Anm. 6), S. 35ff.; der Begriff der »fermentado«, der auch hier anklingt, spielte auch bei Paracelsus eine Rolle. Der Dichter setzt im folgenden (S. 55f.) eine Goldene Zeit in Opposition zur gegenwärtigen Degeneration der Lebenskräfte, welche durch die »virtus« des aus dem »Mercurius« gewonnenen Arkanums restituiert würden.

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in der Mitte liegend, mit seinem Strahl alles, was er berührt, ähnlich färbend; schließlich ein Sonnenstrahl, nicht verharrend im trägen Körper der Nacht, sondern im ganzen etwas Lebend-Aetherisches und ein göttliches Gewebe.)

An virtuosen Stellen wie diesen, an denen sich die Begeisterung des Adepten in eine hymnische Aretalogie entlädt, wird klar, daß die mystische Erkenntnis, die Phantasie der alchemistischen Einbildungskraft zugleich poetische Imagination freisetzte, kreative Potenzen entfesselte. Mit ordinärer Goldmacherei hat das nichts mehr zu tun. Der »Lapis« ist das Produkt praktischer Erkenntnis des Welt-»gewebes«;68 in ihr gewinnt der Myste den ursprünglichen Stand des alchemischen Wissens zurück, Zugang zum verlorenen Paradies, zur Goldenen Zeit.69 Der Stein, das Elixier, ist ein Arkanum der Perfektion, mehr als sein materiales Substrat; er steht am Ende eines esoterischen Weges als utopische Chiffre in dunkler Zeit, die mit dem Hinweis auf die sündenfällige Verderbtheit 68

69

Vgl. Chryseis, Buch I, S. 7, V. 17-20: [...] »Ars Naturae vestigia legit, Atque retexendo stamen telamque vetusta Invenit majora illis, quae lumina plebis Tangunt, & tectum docuit sub cortice coelum«. Zur Gewebesymbolik s. T. Burckhardt: Alchemie. Olten-Freiburg 1960, S. 36ff, spez. S. 40. Die »heidnische« Sprache, die natürlich Ovids und Vergils Beschreibung der »aetas aurea« assoziiert, paßt zum Inhalt. Die Verse verdienen, festgehalten zu werden (Buch III, S. 31, V. 8-21): Aurea prima aetas erat, atque uberrima doctis Ingeniis: homines grandes excedere pinus Visi sunt quondam, non, ut nunc, pumiliones. Non fuso immiti Lachesis fatale sinistra Praecipitabat opus: sed vita fluebat ad instar Dulcisoni torrentis avis: latitabat Erynnis Nescia terrigenum: Furiae quoque lumina Mundi Nondum calcabant, morbis comitantibus, atrae. Ecquae caussa fuit? Dextram sapuere creantis Nempe Dei: testa innatum servabat odorem, Et nondum sceleris crepitabat pondere tellus. Iam vero postquam pravo deperdita luxu Omnia dégénérant, merito gravis incubât aetas: Et cana ante diem venit acelerata senectus, Atque ruinoso portendit corpore fatum. Sic aurum, quo prima magis natalia spirat, Hoc magis arridet, melioraque semina praebet, Spiritibusque incorruptis viget integra moles: Vis agit inconcussa intus: latet ardua virtus. Quam tu virtutem statuas in lumine claro, Ruptis corticibus, siquidem tingentia quaeris Semina, quae caeno quasi erant obtecta profundo. Am Beginn des Zitats wird die in der zeitgenössischen Diskursliteratur häufig behandelte Frage repliziert: »An fuerit olim Gigantes & num humana statura diminuatur« (etwa bei Besoldus, Schupp, Dornau u. a.). Sie hängt mit dem Gedankenkreis der »degeneratio« zusammen, der in Argumentationssystemen des Renaissancepessimismus eingelagert ist: dazu hier nur die Verweise auf Don Cameron Allen: The Degeneration of Man and Renaissance Pessimism. In: Studies in Philology XXXV (1938), S. 202-237; sowie Henry Kamen: Golden Age, Iron Age: A Conflict of concepts in the Renaissance. In: Journal of Medieval and Renaissance Studies 4 (1974), 135-155.

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des Menschen täglich Hoffnungen und Wünsche zunichte machte. Das Leuchten des Steins kündet von einem Licht, das Helle in der Trübe allgemeiner Verderbnis verhieß. Furichius hat viele Passagen der in Italien publizierten Aurea Catena in seine Chryseis übernommen ( C H R Y S E I D O S LIBRI IUI. Sive poema de Lapide Philosophorum. [...] ARGENTORATI, Typis EBERHARDI WELPERI. M.DC.XXX.). Behandelt wird hier ja das gleiche Thema in ausgefeilterer Form: Vier Bücher einer poetischen Einführung, in denen das didaktische Referat mit episch-fiktionalen Passagen verwoben ist. Inhaltsangaben der einzelnen Bücher schaffen größere Klarheit, dazu kommen nachgestellte Erläuterungen. Einen wertvollen Aufschluß über die Hintergründe des Gedichts liefert das »Vorwort«, ein Brief an den Hamburger »Patrizier« Joachim Morsius vom März 1631. Morsius (1593-1643) war Rosenkreuzer, reiste nach seinem Studium, von Geldnot und Schulden geplagt, durch ganz Europa, sammelte eine berühmte Bibliothek, näherte sich dem Kreis um Jungius, suchte Kontakt mit Jacob Böhme und selbstverständlich mit Andreae. 70 Von dort kam er 1630 nach Straßburg und traf neben Bernegger den Arzt Valerius Charstadt und Furichius.71 An diesen Besuch erinnert dieser in seinem Vorwort und zeigt sich ebenso verwundert wie beglückt (in Übersetzung): Niemals habe ich zu hoffen gewagt, daß es jemand geben würde, der auf die Lektüre eines solchen Werkes irgendeine Mühe verschwenden würde, von der Erwartung ganz zu schweigen, daß Du, dessen Ruhm mir bisher das Höchste versprochen hat, einen gewissen Geschmack an ihm finden würdest, zumal die Materie so beschaffen ist, daß sie der größte Teil sogar der Gebildeten für fabulös und als reine Spielerei ansieht. Ich aber bekenne, wenngleich ich mich immer gescheut habe, anderer Meinungen zu kritisieren, daß ich mich lieber dem Urteil derer anschließe, die nach reiflicher Prüfung der Sachlage fanden, daß etwas Wahres an ihr sei: von diesen könnte ich eine ganze Reihe aufzählen [... ] Libavius allein sollte genügen die Wahrheit der Kunst zu beweisen, für die er zahllose Zeugen anführt. Ergänze hierzu die Belege des Robertus Vallensis, der auch von Neueren zahllose überliefert. Der göttliche Scaliger nämlich, der Vater, konnte sich in einem Brief an Cardano kaum dazu entschließen, der Alchemie irgendeine Sicherheit zuzutrauen. Der Sohn aber muß zugeben, daß das Alter der Kunst noch hinter die römischen Zeiten zurückreicht, wenngleich er in seinem Manilius-Kommentar einigen sogenannten »Feuersklaven« und »Metallgießern« ein Brandmal aufgedrückt hat. 7 ' 2

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71

7la

Zu Morsius vgl. Moller, Cimbria Litterata (1744), Bd. II, S. 440-446; Heinrich Schneider: Joachim Morsius und sein Kreis. Zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts. Lübeck 1929; Peuckert (wie Anm. 7), bes. S. 229ff. und 288ff.; van Dülmen (wie Anm. 2), S. 154f. und passim. Vgl. Schneider, ebd., S. 35 und 47. Ein Valerius Charstadt taucht in Furichius' Gedichten auf (1624: vgl. Anm. 30, Nr. CXXIII). Er trägt sich in Morsius' »Album Academicum« am 29. November 1630 ein. Furichius' Namenszug hier erst am 17. September 1631, also wohl bei einer weiteren Begegnung (vgl. Schneider, S. 83 und 88). Fol. A2'f. Im Original: Non equidem unquam sperare audebam, fore quendam qui tali legendo operam aliquam impendere vellet, tantum abest, ut te, de quo fama hactenus summa quaeque mihi est pollicitus, ejusdem gustum aliquam capturum expectassem, praesertim quum rei materia ita sit constituta, ut maxima pars etiam eruditorum fabulosam existimet esse, mereque nugatoriam. Ego vero quamvis aliorum opiniones censere semper veritus sim, eorum

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Der endgültige Anstoß zur Überarbeitung des alten und zur Veröffentlichung des neuen Gedichts sei von Morsius ausgegangen. Sprachliche und formale Mängel werden mit der »Neuheit« des Gegenstandes entschuldigt (in Übersetzung): Wer aber könnte bei solcher Neuheit des Gegenstandes alles nach der exakten Norm ausrichten? Denn bisher hat sich unter den Größen der römischen Eleganz niemand gemüßigt gefühlt, diesen Stoff aufzugreifen. Die ganze Behandlung des Steins der Weisen wirst du emsthafter behandelt finden nur in den Grenzen der barbarischen Epoche. Deine Griechlein aber halte ich - verzeih bitte - für ganz jung und auch halb-barbarisch, was ich selbst nach der Lektüre von zweien beweisen kann, die ich selbst zu Hause verwahre. Vielleicht könnte aber einer Deinesgleichen den Versuch unternehmen, die durch die lange Zeit zugezogenen Makel mit der Lauge eines scharfen, kritischen Verstandes abzuwaschen. 7 2

Nicht nur dieser Brief, auch ein in Wolfenbüttel aufbewahrtes handschriftliches Furichius-Gedicht vom Februar 163073 gibt einen Eindruck von der fieberhaften Suche nach möglichst alten Handschriften und Zeugnissen, durch die man glaubte, näher an die unverfälschte Kunst heranzukommen. In seiner Inhaltsangabe und in den Scholien bezieht sich Furichius zustimmend auf Paracelsus, er kennt aber auch die großen Autoren der Platonischen Tradition bis hin u. a. zu Ficinos De vita coelitus comparando', alchemistische tarnen m e malle judicio stare fateor, qui rem pensiculatius excutientes, aliquam eidem inesse veritatem invenerunt: quorum sane longam enumerarem Seriem [...] Unus Libavius sufficiat demonstrando artis veritatem, cujus innúmeros producit testes. Huic adde testimonia Roberti Vallensis, quae tradit recentiorum infinita. Divinus Scaliger quidem pater, ad Cardanum scribens, vix inducere potuit animum, ut Alchimiae aliquam crederet certitudinem. Filius tarnen in Manilium commentans, quamvis Ciniflonibus, ut vocat, & flaturarijs stigma aliquod inusisse videatur: non tarnen negare potest, quin artis antiquitas etiam supra R o m a n o r u m tempora repetanda sit [...]

72

73

Z u d e m erwähnten Libavius ( 1 5 5 0 - 1 6 1 6 , seit 1588 Professor f ü r Poesie und Geschichte in Jena, später Rektor des G y m n a s i u m s in Coburg) vgl. Thorndike (wie Anm. 6), Bd. VI, S. 2 3 8 f f ; den Traktat De Veritate & antiquitate artis Chemicae [...] konnte Furichius im ersten Band des Theatrum Chemicum, S. 7ff., finden. Fol. A 3f. Der Text: Ec quis vero in tanta rei novitate omnia ad normam exactissimam dirigere possit? N e m o enim hactenus, inter Romanae elegantiae proceres materiam hancce attingere dignatus est. Invenies totam Lapidis Philosophici tractationem severiorem barbari seculi limitibus circumscriptam. Tuos vero Graeculos, quos manuscriptos hac de materia ostendisti, pace tua dicam, a d m o d u m novitios judico, atque etiam semibárbaros, quod ex duorum, quos adhuc domi meae servo, lectione arguere possum. Fortasse vero, si quis tui similis tentaverit, naevos longé situ contractos acrioris judicij lixivio diluere possit. Cod. Guelf. 51.1. Aug. 4°: »In Testamentum F. BASILIIVALENTINII ab interim vindicatum à Clarissimo et praestantissimo Domino J O A C H I M O M O R S I O . « Das Gedicht bezieht sich auf die Teile 3 - 5 des »Testamentum«, im selben Kodex vorliegend in einer Abschrift des Paracelsisten Karl Widemann. Sie erschienen mit den Teilen 1 und 2 im Jahre 1645 in Straßburg. Morsius hatte Widemann 1629 in Augsburg besucht. Die Handschrift ist von Otto von H e i n e m a n n beschrieben: Die Handschriften der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Bd. 4 - 8 : Zweite Abt. Die Augusteischen Handschriften (Bd. 1 - 5 ) Wolfenbüttel 1880-1903 (Nachdruck Frankfurt/M. 1965/66): Hier spez. Bd. 5, 1903, S. 55, Nr. 3540. Heinemann gibt wohl infolge eines Lesefehlers - an, das »Vorwort« zu der »Testamentum«-Abschrift stamme von »Nie. Furchius« und datiere 1580.

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Fachliteratur und aristotelische Naturphilosophie sind einbezogen. 74 Dabei setzt sich der Dichter mit den verschiedenen Versionen seiner Quellen auseinander, so ζ. B. in der Frage, »ob die Metalle leben«, und in der Zurückweisung magischen Aberglaubens.75 Es scheint, als habe der italienische Aufenthalt besonders auf eine Heraushebung panpsychischer Vorstellungen gewirkt, die sich wiederum als Variante der alten Lichtmetaphysik zu erkennen geben: Est radius per totum orbem diffusus ab axe, Quo magis hac minus illa tument, prout ipse Creator Unicuique dedit, cum primitus omnia fecit. Hic radius Mundi vita est, mensque ipsa resedit Mundi his igniculis, animusque & spiritus ingens. Hunc Amor a cunis & diva Erycina per omnem Distribuit naturam, & corpore miscuit ampio: Huic vita omnis inest, ilio quoque victitat aether: Ilio aer, ilio unda viget: volat ille sine alis Et sine nocte diem per sécula cuncta profundit. 7 6 (Es gibt einen Strahl, verteilt vom Himmel durch die ganze Welt, durch den jenes mehr oder weniger wächst, wie es selbst der Schöpfer einem jeden verlieh, als er anfanglich alles erschuf. Dieser Strahl ist das Leben der Welt, und der Geist selbst steckt in diesen Feuerfünklein der Welt, und die ungeheure Seele. Den verteilte die Liebe von Anfang an und die göttliche Venus [die Scholien verweisen auf den Anfang von Lukrez' De rerum natura] durch die ganze Natur, und mischte ihn in die weite Masse der Körper. In ihm steckt alles Leben, auch von ihm lebt der Aether, von ihm haben Luft und Wasser die Kraft. Er fliegt ohne Hügel und verströmt ohne Nacht den Tag durch alle Zeiten.)

Einerseits bewegt sich das Werk auf einer Darstellungsebene, die das Rezepthafte, die Mitteilung von Prozeduren, Verfahren und technischen Zurüstungen bis hin zu zahlenhaften Berechnung in den Vordergrund rückt. Andererseits läßt sich der alchemistische Vorgang nur als Enthüllung begreifen. Hier kommt es auf die Vermittlung der nötigen Haltung und seelischen Bereitschaft an (»sanctimonia vitae«). Indem Furichius ab Buch II einen Ich-Erzähler ein-

74

75

76

Der Gesamtzusammenhang von Neuplatonismus und Hermetik im Überblick bei Wolf-Dieter Miiller-Jahnke: Von Ficino zu Agrippa. In: Faivre/Zimmermann (wie Anm. 6), S. 9ff.; Ficino hatte Teile des hermetischen Corpus übersetzt; Paracelsus war von Ficino beeinflusst; weiter werden von älteren Quellen unter anderem zitiert: Arnold von Villanova, Roger Bacon, George Ripley (Riplaeus), sehr häufig JuliusCäsar Scaliger (»Exercitationes ad Cardanum«); von den Zeitgenossen: Daniel Sennert, 1572-1637 (zu ihm W. Pagel, Paracelsus, 1958, S. 333-343), der Schlesier Petrus Mornavius und der aus Ungarn stammende Andreas Dudith (zu ihnen Evans, wie Anm. la, vgl. den Index). Dazu S. 69f. (vorsichtig in der Auseinandersetzung mit Paracelsus: »metallis non prorsus omnem vitam denegandam esse«) und spez. S. 70: gegen die Astrologie; hier grundsätzlich: »Alchemia lumen accendit quidem partim vi pharmaci illius sublimions, quod ex auro praeparat, partim profundiori illa contemplatione rerum, quae in hoc studio requiritur.« In der These, daß der »lapis Philosophorum« nur aus Gold gewonnen werden könne, unterscheidet sich Furichius von einem Teil der alchemistischen Literatur, was ausdrücklich angemerkt ist (S. 64). Buch I, S. 12, V. 6-15; zur »Anima mundi« auch Buch II, S. 21/22, Furichius kennt die in solchen Theoremen lauernde Gefahr des Pantheismus, hält jedoch an der Vorstellung des persönlichen Gottes fest: vgl. die Note S. 61 (zu II, V 24).

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führt, ist ein Darstellungsmodus gewonnen, der die hermetische Kunst als menschliches Handeln demonstriert. »Chrysantheus« sieht sich in die Libysche Wüste versetzt und bekommt von einem Raben77 die Geschichte dessen eigener Metamorphose erzählt. Es handelt sich um die Vorgänge bei der Zubereitung des »Mercurius«. Das Lehrgedicht entwickelt sich, wie seit alters her in der alchemistischen Literatur, zum Mythos und zum Märchen: Als Chrysantheus später in einen tiefen Schlaf verfällt, erscheint ihm ein ehrwürdiger alter Mann, die Figur des weisen und gottgesandten Ratgebers, der selbst Wissen und Tugenden des Suchenden exemplarisch verkörpert (vgl. S. 16, V. 13ff.). Das Erzählmuster war in der epischen Tradition geläufig, Furichius weist auf Ariost. Auch Moscheroschs »Expertus Robertus« erfüllt diese eisagogische Funktion. Im Munde des Alten verkündet Furichius den Katechismus des idealen Adepten: Weltverachtung und Frömmigkeit, Forscherdrang und Studium der Quellen, Scharfsinn und Verschwiegenheit, schließlich das Drängen nach dem Höchsten Ziel, die Welt in Gott und Gott in der Welt zu finden (S. 17, V. 24-28): Tu potius Mundum crede adspectabile numen, Et numen non visibilem versa via Mundum. Sic in utroque morans, nec ab ulla parte recedens, In Mundoque Deum, inque Deo Mundum usque videbis. (Du vielmehr halte die Welt für die sichtbare Gottheit, und umgekehrt die Gottheit für die nicht sichtbare Welt. Indem du so in beiden verweilst und von keinem von beiden abläßt, wirst du endlich Gott in der Welt und die Welt in Gott schauen.)

Chrysantheus erfährt auch die Geschichte von Chryseis, nach der das Gedicht seinen Namen hat. Es ist - in explizierter Mythenallegorese - keine andere als die von Pluto, dem Gott der Unterwelt, geraubte Proserpina.78 Sie ist das Gold, das im Gestein verborgen ist. Die nach der Gespielin suchenden Freundinnen sind die Metallurgen, die das Gold in den Elementen suchen. Wenn Chryseis wie Proserpina einmal im Jahr die Erde besucht und ihre alte Heimstatt wiedersieht, hinterläßt sie bei ihrem Scheiden als Erinnerung die Kunde von den 77

78

Buch II, S. 14ff.: Der Rabe war alchemistische Hieroglyphe für einen bestimmten Zustand des Stoffs im Verlauf der chemischen Operation (sublimatio). Buch II, S. 18, V. 31ff.; Furichius konnte sich stützen auf die orphische Naturspekulation in Claudians Epos: De raptu Proserpinae; schon hier war Hades Verwahrer der »semina rerum« (157). Die alchemistische Ausdeutung der Mythe scheint selten zu sein. Mir ist - dem Titel nach - nur eine ähnliche Schrift begegnet: Johann Rudolf Glaubers 1667 in Amsterdam erschienener Traktat »Kurtze Erklärung über die Höllische Göttin Proserpinen, Plutonis Hausfrawen, was die philosophische Poeten als Ovidius, Virgilius und andere dadurch verstanden haben, und wie durch Hülff dieser Proserpinen die Seele der abgestorbenen metallischen Leiber auss der Chymischen Hölle in den philosophischen Himmel geführet werden«. Dazu K.F. Gugel: J. R. Glauber 1604-1670. Leben und Werk. Würzburg 1955 (Mainfränkische Hefte, 22), S. 64f.; auch die neueste Untersuchung zur Stoffgeschichte kennt keinen »sensus chymicus«: Herbert Anton: Der Raub der Proserpina. Literarische Traditionen eines erotischen Sinnbildes und mythischen Symbols. Heidelberg 1967 (Heidelberger Forschungen, 11. Heft).

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»crescentia semina« des Goldes, die Wissenschaft vom »Chrysolith«, dem »aurum Philosophorum«. Ich möchte hier mehr abbrechen als abschließen. Es konnte nur darum gehen, die Punkte vorzustellen, an denen sich hermetische Philosophie, poetische Phantasie und humanistische Formkultur berühren. Beide Werke des Furichius gerieten in Vergessenheit. Sachlich boten sie gewiß nichts Neues. Wer nach Vervollkommnung technischer und chemischer Prozesse suchte, wird lieber zu einem der vielen Prosawerke, zumal in der Muttersprache gegriffen haben. Was in einem hochartifiziellen Lehrgedicht allein an Übersetzungsarbeit zu leisten war, lohnte gewiß für viele die Mühe nicht. Vorausgesetzt war ein Stand humanistischer Bildung, der alsbald immer weniger selbstverständlich war. Insofern blieben die Versuche des Furichius in solcher Form einmalig. Sie zeugen von einer Verschmelzung dreier Rollen: der des Arztes, Naturmystikers und des »poeta doctus«. Es ist unwahrscheinlich, daß Moscherosch - zumindest nach 1630 - einen persönlichen Zugang zu den naturphilosophischen Spekulationen seines Studienfreundes gefunden hat. Zwar schätzte Moscherosch Johann Arndt und wird dessen Verarbeitung paracelsischer Gedankengänge erkannt und nicht verworfen haben, 79 doch die bereits erwähnte Kritik der Alchemie in den Gesichten deutet doch auf ein Festhalten an den geordneten Traditionen der Straßburger Schulmedizin. Man darf allerdings nicht vergessen, daß in derartiger Kritik mehr die scharlatanhafte und beutelschneiderische Großsprecherei der Goldsucher und »Apotheker« als die ernsthaften Bemühungen philosophischer Theorie getroffen waren. In dieser Hinsicht markiert Furichius und sein Werk allerdings eine wichtige Stelle im geistigen und literarischen Spektrum des Straßburger Humanismus.

79

Vgl. Edmund Weber: Johann Arndts Vier Bücher vom Wahren Christentum als Beitrag zur protestantischen Irenik des 17. Jahrhunderts. Eine quellenkritische Untersuchung. Marburg 1969 (Schriften des Instituts für Wissenschaftliche Irenik der J. W. Goethe Universität Frankfurt/M. II), spez. zu Paracelsus: S. 108ff.

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Johann Michael Moscherosch in den Jahren 1648-1651: Die Briefe an Johann Valentin Andreae (Mit einer Aufstellung der bisher bekannten Korrespondenz Moscheroschs) I

Daß die Werke Moscheroschs, vor allem seine Gesichte vielgedruckt und vielgelesen waren, ist in erster Linie darauf zurückzuführen, daß hier ein Autor im illustrativen Rückbezug auf die eigene Lebensgeschichte zugleich die kollektiven Erfahrungen eines breiten Publikums zur Sprache brachte. Was Moscherosch (1601-1669) lebenslang bewegte, traf sich mit den mentalen Spannungen im Denken vieler Zeitgenossen, mit der widersprüchlichen Bewußtseinslage einer historischen Übergangssituation. In wechselnder Beleuchtung wurde ein epochaler Konflikt zum Thema direkter Aussage und erzählerischer Darstellung. Es war der Konflikt zwischen einem überkommenen ordnungspolitischen Moralismus lutherischer Prägung, einem damit konvergierenden reichs-städtischen Traditionsbewußtsein und kulturpatriotischem Behauptungswillen einerseits und der erfahrenen Wirklichkeit fürstenstaatlicher, höfisch zentrierter und politisch rationalisierter Machtentfaltung andererseits. Walter E. Schäfers jüngst erschienene, nunmehr grundlegende Moscherosch-Biographie1 zeigt uns so auch einen Autor mit höchst widersprüchlichen Zügen. Sie zeigt das Lebensdilemma eines Mannes, der sich durch äußere Katastrophen und persönliches Mißgeschick, wohl auch eigene Labilität benachteiligt - auf der Jagd nach sozialer >fortune< um die Einheit seiner Autorenrolle und seiner tatsächlichen Lebensstrategie kaum jemals kümmern konnte. Moscheroschs proteische Wandlungsfähigkeit spiegelt den außerordentlichen Anpassungsdruck auf die Karriere eines bürgerlichen Literaten, die aporetische Diskrepanz zwischen privater Gesinnung und den gegebenen Möglichkeiten literarischer und beruflicher Wirksamkeit. Diese skizzenhafte Charakterisierung bezieht sich auf die von Schäfer und mir in den letzten Jahren publizierten Moscherosch-Studien.2 Der vorliegende Walter E. Schäfer: Johann Michael Moscherosch. Staatsmann, Satiriker und Pädagoge im Barockzeitalter. München 1982. W. E. Schäfer: Zwischen Freier Reichsstadt und absolutistischem Hof. Lebensräume Moscheroschs. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. 130. Bd. (N.F., Bd. 91) 1982, S. 167-180; W. Kühlmann/W. E. Schäfer: Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang J. M. Moscheroschs. Berlin 1983 (Philologische Studien und Quellen, Heft 109); W. Kühlmann: Moscherosch und die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Aspekte des barocken Kulturpatriotismus. In: Bibliothek und Wissenschaft 16 (1982), S. 68-84; ders.: Alchemie und späthumanistische Formkultur - Der Straßburger

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Beitrag versteht sich als eine dazu gehörende Ergänzung und knüpft zugleich an die mittlerweile intensivierten Bemühungen um die Erschließung der Briefüberlieferung des 17. Jahrhunderts an.3 Wie die nachfolgende Aufstellung (unten Absatz III) erläutert, wird durch die Mitteilung der Briefe an Andreae eine Lücke in unserer Kenntnis des Briefschreibers Moscherosch geschlossen. Erhalten haben sich die Manuskripte in der umfangreichen Hinterlassenschaft Andreaes. Dieses großenteils in Wolfenbüttel aufbewahrte, sonst auch über mehrere andere Bibliotheken verstreute Briefkorpus ist zwar in neueren Publikationen punktuell ausgewertet, im ganzen aber an keiner Stelle detailliert erfaßt.4 Für die Frömmigkeits- und Kirchengeschichte der Zeit, aber auch generell für den personen-, kultur- und sozialhistorischen Kontext der frühbarocken Literatur steht damit ein noch wenig ausgeschöpfter Quellenfundus zur Verfügung. Andreaes Kontakte mit Moscherosch sind vor allem einzuordnen in den brieflichen Verkehr mit Harsdörffer5 und mit den namhaften Vertretern der oberrheinischen Gelehrtenwelt, die ihrerseits auch mit Moscherosch korrespondierten. Zu nennen sind vor allem der Historiker Matthias Bernegger

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Dichter Johannes Nicolaus Furichius (1602-1633), ein Freund Moscheroschs. In: Daphnis 13 (1984), S. 101-35; - beide Aufsätze in diesem Band abgedruckt; ferner: Johann Michael Moscherosch. Barockautor am Obenhein, Satiriker und Moralist. Hg. von der Badischen Landesbibliothek [...]. Karlsruhe 1981 (illustrierter Katalog mit Beiträgen u. a. von W. Schäfer und W. Kühlmann). Vgl. die Aufsätze des von Hans-Henrik Krummacher hg. Sammelbandes: Briefe deutscher Barockautoren. Probleme ihrer Erfassung und Erschließung. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 6), hier bes. den einleitenden Beitrag des Herausgebers. Vgl. bes. John Warwick Montgomery: Cross and Crucible. Johann Valentin Andreae (1586-1654). Phoenix of the Theologians. 2 Bde. The Hague 1973 (mit umfassender Werkbibliographie und kommentiertem Literaturverzeichnis); Richard van Dülmen: Die Utopie einer christlichen Gesellschaft. Johann Valentin Andreae (1586-1654). Teil 1. Stuttgart 1978 (Kultur und Gesellschaft, Bd. 2,1); nach frdl. Mitteilung des Verfassers wird der zweite Teil dieses Werkes leider nicht erscheinen. Eine Aufstellung der handschriftlich überlieferten Korrespondenz Andreaes bei Montgomery, Bd. II, S. 489-92; hier sowie bei van Dülmen (S. 294-95) auch Hinweise auf die bisher veröffentlichten Briefe. Von den neueren Arbeiten zu Andreae seien genannt Martin Brecht: Johann Valentin Andreae. Weg und Programm eines Reformators zwischen Reformation und Moderne. In: ders. (Hg.): Theologen und Theologie an der Universität Tübingen. [... ] Tübingen 1977 (Contubernium, Bd. 15), S. 270-343, sowie Roland Edighoffer: Johann Valentin Andreae. Vom Rosenkreuz zur Pantopie. In: Daphnis 10 (1981), S. 211-239; von den älteren Darstellungen immer noch lesenswert Wilhelm Hossbach: Johann Valentin Andreae und sein Zeitalter. Berlin 1819, Nachdruck Leipzig 1978; Paul Joachimsen: Johann V. Andreae und die evangelische Utopie. In: Zeitwende 2 (1926), S. 485-503; 623-642; Neudruck in: Gesammelte Aufsätze [...]. Aalen 1970; Harald Scholtz: Evangelischer Utopismus bei J. V. Andreae. Ein geistiges Vorspiel zum Pietismus. Stuttgart 1957 (Darstellungen aus der Württembergischen Geschichte, Bd. XLII). Fünf Briefe an Harsdörffer sind von R. van Dülmen publiziert: Sozietätsbildungen in Nürnberg im 17. Jahrhundert, in: Gesellschaft und Herrschaft [. ..]. Festgabe für Karl Bosl [...]. München 1969, S. 153-190, spez. 185ff.

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(1582-1640) 6 der Historiker, Politologe und Völkerrechtler Johann Heinrich Boeckler (1611-1672), der Theologe und Kirchenpräses Johann Schmidt (1594-1658) sowie der neulateinische Poet und Schullehrer Samuel Gloner (1598-1642). 7 In seiner - leider noch immer schwer zugänglichen - Autobiographie hat Andreae über alle Freundschaften und Kontakte genau Buch geführt. Des Briefaustausches mit Moscherosch gedenkt er zugleich mit der Erinnerung an Harsdörffer.8 Was hatten sie gemeinsam: Moscherosch, der Fiskal des Straßburger Polizeigerichts (von 1645 bis 1655), und Andreae, der württembergische Konsistorialrat in Stuttgart, seit 1650 Generalsuperintendent (auch Abt) von Bebenhausen? Zunächst die Mitgliedschaft in der Fruchtbringenden Gesellschaft, in die sie 1645 bzw. 1646 aufgenommen worden waren. Der erste Brief knüpft an diese literarische Kollegenschaft an. Moscherosch hat auch sonst seine älteren und die neu gewonnenen Verbindungen eifrig genützt, nicht zuletzt zur Befestigung seiner persönlichen Reputation in Straßburg.9 Er wird kaum gewußt haben, daß Andreae dem Treiben der Sozietät - zumindest nach wenigen Jahren - recht skeptisch gegenüber-

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Aus den zwischen Andreae und B. ausgetauschten Briefen sind einige abgedruckt bei Alexander Reifferscheid (Hg.): Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers und ihrer Freunde. Heilbronn 1889 (Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland während des siebzehnten Jahrhunderts, Bd. I): vgl. hier die Register! Weiter sind heranzuziehen die Bestände der Stabi Hamburg, MS Sup. ep. (4°), 31 und 32, sowie HAB Wolfenbüttel, Cod. 11.12. Aug. 2°, 231-235. Zu Bernegger zuletzt W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat [...]. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3), bes. S. 4 3 - 6 6 . Zu Boeckler und Schmidt s.u. Anm. 26 bzw. 12! Im Fall Gloners haben sich beide Partien der Korrespondenz erhalten: Andreaes Briefe in Straßburg (Thomasarchiv/Stadtarchiv, Ms. 164, fol. 152-210), Gloners Briefe in Wolfenbüttel (HAB, Cod. 11.12. Aug. 2°, 364-412). Zu Gloner vgl. Rodolphe Reuss: Samuel Gloner. Ein Straßburger Lehrerbild. In: Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestehens des protestantischen Gymnasiums Straßburg. Straßburg 1888, S. 143-226; Hellmuth Thomke: Josua Wetter und sein Straßburger Kostherr Samuel Gloner. In: Wolfenbütteler Beiträge, Bd. 4 (1981), S. 205-33. Johann Valentin Andreae, Vita, ab ipso conscripta. Ex autographo [...] nunc primum ed. F. H. Rheinwald. Berlin 1849, hier S. 253: »Literis vero convenerunt Georgius Philippus Harstorfer rarae et multiplicis scientiae exemplum. Joh. Michael Moscherosch et Joannes Joachimus Franzius, nunquam a facie noti, quibus his illisve post Guelpherbytanum literarum solenne commercium, sive coram sive foras quantum sit impensum, non est cuiusvis otiosi vel judicare, vel intelligere; sane quod vegetioribus lusus et temporis fallimentum dici posset, fracido mihi et elumbi oneri est et temporis maximae frustillationi, ut de amicitis potius dissidendis, negotiis seponendis quam conglomerandis rationes mihi ineundas putem.« Dies belegen vor allem die Beigaben der Epigramme und die Anhänge des zweiten Teils der Gesichte in der Ausgabe von 1650; vgl. (im folgenden jeweils als »Dünnhaupt« zitiert) Gerhard Dünnhaupt: Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. Bd. I—III. Stuttgart 1980-81 (Hiersemanns bibliographische Handbücher 2,1—III), zu Moscherosch Bd. II, S. 1240-1263, hier spez. S. 1242, Nr. 44c; die hier in Frage kommenden Briefe habe ich in die Korrespondenzliste aufgenommen (s. u.).

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stand.10 Allerdings berührt das Gespräch mit Andreae nicht die Geschäfte der »Kräutergesellschaft« (Andreae), sondern tiefere, religiös-politische Gemeinsamkeiten. Sie lassen sich an der Tatsache ablesen, daß zunächst Andreae gleichsam auf Moscherosch zuging und ihm in einem Brief an Johann Schmidt seine Freundschaft anbot. Der Brief datiert vom 12.9.1647:" Neulich stieß ich auf ein Büchlein Moscheroschs, Parentum Cura betitelt und Dir gewidmet. Schon seit langer Zeit habe ich nichts gelesen, was mir mehr aus tiefster Seele geschrieben worden wäre, was auch immer andere, die in befestigten Städten außer Schußweite dahindämmern, vielleicht belachen mögen. Als ich selbst in freier Wildbahn mich verborgen hielt, habe ich mir vieles dieser Art im Geiste zurechtgelegt, niemals aber herausgegeben, was jener glücklich zum Ausdruck gebracht hat. In dieser Beziehung verdanke ich ihm viel, und wenn er noch lebt, wünsche ich ihm Dank abzustatten und biete ihm, zumal ich ihn schon längst aus den Zeugnissen seines eleganten Geistes schätzen gelernt habe, meine Freundschaft an, wenn sie nicht unwillkommen ist.

Was Moscherosch in seiner zuerst 1643 erschienenen Insomnis Cura Parentum so ganz nach dem Willen Andreaes »zum Ausdruck gebracht« hatte, war das zentrale Anliegen führender Vertreter der sog. Reformorthodoxie: eine zweite Reformation im Zeichen der »praxis pietatis«, ein Christentum der Tat, das nicht nur Bekenntnistreue verlangen sollte, sondern auch eine christliche Lebensführung in der Familie und in den verschiedenen Bereichen von Staat und Gesellschaft. 12 Hingearbeitet wurde auf eine religiöse Rückbesinnung und eine Reform der akademischen Bildung, beides im Zeichen einer allseits

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Vgl. Friedrich Wilhelm Barthold: Geschichte der Fruchtbringenden Gesellschaft. Berlin 1848. Nachdruck Hildesheim 1969 (zu Andreae bes. S. 250ff. und 316-17); Gottlieb Krause: Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Erzschrein. Leipzig 1855. Nachdruck Hildesheim-New York 1973 ; über Moscheroschs Kontakte zu Harsdörffer und zur FG auch Kühlmann / Schäfer (wie Anm. 2), bes. S. 123f.; weitere Angaben in: Die Fruchtbringende Gesellschaft. Kommentar von Klaus Conermann. 3 Bde. Leipzig (im Druck). Kritische Bemerkungen Andreaes zur Fruchtbringenden Gesellschaft finden sich in einem Brief an Schmidt vom 17. Sept. 1646: »Talium nugarum, quas eruditionis nomine venditant, jam dudum satus, hoc genus hominum semipaganum, imo bis paganum abhorreo; quam enim non colluviem impietatis, lutulentiam gentilitatis, monstra verborum rebus sacris, odis & numeris germanis, vernaculaeque linguae sub illa Fructífera, verius Mortifera, societate inferunt«. Zitiert nach: Ungedruckte Schreiben und Auszüge von Schreiben von D. Johann Valentin Andrea [...] an D. Johann Schmidt [...] von den Jahren 1633 bis 1654. In: (Mosers) Patriotisches Archiv VI (1787), S. 285-360, spez. S. 347 (Nr. 32). Patriotisches Archiv (wie Anm. 10), S. 343f. (Nr. 30): »Incidi nuper in libellum Moscheroschi, Parentum curam inscriptum tibi dicatum, quo nihil legi jam a longo tempore magis ex intimo meo sensu scriptum, quicquid alii, qui in munitis urbibus torpent, extra teli jactum rideant. Multa talia cum ipse in Lustris ferarum latitarem, animo mihi concepta sunt, numquam prodita, quae ille féliciter expressit, quo nomine ipsi multum debeo, ac si etiamnum vivit, referre gratiam gestio, & amicitiam meam, cum ex ingenii elegantioris documentis jam dudum aestimaverim, si non ingrata, offero«. - Die Formulierung »cum ipse in Lustris ferarum latitarem« bezieht sich wohl auf Andreas Situation nach der Zerstörung von Calw (1634): s. Montgomery I (wie Anm. 3), S. 76ff. Zur Bedeutung Schmidts für Moscherosch ausführlich Kühlmann/Schäfer (wie Anm. 2), S. 130-188 (mit weiteren Literaturangaben).

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bedrohlichen Säkularisierung des Denkens. Andreae, Schmidt, Theologen wie Meyfart in Coburg, Dilherr und Saubert in Nürnberg, nahmen dabei mehr oder weniger Impulse auf, die von den weitverbreiteten, freilich auch scharf bekämpften Schriften Johann Arndts ausgingen. 13 Gerade in der Anknüpfung an Johann Arndt berührten sich die geistigen Positionen Andreaes und Moscheroschs: sein moralisches Erneuerungsprogramm wurde von beiden in bittere Satire und Zeitkritik umgesetzt. So ist es nicht pure Schmeichelei, wenn Moscherosch Andreaes eben erschienenen Theophilus preist (s. Brief Nr. 11) und seine alte Anhänglichkeit hervorhebt. Denn in der Tat gehörte die Berufung auf Schriften Andreaes spätestens seit den frühen vierziger Jahren zur autoritativen Absicherung des eigenen Schaffens. 14 Hierbei spielten auch politische Affinitäten eine unübersehbare Rolle. Zwar setzte Andreae wie Moscherosch große Hoffnungen auf Herzog von Braunschweig und seine Dynastie - in den Briefen spiegelt sich dies in ganz privaten Belangen - , doch im Grunde sah Andreae in seinem Kampf gegen fürstliche Autokratie 15 genauso wie Moscherosch besonders in den Reichsstädten den eigentlichen Rückhalt der »reinen Religion«, der wohlgeordneten »Policey« und eine grundsätzliche Opposition gegenüber dem Ungeist der »vita aulica«. 16 So durfte Moscherosch mit dem Interesse seines Briefpartners rechnen, wenn er über seine Edition von Schriften Wimpfelings ( 1450-1528) berichtet. Konfrontiert mit dem für das reichsdeutsche Elsaß nachteiligen Ergebnissen der Münsteraner Friedensverhandlungen, zugleich nicht ohne Bezug auf die diesbezüglichen Ängste und Fraktionskämpfe in der Bürgerschaft und in den Ratskollegien der elsässischen Städte 17 wollte Moscherosch an patriotische

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Zu Arndts Wirkung auf Andreae vgl. van Dülmen (wie Anm. 3), bes. S. 113ff., zum Einfluß auf Moscherosch Kühlmann/Schäfer (wie Anm. 2), bes. S. 187f.; vgl. auch das lat. Epigramm »Ex loh. Arnd. Christianismo« in Moscheroschs Epigrammen (Ed. 1665, Dünnhaupt Nr. 26 c), S. 215f. Andreae als »Patronus Maximus« gepriesen im zweiten Buch der Epigramme (Ed. 1665, S. 74; zuerst 1643); mit anderen Württembergem (Lansius, Zeiller) gerühmt in einem autobiographisch gefärbten Gedicht an den Freund »Melander« (d.i. Melchior Erhard): vgl. Johannes Bolte: Unbekannte Gedichte von Moscherosch. In: Jahrbuch für die Geschichte Elsaß-Lothringen 13(1897),S. 151ff.,spez. 161; Berufungen auf Andreaes Werke in Gesichte (17: »Hoff-Schule«, Ed. 1642, Nachdruck: Hildesheim-New York 1974), S. 439; in Patientia (ed. L. Pariser 1897, Nachdruck Hildesheim 1976), S. 14; des öfteren in der Neuauflage der Schriften Gumpelzheimers (1652 von Moscherosch besorgt). Am Schluß des zweiten Teils der Gesichte (Ed. 1650) hat Moscherosch in einem lateinischen Dialog die für Andreae typische Form der Gesprächssatire nachgeahmt (S. 931). Andreaes Angriffe richteten sich vor allem gegen den sog. Cäsaropapismus, die Übergriffe der Politik auf Kirche, Theologie und Predigtamt: hierzu vor allem seine Schrift Apap [Inversion von »Papa«] proditus, in: Opuscula aliquot de restitutione Reipub. Christianae in Germania. Nürnberg 1633, S. 12^19; vgl. Montgomery (wie Anm. 3), Bd. I, S. 75f. Vgl. Schäfer (wie Anm. 1 ), vor allem S. 118f. Vgl. Schäfer (wie Anm. 1), S. 126ff.; 150-55; Fritz Dickmann: Der Westfälische Friede. Münster '1972, bes. S. 407-410.

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Überlieferungen anknüpfen, wollte mit literarischen Mitteln an das »urbane Gemeinschaftsideal« appellieren und die Kontinuität reichstreuer Gesinnung hervorheben.18 Die Briefe belegen dabei sehr deutlich auch die trivialen Aspekte von Moscheroschs Herausgebertätigkeit. Dies nur als kurze Einführung und Übersicht. Weitere Einzelheiten, die von Moscherosch angesprochen werden, sind an Ort und Stelle erläutert.

II. Moscheroschs Briefe an Andreae Die Briefe sind textgetreu wiedergegeben. Abkürzungen in Anrede und Schlußformel werden jedoch aufgelöst, sonstige Abbreviaturen in spitzen Klammern ergänzt. Die Übersetzung soll nicht mehr bieten als eine Verständnishilfe, wobei ich auf die Curialien am Briefende verzichtet habe. Alle sechs Briefe (Originale) gehören zum Handschriftenbestand der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel.19

1. Cod. 11.12. Aug. 2° (Heinemann Nr. 2133), fol 363: 13.12.1648 20

Admitte quaeso Vir Nobilissime & Excellentissime peregrinimi hunc hominem, qui non alia quam solius sodalitatis fructif(erae) fiducia aedem tuam pulsare aggreditur. Et si qua vacus {so!) tibi clientum adhuc locellus superest, benevolentiae Tuae radijs, obsequio sese insinunem, fove. Nobilitatis Excellentiae & Reverentiae Tuae summa devotione colens Joh. Mich. Moscherosch Reipublicae pro tempore à Secretis. Argentinae Idibus Decembris 1648. [Rückseite: Anschrift und von fremder Hand »Franco per Reinhaußen (?)«]

Gewähre bitte, hochedler und hervorragendster Mann, diesem fremden Menschen Zugang, der herbeikommt, um an Dein Haus zu klopfen, allein auf die Fruchtbringende Gesellschaft vertrauend. Und wenn bei Dir noch ein Plätzchen für Schützlinge frei ist, sei mit den Strahlen Deines Wohlwollens dem gewogen, der sich in Dienstwilligkeit (bei Dir) einführt.

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Zu diesem Aspekt Erich Kleinschmidt: Stadt und Literatur in der frühen Neuzeit. [...] KölnWien 1982 (Literatur und Leben. Neue Folge, Bd. 22), S. 294f. Zu den in Wolfenbüttel erhaltenen Briefbänden vgl. Otto von Heinemann: Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbuttel. Zweite Abtheilung. Die Augusteischen Handschriften I. Wolfenbüttel 1890: Nr. 2085 (Cod. 7.4. aug. 2°); 2086 (Cod. 7.5. Aug. 2°); 2106 (Cod. 8.7. Aug. 2°); 2116 (Cod. 10.5. Aug. 2°); hier Moscherosch fol. 399^104. Ferner: Die Augusteischen Handschriften II. Wolfenbüttel 1895: Nr. 2133 (Cod. 11.12. Aug. 2°): hier Moscherosch fol. 363; 4 1 3 ^ 1 4 ; Nr. 2136 (Cod. 11.15. aug. 2°); dazu kommt der vielbändige Briefwechsel mit Herzog August (u. a. MS Cod. 65 Extrav. und in MS Cod. 236 Extrav.); vgl. Wolf-Dieter Otte: Barocke Briefbestände in Wolfenbüttel. In: Briefe deutscher Barockautoren (wie Anm. 2), S. 43^18. Wohl eine Anspielung auf Andreaes Werk: Peregrini in Patria errores. Utopiae (d.i. Straßburg) 1618. Hier wird in Fabeln und Bildern das Leben ohne Christus in der Welt vorgestellt.

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2. Ibid. fol. 413 r/v: 10.2.1649 21 Salutem & Obsequium - En Vir Nobilissime Reverende admodum & Amplissime. Sisto hic tibi virum-Juvenem modestissimum: optimum Tui Dachtleri ex unica filia nepotem, primarium Domini Joachimi Franzij, Collegio XVvirorum a secretioribus Consiliis meritissimi natum: juris utrisque Doctorandum, virum-juvenem suis studiis clarissimum, 22 magnis passim vins edito non uno Doctrinae signo charissimum: quique id unum felicitati suae defuisse hactenus arbitratus est, Amplitudini Tuae publice adhuc vota non fecisse: accedit is supplex ad Benevolentiae tuae aram, eiusdem insese guttam aliquam derivali obsecrat, cuius plenos vinos avus olim non semel erat expertus. - Caeterum, quanta Tu mihi calcaría! & o utinam non tarn freno cohercerer officij mei, auderem plura sane, licet non maiora, brevi. Dum tarnen otij aliquid â Summo Opifice spero, eiusdem Wimfelingij latinum exemplar praelo subijcio, 23 quem mox subsecuturi sunt in simili argumento Cunradus Peutingerus Vester, Hieronymus Guebwilerus cum additamento: 24 Insuper etiam Wimfelingij Episcopis Argentinensibus Et supplemento. 2 5 singula, ni fallor, viris bonis non disciplitura. - Tu pro Authoritate qua potes, pro Doctrina qua vales, inter Germanos exemplum Probitatis Pietatisque, mone, instrue, doce hominem sánete te venerantem. - Boeclerum perbelle (413v) pervisse, et nunc ora Codanum versus solvisse certum 2 6 est. Et videntur sic quidam, ut tecum ominor, humaniora, relieta nobis barbarie, aquilonem versus abire. DEUS Te longum servet in summa hac Senecta Principi Patriae Amicis. Argentinae X, Febr. 1649. Nobilitatis Reverentiae & Amplitudinis Tuae obsequentissimus omnium Joh. Mich. Moscherosch [Rückseite: Anschrift]

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Bei Heinemann (wie Anm. 19) fälschlich fol. 414. Johann Joachim Franz[ius], 1626-1662, war später ein geachteter Jurist, u.a. Stadtadvokat und Mitglied des Rats in Straßburg. Immatrikulation 1640. Promotion zum Dr. jur. 1649/50 mit einer Disputation De remediis adversus inaequalitatem divisionum competentibus (nach Carl Gustav Knod: Die Matrikeln der Univers. Straßburg 1621-1793.3 Bde., Straßburg 1897-1902, hier Bd. I, S. 312 bzw. Bd. II, S. 508); dem Brief Moscheroschs liegt ein Schreiben von Franziusbei (fol. 414-416); zu seiner Promotion schrieb Moscherosch zwei Epigramme (Ed. 1665, S. 85/86). Vgl. zur Person auch E. Sitzmann: Dictionnaire de biographie des hommes célèbres de Γ Alsace. 2 Bde. Rixheim 1909-10, spez. II, 519 sowie - zu Theophil Dachtier I, 335. Moscherosch hatte dem ersten Brief also wohl seine neueste Publikation beigelegt: Tutschland Jacob Wympfflingers von Slettstadt Zu Ere der Statt Straßburg und des Rhinstroms. Jetzo nach 147 Jahren zum Truck gegeben durch Hanß-Michael Moscherosch. Straßburg 1648 (Dünnhaupt Nr. 361); dieser Ausgabe folgte 1649 die lateinische Version: Jacobi Wimpfelingij cis Rhenum Germania [...]. Vgl. Dünnhaupt 36 II. Moscheroschs deutsche Übersetzung von Wimpfelings Vorwort leicht greifbar in Hedwig Heger: Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Erster Teilband, München 1975, S. 631-635. Wohl nicht erschienen, bisher jedenfalls bibliographisch nicht nachgewiesen. Gemeint ist: Jacobi Wimphelingi Catalogus episcoporum Argentinensium ad sesquiseculum desideratus. Restituit cum supplemento et Notis Joh. Mich. Moscherosch. Straßburg 1651 (Dünnhaupt Nr. 47). Zu Boeckler vgl. NDB s. v. (Paul Wentzke); Boeckler war 1649 von Christina von Schweden als Professor der Rhetorik an die Univ. Uppsala berufen worden, wurde 1650 zum Reichshofhistoriographen ernannt, kehrte aber 1652 nach Straßburg zurück. Gegen die Gerüchte, er sei in Ungnaden entlassen worden, wehrte sich Boeckler später mit der Publikation eines anerkennenden Entlassungsschreibens von der Hand Christinas. Daß er sich in Schweden nicht sehr wohl gefühlt hat, berichtet Samuel Schallesius an Andreae (29.1.1651 ): »Ex hujus [d. i. Boecklers] litteris quas e Suecia dedit, sine dubio cognovisti, quam parum ex voto res eius fluant, quanto desiderio praeterquam quod etiam necessitate jubente cogatur, in Germaniam

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Gruß und Gehorsam zuvor! Sieh hier, hochedler, sehr verehrungswürdiger und einflußreichster Mann. Hier stelle ich Dir einen sehr bescheidenen jungen Mann vor: den einzigen Enkel Deines Dachtier von seiner einzigen Tochter, den ältesten Sohn des Herrn Joachim Franz, des höchstverdienstvollen Mannes aus den »geheimen Stuben« der Fünfzehner: einen jungen Mann, der in beiden Rechten den Doktorgrad erwerben will, sehr bekannt durch seine Studien, großen Männern weithin sehr lieb auf Grund eines mehr als einmal an den Tag gelegten Beweises seiner Gelehrsamkeit: der meint, daß ihm bisher dies allein zu seinem Glück gefehlt habe, Deiner großmächtigen Persönlichkeit noch nicht öffentlich aufgewartet zu haben: er naht sich bittend dem Altar Deines Wohlwollen, und fleht, daß ein Tropfen davon auf ihn abgeleitet wird, von dem Wohlwollen, dessen vollen Weinstrom sein Großvater nicht nur einmal erfahren hat. Im übrigen, welche Sporen gibst Du mir! und, wenn ich doch durch den Zügel meines Amtes nicht gehemmt würde, - ich würde freilich mehr wagen, wenn auch nicht Größeres, binnen kurzer Zeit. Dieweil ich dennoch etwas Muße vom göttlichen Baumeister erhoffe, gebe ich das lateinische Exemplar eben dieses Wimpfeling unter die Presse, dem bald mit ähnlichem Inhalt Euer Conrad Peutinger und Hieronymus Guebwiler mit einem Anhang folgen werden: auch mit des Wimpfelings Straßburger Bischöfen und einem Anhang. Das Einzelne wird, wenn ich nicht irre, den guten Männern nicht mißfallen. Du aber - mit der Dir zur Verfügung stehenden Autorität, mit der Dir eigenen Gelehrsamkeit, unter den Deutschen ein Beispiel für Redlichkeit und Frömmigkeit, ermahne, unterrichte und belehre den Menschen, der Dich unwandelbar verehrt. Daß Boeckler recht gut durchgekommen und nun zum Ausgang der Ostsee abgesegelt ist, ist gewiß. Und so scheinen nun auch, wie ich mit Dir mutmaße, die humanistischen Wissenschaften gen Norden zu entschwinden, uns aber die Barbarei zurückzulassen. Gott möge Dich lange in Deinem erfüllten Greisenalter beschützen: dem Fürsten, dem Vaterland, den Freunden!

suam conhelet«. Boeckler, so heißt es weiter, hoffe auf eine Stelle am Tübinger Collegium Illustre. Im folgenden Brief (17.2.1651) dann der Bericht über die günstige Wendung in Boecklers Schicksal, die Ernennung zum »Historicus Regius« Cod. Aug. 10.5. 2°, 533 bzw. 534); vgl. auch den Brief Boecklers an den Straßburger Robert Königsmann (1606-1663), seit 1650 Prof. Eloquentiae, fol. 452, sowie an Andreae, 453 und 454: hier fol. 454 die Erwähnung von Andreaes Briefen an Moscherosch, von denen Boeckler durch diesen unterrichtet wurde. (»Ita me Veritas ipsa amet, ut nunquam tu ex animo, quod in literis ad Moscheroschium suspicabere, mihi excidisti«.) Aus dieser Bemerkung geht hervor, daß Moscherosch mit Boeckler über die erhaltenen Schreiben (s. u.) hinaus in Kontakt gestanden haben muß. Dies ist sonst m. W. die einzige Erwähnung Moscheroschs in den in Wolfenbüttel lagernden Briefen der Straßburger Bekannten Andreaes (einschließlich der Schreiben Styrzels). Der umfangreiche Briefnachlaß Boecklers ist bisher nicht einmal bibliographisch hinreichend erfaßt.

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3. Cod. 10.5. Aug. 2°. (Heinemann 2116), fol. 399 r/v-400: 6.12.1649 27

Reverendissime et Amplissime Pater, Patrone maxume! Tibi Theophilum Tuum debeo, cordatum Religionis religatae vindicem, candidum legum ligatarum Amicum, Germanum literarum liberaliorum Adsertorem. - Idem ego, Theophilo Tuo debeo quicquid candidi cordati, Germani 28 de Religione Legibus, Uteris, fucoso hoc quidem aevo legere dicere aut sentire licet. - In laudes Tuas ire non tento: nec enim tantas vires habet: quantos conatus audacia; quamvis tacere quoque, ñeque saeculo gratulan publice, dum haec talia ad sui correctionem divinitus data agnosco, conceptissime ingratitudinis me proderem conscientem. - Caetera Tua Scripta, Vir Illustrie (so!), a puero me ad omnem virtutem duces duxerunt, quae ego quam avidé prosecutus fuerim, quantulaecumque meae Musae testabuntur. Theophilus vero Tuus omni numero absolutus, ad perfectam Rei christianae conformitatem tarn conducit, ut peregrinos potenter trahat, domi natos rapiat etiam currentes. Deus canos tuos vegetet, Reverendissime Pater, ut efficias in nobis quod infectum est in nobis, ut conficias in nobis quod officere potest posteris, ut affectibus nostris sufficias, proficias defectibus; ut pérfidas in nobis, quod à DEO Tibi ad perficiendam in nobis Religionem vitam literaturam concreditum, impositum imperatum. Vale, vale (399 v) Caeterum, en Centuriam unam Epigrammatum. 29 Brevitatem Tibi excusabit AUGUSTI Ducis Authoritas, 30 Simplicitatem autem candor, cruditatem negotia quibus tantum non consumor. Ante annum Aulam Hennebergicam capitularibus Summi Templi, nunc vero Serenissimo Duci, quod nostro publico Pacis pacto cessione facta adquisitam inhabitandam conduxi magno pretio, quinquaginta taleris; subsidium erat quod ab extraneis accedebat: Pace jam ut aiunt facta, omnes praedia sua et possessiones repetiere; ego cuius humeris onus incumbit, aut succumbendum mihi liberisque meisque studijs video, aut excundum. Aula est harum longe maxima, sed habitationibus, incommodissima omnium: circumvius tantum aer gramineaeque istae delitiae me, á puero rari adsuetum tenent. pro obtinenda canonis moderatione Serenissimum Augustum supplex adoravi, munifica cuius dementia minus quadraginta florenis pretium, sic Megalopolitanus Legatus 32 cum suis pactus est, me sperare iubet; Te vero brevi post Episcopos Argentinenses Celsissimorum ANTONI ULRICI atque FERDINANDI-ALBERTI Principum Nominibus Sacros. 33 Quod vero iam hic tenuitatis meae conscientia vix expectare audeo, id ipsum conductu benevolentiae Tuae certo mihi promitto! Franzius noster, candidum et pacatum pectus magna Reipublicae expectatione

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Theophilus, sive de Christiana Religione sanctius colenda, Vita temperantius instituenda, Et Literatura rationabilius docenda Consilium [...]. Stuttgart 1649. Vgl. die Ausgabe mit deutscher Übers, von Richard van Dülmen. Stuttgart 1973 (Quellen und Forschungen zur Württembergischen Kirchengeschichte, Bd. 5); der erste Teil dieses Briefes ist hier in der Einleitung mit anderen Rezeptionszeugnissen abgedruckt und übersetzt (vgl. spez. S. 15). Zum Inhalt und zur Bedeutung dieser Schrift s. van Dülmen (wie Anm. 3), S. 191 ff. »Germanus« natürlich in der Doppelbedeutung von »echt« und »deutsch«. Die Ausgabe der zweiten Centurie der Epigramme von 1650 (Dünnhaupt Nr. 26 b). Die Centurie war Herzog August gewidmet. Zum Stilbegriff der »Kürze« und den verschiedenen Beigaben und Widmungen des Epigrammkorpus vgl. Kühlmann/Schäfer (wie Anm. 2), S. 87-129. Zu Moscheroschs Wohnung im Henneberger Hof s. Kühlmann/Schäfer(wieAnm. 2), S. 195f. Es handelt sich wohl um den Juristen Daniel Nicolai, an den Moscherosch als seinen »magnus Patronus« ein Epigramm richtete: vgl. Ed. 1655 (Dünnhaupt Nr. 26 c), S. 78. Anton-Ulrich (1633-1714), zweiter Sohn Augusts, und Ferdinand Albrecht (1636-1687), der jüngste Sohn. Über sie und die Familie vgl. bes.: Herzog August zu Braunschweig und Lüneburg 1579-1666. Ausstellungskatalog. Wolfenbüttel 1979. Hier auch Auszüge aus den 1649 bzw. 1654 gedruckten Briefen Andreaes an Herzog August und seiner Kinder (bes. S. 253). Weder die Durchsicht der gedruckten Briefsammlungen noch der Akten des niedersächsischen Staatsarchivs Wolfenbüttel ergaben weitere Hinweise auf Moscheroschs Mietverhältnis und seine diesbezüglichen Bemühungen.

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ante octiduum pro summis injure honoribus solenniter disputavit: Is Tuo patrocinio etiam sese atque etiam commendat (400) paucos hinc intra dies Genevam Parentis suasu et ulteriorem Galliam aditurus. vale iterum, et me studiaque mea fave obsecro Patrone maxume. Argentinae 6. Decembris 1649. Reverendissimae Tuae Dignitatis & Excellentiae Humilimus cultu cliens J. M. Moscherosch. [Rückseite Anschrift]

Verehrungswürdigster und einflußreichster Vater, größter Gönner! Ich verdanke Dir Deinen Theophilus, den beherzten Verteidiger der gefesselten Religion, den reinen Freund der gebundenen Gesetze, den rechten Bekenner der freien Wissenschaft. Ebenso verdanke ich Deinem Theophilus alles, was einem reinen, beherzten Deutschen über die Religion, die Gesetze und die Wissenschaft in diesem fürwahr verlarvten Zeitalter zu lesen, zu sagen oder zu fühlen erlaubt ist. Auf Dein Lob überzugehen versuche ich nicht: denn meine Kühnheit besitzt nicht soviel Kräfte wie Versuche; gleichwohl würde ich mich als der krassesten Undankbarkeit schuldig erweisen, wollte ich sogar dann schweigen und nicht dem Jahrhundert öffentlich gratulieren, wenn ich erkenne, daß dies so zu seiner eigenen Besserung von Gott gegeben ist. Im übrigen haben mich, erlauchter Mann, Deine Schriften von Jugend auf als Führer zu jeder Tugend geleitet; wie begierig ich ihnen gefolgt bin, werden, wie gering sie auch immer sind, meine Musen bezeugen. Dein Theophilus, in jeder Beziehung vollendet, führt so zur perfekten Angleichung an die christliche Sache, daß er die Auswärtigen machtvoll anzieht, die im Hause Geborenen aber mit sich reißt, auch wenn sie sich schon im Lauf befinden. Gott möge Dein Alter erquicken, verehrungswürdigster Vater, damit Du in uns vollendest, was in uns noch unvollkommen ist, damit Du in uns bewirkst, was den Nachkommen dienlich sein kann, damit Du unseren Leidenschaften zu Hilfe kommst und den Mängeln hilfst; damit Du in uns vollendest, was Dir von GOTT anvertraut, auferlegt und geboten ist, um in uns die Religion, die Lebensführung und die Wissenschaft zu vervollkommnen. Alles, alles Gute! Im übrigen, sieh hier eine Centurie von Epigrammen! Ihre Kürze wird Dir die Autorität des Herzogs August entschuldigen, ihre Schlichtheit aber die ehrliche Absicht, ihre Rohheit die Geschäfte, die so sind, daß ich gerade nur nicht von ihnen aufgerieben werde. Vor einem Jahr habe ich den Henneberger Hof zur Wohnung angemietet: von den Domkapitularen, nun aber vom allergnädigsten Herzog durch eine Vereinbarung infolge unseres öffentlichen Friedensschlusses erworben; - zu einem hohen Mietpreis von 50 Talern; es war eine Unterstützung, die mir von Auswärtigen zukam: als nun, wie man sagt, der Frieden geschlossen war, haben alle ihre Grundstücke und Besitzungen zurückverlangt. Ich nun, auf dessen Schultern die Last ruht, sehe, daß ich, meine Kinder und die Studien niedersinken oder ausziehen müssen. Der Hof ist bei weitem der größte seiner Art, aber der am wenigsten von allen zu Wohnzwecken geeignete: nur die freie

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Wohl der Druck seiner Dissertation (s. Anm. 22).

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Luft ringsherum und das erfreuliche Grasland halten mich, der ich seit der Knabenzeit an das Landleben gewöhnt bin. Um eine Ermäßigung der Miete habe ich den Gnädigsten August untertänigst gebeten; seine freigebige Milde läßt mich einen um vierzig Gulden ermäßigten Preis erhoffen, so hat es auch der mecklenburgische Gesandte mit den Seinen abgemacht. Du aber [darfst] bald [erwarten] die Straßburger Bischöfe, die den Namen der allerhöchsten Anton-Ulrich und Ferdinand-Albrecht gewidmet sind. Was ich aber schon im Bewußtsein meiner Geringfügigkeit kaum zu erwarten wage, eben das verspreche ich mir gewiß mit Beihilfe Deines Wohlwollens! Unser Franzius, die reine und friedliche Brust, disputierte feierlich mit großer Erwartung der Stadt vor acht Tagen, um die höchsten Ehren des Rechtsstudiums zu erlangen. Er empfiehlt sich zu wiederholten Malen Deiner Förderung und wird innerhalb weniger Tage auf Anraten seines Vaters von hier nach Genf und weiter nach Frankreich abgehen. Leb nochmals wohl, und, ich bitte Dich herzlich, größter Gönner, sei mir und meinen Studien günstig gesonnen!

4. Ibid. fol. 401 r/v. - 402: 7.7.1650 Salutem Plurimam Dico. Reverende admodum et Excellentissime Senex Praesul eminentissime, Patrone optime. - Abiturus iam iam Franzius noster candidum pectus; et te rogo, inquit, mi Moscherosch, avi mei magno Amico, máximo Doctori Andreae jurídicas has pagellas, 34 observantiae meae testes commode transmitte, et urge, ait, ut eorum me in numero habeat, qui nomen eius venerantur, exosculantur scripta. Hae nempe sunt eorum qui humaniores amant literas, curae, magnorum virorum gratiam eiusque signa assentatiunculis, aut quo tandem medio licet, aucupari indeque apud posteros nomina sibi conciliare atque favorem: quum magnis viris notum esse magna laus est, ab ijsque amari maxima. Novimus labores tuos adeo quidem concatenatas, ut etiam dilectissimis tuis ea negare jure possis quae aliàs quidem non negasses ulli. - Tibi ego Visiones hic meas, opus praeterit(atis), 5 somnia, nugas, sed quae ad seria ducunt, nugas tamen (in)eptias, fatuitates, stultitias, et modo non insani hominis (del)iria, sed serius ab occasione mitto: non ut rarissimum munus otium his insumas, sed ut corrigas clientem, et moderatissimo Consilio tuo inconsideratissimae dicacitatis fervorem impostemiti doceas cohibere. - De Boeclero nostro indies turbulentiora rumor etiam literae ferunt; is nunc Dantisci agere dicitur. miseret me viri exercitatissimi in literis; atque ô tam didicisset natare, non adversis adeo navigasset aquilonibus. omnia perscrutatus ipse Taciti summi viri arcana, 36 ferre parem, parcere minori, inservire tempori, diffidere sibi, maiorum cedere gloriolae non voluit anne potuit? plura et speciosa dicuntur, 37 omnia fere ad culpam, pro innocentia nihil. (401 ν) doleo certe hominis, qui consultius putabat tam commodam relinquere sedem, quam quod demum vere philosophi erat, vincere semet ipsum atque conservare. - Pro Serenissimo Duce AUGUSTO, Hero meo, vota exsolvo et quotidiana; cuius valetudo tam etiam adversa mihi est, ut sub spe facta de moderando immoderatae conductionis canone pene concidam. Sed iam vale Reverendissime Praesul et me imposterum etiam dilige.

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Also wohl die Ausgabe 1650 (Dünnhaupt Nr. 1 Ia-I.IIb). Die Stellen in spitzen Klammern sind wegen des defekten Papiers ergänzt. Boeckler hat sich in Kommentaren, Reden und Dissertationen mehrfach mit Tacitus beschäftigt, u. a. am Beispiel des Tiberius die Phänomene des Prinzipats und der machiavellistischen »dissimulatio« entwickelt: vgl. die knappe Würdigung bei Else-Lilly Etter: Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Basel-Stuttgart 1968 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 103), S. 160-61. Bezieht sich offenbar auf Gerüchte um Boecklers prekäre Position in Schweden.

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Reverendae Dignitatis & Excellentiae Tuae obsequentissimum J. M. Moscherosch. Argentinae Non. jul. 1650. (angeklebtes Blatt, fol. 402: Empfangsdatum: 24. August 50; - von Moscheroschs Hand:) His obsignatis Domini Boecleri adfinis Schallesius 38 refert ipsum á Regina contra malévolos defensum restitutumque ac in Aulam adscitum.

Besten Gruß, hochehrwürdiger und hervorragendster Greis, herausragendster Vorsitzender, bester Gönner. - Genau bei seiner Abreise sagte unser Franzius, die lautere Brust: »Und Dich, mein lieber Moscherosch, bitte ich, übermittle dem großen Freund meines Großvaters, dem großen Doktor Andreae, gelegentlich diese juristischen Seiten als Zeugen meiner Dienstfertigkeit und dränge ihn«, sagte er, »mich zu denen zu zählen, die seinen Namen verehren, seine Schriften aber küssen. Denn das ist doch die Sorge der Liebhaber der humanistischen Wissenschaft, die Zeichen des Wohlwollens großer Männer durch kleine Schmeicheleien oder, wie es sonst endlich möglich ist, zu erlangen und dadurch bei den Nachkommen sich einen Namen und Gunst zu verschaffen: da doch großen Männern bekannt zu sein ein großes Lob ist, von ihnen geliebt zu werden das größte«. Wir wissen freilich, daß Deine Arbeiten Dich so sehr gefesselt halten, daß Du selbst den am meisten Geliebten von den Deinen das versagen könntest, was Du sonst freilich keinem verweigert hättest. Ich schicke Dir hier meine Visiones, ein Werk der Vergangenheit, Träume, Nichtigkeiten, aber solche, die zum Ernsten hinführen, trotzdem Spielereien, Torheiten, Dummheiten, und Wahnwitz eines gerade noch ernstzunehmenden Menschen; freilich schicke ich sie recht spät infolge der (mangelnden) Gelegenheit: nicht damit Du Deine Zeit, das kostbarste Geschenk, auf sie verwendest, sondern damit Du Deinen Schützling verbesserst und ihn mit Deinem höchst maßvollen Rat belehrst, den wilden Drang seiner Geschwätzigkeit künftig zu zügeln. Über unseren Boeckler berichten das Gerücht, sogar schriftliche Nachrichten Tag für Tag Verworreneres; er soll sich nun in Danzig aufhalten. Mir tut der in der Wissenschaft höchstbewanderte Mann leid; O wenn er doch soweit gelernt hätte zu schwimmen, nicht aber gegen widrige Stürme angesegelt wäre. Er selbst hat alle geheimen Künste des Tacitus, des großen Mannes, durchforscht: den Ebenbürtigen zu ertragen, den Minderen zu schonen, den Zeitumständen sich anzupassen, sich zu mißtrauen und dem kleinen Ruhm von Größeren zu weichen - wollte oder konnte er es nicht? Noch mehr Spektakuläres wird gesagt, alles ihn zu beschuldigen, nichts für seine Unschuld. Gewiß tut mir der Mensch leid, der es für besonnener hielt, eher einen so bequemen Sitz zu verlassen, als, was schließlich wahrlich Zeichen philosophischer Haltung gewesen wäre, sich selbst zu bezwingen und zu erhalten. Für den allergnädigsten Herzog August, meinen Herrn, hege ich die besten Wünsche, und zwar

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Samuel Schallesius (1617-76), der Sohn des gleichnamigen Straßburger Geistlichen (1585-1638). Er zählte zum engsten Umkreis der Straßburger Tannengesellschaft, war seit 1643 Lehrer am Straßburger Gymnasium, ab 1660 Professor der Beredsamkeit und Schwager Boecklers, der 1639 seine Schwester Susanna geheiratet hatte.

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täglich; sein (schlechter) Gesundheitszustand kommt mir so in die Quere, daß ich unter der von ihm gewährten Hoffnung, den unmäßigen Mietpreis zu senken, beinahe zusammenbreche. Aber - noch einmal - leb wohl, ehrwürdigster Vorsitzender und liebe mich auch fürderhin. - (Nachschrift:) Nachdem dies versiegelt ist, berichtet mir Schallesius, ein Schwager Boecklers, daß er von der Königin gegen Überwollende verteidigt, rehabilitiert und wieder an den Hof zurückgerufen worden ist.

5. Ibid. fol. r/v: 15.3.1651 [Empfangsdatum links oben: 20.3.51] U.R. A.N.I.E. - Raro Principem, adeoque non nisi jusso adeundum, suum vero munus candide obeundum cuivis esse, pridem in aula hospes 39 didici: Experientia quoque viros magnos, quibusque pro patria cura omnis atque labor incumbit, Uteris non moleste nimis habendos quasique obruendos esse doceor. Hinc non nisi urgentibus de causis tibi scribo Senex Venerande. Sed quae urgentes ill(a)e caussae? dices. Iterum aliquem montes peperérejj>artum, nec meum sed subreptitium. Wimphelingius scilicet prodit cum Episcopis nostris. Ubi enim ipse nihil habeo luce dignum, hoc tarnen ago ut luce dignum aliquid edam quamvis alienum. - Promisi Editionem operis Principibus duobus Canonicis Brunovicensibus; dissuasere (so!) inter alios Harsdorfferus noster, quod scilicet obruantur dedicationibus benignissimi Principes illi, quod argumentum particulare sit et peregrinum, adpono verba: la obra que quiere dirigir alos Prencipes de Braunswig no viendra agradescido, essendo cosa déla historia particulare y de eglesia, en essas quales los moços no hallan gusto, y tanbien quedan pastimados de tales offrecimientos, en modo que V. M. hara mejor de animarse a otro árbol. Ideoque motus animatusque novo nostri Episcopatus Administratori Principi Catholico 41 opus inscripsi, non alia de causa (403 v), quam ut Wimphelingo sua sic authoritas non imminuta videatur sed recenter stabilita: insunt enim veritatis testimonia non obscura, nec non ponderosa, quibus Catholici homines talia negare volentes convinci possunt, et hoc est quod hic quaero, ut scilicet ipsius manu destruatur humanarum traditionum structura. Debeo autem exemplar tibi, quia me sic arbitrar paterne diligis utinam tibi ut par est obsequentem. - Boeclerum historicum regium annua 1600 Imperialium pensione honoratum certum est: sed quam sint contraria fervidum summi viri ingenium et frigidissima Aulae affectio, tempus docebit, ô miras et metuendas [i. O. griechisch:] antiperistaseos effectus! - Monumentum Andreanis meritis debitum 42 magno cum plausu & voto pro T(ua) R(everenda) D(ignitate) accepi venerar etiam atque adoro. Verum jubes sub finem tuarum, ut eodem te loco quo Styrzelium 43 habeam: Sed is mihi pater est: bonis avibus: sit ita: et quamvis modestia cohiberi debeam; nec ita proruere, proruo tarnen

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Bezieht sich auf Moscheroschs Jahre als Hofmeister bei Johann Philipp II. von LeiningenDagsburg 1626-1628. S.Anm.25! Franz, Herzog von Lothringen, Dekan am Münster zu Straßburg und Generaladministrator des Bistums Straßburg. J. V. Andreae: Fama Andreana reflorescens. Straßburg 1630. Johann Georg Styrzel (1591-1668), Bürgermeister von Rothenburg o.d.T. Er stand außer zu den Straßburgem (Gloner, Moscherosch, Rompier u.a.) in enger Verbindung zu Harsdörffer und den Pegnitzschäfern (zahlreiche Begleitgedichte in ihren Werken); sein umfangreicher Briefwechsel, aus dem nur weniges gedruckt ist (Briefe an Augustus Buchner) liegt unter anderem in Hamburg, Wolfenbüttel (die Briefe an Andreae: MS 10.5. Aug. 2°, fol. 427-51; 11.12. Aug. 2°, fol. 479-576), Augsburg und Rothenburg. 1652-55 erschienen in Nördlingen von ihm drei Bändchen mit lat. Gedichten (u.a. an Rist). Eine Spezialuntersuchung über Styrzel wäre dringend erwünscht.

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in amplexus tuos, non hos mereo, sed a benignitate tua a benevolentia tua ab amore tuo mihi promitto; proruo ut ad patrem filius, nec id repugnaturum puto legibus honestatis, nunquam enim frustra apud eminenteis authoritate viros ingenuus agit animus: hunc deus mihi servet, qui te R(everendae) A(mplitudinis) P(ater) Patriae documentum diu diu superesse velit. vale. Argentinae Idibus Martijs. 1651. Reverendae Amplitudinis Dignitatis & Excellentiae Tuae obsequentissimus cultu servus Moscherosch.

HIMMLISCHER! Vor langer Zeit als Gast bei Hofe habe ich gelernt, daß man an einen Fürsten selten, und dann nicht ohne Befehl herantreten darf, daß aber dessen eigene Gabe von jedem in reiner Gesinnung in Empfang genommen werden muß. Ebenfalls durch eigene Erfahrung werde ich belehrt, daß man großen Männern, die zudem noch von aller Mühe und Sorge um das Vaterland belastet sind, mit einem Brief nicht beschwerlich fallen darf und sie gleichsam damit nicht überrennen darf. Deshalb schreibe ich Dir auch aus dringenden Gründen, verehrungswürdiger Greis. »Aber was sind jene dringenden Gründe?«, wirst Du sagen. Wiederum gebären die Berge, aber nicht einen eigenen Sprößling, sondern einen erschlichenen. Denn der Wimpfeling mit unseren Bischöfen kommt heraus. Wo ich selbst nämlich nichts des Lichtes Würdiges habe, laß ich mir trotzdem angelegen sein, etwas des Lichtes Würdiges herauszugeben, wenn auch etwas Fremdes. Versprochen habe ich die Ausgabe des Werks den Braunschweiger Domherren; unter anderen riet aber unser Harsdörffer davon ab, weil nämlich jene gütigen Fürsten von Widmungen bestürmt werden und weil der Inhalt speziell und fremd sei; ich füge seine Worte hinzu: »Das Werk, das Sie den Fürsten von Braunschweig zukommen lassen wollen, wird keinen Dank ernten, da es von spezieller Geschichte und Kirchengeschichte handelt. An solchen Dingen aber finden die jungen Menschen keinen Geschmack, und außerdem sind sie solcher Angebote überdrüssig, so daß Sie besser daran täten, sich einem anderen Inhalt zuzuwenden (wörtlich: sich von einem anderen Baum beleben zu lassen)«.44 Dadurch bewegt und ermutigt habe ich das Werk dem neuen Verwalter unseres Bistums, einem katholischen Fürsten gewidmet, - aus keinem anderen Grund, als daß dem Wimpfeling seine eigene Autorität nicht vermindert, sondern von neuem bestätigt erscheint. Denn es finden sich darin Zeugnisse der Wahrheit, und zwar keine dunklen, auch nicht ungewichtige, mit denen die Katholiken, die solches verneinen wollen, überzeugt werden können, und das ist es, was ich hier zu erreichen suche, daß nämlich durch eigene Hand das Bauwerk menschlicher Traditionen zerstört wird. Ich schulde Dir aber ein Exemplar, weil - so glaube ich - Du mich väterlich liebst, der ich Dir doch hoffentlich, wie es billig ist, gehorche. Es ist sicher, daß Boeckler als königlicher Geschichtsschreiber mit einer Pension von 1600 Imperialen beehrt worden ist. Aber die Zeit wird lehren, wie gegensätzlich sind der feurige Geist des großen Mannes und die kälteste höfische Gefühlslage. O wunderliche und zu fürchtende Wirkungen 44

Die deutsche Übersetzung der spanischen Passage verdanke ich meinem Freiburger Kollegen Ernst Ulrich Grosse.

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der gegenseitigen Konkurrenz! Das Denkmal, das den Verdiensten der Familie Andreae gewidmet ist, habe ich mit großem Beifall und mit guten Wünschen für Deine verehrungswürdige Würde erhalten: ich verehre es sogar und bete es an. Du befiehlst aber gegen Ende Deines Briefes, ich solle Dich an dem Ort (meines Inneren) wie Styrzel halten. Der aber ist mir ein Vater, zum Zeichen des Glücks: So sei es, und wenn ich auch mich maßvoll zügeln sollte und nicht so hervorstürzen, so stürze ich doch in Deine Umarmung; ich verdiene sie nicht, sondern ich verspreche sie mir von Deiner Güte, Deinem Wohlwollen, von Deiner Liebe; ich stürze zu Dir wie ein Sohn zu seinem Vater, und ich glaube nicht, daß dies den Gesetzen der Ehrbarkeit widerspricht. Denn niemals handelt ein aufrichtiger Geist vergebens bei Männern, die mit ihrer Autorität herausragen: Gott möge mir diese Gesinnung bewahren, die möchte, daß Du, verehrter und großmächtiger Vater, als Zeugnis des Vaterlandes noch lange, lange übrig bleibst. 6. Ibid. fol. 404: 16.10.1651 Reverendissime Praesul Patrone honorande. - Quae de Wimphelingij nuper familia submonuisti, pergrata fuere, gratiora si mentissimo einen novus aliquas Phoenix apud vos successurus. Eum Selestadij natum, educatum mortuum monumenta evineunt: agnatos alio migrasse dubium mihi non est, et id ipsum forte norunt ipsi. Supersunt adhuc Wimphij in praedicto Selestadio, curiose de horum familia inquiro, utrum conciliavero eventus docebit. - De Boeclero multa sed vaga & incerta, ideo tacenda, certiora forsan ab ipso, qui id quidem per D. Schallerum 45 sed dudum promisit. - Praesentibus socium adjunxi Politicum cum Gymnasmate Gumpelsheimeri. 46 Ita fata: aliorum ego famae vivo, meos labores negligo nescio quem ipsis olim vindicem habiturus. - Vale Reverendissime meritissime de Repubblica) Praesul, Patrone Patris instar venerande, & mihi fave. - Reverendissimae Excellentiae Tuae obsequijs devinctissimo Moscherosch. -Argentinae 16. 8bris 1651.

Verehrungswürdigster Generalsuperintendent, hochzuehrender Gönner. Was du neulich über die Familie Wimpfelings angemerkt hast, war mir sehr willkommen, umso lieber, wenn aus seiner höchstverdienten Asche bei Euch irgendein neuer Phoenix erstehen wird. Die Dokumente belegen, daß er in Schlettstadt geboren, erzogen und gestorben ist. Ich habe keinen Zweifel, daß Verwandte anderswohin gezogen sind, und eben dies wissen sie vielleicht selbst. Es gibt noch »Wimphii« in dem oben erwähnten Schlettstadt; ich ziehe über deren Familie genaue Erkundigungen ein; ob ich etwas erreiche, wird der Ausgang lehren. Über Boeckler gibt es Vieles, aber Ungenaues und Unsicheres, deshalb zu Verschweigendes, Gewisseres vielleicht von ihm selbst, der dies nämlich über Doktor Schaller schon lange versprochen hat. Dem Vorliegenden habe ich als Gefährten beigefügt den Politicus cum Gymnasmate des Gumpelzheimer; so ist mein Schicksal; ich lebe für den Ruhm anderer, meine eigenen Arbeiten aber vernachlässige ich, irgendwen vielleicht einst als ihren Verteidiger findend. 45

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Wohl der Bruder des gleichnamigen Münsterpfarrers, der Professor der praktischen Philosophie an der Straßburger Universität Jacob Schaller (1604-1676): s. ADB 30 (1890), S. 561. Vgl. Dünnhaupt Nr. 56/57.

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III. Moscheroschs Korrespondenz: eine Übersicht Die folgende Liste der bisher bekannten Briefe von und an Moscherosch tritt ergänzend einstweilen an die Stelle der knappen Angaben bei Frels47 und soll zugleich die weit verstreut gedruckte Korrespondenz registrieren. Meine Aufstellung beruht allerdings nicht auf einer abschließenden systematischen Umfrage in den europäischen Bibliotheken und Archiven. Sie versteht sich nur als vorläufige Bilanz des Forschungsstandes, wobei die Ergebnisse einzelner gezielter Erkundigungen berücksichtigt sind (u. a. betreffend den Katalog der Arbeitsstelle für gedruckte Briefe des 17. Jahrhunderts in Wolfenbüttel sowie die Berliner Zentralkartei der Autographen). Erfaßt werden auch die Widmungsepisteln, sofern sie an bestimmte Adressaten gerichtet sind. Ich notiere jeweils, wo die Briefe vor allem ausgewertet sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Nachweise) und wo sie ggf. abgedruckt wurden. Bei gedruckten Briefmanuskripten folgt ein summarischer Hinweis auf den Standort der Handschriften (nach den Angaben der diesbezüglichen Publikation), bei ungedruckten Briefen wird, wo möglich, die jeweilige Signatur ergänzt. Bei Personen, die in der bisher vorliegenden Moscherosch-Literatur nicht oder kaum erwähnt sind, füge ich eine knappe Erläuterung hinzu. Moscheroschs Werke sind abgekürzt mit der jeweiligen Werknummer bei Dünnhaupt (wie Anm. 9, hier Sigle D) zitiert. Im Fall der Epigramme beziehe ich mich durchweg auf die Sammelausgabe von 1665 (D Nr. 26 c). Die beiden Teile der Gesichte werden jeweils mit »I« bzw. »II« gekennzeichnet. Für die Hamburger Handschriften wäre jeweils zu vergleichen der Katalog von Nilüfer Krüger: Supellex epistolica Uffenbachii et Wolfiorum. Bd. 1/2 Hamburg 1978 (Katalog der Handschriften der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg; Bd. 8). Abkürzungen: Schäfer: wie Anm. 1; Kühlmann/Schäfer: wie Anm. 2; We.: Widmungsepistel (wenn nicht anders angegeben, im Vorspann des genannten Werkes); Aw.: Auswertung des bzw. der Briefe, zumeist mit Zitaten; Ad.: Abdruck; P.: Standort der Handschriften.

Briefe von Moscherosch 1) 1 0 . 2 . 1 6 2 8 - 1 0 . 1 0 . 1 6 2 8

Sechs Briefe (deutsch und lat.) an Johann Philipp von Leiningen-Dagsburg und Lucas Kupfferschmidt Ad: Arthur Bechtold: Moscherosch auf der Hartenburg, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. 41 (1928), S. 387^414, spez. 399ff. P: Fürstl. Leiningisches Archiv zu Amorbach

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Wilhelm Frels: Deutsche Dichterhandschriften von 1400-1900. Leipzig 1934, S. 201 (Nachdruck Stuttgart 1970).

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2) 15.6.1630 Lat. We. an die Straßburger Akademie, in: Epigrammata 1665, S. 3-5 3)3.5.1636-22.10.1640 Acht lat. Briefe an Samuel Gloner A: Johann Wirth: Moscheroschs Gesichte Philanders von Sittewalt [...]. Diss. Erlangen 1887, S. 54-61 P: Thomasarchiv/Stadtarchiv Straßburg 4) 10.12.1639 Lat. We. an Ernst Bogislaus von Croy und Arschot, in: Epigrammata 1665, S. 121-123 Aw (mit Übers.): Kühlmann/Schäfer, S. 116-117 5) 1643 (undat.); 20.9.1643 - 16.6.1644 Vier lat. Briefe an Johann Heinrich Boeckler A: Reifferscheid (wie Anm. 6), Nr. 515, 517, 518, 520 P: Ub Hamburg, Wolf-Uffenbachsche Sammlung 6)20.7.1642 We. an den Straßburger Theologen und Präses Johann Schmidt, in: Insomnis Cura Parentum 1643 (D Nr. 24) 7) Undat. »Zur Zeit der Schaaffschur« 1643 We. an den Verleger Johann Philipp Mülb, in: Gesichte II (D Nr. I.II), S. 11-19 8) 11.5.1643 Wa. an »Friedwollfen von Steinsall zu Flonheim« (d. i. Friedrich Wolfram von Steinsall), in: Gesichte II (D Nr. I.II), S. 178-185 9) 12.6.1643 An den Straßburger Magistrat Ad: Schäfer, S. 129 P: Stadtarchiv Straßburg 10)30.3.1645 An Axel Oxenstierna Ad: Reifferscheid (wie Anm. 6), Nr. 521 P: Reichsarchiv Stockholm

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11) »Uff Friedrichs Tag« (18728.7.) 1645 We., deutsch und franz., an Bernhard Friedrich, Sohn des in schwedischen Diensten stehenden Obristen Friedrich Moser von Filseck, Gubernators von Benfelden, in: Anleitung zu einem adelichen Leben (D Nr. 27) 12) 18.8.1645 Französisch an Harsdörffer, in: Epigrammata 1665, S. 102-109 Aw (mit Übers.): Kühlmann/Schäfer, S. 118-122 13) 26.7.1646 An Herzog Ludwig von Anhalt-Köthen Ad: Krause (wie Anm. 10), S. 60-61 P: Heimatmuseum Kothen 14) 29.8.1646 (an Rist) Aus Straßburg ohne Absender und Adressat, in: Gesichte II, 1650 (D 1 .II b), S. 901/02, Nr. V Nimmt Bezug auf Rists Erwähnungen Moscheroschs in Poetischer Schauplatz, 1646, abgedruckt ibid. S. 902, Nr. VI 15)3.7.1648 (an A.C.) Auszug, lateinisch, aus Straßburg ohne Absenderund Adressat, in: Gesichte II, 1650 (D 1 .II b), S. 910, Nr. XXI (Moscherosch) verwahrt sich gegen den ihm von Rist verliehenen Titel eines »Syndicus Reipublicae«. Vgl. zum Kontext unten die Briefe an Moscherosch, bes. Nr. 7! 16) 4.10.1648 Lat. We. an Herzog August von Braunschweig-Lüneburg, in: Epigrammata 1665, S. 57-62 Aw: Kühlmann/Schäfer, S. 195 17)31.10.1648 Lat. We. an die Brüder Joseph, Nicolaus und Friedrich Junta (= Junt, Jundt),48 in: D.E.R. Epistola. Imago Reipublicae Argentinensis (D Nr. 35) 48

Die Adressaten der Widmung waren junge Studenten, Mitglieder einer Straßburger Ratsfamilie: Joseph Junta, immatrikuliert am 16.4.1647, Nicolaus J., immatr. 27.3.1649, Dr. Med. 1658 (vgl. Knod, wie Anm. 22,1, S. 324,328 und II 135). Von Nicolaus J. stammt ein »Exercitium Academicum De Pace Regni Humani Sub Praesidio D. Joh. Seb. Gambsii [...] Hist. Et Eloquent. Prof. Ordinarii«. Straßburg 1649 (HAB Wolfenbüttel 34,16. Pol., fase. 20). Zur Familie vgl. Johannes Wallmann: Philipp Jacob Spener und die Anfange des Pietismus. Tübingen 1970, S. 85.

Johann Michael Moscherosch in den Jahren 1648-1651

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18) 13.12.1648-16.10.1651 Sechs lat. Briefe an Johann Valentin Andreae (s. o.) 19) 23.12.1648 We. an den Rat, die sog. Einundzwanziger, der Stadt Straßburg, in: Tutschland Jacob Wympfflingers [...]: D Nr. 361 20) »Ipsa Rogationum Vigilia« (d. i. vor dem 5. Sonntag nach Ostern) 1649 Lat. We. an den Rat in Colmar, in: Jacobi Wimphelingi Cis Rhenum (...): D Nr. 36 II 21)4.10.1649 Lat. an Polycarp Heyland, den Gesandten Herzog Augusts beim Nürnberger Friedenskongress, in: Epigrammata 1665, S. 96-101 Aw (mit Übers.): Kühlmann/Schäfer, S. 97-99 22) undatiert 1650 We. a. Karl Gustav, Pfalzgraf bei Rhein (= von Pfalz-Zweibrücken, Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, Neffe Gustav Adolfs), in: Gesichte I, Bl. 2ff. (unpag.): D I.la 23) ebd. lat. We., undatiert, an Robert Königsmann, vor Gesicht I 1 (unpag.) Bl. 25 v. 24) ebd., lat. We., undatiert, an Martin Zeiller,49 vor Gesicht I 2, S. 42 25) ebd. lat. W, undatiert, an Balthasar Venator, vor Gesichr I 3, (S. 102)

49

Der Ulmer Schulinspektor und Publizist Martin Zeiller (1589-1661) zitierte Moscherosch häufig in den eigenen Werken, vor allem im Blick auf die gemeinsame Tradition der Reichsstädte. Moscherosch lieferte zu Zeillers Ein hundert Dialogi [...]. Ulm 1653, ein Begleitgedicht (S. Kühlmann/Schäfer, S. 214). Andreae schickte seinen »Theophilus« auch an Zeiller, worauf sich dieser in zwei Briefen bedankte (Hs. Wolfenbüttel, MS 10.5. Aug. 2°, 130, sowie 11.12. Aug. 2°. 357). Zu Zeiller ausführlich W. Kühlmann: Lektüre für den Bürger, Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke Martin Zeillers, in: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Vorträge und Referate anläßlich des 4. Jahrestreffens des Internationalen Arbeitskreises für Barockliteratur. Hg. von Wolfgang Brückner u.a. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 13(/14). Wiesbaden 1985, S. 917-934.

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26) ebd. lat. We., undatiert, an Johann-Leonhard Weidner, »Prorector Noviomagensis«,50 vor Gesicht 14, (S. 162) 27) ebda. lat. We., undatiert, an Johann-Peter Waydtmann, »S.S. 1.1. Cand. & C. C. Aul. adfinis exoptatissimus«,51 vor Gesicht 15, (S. 280-81) 28) ebda. lat. We., undatiert, an Johann Rist, vor Gesicht 16, (S. 332) 29) ebda, franz. We., undatiert, an Möns. Abraham Exter, »Baillif au Baillage de Hagenau«,52 vor Gesicht 17 Poetica< 19 (1987).

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des historischen Subjekts im Spannungsfeld allseitiger sozialer, sprachlicher und formspezifischer Bedingtheiten zu analysieren. Andererseits ist nicht zu bezweifeln: So eindeutig wie wohl niemals sonst in der deutschen Literaturgeschichte erweist sich das frühneuzeitliche Schrifttum als rückgebunden an institutionalisierte Formen von Rede und Schrift. Letzteres gerade im Horizont von »Renaissance« und »Reformation«, die beide auf je verschiedene Weise die Autorität des geschriebenen Wissens neu zur Geltung brachten. Erst recht stimulierte das literarische Konzept des europäischen Humanismus, ausgerichtet an den Forderungen von imitatio und aemulatio, den Rückgriff auf bedeutungsstiftende Praetexte, durch die das Eigene im Fremden entdeckt und sichtbar gemacht wurde.2 Dies aber gerade nicht in einem besinnungslosen Rückfall in den imaginären vorpersonalen Strom der Wörter, sondern in der theoretisch bedachten Strategie einer historischen >HorizontverschmelzungbestialischeMempsimoiria< parat, die Unzufriedenheit der Menschen mit ihrem Stand und ihrer Lebensform. 28 Daß diese Antwort systematisch unbefriedigend war, ergibt sich daraus, daß die Glücksbekundungen der Tiere, die nicht mehr Menschen werden wollen, zuletzt mit einem großangelegten Gegenentwurf entkräftet werden. Unter der Marginalie »Des Menschen vortheil« läßt Rollenhagen die moralische und metaphysisch-religiöse Bestimmung des Menschen in Gottes Schöpfung vortragen. Was die in Tiere verwandelten Menschen sich wünschen und nur als Tiere erleben dürfen, wird hier als Reflex sündiger »Bauchsorge« denunziert (I, 1235—1254):29 27

28

29

Prototypisch selbstverständlich Giovanni Pico della Mirándolas Traktat »De dignitate hominis«; Lateinisch-deutsche Ausgabe, übers, von Norbert Baumgarten. Hg. von August Buck. Hamburg 1990 (Philosophische Bibliothek, Bd. 427); dazu mit weiteren Belegen im größeren Zusammenhang das souveräne Werk von August Buck: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg-München 1987, spez. S. 253-265; hier auch zu Montaignes Skepsis, der wie Plutarch und die Rollenhagenschen Tiere gegen die anthropologische und moralische Selbstüberhebung des Menschen polemisiert; die argumentative Instrumentalisierung des Gegensatzes »Tier-Mensch« prägt weite Bereiche der sozialdidaktischen Literatur des 16. Jahrhunderts; vgl. exemplarisch W. Kühlmann: Staatsgefáhrdende Allegorese in Sebastian Francks »Geschichtsbibel« (1531). In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. 24 (1983), S. 51-76. Der Argumentationskomplex gehörte zum eisernen Bestand schon der antiken Popularphilosophie, allerdings ohne ständepolitische Akzentuierung, und fand von da aus auch den Weg in viele antike Gedichte; vgl. exemplarisch zu (Horaz, sat. I, 1) Eduard Fraenkel: Horaz. Darmstadt 1967, S. 108-116. Vor allem die ersten Verse weisen voraus auf Simon Dachs bekanntes Gedicht »Perstet amicitiae semper venerabile Foedus!: »Der Mensch hat nichts so eigen [...].«

Kombinatorisches

Schreiben

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Des Menschen angsicht / stim vnd wort / Jst ein tewr schätz / vnd edler hört. Dadurch wird freundschafft erst gemacht / Dardurch wird frag / vnd klag anbracht. Dadurch gibt man auch trost / vnd Rath / Dauon das hertz sein leben hat. Der Mensch lernet von Gott / vnd ehr / Vnd gibt von Tugent gute Lehr. Dazu man Kirch / Hoff / Haußstand hat / Jm frieden wartet Gottes gnad / Biß sich die Seel vom Leib abscheid / Vnd leb hemach in ewigkeit. Von dem allen die Thier nichts wissen / Sind nur auff jhr Bauchsorg geflissen. Darumb ist auch jhr angesicht / Alzeit nach der Erden gericht / Jhrer wolfart grund ist die Erd / Den Himmel halten sie vnwerd. Der Mensch erhebt sein Heupt zu Gott / Gott hilfft jhn auch aus Noth vnd Tod.

Allerdings erscheint auch an anderer Stelle - im Blick auf menschliche Aggression - gerade das Tier, das Seinesgleichen nicht bekämpft, moralisch wertvoller als die >Krone der SchöpfungSimplicissimus< aufgrund der astrologischen Tradition. In: Tradition und Ursprünglichkeit in Sprache und Literatur. Vorträge, gehalten auf dem III. Internationalen Germanistenkongreß in Amsterdam vom 25.-28. August 1965, S. 169-171, vgl. auch: Planetensymbolik im barocken Roman. Versuch einer Entschlüsselung des >Simplicissimus TeutschSatyrisch< im Titel [des Satyrischen Pilgram W. E. Sch.] bedeutet keinesfalls >nach Art einer Satyre, spöttischSatyrus< an.« (Womit der Sachssche Satyr im Sinne Rosenfelds gemeint ist). Die Erstlingsschrift Grimmelshausens hat demnach nichts mit der Gattung der Prosasatire zu schaffen und ihre Titelbildfigur, der Satyr mit dem Stab, ist weit entfernt von jeder Verwandtschaft mit der traditionellen Galionsfigur der Satire - ein spezieller Geist, der mit dem Vorzug der »Unverdorbenheit« (Rosenfeld) nach Schölte noch zusätzlich »die Gabe des tiefen Schauens« verbindet. 11 Er habe nämlich, wie sich auf dem Titelkupfer zum Wunderbarlichen Vogelnest zeige, die Fähigkeit, durch den äußeren Anschein der Dinge hindurch in wunderbarer Weise den Kern und das Wesen aller Dinge zu erkennen: ein mythisches Wesen, dem halbgöttliche Eigenschaften zugefallen sind.

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Die Ausführungen Hans Ehrenzeliers (wie Anm. 7), S. 48-50, und jüngst noch Gerhart Mayers (Zeitschrift für deutsche Philologie Bd. 88 (1969), S. 516) zum Simplicissimus-Titelkupfer meinen wir in dieser notwendig gedrängten Darstellung übergehen zu dürfen, da sie von den Thesen vor allem Scholtes ausgehen und nur hinsichtlich einzelner Bildelemente neue Hypothesen einführen. Welche bei Gerhart Mayer sodann zum »unbestechlichen Röntgenblick« wird (wie Anm. 10), S. 516.

Der Satyr und die Satire

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Freilich erkannte Schölte schon ein Bedenken, das der von Rosenfeld erstellten und von ihm akzentuierten These entgegensteht, die Tatsache nämlich, daß sich Grimmelshausen in der formalen Komposition des Satyrischen Pilgram nun gerade von der »Doppelzüngigkeit« des Pilgrims bei Sachs inspirieren ließ. Die Kapitel seines Traktats, in dem er von den erhabensten Themen bis zu den niedrigsten, von Gott bis zu den Bettlern »diskuriert«, sind in der Abfolge »Satz«, »Gegensatz« und »Nachklang«, sprich in der Reihenfolge (positive) These, (negative) Antithese und (ausgleichende) Synthese aufgebaut. Daß diese dialektische Argumentationsfolge dem scheinbar widersprüchlichen Verhalten des Pilgers nachgebildet ist, zeigt schon der Titel Satyrischer Pilgram/Das ist: Kalt und Warm [...]. Demnach kann nicht nur der Satyr mit seiner überlegenen Weisheit, sondern muß auch der Pilger, zumindest in bestimmter Hinsicht, Vorbild für die Art der im Traktat Grimmelshausens vorgenommenen Beurteilung der Dinge dieser Welt sein. Schölte überspielte diesen Widerspruch, indem er wie folgt argumentierte: »Auf dem Kupfertitel der Schrift sieht man zur Linken den Pilgram mit seinem Stab in kontemplativer Haltung, zur Rechten aber den Satyrus mit Hörnchen an der Stirn und Geißfüßen, der belehrend mit seinem Stock auf die Erscheinungen des Weltalls hinweist. Der Pilgram belehrt nun insoweit ihn der Satyrus auf die Doppelzüngigkeit der Erscheinungen und Begriffe, auf ihr Für und Wider und die daraus hervorgehende unmäßliche Meinung aufmerksam macht.« Somit bleibt es grundsätzlich bei der These Rosenfelds: der unverdorbene, der tief schauende Satyr ist der Geist der Erzählung in Grimmelshausens erster Schrift. Die Autorität Scholtes und das Fehlen einer überzeugenden Alternative verschafften dieser These Geltung bis zur Stunde.12 III Diesen Ergebnissen einer sich über Generationen erstreckenden Forschungsarbeit gegenüber sind wir der Meinung, daß sie durch eine Reihe methodischer Schwächen bedingt und in ihrem Wert beeinträchtigt sind. Dazu gehört: 1. daß sich die Untersuchung in allen Fällen auf die Satyrfiguren der simplicianischen Schriften Grimmelshausens und des entlegenen Vorbilds bei Hans Sachs beschränkt. Die Satyrn gleicher Gestalt auf den Titelblättern zahlloser zeitgenössischer Schriften der satirischen, bukolischen und komischen Gat12

Eine gewisse behutsame Akzentverschiebung in der Deutung des Satyrs nahm Clemens Heselhaus vor. Zwar wiederholte Heselhaus für den Pilgram die These vom Satyr »als Sinnbild der satirischen Weisheit, die Doppelzüngigkeit zu erkennen und das Verborgene zu sehen«, was den Simplicissimus jedoch betrifft, wies er darauf hin, daß der Satyr von alters »ein Naturgeist« war »und als solcher, wie noch in Goethes Satyrosspiel, ein Sinnbild der primitiven Menschennatur.« Dieser Hinweis zeigt Ansätze zur kritischen Überprüfung der These von der »Weisheit« des Satyrs, die doch schwerlich mit der »primitiven Menschennatur« zu vereinbaren sein dürfte. Vgl. Clemens Heselhaus: Grimmelshausen. Der abenteuerliche Simplicissimus. In: Der deutsche Roman. Bd. I. Hg. von Benno von Wiese. Düsseldorf 1963, S. 62.

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tung sind außer acht gelassen. Offenbar brachte es die Ausstrahlung des noch ungebrochenen Mythos vom volkstümlichen Originalgenie Grimmelshausen mit sich, daß man eine solch isolierte Betrachtung verantworten zu können glaubte. Wir sind jedoch der Auffassung, daß, wenn man schon für Hans Sachs und Grimmelshausen einen Satyr sui generis postuliert, der außerhalb des Zusammenhangs der satirischen Gattung stehen soll, daß man dann zumindest nach dem Verhältnis dieses Satyrs zu dem bekannteren Typ des Satyrs in satirischen Schriften fragen sollte, um zu einer angemessenen ikonographischen und literarhistorischen Einordnung zu gelangen. 2. Was die bunt durcheinander gewürfelten Bildzeichen des SimplicissimusKupfers betrifft, so hat sich die Methode, welche die einzelnen Zeichen in Relation zu bestimmten Textabschnitten des Romans setzt (Halfter), nicht bewährt. Denn eine ganze Reihe dieser Zeichen sind - wie Schölte und Halfter selbst bemerkten - durchaus mehrfach beziehbar. Doch kann dieses Problem vorläufig noch zurückgestellt werden, da es in der gegenwärtigen Untersuchung keine Rolle spielen wird. 3. Der methodische Ansatz von Halfter, sich von den beiden ausgestreckten Fingern leiten zu lassen, kann nicht überzeugen. Wenn in der Spanne zwischen beiden Figuren die zentrale »Bildungsidee« des Romans beschlossen sein sollte, dann ist nicht einzusehen, weshalb einerseits das Wickelkind als Zeichen für den tumben Tor Simplicius stehen soll, ohne daß andererseits nun ein Bildzeichen für den verständig und welterfahren gewordenen Simplicissimus (etwa in der Figur des Einsiedlers) die beiden extremen Entwicklungsphasen sinnfällig aufeinander beziehen würde. Eine andere einleuchtende Relation zwischen Kind und Baum ist jedoch kaum denkbar. Deshalb haben wir an der verweisenden Funktion der Finger schlechthin Zweifel. IV Indem wir die genannten methodischen Unzulänglichkeiten zu vermeiden trachten, wenden wir uns zunächst dem Satyrischen Pilgram zu. Die Beschäftigung mit diesem frühen Traktat Grimmelshausens scheint deshalb unumgänglich, weil der Satyr dieser Schrift - vordergründig als Titelfigur, darüber hinaus aber als Verkörperung des Geistes, aus dem die Dinge der Welt beurteilt werden im Zug der bisherigen Untersuchungen zur Schlüsselfigur im Bemühen um das rechte Verständnis aller simplicianischen Satyrn geworden ist. Dabei wird es, wenn wir die Relation Satyr-Satire berücksichtigen wollen, nicht zu vermeiden sein, auf die schwierige Frage der Gattungszugehörigkeit dieser Schrift einzugehen, wenn sie auch nicht erschöpfend behandelt werden kann. Zuvörderst erlaubt es der inzwischen erreichte Forschungsstand, einen fundamentalen Irrtum Scholtes, der durch Grimms Wörterbuch verursacht sein dürfte,13 sehr schnell aus dem Wege zu räumen. Die Schreibweise »saty13

DWB8, Sp. 1810.

Der Satyr und die Satire

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risch« im Titel der Schrift (mit y statt i, wie in der heutigen Schreibweise) ist keineswegs auf ein volksetymologisches Mißverständnis zurückzuführen. Es ist die in allen Bereichen der Literatur, auch in dem der humanistischen Literaturtheorie und in den Poetiken, bis weit ins 18. Jahrhundert übliche Schreibweise. Sie gründet sich in der herrschenden Theorie von der Genesis der Gattung Satire, wie sie in den Vorreden und Kommentaren satirischer Schriften und in den Poetiken der Zeit bei der Besprechung der Gattung vorgetragen wurde. Nun gab es allerdings keine alleingültige Theorie vom Ursprung der Satire. Die Gattungsbestimmung blieb in den Epochen vom Humanismus bis zum Beginn einer neuen kritischen Besinnung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter anderem deshalb so vage, weil ein ganzes Bündel genetischer Theorien für den Gesamtbereich der Vers- und Prosasatire von Vorrede zu Vorrede und von Poetik zu Poetik tradiert wurde. Eine Ursprungstheorie fehlt jedoch in den seltensten Fällen: die, welche die Satire auf Spottlieder der Satyrn in mythischer Vorzeit zurückführte. Die Verwirrung in der Frage des Ursprungs und der Geschichte der Satire war ein Erbteil der römischen Gattungstheorie. 14 Schon Horaz hatte zwischen der heimischen Satura und dem griechischen Satyrspiel eine Verbindung hergestellt, in deren Folge der Satyr zum Erfinder der Satire wurde. 15 Die für die Humanistenpoetiken maßgebliche Formulierung dieser Ursprungstheorie stammt jedoch erst von dem spätantiken Dramatiker und Kommentator Evanthius (4. Jh. n. Chr.), dessen oft zitierter Traktat De Fabula (oder auch De Comoedia) dem Terenzkommentar des Donat als Einleitung diente.16 Wir zitieren seine Ausführungen zur Satire, weil sie, wie wir feststellen konnten, bis in einzelne Wendungen hinein in den Renaissance- und Barockpoetiken wiederkehren und nicht wenig dazu beitragen, auch die Figur des Satyrs recht zu verstehen.17 »Et hinc deinde aliud genus fabulae id est satyra sumpsit exor14

15 16 17

Die folgenden Ausführungen zur Geschichte der Satiretheorie stützen sich auf die Arbeiten von: J. W. Jollife: Satyre: Satura: ΣΑΤΥΡΟΣ, A Study in Confusion. In: Bibliothèque d'Humanisme et Renaissance 18 (1956), S. 84ff.; C.A. von Rooy: Studies in Classical Satire and Related Literary Theory. Leiden 1965, S. 186ff.; B.L. Ullman: Der gegenwärtige Stand der SaturaFrage. In: Die römische Satire. Hg. von Dietmar Korzeniewski. Darmstadt 1970 (Wege der Forschung, Band CCXXXVIII), S. 1-30. Die weitgespannte, materialreiche Darstellung der Entwicklung der Gattungstheorie von Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45. Jg., Sonderheft Forschungsreferate (Mai 1971), S. 275*-377*, kam mir erst nach Drucklegung vorliegender Arbeit zu Gesicht. In einzelnen Punkten werde ich mich auf sie beziehen können. Das gleiche gilt für die neu erschienene Dissertation von Günter Heß: Deutsch-lateinische Narrenzunft: Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literatur des 16. Jahrhunderts, München 1971 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters Bd. 41). Ars 221 ff.; vgl. C.A. van Rooy (wie Anm. 14), S. 189. S.J.W. Jolliffe (wie Anm. 14), S. 87, C.A. van Rooy (wie Anm. 14), S. 188. Vgl. Klaus Meier-Minnemann: Die Tradition der klassischen Satire in Frankreich. Themen und Motive in den Verssatiren Théophiles de Viau. Bad Homburg 1969, S. 26.

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dium, quae a satyris, quos in iocis semper ac petulantiis deos scimus esse, vocitata est, etsi alii aliunde nomen prave putant habere. Haec satyra igitur eiusmodi fuit ut in ea quamvis duro et velut agresti ioco de vitiis civium, tarnen sine ullo proprii nominis titulo, carmen esset.« 18 Von den Aussagen des Evanthius ist die Ursprungstheorie der Satire wesentlich bestimmt, wie sie dann bei den führenden Theoretikern der Satire im 17. Jahrhundert, zum Beispiel bei Daniel Heinsius wiederkehrt'9 (auch wenn Casaubonus zu Beginn des Jahrhunderts bereits deutlich die Unterschiede zwischen dem griechischen Satyrspiel und der römischen satura erkennt).20 Im literarischen Leben Deutschlands, das in der Theoriebildung vorerst von der humanistischen Gelehrsamkeit des Auslands, besonders der Romania, abhängig ist, verlassen sich die Satiriker, soweit sie sich überhaupt um die Entstehungstheorie kümmern, ebenfalls direkt oder indirekt auf die Leitsätze des Evanthius. Um diese These zu stützen, scheint es ratsam, Moscherosch ins Spiel zu bringen, einen Satiriker aus dem unmittelbaren geographischen und kulturellen Umkreis Grimmelshausens also, der, wie man weiß, die Anfänge des simplicianischen Erzählwerks entscheidend beeinflußt hat. Wir zitieren seine »Vorrede an den teutschgesinnten Leser« zu den Gesichten Philanders von Sittewald (nach der Ausgabe Straßburg 1650), auch wenn sie die Entstehungstheorie der Satire nicht mit jener Ausführlichkeit vorträgt, die in verschiedenen deutschen Poetiken der zweiten Jahrhunderthälfte anzutreffen ist:21 Und zwar mercke ich fürs Eine fast wohl; daß dir/ einem gut rund=teutschen Mann/ der Name und die Wort der Uberschrifft: Satyrischer Gesichte/ nicht recht in will. Darumb so wisse/ das wort Satyrisch komme her vom lateinischen Satyricus; Satyra, welches (viel andere den Gelehrten bekandte vermeynte bedeutunge hie zu geschweigen) [vgl. Evanthius: etsi alii aliunde nomen prave putant habere, W. E. Sch.] eigentlich ist/ Ein Lied/ Eine solche rede; da man zu genügen alles das frey herauß sagt/ und zu verstehen gibt/ was einem umbs hertz ist. Da man kein blatt fürs maul nimbt; sondern die eingerissene Laster und Hilpers=griffe ungeschewet entdecket/auffmutzet, durch die hechel ziehet; jhnen das gröbst herunder machet;

18 19 20

21

De com. II, 5; s. P. Wessner: Aeli Donati Commentum Terenti. Bd. I. Leipzig 1902, S. 16/17. Daniel Heinsius: De Satyra horatiana libri duo. Leiden 1629. Isaac Casaubonus: De satyrica Graecorum poesi et Romanorum satira. Paris 1605. Vgl. George L. Hendrickson: Satura tota nostra est. In: Classical Philology XXII ( 1927), S. 60; J. W. loliffe (wie Anm. 14), S. 93; Irene Behrens: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie Nr. 92, Halle 1940, S. 129. Jürgen Brummack (wie Anm. 14), S. 304* und 326*, weist darauf hin, daß auch nach der gründlichen gattungshistorischen Abhandlung des Casaubonus, welche die Unabhängigkeit der römischen Satire vom griechischen Satyrspiel und damit von der Figur des Satyrs überzeugend darlegte, die Theorie von der Herkunft der Satire vom Satyr in den Poetiken und bei den Satirikern ihre Geltung behielt, wofür besonders die Autorität des Heinsius verantwortlich war. Die Thesen des Casaubonus setzten sich erst allmählich durch. Vgl. besonders die Gattungsbestimmung der Satire bei Sigmund von Birken: Teutsche Redebind und Dicht-Kunst. Nürnberg 1679, S. 307ff. (wo gleichfalls gewisse Wendungen Evanthius' fast wörtlich wiederkehren) und Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung zur accuraten teutschen Reim= und Tichtkunst. Nürnberg 1704, S. 223, der teilweise von Birken ausschreibt.

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deren/ die solche frevele dinge treiben/ die meynung frey herauß sagt/ doch ungenant einiger Persone/ auff gut bäurisch [vgl. Evanthius: velut agresti ioco [...] tarnen sine ullo proprii nominis titulo, W. E. Sch.] nicht fuchßschwäntzet noch heuchlet. Dergleichen bey den Latinern/ denen solcher Name besser bekand ist/ Lucilius, Horatius, Juvenalis, Persius, und andere/ gethan haben. Satyra aber hat seinen ursprung von den Satyris. Satyri waren ein Geschlecht der Heyden Wald Götter: deß oberen halben Leibs als Manschen/ ausserhalb daß sie Horner und lange spitze Ohren hatten/ unden zu alß haarichte Geißböcke gestaltet/ wie du auf dem Titul deß Ersten theils im Kupferstuck getruckt siehest. Wer sie Geißmänner nennen will/ dem steht es frey; aber es sind Leibhaffte Teuffei. Solcher Satyren oder Heydnischen Wald=Götter Art war: daß sie jedem Manschen was jhm ubel anstünde/ alle Laster und Untugenden/ ungeschewt under gesicht sagten: und was sonst Niemand auß forcht sagen dorffte oder sagen wolte/ das thaten Sie/ mit lächerlichen hönischen geberden/ mit grossem gelächter/ sperreten das Maul auff spannen weit.

Dem allem zufolge dürfen wir sagen, daß die Schreibweise »satyrisch« nicht nur berechtigt ist (geschweige eine Volksetymologie); ihr Vorzug liegt gerade darin, daß sie in knappster Weise auf die Genesis der Gattung verweist und auf den Satyr der antiken Mythologie als Leitbild für die Haltung des Satirikers zur Welt zurückdeutet. Als weiterer Erkenntnisgewinn scheint aus der Vorrede Moscheroschs hervorzugehen, daß er sich bei seiner satirischen Schriftstellerei offenbar nicht allein von seiner unmittelbaren Vorlage, den Sueños Quevedos, leiten ließ, sondern als gründlich geschulter humanistischer Gelehrter auch römische Theoreme zur Gattung wieder aufnahm. Das kann im Grund nicht überraschen. Es entspricht völlig der allgemeinen Beobachtung, daß bis ins 18. Jahrhundert das Genus der Satire auf die antike Gattungstheorie und die ihr entsprechenden Modelle zurückbezogen wurde.22 Die wenigen literaturgeschichtlichen Arbeiten zu Moscherosch waren bisher ausschließlich auf die stoffliche und thematische Abhängigkeit von Quevedo und der elsässischen Narrensatire des 16. Jahrhunderts fixiert. Wir kehren jedoch zum Satyrischen Pilgram Grimmelshausens zurück und müssen nun die Frage stellen, ob das Epitheton »satyrisch« im Titel dieser Schrift im Sinne Moscheroschs verstanden werden darf oder ob es, wie Schölte annimmt, ein literarisches Produkt bezeichnet, das mit der Gattung Satire nichts zu tun hat. Die Literaturwissenschaft blieb bei der Beurteilung dieser Frage bislang in ungelösten Widersprüchen stecken. Einerseits hat sich die Literaturgeschichtsschreibung daran gewöhnt, diesen ersten, wie man glaubt noch unbeholfenen Schreibversuch Grimmelshausens gegen die Autorität Scholtes als satirische Schrift einzuordnen. Und doch kann sie bisher zur Begründung dieser Zuordnung auf nicht mehr verweisen als eben auf den Titel der Schrift, während Thematik, Stil und Komposition eher darauf schließen lassen, daß man es mit einer Art Moraltraktat zu tun hat. So schließen andererseits Spezialuntersuchungen zur Gattung Satire wie die von Lazarowicz 22

S. z.B. Klaus Lazarowicz: Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire. Tübingen 1963 (Hermaea, Germ. Forsch. N.F. 15), S. XVI; Klaus Meier-Minnemann (wieAnm. 17), S. 26; Jürgen Brummack (wieAnm. 14), S. 288* und311*.

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Strafpredigten und Moraltraktate in der Art Moscheroschs und Grimmelshausens ausdrücklich aus dem Gattungszusammenhang aus.23 Impliziert also das »Satyrisch« im Titel den Bedeutungszusammenhang mit dem Satyr als dem Erzvater der Satire? Muß der Satyr auf dem Titelblatt so verstanden werden? Und ist der Satyrische Pilgram eine Satire im Sinn seiner Zeit? Es sei erlaubt (in der Argumentationsweise des Barockzeitalters selbst) Schölte zunächst das Zeugnis einer zeitgenössischen Autorität ersten Ranges in litteris entgegenzuhalten. Daniel Georg Morhof (1639-1691), Professor der Poesie in Kiel, Mitglied der Londoner Sozietät der Wissenschaften und wohl der beste Kenner der deutschen Literaturgeschichte unter den Lehrstuhlinhabern des 17. Jahrhunderts, Morhof also behandelt in seiner Poetik Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie24 Theorie und Geschichte der Satire mit erwünschter Ausführlichkeit. Nach der Besprechung der französischen Verssatiren, besonders der Boileaus, als vollkommenes Muster der Gattung nennt Morhof die zeitgenössischen führenden Gattungstheoretiker (Casaubonus, Heinsius) und kommt schließlich auf die Prosasatire zu sprechen. Dieses komplexe, in seinen Konturen unscharfe literarische Gebilde (»es können hundert Wege und Arten ersonnen werden«) versucht Morhof durch formale Kriterien typologisch zu gliedern. Er unterscheidet Satiren in Dialogform von solchen in Briefform; er nennt den satirischen Roman (wofür er die Argenis Barclays als Prototyp empfiehlt) und er schließt mit der satirischen Reisebeschreibung, wofür nun ausgerechnet »Greiffensohns Satyrischer Pilgram« Muster sein soll.25 - Die Klassifikationen Morhofs bringen gleich zwei Überraschungen. Zum einen, daß die Argenis, das vielberufene Muster des heroisch-galanten Romans, an dieser Stelle als Beispiel für den satirischen Roman fungiert, und zum andern eben, daß am frühen Schreibversuch Grimmelshausens die Art einer satirischen Reisebeschreibung studiert werden kann. Der Hinweis Morhofs bleibt zu bedenken. Allerdings scheidet ganz gewiß der heute gültige Begriff der Satire - inhaltlich bestimmt als literarische Verspottung von Mißständen, Unsitten, Personen - für den Satyrischen Pilgram aus. So war es wohl auch von Schölte gemeint, als er den Bezug zur Satire so apodiktisch leugnete.

23

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25

Vgl. ζ. B. Richard Newald: Die deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit. München 1951 (Helmut de Boor, Richard Newald: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 5), S. 372; Gerhard Fricke: Geschichte der deutschen Dichtung. Lübeck und Hamburg 1958, S. 103; Klaus Lazarowicz (wie Anm. 22), S. 310-13. Hg. von Henning Boetius. Bad Homburg 1969 (Nachdruck der zweiten Ausgabe Lübeck 1700), S. 354-56 (Teil III, K. 16). »Man fasset sie [sc. die Satyren W.E.Sch.] bald in Gespräche ab/ wie Pasquilli sind/ die in etlichen Tomis, schon im vorigen seculo hervorgegeben/ bald in Briefen/ wie in der Frantzösischen Sprache der Secretaire Critique neulich eingerichtet/ bald in einer Romaine, wie die Argenis Barclaji, bald in einer Reisebeschreibung/ wie Greiffensohns Satyrischer Pilgram/ Mundus alter & idem, und viel andere.«

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Anders steht es um den erst in tastenden Vorarbeiten vage sich abzeichnenden Begriffsinhalt der »Satyre« im 16. und 17. Jahrhundert. Er könnte sehr wohl, wie wir meinen, an den Satyrischen Pilgram herangetragen werden. Zugegeben, die inhaltlichen, formalen und stilistischen Kriterien, welche die deutschen Poetiken, Vorreden und Kommentare dem Literaturwissenschaftler an die Hand geben, sind dürftig; gravierender noch, sie sind widerspruchsvoll. Es fällt schwer, im konkreten Einzelfall sie als Ausgangsbasis zu benutzen. Doch lassen sich einige wenige Merkmale nennen, die in fast allen theoretischen Äußerungen gefordert werden und die den Satyrischen Pilgram kennzeichnen. Dazu gehört die unbeschränkte Freiheit der Themenwahl. Der Satiriker hat das Recht - und darin unterscheidet er sich von dem Autor eines Epos, eines höfischen Romans-, die gesamte menschliche Erfahrungswelt zum Gegenstand seiner Darstellung zu machen. Als Kronzeuge für diese Freiheit dient ihm Juvenal mit den oft zitierten Versen:26 Quidquid agunt homines, votum timor ira voluptas gaudia discursus, nostri farrago libelli est.

Wir meinen, die weit gespannte Themenwahl in einem relativ wenig umfangreichen Bändchen, wie sie für den Satyrischen Pilgram charakteristisch ist, der in seinen zwei Teilen von den höchsten Dingen, die den Menschen bewegen können, von Gott (I, 1) bis zu den niedersten, zum Beispiel dem Tabak (II, 4), diskuriert, richtig zu verstehen, wenn wir sie in diesem Zusammenhang begreifen. Vielleicht kann von hier aus auch auf die rätselhaften Sätze der ersten Vorrede Licht fallen, wo der Autor selbst unter der Maske des Momus, dieses traditionellen Urbilds aller übelwollenden Kritiker, sein Produkt zensiert: »Zu deme hat der Phantast ein Werck vor, daß sich ad infinitum hinein erstreckt [...] Gleichsam als ob er ein anderer Salomon wer/ und die Gab hette vom Isop biß uff den höchstem Gipfel des Cederbaums zu discuriren« - die anspruchsvolle Aufgabe sei seinem Bildungsstand nicht angemessen.27 Bestimmtere Aussagen lassen sich hinsichtlich der formalen Struktur der Schrift und der Disposition der Argumente machen. Als verbindliches Prinzip für die Verssatire war das Kompositionsgesetz anerkannt, das Juvenal, in den zitierten Hexametern, mit dem Bild des Mengfutters (»farrago«) umreißt. Es meint die abwechslungsreiche Vielfalt der Themen und Argumente und ihre bunte Würfelung, ihre abrupte Verknüpfung. Als »Varietas« taucht es in fast allen Gattungspoetiken des Humanismus auf. Der Begriff geht in weit gestreuter semantischer Verästelung zum Beispiel im Französischen in die 26 27

Sat 1,85. Satyrischer Pilgram. Hg. von Wolfgang Bender. Tübingen 1970, S. 7 - 8 , wir zitieren im folgenden nach dieser Ausgabe; vgl. die in andere Richtung gehenden Überlegungen Manfred Koschligs zu diesem Zitat in: Grimmelshausen und seine Verleger. Leipzig 1939 (Palaestra 218), S. 27; ders.: Das Lob des Francion bei Grimmelshausen, S. 30; ders.: Der Mythos vom Bauernpoeten Grimmelshausen, S. 60.

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Begriffe »pot-pouri«, »grande sallade«, »fricassé« usw. als Termini der französischen Versatire des 16. und 17. Jahrhunderts ein.28 Schon vom Modell der römischen satura her glaubte sich die Satire zu einem vielfältigen Inhalt und zur überraschenden Anordnung dieses Inhalts berechtigt. »Varietas« hieß nun aber wiederum nicht totale Unordnung. Eine gewisse Geschlossenheit des Aufbaus im ganzen mußte der Satiriker im Auge haben. Die »Varietas« stand im Spannungsverhältnis zu der auch geforderten »Cohaerentia« des gesamten Argumentationszusammenhangs. Es fragt sich, ob und inwieweit diese im wesentlichen für die Verssatire geltenden Kompositionsregeln auch für die Prosasatire Geltung hatten. Die Poetiken schweigen sich darüber aus. Doch fällt auf, daß die Gesamtkomposition des Satyrischen Pilgram den genannten Prinzipien sehr nahe kommt. Die Themen ordnen sich einerseits in die Linien eines deutlich erkennbaren Gesamtplans ein, der in etwa dem einer scholastischen Enzyklopädie29 oder eines humanistischen Adversarienbuches (libellus memorialis)30 entspricht. Der Autor führt den Leser von den höchsten Dingen (Gott, die vier Zeiten der Welt, der Mensch, zu Beginn des 1. Teils) zu den geringfügigen (Tabak, »Mummerey«, Bettler, gegen Ende des 2. Teils). Zugleich nimmt er sich doch die Freiheit, den ordo-Gedanken der graduellen Stufenfolge insofern zu durchbrechen, als er zum Beispiel von der Liebe (II, 3) zum Tabak (II, 4) und von da zum »Stand grosser Herren« (II, 5) überspringt, so daß das Bedürfnis des Lesers nach überraschender Abwechslung sehr wohl auf seine Kosten kommt. All das stimmt mit dem Stichwort Scaligers für die Satire überein: »abrupta omnia, non tarnen non cohaerentia«.31 Bekräftigt werden wir in dieser Hinsicht dadurch, daß in der ingeniösen ersten Vorrede Grimmelshausens zum Satyrischen Pilgram der nörgelnde Momus gerade diese lockere, anscheinend verworrene Abfolge des Ganzen zum Vorwurf macht und dabei einen Terminus gebraucht, der die deutsche Übersetzung des lateinischen »farrago« und des französischen »pot-pouri« usw. ist: »In Summa es mangelt überall ahn Saltz und Schmaltz/ nichts ist verhanden als ein wercklichs Mischmasch/ von lauter Fähl und Mängeln zusammen gestickelt«.32 - »Mischmasch« (oder auch »Gemisch-Gemasch«, wie Abra28

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32

Zur »rerum varietas« (im Unterschied zur varietas im Bereich des omatus) vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. München 1960, § 1175, vor allem aber Klaus Meier-Minnemann (wie Anm. 17), S. 29-31, mit Belegen aus den Renaissancepoetiken von Angelo Poliziano, Giovanni Antonio Viperano, Jacobus Pontanus und Daniel Heinsius. Vgl. die Einleitung Detlev von Liliencrons zu Aegidius Albertinus: Lucifers Königreich und Seelengejaid, dessen Aufbau er im Sinn einer solchen Enzyklopädie erklärt (Kürschners Deutsche Nationalliteratur, Bd. 26, Berlin und Stuttgart o. J.). S. Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg 1969, S. 61, in Bezug auf die Lehranweisungen Alsteds für die Anlage solcher Adversarienbücher. Julius Cäsar Scaliger: Poetices libri Septem. Hg. von August Buck. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 (Faksimile-Nachdruck der Ausgabe Lyon 1961), S. 149 C 2 (lib. III, cap. XCVIII). Satyrischer Pilgram, S. 6.

Der Satyr und die Satire

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ham a Sancta Clara im Titel seiner satirischen Schrift Heilsames GemischGemasch, 1704), so bezeichnen die deutschen Satiriker ihr Werk, wenn sie es im Traditionszusammenhang mit der römischen satura sehen.33 Schließlich ist auch der Aufbau der einzelnen Kapitel des Satyrischen Pilgrams, diese eigenartige und wie es zunächst scheinen mag vereinzelt dastehende Entfaltung der Argumente in einem dialektischen Dreifstufenprozeß (»Satz« - »Gegensatz« - »Nachklang«)34 der Satire nicht unbekannt. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marie Claire Randolph hat 1942 in einem damals viel beachteten Aufsatz darauf aufmerksam gemacht, daß der klassischen Formalsatire in aller Regel ein zweiteiliges Kompositionsschema zugrunde liegt, das von den französischen und englischen Verssatiren des 16. und 17. Jahrhunderts übernommen wurde.35 Im ersten Teil einer solchen Satire wird ein bestimmtes Laster in seinen verschiedenen Aspekten beleuchtet. Der zweite Teil stellt diesem Laster eine komplementäre Tugend gegenüber, die nun ihrerseits unter verschiedenen Gesichtspunkten und an verschiedenen Beispielen erläutert wird. Die zweiseitige Behandlung ethischen Verhaltens ergab sich im Grunde folgerichtig aus dem erklärten Wirkungsziel des Satirikers. Ihm war einerseits »die harte Verweisung der laster« zur Pflicht gemacht, andererseits durfte er nicht weniger Gewicht auf die »anmahnung zue der tugend« legen.36 An diese Pflichten wird in allen Poetiken bis hin zu Gottscheds Critischer Dichtkunst erinnert. Und wenn wir in dieser Sache wieder Moscherosch in die Diskussion ziehen (dessen Wirkungsgeschichte es noch zu erforschen gilt), dann zeichnet sich im voraus sogar der spätere dreiteilige Aufbau der satirischen Kapitel Grimmelshausens ab. Der unbekannte Autor einer der unechten Fortsetzungen der Gesichte Philanders von Sittewald, mit denen der Verlag Schönwetter in

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Belegstellen für den Gebrauch des Terminus in satirischen Schriften der Zeit findet man bei Felix Schnitzler: Die Bedeutung der Satire für die Erzählform bei Grimmelshausen. Diss. Heidelberg 1955 (masch.), S. 77-78. Grimmelshausen selbst verwendet den Begriff ein zweites Mal im Ewigwährenden Kalender (1671), wo die Spalten 2 und 3 des auf sechs Spalten verteilten Textes mit der Überschrift »Chaos, oder Verworrnes Mischmasch ohne einige Ordnung« angekündigt werden (Des Abenteuerlichen Simplicissimis Ewig=währender Calender, Faksimile-Druck der Erstausgabe Nürnberg 1671. Hg. von Klaus Haberkamm. Konstanz 1967, S. 4). Wie schon Haberkamm im Beiheft zum Kalender (S. 17) feststellt, muß man sich hüten, diesen Titel als Eingeständnis frischfröhlicher Unbekümmertheit in formalen Fragen mißzuverstehen. »Mischmasch« bezeichnet auch hier das reflektierte Stilprinzip der »varietas«: in den nachfolgenden Spalten werden in buntscheckiger Abfolge Haus-, Küchenund Arzneirezepte, Berichte über denkwürdige Ereignisse, über Volksbräuche und Naturwunder abwechselnd in Prosa- und Versform dargeboten und dem vielfältigen Stoff oft überraschende Kontrastwirkungen abgewonnen.

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Vgl. die Vorrede »An den Leser« im Satyrischen Pilgram, S. 13, wo Grimmelshausen seine Argumentationsweise darlegt. Mary Claire Randolph: The Structural Design of the Formal Verse Satire. In: Philological Quarterly 21 (1942), S. 368. Martin Opitz: Buch von der Teutschen Poeterey. Hg. von Richard Alewyn. Tübingen 1963, S. 20.

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Frankfurt sein Geschäft machte, urteilt in seiner Vorrede an den Leser über die vorausgegangenen echten Gesichte Moscheroschs folgendermaßen. 37 »Gunstiger Leser/ es wird auß denen biß dahero außgangnen Tractaten/ und Thrilen [!]/ von den Satyrischen Gesichten Philanders von Sittewald/ genugsamb bekant seyn/ was für grosse eusserliche Gefahr unnd Abendthewer/ durch seltzame Satyrische Gesichter und Visiones, die gedachte Philander der Zeit seiner Jugend außgestanden/ und jhme vorgestellt seyn worden/ wie er nun durch der warhaffte narration, manchen Menschen in seinem Laster abgebildt/ und dieselbe der Welt vor Augen gestelt/ also hat er auch der tugenden nicht vergessen/ sondern in allen seinen Tractätlein tugendsames Lebens/ männiglich erinnert unnd angereitzt/ dann wie durchsetzung zweyer Contraríen das Mittel leichtlich zu finden/ eben also kan auch durch Erzehlung der Laster und Sünden/ der rechte Wege zu den Tugenden wol gebauet werden.« Der satirische Autor braucht nur noch den letzten Schritt zu tun, den, daß er die Auffindung des maßvollen Mittelwegs zwischen dem Tugendideal und der erfahrenen Lasterhaftigkeit der Welt nicht dem Leser überläßt, sondern ihn selbst explizit macht - so ergibt sich die Drei Stufenfolge der Argumente bei Grimmelshausen. (Wir dürfen allerdings nicht übersehen, daß der anonyme Autor, wie auch die Poetiken sonst, von ethischen Haltungen spricht, die der Satiriker abhandelt; Grimmelshausens materia aber ist die Spannweite der res von Gott bis zum Tabak in ihrer Wirkung auf den Menschen. Hier bleibt ein Rest, den wir nicht aufzulösen vermögen.) Schließlich sei noch ins Feld geführt, daß die ersten beiden der insgesamt drei Vorreden, die Grimmelshausen seiner Schrift vorangestellt hat (»Vorred oder Momi placet«; »Gegenschrifft des Authors«), in Inhalt und Aufbau sehr wohl der traditionellen Apologie des Satirikers entsprechen, wie sie Mary Claire Randolph für die Verssatire skizziert hat. Ein Gesprächskontrahent hat hier in der Regel die Aufgabe, dem Autor von der Abfassung seiner Satire abzuraten oder ihn davon abzuhalten; der Autor in seiner Antwort weist die Argumente vehement zurück und beteuert, daß ihn nichts von seiner berechtigten Kritik abbringen kann. 38 - Den Vorreden Grimmelshausens zum Satyrischen Pilgram hat Hans Ehrenzeller eine eindringliche Untersuchung zukommen lassen. Er weist unter anderem daraufhin, daß dieser heftige fiktive Schlagabtausch zwischen Kritiker und Autor in diesen Vorreden in Thomas Murners Narrenbeschwörung (1512) vorgebildet sei.39 Der Hinweis ist wichtig. Nur deutet er weniger auf Beziehungen zwischen Murner und Grimmelshausen, wie Ehrenzeller vermutet,

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Philander von Sittewald weltberühmtsten Ritters/ Somnium sive Intinerarium [!] historicopoliticum. Frankfurt 1649, Vorrede. Mary Claire Randolph (wie Anm. 35), S. 375-76, unter Berufung auf den mir nicht zugänglichen Aufsatz von Lucius R. Shero: The Satirist's Apology. In: Classical Studies, Series II, University of Wisconsin Studies, Madison 1922, S. 148-167. Hans Ehrenzeller (wie Anm. 7), S. 42.

Der Satyr und die Satire

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als - einmal mehr - auf Merkmale der Satirenvorrede schlechthin, die auf der Basis breiter gestreuten Materials zu erarbeiten wären. Wir hoffen dargetan zu haben, daß es außer dem Titel sehr wohl Gründe gibt, die dafür sprechen, den Satyrischen Pilgram in den Zusammenhang des vorerst vagen Gesamtkomplexes der »Satyre« zu stellen. Wir müssen uns diese Begriffseinheit allerdings sehr weit denken. Sie umfaßt zumindest auch eine bestimmte Art des Moraltraktats, wie man als moderner Leser, von einem anders strukturierten und stärker differenzierten System der Prosagattungen kommend, geneigt ist, Grimmelshausens erste Schrift anzusprechen. (Beachtenswert in diesem Zusammenhang die Austauschbarkeit der Termini »Satyrisches Gesicht«=Traumsatire und »Tractat« in der Vorrede zur unechten Philanderausgabe!). Das identische Wirkungsziel von Moraltraktat und Satire: Tadel der Laster und Ermahnung zur Tugend schließt allein schon beide zu einem Ganzen zusammen.40

V

Es bleibt die Figur des Satyrs auf dem Titelblatt der Schrift und die Frage ihres Bezugs zum speziellen Satyr des Hans Sachs oder zum antiken Satyr als dem Erfinder der »Satyre«. Gegenüber der von Rosenfeld und Schölte vertretenen These wiesen wir bereits darauf hin, daß es sich beim Satyr um eine im satirischen und bukolischen Schrifttum der Zeit weit verbreitete und auf Titelblättern und Illustrationen immer wieder erscheinende Figur handelt. Man muß unbedingt damit rechnen, daß Grimmelshausen sie auch unabhängig von Hans Sachs und in ganz anderen Sinnbezügen kennen lernte. Wenn es dazu noch eines Beweises bedürfte, so könnte man darauf hinweisen, daß Grimmelshausen für seine Gaukeltasche (1670) eine Satyrfigur aus einer ganz anderen Quelle unverändert übernahm, und zwar aus einem Kartenspielbuch des Nürnberger Zeichners und Stechers Jost Amann (1539-1591), das in Nürnberg 1588 erschienen war.41 Die Gaukeltasche

40

41

Die Annäherung oder gar das Zusammenfallen von Moraltraktat und Satire konstatieren in ähnlicherWeise: Bruno Markwardt: Geschichte der deutsche Poetik. Bd. I. Berlin 21958, S. 42, S. 112, 198; Klaus Lazarowicz (wie Anm. 22), S. 24; Kurt Wölfel: Epische Welt und satirische Welt. In; Wirkendes Wort 10 (1960), S. 85; Jörg Ulrich Fechner: Der Antipetrarkismus. Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik. Heidelberg 1966, S. 106. Felix Th. Schnitzler (wie Anm. 33), S. 78, spricht im Hinblick auf Thomas Mumer, Johann Balthasar Schupp und Abraham a Sancta Clara geradezu von Synonymität der Begriffe »Satyra« und »Traktätlein«. Das gleiche gilt für die Prosasatire in Frankreich: s. Klaus Meier-Minnemann (wie Anm. 17), S. 32. Eine weiterführende Untersuchung der Gattungsfragen müßte auch den Satyrischen Pilgram vor dem Hintergrund des neuerdings von Günter Heß (wie Anm. 14), S. 87ff. herausgestellten Typs der Divina satyra prüfen. Den Nachweis führte Jan Hendrik Schölte; vgl.; Der Simplicissimus und sein Dichter, S. 238-39.

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Holzschnitt zu Grimmelshausen: Gauckeltasche, 1670 (Die Weinschläuche)

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enthält ein Spielblatt (»die Weinschläuche betreffend«),42 das einen auf einem Faß stehenden Bacchus zeigt und einen bockfüßigen, ziegenschwänzigen Satyr, der sich von dem des Titelkupfers zum Pilgram kaum unterscheidet. Als Symbolfigur für bacchantische Ausschweifung steht er nun durchaus im Zusammenhang des antiken Mythos. Ihn begleitet ein Bock, Zeichen dionysischer Ausgelassenheit (»petulantia«), und er bläst auf einem Instrument, einer Art Trompete, Erinnerung an Dionysus Promius. - Vom »unbestechlichen«, »unverdorbenen«, »tief schauenden« Satyr kann hier bestimmt keine Rede sein, ebenso wenig wie auf den meisten der zahllosen Titelblätter bukolischer Schriften (etwa der Pegnitzschäfer) oder Satiren der Zeit (etwa denen Rachels), wo Satyrn figurieren. Doch gesetzt den Fall, Grimmelshausen habe nun gerade in Hinsicht auf den Satyrischen Pilgram den Satyr so verstanden, wie Rosenfeld und Schölte es für den Satyr bei Hans Sachs annehmen, und folglich auf dem Titelblatt dem Pilger links den Satyr als moralischen Antipoden entgegenstellen wollen: dann wäre doch anzunehmen, daß sich der Erzähler dieser Schrift, der durch »Satz« und »Gegensatz« die goldene Mitte und das rechte Maß zu finden sucht, sich zu diesem Satyr als Patron seiner Schrift bekenne. Nichts von dem ist der Fall, im Gegenteil. Der Erzähler verwahrt sich strikt dagegen, mit diesem Satyr in Verbindung gebracht zu werden, und bekennt sich als Adept des Pilgers. 43 In der zweiten Vorrede, der »Gegenschrifft des Authors«, repliziert der Erzähler auf die Anwürfe des Momus in der ersten Vorrede folgendergestalt: 44 Dieweil du mich aber zu deinem Satyro in die Schul schicken wilt/ damit ich mit dem Pilger besser gevolt und abgehobelt würde« [der Kritiker Momus hatte vorgeschlagen, den Autor zu dem Satyr zu schicken, damit dieser ihn wegen seiner Überheblichkeit abreibe und ihm mit »Spott und Schaden« beibringe, was es heißt, »Kalt und Warm auß einem Mund blasen«, W.E. Sch.]; »Sihe so will ich dir zu trutz den Pilger ehren/ und Ihn zu dieser meiner Mißgeburt wie du es nennst/ zum Gevattern erkohren haben; Also daß dieselbe meine Frucht seinen Nahmen gleichsam an der Stirn/ oder höchsten/ obersten ersten und allerehrlichsten Stelle tragen solle; Du aber und deines gleichen behalten indessen den Satyrum damit gleich und gleich beysammen bleibe/ und ihr euch der Satyrn immerhin desto besser gebrauchen könnet.

- Der Erzähler bekennt sich gerade zur Geisteshaltung des Pilgers, der seine Schrift als Pate aus der Taufe heben und nach dem sie (wie in der Praxis der Namengebung üblich, auch in Grimmelshausens eigener Familie) den Namen tragen soll. Was aber nun den Satyr betrifft, so werden ihm jene Eigenschaften zugeschrieben, die ihm von alters zukommen. Er ist ein Spötter und gehört als solcher in die mythische Gesellschaft des Momus und seines Anhangs, die 42

43

44

Eine leicht zugängliche Reproduktion des Blattes findet man in der Grimmelshausen-Ausgabe von Hans Heinrich Borcherdt: Grimmelshausens Werke. IV. Teil (Kleine Schriften). Berlin o.}., S. 172; desgleichen in dem hilfreichen Beiheft, in dem Klaus Haberkamm Materialien zum Faksimiledruck von Grimmelshausen: Des abenteuerlichen Simplicissimi Ewig-währender Calender. Konstanz 1967, liefert, hier S. 55. Zum gleichen Ergebnis kommt Felix Th. Schnitzler (wie Anm. 33), S. 20, bei der Untersuchung dieser Textpassagen, allerdings ohne sich mit Rosenfeld und Schölte auseinanderzusetzen. Satyrischer Pilgram, S. 10.

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mit ihrer Kritik und Nörgelei das Werk von Göttern und Menschen in Frage stellen.45 VI Aus den vorangegangenen Überlegungen ziehen wir die Folgerung, daß wir gut daran tun, uns vom Satyr des Titels zum Satyrischen Pilgram und dem damit verbundenen Rückblick auf die Fabel des Hans Sachs zunächst ganz frei zu machen. Wir haben keinen Grund mehr, gerade von diesem Satyr als Schlüsselfigur die entscheidende Hilfe zum Verständnis der andern Satyrfiguren Grimmelshausens zu erhoffen. Um einen andern, neuen Zugang zu eröffnen, wenden wir uns zunächst einem andern Satyr zu, der gleichfalls auf dem Titelkupfer einer Schrift des 17. Jahrhunderts figuriert, einer satirischen Schrift, die erfolgreicher war als selbst der Simplicissimus. In seinem Fall nämlich meinen wir in der günstigen Lage zu sein, fast alle Bedeutungsmomente, die sich mit seiner Gestalt, seinen Gebärden, seinen Attributen verbinden, bestimmen zu können. Wir schaffen uns so eine gesicherte Ausgangsbasis für das Verständnis der Satyrn als Leitfiguren der »Satyre« schlechthin. Das Titelkupfer der Erstausgabe von Johann Michael Moscheroschs Gesichte Philanders von Sittewalt, Straßburg 1640, ist der Germanistik wenig vertraut. Die bisherigen Neuausgaben, die jeweils nur eine Auswahl aus den insgesamt 14 Gesichten der authentischen Originalausgaben dem modernen Leser bieten, bringen dieses Kupfer nicht.46 Die von Felix Bobertag herausgegebene und jetzt in dem sehr zu begrüßenden fotomechanischen Nachdruck der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft einem weiteren Leserkreis vertraute Ausgabe gibt den Text einer autorisierten Straßburger Ausgabe von 1650 (Bechtold: E) und reproduziert das ganz andersartige Titelkupfer, das Moscherosch für diese Edition entwerfen und stechen ließ. In Verbindung mit dieser Illustration sind Moscheroschs Traumsatiren bekannt geworden. Das Titelkupfer der editio princeps (Bechtold: A) dagegen, das für eine weitere der nachfolgenden echten Straßburger Ausgaben (1643, Bechtold: C)47

45

Semantisch unklar bleibt der Teilsatz »und ihr euch der Satyra immerhin desto besser gebrauchen könnet«. Ist der bestimmte Artikel generalisierend und meint die Gattung Satire schlechthin, in deren Weise Momus und der Satyr sich gewöhnlich äußern? Oder ist er individualisierend gesetzt und verweist auf die dem Leser vor Augen liegende Schrift, die sich Momus zu Gemiite führen soll? - Im »Nachklang« zum Kapitel »Poeterey« (II, 1) nimmt der Erzähler den Momus und seine Gefolgschaft aufs Korn. So sollte angesichts dieser Ambiguität auch die letztere Auffassung in Erwägung gezogen werden.

46

Hg. von Heinrich Dittmar. Berlin 1830; v. Karl Müller. Leipzig (Reclam) [1883]; v. Felix Bobertag. Stuttgart 1883 (Deutsche Nationalliteratur, Bd. 32), in fotomechanischem Nachdruck Darmstadt 1964. S. Arthur Bechtold: Kritisches Verzeichnis der Schriften Johann Michael Moscheroschs. München 1922 (Einzelschriften zur Bücher- und Handschriftenkunde, Bd. 2), S. 13-16.

47

Der Satyr und die Satire

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übernommen wurde, ist heute dem Interessierten nur in der kritischen Bibliographie Arthur Bechtolds48 und in der illustrierten Literaturgeschichte Gero von Wilperts49 bequem zugänglich. Der Umstand ist bedauerlich, denn dieses frühere Kupfer hätte, wie sich zeigen soll, sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdient als das bekanntere der späteren Ausgaben ab 1650. Der Entwurf zu dieser die Gesichte eröffnenden Illustration stammt dieses Mal nicht vom Autor, nicht von Moscherosch selbst, vielmehr von einer auch der Grimmelshausenforschung seit Schölte bekannten Persönlichkeit des literarischen Lebens in Straßburg, von Jesajas Rompier von Löwenhalt alias Wahrmund von der Tannen, dem kauzigen Wortführer der Straßburger Tannengesellschaft. So viel geht aus der Signatur in der linken unteren Ecke des Schriftbands unter der Illustration (»Rumpier fecit«) hervor.50 Rompier nämlich, schriftstellerisch und zeichnerisch tätig, die Rolle eines Impressario der literarischen Produktion im Umkreis der Straßburger Sprachgesellschaft spielend, arbeitete im Dezennium zwischen 1640 und 1650 mit Moscherosch eng zusammen. Aus seiner Feder kam auch die programmatische Vorrede zu dieser Erstausgabe der Gesichte, der »Unterricht Wahrmund von der Tannen«, in der Thema, Zweck und Geschichte der in Deutschland weithin noch unbekannten satirischen Sonderform der Traumsatire dem Leser erklärt wurden. Darüber hinaus trug er Huldigungsverse bei, die zum repräsentativen Einleitungsteil einer anspruchsvollen Buchausgabe gehörten. Moscherosch selbst scheint in dieser ersten Phase seiner literarischen Produktion sich auf die Aufgabe der Übersetzung konzentriert zu haben, den theoretischen Einleitungsteil hat er seinem Freund Rompier überlassen. Wir müssen demnach damit rechnen, daß die in der Vorrede und auf der Titelillustration zum Ausdruck kommende Konzeption des Satyrs und der Satire auf Rompier zurückgeht, wenn auch sicher Moscherosch selbst mit diesen theoretischen Ausführungen einverstanden war. Das dreiteilige Kupfer zeigt im oberen Teil, als Giebelstück einer Nische, einen fratzenhaften Satyrkopf. Dessen Gesichtsausdruck wird in der schon zitierten späteren, von Moscherosch selbst stammenden Vorrede zur Ausgabe 1650 in der Weise erklärt, daß die Satyrn den Leuten die Wahrheit sagten »mit lächerlichen hönischen geberden/ mit grossem gelächter/ sperreten das Maul auff spannen weit«. - Die auseinanderklaffenden Kiefer halten in diesem Fall das Spruchband mit dem Titel der Schrift. In dem darunter liegenden Raum ist als Zentralfigur der bekannte Satyr oder Pan51 zu sehen, dem die aus dem antiken Mythos vertrauten signifikanten 48 49 50

51

Ebd. : Tafeln I ( 1640) und IV ( 1642). Gero von Wilpert: Deutsche Literatur in Bildern. Stuttgart 1957, S. 108 (Nr. 284). Auf die Urheberschaft Rompiers weisen hin: Arthur Bechtold: Moscherosch-Bildnisse. In: Zeitschrift für Bücherfreunde N.F. 6 (1914/15), S. 270; Kurt von Faber du Faur: Johann Michael Moscherosch, der Geängstigte. In: Euphorion 51 (1957), S. 238; ders.: German Baroque Literature, New Haven 1958, S. 113, Nr. 423. So Arthur Bechtold: Moscherosch-Bildnisse, S. 270.

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Titelkupfer zu Moscherosch: Les visiones de Don Francesco de Quevedo Villegas, Oder Wunderbahre Satyrische Gesichte, Straßburg o.J. [1640] (Bechtold A)

Der Satyr und die Satire

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Attribute Ziegenbock und Pansflöte beigegeben sind und der, Reminiszenz seiner Rolle im Dionysos-Kult, um die Hüfte mit Weinlaub bekränzt ist. Seine Hände aber sprechen eine Gebärdensprache, deren Bedeutung aus der Mythologie nicht ersichtlich ist. Die rechte Hand macht mit ausgestrecktem Kleinen und Zeigefinger eine Geste zu dem Putto hin, der sich eine Maske vor das Gesicht hält; der linke Arm hält in dieselbe Richtung einen Skorpion. Die Mienen des spitzohrigen, gehörnten Satyrs scheinen ein Lächeln oder Grinsen bedeuten zu wollen. Hinten schlägt eine »männliche Figur«,52 die dem Zeremoniell zuzuschauen scheint, den die Nische abschließenden Vorhang zurück. Durch ihre Narrenkappe und die Schellen am Narrenkleid ist sie unschwer als Narrenfigur zu identifizieren. Der untere Teil wird von einem Schriftband ausgefüllt, das die Verlagsangaben enthält und den Zeichner (Rompier) und Stecher (den bekannten Straßburger Kupferdrucker Aubry) benennt. Wir konzentrieren uns vorerst beim Versuch einer Deutung dieser bis dato soweit wir sehen noch nicht untersuchten Illustration auf die Details des Mittelfelds. Der Sinn der mit der rechten Hand ausgeführten Geste läßt sich verhältnismäßig leicht erschließen. Wir müssen uns nur (was die Barockforschung gelegentlich versäumt hat) aus dem Umkreis der Literaturwissenschaft hinaus begeben ins Gebiet der Volkskunde und dort längst gewonnene Einsichten uns zunutze machen. Der Volkskunde ist diese Handgeste bekannt unter den Bezeichnungen »einen Esel stechen«, »einen Esel bohren« oder auch »Eselsohren aufsetzen«, gelegentlich auch »Storch stechen« oder »Hörner aufsetzen«53 (franz.: »faire les cornes«, ital: »fare il corno«, »por il corno«).54 Sie ist, wie wir gleich hinzufügen müssen, nur ein Element einer ausdrucksreichen, differenzierten Handzeichensprache, welche, von volkstümlichen Überlieferungen in einigen Gebieten der Romania abgesehen, weithin in Vergessenheit geraten ist. Je nach dem Situationszusammenhang, in dem sie ausgeführt wird, kann die Geste verschiedene Funktionen übernehmen. Zum einen - vielleicht die historisch älteste Funktion - ist sie eine Abwehrgeste, das heißt, sie dient zur magischen Abwehr von Bedrohungen durch Hunde, durch bösen Blick usw. Zum andern ist sie Ausdruck des Spotts, speziell im erotischen Bereich, wenn

52 53

54

So Gero von Wilpert (wie Anm. 49), S. 108. S. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. von Bächtold-Stäubli. Bd. III. Berlin und Leipig 1930/31, Sp. 332 und 1017; DWB II, Sp. 228, III, Sp. 1145/46 und 1154; X, 3, Sp. 375. Zur schwierigen Frage, ob mit der Bezeichnung »einen Storch stechen« das gleiche gemeint ist wie mit den Bezeichnungen »Esel bohren« usw. vgl. Lenz Kriss-Rettenbeck: Probleme der volkskundlichen Gebärdenforschung. In; Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1964/65, Volkach 1965, S. 33. Walther von Wartburg: Französisches Etymologisches Wörterbuch. Bd. II. Basel 1946, S. 1201.

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es darum geht, einen betrogenen Ehemann, einen »Gehörnten«, zu verspotten. Schließlich ist sie aber auch generelles Zeichen des Spotts, stärker noch, der Verhöhnung, in jeder beliebigen Situation. Dem Literaten des 16. und 17. Jahrhunderts, und zwar dem humanistisch geschulten ebensowohl wie dem aus niederen literarischen Traditionen schöpfenden, waren diese Geste und die benachbarten des gesamten Fingersprachsystems geläufig und vertraut. In den Wissensbeständen enzyklopädischer Humanistengelehrsamkeit (offenbar besonders neuplatonischer Provenienz) nimmt die Chirologie, die Wissenschaft von den Handgebärden, neben der Chiromantie, der Handlesekunst, einen unerwartet breiten Raum ein.55 Kaum ein Lexikon oder auch Wörterbuch der Zeit unterließ es, in umfangreichen Rubriken den Sinn und die Herkunft der einzelnen Handzeichen darzulegen.56 So kann es nicht erstaunen, wenn die Geste des »Eselstechens« und die anderen Handgesten häufig auch auf bildlichen Darstellungen der Zeit erscheinen. Lutz Röhrich hat vor kurzen diesen Handgesten und ihren bildlichen Darstellungen ein längeres Kapitel gewidmet.57 Er reproduzierte unter anderem zwei zusammengehörige Flugblätter, die einen Ehemann und eine Ehefrau als jeweilige Vordergrundsfiguren in einem problematischen sexuellen Verhältnis zeigen.58 Auf dem einen Blatt reitet die Frau auf einem überdimensionalen Huhn und verhöhnt den impotenten Ehegespons mit der Gebärde der »Feige« (franz.: »figue«, ital. »fica«). Sie streckt bei geballter Faust den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger hindurch, wodurch sie zu verstehen gibt, was sie bei ihrem Mann nicht finden kann. Der Ehemann auf dem andern Blatt hat einen Hahn bestiegen und führt auf diesem für ihn prekären Wappentier die Geste aus, die uns in Hinblick auf Moscherosch interessiert: er streckt den 55

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Folgende mehr oder weniger systematische Darstellungen der Chirologie sind mir bekannt geworden: Agrippa von Nettesheim: De occulta philosophia, 1531, c. LH; Giovanni Bonifacio: L'arte de cenni con la quale formandosi favella visible, Vicenza 1616; John Bulwer: Chirologia: or the Natural Language of the Hand, London 1644; [anonym]: Digita lingua, 1698; vgl.: Francis Hayer: »Gestures. A Working Bibliography«. In: Southern Folkore Quarterly, Bd. XXI, Dezember 1957, S. 218-317. Vgl. für »Esel stechen«, die Gebärde, mit der wir es augenblicks zu tun haben: Kaspar Stieler: Der teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs. Teil I. Nürnberg 1691, Sp. 389; Großes vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 8. Halle und Leipzig (bei Johann Heinrich Zedier) 1734, Sp. 1882: »Man pflegte auch denen, die man schimpffen oder verspotten wollte, Eselsohren mit den Fingern aufzusetzen.« Casaubonus ad Pers. Sat. I, 59. Johann Leonhard Frisch: Teutsch-lateinisches Wörterbuch. Bd. I. Berlin 1741, S. 232: »einem den Esel stechen, einem die zwey Finger, nemlich den Zeige= und den kleinen Finger steif entgegen halten, da die zwey mittleren einwärts gebogen, pugnum alicui monstrare, indice & auricula extensis; manu auriculas aselli monstrare alicui.« Lutz Röhrich: Gebärde-Metapher-Parodie. Studien zur Sprach- und Volksdichtung. Düsseldorf 1967, S. 7-36: Gebärdensprache und Sprachgebärde. Ebd.: Bild 15 und 16. Vgl. auch Johannes Bolte: Bilderbogen des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Volkskunde 19 (1909), S. 78; Hermann Wäscher: Das deutsche illustrierte Flugblatt. Bd. I. o. O. (VEB Verlag der Kunst) 1955, S. 88, wo die beiden Blätter in größerem Format und deshalb, besonders hinsichtlich der Bildunterschriften, deutlicher als bei Lutz Röhrich reproduziert sind.

Der Satyr und die Satire

273

Kleinen und den Zeigefinger aus. Damit gibt er in diesem Fall zu erkennen, daß er ein »Gehörnter« ist, die Spottgebärde fällt auf ihn selbst zurück. 59 Beide Blätter geben zusammen ein hübsches Beispiel für die respondierende Kombination solcher Gesten der Handzeichensprache. Was nun diese und verschiedene andere Gesten für uns interessant macht, ist die Beobachtung, daß sie in Schriften satirischer Grundhaltung besonders häufig auftreten und daß auf Illustrationen gerade der Satyr sich gern mit diesen Handgebärden ausdrückt. Im Text satirischer Erzählungen und Romane ist immer wieder die Rede davon, daß eine Figur der andern »Eselsohren aufsetzt«, »die Feige weist«, »den Mönch sticht« (Mittelfinger vorrecken) usw. Die Belegtexte, die das Deutsche Wörterbuch allein für die uns interessierende Gebärde »Esel stechen«, »Esel bohren«, »Eselsohren aufsetzen« aufführt, gehören zum größten Teil der Satire an und reichen von Geiler von Kaysersberg, Hans Sachs, Johann Fischart, Valentin Schumann im 16. Jahrhundert zu Aegidius Albertinus, Friedrich von Logau und Christian Weise im 17. Jahrhundert. In den simplicianischen Schriften Grimmelshausens konnten wir für diese Geste keine Belege finden. Dagegen kommt es vor, daß eine Figur der andern »die Feige weist« und mit dieser wohl noch geläufigeren Geste ein beträchtliches Maß an Verachtung ausdrückt.60 Ebenso bedienen sich die Figuren der Romane Johann Beers öfters dieser stummen Sprache.61 Die häufige Nennung dieser Gebärden im niederen Roman und in satirischen Erzählungen, ihre Verbreitung auf den Illustrationen satirischer Flugblätter ist kein Zufall. Sie ergibt sich aus einer Tradition, die zur Humanistensatire zurück und von da zu den klassischen Mustern Persius, Martial und Juvenal reicht. Im speziellen Fall »Esel stechen« kann sich der Satiriker besonders auf die Satiren des Persius berufen.62 Von ihm war etwa jene Glücklichpreisung des doppelköpfigen Janus bekannt, dem es erspart bleibe, so wie die Menschen zu erleben, daß jemand hinter seinem Rücken den Storchenschnabel imitiert oder ihm Eselsohren aufsetzt.63 Doch dürfte wohl eine andere Textstelle bei Persius, jene rhetorische Frage: »Auriculas asini quis non habet?«64 noch bekannter gewesen sein - sie nimmt das Motto der Narrenliteratur des 16. Jahrhunderts vorweg.65

59 60

61

62 63

So interpretiert Lutz Röhrich (wie Anm. 57), S. 22-23. Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch. Hg. von Rolf Tarot. Tübingen 1967, S. 278, Zeile 30, Courasche. Hg. von Wolfgang Bender. Tübingen 1967, S. 51, Zeile 28. Z.B.: Das Narrenspital sowie Jucundi Jucundissimi Wunderliche Lebens=Beschreibung. Hg. von Richard Alewyn. Hamburg 1957, S. 81. Vgl. Anm. 56 (J. H. Zedier). Persius I, 58.

64

1,121.

65

Zu andern Gesten, etwa »Mönch stechen«, vgl. die zahlreichen Belegstellen bei Martial: I, 1, 57,1,7,58; II, 28,2; VI, 70,5; bei Persius: II, 33 und bei Juvenal: sat. Χ, 53; s. auch Carl Sittel: Die Gebärden der Griechen und Römer. Leipzig 1890; hier: S. 103-109. Ein entsprechendes pompejanisches Wandbild reproduziert Lutz Röhrich (wie Anm. 57), Bild 19.

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V/alter Ernst

Schäfer

Titelbild zu Fischart: Jesuiterhütlein, 2. Ausg. 1591

Mehr noch: Die imitierten Eselsohren scheinen ein in der römischen Satire vorgeprägter Grundgestus des satirischen Erzählers im Renaissance- und Barockzeitalter gewesen zu sein. Mit dieser Gebärde stellte er sich dem Leser vor, gab sich zu erkennen, machte mit seinen Absichten bekannt. Er tat es an exponierter Stelle, auf dem Titelblatt seiner Satiren. Man muß freilich schon genau hinsehen. Die Geste war anstößig und wurde mancherorts polizeilich geahndet. 66 Auf dem Titelbild zu Johann Fischarts Jesuiterhütlein (1580), einer derb dreinschlagenden konfessionspolemischen Schrift gegen die Jesuiten im besonderen und den katholischen Klerus allgemein, ist die Werkstatt Lucifers dargestellt, in der eine Schar böser Geister an den viereckigen Kopfbedeckungen der Jesuiten arbeitet. Im Vordergrund links setzt einer der Unterteufel einem Jesuiten den charakteristischen Hut mit den vier Hörnern auf. Rechts ist der Antichrist zu sehen, die Tiara auf dem Kopf, der sein jüngstes Meisterwerk, den eben 66

S. Oskar Moser: Zur Geschichte und Kenntnis der volkstümlichen Gebärde. In: Carinthia I, Mitteilungen des Geschichtsvereins für Kärnten, 144. Jg., Heft 1-3, Klagenfurt 1954, S. 768. Den Hinweis auf diese Schriften volkskundlicher Literatur verdanke ich Lutz Röhrich.

Der Satyr und die Salire

275

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Titelkupfer zu Moscherosch: Les Visiones Don de Quevedo. Satyrische Gesichte Philanders vom Sittewalt, Frankfurt 1644 (Erste Schönwettersche Ausgabe; Bechtold c)

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Walter Ernst

Schäfer

erfundenen Jesuitenhut, betrachtet. Im Hintergrund, zwischen den Figuren versteckt, erkennt man eine männliche Gestalt, die mit ausgestrecktem Kleinen und Zeigefinger auf einen sitzenden Teufel weist, der sich einen neu fabrizierten Ordenshut aufgesetzt hat und Karten spielt. Auf das versteckte Detail kommt es an. Es macht die Absicht des Verfassers deutlich und bezeichnet das Ziel des satirischen Angriffs. Wir stehen nicht an, in der Figur im Hintergrund ein Bildzeichen zu sehen, das für den Autor als Satiriker selbst steht. Wie schon öfters bemerkt, übernimmt das Titelbild in diesen Schriften wesentliche Funktionen der herkömmlichen Vorrede: Thema und Wirkungsziel werden durch die Geste dem Leser deutlich gemacht. Im Vergleich zu Fischart scheint uns Moscherosch (oder vielmehr Rompier von Löwenhalt) im Titelkupfer zur Erstausgabe der Gesichte weitaus beherzter. Der Satyr, der hier die anstößige Geste ausführt, ist in den Vordergrund gerückt. Die Geste mußte dem mit der Fingersprache vertrauten Leser sofort auffallen. Vorsichtiger war dann wieder der Nachdrucker im Verlag Schönwetter zu Frankfurt. Er ließ für seine unechten Philander-Ausgaben (Frankfurt 1644-47; Frankfurt 1647^9), mit denen er nicht weniger Erfolg gehabt zu haben scheint als der autorisierte Straßburger Verlag Mülbe mit den echten, eine neue Kupferplatte herstellen, die ein neues, nun noch figurenreicheres Titelbild abgab. Die satirische Geste des »Eselstechens« sollte auch auf ihm nicht fehlen. Offenbar gehörte sie zum Grundbestand der satirischen Vorrede in Bildern und Emblemen. Sie ist nur in den Hintergrund gerückt worden. Die beiden Satyrn im Mittelfeld als Titelschildhalter, die wieder auf einem Bock sitzen (die hauptsächlichen Bildelemente des Kupfers zu den echten Straßburger Auflagen sind offenbar nur anders arrangiert), werden flankiert von dem uns schon bekannten Narren links und dem an seinen Hörnern erkennbaren Satyr rechts. Beide schauen hinter dem Rücken der Satyrn vorn hervor. Die Spottgeste ist in diesem Fall an den versteckteren Satyr delegiert. Nur der aufmerksam auf Details achtende Leser nimmt sie wahr. Doch mit einem solchen rechnete offenbar der Satiriker. War es im einen Fall (Fischart), wie wir annehmen, die Figur des Autors selbst, im andern Fall (Moscherosch und die unechte Philander-Ausgabe) der Satyr, die sich mit dieser Geste vorstellten, so müssen wir offenbar damit rechnen, daß auch die andere, neben dem Satyr zweite der Leitfiguren satirischer Schriften, daß auch der Narr mit diesem Grundgestus Thema und Intention des Autors verdeutlichen kann. Auf dem Titelblatt einer Ausgabe der Satiren des Juvenal und des Persius, die zur Zeit Moscheroschs, 1650, in Amsterdam erschien, ist es nicht der Satyr links, sondern der ihm gegenüberstehende und dem Leser zugewandte Narr rechts, der mit den Fingern die stumme Sprache des Satirikers spricht. Nur ist es dieses Mal nicht die bisher vorgefundene Weise des »Eselstechens«, sondern eine Variante dieser Geste, die er ausführt. Er streckt Zeige-

Der Satyr und die Satire

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Titelkupfer zu D. Jun. Juvenalis et Auli Persii Flacci Satyrae, Amsterdam 1650

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Walter Ernst Schäfer

und Mittelfinger zur Imitation der Eselsohren aus. Auch diese Spielart gehört dem traditionellen Bestand der Spottgesten in satirischen Schriften zu.67 Was wir hier und im folgenden aus der Vergessenheit ans Tageslicht ziehen, scheinen Bruchstücke einer mehr oder weniger stark gattungsgebundenen Bildsprache zu sein, deren Elemente, deren Genesis und Traditionslinien erst noch auf breiter Basis aufzuarbeiten wären.68 Dabei dürften die zahlreichen Ausgaben und Übersetzungen antiker und fremdsprachiger Satiriker nicht fehlen. Wir müssen uns hier mit den vorläufigen Ergebnissen einer ersten Materialsuche begnügen. Doch schon die so gewonnenen Einsichten werden uns für das Verständnis der simplicianischen Titelkupfer hilfreich sein. Vorerst wenden wir uns dem andern Bildmotiv auf dem Titelkupfer zu Moscheroschs Erstausgabe der Gesichte, dem Skorpion, zu. Es scheint ein weiteres Element dieser Bildsprache zu sein (auch wenn der Zufall uns in dieser Hinsicht bisher keine entsprechenden Illustrationen in die Hand gespielt hat). Aufschluß ist in diesem Fall von der Emblematik zu erhalten. Sie macht es uns allerdings nicht leicht. Der Skorpion nämlich ist ein beliebtes und in den verschiedensten Sinnbezügen stehendes Zeichen. Beim Durchblättern der umfangreichen Materialsammlung zur Emblematik, die Arthur Henkel und Albrecht Schöne zusammengestellt haben,69 wird deutlich, daß der Skorpion häufig als Sinnbild für Hinterlist und Tücke steht, daß er aber auch einzelnen Klüglern unter den Emblematikern zur Verbildlichung sehr spezieller Sachverhalte herhalten mußte.70 Wir greifen unter den in Frage kommenden Emblemen zwei heraus und werden danach diese Wahl zu rechtfertigen haben. Der Sammelband enthält zwei Embleme, die den Skorpion in einem gleich gearteten Bedeutungszusammenhang zeigen.71 Auf dem Bildteil des ersten Emblems, mit dem wir uns hauptsächlich beschäftigen, ist links ein großer Skorpion dargestellt, rechts eine Flasche, in der sich ein toter Skorpion aufgelöst hat. Die jeweils zugehörigen Bildüber- und Unterschriften machen klar, daß dem Tier ungewöhnliche Fähigkeiten zugeschrieben werden: »morte medetur« (»Im Tode wirkt er als Medizin«) und »quae nocuere juvant«. Es kann einerseits mit seinem Giftstachel gefährliche Verletzungen beibringen, auf der andern 67

68

69

70 71

Sie findet sich zum Beispiel früher schon auf dem Holzschnitt einer satirischen Schrift Johannes Pfefferkorns gegen Reuchlin: Ein mitleidliche Klag [...], 1521, abgebildet bei Gustav Könnecke: Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Marburg 1912, S. 132. Es versteht sich, daß vom streng linguistischen Standpunkt aus von keiner Sprache im eigentlichen Sinn die Rede sein kann. Die hier besprochenen Bildzeichen sind durch Analogie gebildet, nicht durch »arbiträre« Verknüpfung von Bedeutungsträgern und Bedeutungswert. Auch fehlen wohl die der Sprache eigentümlichen strukturellen Relationen zwischen den einzelnen Zeichen. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967; hier Sp. 903-907. Vgl. etwa ebd. Sp. 903. Sp. 904: aus der Emblemsammlung von Joachim Camerarius. Nürnberg 1604; Sp. 905: aus der von Nicolaus Taurellus (Oechslin). Nürnberg 1602.

Der Satyr und die Satire

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Vivens mortem homini instillo, moriensque medelam, Quam mira alternant vitaque morsque vice ? Im Tode wirkt er als Medizin Lebe ich, so flöße ich dem Menschen den Tod ein, Heilung dagegen, wenn ich sterbe. Wie seltsam wechseln Tod und Leben ! Plin. nat. hist. X I 9 0 , XXIX 91; Erasmus v. R: Adag. 1 999 S. 112; Giovio Dial. S. 107. Emblem aus: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, hrsg. von A. Henkel und A. Schöne, Stuttgart 1967, Sp. 905.

Seite kann es, wenn es tot und pulverisiert ist, als Gegengift dienen und die von ihm selbst verursachten Wunden heilen. Wir erfahren aus der Volkskunde, daß diesem Bildgedanken eine geläufige Praxis der Heilkunst entsprach. In der Volksmedizin spielte das »Skorpenöl« eine große Rolle. Es wurde auf solche Weise gewonnen, daß man lebende Skorpione in eine Gefäß mit Olivenöl steckte und die Flüssigkeit über einer Feuerstelle allmählich erhitzte. 72 Daß wir uns für dieses und das ihm ähnliche Emblem (Sp. 905) entscheiden, hat zunächst den allgemeinen Grund, daß die Vorstellung vom ambivalenten 72

S. H. Bächtold-Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. VIII. S. 18-19.

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Skorpion weit verbreitet war. Sie ist sogar in ein Sprichwort eingegangen: »Ein Skorpion ist gut für Skorpionstiche.«73 Nur unter dieser Voraussetzung konnte das Sinnbild auf dem Titelblatt eines Buches wieder erscheinen, wo ihm ja, wie bei Moscherosch, in der Regel Überschrift und erklärendes Epigramm fehlen. Doch erst dadurch, daß wir dem im Emblem sinnfällig gewordenen Gedanken im Rahmen einer Satire und im Zusammenhang satirischer Absichten wiederbegegnen, versichern wir uns, daß wir auf der rechten Spur sind. Es kann kaum Zufall sein, daß wir das Sinnbild an exponierter Stelle einer satirischen Schrift Johann Fischarts wiederfinden. Zum zweitenmal werden wir beim Abtasten von Traditionslinien von Moscherosch auf Fischart zurückverwiesen und bewegen uns im Gattungszusammenhang von Narrenliteratur und Satire. Johann Fischart hebt seine Bearbeitung des Eulenspiegelstoffes, den Eulenspiegel Reimenweiß (1572),74 den er als Moralsatire auf die Gebrechen verschiedener Stände konzipiert hat, mit einem Prolog Eulenspiegels an, in dem dieser die Musen um Beistand anruft. Sein verwegener Ritt auf dem Pegasus, wie er selbstironisch sein Unternehmen stilisiert, bedarf übernatürlicher Hilfe. Im Rahmen dieser (parodistischen) invocatio umreißt Eulenspiegel seine Aufgabe als Satiriker und macht sie anschaulich, indem er sich mit dem Skorpion vergleicht. Er bittet die Musen: Daß jr mich etwas anders lehren Die Leut von schalckheit abzukehren Daß also werd mein schalckheit nütz, Daß sich ein ander darab stütz 75 Und laß jetzunder ab darvon Werd also wie ein Scorpion Der seine stich heilt nach dem todt Und werd ein Artzt der geschädigt hot.

- Die Verse nehmen die Überschrift des einen Emblems: »morte medetur« wörtlich vorweg (»Der seine stich heilt nach dem todt«), Eulenspiegel, der Erzähler, stellt sich als satirischer Arzt vor, als einer, der mit dem Gift seiner eigenen »Schalkheit« nicht nur Wunden schlagen, sondern auch heilen kann. Zur Verdeutlichung dieser Ambivalenz seiner satirischen Wirkungsabsicht dient der Skorpion. Wir kehren zum Satyr auf dem Titelkupfer der Erstausgabe Moscheroschs zurück und stellen fest, daß dort, wo der Satyr mit signifikanten Gesten uns als Lesern entgegentritt, typische Funktionen des satirischen Prologs erfüllt werden. Der Satyr verdeutlicht mit der rechten Hand die satirische Intention der Schrift und er rechtfertigt mit der linken Hand seine satirische Grundhaltung

73 74 75

S. Karl Friedrich Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Bd. IV. Leipzig 1876, Sp. 588. Hg. von Adolf Hauffen: Kürschners Deutsche Nationalliteratur. Bd. 18, S. 8. D. h. daß sich der Leser als der andere Narr nach dem Erzähler davor hüte.

Der Satyr und die Satire

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mit dem Sinnbild des Skorpions.76 Die von vielen Seiten, besonders aber vom Klerus der verschiedenen Konfessionen immer noch mißtrauisch beobachtete Haltung des Satirikers, dem man vorwirft, den Balken im eigenen Auge nicht zu sehen, bedarf noch sehr wohl einer Rechtfertigung. Sie findet sie im Hinweis auf ihre moralpädagogische Wirksamkeit. Von den Gesten fallt nun aber auch Licht zurück auf die Gesamtfigur des Satyrs und auf den Narren, der einmal (bei Moscherosch) als sekundäre Figur hinzutritt, ein andermal (in der Juvenal-Ausgabe) selbst Träger dieser Gesten ist. Beide Figuren stehen insofern, als sie sich mit diesen Gesten präsentieren, für den Autor mit seinen satirischen Absichten und Wirkungszielen. Dieser versteckt sich entweder, wie Johann Fischart, hinter dem NaiTen oder er verbirgt sich hinter der mythischen Figur des Satyrs als dem Anfänger der »Satyre«. So, scheint es, müssen wir den Satyr in einer ersten Hinsicht auffassen. Um darüber hinaus weitere Bedeutungskonstituenten der Satyrfigur zu erkennen, wählen wir ein anderes Verfahren. Gegenüber den Satyrn Grimmelshausens sind wir im Fall Moscheroschs in der günstigeren Lage, daß die beiden erwähnten Vorreden, jene Rompiers zur Erstausgabe 1640 und die spätere Moscheroschs, selbst Interpretationshilfen geben. Der Satyr - so Moscherosch - verspottet die Gebrechen der Menschen und die Schäden der Welt »mit lächerlichen hönischen geberden/ mit grossem gelächter«. - Nun, das entlarvende Gelächter ist in diesem Fall, bei dem Satyr des Kupfers der Erstausgabe, eher zurückhaltend, nicht mehr als ein Grinsen. Dafür ist die Spottgebärde der »Eselsohren« um so drastischer. Zudem fällt auf, daß die ausgestreckten Finger sichtlich die schwungvollen Linien der geschweiften Hörner des am Boden kauernden Bocks variieren. Sollte das ein Hinweis sein? Besteht ein verborgener Bezug zwischen dem Bock und der Geste des Satyrs? Satyra aber hat seinen ursprung von den Satyris. Satyri waren ein Geschlecht der Heyden Wald Götter: deß oberen halben Leibs als Manschen/ außerhalb daß sie Hörner und lange spitze Ohren hatten/ unden zu alß haarichte Geißböcke gestaltet/ wie du an dem Titel deß Ersten Theils im Kupfferstuck getruckt siehest. 77

Die Gestalt des Satyrs setzt sich, wie Moscherosch seinem Leser erklärt, aus Komponenten zweier Kategorien zusammen, die verschiedenen Seinsbereichen entstammen. Der obere Teil (mit Ausnahme der Hörner und Ohren) ist menschlicher Art, der Unterkörper zeigt dieses Wesen dem Tierreich verhaftet. Er ist nach Art eines »Geißbocks« beschaffen, wie ja auch die ganze Figur hier und anderwärts auf einem Bock aufsitzt. Im Satyr verbinden sich Mensch und Tier.

76

11

Das eine nach H. Ehrenzeller (wie Anm. 7), S. 36, eine »Werkfunktion«, das andere eine »Autorenfunktion« des Prologs. Vorrede an den Leser der Ausgabe Straßburg 1650, S. 2.

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Mit einer solchen Auffassung des Satyrs war aber nun zugleich die in der christlichen Anthropologie weithin gültige Definition des Menschen als animal rationale angesprochen, eine Wesenbestimmung, die, ebenso wie jene des Satyrs, einerseits das Verhaftetsein im animalischen Bereich als Gattungsbestimmung (genus proximum), andererseits das Herausgehobensein des Menschen durch das Artmerkmal der ratio implizierte (differentia specifica). Der Satyr in seiner dualistischen Struktur konnte zum sinnfälligen Bild der komplexen Konstitution des Menschen werden. Daß wir damit auf der richtigen Spur sind, scheint uns die Vorrede Rompiers zur Erstausgabe der Gesichte zu belegen. Rompier stellt die Wesensbestimmung des Menschen an den Anfang seiner Darlegungen zur »Satyre«. Er geht dabei von der im Dogma der Kirchen anerkannten, letztlich auf die Aristotelische Ethik sich gründenden dualistischen anthropologischen Theorie aus, wonach der Mensch aus den wesentlichen Konstituenten Seele und Leib besteht (gegenüber der Lehre von der Trichotomie, die Leib, Seele und Geist als Konstituenten nennt, sowie gegenüber materialistischen und spiritualistischen anthropologischen Entwürfen). Der Mensch hat demnach mit den Tieren einen beseelten Leib gemein, nämlich einen solchen, der von einer »unvernünftigen«, animalischen Seele geleitet wird. Das wichtigste Kennzeichen dieses seelischen Antriebs ist die Begehrlichkeit (»allerley begierden« bei Rompier). Was ihm hingegen als Arteigenes zukommt, ist seine vernünftige Seele, mit deren Hilfe er Erkenntnis gewinnt. Die ratio stellt das durch Lehre vermittelte und durch Erfahrung gewonnene Wissen bereit, das wiederum Voraussetzung für die freie Willensentscheidung und für das Gewissen ist. Nur sie kann den göttlichen Willen erkennen und durch die Befolgung der göttlichen Gebote jene Gemeinschaft mit Gott finden, zu der der Mensch im Schöpfungsakt durch seine Gottebenbildlichkeit berufen worden ist.78 Die zentralen Begriffe dieses dichotomischen Menschenbildes sind in Rompiers einleitenden Erklärungen enthalten: Gunstiger lieber Leser/ es wäre zwar wol zuwiintschen/ daß gleich wie der gütige GOtt allen Menschen/ menschliche Veraunfft eingepflantzet/ und damit einen underscheid zwischen jhnen und anderen thieren gemachet/ also auch sie alle/ solcher hohen und edlen Gaab der Vernunfft sich recht/ als Menschen/ gebrauchtem [!]; in Weißheit und Tugend sich/ emstlich ubeten; und dadurch dem ebenbild GOttes (war zu sie erschaffen) sich ähnlicher erzeygeten/ als/ leyder/ meisten theils geschiehet. Es steckt uns aber der alte lasterhafftige Adam so tieff in dem busen/ daß er mit Stecken und Gablen (so zureden) kaum underweilen mag bey etlichen darauß getrieben werden. Dahero dann/ wer mit eröffneten äugen deß Verstands umb sich siehet/ leichtlich kan wahr nemmen/ wie in menschlicher gestalt der viehische Siñ sein herberg und auffëthalt hab; allerley begierden erweck; auch gantz unartig=unnd un=menschliche thaten/ under dem Schein menschlicher handlung/ offtmahls verursache. Ein solcher wird

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Das Grimmelshausen leitende Menschenbild hat Gerhart Mayer: Die Personalität des Simplicius Simplicissimus. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 88 (196), S. 497-521, bes. S. 503-511, mit der erwünschten Präzision am Beispiel des Simplicissimus abstrahiert. Es deckt sich weitgehend mit dem hier nur skizzierten, so daß wir der Kürze wegen auf seine Ausführungen verweisen können.

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mitten unter dem hauffen derer/ so für menschen erscheinen sich in warheit mit wilden thieren umbgeben befinden; er wird da sehen so viel grimmiger Löwen/ ehrsüchtig hoch=steigender Adler/ stoltz auffgeblasener Pfawen/ listiger fuxen/ feindseeliger schlangen und scorpionen/ neidiger hunde/ geitziger Wölff und Geyren/ garstig prassender Säwe/ geyl stinckender Böcke/ läppischer Affen/ und so viel grob dölpischer Esel uberai finden/ daß er dafür wird halten/ die schwartz=künstliche Circe habe mit jhrem zauber=Trunck nicht nur das Ulyssische gesinde verwandelt/ sondern damit die gantze Welt angestecket und be=unseeliget [...]

Der vernunftbegabte Mensch steht immer in Gefahr, zum Tier zu entarten wodurch eben er zum Objekt satirischer Kritik wird. In einer schier nicht endenwollenden Reihe werden die von der mittelalterlichen Allegorese her festgelegten Tiere an Stelle der mit bestimmten Lastern behafteten Menschentypen gesetzt. In solch allegorischer Weise wird ganz ähnlich (zum Teil in frappierender Übereinstimmung) wie in den Narrenkapiteln des Simplicissimus (vgl. I, 30; II, 7; II, 12) die breite Skala menschlicher Degradationsformen entfaltet, die der Satiriker »mit eröffneten äugen deß Verstands« unter dem Schein menschlicher Integrität erkennen kann. Sie alle sind beschlossen in dem einen Bild des bockförmigen Satyrs, das am Anfang fast jeder »Satyre« steht. Wir wagen deshalb die These - auch wenn uns explizite Belege vorerst noch fehlen - , daß die Satyrfigur auch ein Sinnbild der dualistischen Konstitution des Menschen ist, ein warnendes Sinnbild, das im Spannungsverhältnis steht zur Gottebenbildlichkeit, zu welcher der Mensch berufen ist. Und das würde schließlich heißen: Die höhnischen Gebärden, mit denen der Satyr als Abbild dem Menschen entgegentritt, zielen auf das Animalische im Menschen. Indem der Satyr »den Esel sticht«, die Geste der »Hörner« macht, stößt er den Menschen auf seine Zwiespältigkeit, die ein Merkmal gerade seines eigenen Wesens ist. VII Wenden wir uns den Titelkupfern der simplicianischen Schriften wieder zu, so können wir dies nun von einer relativ gesicherten Ausgangsbasis tun. Die Bedeutungsgehalte einiger offenbar gattungstypischer Sinnbilder der »Satyre« haben wir erkannt. Wir beginnen mit der Illustration zum Satyrischen Pilgram, auch wenn deren Figuren und Bildelemente von den bislang bei Moscherosch und anderen beobachteten auf den ersten Blick weitab zu liegen scheinen. Der Satyr, der uns hier entgegentritt, unterscheidet sich nicht nur in einigen Details seiner Körpergestalt von den bisherigen Exemplaren der species (davon wird noch die Rede sein müssen), er tritt dem Leser auch nicht mit einer Spottgeste oder mit dem Zeichen des Skorpions entgegen. Nirgends in seiner Haltung oder in seinen Attributen - er trägt einen Stab - scheint ein Hinweis auf das Wirkungsziel oder Thema der Schrift versteckt zu sein. Sollten wir uns getäuscht haben? Sollten die Argumente, die wir (in Teil IV) für den

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satirischen Charakter dieses Traktats anführen konnten, vom Titelblatt, wo der Autor in der Regel seine Absichten dem aufmerksamen und in die Bildsprache eingeweihten Leser zu erkennen gibt, nicht bestätigt werden? - Die Illustrationen Grimmelshausens sind komplexer als die Moscheroschs. Sie häufen die emblematischen Figuren und Details in einer Weise, die den herrschenden Regeln für die Komposition sinnbildlicher Darstellungen schon widerspricht.79 (Ein methodischer Grund mehr, mit der Erarbeitung der früheren Illustrationen zu beginnen). Das Titelkupfer zum Pilgram ist zweiteilig. Die früheren Interpreten (Rosenfeld, Schölte) sind auf die Details des unteren, architektonisch wie ein Podest vorspringenden Teils nicht eingegangen. Auch wir vermögen vorerst nicht zu sagen, was die beiden offenbar parallel zu den Figuren des Oberteils, zu Pilger und Satyr, opposit angeordneten Figuren, die abstruse rechts und die Frauenfigur links, wohl meinen mögen. Zu Füßen des Seifenblasen produzierenden Kindes jedoch - das dem Putto bei Moscherosch entsprechen dürfte sind deutlich zwei Gefäße erkennbar, von denen das eine links klar lesbar mit »Teriac« beschriftet ist; eine Apothekerbüchse also, mit jenem Allheilmittel, das vor allem zum Materialbestand im Kramladen der Quacksalber gehörte, aber auch in Apotheken zu haben war. Das auf der andern, rechten Seite stehende Gefäß trägt einen Klebezettel, dessen Beschriftung auf den Titelkupfern verschiedener Exemplare der Ausgaben von 1667 und 1671 (E1 und E2), die wir in Händen gehabt haben, nicht völlig zu lesen ist.80 Es liest sich »aconi [...]«, der Rest bleibt undeutlich. Um ein deutschsprachiges Lexem kann es sich nicht handeln. Zieht man ein lateinisches Wörterbuch zu Rate, so kommt eigentlich nur »aconitum« (oder der Plural »aconita«) in Frage, auf deutsch Wolfswurz oder Sturmhut, ein starkes und schnell wirkendes Gift. Es wurde im Altertum, bei Plinius und Ovid, oft metonymisch für schnell wirkende Gifte schlechthin genannt. Offenbar muß die vollständige Beschriftung so lauten. Denn Grimmelshausen spricht in einem folgenden Kapitel seines Traktats, das von den Ärzten und Heilmitteln handelt (II, 8), gerade von diesem Gift.81 »Die ärtzt oder Medici sind so unterschiedlichen als die Ingredientia selbsten/ einer ist dem Aurum potabile, und ein anderer dem Gifft Aconita zu vergleichen/ einer errett eine gantze Stadt oder Landschafft von einer bösen Sucht/ der ander erfüllt mehr

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Vgl. z.B. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gespächsspiele. IV. Teil. Hg. von Irmgard Böttcher. Tübingen 1968 (Faksimile-Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1644), S. 189 (Gesprächsspiel CLXVIII: Der Sinnbilder Figuren): »Was man mit einer Figur genugsam kan ausbilden/ darzu sol man nicht mehr gebrauchen: damit aber die Anzahl der Figuren bestimmet werde/ sind auf das meinste drey derselben zugelassen/ jedoch daß sie alle zu einem Zweck zielen/ und zu einer Gleichniß angesehen sey [...]« S. auch Hellmut Rosenfeld (wie Anm. 6), S. 64, Anm. 28. Für Mitteilungen über das Exemplar der Ausgabe 1671 (E2), das die Zentralbibliothek Zürich verwahrt, danke ich dem Herausgeber der Werke Grimmelshausens, Rolf Tarot. Satyrischer Pilgram (wie Anm. 27), S. 144.

Der Satyr und die Satire

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als nur einen Kirchhoff mit Leichen [...]« Es wird in diesem Fall zum Zweck des Vergleichs einem andern gängigen Heilmittel, dem »aurum potabile«,82 entgegengesetzt. - Heilmittel und Gift, nützliche und schädliche Wirkung ärztlicher Kunst, diese Begriffe eröffnen, sobald sie in den Bereich der Literatur übertragen werden, den Blick auf ein weitreichendes metaphorisches Bezugsgefüge. Der Satiriker und Sittenlehrer als Arzt, der den Patienten die heilsamen bitteren Pillen verabreicht (und wie die gängigen Topoi sonst noch heißen), fällt einem von selbst ein.83 So dürfen wir sagen, Grimmelshausen hat nun nicht wie Moscherosch das Sinnbild des Skorpions gebraucht, um sich rechtfertigend auf die ambivalente Wirkung der »Satyre« zu verweisen, er wählte ein einfacheres Bild, das auch der emblematisch weniger geschulte Leser verstehen konnte. Die beiden Wirkungsmöglichkeiten sind auf die beiden Apothekerbüchsen verteilt. Auch wenn dieses Mal der Satyr nicht die stumme Sprache seiner Finger und seiner Attribute spricht, über die »Satyre« wird das gleiche ausgesagt. Wir halten deshalb das erste Produkt von Grimmelshausens Schriftstellerei auch vom Titelblatt her für eine »Satyre«. VIII Am Ende unserer Untersuchungen müßte nun das Titelkupfer zum Simplicissimus stehen. Wir müßten diejenige Illustration Grimmelshausens angehen, in der er die meisten Sinnbilder miteinander zu verbinden getrachtet hat. Allein die durcheinander gewürfelten Bildzeichen der aufgeschlagenen Seiten des Buches würden manche methodische Vorüberlegungen erfordern. Wir begnügen uns damit, einige wenige Einsichten, die sich mühelos aus den bisherigen Beobachtungen ergeben, festzuhalten. Sie allein schon genügen, um zu zeigen, daß die methodischen Ansätze vor allem Fritz Halfters und Hellmut Rosenfelds nicht geeignet waren, zu sicheren Erkenntnissen zu führen, und daß ihre Thesen, denen sich Schölte anschloß, nicht zu halten sind. In der Gestalt des Satyrs, die sich hier - nun mit zusätzlichen Elementen behaftet - vor allem in der oberen Körperhälfte und im Gesicht darbietet, erkennen wir fraglos den Satyr im Sinn der »Satyre«, im Sinn Rompiers und Moscheroschs wieder. Es ist der Satyr, der den Leser mit Spottgebärden und mit großem Gelächter empfängt. Es ist aber auch der Satyr, der ihm die War82

83

S. Großes vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 45. Leipzig und Halle (bei J. H. Zedier) 1745, S. 814-827. Die Vermutung Jürgen Brummacks (wie Anm. 14), S. 346*, daß der Gebrauch medizinischer Metaphorik im Zusammenhang der Satiretheorie Bestandteil einer europäischen Gemeinsprache der Satiriker ist, findet hier eine erste Bestätigung. Ergänzend wäre nur hinzuzufügen: es ist damit zu rechnen, daß die Metaphern aus der Heilkunst sich bildhaft auf den als Vorreden fungierenden Titelkupfern manifestieren; vgl. auch Brummack, S. 291/2* (Literaturhinweise zur medizinischen Metaphorik).

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nung »nosce te ipsum« entgegenhält. Wenn es überhaupt noch eines Beweises bedürfte, daß die Anfange der Schriftstellerei Grimmelshausens wesentlich im Zeichen Moscheroschs und damit im Zeichen der »Satyre« stehen, dann könnte man darauf verweisen, daß das Motto des delphischen Orakels γνώθι σεαυτόν, Leitspruch über dem Lebenslauf des Simplicissimus, schon aus dem Titelkupfer zu Moscheroschs Erstausgabe der Gesichte - und hier in Verbindung mit dem Satyr - spricht. Es findet sich dort in verkürzter Form als Inschrift des Frieses, der die Innenseiten der Bühnenarchitektur umläuft, in welcher der Satyr sitzt. Grimmelshausen hat die Bildinschrift Moscheroschs für seine Titelillustration nicht herangezogen, er hat sie zu einem der zentralen Themen seiner Romanhandlung gemacht. Wir gehen aber sicher nicht fehl, wenn wir das »nosce te ipsum« zu seiner Satyrgestalt mit hinzudenken.84 Der Satyr zeigt das spöttische Lachen, mit dem er die Würde des Menschen in Frage stellt. Gegenüber dem Titelkupfer Moscheroschs ist es in dem breit hingezogenen Mund nun deutlich angelegt. Und auch die Nase sollte man beachten. Diese überdimensionale, bis zum Mund herabgezogene Hakennase darf wohl als der physiognomische Ausweis des Spötters verstanden werden. Man muß sich nur daran erinnern, daß die Verbindung von Witz und Spott mit der abnormen Größe einer Nase den römischen Satirikern eine geläufige Vorstellung war und daß in häufigen Anspielungen besonders bei Martial von diesem Kennzeichen eines gewitzten Geistes die Rede war. Schließlich gab es Satiriker im 17. Jahrhundert, deren Nase sprichwörtlich geworden ist.85 Es fällt nicht schwer, in der Haltung der linken Hand, die Halfter Anlaß zu weitreichenden Spekulationen gab, jetzt die traditionelle Spottgeste des Satyrs wiederzuerkennen. Auch dieser Satyr »sticht den Esel«, selbst wenn die ausgestreckten beiden Finger jetzt zugleich das Buch halten. Wir haben ja bemerkt, daß die Illustratoren diese herausfordernde Geste zu verstecken pflegten, und auch Moscherosch, auf dessen Kupfer sie - eine Ausnahme - deutlich und klar im Vordergrund steht, hat für die späteren Auflagen der Gesichte die Kupferplatte Rompiers nicht mehr benutzt. Die Geste mußte in den Hintergrund verlegt oder ihre Eindeutigkeit verschleiert werden. Bei so bewandten Umständen müßte man fragen, ob den ausgestreckten Fingern im Fall Grimmelshausens noch zusätzlich Verweisungsfunktion zugestanden werden darf. Bei Fischart und auch bei Moscherosch scheint die

84

85

Womit nicht gesagt sein soll, daß Grimmelshausen dieses Motto von Moscherosch als »Quelle« übernahm. Es ist zumindest seit Sebastian Brant die immer wiederholte, wenn auch jeweils verschieden akzentuierte ethische Forderung der »Satyre« an den Menschen. Sie taucht - und das ist, soweit ich sehe, von der Forschung nicht beachtet worden - in Varianten auf illustrierten satirischen Flugblättern, oft als versteckte Bildinschrift, auf, z.B. in dem Stich Pieter Brueghels d.Ä.: Eick [= Jedermann], s. Catalogue raisonné des estampes de Pierre Bruegel l'Ancien. Hg. von Louis Lebeer. Bruxelles 1969, S. 77. Vgl. die umfangreiche Materialsammlung zum Motiv der großen und langen Nase in Epigramm und Satire bei Jörg Ulrich Fechner. Der Antipetrakismus. Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik. Heidelberg 1966, S. 114-132.

Der Satyr und die Salire

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Spottgeste auf das satirische Objekt (Jesuiterhut bzw. Putto) hin gerichtet. Wenn wir die Sprache der Finger des Satyr auch hier so verstehen wollen, dann gehen wir sicher fehl, wenn wir bloß dem Kleinen und dem Zeigefinger einen Richtungshinweis zuschreiben. Wir müssen die Geste als Ganzes nehmen. Sie kann sich dann nur auf den Gesamtinhalt dieser zwei Seiten des Buches beziehen. Doch damit tangieren wir bereits die Frage, wie die Bildzeichen des Buches zu verstehen sind und müssen abbrechen. Wenn es uns gelungen sein sollte, auf dem schwierigen Terrain zu gewisseren Ergebnissen zu gelangen, dann lohnt es sich, im Rückblick die methodischen Prinzipien festzuhalten, von denen wir ausgegangen sind und die einer künftigen, weiter ausholenden und dann auch das Simplicissimus-Kupfer

in all

seinen Details miteinbeziehenden Arbeit zugrunde liegen müßten. Wir haben die simplicianischen Titelkupfer aus der bisherigen isolierten Betrachtung gelöst und sie in den Zusammenhang der Illustrationen satirischer Schriften, speziell der oberrheinischen Narrenliteratur und Traumsatire des 16. und 17. Jahrhunderts, gestellt. Dabei zeigten sich einige wahrscheinlich gattungstypische Sinnbilder der »Satyre«. Bestimmt haben wir damit nur einen Teil einer Sprache in Sinnbildern erfaßt, die es, von der Zentralfigur, dem Satyr, ausgehend, zu erforschen gälte. Die allgemeine Emblematik kann hierbei wohl, wie im Fall des Skorpion und Pans, heuristische Hilfe bieten. Nach den bisherigen Erfahrungen kann man von der Hypothese ausgehen, daß nicht nur die simplicianischen Titelkupfer (wie schon Halfter, Rosenfeld und Ehrenzeller annehmen), sondern die Titelillustrationen satirischer Schriften ganz allgemein Funktionen einer Vorrede haben. Sie müssen demnach in engstem Zusammenhang mit etwa vorhandenen Vorreden und theoretischen Äußerungen gesehen werden. Die spärlichen Aussagen zur Theorie der Prosasatire im 17. Jahrhundert könnten unter Umständen von dieser Seite unversehens bereichert, vielleicht auch präzisiert werden. Dabei dürfte man keinen Moment aus den Augen verlieren, daß diese vom Humanismus inspirierte »Satyre« - wie noch jüngst Ulrich Gaier für den Fall Sebastian Brants aufzeigen konnte - im Schatten der großen römischen Muster steht.

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Eine vergessene konfessionspolemische Schrift von J. M. Moscherosch

Die Vernachlässigung Moscheroschs durch die Forschung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und die komplizierte Textgeschichte der meisten Schriften des Erfolgsautors bringen es mit sich, daß selbst die Bestandsaufnahme seiner Schriften gelegentlich hinter den schon erreichten Stand zurückfallt. JörgUlrich Fechner, der 1972 eine historisch-kritische Gesamtausgabe ankündigte, wird weiterhin langen Atem brauchen.1 Die neueste Moscherosch-Bibliographie von Gerhard Dünnhaupt hat das Verdienst, über die Personalbibliographie von Arthur Bechtold von 1922 hinaus bislang unbekannte Ausgaben einzelner Schriften nachzuweisen und all das zusammenzutragen, was seit Bechtold an Gelegenheitsdrucken Moscherosch aufgefunden wurde.2 Sie kann häufig die Textgeschichte differenzierter als Bechtold darlegen. (Über die Mängel im biographischen Teil mag man bei einem solch bibliographischen Arbeitsinstrument hinwegsehen). Ein episches Gedicht Moscheroschs aus immerhin 260 Alexandrinern ist Dünnhaupt - wie vor ihm Bechtold - unbekannt geblieben, obgleich es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Moscherosch zugeschrieben wird. Freilich handelt es sich um eine anonyme Schrift, um ein Pasquill konfessionspolemischer Art, das in die Auseinandersetzungen zwischen Franziskanern und Jesuiten einerseits, den wenigen Lutheranern der Stadt Hagenau andererseits (zu denen Verwandte Moscheroschs gehörten) in den Jahren zwischen 1650 und 1657 eingreift. Die sehr detaillierte lokalhistorische Studie von Auguste Charles Hanauer: Le Protestantisme à Haguenau. Strasbourg-Colmar 1905, S. 329ff., führte aufgrund von Hagenauer Ratsprotokollen und Briefen städtischer Beamter den Nachweis, daß Moscherosch Verfasser jener Verse ist, die unter dem Titel: Wunder-seltzame neue Malerei erfunden durch 3. Franciskaner-Mönchen zu Hagenau/Im Monat Septembr. 1653 in einem unbekannten Verlag (Straßburg?) erschienen sind. Sie bilden in dem mir vorliegenden Exemplar der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart (Kirch.-G. in 4 Kaps, qt Κ 1134) den ersten Teil einer unpaginierten - Zusammenstellung von Vers- und Prosatexten, die alle auf den gleichen, weit über das Elsaß hinaus bekannt gewordenen Vorfall Bezug nehmen. Jörg-Ulrich Fechner: Disposition einer Moscherosch-Ausgabe. In: Jb.f. Intern. Germanistik IV, 2, (1972), S. 70-71. Gerhard Dünnhaupt: Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. Teil II. Stuttgart 1981, S. 1240-1263. Arthur Bechtold: Kritisches Verzeichnis der Schriften Johann Michael Moscheroschs. München 1922.

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Drei Franziskanermönche in Hagenau hätten im September 1653 als agents provocateurs eine katholische Kapelle und Kultgegenstände des nachts mit Kot beschmiert, um die Volkswut auf die Lutheraner zu reizen, die wegen etlicher Restitutionsforderungen verhaßt waren. Moscherosch schildert in seinen Versen breit die nächtlichen Schmierereien, mit Behagen die grotesken Stilbrüche zwischen den aus seinem humanistischen Fundus hergeholten Analogien und Exempla und den unappetitlichen Vorgängen und Gesinnungen in Hagenau auskostend. Seine Verse sind zumindest insofern von Interesse, als ansonsten keine konfessionspolemische Pasquillen von ihm bekannt sind. Daß er trotz der in der Satiretheorie begründeten Abgrenzung gegen persönliche Diffamierung auch Pasquillen schrieb, wußte man - es kommt nicht von ungefähr, daß seine Position in den verschiedensten Ämtern labil und gefährdet war. Meine Überprüfung der den Versen folgenden Posatexte (/. Antwort auffdie Hagenauische Geschickt, Erläuterung, II. Antwort), die im (fingierten?) Briefstil gehalten sind, ergab, daß der zweite, vom 6. Dezember 1653 datierte, unter dem Titel Erläuterung, ebenfalls aus der Feder Moscheroschs stammen muß. Dafür spricht zunächst die sich darin bekundete Vertrautheit mit prozessualen Vorgängen innerhalb der Straßburger Justizbehörden. Moscherosch war zu dieser Zeit Fiskal, das heißt ausführendes Organ des »Policey-Gerichts« in Straßburg. Hinzu treten eine Reihe von Eigentümlichkeiten des Stils und der Argumentationsweise wie z.B. die weit hergeholten etymologischen Ableitungen aus mittelhochdeutscher Literatur (Williram, Winsbeke u. a.), die man aus den Gesichten kennt. Im dritten Beitrag (II. Antwort, Bogen D) wird Moscherosch zitiert »wie Philander selbsten an einem ort sagt«). Ein Nachweis im einzelnen ist noch zu führen. Die Editionslage dieses vergessenen Pasquills ist nun insofern kompliziert, als in dem Stuttgarter Band - einem Sammelband konfessionspolemischer Drucke - ein Teil der Verse Moscheroschs noch einmal in anderem Zusammenhang auftaucht. Unter dem Titel Parrhasius redivivus Das ist: Span-newe Mahlerey von einem Francißkaner Pater Guardian und seinen mit - Vättem erfunden/und bestem vermögen nach außgeübet/Zu Hagenaw im Herbstmonat deß Jahrs M. DC. LIII findet sich eine anders zusammengesetzte Sammlung von Texten zum gleichen Ereignis. Hier wird zunächst auf drei Seiten (»Freundlicher lieber Leser«) ein Kurzbericht über den Vorfall gegeben. Dann folgen 116 der 260 Alexandriner Moscheroschs aus Wunder-seltzame neue Malerei unter dem Titel: Reimengedicht von einer künstlichen Mahlerey. Daß es sich um eine andere Auflage handeln muß, ergibt sich aus den zahlreichen orthographischen Varianten.3 Demnach sind im gleichen Jahr 1653 zwei Druckschriften zu den Hagenauer Vorgängen erschienen. Zu beiden trug Moscherosch seine Verse bei - wenn er sie nicht überhaupt initiiert hat. 3

Auf das Vorliegen von zwei verschiedenen Schriften hatte schon Timotheus Wilhelm Röhrich: Kirchliches Leben im Elsaß um 1650. Mittheilungen aus der Geschichte der evangelischen Kirche des Elsasses. Bd. 2. Paris-Straßburg 1855, S. 510 aufmerksam gemacht.

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Zwischen Freier Reichsstadt und absolutistischem Hof. Lebensräume Moscheroschs

Nach einer Phase der Vernachlässigung zwischen dem Kriegsende 1945 und den achtziger Jahren hat sich die Literaturwissenschaft in den letzten fünfzehn Jahren um die Aufarbeitung der zahlreichen, recht verschiedenartigen Genres zugehörigen Schriften Johann Michael Moscheroschs bemüht. Doch fehlen selbst die editorischen Grundlagen für eine breite wissenschaftliche Erarbeitung noch. Moscheroschs satirisches Hauptwerk, die Visiones de Don Quevedo. Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt ( 1. Ausgabe 1640) ist nur in einem fotomechanischen Nachdruck erhältlich - der die beiden letzten der insgesamt vierzehn Gesichte, >Soldatenleben< und >Reformationantihöfischen< Moscherosch aufzubrechen, in der Weise, daß die Widersprüche und das Gemeinsame zweier gegensätzlicher Lebensphasen Moscheroschs skizziert werden. Straßburg, die Freie Reichsstadt, war zwar nicht seine Heimat, in der ersten Lebenshälfte aber doch das Ziel seiner Wünsche und der Bezirk, in dem er seine Lebensaufgabe sah. Das erweisen die zähen Versuche, in Straßburg Fuß zu fassen ebenso wie die häufigen Textpassagen seiner satirischen und politischen Schriften, in denen er auf die Verfassungs- und Gesellschaftsverhältnisse des Stadtstaates zu sprechen kommt. Freilich hatte er es als Fremder, als Untertan der Grafen von Hanau-Lichtenberg, sehr viel schwerer als die Söhne der eingesessenen Familien des Patriziats, in ein Amt zu gelangen. Er mußte zusehen, wie so mancher Freund aus seiner Straßburger Studienzeit, der mit weniger hervorragenden Leistungen sein Studium in der Artistenfakultät der dortigen Universität abgeschlossen hatte, in die hierarchische Stufenfolge der Ämter in den Ratsorganen einstieg. Die städtische Oligarchie tendierte zur Ämterpatronage. Ein Textauszug aus der Insomnis Cura Parentum, aus diesem zu Unrecht neben den

Gesichten

Philanders vergessenen Manual der Kindererziehung, mag illustrieren, was

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ihn immer wieder nach Straßburg trieb. Er schreibt als Vermächtnis an seine Kinder:2 So sehet zu [...] daß jhr in grossen Reichs-Freyen-Stätten euch häußlichen niderlasset, da die Evangelische Religion Rein und klar seye: Alß, Straßburg, Nürnberg, (diese herrliche Stätte gehen mir über alles, wegen jhrer vortrefflichen Policey, in Geistlichen und Weltlichen sachen) [...] Es ist in solchen Stätten Gottes Wort noch viel mehr geliebet alß auff dem Land. Frömmigkeit, Zucht, Ehr und Gerechtigkeit mehr geehret alß auff dem Lande [...] Daß gantze Land ist Aula, & Aulica vita. Ein Rechts Hoff-leben. Ursache: daß gantze Land ist der Fürsten, Graven, Herren und Edelen. Diese alle sind Hoffleute, richten sich nach dem Oberhaubt, alß nach der Sonnen. Und ehe sie den König umb der Ehre Gottes willen verliessen; ehe verliessen sie Gott umb deß Königs willen. Darumb sind alle Hoffleute, was ausserhalb den grossen Freyen-Reichs-Stätten wohnet [...] Die Stätte aber sind noch Rein und Redlich, Comparativé, sage ich, dan es ist eben auch Reformation darin von nöthen.

Religiöse, politische und pädagogische Aspekte durchdringen sich in dieser rigorosen Abgrenzung zwischen einer Gesellschaftsstruktur, die vom Prinzip der Selbstverantwortung getragen ist, und einer solchen, welche die letztgültige Verantwortung an die Spitze des Staates abgetreten hat und die Eigenverantwortlichkeit des Bürgers nur als eine von der Spitze delegierte versteht. Ahnliche Textstellen lassen sich in fast allen Schriften Moscheroschs finden. Die Grundgedanken dieses Plädoyers für die Freien Reichsstädte und für Straßburg kann man in zwei Punkten zusammenfassen. Die Freien Reichsstädte sind für Moscherosch Modelle des altständischen Gemeinwesens, in dem alle Glieder und Stände auf ein einheitliches Ziel, die >Wohlfahrt< (salus communis) genannt, ausgerichtet sind, ohne daß ein Stand oder eine Gruppe von Funktionsträgern Vorrechte oder Vorherrschaft beanspruchen dürfte. Dieses demokratische Prinzip lag der komplizierten Verfassung Straßburgs zugrunde. Es zeigte sich in der Balance der politischen Gewichte zwischen dem in Zünften organisierten Bürgertum und dem städtischen Adel oder auch im festgesetzten Turnus in den höchsten Ämtern, denen der bürgerlichen Ammeister und der adligen Stettmeister. Allerdings war es eine Gleichberechtigung der Stände, nicht der einzelnen Stadtbürger, auch nicht der gesamten Bevölkerung schlechthin. Denn längst nicht alle Einwohner konnten das an einen hohen Zensus gebundene Bürgerrecht erwerben. Diese Gesellschaftsstruktur mit ihrer subtilen Funktionsteilung und der gleichförmigen Ausrichtung ihrer Glieder wurde den Einwohnern der Stadt in Zeremonien wie dem des Schwörtags vor Augen geführt, der im Januar jeden Jahres auf dem Münsterplatz stattfand. Schwörtag, das war die öffentliche Vereidigung der neugewählten Ratsherren und Mitglieder der >geheimen Stuben< auf die Verfassung zu Beginn ihrer Amtsperiode.3 2

3

Insomnis Cura Parentum, Abdruck der ersten Ausgabe ( 1643). Hg. von Ludwig Pariser, Halle 1893 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Bd. 108/109), S. 123. Zur Verfassung und Verfassungsgeschichte Straßburgs neben einer Fülle älterer Literatur die neueren Arbeiten von Gerhard Wunder: Das Straßburger Gebiet, ein Beitrag zur rechtlichen und politischen Geschichte des gesamten städtischen Territoriums vom 10. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin 1965; Peter Hertner: Stadtwirtschaft zwischen Reich und Frankreich. Wirtschaft und Gesellschaft Straßburgs 1650-1714. Wien 1973; Georges Livet, François Rapp: Histoire de Strasbourg des origines à nos jours. Bd. III. Strasbourg 1981.

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Zum zweiten kam den Familien innerhalb dieses Gemeinwesens eine politische Funktion zu. Wir müssen allerdings an die Großfamilie mit Knechten, Mägden, Handwerksgesellen denken oder im Sinn der Ökonomielehre an das >ganze Haus< (oikos), wenn wir von der Familie als dem sozialen Grundelement der altständischen Gesellschaft sprechen. Sie war Modell für das Umfassende, den Stadtstaat, und zeigte dessen Strukturen im verjüngten Maßstab. Denn auch sie war vom Familienoberhaupt bis zum Dienstpersonal hin hierarchisch gegliedert. Auch sie strebte in der Arbeitsteilung einen gemeinsamen Zweck an: die leibliche und seelische Wohlfahrt ihrer Glieder. Mehr noch, sie übernahm durch die Erziehung der Kinder und die Unterweisung des Gesindes selbst politische Funktion. Der Hausvater sorgte sich als Haupt der Familie zugleich um den Staat. Da gab es keine Trennung zwischen privatem Raum und öffentlichem Raum der Gesellschaft. 4 Mit den Worten Moscheroschs an den Leser:5 Dan lieber woher geschieht es/ daß man an manchem Ort der verständigen Leute einen so grossen mangel hat? [...] Woher geschieht es/ daß man offt nicht recht weiß/ was zu erhaltung guter Policey und Ordnung vonnöthen? [...] Allein auß geringem Verstand und geringer Erfahrnuß/ auch feiger Nachlässigkeit der Kinderzucht [...] wer kein guter Oeconomus und Haußvatter ist/ derselbe auch zu Regiments sachen nicht nutz sein könnte [...).

Unter den Kriegsumständen war auch in dieser Hinsicht das Familienleben in einer freien Stadtgemeinde dem in einer Landesherrschaft vorzuziehen:6 An solchen orten kan ein Vatter, so lang er lebet, sein Ampt mündlich und mit guter weile und Gelegenheit verrichten; welches denen, die auf offenem Lande (da mann den Todt bey solchem Unwesen alle stund vor äugen siehet) vor grosser Bestiirtzung offt unmiiglich fallet, alß gern sie auch je wollten.

Schon diese knappe Skizze der altständischen Gesellschaftslehre kann verständlich machen, daß Moscherosch, als er 1645, im Alter von 44 Jahren, zum Fiskal in Straßburg bestellt wurde, nun endlich die Chance sah, an einer zentralen Stelle im Stadtregiment für die Wohlfahrt der Familien und des Stadtstaates selbst wirksam zu werden. Seine Hauptaufgabe lag darin, über die Einhaltung der Policey-Ordnung der Stadt zu wachen und die Rechtssätze dieser Ordnung durch Erlasse und Mandate zur Anwendung zu bringen. Er war zuständig für die Wahrung der sogenannten >guten Sitten< in den Familien,

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Grundlegend für die >altständische< Gesellschaftsordnung die Arbeiten von Otto Brunner, u. a.: Das >ganzeHaus< und die alteuropäische Ökonomik. In: ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 21968, S. 103-107; ders.: Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft. Ebd., S. 187-198 (mit Literaturhinweisen). Die französische Historiographie in ihrer sozialhistorisch-demographischen Richtung hat mehrere Studien zur Sozialschichtung der Gesellschaft Straßburgs im 17. Jahrhundert hervorgebracht. Ich nenne die breit angelegte Studie von Jean-Pierre Kintz: La société strasbourgeoise du milieu du XVI siècle à la fin de la guerre de trente ans 1560-1650. Paris 1984, und Paul Greissler: La classe politique dirigeante à Strasbourg 1650-1750. Strasbourg 1987.

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Insomnis Cura Parentum (wie Anm. 2), S. 446. Ebd., S. 135.

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von der Sonntagsheiligung bis zu Fragen des Aufwands bei Hochzeiten und Taufen, und zugleich für Angelegenheiten, die wir eher öffentliche nennen würden, von der Eichordnung im Warenverkehr bis zur Gewährleistung der Sicherheit auf den nächtlichen Straßen der Stadt. Es war, gemessen am sozialen Prestige und der Besoldung, keines der bedeutendsten Ämter in der Verwaltungshierarchie. Die Juristen beim Großen Rat etwa, die über Kapitalverbrechen urteilten, standen über ihm. Und doch erhielt sein Amt Gewicht durch seine eigentümlichen Funktionen. Straßburg hatte sich schon seit einigen Generationen wegen seiner »wohlbestelten Policey« einen Ruf erworben und wurde in auswärtigen staatspolitischen Publikationen gerühmt. Diesen Ruf galt es zu wahren, schon deshalb, weil das lutherische Bürgertum und der Landadel in Norddeutschland, in Schlesien und überall, wo es an lutherischen Akademien fehlte, der Sittenstrenge wegen seine Söhne zur Ausbildung nach Straßburg schickte.7 Aus dem weitgespannten Arbeitsbereich des Fiskals zur Vermeidung von »Unordnung und Verachtung guter Gesetz«, wie es in der Policey-Ordnung heißt, kamen Moscherosch die Impulse für sein literarisches Werk zu. Im Jahrzehnt zwischen 1645, dem Datum seines Amtsantritts, und 1655, dem Jahr seines Verzichts auf das Amt, erschienen die wichtigsten Editionen seiner Schriften: die vollständige und repräsentativ ausgestattete Ausgabe der Gesichte Philanders von Sittewald von 1650, die erweiterte Ausgabe der Insomnis Cura Parentum von 1653 - dem Rat der Freien Reichsstadt Nördlingen gewidmet - , die Neubearbeitung einer Anleitung zum akademischen Studium unter dem Titel Gymnasma de Exercitiis academicorum (1652) und politische Abhandlungen wie die Dissertatio de politico (1652) neben Neuausgaben älterer Schriften zur Stadtgeschichte Straßburgs. Die Stoffe und Themen dieses ethisch-pädagogischen und historisch-politischen Gesamtwerks stehen immer wieder im Zusammenhang mit jenen Mißständen, denen Moscherosch kraft seines Amtes abzuhelfen hatte. Das gilt selbst für die Gesichte Philanders von Sittewald, obgleich deren Anfänge in die vorhergehende Phase seiner Tätigkeit als Amtmann in Finstingen zwischen 1636 und 1642 zurückreichen. So werden in >Hanß hinüber - Ganß herüber< Fragen der akademischen Erziehung und der Einordnung der Studenten in die Stadtgemeinde angesprochen, in >A la Mode Kehrauß< der Hang der Bürger zu übertriebenem Luxus in der Kleidung und bei Gastereien, und in >Soldaten-Leben< Fälle von Gotteslästerungen und Fluchen in der Öffentlichkeit. Das kommt nicht von ungefähr. Die Konvergenz der Themen dürfte so zu erklären sein, daß Moscherosch durch das Aufgreifen 7

Über das Amt des Fiskals und die Stellung Moscheroschs geben Auskunft: Rodolphe Reuss: La justice criminelle et la police des mœurs à Strasbourg au seizième et au dix-septième siècle. Strasbourg 1885; Johannes Beinert: Moscherosch im Dienste der Stadt Straßburg. In: Jahrbuch für Geschichte Elsaß-Lothringens 23 (1907), S. 138-146; Ulrich Crämer: Die Verfassung und Verwaltung Straßburgs von der Reformationszeit bis zum Fall Straßburgs 1521-1681. Frankfurt a.M. 1931; Walter Ernst Schäfer: Johann Michael Moscherosch, Staatsmann, Satiriker und Pädagoge im Barockzeitalter. München 1982, S. 135-137.

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sozialer Übelstände in seinen frühen Satiren sich schon für städtische Ämter zu qualifizieren suchte. Aus dem Geschäftsbereich des Fiskals kamen dann weitere Anstöße, die Gesichte durch aktuelle Themen zu erweitern bis hin zur Ausgabe von 1650. Man sollte seine Gesichte einmal auf neue Weise lesen, aus der Perspektive der Sozialordnung Straßburgs. Die Umstände seiner plötzlichen Entlassung 1655 sind peinlich. Man warf ihm Ehebruch vor, ihm, dem Garanten der >guten Sitte< in Straßburg. Dieser Makel in seiner Biographie - wir müssen zugeben, nicht der einzige - hat einen nicht unbedeutenden Moscherosch-Forscher der zwanziger Jahre veranlaßt, seine Forschungen abzubrechen. Wir machen uns von solchen Skrupeln frei und übergehen die Ursachen seiner Entlassung um so leichter, als es sehr deutliche Anzeichen dafür gibt, daß der Ehebruch, wenn nicht überhaupt eine falsche Beschuldigung, dann zumindest ein Vorwand war für ganz andere Widerstände gegen sein recht strenges »Policey-regiment«.8 Schon im nachfolgenden Jahr 1656 sehen wir Moscherosch in einer sehr viel höheren Position außerhalb Straßburgs, am Hof einer Landesherrschaft. Er ist Rat im Regierungskollegium des Grafen Friedrich Casimir von HanauMünzenberg in der Residenz und Festung Hanau und als rangältester Rat zeitweise mit der Leitung des Kollegiums beauftragt. Seine Amtstätigkeit erstreckt sich nun auf die gesamte Verwaltung einer deutschen Landesherrschaft mittlerer Größenordnung. Zu seinen Stammlanden, dem linksrheinischen Teil der Grafschaft Hanau-Lichtenberg, hatte Friedrich Casimir 1642 durch Erbfall die größere Grafschaft Hanau-Münzenberg gewonnen. Sie reichte vom Main nach Nordosten die Kinzig aufwärts bis an die Grenzen des Bistums Fulda und von Hanau mainabwärts bis Frankfurt. Die Umstände dieser ehrenvollen Berufung Moscheroschs sind ungeklärt. Das Interesse des Hanauer Grafen an Moscherosch erstaunt um so mehr, als der Vorgänger im Amt promovierter Jurist war (ein gewisser Dr. Glandorff) und das Amt nach ihm wieder mit einem Doktor der Jurisprudenz besetzt wurde, Moscherosch aber nur eine juristische Grundausbildung ohne Abschluß aufzuweisen hatte.9 Er hatte sie während seiner Studienzeit in Genf 1624-1625 und in den Jahren 1626-1628 in Straßburg erworben, das Studium aber abbrechen müssen. Neben den bürgerlichen Juristen drängte sich der landsässige

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Das Wenige, was sich über diese entscheidende Wende in Moscheroschs Leben in Erfahrung bringen läßt, findet sich bei Ernst Martin: Johann Michael Moscherosch. In: Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte 3 (1891), S. 16, und Johannes Koltermann: Neue Nachrichten über Vorfahren des Dichters Moscherosch und sein Leben vor und nach seiner Hanauer Zeit. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N . E 46 (1932), S. 257. Ich habe in meiner Biographie (wie Anm. 7) auf die von Adligen und dem Großbürgertum herrührende Opposition gegen die von der >Reformorthodoxie< kommende Kontrolle der Sittenzucht hingewiesen.

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Man kann in der Literatur zu Moscherosch öfters die Behauptung antreffen, er sei in Straßburg oder Genf zum Doktor der Rechte promoviert worden. Dies beruht auf einem Irrtum, wie ich in meiner Biographie (wie Anm. 7), S. 74 nachweisen kann.

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Adel, soweit er juristisch geschult war, in die Regierungsämter zu Hanau. So können es nur Beziehungen zwischen Friedrich Casimir und Moscherosch aus früherer Zeit - von denen nichts bekannt ist - oder besondere Empfehlungen gewesen sein, die ihm nach dem ehrenrührigen Abgang von Straßburg den Weg nach Hanau ebneten. Ein Indiz für das letztere gibt es. Friedrich Casimir hatte 1653 einen Schwager Moscheroschs, Hans Michael Reichhart (oder Reichard) als Hofkaplan an die Schloßkapelle bestellt.10 Man darf annehmen, daß er einigen Einfluß auf den Grafen hatte, da dieser als lutherischer Landesherr eines Territoriums reformierter Konfession auf einen geistlichen Berater angewiesen und öfters von religiösen Skrupeln bewegt war. Wie dem auch sei, der rund zwanzig Jahre jüngere Friedrich Casimir muß zu Moscherosch besonderes Vertrauen und Gründe für seine Bevorzugung gehabt haben. Friedrich Casimir hatte nach dem Ende der Vormundschaft seit seinem Regierungsantritt 1647 jenen politischen Kurs der zentralen Straffung und Vereinheitlichung in den verschiedenen voneinander getrennten Landesteilen eingeschlagen, durch den bedeutendere Repräsentanten der absolutistischen Staatsform, Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der Große Kurfürst, etwa, in die Geschichte eingegangen sind." Wie der Brandenburger so führte auch er einen langwierigen Kleinkrieg mit den Vertretern ständischer Freiheiten und Privilegien, wenn auch ohne die Erfolge des Kurfürsten, so zum Beispiel mit den Bürgern der Neustadt Hanau, die von Flüchtlingen reformierter Konfession besiedelt worden war. Er traf Maßnahmen zur Begünstigung des lutherischen Bekenntnisses nach dem Grundsatz, daß die Untertanen sich der Glaubenszugehörigkeit des Landesvaters anzupassen hätten, und versuchte, die etablierte kirchliche Synodalverfassung in Richtung auf ein lutherisches Episkopalkirchentum zu verändern. Zum Leidwesen seiner Untertanen betrieb er eine forcierte Militärpolitik, indem er die im Dreißigjährigen Krieg angeworbenen Söldner als stehende Streitmacht zu erhalten suchte und die für die gesamte Reichspolitik bedeutsamen Festungen seiner Herrschaft, Hanau, Babenhausen und das elsässische Lichtenberg, ausbaute. Nicht zuletzt trieb ihn jenes charakteristische Bedürfnis frühabsolutistischer Herrscher nach beständiger 10

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Zu Reichhart: Lorenz Kohlenbusch: Pfarrerbuch der evangelisch-unierten Kirchengemeinschaft (>Hanauer UnionPolitischen< um Heinrich IV. hatten ihn in der Einsicht bestärkt, daß der Egoismus der Stände für die Religions- und Bürgerkriege in Frankreich mit verantwortlich und durch den Ausbau der landesherrlichen Souveränität zu überwinden war. Er hatte sich in die frühabsolutistischen Staatstheorien von Jean Bodin und Justus Lipsius eingearbeitet. Seine eigenen politischen Schriften, etwa das Gesicht >Hof-Schule< oder die Dissertatio de politico, die Überarbeitung einer Theorie politischer prudentia aus dem Anfang des Jahrhunderts, belegen, daß er alle Tendenzen in der Entwicklung der Staatstheorie, welche die Machtfülle des souveränen Landesherrn einzuengen oder vor Mißbrauch zu schützen suchten, ablehnte. Die aus dem Lager der Reformierten kommenden Ideen eines Widerstandsrechts gegen >TyrannenMonarchomachenPolicey-Literatur< (er zitiert besonders häufig Georg Engelhard von Löhneyß) verstand er das Amt des Landesherren in seinen Funktionen der väterlichen Fürsorge und der Rechtspflege als ein Abbild der gnädigen und strafenden Herrschaft Gottes, unumschränkt wie diese selbst. Mit dem

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Die im Stadtarchiv Marburg lagernden Akten sind weitgehend von Johannes Koltermann aufgearbeitet worden: Die Hanauer Zeit des Satirikers Moscherosch nach den bisherigen Darstellungen. In: Hanauisches Magazin 11 (1932), S. 49-52; ders.: Der Hanau-Lichtenbergische Oberamtmann David von Kirchheim und seine Beziehungen zu dem Satiriker Moscherosch. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. 49 (1935), S. 104-127, Anm. 8. Die Patientia von J. M. Moscherosch, nach der Handschrift der Stadtbibliothek Hamburg zum erstenmal herausgegeben. Hg. von Ludwig Pariser. München 1897, S. 25. Gesichte Philanders von Sittewalt. Straßburg 1642, S. 190 (Fettmilch-Aufstand in Frankfurt); Centuriae Epigrammatum VI, Frankfurt/M. 1665, IV, no. 61 und VI, no. 89 (zu Karl I. und Cromwell).

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einzigen Vorbehalt allerdings, daß sich das regierende Haupt freiwillig an die biblischen Sittengesetze binde. Einklagbar war auch diese Bindung nicht. Es mußte der göttlichen Vorsehung vorbehalten sein, die Regierenden zu richten. Diese Anerkennung des Auftrags der Landesherrschaft im Heilsplan Gottes verträgt sich durchaus mit der heftigen Kritik an der Selbstherrlichkeit mancher Landesherren in den Gesichten. Wo an legalen Widerstand nicht zu denken ist, tritt die Satire in ihre Rechte ein. Hier ist ihre eigentliche Domäne. Am Beispiel zweier verschiedener Fassungen ein und desselben Textes Moscheroschs, eines Epigramms aus der Straßburger Zeit und dessen Abwandlung für die vollständige Edition seiner sechs Centurien Epigramme, die 1665 erschien, läßt sich aufweisen, wie in der Sphäre des Hanauer Hofes und in dem Zeitabschnitt des energischen Ausbaus zentraler Staatsorgane nach 1648 sich Moscheroschs Positionen der absolutistischen Staatstheorie angenähert haben. Während das Epigramm >Lex exlex< in der Fassung von 1650 noch lautete: »Lex regit armatos, imbelles armat utrosque Iudicat: in Legem non nisi Lege licet:«15 (Gesetz ohne Gesetz. Das Gesetz regiert die Bewaffneten, bewaffnet die Schwachen und richtet beide: gegen das Gesetz ist nichts, es sei denn gesetzlich erlaubt.) formulierte Moscherosch für die Gesamtausgabe seiner Epigramme: >Lex & Ratio. < »Lex regit armatas, imbellibus imperai: omnes Iudicat: in Legem Rex Ratione potest.«16 (Gesetz und Vernunft. Das Gesetz regiert die Bewaffneten, herrscht über die Schwachen: richtet alle: gegen das Gesetz steht nur der König mit seiner Vernunft. - Im Text dürfte irrtümlich »armatas« statt »armatos« gedruckt sein. Nach dieser Konjektur wurde übersetzt). Das ist ein klares Bekenntnis zu einem zentralen Punkt des Selbstverständnisses absolutistischer Herrscher, zur Freiheit des Souveräns vom positiven Recht. Vergleichbare Äußerungen in den Gesichten lassen sich daneben stellen. Bei allem Einverständnis mit dem Prinzip der Souveränität - der Boden für literarische Aktivitäten war ihm im gesellschaftlichen Raum der Residenz Hanau entzogen. Friedrich Casimir wird gerühmt als Förderer der Künste, als Sammler von Gemälden, als Urheber des Planes der Gründung einer wissenschaftlichen Akademie in Hanau. Eine Literatur, die sich in der Wahl ihrer Themen von den Bedürfnissen des Herrschers nach Repräsentation seiner staatlichen und kulturellen Macht hätte leiten lassen, wäre hier zur Entfaltung gekommen. Doch was wir von Moscherosch aus dieser Zeit an Gedrucktem kennen, ein paar Epigramme aus Anlaß höfischer Feierlichkeiten oder politischer Ereignisse, ist spärlich und in seiner Konventionalität kaum wert, der Nachwelt überliefert zu werden. Die Gesellschaftskultur des Hofes sprach das dichterische Ingenium nicht an. Man braucht nach den Gründen nicht lange zu suchen. Seine Schriften alle, ob nun satirischen, politischen oder pädagogischen Charakters, entstammen dem Bewußtsein ethischer Verantwortung für Staat 15 16

Centuria Epigrammatum, Straßburg 1650, no. 76. Centuriae Epigrammatum VI (wie Anm. 14) II, no. 76 (Druckfehler »66«), S. 89.

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und Gesellschaft. Diese war nur dort anzusprechen, wo der Bürger in der Selbstverantwortung stand, nicht dort, wo er zum Untertan degradiert und aus der Sorge um das öffentliche Wohl entlassen war. Die altständische Gesellschaft mit ihrer Stufenleiter analoger Verantwortlichkeiten vom Hausvater bis zum Magistrat erschien ihm sicher auch jetzt noch besser geeignet, politisches Handeln an christliche Moral zu binden, und konnte eher beanspruchen, in der Vorläufigkeit alles Irdischen die Bürger ihrer wahren Bestimmung zuzuführen, als der seiner Eigengesetzlichkeit gehorchende absolute Staat. Doch vermochte Moscherosch in den vier Jahren seiner Tätigkeit als >Staatsrat< für die Ausbreitung der lutherischen Konfession unter der mehrheitlich reformierten Landesbevölkerung viel zu tun. Nach langwierigen Auseinandersetzungen mit den ständischen Vertretern in Hanau konnte Friedrich Casimir 1658 den Bau einer lutherischen Kirche in seiner Residenz, der Johanneskirche, durchsetzen. Dieser Triumph der lutherischen Sache wurde gebührend gefeiert. In Anwesenheit von Deputierten der lutherischen Freien Reichsstädte Süddeutschlands und mit einer Festansprache des ranghöchsten lutherischen Geistlichen des Reiches, des sächsischen Hofpredigers Dr. Weller, wurde am 25. Mai 1658 der Grundstein für diese Kirche gelegt. Moscherosch wurde gewürdigt, die Festansprache an den sächsischen Kurfürsten Johann Georg II. zu halten. Er hatte Bild und Denkspruch für eine Münze entworfen, die in den Grundstein eingemauert wurde. In den Briefen nach seiner Amtszeit in Hanau wird er immer wieder auf seine religionspolitische Wirksamkeit in dieser Zeit zu sprechen kommen.17 Seine Amtszeit auf der höchsten Sprosse der sozialen Stufenleiter, die er je erklomm, endete mit dem jähen Sturz des Günstlings aus der Gnade seines Herrn. Friedrich Casimir betrieb zwar die expansive Militär- und Wirtschaftspolitik des frühen Absolutismus, doch er kümmerte sich wenig um jene Techniken einer rationellen Finanzwirtschaft, die doch erst die Voraussetzungen für die Machtentfaltung schaffen konnten. Die Finanzen für den Ausbau der militärischen Anlagen, für die Festlichkeiten am Hof, für die Ausstaffierung der Mätressen, das alles lief zum guten Teil auf Pump. Der Landesvater war imstande, in einer vergnügten Stunde ein Wachsfigurenkabinett für 9000 Taler anzukaufen, während seine Gesandten an auswärtigen Höfen Klage führten, daß die diplomatische Post ihnen nicht mehr zugestellt werden könne, weil keine Mittel für die Frankierung bereit stünden. Der Geldmangel der gräflichen Kammer ging so weit, daß auch Geschenke, mit denen Friedrich Casimir seinen Hofstaat erfreute, zur Überraschung der Beschenkten nie bezahlt wurden. Moscheroschs ältester Sohn, der auch schon in hanauischen Diensten stand, wurde aus gleichem Anlaß mit den Gläubigern des Grafen konfrontiert.18 Es 17

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Ernst Batzer: Ein unbekannter Druck von J. M. Moscherosch über die Grundsteinlegung der Johanniskirche in Hanau. In: Hanauisches Magazin 11 (1932), S. 3 3 ^ 0 . Johannes Koltermann: Moscheroschs Wohnung in Hanau. In: Hanauisches Magazin 11 (1932), S. 50, Anm. 7.

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gab Zeiten, in denen sich der Graf so sehr in den Ergötzlichkeiten des Hofes und im Hochgefühl der Macht verlor, daß ihm der Sinn für das politisch Machbare vollends abhanden kam. Die Staatliche Kunsthalle in Karlsruhe verwahrt ein delikates Zeugnis seines Hangs zu phantastischen Projekten. Es war Johann Joachim Becher, ein einfallsreicher und gewandter Kopf mit geheimnisumwitterten Beziehungen zu auswärtigen Höfen, der Friedrich Casimir in den Jahren um 1670 die Möglichkeit suggerierte, mit der Westindischen Handelskompagnie in Amsterdam Verhandlungen über den Erwerb von Ländereien in Südamerika zu führen. Worauf in Friedrich Casimir der Entschluß reifte, als erster deutscher Landesherr sich die Reichtümer einer Kolonie in einem fernen Kontinent zu erwerben - noch bevor der Große Kurfürst 1683 seine Dreimastschiffe in Guinea an Land gehen ließ. Besagter Becher reiste mehrere Male zu den Kaufleuten nach Amsterdam. Schon dessen Reisen und Unterhandlungen kosteten ein Vermögen. Doch kam schließlich ein Vertrag zustande, durch den der Hanauer Graf in der Tat dreitausend Quadratmeilen Land am Orinoko in Guayana erwarb. Nun war der Jubel in Hanau groß. Mit dem Salut der Festungskanonen wurde der Landesteil in der Neuen Welt, das >Königreich Hanauisch-IndienKönig von Schlaraffenland< genannt wurde. An diesem Abenteuer war Moscherosch nun allerdings schon nicht mehr beteiligt. Er hatte sich auf Finanzmanöver eingelassen, die nicht mehr leicht zu durchschauen waren. Die Berichte darüber gehen in der Frage der Verantwortlichkeiten auseinander. Glauben wir Moscherosch selbst, dann hat er nichts getan als auf den Wink seines Gebieters - am Regierungskollegium vorbei etliche Besitztümer und Gerechtsame zu verpfänden, um seinem Herrn aus

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Über die Affare berichtet unter anderen Friedrich Carl von Moser: Patriotisches Archiv für Deutschland. Bd. III. Mannheim, Leipzig 1785, S. 495. Zu Becher der Artikel von Pamela Smith: Johann Joachim Becher. In: Literatur-Lexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. I. Gütersloh, München 1988, S. 363-365; Gotthardt Frühsorge, Gerhard F. Strasser: Johann Joachim Becher (1635-1682), Stuttgart 1993 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 22).

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Geldnöten zu helfen. Die Verwandten und Erbfolger des Grafen warfen ihm persönliche Bereicherung vor und betrieben seinen Sturz. Eine augenblickliche Mißhelligkeit mit Friedrich Casimir genügte dann zum Eklat, Moscherosch machte dem Grafen Vorhaltungen wegen dessen Ausgaben für Mätressen. Im Dezember 1660 mußte Moscherosch aus Hanau fliehen, die Häscher des Grafen hinter sich. Es war das typische Schicksal des Höflings, das er einmal selbst - im Bildmaterial barocker Festlichkeit - so umschrieben hat:20 Ich war in wehrendem meinem Leben einer Rachete zuvergleichen: welche/ nach dem sie angezündet wird/ in einem augenblick in die Lufft fahret/ schön und hell leuchtet: und als ich im höchsten war/ und mit meinem Fiincklein als tausend Sternlein prangete/ da ließ ich plötzlich einen Krach/ verschwände vor den Augen derer die mir zusahen/ fiel auf den boden/ und bin zu Rauch und Asche geworden.

Der Rest ist ein mühseliges Leben in subalternen Positionen, ein endloses Prozessieren um Rechtsansprüche aus der Hanauer und aus früheren Zeiten. Nur einen Moment lang dachte Moscherosch daran, Rechtstitel, die er aus früheren Schenkungen Friedrich Casimirs an die gräfliche Kammer hatte, beim Reichshofgericht in Wien einzuklagen. Dann verzichtete er darauf und zog es vor, in wiederholten Bittbriefen an das Gewissen des Grafen zu appellieren. Seine Stellung war doch noch mehr die eines persönlichen Dieners als eines Staatsbeamten gewesen, der Ansprüche aus einem Rechtsvertrag stellen konnte. In einem Brief vom 10. März 1668 - ein Jahr vor seinem Tod - an Friedrich Casimir wird noch einmal das eigentümlich intime Verhältnis deutlich, das er zu diesem leicht beeinflußbaren, in seinen Entschlüssen unbeständigen und zwischen den Exzessen seiner Amouren von religiösen Anwandlungen heimgesuchten Landesvater gehabt hat:21 Ich bin aber um E. Hochgr. Gnd. hohe Reputation zu Salviren mit stillschweigen lieber zu Schanden gegangen und wils auch noch thun: Ich erwarte darauff, wan der theure Eydschwur, der nicht mir, sondern Gott geschworen worden, seinen Effect dermahlen wird erreichen. Gott wirds auch thun.

Ein schriftlich aufgesetztes Gebet für den Grafen, das Moscherosch dem gleichen Schreiben beilegte, ist im Tonfall eines Beichtvaters abgefaßt: Verleyhe m. g. H. seine vorige Gesundheit, Erlöse ihn von allen Schmerzen, mache Ihm seine Seele frey von allen beschwerlichkeiten, und gieb Ihn in sein Herz deinen H. Geist, den Geist der Weißheit und des Verstands, daß er wisse, wie er dein Volk recht und wohl regieren solle, und gieb Ihm zu bedencken, daz er Dir dessen allen dermahlen werde Rechenschafft geben müssen; Mache Ihn Ernsthafft und Eifferig daz er selbst höre und sehe, selbst richte und erkenne alles das darum seine Seele, auch umb seiner Räthe und Diener Sünden willen gegen Gott verpflichtet ist. Daß er nichts verspreche noch verheisse daß wider Deine Ehre und des Landes Nutzen lauffet, was er aber auß Christlicher Liebe dem Betrangten zu gesagt und Dir bey seiner Seelen gelobet, daß er es alß ein Heiliges Gesaz vollziehe und haltte. Insonderheit

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Moscherosch: Gesichte. Straßburg 1642 (wie Anm. 14), S. 452. Zitiert nach Koltermann: Der Hanau-Lichtenbergische Oberamtmann David von Kirchheim (wie Anm. 12), S. 124. Der Eidschwur bezieht sich auf ein früheres Versprechen Friedrich Casimirs, Moscherosch und seine Familie zeitlebens zu versorgen.

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daß er erkenne, waz er Deinem Volck in Stätten und auff dem Lande geschworen und so öffters verheißen hatt, dan soll und muss eines Fürsten Worth bey den Menschen H. gehalten werden, wie vilmehr, wan es dir o du Grosser Gott bey der armen Seelen Verdamnuss ist gelobet worden.

Der Appell an das Gewissen und der Hinweis auf die strafende Hand Gottes sind die einzigen Argumente, die einen absoluten Herrscher zu bewegen vermochten, den Pflichten seines Amtes nachzukommen. Erwähnen wir noch, daß Moscherosch schon 1660, in der Vorahnung seines Sturzes, einen letzten Versuch unternommen hatte, nach Straßburg zurückzukehren und dort eine bescheidene Wohnstatt für sich und seine zahlreichen Kinder zu erwerben.22 Der Magistrat war abweisend. Man erkannte ihm wenig später das Bürgerrecht ab. Er starb an Ostern 1669 auf einer Reise von Dhaun, seinem letzten Wohnsitz, zur Freien Reichsstadt Frankfurt, wo sich einer seiner Söhne angesiedelt hatte, den frühen Anweisungen des Vaters in jenem Vermächtnis an seine Kinder, der Insomnis Cura Parentum, getreu. Die Biographie Moscheroschs mit ihren teils überraschenden Auf- und Abschwüngen zeigt die sozialen und mentalen Spannungsfelder auf, in welche die akademisch gebildeten Söhne des Bürgertums gerieten, wenn sie die sich ihnen neu eröffnenden Chancen im Verwaltungsapparat absolutistischer Staaten nutzen wollten. Von Herkunft, Erziehung und Studium her auf einen nüchternen Lebensstil und ethische Selbstkontrolle verpflichtet, war die stadtbürgerliche Gesellschaft auch noch in der Mitte des 17. Jahrhunderts der ihnen gemäße Lebensraum, bei allen Veränderungen, die diese Gesellschaft durch den sozialen Ehrgeiz des Stadtadels oder des Handelsbürgertums erfuhr. Doch blieben innerhalb dieser Gesellschaft nur schmale politische Betätigungsfelder und Aufstiegsmöglichkeiten. Die höfische Gesellschaft aber verlangte Anpassungsleistungen, die von vielen nur widerwillig und gegen das eigene Gewissen erbracht wurden. Moscherosch ist an solchen Widersprüchen zerbrochen.

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Arthur Bechtold: Moscherosch-Bildnisse. In: Zeitschrift für Bücherfreunde N.F. 6 , 2 (1915), S. 273.

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Der Dreißigjährige Krieg aus der Sicht Moscheroschs und Grimmelshausens1

Johann Michael Moscherosch (1601-1669), der bekannteste Satiriker, und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (ca. 1621-1676), der bedeutendste deutsche Erzähler seiner Zeit, beide haben den »Teutschen Krieg« am eigenen Leib erfahren und Notzeiten, Erpressungen und Todesgefahren über sich ergehen lassen müssen. Die Einsichten, die beide im Krieg gewannen, sind ihnen zum guten Teil gemeinsam. Doch gibt es Unterschiede derAkzentuierung, bedingt schon durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen - Grimmelshausen ist gut zwanzig Jahre jünger als Moscherosch, aber in sehr viel jüngerem Alter, mit vierzehn Jahren, in den Krieg gestoßen worden - und durch die Verschiedenartigkeit der Lebensräume. Moscherosch brachte sein Leben in den westlichen Regionen des Reiches bis weit hinein nach Lothringen zu, Grimmelshausen in den zentralen Ländern. 2 Moscherosch war eine relativ behütete Jugend bis etwa 1622, bis zum Übergreifen des böhmisch-pfälzischen Krieges auf die Oberrheingebiete, beschieden. Seine Schulbildung und seine akademische Ausbildung an der Universität Straßburg vollzogen sich noch in geordneten Bahnen, auch wenn er sein letztes Bildungsziel, den juristischen Doktorgrad, nicht mehr erreichen konnte. Seine sprachlichen, rhetorischen und juristischen Fähigkeiten sicherten ihm die Anwartschaft auf Verwaltungsstellen an den Höfen deutscher Landesherren. Das Leben Grimmelshausens stand von Beginn an unter den Bedrohungen des Krieges, unter Angst und Unruhe. Er wurde 1634 seiner Familie entrissen. Seine Bildung, wahrscheinlich an der Lateinschule in Gelnhausen, brach jäh ab. So ist es kein Wunder, daß er sich von der Pike auf - im Wortsinn - im Kriegstreiben emporarbeiten mußte. Soweit sich sein Lebenslauf aus seinen Erzählungen rekonstruieren läßt, gewann er im Vergleich zu Moscherosch die 1

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Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Beitrags, der im Ausstellungskatalog 1648 Krieg und Frieden in Europa. Textband II. Hg. von Klaus Bußmann und Heinz Schilling, o. O. [Münster], o.J. [1998], S. 339-345, erschienen ist. Biographische Darstellungen zu Grimmelshausen sind zahlreich. Ich verweise hier nur auf die jüngeren Biographien in Günther Weydt: Hans Jakob von Grimmelshausen. Stuttgart 1979; Volker Meid: Grimmelshausen. Epoche-Werk-Wirkung. München 1984 (Arbeitsbücher für den literaturgeschichtlichen Unterricht) und auf die Bibliographie von Italo Michele Battafarano: Grimmelshausen-Bibliographie 1666-1972. Werk-Forschung-Wirkungsgeschichte. Napoli 1975 (Quaderni degli Annali Dell'Instituto Universitario orientale Sezione Germanica Nr. 9). Zu Moscheroschs Biographie Walter Ernst Schäfer: Johann Michael Moscherosch. Staatsmann, Satiriker und Pädagoge im Barockzeitalter. München 1982 (mit Bibliographie).

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breitere Erfahrung in diesem Krieg. Er war als Junge bei den Schweden in der Festung Hanau, als Pferdeknecht bei kaiserlichen Kroaten, als Troßbube bei einem kursächsischen Regiment vor Magdeburg 1636, als Dragoner unter dem Kommando des bayerischen Generals Graf von Götz am Oberrhein, als Musketier und Regimentssekretär bei dem in kaiserlichem Dienst stehenden Kommandanten von Offenburg und bei dem Obristen Freiherrn von Elter in Bayern und der Oberpfalz. Er stand selbst auf einigen der am meisten genannten Schlachtfelder, wahrscheinlich vor Wittstock 1636, sicher vor Wittenweier 1638. Er lernte fast alle Kriegsparteien und die meisten Waffengattungen mit ihren Taktiken und Techniken kennen. Seine Schreiberfunktion gab ihm Einblick in die höheren Befehlsränge, ihre Gesinnungen und Kriegsziele. Moscheroschs Gesichtskreis blieb beschränkter. Er, dessen Lebenslauf besser dokumentiert ist, stand auf keinem der Schlachtfelder, erfuhr den Krieg in den abseits liegenden lothringischen und elsässischen Gebieten, zumeist in befestigten Städten. Doch haben er und seine Familie nicht weniger unter ihm gelitten. Er hat - aus Überzeugung - nur einer Seite gedient, lutherischen Reichsfürsten und ihrer Schutzmacht, den Schweden. Doch war sein Umgang mit regierenden Herren, mit höherrangigen Offizieren wohl enger als der Grimmelshausens. Grimmelshausens Schriften sprechen fast alle vom Krieg, von der ersten Abhandlung, dem Satyrischen Pilgram (1666/1667), bis zum zweiten Teil des Wunderbarlichen Vogelnests (1675), am meisten freilich sein bekanntester Roman, der Simplicissimus Teutsch (1668). Moscherosch, mit seiner breiteren humanistischen Bildung, seinen historischen, politischen Interessen, hat nur eine Satire geschrieben, die sich breit mit dem Kriegsgeschehen befaßt, das Soldaten-Leben, zuerst in der Ausgabe seiner Gesichte Philanders von Sittewalt (1644).3 Sie geriet im zwanzigsten Jahrhundert in Vergessenheit, zu Unrecht, denn ihre Berichte von den Streifzügen und Räubereien einer marodierenden Bande zwischen Mosel und Rhein in der Endphase des Krieges sind detaillierter, in gewissem Sinn realistischer als die Grimmelshausens im Simplicissimus. Grimmelshausen hat sie wohl gekannt. Schon die räumliche Nähe von Renchen, wo er seit 1667 Schultheiß war, zu Willstätt, dem Heimatort Moscheroschs, und zu Straßburg, dem Ort dessen hauptsächlicher Tätigkeit, mußte sie ihm bekannt werden lassen. Die Deutungsmuster und Erklärungsmodelle, mit deren Hilfe beide ihre Kriegserfahrungen ordnen, sind im wesentlichen die gleichen. Geschichtliche Ereignisse werden im Gesamtzusammenhang der göttlichen Heilsgeschichte verstanden und als Auswirkungen der »Providentia Dei« zu verstehen gesucht. 3

Johann Michael Moscherosch: Visiones De Don Quevedo. Wunderliche und Wahrhaftige Gesichte Philanders von Sittewalt. Anderer Theil. Straßburg 1644. Der originäre Text ist in keiner modernen Ausgabe erhältlich. Der Nachdruck der Gesichte im Georg Olms Verlag, Hildesheim - New York 1974, enthält ihn nicht. Ich habe eine gekürzte und sprachlich modernisierte Ausgabe unter dem Titel: »Unter Räubern«. Johann Michael Moscherosch »Soldatenleben«. Karlsruhe 1996, herausgegeben.

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Das gilt für den Lutheraner Moscherosch ebenso wie für den konvertierten Katholiken Grimmelshausen. Nach diesem Verständnisraster ist der Krieg ein Strafgericht Gottes für die Versündigung der Menschen, die größte der drei »Hauptstrafen«, neben Hunger und Pest. Frieden kann nur durch Reue, Buße und Beachtung der göttlichen Gebote herbeigeführt werden. Dieser religiös verstandene Ursachenzusammenhang droht, wie bei fast allen Literaten der Zeit, die Erkenntnis der realpolitischen Kriegsursachen und Kriegsziele zu verdunkeln.4 Grimmelshausen suchte in seinen drei Kriegsromanen um die Figuren des Simplicissimus, der Courasche und des Springinsfeld das Kriegsgeschehen mit seinem religiösen Weltbild zu vereinbaren. Er wollte auch die Kriegsschicksale der einzelnen Soldaten und Kriegsopfer als vorherbestimmte Verhängnisse Gottes und aus der Konstellation der Gestirne in der Geburtsstunde des einzelnen (»Nativität«) sich ergebende Geschichte begreifen. Seine Erzählungen machen aber auch deutlich, daß solche Deutungsversuche an Grenzen stießen. Der gleichzeitige Massentod auf dem Schlachtfeld ließ sich nicht mehr ohne weiteres aus der doch je verschiedenen »Nativität« der Gefallenen erklären. Vor allem aber war für Grimmelshausen das Schlachtfeld ein Zeichen für die Umkehrung aller Ordnungssysteme, die ein geregeltes Miteinander der Menschen ermöglichen. Er stellte Schlachten nicht wie die Zeichner und Stecher der Schlachtenbilder als ein geordnetes, gefällig arrangiertes Geschehen dar, sondern als eine Verkehrung aller gottgewollten Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Tier:5 da sähe man nichts als einen dicken Rauch und Staub, welcher schiene als wollte er die Abscheulichkeit der Verwundeten und Toten bedecken. In demselbigen hörete man ein jämmerliches Weheklagen der Sterbenden und ein lustiges Geschrey derjenigen, die noch voller Muth Stacken. Die Pferd selbst hatten das Ansehen, als wenn sie zu Verthedigung ihrer Herren je länger je frischer würden, so hitzig erzeigten sie sich in dieser Schuldigkeit, welche sie zu leisten genötiget waren. Deren sähe man etliche unter ihren Herrn todt damider fallen, voller Wunden, welche sie unverschuldter Weis zu Vergeltung ihrer getreuen Dienste empfangen hatten; andere fielen umb gleicher Ursach willen auff ihre Reuter und hatten also in ihrem

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Das Verständnis von Krieg und Frieden bei Grimmelshausen ist öfters behandelt worden, zuletzt von: Dieter Breuer: Krieg und Frieden in Grimmelshausens »Simplicissimus Teutsch«. In: Der Deutschunterricht 37 (1985), H. 5, S. 79-101. Ferdinand van Ingen: Der Dreißigjährige Krieg in der Literatur. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 3, 1572-1740. Hg. von H. Steinhagen. Reinbek 1985, S. 237-256. Eberhard Mannack: Unvorgreifliche Gedanken über Möglichkeiten, unsere Kenntnisse von Barockautoren zu vertiefen. Demonstriert am Beispiel von J. C. von Grimmelshausen. In: August Buck, Martin Bircher (Hgg.): Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Festschrift für Paul Raabe. Amsterdam 1987, S. 595-612. Italo Michele Battafarano: »Was der Krieg vor ein erschreckliches und grausames Monstrum seye«. Der Dreißigjährige Krieg in den Simplicianischen Schriften Grimmelshausens. In: Simpliciana X (1988), S. 45-59. Ders.: Die Faszination des Monstrums Krieg in Grimmelshausens Simplicianischen Schriften. In: Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen als europäischen Literatur. Bern u. a. O. 1994, S. 13-32. Entsprechende Untersuchungen zu Moscherosch stehen aus. Simplicissimus Buch II, 27. Kapitel: die Schlacht bei Wittstock. Zur Quellengeschichte dieser Schlachtschilderung Hans Geulen: Arkadische Simpliciana. Zu einer Quelle Grimmelshausens und ihrer strukturellen Bedeutung für seinen Roman. In: Euphorion 63 (1969), S. 426-437.

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Todt die Ehr, daß sie von den jenigen getragen wurden, welche sie in währendem Leben tragen müssen [...]

Das Kriegschaos wird als Gegenteil einer Friedensordnung verstanden, es ist »verkehrte Welt«. Beide Autoren beschwören in zahllosen Varianten Bilder auf den Kopf gestellter Ordnungssysteme. Nur so ist es verständlich, daß Moscherosch in seiner Schrift SoldatenLeben dem großformatigen Kupferstichportrait seiner selbst als Amtmann von Finstingen so große Bedeutung beigemessen hat.6 Sicher, er hat hier einen entscheidenden Moment seiner Biographie ins Bild fassen lassen: Den Überfall jener Räuberbande entlaufener Soldaten auf ihn und seine Knechte vor den Toren von Finstingen (Fénétrange) am 6. September 1641. Er kostete ihn seinen Viehbestand, seinen Lebensunterhalt, und zwang ihn zur Rückkehr mit seiner Familie hinter die festen Mauern Straßburgs. Aber das allein macht nicht die Signifikanz des Stiches aus. Er ist Abbild einer verkehrten Ordnung. Er zeigt, daß der Vertreter des »Wehrstands«, der fürstliche Beamte Moscherosch, durch die Kriegsumstände gezwungen ist, seine Familie als Landbauer durch der Hände Arbeit zu ernähren. Moscherosch hatte seit Monaten keine Besoldung mehr erhalten. Der Krieg verkehrte die Grundordnung des Ständeaufbaus von Wehr-, Lehr- und Nährstand.7 Grimmelshausen hat eine ganze Schrift der Verkehrten Welt (1672) gewidmet und darin den durch den Krieg bewirkten Verkehrungen breiten Raum gegeben.8 Er meint nichts anderes, wenn er den Krieg immer wieder als »Monstrum« bezeichnet, als ein Groteskwesen, dessen Gestalt aus menschlichen und tierischen Teilen zusammengesetzt ist. Die wohl folgenreichste Verkehrung ist die des Menschen zum Tier, des Soldaten zum Räuber. Moscherosch und Grimmelshausen bringen jene Erfahrungen zur Sprache, die bei lang andauernden Kriegen auch noch im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert zu machen sind: Daß Soldaten auf ihren Kriegszügen in steigendem Maß zu verrohen drohen und ihr Seelenleben sich auf tierische Instinkte reduziert. Soldaten drohen zu Mördern und Bestien zu werden. Beide Autoren schildern detailliert diesen psychologischen Prozeß, Moscherosch als die graduelle Anpassung seines Helden Philander an die verkommene Moral einer Räuber- und Mörderbande, Grimmelshausen in der Schilderung wachsender Weltverfallenheit seines Simplicissimus. Der zum Tier herabgesunkene Soldat zerstört, was den Menschen in der Ordnung der Lebewesen auszeichnet, seine Gottebenbildlichkeit.9 6

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Der Stich ist mehrfach reproduziert worden, zuletzt in W. E. Schäfer: Unter Räubern (wie Anm. 3), S. 37. So hat Moscherosch selbst den Stich in einem Brief an Samuel Gloner interpretiert. Siehe Johann Wirth: Moscheroschs Gesichte Philanders von Sittewalt. Diss. Erlangen 1887, S. 59. Vgl. auch W.E. Schäfer: J.M. Moscherosch (wie. Anm. 2.), S. 113-115. Franz Günter Sieveke (Hg.): Grimmelshausen: Die verkehrte Welt. Tübingen 1975. Vgl. zum Beispiel Grimmelshausen: Satyrischer Pilgram. Hg. von Wolfgang Bender, Tübingen 1970, S. 158: »Da verderben und richten einander zu Grund die jenige, die Gott zu seinem Ebenbild erschaffen«.

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Als Satiriker, nach jenem älteren, vom Humanismus übernommenen Verständnis von der Aufgabe der Satire, hatten beide die Pflicht, der »verkehrten Welt«, den geschilderten Verzerrungen anthropologischer und sozialer Ordnungen durch den Krieg, Maßstäbe für gerechtere Ordnungen entgegenzustellen.10 Beiden gemeinsam ist die von der mittelalterlichen Theologie und vom modernen Naturrecht entwickelte Idee vom Gerechten Krieg, das heißt von einer durch ethische Grundsätze regulierten Kriegführung, die sich durch ein gerechtes, den Frieden begünstigendes Kriegsziel und durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel legitimieren muß.11 Der Rückgriff auf die von Augustinus begründete, von Thomas von Aquin und spanischen Spätscholastikern breit entwickelte Theorie war um so dringender, als sie unter dem Eindruck der pragmatischen Kriegspolitik absolutistischer Herrscher mit ihrer Zielsetzung der »Arrondierung« des Staatsgebiets, der Mehrung der »Reputation«, in Vergessenheit zu geraten drohte. Moscherosch läßt bezeichnenderweise einen Bauer in der Runde moralisch verkommener Soldaten einige Grundsätze dieser Theorie verbringen:12 Ihr Herren: sagte der Bawr: wann ihr etwas vor habt/ ein Treffen/ ein Scharmützel/ ein Party/ so bedenckt von ersten wem ihr dient: nicht thut wie manche/ die da sagen/ ich nehme Gelt und diene dem Teuffei/ dann wer wider seinen Glauben dient/ der ist ärger als ein Heyde. Darnach so denckt ob ihr Fug und Recht habt. Drittens/ ob es zur Ehre Gottes/ zu Dienst ewers Gn. Herren/ und zu deß Vatterlands Heyl angesehen ? Wann das so ist/ so sprechet also: Großmächtiger Gott/ Himmlischer Vatter/ hie bin ich/ nach deinem Göttlichen Willen/ in diesem eusserlichen Werck und Dienst meines Oberhemn/ wie ich schuldig bin: und bin gewiß/ daß dieser mein Gehorsam auch dir wohlgefällig ist [...] Erhalte O lieber Gott/ und stercke mir solchen Glauben durch deinen Geist/ und gib daß ich alle Untugend/ auch Tyranney gegen unschuldige Leutte meide/ und ein mitleidiges Hertz habe. Gegen M. gn. Hrn. Feinden aber ein hartes Mannes Hertz/ Gesundheit/ bestendigen Muth und Dapfferkeit/ daß ich streitte wie ein Held für deines H. Namens Ehre/ und meiner Seelen bestes/ umb Jesu Christi willen/ Amen.

Auf der Erzählebene fruchtet diese Ermahnung nicht viel. Einer der zuhörenden Marodeure gibt zurück: Wenn ich Morgens auffstehe [...] so spreche ich ein gantz A.B.C, darin sind alle Gebett begriffen/ unser Herr Gott mag sich darnach die Buchstaben selbst zusamen lesen/ und Gebette drauß machen/ wie er will/ [...] Und wenn ich mein abc gesagt hab/ so bin ich gewischt und getrenckt/ und denselben Tag so fest wie ein Maur. 13

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Die umfangreiche Literatur zur älteren Satiretheorie zusammengefaßt in dem Lexikonartikel von Wemer Röcke, Satire (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit). In: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Bd. 14. Gütersloh, München 1993, S. 327-331 (mit Bibliographie). Robert Regout: La doctrine de la guerre juste de Saint Augustin à nos jours d'après les théologiens et les canonistes catholiques. Paris 1934. Paulus Engelhardt: Die Lehre vom »gerechten Krieg« in der vorreformatorischen und katholischen Tradition. In: Der gerechte Krieg: Christentum. Islam. Marxismus. Hg. von Reiner Steinweg. Frankfurt/M. 1980, S. 72-124. Moscherosch: Gesichte Philanders von Sittewald. Ander Theil. Straßburg 1665, S. 670ff. Fest wie ein Maur: durch magische Kraft hieb- und schußfest, nicht zu verletzen.

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Schäfer

Und ein anderer: morgens ehe ich auffstehe/ so laß ich einen Streichen für mein Morgen-Segen/ das thut mir den gantzen Tag wol im Leib.

Moscherosch weiß um die Vergeblichkeit des Versuchs, die Soldateska noch einmal auf Grundsätze gerechter Kriegführung zu verpflichten. Er ist sich wohl auch bewußt, daß sein Rückgriff auf das Ideal des christlichen Streiters, wie es Luther in der Schrift Ob Kriegsleute auch in seligen Stand sein können (1526) umrissen hat, nicht viel an den Fakten ändern wird. Dessen ungeachtet rückt er in sein Soldaten-Leben ein langes Gedicht unter dem Titel Der Soldaten Lehr-Brief ein, das in achtzig Strophen die Verhaltensregeln für einen solchen Streiter entwickelt. Entschieden sind Moscherosch und Grimmelshausen in der Zurückweisung aller Versuche, den Krieg - zumindest in seiner späten Phase - als eine Auseinandersetzung zwischen Konfessionsparteien zu verstehen. Die Gesinnung von Soldaten und Offizieren, die in Freundesland nicht weniger plünderten, erpreßten, vergewaltigten als in Feindesland, der bedenkenlose Übertritt von Gefangenen in die Soldatendienste der je anderen Partei, die selbstsüchtigen Versuche von Heerführern, eigenen Grundbesitz, auch eigenes Territorium zu erwerben, das alles ließ ein solches Verständnis nicht mehr zu. Immer deutlicher zeichnete sich hinter den Fronten der kriegführenden Parteien der tiefere Gegensatz zwischen seßhaften Bürgern und wehrlosen Bauern einerseits, bindungslosen Soldaten und Marodeuren andererseits ab. Es gab auch Erfahrungen Moscheroschs und Grimmelshausens, die sich ganz offenbar nicht mehr nach den eingespielten Deutungsmustern lutherischer oder katholischer Glaubenslehre interpretieren ließen. An solchen Punkten der Erzählung stellen die Autoren ihre Zweifel in der Form kontroverser Diskussion zwischen einzelnen Erzählfiguren oder gemildert durch die Einlage eines fiktiven Traumgesichts dar. Zu den quälenden Kriegserfahrungen gehörte der Zweifel an der Vorsehung Gottes, insofern sie Leben und Schicksal des einzelnen Menschen bestimmt (Providentia privata). Der Anblick von Tausenden in einem Augenblick hingerafften Toten auf einem Schlachtfeld oder bei einer Pestepidemie nagte an der Überzeugung vom Walten Gottes im einzelnen Leben. In Moscheroschs Soldaten-Leben entzündet sich die Diskussion beim Anblick eines auf der Saar in den Grund gebohrten Schiffes, auf dem »an fünfundzwanzig Personen, viel vornehme ehrliche Leute« im gleichen Augenblick zu Tode kamen. Der Erzähler Philander macht sich Gedanken darüber:14 wie es möglich wäre/ daß so viel ehrlicher Leute/ eben mit einander/ alle hätten müssen sterben/ auff eine Stunde/ an einem Orth/ und auff eine Weise, da sie doch sonder zweiffei nicht alle eine Geburtsstunde oder Himmels-Zeichen wirden gehabt haben.

Ein Doktor der Medizin, Freund Philanders, besteht auf der These, daß die Umgekommenen alle notwendig ein und dasselbe »Geburtszeichen« gehabt 14

Moscherosch: Gesichte (wie Anm. 12), S. 610.

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Grimmelshausens

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haben müssen, denn die Nativität bestimme Lebenslauf und Lebensende. Vordergründig geht es um Astrologie. Doch in der Gegenargumentation Philanders tritt zutage, daß mehr auf dem Spiel steht:15 Es ist einer von glücklicher Geburt/ und under einem Zeichen Lang-Lebens geboren/ zieht aber und wohnet in einer Statt/ über die ein großes Unglück verhänget ist/ als bey unsern Zeiten/ nach Magdeburg ect. der wird mit Gemeiner Statt zugrunde gehen/ ob er schon noch so gute Zeichen in seiner Geburts-Stunde wegen Lang-Lebens gehabt hätte. Wie offt sehen wir/ daß durch ein allgemeine eingerissene Pest Leute dahin sterben/ die doch nach ihrer GeburtsStunde noch viel Jahr hätten leben können/ und sollen: wie dann solches auß H. Schlifft auch kundbar/ daß offt der Unschuldige/ umb der Boßheit willen vieler Schuldigen/ hat müssen das Leben lassen/ und zeitlich undergehen/ dene es doch Gott an der Seele nicht wird haben entgelten lassen.

Es geht um Schuld und Unschuld des einzelnen, um Bestrafung und Belohnung durch Gott hier und im Jenseits, um Gottes Gerechtigkeit bei der Zuteilung der menschlichen Lose. Für Philander ist ein Zusammenhang nur noch mit Mühe erkennbar. Gottes Gerechtigkeit bleibt im Kriegsgeschehen verborgen. Das war nun allerdings ein zentraler Glaubensartikel, der hier ins Wanken kam. Kein Wunder, daß der Erzähler die Diskussion abbricht, indem er erklärt: Dieses aber alles durch meine Einfalt zu ergründen oder zu beschreiben ist mir unmüglich/ ist auch meines Wesens/ Willens/ und Vorhabens nicht; Gelehrterer Leute Außschlag möchte ich darüber gleichwol gerne hören.

Grimmelshausen ging das gleiche Problem auf subtilere Weise an. Er benutzte im Simplicissimus den Rahmen eines Göttergesprächs in der Tradition des spätgriechischen Satirikers Lukian, um die Vision eines gerechten Friedensreiches zu entwerfen und sich zugleich von einer solch kühnen Utopie zu distanzieren. Jupiter, der »überstudierte Erzphantast«, erklärt Ganymed diese Rolle spielt Simplicissimus - er sei incognito auf die Erde gekommen, weil Kunde von den Lastern der Menschen in den Götterrat gedrungen sei. Die Götterversammlung habe beschlossen, das Menschengeschlecht in einer zweiten Sintflut auszulöschen. Er fährt fort:16 weil ich aber dem menschlichen Geschlecht mit sonderbarer Gunst gewogen bin und ohne das allezeit lieber die Güte als eine strenge Verfahrung brauche, vagiere ich jetzt herum, der Menschen Thun und Lassen selbst zu erkündigen, und obwohl ich alles ärger finde, als mirs vorgekommen, so bin ich doch nicht gesinnt, alle Menschen zugleich und ohne Unterschied außzureuten, sondern nur diejenigen die zu straffen sind und hemach die übrigen nach meinem Willen zu ziehen.

15 16

Moscherosch: Gesichte (wie Anm. 12), S. 612. Grimmelshausen: Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheuerlichen Simplicissimi. Hg. von Rolf Tarot. Tübingen 1984 (Drittes Buch, Kap. 3-5). Zur Darstellungsform des Göttersymposions in der Tradition Lukians und Boccalinis: Werner von Koppenfels: Mundus alter et idem. Utopiefiktion und menippeische Satire. In: Poetica 13 (1981), S. 16-66. Walter Ernst Schäfer: Moral und Satire. Konturen oberrheinischer Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992, S. 156-157. Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Tübingen 1994, S. 160.

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Darauf der skeptische Simplicissimus: Ach, Jupiter, deine Mühe und Arbeit wird besorglich allerdings umbsonst seyn, wenn du nicht wieder, wie vor diesem, die Welt mit Wasser oder gar mit Feuer heimsuchest; dann schickest du einen Krieg, so laufen alle böse verwegene Buben mit, welche die friedliebende fromme Menschen nur quälen werden; schickestu eine Theurung, so ists eine erwünschte Sach vor die Wucherer, weil als dann denselben ihr Kom viel gilt, schickstu aber ein Sterben, so haben die Geitzhälse und alle übrige Menschen ein gewonnen Spiel, in dem sie hernach viel erben; wirst derhalben die gantze Welt mit Butzen und Stil außrotten müssen, wenn du änderst straffen wilt.

Das Instrumentarium der drei »Hauptstrafen« Gottes, die Simplicissimus auflistet, Krieg, Hunger (mit der Folge der Teuerung) und Pest (»ein Sterben«) erweist sich als untauglich für eine gerechte Behandlung der Menschen. Jupiter scheint dennoch Rat zu wissen. Er trägt im folgenden die Vision eines gerechten Friedensreiches vor, das er zwar mit Gewaltmaßnahmen erzwingen will, aber - ohne Soldaten, das ist wichtig - durch eine Wunderwaffe, ein magisches Schwert, wie es nur ihm zur Verfügung steht. Durch Soldaten, gleichgültig welcher Couleur, läßt sich keine gerechte Ordnung herstellen. Damit fallt aber auch das Konzept des Gerechten Krieges in sich zusammen. Diesen Schluß führt Grimmelshausen nicht mehr aus, suggeriert ihn aber.17 Ein spezielles Problem der Kriegführung, das Moscherosch und im Anschluß an ihn Grimmelshausen erörtern, erhält erst im Horizont des bisher skizzierten Themenkreises sein Gewicht. Es geht um die Wirkung von Feuerwaffen, von Geschützen aller Art. Dieses Thema hatte schon Erasmus von Rotterdam und Martin Luther beunruhigt, stellte sich aber nun, in der Epoche der Entwicklung einer durchschlagenden mauerbrechenden Artillerie, wie sie besonders der französischen Armee Ludwigs XIII. zur Verfügung stand, mit neuer Schärfe.18 Moscherosch geht in seinem Soldaten-Leben auf den Ursprung der Schießtechnik überhaupt zurück und stellt den Erfinder des Pulvers, Berthold Schwarz (14. Jh.) vor die imaginierte Gerichtsversammlung altdeutscher Helden der germanischen Frühzeit, die noch mit dem Speer in der Hand und dem Schwert in der Faust gekämpft haben. Die Ankläger tragen den Gerichtsherren vor:19

17

Die Einstellung Grimmelshausens zum Krieg allgemein und zum Konzept des »Gerechten Krieges« im besonderen ist nur vielfältig gebrochen durch seine Erzählfiguren faßbar. Wenn im »Stoltzen Melcher« (s. Grimmelshausen: Kleinere Schriften. Hg. von Rolf Tarot. Tübingen 1973, S. 46) der Schweizer Handwerksgeselle, der als Söldner in französischen Diensten gestanden war, dem Solddienst für fremde Mächte abschwört und nur noch einen Einsatz zur Verteidigung des Vaterlandes in Erwägung zieht, widerspricht das nicht unbedingt meiner Interpretation von Jupiters Entwurf zur Herstellung eines Friedensreiches ohne Waffen. Die Theorie des »Gerechten Krieges« ist umfassender als die Rechtfertigung des Verteidigungskrieges. Der Schweizer Handwerksgeselle nimmt eine Haltung ein, wie sie in der politischen Publizistik zur zeitgenössischen Diskussion um die Solddienste der Schweizer Johannes Grob im Treugemeinten Eydgenössischen Auffwecker, o. O. 1689, einnahm.

18

Martin Luther in einer seiner frühen Predigten: Werke (Weimarer Ausgabe). Bd. 1,4, S. 651. Moscherosch: Gesichte (wie Anm. 12), S. 795.

19

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Dann mein/ was kan die alte Teutsche Tugend und Redlichkeit auff der Welt mehr nutzen: wann der allermächtigste kühneste Held/ muß in den stündlichen Sorgen stehen/ daß auch der allerschlimeste verzagteste Bößwicht und Bub/ ihm mit einer Kugel/ von ferne her/ und hinder einer Hecken/ im verborgenen/ mag das Leben abstehlen! Der doch sonsten wol nicht das Hertz hätte/ einen Helden under Gesicht nur allein anzuschawen. Wo soll man nun mehr wissen/ und einenn Underschied machen können/ under dem der Tugend hat/ und under dem der keine hat: Weil ja dergestalt ein Muthloser Gesell den allerhertzhafftesten Mann mag niderlegen und erwürgen ! Da sonst zu unserer Vättern redlichen Jahren/ Mann gegen Mann mit freyer Faust/ und under das Gesicht gefochten/ und man mit Augen hat sehen und erkennen mögen/ in wem wahre Tugend/ Trew und Redlichkeit gewohnet. Ja/ wer ist Ursach an so vieler Christen-Mänschen Blut/ als dieser verdampte Mönch/ da man in Treffen auff einander zugehet/ und einander durch groß und klein Geschütz zu boden wirfft/ als das unsinnige blinde Vieh nimmer wirde thun mögen.

Die traditionellen Tugenden des Soldaten, körperliche Stärke und Gewandtheit, Mut und Redlichkeit im Kampf, sind angesichts der neuen Feuerwaffen nichts mehr wert. Das ist genug, aber nicht der bedenklichste Punkt. Bedenklicher ist, daß die Massentötungsinstrumente keine Chance mehr lassen, Sterben und Tod eines Soldaten als persönliche, von Gott verhängte Bestimmung zu begreifen. Das Vertrauen in Gottes Vorsehung, in die Providentia privata, ist auch unter diesem Aspekt im Schwinden. Wir übergehen die - sehr geschickte - Rechtfertigung des Berthold Schwarz vor dem Tribunal und wenden uns Grimmelshausen zu, der in seiner Erstlingsschrift, dem Satyrischen Pilgram, ein Kapitel »Vom Geschütz« einrückte. Auch kam er im späteren Kapitel »Vom Krieg« noch einmal darauf zu sprechen. Im »Gegensatz«, also in jenem Abschnitt des Kapitels »Vom Geschütz«, der die bedenkliche Seiten der Erfindung aufzeigen soll, schreibt Grimmelshausen als einer »der auch darbey gewesen« ist:20 Ich will jetzt nicht sagen/ daß sich die Schüler-Knaben mit Schlüsselbixen und viel Roßbuben, Hirten und Landfahrer mit Fäustlingen und Pufferten versehen/ dardurch offtmal auch ein Schade geschiehet/ mehr ists zu betauren/ wann ein redlicher Mann/ der seinen Feind nicht einmahl gesehen/ von einem liederlichen Lumpen ohnversehens todt geschossen wird.

Und in ebenso deutlicher Wiederaufnahme der Argumentation Moscheroschs im Kapitel »Vom Krieg«: 21 Aber in einer Battalia bringt ein Mensch ein Christ den andern umb/ nit durch natürliche Waffen die ihm Gott gegeben/ als Fäuste/ Nägel/ Zähne/ etc. sonder durch Metall/ Bley/ Stahl und Eisen; Da verderben und richten einander zu Grund die jenige/ die Gott zu seinem Ebenbilde erschaffen ! die vor welche der Herr Christus gestorben/ damit die lebten [...] da mueß einer einen andern umbbringen/ den er nie gesehen/ vielweniger von ihm belaidiget worden; Da ist kein Mitleidens! da mueß iedweder durch Uffopfferung eines andern seinem aignen Verderben vorkommen/ und ehe sichs ein Soldat versiehet/ so trifft ein Geschütz beydes den Schuldigen und Unschuldigen/ also daß die/ so noch dabey stehen bleiben/ mit Blueth/ Hirn/ Ingeweid und gantzen Gliedmassen gantz abscheulicher Weise getroffen/ besprenget und besudelt werden; Dieses seye nur so vor die lange Weile oder im vorüber gehen denen kürtzlich gesagt/ die gern im Kriege wären/ und dahero dessen begehrn. 20

21

Grimmelshausen: Satyrischer Pilgram (wie Anm. 9), S. 99. Schlüsselbüchsen sind einfache selbstverfertigte Schießwerkzeuge, die dadurch entstehen, daß man in den Schaft eines Schlüssels ein Loch bohrt oder feilt und mit Pulver ladet. DWB Bd. 15, S. 860. Grimmelshausen: Satyrischer Pilgram (wie Anm. 9), S. 158.

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Auch Grimmelshausen geht es um die Zuweisung von Schuld und Unschuld, um Gerechtigkeit den Schuldigen und Unschuldigen gegenüber. Auch ihn läßt das Kriegserlebnis zweifeln, ob Gottes Hand im Spiel ist, wenn Soldaten kämpfen und fallen. Das System der überkommenen religiösen Erklärungsmuster bröckelt ab. Zweifel melden sich, noch verhüllt in fingierten Gesprächen, imaginierten Visionen, von denen der Autor sich distanzieren kann. Diese Gemeinsamkeiten dürfen nun allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es bei Moscherosch und Grimmelshausen auch deutlich verschiedene Akzentsetzungen gibt, die teils durch Mentalitätsunterschiede, durch ihre verschiedene konfessionelle Zugehörigkeit, teils auch durch den verschiedenen historischen Standort und die dadurch bedingte Perspektive vorgegeben sind. Moscherosch schrieb sein Soldaten-Leben inmitten des Krieges. Er verfaßte die Schrift schon in Finstingen, in Ruhepausen zwischen Überfallen, Plünderungen, Krankheiten. Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch erschien erst zwanzig Jahre nach Kriegsende, 1668. Er ist im Rückblick aus einer befriedeten Welt verfaßt, wenn auch schon unter drohenden Vorzeichen neuer Kriege, die der Expansionsdrang der französischen Krone am Oberrhein heraufbeschwor. Auf die doppelte Perspektive auf Krieg und Frieden mag zurückzuführen sein, daß sich durch die Erzählschriften Grimmelshausens eine Serie von manchmal nur angedeuteten Gesellschaftsutopien zieht, in denen das Moment des sozialen und politischen Friedens eine große Rolle spielt. So in der oft genannten, in der Interpretation immer noch umstrittenen Jupiter-Episode des Simplicissimus (III, 5ff.), von der schon die Rede war. In ihre erscheint dem Titelhelden, der in Westfalen auf Kriegsbeute lauert, ein wohlgekleideter Herr, der sich für Gott Jupiter ausgibt. Im Verlauf seines Gesprächs mit Simplicissimus entwickelt er die Vorstellung von einem deutschen Friedensreich, in dem die Alleinherrschaft eines Mächtigen durch ein Parlament, die Versammlung der Vertreter der Städte des Reiches, kontrolliert wird und in dem die konfessionellen Gegensätze durch eine einheitliche christliche Staatsreligion aufgehoben sind. Die Vorschläge Jupiters entstammen der Tradition spätmittelalterlicher Reformschriften wie der Reformatio Sigismundi (um 1440) und der des Oberrheinischen Revolutionärs (um 1495) bis hin zu den Schriften der Rosenkreuzer. Ähnlicher Herkunft wie diese letzteren, aus paracelsischem Ideengut, sind die Vorstellungen, die Grimmelshausen in der sogenannten Mummelsee-Episode (Simplicissimus V, 13-16) entwickelt. Hier ist die Rede von einer Unterseewasserwelt der Sylphen, in der Zwietracht und Krieg schon deshalb nicht aufkommen können, weil die anthropologischen Voraussetzungen dafür fehlen: die Sylphen, die keine unsterbliche Seele haben wie die Menschen, haben auch keine Anmutungen von Egoismus und Bosheit. Näher an den Erfahrungen seiner Zeit liegt Grimmelshausens Bericht von Zusammenleben der Wiedertäufer (Simplicissimus V, 19). Bei ihnen herrscht

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eine wohlorganisierte, strenge Aufgabenteilung. Jeder Stand - und das dürfte für den sozialen Frieden ausschlaggebend sein - hat bei seiner Arbeit das Gemeinwohl im Auge. Die ethische Haltung wird durch die Förderung religiöser Bindung und durch religiöse Exerzitien, die keinen Müßiggang zulassen, unterstützt: Da war kein Zorn/ kein Eifer/ kein Rachgier/ kein Neid/ kein Feindschaft/ kein Sorg um Zeitliche/ kein Hoffart/ kein Reu ! In Summa/ es war durchauß eine solche liebliche Harmonía, die auff nichts anders angestimbt zu seyn schiene/ als das Menschlich Geschlecht und das Reich Gottes in aller Erbarkeit zu vermehren [...].

Man könnte noch andere Friedensvorstellungen und Friedenserfahrungen des Simplicissimus nennen, etwa seine Eindrücke von der Schweiz (Simplicissimus V, 1). Gemeinsam ist ihnen allen, daß sie noch im Roman selbst in der Art der Satire desavouiert werden, zum Beispiel durch die Herabsetzung dessen, der solche Ideen vorbringt, so wie Jupiter, der »überstudierte Narr«, am Ende seine Hose herabzieht und den Läusen, die darin hausen, staatstheoretischen Unterricht erteilt, in der Motivik des oberrheinischen satirischen Tierepos.22 Am lapidarsten und deutlichsten aber am Ende des Wiedertäuferberichts, wo der alte Knan, der Ziehvater des Simplicissimus, diesem erklärt, daß er »wol nimmermehr solche Bursch zusammen bringen« würde, wie sie eine solche Friedensgesellschaft benötige. Anders gesagt: der Mensch ist nicht aus dem Holz geschnitten, um einer solchen Gemeinschaft fähig zu sein. Er ist zwar freien Willens, aber selbstsüchtig und deshalb zu Streit und Krieg aufgelegt. Durch die vielen Brechungen der Friedensideen bei den verschiedenen Romanfiguren hindurch gewinnt man den Eindruck, daß Grimmelshausen einen Weg suchte zwischen der immer wieder aufkeimenden Friedenssehnsucht und der Skepsis gegenüber allen Utopien. Als Erzähler fand er schließlich einen Ausweg - man darf wohl eher sagen einen Notbehelf, ähnlich wie Erasmus von Rotterdam - nur in der Absonderung dessen, der den Frieden sucht, im - stets gefährdeten - Einsiedlerleben. Der alte Simplicissimus als Einsiedler auf der Kreuzinsel (VI, 22-27) ist die Vorstellung, mit der Grimmelshausen den Leser des Simplicissimus entläßt. Der skeptische Grundton Grimmelshausens erklärt sich auch daraus, daß er bei der Niederschrift des Simplicissimus auf eine fast zwanzigjährige Friedenszeit zurückblicken konnte, die ihn in mancher Hinsicht enttäuscht haben muß. Moscherosch dagegen hat nach dem Friedensschluß 1648 keine Erzählungen mehr hervorgebracht, die nun auch die Friedenszeit zum Thema gehabt hätten. Grimmelshausen sah die junge Generation, der die Erfahrung des Krieges

22

In Johann Fischarts Flöh-Hatz, Weiber-Tratz und Wolfhart Spangenbergs EselKönig werden in ähnlicher Weise staatstheoretische Grundsätze am Beispiel von Tiergesellschaften ironisch behandelt. Die Entwicklung von Gesellschaftsutopien und ihre Desillusionierung ist jedoch schon bei Lukian vorgebildet, der auch darin Archetypen satirischer Schreibart schuf. S. z. B. Hermotimus, oder von den philosophischen Secten, in: Lucian von Samosata: Sämtliche Werke. Übersetzt von Chr. Martin Wieland. Bd. 3. Fünfter Teil. Darmstadt 1971, S. 31.

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abging, nachdrängen und lüstern, auch ihr Glück im Krieg zu versuchen. Im Stoltzen Melcher (1672) umriß er das Profil eines Bauernburschen, der, um der Bevormundung durch den Vater zu entkommen und rasche Beute zu machen, holländischen Werbern gefolgt war und im zweiten Eroberungskrieg Frankreichs gegen die Niederlande (1672-1678) gefochten hatte.23 Er zeigt ihn als heruntergekommenen, räudigen Bettler, gemäß dem geläufigen Sprichwort »Junge Soldaten, alte Bettler«. Überhaupt präsentiert Grimmelshausen seinen Lesern immer wieder das Bild des elend und krank gewordenen Kriegsinvaliden, des Stelzfußes - Springinsfeld ist nur die eindringlichste dieser Figuren. Sie sollen die junge Generation mahnen und schrecken. Auch jener Kaufmann, von dem Das wunderbarliche Vogelnest, Teil II (1675) erzählt (Kap. 21,22) steht im Begriff, aus Verzweiflung und Langeweile sich anwerben zu lassen, als er in Gesellschaft liederlicher Brüder durch magische Beschwörung ein Zauberbild (»Spektakul«) vorgeführt bekommt, welches so beschaffen ist, »daß man Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges darbei sehen könnte«.24 Noch einmal erscheint Gott Jupiter, einmal mehr durch die Schlechtigkeit der Menschen aus seiner olympischen Ruhe aufgeschreckt, und sucht die Ursachen für so viel Laster auf der Erde zu finden. Er muß feststellen, daß der Friede - von wenigen Friedfertigen abgesehen - den Menschen nicht bekommt. Alles spricht dagegen, daß der Autor Grimmelshausen selbst in seinen letzten Lebensjahren (die schlecht dokumentiert sind) dem erwünschten friedlichen Leben in der Zurückgezogenheit näher gekommen wäre. Im Gegenteil: als Bürgermeister eines Ackerbauernstädtchens war er von den Turbulenzen des Krieges, der mit dem Einfall der französischen Armee unter Turenne 1675 auf die Oberrheingebiete übergriff, besonders betroffen. Und er starb, nach dem wenigen, das man aus dem Kirchenbucheintrag des Ortspfarrers weiß, im Wehrdienst, mit rund fünfundfünfzig Jahren noch einmal unter Waffen.25

23

24

25

Grimmelshausen: Kleinere Schriften. Hg. von Rolf Tarot. Tübingen 1973, S. 29-50. Zur Absicht Grimmelshausens, der jüngeren Generation im Simplicissimus ein abschreckendes Bild vom Krieg zu geben I. M. Battafarano: Die Faszination (wie Anm. 4), S. 17. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogelnest. Hg. von Rolf Tarot. Tübingen 1970, S. 282. G. Weydt: H.J. v. Grimmelshausen (wie Anm. 2), S. 13-14.

Walter Ernst Schäfer

Die pommersche Herrschaft in Finstingen (Fénétrange) in Lothringen

In der pommerschen landeshistorischen Forschung ist kaum bekannt, daß ein halbes Jahrhundert lang, genau von 1622 bis 1664, eine kleine befestigte Stadt in Lothringen und Teile einiger Dörfer in deren Nähe im Besitz von Angehörigen der pommerschen Herzogsfamilie waren und daß ein deutscher Literat, Johann Michael Moscherosch, der dort als »pommerscher Amtmann« - so nannte man ihn - eingesetzt war, während seiner Dienstzeit für einen pommerschen Herzog seine wichtigen Werke hervorbrachte. Diese historische Episode ist nicht so unbedeutend, daß man sie völlig übergehen sollte. In älteren und neueren Darstellungen der Landesgeschichte ist davon nur selten in einer Fußnote die Rede. Wie kam es zu dieser seltsamen Brücke zwischen Pommern und Lothringen? Wie anders im feudalen Zeitalter als durch die Heiratspolitik der Dynastien! Im Jahre 1619 heiratete Anna von Pommern (1590-1660), die neunundzwanzigjährige jüngste Tochter des schon verstorbenen Herzogs Bogislaw XIII. von Pommern-Wolgast (1544-1606), einen Herrn aus einer Herzogsfamilie, die in den spanischen Niederlanden beheimatet und begütert war, den etwa vierzigjährigen Herzog Ernst von Croy-Arschot (1579-1620). Der Bräutigam führte den Titel »Fürst des Reiches, Markgraf von Havré« - in Flandern - , »Graf zu Fontenoy und Bayon« - in Lothringen, »Herr zu Dommartin und Finstingen«.1 Es waren schwierige Verhandlungen vorausgegangen bis der Heiratskontrakt aufgesetzt war. Vor allem deshalb, weil der Bräutigam katholischer Konfession war, mehr noch, einer Familie entstammte, die sich aus ihrem Kampf für die katholischen Mächte einen Ruhmestitel machte. Nach dem Willen des Hauses Pommern sollte die Braut lutherisch bleiben und die zu erwartenden Kinder lutherisch erzogen werden. So ist nicht unwichtig, daß die Trauung in Stettin »nach der pommerschen Kirchenordnung« vorgenommen Zur Geschichte und Genealogie des Hauses Croy-Arschot sind folgende Lexikonartikel hilfreich: Zedier: Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste. Halle/Saale 1732-1754; Neudrucke Graz 1901-1964. Bd. 6, Sp. 1737; Ersch-Gruber: Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste. Leipzig 1818-1889; Neudruck Graz 1970. 1. Sektion, Bd. 20, S. 219; ADB Bd. 4, S. 616-618. Auch stehen folgende Monographien zur Verfügung: Alexander Barginet: Généalogie critique et littéraire des maisons de Croy. Paris 1820; Georges Martin: Histoire et généalogie de la maison de Croy. La Ricarnaie 1980. Schließlich stellte mir das Herzog-von-Croy'sche-Archiv in Dülmen/Westfalen ungedruckte Skripten zur Verfügung, für die ich danke.

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und der Braut das Recht eingeräumt wurde, bei der lutherischen Konfession zu bleiben. Zum Zeitpunkt der Trauung am 4. August 1619 waren von dieser Verbindung kaum politische Auswirkungen zu erwarten.2 Der Bräutigam kam aus einem weniger bedeutenden Zweig des Hauses Croy-Arschot. Sein Onkel Karl Alexander (1574-1624), Staatsrat Philipps III. von Spanien, vertrat von seinem Palais in Brüssel aus die Interessen des Gesamthauses. In Stettin herrschte noch, wenn auch kinderlos, der Bruder Annas, Herzog Franz (1577-1620). In der zweiten pommerschen Residenz, in Wolgast, war ein anderer Bruder, Herzog Philipp Julius (1584-1625) an der Regierung. Selbst als einige Jahre später, 1625, auch Philipp Julius starb und der letzte noch lebende Bruder Annas, Bogislaw XIV. (1580-1637), alle drei Landesteile, nämlich PommernStettin, Pommern-Wolgast und das Bistum Kammin, in einer Hand vereinigte, kam jener Heirat nicht allzu große Bedeutung zu. Töchter waren in Pommern von der Erbfolge ausgeschlossen. Ein Erbschaftsvertrag sah vor, daß Hinterpommern beim Fehlen männlicher Erben dem Kurfürsten von Brandenburg zufallen sollte.3 Auf den ersten Blick war es eine ungleiche Heirat. Die Herzöge von Croy besaßen kein geschlossenes Herrschaftsgebiet. Sie hatten Anteil und Rechtstitel an weitverstreuten Besitzungen von der flandrischen Küste über den südlichen Teil Belgiens nach Luxemburg und Deutsch-Lothringen hin, das noch zum Reichsverband gehörte. Was Ernst von Croy in die Ehe einbrachte war der Besitz eines Teiles der Stadt Finstingen und des Herrschaftsgebietes um Finstingen, dazu das Prestige eines vornehmen Hauses, das seine Ahnentafel in das frühe Mittelalter und auf den Stamm der ungarischen Könige zurückführte.4 Seine Glieder hatten seit dem Spätmittelalter hohe Funktionen in spanischen, 2

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4

Informationen über die Trauung Annas von Pommern mit Ernst von Croy-Arschot bei Johannes Micraelius: Antiquitates Pomeraniae oder Sechs Bücher vom Alten Pommerlande. Bd. IV. Stettin und Leipzig 1723, S. 79; Johann Jacob Seil: Geschichte des Herzogtums Pommern von den ältesten Zeiten bis zum Tode des letzten Herzogs, oder bis zum Westfälischen Frieden 1648. Bd. III. Berlin 1820, S. 445-447. Helmut Hannes: Der Croyteppich - Entstehung, Geschichte und Sinngehalt. Zum 300. Todestag des Herzogs Emst Bogislav von Croy. In: Baltische Studien N.F. 70 (1984), S. 46. Zur pommerschen Landesgeschichte im 17. Jahrhundert: neben Seil (wie Anm. 2), auch Max Bär: Die Politik Pommerns während des Dreißigjährigen Krieges. Leipzig 1896 (Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven, Bd. 64); Martin Wehrmann: Geschichte von Pommern. Bd. I. Gotha 1919-1921 (Nachdruck Würzburg 1982); Dr. Rudel: Die Lage Pommerns von Beginn des Dreißigjährigen Krieges bis zum Eintreffen Gustav Adolfs (1620-1630). In: Baltische Studien 39 (1889), S. 68-133; Benedikt Szceponik: Herzog Ernst Bogislav von Croy, der letzte Bischof von Cammin, im Streit Schwedens und Brandenburgs um den Besitz des Bistums. Stettin 1913; Helmut Backhaus: Reichsterritorium und schwedische Provinz. Vorpommern unter Karls XI. Vormündern 1660-1672. Göttingen 1969. So ζ. B. Szceponik (wie Anm. 3), S. 6, Anm. 4: »Im 12. Jahrhundert soll ein Sohn des Königs Beda von Ungarn geflüchtet und nach Frankreich gekommen sein, wo er sich mit einer Baronin von Croy vermählte. Gegen Ende des Mittelalters sehen wir deren Nachkommen im Besitz von Croy, Areschot, Havrée, Vinstingen usw. Kaiser Karl V. erhob die Herrschaft Croy, König Heinrich IV. von Frankreich die Herrschaft von Havrée zum Herzogtum.«

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burgundischen und savoyischen Diensten übernommen. Die Herzöge machen sich auch heute noch - sie haben nun ihren Sitz in Dülmen in Westfalen einen Ruhm daraus, im Verlauf von sieben Jahrhunderten zwei Kardinäle, ein Dutzend Bischöfe und zwanzig Generale hervorgebracht zu haben. Noch mehr glänzten aber die Croys dadurch, daß insgesamt zweiunddreißig Glieder des Hauses dem prestigeträchtigsten Ordensverband Europas, dem des Goldenen Vlieses, angehörten.5 Darin bekundet sich noch die enge Verbindung zum burgundischen Hof, der den Orden gestiftet hatte. Die Ehe wurde wenig glücklich. Schon der Umstand, daß die Eheleute in recht beschränkten Verhältnissen im Schloß von Finstingen (Fénétrange in Lothringen) Wohnsitz nehmen mußten, bedeutete Zwang und Verzicht auf eine standesgemäße Hofhaltung. Davon kann sich heute jedermann überzeugen, der das in den letzten Jahren wieder hergerichtete, über der Saar gelegene Schloß besichtigt. Er muß sich vorstellen, daß das bescheidene Gebäude im Ganerbenbesitz mehrerer Adelsfamilien war, die sich den Raum teilen mußten. Das die Ehe am meisten störende Momente war der konfessionelle Gegensatz, der im Umfeld des beginnenden Dreißigjährigen Krieges noch mehr Gewicht bekam. Als den nicht mehr gerade jungen Eheleuten ein Jahr später, am 26. August 1620, ein Sohn geboren wurde - er wurde auf den Namen des Vaters Ernst und auf den Traditionsnamen der pommerschen Familie Bogislav getauft - versuchte man von Brüssel aus alles, um diesen katholisch erziehen zu lassen.6 Zu allem Unglück starb der Vater schon zwei Monate nach dieser Geburt. Er stand als Offizier im Dienst des spanischen Heeres unter Spinola, wurde bei der Eroberung der Pfalz verwundet und starb am 7. Oktober 1620 in Oppenheim. Bei der Eröffnung des Testamentes mußte die Witwe feststellen, daß auch er die katholische Erziehung seines Sohnes festgelegt hatte.7 Die Herzogstochter war in einer prekären Situation. Es wurde von Seiten der Croy ein Vormund für den Neugeborenen bestellt. Das war, wenn ich recht sehe, ein Herr de Gournay, »Bailli et gouverneur« von Metz.8 Wie er sich Anna gegenüber verhielt und ob ihr aus dem über sechshundert Kilometer

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So die neuere Genealogie von G. Martin (wie Anm. 1 ). Zur Biographie Ernst Bogislavs vgl. neben Helmut Hannes (wie Anm. 2), und Benedikt Szceponik (wie Anm. 2), auch Emst Bemheim: Das Testament des Herzogs Emst Bogislav von Croy vom 3. Juni 1681. In: Pommersche Jahrbücher 11 (1910), S. 195-217; Arthur Benoit: Les seigneurs poméraniens à Fénétrange. In: Journal des Communes d'Alsace-Lorraine 1879, Nr. 39, S. 275-258; Julius Müller: Herzog Ernst Bogislav von Croy als letzter Inhaber des gesamten ehemals pommerschen beweglichen Erbgutes. In: Baltische Studien 18 (1878), S. 149-171; Heinrich Bosse: Herzog Ernst Bogislav von Croy. In: Unser Pommerland 22 (1937), S. 48-51. Das Geburtsdatum ist der 26. August 1620. Nach Ludwig Pariser: Beiträge zu einer Biographie von Hans Michael Moscherosch. München 1891, S. 12, drängte auch der lothringische Hof in Nancy auf die katholische Erziehung des Neugeborenen. Dieses nicht unwichtige Detail bei: J. J. Seil (wie Anm. 3), S. 446, und L. Pariser (wie Anm. 6), S. 12. Nach einer Urkunde im Archiv des Départmentes Meurthe et Moselle in Nancy (B 696, Nr. 1 ) war »Monsieur de Goumay Bailli et gouverneur de Metz« Vormund von Ernst Bogislav.

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entfernten Stettin von ihrem Bruder Bogislav XIV. Hilfe zukam, ist unbekannt. Die Verwaltungsbeamten des Hauses Croy in Finstingen kamen aus Belgien und waren ihr sicher ungünstig gesinnt. Die Amtsleute der anderen, meist lutherischen Herrschaften in Finstingen, die lutherischen Geistlichen und Schulmeister, sprachen zwar deutsch, kamen aber zumeist aus den Gebieten am Oberrhein. Die Straßburger Akademie und der dortige Kirchenkonvent sprachen Empfehlungen für die Besetzung der Pfarrstellen in Deutsch-Lothringen aus. Im Januar 1622 wich Anna dem Druck der Verwandten in Brüssel und schloß einen Vergleich. Man räumte ihr den Besitz der Güter ihres verstorbenen Gatten in Lothringen ein, solange sie im Witwenstand bliebe. Als Gegenleistung verlangte man, daß sie den jungen Ernst Bogislav innerhalb der nächsten fünf Jahre dem Croyschen Familienoberhaupt Karl Alexander oder bei dessen Tod einem anderen Verwandten zur Erziehung übergebe.9 Sie muß in den zwei Jahren nach dem Tod ihres Gemahls bis zu ihrer Flucht aus Finstingen im Jahr 1622 einsam gewesen sein. Auch gibt es Anzeichen dafür, daß sie Schulden machen mußte. Man erfahrt jedoch, aus ganz anderen Akten als denen der pommerschen und Croyschen Archive, nämlich aus den Dienstakten eines Straßburger Juraprofessors, daß sie wenigstens einen Getreuen hatte: Joachim Cluten (1582-1636), den rund vierzigjährigen Professor der Rechte an der Straßburger Akademie. Er war Mecklenburger, in Parchim geboren, hatte in Rostock bzw. in Frankfurt an der Oder studiert und sich unter manchen Schwierigkeiten in Straßburg etabliert. Seit 1614 war er zum Professor ernannt, Spezialist in Fragen des Reichsrechts und ein Vertreter der in Straßburg heimischen reichspublizistischen Schule. Auch leitete er seit 1617 die Bibliothek der Akademie.10 Doch man war unzufrieden mit ihm. Der Magistrat und die Scholarchen, welche die Aufsicht über die Akademie führten, kritisierten wiederholt seine wenig sorgfältige Amtsführung in beiden Ämtern. So heißt es in einem Bericht vom 5. Oktober 1621:" Dr. Clutenius sei gar unfleissig zu seiner Profession, er habe nun Jahr und Tag weder gelesen noch disputationes gehalten und empfange doch nit desto weniger seine Besoldung, er warte fremden Geschäften ab, ziehe oft nach Vistingen zu der Herzogin aus Pommern, daselbst wohnend, sei auch noch nit Burger, da ihm doch vor diesem auferlegt, Burger zu werden.

Cluten muß sich wiederholt rechtfertigen, scheint aber die Verbindung zu Anna von Pommern in Finstingen oder doch zur pommerschen Regierung in Stettin

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Nach J. J. Seil (wie Anm. 2), Bd. III, S. 446. Zur Biographie Clutens s. Edouard Sitzmann: Dictionnaire de biographie des hommes célébrés de l'Alsace. Bd. I. Rixheim 1909, S. 308; Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne. Nr. 6. Strasbourg 1985, S. 522; Anton Schindling: Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538-1624. Wiesbaden 1977 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Bd. 77), S. 318, 381. Zitiert nach Karl Schmidt: Zur Geschichte der ältesten Bibliotheken und der ersten Buchdrucker zu Straßburg. Straßburg 1882 (Neudruck Graz 1971), S. 175.

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nicht abgebrochen zu haben. Man kann sich vorstellen, daß sein Rat in den Streitigkeiten um die Finstinger Besitztümer den pommerschen Beamten, die sich in dieser Ecke des Reichs nicht auskannten, höchst willkommen war. Wir brechen hier zunächst ab und werden sehen, wie Cluten in einer späteren Phase im Interesse des pommerschen Herzoghauses tätig wurde. Der Sohn aus dieser unglücklichen Verbindung zwischen Anna von Pommern und Ernst von Croy-Arschot, Ernst Bogislav (1620-1684), wurde allen Widrigkeiten seiner Jugendjahre zum Trotz eine der bemerkenswertesten politischen Persönlichkeiten in den nördlichen Gebieten des Reiches in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, und dies in mehrfacher Hinsicht. Zunächst deshalb, weil er, anfangs durch das Wohlwollen seines bis 1637 regierenden Onkels Bogislav XIV., dann durch die Gunst Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten, in bedeutende Staatsämter gelangte. Gewiß, ihn trug der Ruf, der letzte männliche Sproß aus dem pommerschen Herzoghaus zu sein, aus dem »Greifenstamm«, wie man ehrfürchtig zu sagen pflegte. Doch sieht es so aus, als hätten ihn Umsicht, diplomatisches Geschick und Intelligenz für seine Ämter befähigt. Sein Onkel sorgte noch dafür, daß er nach mancherlei diplomatischen Auseinandersetzungen zwischen der Schutzmacht Schweden und dem argwöhnischen Brandenburger, 1633, dreizehnjährig, zum designierten Bischof von Kammin gewählt wurde. 1665, nachdem der letzte Graf von Eberstein - aus dem pommerschen Haus dieses Namens gestorben war, wurde Ernst Bogislav von Friedrich Wilhelm mit den Herrschaften Naugard, Massov und Buhlitz in Hinterpommern belehnt. Im gleichen Jahr (1665) übertrug ihm Friedrich Wilhelm das Amt des Statthalters von Hinterpommern und Kammin. Fünf Jahre später, 1670, hob ihn Friedrich Wilhelm in das Amt des brandenburgischen Statthalters über Ostpreußen mit Residenz in Köngisberg. Dort starb Ernst Bogislaus nach vierzehnjähriger Amtsführung 1684. Bei allem Respekt vor dem geistigen Format, das ein solcher Aufstieg unter den Augen des Großen Kurfürsten voraussetzte, erstaunt man doch, wenn man in einem Lexikon des 19. Jahrhunderts, bei Ersch-Gruber, liest: »Er blieb unverehelicht, lebte einzig den Wissenschaften, wie man ihn denn für den gelehrtesten Fürsten in Deutschland gehalten,«12 und in einem modernen biographischen Lexikon dieses Lob wiederholt findet: »Ein hochgebildeter und kunstsinniger Herr«.13 Sollte er der Gründlichkeit seiner Studien und seiner geistigen Kapazitäten nach im Rang eines Ernst des Frommen von SachsenGotha oder der Herzöge von Braunschweig-Wolffenbüttel gestanden haben? Seine Biographie ist lückenhaft dokumentiert. Doch kann man erschließen, daß

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Zitiert nach Ersch-Gruber (wie Anm. 1). Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte. 2. Aufl. Hg. von Karl Bosl u. a. Bd. 1. München o.J., Sp. 497.

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er eine sorgfältige Erziehung genoß. Um ihn dem Bannkreis seiner flämischkatholischen Verwandten zu entziehen, floh Anna von Pommern mit ihm 1622 aus dem lothringischen Raum in die Heimat, nach dem bis dahin vom Großen Krieg noch verschonten Pommern. Sie bezog den ihr von ihrem Bruder zugewiesenen Witwensitz in Stolp, wo Ernst Bogislaus seine Kinderjahre verbracht haben dürfte. Später holte ihn sein Onkel und Vormund Bogislaus XIV. an denHof von Stettin. Man nennt die Namen seiner Erzieher: Freiherr Wolf zu Putbus und Paul von Damitz - beides hochrangige Beamte.14 1634, im Alter von etwa fünfzehn Jahren, - was nicht ungewöhnlich war - begann Ernst Bogislav an der Landesuniversität in Greifswald zu studieren. In einem Prunkakt wurde er sogleich zum Rektor der Universität erhoben und trug fortan bei akademischen Feierlichkeiten das Ornat.15 Es ist davon die Rede, daß er um 1638, begleitet von seinem Hofmeister, auf Kavalierstour in die klassischen Reiseländer Frankreich und Italien, aber auch nach England, ging. Er sprach mehrere Sprachen, wie er selbstbewußt im Lebensrückblick seines Testaments feststellt:16 Zudem kan ich Gott [...] auch insonderheit vor die mir verliehene sonderbahre Gaben des Geistes und Gemüths nicht genugsahm dancken, indem Er mich mit gutem Verstand, Wißenschafft und Sprachen und Künsten, guter Memoire, insonderheit scharffen Iudicio und dergleichen mehr Geschickligkeit begäbet, daß ich vielen meines Standes und Herkommens bey welchem selbige nicht allezeit eben allzu gemein seyn - darinn gleichkommen auch woll übertroffen, welches doch alles garnicht meiner Kunst und Arbeit sondern bloß und allein Gottes sonderbahren und von mir unverdienten Gnade und Güte zuschreibe.

Es gibt keine Gründe, dieser Selbsteinschätzung zu widersprechen, auch wenn es nur wenige Zeugen und Zeugnisse seiner intellektuellen Kapazitäten gibt.

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Zu Paul von Damitz s. Johannes Micraelius: Antiquitates Pomeraniae (wie Anm. 2), Buch VI, S. 378: »Statthalter in Pommern, der vor dem Stiffts-Voggt gewesen, und den Cancellariat im Stifft, und zu Stetin mit großem Lobe verwaltet hat.« Vgl. auch J.J. Seil (wie Anm. 2), Bd. III, S. 447; B. Szceponik (wie Anm. 3), S. 11; L. Pariser (wie Anm. 6), S. 13. Bei dieser Gelegenheit hat ihm die ein Jahr jüngere Sibylla Schwarz ein Huldigungsgedicht gewidmet: » Als J. F. G. vohn Croja und Arschott zu Greiffswald/ Studierens halben/ angelanget«. In: Deutsche Poetische Gedichte. Hg. von Samuel Gerlach, Danzig 1650, Bd. II, J3r; nunmehr leicht zugänglich in dem Nachdruck dieser Ausgabe. Hg. von Helmut W. Ziefle. Bern usw. 1980 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, Bd. 25), Teil II, fol. J3r. Zitiert nach E. Bernheim (wie Anm. 6), S. 200. Der an Ernst Bogislav gerichtete Actus Oratorius, der anläßlich der Beisetzung seiner Mutter in der Schloßkirche zu Stolp am 21. Oktober 1663 in Greifswald gehalten wurde, rühmt ihn, Ernst Bogislav, als »Patronus & Fautor Literatorum«, vgl. Kurtze Beschreibung Deß über den [...] hintritt Der [...] Fr. Annen/gebomen Hertzoginnen zu Stettin [...] Desßfals auff der Pommerschen Universität zu Greiffswald/ angestellten Actus Oratorii. Greifswald 1665, S. 36 (Vitae Pommeranorum, Bd. 119, in der Universitätsbibliothek Greifswald; Ob 596). Um den Sachgehalt dieser Aussage zu prüfen, wäre zu eruieren, welche Schriften Ernst Bogislav gewidmet wurden. Achim Aurnhammer (Freiburg/Br.) machte mich freundlicherweise darauf aufmerksam, daß Martin Leuschner, Rektor des Stettiner Pädagogiums, Emst Bogislav die Schrift: Tetras [im Original griechisch] Disciplinan™ Philosophicorum, Hoc est Logicae, Physicae, Ethicae et Politicae. Stettin 1663, widmete.

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Die Nachwelt rühmte zwei lateinische Orationes, die Ernst Bogislav 1661 bei seiner Wahl zum Domprobst von Kammin gehalten hat. Der Historiker Johann Philipp Palthenius hat sie 1711 in den Druck gegeben.17 Drittens und letzlich ist die Bedeutung Ernst Bogislavs für die Universität Greifswald zu unterstreichen. Sein Studium, seine frühe Verbindung durch die Übertragung des Rektoramts, kamen der Universität bei seinem Tod 1684 zugute. Die Dotationen an die Universität in seinem Testament waren beträchtlich. Ich denke weniger daran, daß er den früher berühmten Croy-Teppich, ein Palladium lutherischer Glaubenstreue der Pommernherzöge, der Universität vermacht und zum Gedenken an seine Mutter das sogenannte Croy-Fest gestiftet hat, das in zehnjährigem Turnus bis 1930 an der Universität gefeiert wurde, mehr daran, daß er wertvolle Bücher und Atlanten der Universität vermachte. Im Wortlaut des Testaments:18 [...] vermache nochmahlen derselben [der Universität; W.E.Sch.] 1000Taler, so aus meiner Verlaßenschaft derselben zu Erkauffung einiger ansehnlicher Bücher, als der Englischen Bibel in vielen Sprachen, der Criticorum Sacrorum, so in England gleichfalls ausgegeben, des Atlantis Majoris der besten und neuesten Edition [..., usw.].

Man wollte sich nun wünschen, daß es kein Zufall, daß es vielmehr ein wechselseitiges Erkennen des geistigen Ranges zweier Menschen gewesen sei, daß Johann Michael Moscherosch, der Satiriker und der politische Kopf, der er auch war, sechs Jahre lang im Dienst des Ernst Bogislav von Croy-Arschot stand. Es war weder das eine noch das andere. Es war die Umsicht Joachim Clutens, des Straßburger Juraprofessors, und die eines Verwandten aus der pommerschen Adelsfamilie von Eberstein, die beider Beziehung begründete. Cluten war es, der im Frühjahr 1636, zu einer Zeit, da die Schrecken des Krieges, Hunger und Pest, im Elsaß und in Lothringen ihren Höhepunkt erreicht hatten, der Verwaltung in Stettin den Vorschlag machte, den durch Tod des Vorgängers frei gewordenen Platz des Verwalters der Croyschen Güter in und um Finstingen Johann Michael Moscherosch anzuvertrauen. So jedenfalls Moscherosch in der zweiten Auflage seines Hausvaterbuches Insomnis Cura Parentum (1653):19 [...] hab ich auch diesen Fürstlichen Amts-Standt/ zudem ich durch vermittelung deß Hochwohlgebornen Graven und Herrn/ Herrn Joh. Jacob Graven zu Eberstein/ und Herrn D. Joachim Clutenij S. gelanget [...].

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Biga Orationum Serenissimi Ducis Croyi Ernesti Bogislai, Ad renovandam Optimi & de Academia Gryphica meritissimi Principis Memoriam, à MSS. edita, Notulisque illustrata & In argumentum Dissertât. Historicae Proposita Praeside Joh. Phil. Palthenio, Histor. Profess. Pubi, respondente Salomone Meyero, Pene. Pom. Greifswald 1707 (Vitae Pomeranorum Bd. 119, Bl. 101-114, in der Universitätsbibliothek Greifswald; Ob 596). Zitiert nach E. Bemheim (wie Anm. 6), S. 214. Insomnis Cura Parentum. Vermächtnusz Oder Schuldige Vorsorg Eines Treuen Vaters. Straßburg 1653, S. 86.

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Der mitgenannte Graf von Eberstein, verwandt mit der pommerschen Linie von Eberstein, war Grundherr in der Nähe von Saargemünd. Moscherosch hatte in den vorausgegangenen Jahren durch Dienstgeschäfte seine Bekanntschaft gemacht.20 Moscherosch fügt an dieser Stelle nicht hinzu - und seinen Biographen ist es bisher entgangen - daß er schon Beziehungen zum Pommerschen Hof, ja zum Hofstaat Ernst Bogislavs selbst hatte, so daß die Empfehlung Clutens und von Ebersteins auf günstigen Boden fiel. Hofmeister und Berater des zu dieser Zeit sechzehnjährigen Ernst Bogislav war ein alter Bekannter Moscheroschs aus der Zeit der Studienreise in Frankreich 1624 und 1625, vor etwa zehn Jahren also. Es war Paul von Steinwehr, Herr auf Dobberpuhl, aus altem pommerschen Adel, der in Urkunden dieser Jahre als Hofmeister, später, ab 1637 als Oberrat der Verwaltung Ernst Bogislavs bezeugt ist.21 Er muß wohl der unmittelbare Vorgesetzte Moscheroschs in Stettin geworden sein. Hier wie bei anderen Gelegenheiten, besonders in der Biographie Moscheroschs, zeigt sich, daß die Studienreisen der sozial aufsteigenden Bürgersöhne und die dabei geschlossenen Freundschaften ihrer späteren Laufbahn zugute kamen. Der etwa fünfunddreißigjährige, zu dieser Zeit als Literat noch unbekannte Moscherosch trat ein gefährliches Amt und eine gefährliche Reise an. An der oberen Saar lagen sich kaiserliche Truppen unter Graf Gallas und schwedische Truppen Bernhards von Weimar gegenüber. Es ging in der ausgelaugten Region mehr um die Sicherheit von Proviantierungsplätzen und um Streifzüge zum Raub von Vieh und Ackerfrüchten als um die Einnahme befestigter Plätze oder um Geländegewinn. Die konfessionelle Zugehörigkeit der kleinen Herrschaften spielte keine große Rolle mehr. Man raubte und plünderte, wo es ging. Finstingen war zwar befestigt, lag im Schutz einer Saarschleife. Doch schon im Jahr zuvor (1635) hatten es Kroaten eingenommen und geplündert. Wie weit Moscherosch mit den höchst komplizierten Rechts- und Besitzverhältnissen in der gemeinsamen Herrschaft Finstingen und in den drei angegliederten Verwaltungsbezirken der Umgebung vertraut war, weiß man nicht. Hier verfügten die lutherischen Rhein- und Wildgrafen von Dhaun, die lutherischen Rheingrafen von Kirburg, die katholischen Grafen von Salm und dann noch eine zweite, katholische Linie von Croy-Havré über Besitz- und Rechtsansprüche in einer

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Ich habe das Verhältnis Moscheroschs zu Graf Johann Jacob von Eberstein (1574-1638) in: Johann Michael Moscherosch. Staatsmann, Satiriker und Pädagoge im Barockzeitalter. München 1982, S. 88 und 101, dargestellt. Angehörige des Geschlechts von Stein wehr erwähnt Johannes Micraelius: Antiquitates Pomeraniae (wie Anm. 2), Buch VI, S. 378; Zedier (wie Anm. 1), Bd. 39, Sp. 1736; Ε. H. Kneschke: Neues allgemeines Adels-Lexikon. Bd. 9. Leipzig 1870, S. 7. Nach einem Brief Matthias Berneggers an Robert Königsmann (bei Alexander Reifferscheid (Hg.): Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers und ihrer Freunde. Heilbron 1889, S. 325) hielt sich Paul von Steinwehr schon 1628 als Rat in pommerschen Dienstgeschäften in Straßburg auf. Nach B. Sczeponik (wie Anm. 3), S. 32, war er 1644 noch in seinen Ämtern. Vgl. auch L. Pariser (wie Anm. 6), S. 24.

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gemeinsam ausgeübten Herrschaft.22 Von Ernst Bogislav, vom Hof in Stettin, konnte er kaum Subsidien und Unterstützung erwarten. Pommern war seit 1630 von Schweden besetzt und die Regierungsämter in ihren Funktionen beschränkt. Der Herzog Bogislav XIV. selbst war kränklich - er starb ein Jahr später (1637). Die immer noch getrennten Landstände in Wolgast und Stettin behinderten eine effektive Zentralverwaltung. Ende April, Anfang Mai 1636 trat der »pommersche Amtsmann«, wie er zur Unterscheidung vom Amtmann der zweiten Linie Croy genannt wurde, seine Stelle in Finstingen an. Er wurde sofort in die heftigsten Auseinandersetzungen mit den Amts=leuten der anderen Herrschaften verwickelt. Besonders schwere Konflikte ergaben sich, wie konnte es anders sein, mit François Thomas, dem Vertreter der katholischen Herrschaft Croy. Sie waren beide Werkzeuge der gegensätzlichen Interessen zwischen Brüssel und Stettin. Aus den mancherorts versteckten Sticheleien und Beschuldigungen Moscheroschs in seinen Epigrammen und Gesichten, wo er François Thomas ein Denkmal in der Figur des »Mutius Jungfisch« gesetzt hat, wird aber auch deutlich, daß beide sich persönlich nicht ausstehen konnten.23 Thomas stammte aus dem Herrschaftsgebiet der Croy in Flandern und sprach ein schlechtes, wallonisch gefärbtes Deutsch. Er gab sich als Repräsentant französischer Lebensart in dieser von deutschen Kulturtraditionen geprägten Gegend und als Mann von Welt, was ihm von Moscherosch den Titel »Thomas le Français« eintrug. Als berittene schwedische Truppen im Juni 1636 Finstingen einnahmen die Amtsleute, Moscherosch ausgenommen, flohen rechtzeitig in Erwartung dessen, was ihnen bevorstand - , mußte Moscherosch zwar nicht mehr um Leib und Leben fürchten, doch bekam er bald aus Stettin keine Unterhaltszahlungen mehr angewiesen und mußte zusehen, wie er mit seiner Familie durchkam. Er pachtete Äcker, betrieb Landwirtschaft, in ruhigeren Phasen mit einigen Knechten.24

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Die Rechtsverhältnisse in Finstingen sind bei Heinrich Schlosser: Johann Michael Moscherosch und die Burg Geroldseck an der Saar im Wasgau. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Erhaltung der geschichtlichen Denkmäler im Elsaß 2, Folge 16 (1893), S. 17ff., am gründlichsten dargestellt. Mutius Jungfisch tritt besonders in den Gesichten »Hanß hienüber - Ganß herüber« und »Pflaster wider das Podagram« hervor: Gesichte Philanders von Sittewald/ das ist/ Straff-Schrifften Hanß Michael Moscheroschen von Wilstädt. Ander theil. Straßburg 1665, S. 244-257; S. 534-542; S. 256 wird er als »Flandricus, nativitatis in Winoxbergia« bezeichnet. Es muß sich wohl um Bergnei-St. Vinoc im Département Nord in Frankreich handeln. Offenbar hatte Moscherosch sich selbst Vorwürfe zu machen, daß er keinen ordentlichen Anstellungsvertrag mit der pommerschen Regierung in Stettin abgeschlossen hatte. Jedenfalls empfiehlt er in der »Insomnis Cura Parentum«, 2 1653, S. 91, seinen Söhnen: »Trette keinen Dienst an/ Du habest dan dein Bestallungs-Brief außgefertigt in der Hand/ und wissest wo du sollest deine Besoldung hernehmen: sonst fehlet es nicht/ du wirst auß Noth und Mangel das arme Volck/ ja wieder deinen Willen/ etwas härter trucken und plucken müssen.«

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Es gibt, leider, keine nachweisbaren Kontakte des pommerschen Amtmanns zur herzoglichen Verwaltung und keine Spuren eines amtlichen Briefwechsels. Vielleicht war ein solcher in diesen Jahren zwischen Finstingen und Stettin nicht mehr möglich. Moscherosch fühlte sich im Stich gelassen. Das geht aus seinen in Finstingen entstandenen Schriften hervor. Die Epigrammsammlung enthält einen Stoßseufzer, der sich doch wohl auf seine Situation beziehen muß, wenn er einem Epigramm den Spruch aus dem Prediger voransetzt: »Wehe dem Land, dessen Herr ein Kind ist.« 25 Konkreter faßbar wird seine Situation in einem datierbaren, im Winter 1638 auf 1639 geschriebenen Epigramm. Es entstand in einer veränderten politischen Lage. Finstingen war im Januar 1639 durch Verrat kampflos Truppen Karls IV. von Lothringen übergeben worden. Diese galten als besonders undiszipliniert und grausam. Im Mai 1639 wurden sie durch französische Truppen abgelöst. In diesen Monaten muß der Hilferuf an Ernst Bogislav von Croy entstanden sein, der, etwa achtzehnjährig, sich in England umsah. Der Horaz-Verse zitierende grandiose Hexameterstil kann die grausige Notsituation nicht verdecken, aus der Moscherosch, des Ranges seines Herrn eingedenk, spricht:26 Fumat Ilium! Ploremus! Angelus Anglorum Te Dux in Regna supremus Duxit: & Agnati Regis in ora Ducem. Regibus orte Atavis Princeps. Dux inclute Gentis Croyacae. Arschotti prima propago, veni! Expectata diu nobis haec nuntia. Felix Una erigit populum nunc ea fama tuum! Perge juva sacros, ubi nascebare, penates Consilio & Dextra vindice: parva mora est. Nil miseris restât quam vita; Alimenta negantur. Patria ne pereat, Dux misere! Redi! (Es raucht Ilium! Laßt uns klagen! Der höchste der Engel hat als Führer Dich in das Reich der Engländer geführt, Dich, den Herzog, an die Gestade des vom Vater her verwandten Königs. Erster Sproß ehrwürdiger Könige. Berühmter Herzog aus dem Geschlecht der Croy. Erstes Kind von Arschott, komm zurück! Dies lang Erwartete melde uns! Diese eine glückliche Nachricht richtet allein nun Dein Volk auf! Hilf den heiligen Penaten, wo Du geboren wurdest mit Rat und Deiner Rechten als Rächerin! Die Zeit eilt! Den Elenden bleibt nichts als das Leben. Doch die Lebensmittel gehen aus. Erbarme Dich, Fürst, damit das Vaterland nicht zugrunde geht! Kehr zurück!)

Immerhin, zumindest einmal ist ein Beamter der pommerschen Verwaltung bis zu ihm vorgedrungen. Im Juli 1637 reiste Paul von Steinwehr zur Taufzeremonie von Moscheroschs zweitem Sohn mit dem Namen Ernst Bogislav nach Finstingen. Er kam als Vertreter des Taufpaten, des Herzogs. Soviel weiß man aus Finstinger Kirchenbüchern.27 Lieber wüßte man, welche Dienstgeschäfte 25 26

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Centuria Prima [-Sexta] Epigrammatum. Frankfurt 1665, S. 218, Nr. 58. Ebd. S. 126. Vgl. Wilhelm Kühlmann/Walter E. Schäfer: Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang. J.M. Moscheroschs (1601-1669). Berlinl983 (Philologische Studien und Quellen, Heft 109), S. 96. Nach H. Schlosser (wie Anm. 22), S. 31ff.

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bei dieser Gelegenheit besprochen wurden, wie weit die Interimsregierung in Stettin unter dem Druck der schwedischen Besatzung an diesem so entlegenen Flecken überhaupt interessiert war. Einige Jahrzehnte später, 1665, verkaufte Ernst Bogislav seine Anteile an Finstingen und den umliegenden Dörfern an Herzog Karl IV. von Lothringen.28 Dieser war im Begriff, die Grundlagen für ein Herrschaftsgebiet seines natürlichen Sohnes, des Prinzen von Vaudemont, zu schaffen. Der Verkauf lag auch im Interesse Ludwigs XIV., der in diesen Jahren schon die Territorialpolitik in Lothringen und im lothringischen Grenzraum kontrollierte. Daß bei diesem Verkauf auch Interessen des Brandenburgischen Kurfürsten, nun Herr in Hinterpommern, im Spiel waren, kann nur vermutet werden. Im Jahr 1665 nämlich übertrug Friedrich Wilhelm Ernst Bogislav von Croy die Statthalterschaft über Hinterpommern und Kammin. Es ist denkbar, daß er eine eindeutige Orientierung Ernst Bogislavs nach Osten zur Voraussetzung machte. So blieb die Zugehörigkeit dieser lothringischen Kleinstherrschaft zum pommerschen Staatsverband eine folgenlose, in der Landesgeschichtsschreibung nicht einmal verzeichnete Arabeske. Für Moscherosch freilich waren die Jahre in Finstingen zwischen 1636 und 1642 entscheidende Jahre. Die wichtigsten seiner Werke, der größte Teil der Gesichte, die Insomnis Cura Parentum, große Teile der Epigrammsamm-

lung entstanden hier. In allen ist von den aufwühlenden Erfahrungen, von willkürlicher Gewalt und Gesetzlosigkeit, die Rede. Vor allem aber lernte er in Finstingen modellhaft ein altständisches Gemeinwesen kennen, in dem die Rechte und Interessen von fünf verschiedenen Grundherren, die Ansprüche und Rechtstitel der Stadtbürger und ihrer Vertretung, des Bürgermeisters und des Rats, in einem sorgfältig austariertem Verhältnis zueinander standen.29 Moscherosch war einige Jahre lang Amtmann seines Dienstherrn und zugleich »Baumeister«, das heißt der von der Bürgerschaft gewählte Beamte, der ihre Anliegen den Grundherren vorzutragen hatte. Es war wahrscheinlich seine schmerzhafteste Erfahrung, daß ein solch kompliziertes Ordnungssystem, 28

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In der biographischen Literatur zu Ernst Bogislav von Croy-Arschot ist wiederholt die Rede davon, daß er auf seine väterlichen Güter habe verzichten müssen. (Z.B. in jüngster Zeit bei H. Hannes (wie Anm. 1), S. 46: »dessen väterliches Erbe in Verlust geriet«.) Schon die Verfügungen in seinem Testament (vgl. E. Bernheim (wie Anm. 5), S. 207) zeigen, daß er zum Zeitpunkt dieser Verfügung kurz vor seinem Tod noch »liegende Güter« in Lothringen besaß. Die Aussagen in der historischen Literatur Lothringens sind allerdings unklar. Emil Burger: Geschichte der Stadt und der Herrschaft Finstingen von den ältesten Zeiten bis zur Französischen Revolution 1789. Finstingen o.J. [1930], S. 30; Albert Eisele: Un »Etat« singulier et minuscule: La Baronnie de Fénétrange. In: Les Cahiers Lorrains 1991. Nr. 2, S. 126. Ich verlasse mich in Hinsicht auf Emst Bogislav von Croy-Arschot auf die sehr differenzierten Angaben von Jean Gallet: Le bon plaisir du baron de Fénétrange. Nancy 1980, S. 56. Die komplizierten Verfassungsverhältnisse in Finstingen sind dargestellt bei Louis Benoit: Etude sur les institutions communales du Westrich et sur le livre du vingtième jour de Fénétrange. In: Mémoires delà société d'archéologie lorraine. Second Série. Ville volume (1866), S. 174-254; Albert Eisele (wie Anm. 28).

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dessen freiheitliche Züge er wert hielt, sich unter dem diplomatischen und militärischen Zugriff der angrenzenden Staaten nicht halten konnte.30 Frankreich war längst zentralistisch und absolutistisch organisiert. Der Lothringer Karl IV. war dabei, über die Landstände hinweg Zentralinstanzen zu schaffen. In beiden Territorien, in der Herrschaft Finstingen wie in Pommern, bestimmten dagegen schwer zu bündelnde ständische Kräfte noch die Politik. Das ließ sie zum Opfer der angrenzenden Machtstaaten werden.

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Ich habe die staatspolitischen Anschauungen Moscheroschs skizziert, in: Zwischen freier Reichsstadt und absolutistischem Hof. Lebensräume Moscheroschs, in diesem Band abgedruckt unter Nr. 17.

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Moscheroschs sprachhistorische Notizen zur alt- und mittelhochdeutschen Literatur

ι Johann Michael Moscherosch ist seit einigen Jahren in das Blickfeld von Mediävisten gerückt, die sich mit der Rezeption mittelalterlicher Texte in der Neuzeit befassen. Vor allem seit den intensiven Studien zur Überlieferungsgeschichte der Großen Heidelberger Liederhandschrift, des Codex Manesse, bei der Vorbereitung ihrer Ausstellung in der Heidelberger Universitätsbibliothek 1988, aber auch schon vorher, zeichnete sich eine rezeptionsgeschichtliche Problemlage ab, die Moscheroschs Namen in fast allen Publikationen auftauchen läßt, welche die Überlieferung der in der Handschrift enthaltenen Minnelyrik untersuchen. Dabei wurden Fragen aufgeworfen, die, wenn überhaupt, nur durch die Zusammenarbeit von Mediävisten und Kennern der Literatur der Frühen Neuzeit beantwortet werden können. Mein Beitrag geht von einem bisher unbeachteten Text des 17. Jahrhunderts aus - der mit hoher Wahrscheinlichkeit von Moscherosch stammt - , um von einer neuen Seite her Licht auf die von der Mediävistik aufgeworfenen Fragen zu werfen. Worum geht es? In großen Zügen darum, daß die Gesichte Philanders von Sittewald, Moscheroschs Hauptwerk also, Minnesangstrophen enthalten, die Moscherosch nur im Codex Manesse selbst, durch eine bisher unbekannte Abschrift oder gar aus einer anderen, bisher unbekannt gebliebenen Minnesanghandschrift kennen lernen konnte.1 Es geht um die erste Strophe des im Gesicht Weiber Lob eingefügten Liedes des Friedrich von Leiningen (gest. 1237): SwesMuet zefwiden si gestalt f...]1 und um eine Strophe eines Liedes

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Folgende Publikationen zum Codex Manesse befassen sich mit den bei Moscherosch zu findenden Minnesangstrophen: Wilfried Werner: Die Handschrift und ihre Geschichte. In: Codex Manesse. Die Große Heidelberger Liederhandschrift. Hg. von Walter Koschorreck und Wilfried Werner. Frankfurt und Kassel 1981, S. 15-39, hier S. 33-34. Ders.: Wege und Schicksale der Großen Heidelberger Liederhandschrift. In: Ruperto Carola 40. Jg. (1988) Nr. 78, S. 79-95, hier S. 92. Ders.: Schicksale der Handschrift. In: Codex Manesse. Katalog zur Ausstellung vom 12. Juni bis 2. Oktober 1988, Universitätsbibliothek Heidelberg. Hg. von Elmar Mittler und Wilfried Wemer. Heidelberg 1988, S. 1-21, hier S. 9-10 und S. 19-20. Max Wehrli: Zur Geschichte der Manesse-Philologie. In: Codex Manesse (wie oben), S. 145-165. J.M. Moscherosch: Visiones De Don Quevedo. Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt. Hildesheim, New York 1974 (fotomech. Nachdruck der Ausgabe Straßburg 1642-1643), Tl. II, S. 274-276.

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von Rudolf von Rotenburg (1. Hälfte des 13. Jh.): Von dem Houpte untz uf den Fuos [...]? In Melchior Goldasts von Haiminsfeld (1578-1635) Paraeneticorum veterum pars I, aus dem die Autoren des 17. Jahrhunderts ihre Kenntnisse der Minnelyrik aus dem Codex Manesse gewannen, waren zwar die übrigen von Moscherosch zitierten Strophen des Liedes von Friedrich von Leiningen zu finden, nicht aber die erste, die zur Zeit des Drucks der Gesichte nur in der Handschrift selbst einzusehen war.4 Auch brachte Goldast Strophen von Rudolf von Rotenburg, nicht aber die von Moscherosch zitierten.5 Nun war zwar der Codex Manesse seit etwa 1607 im Besitz des Kurfürsten Friedrich IV. von der Pfalz, aber seit der Einnahme Heidelbergs durch die Truppen Tillys im Herbst 1621 und der dadurch veranlaßten Auslagerung eines Teiles der wertvollen Bestände der Palatina und des erzwungenen Abtransports eines anderen Teils in die Bibliothek des Vatikans spurlos verschwunden. Er tauchte erst 1656 in der Bibliothek des Jacques Dupuy, des königlichen Bibliothekars in Paris, nach dessen Tod in diesem Jahr wieder auf. Das Gesicht Weiber-Lob von Moscherosch kam in der Erstausgabe des zweiten Teils der Gesichte 1643 zum Druck, also vor dem Wiedererscheinen der Handschrift.6 Das schließt aus, daß der 1601 geborene Moscherosch die Handschrift - so wie Melchior Goldast, wie Marquard Freher (1565-1614) und andere zu Beginn des Jahrhunderts selbst kennen lernen konnte. Er muß jene Strophen einer unbekannten Quelle entnommen haben. Das Problem kompliziert sich dadurch, daß es eine zweite zeitgenössische Fundstelle der in Frage stehenden Verse des Friedrich von Leiningen (nicht des Rudolf von Rotenburg) gibt. Es ist die handschriftliche Chronik des Leininger Grafengeschlechts aus der Feder des in Speyer tätigen kaiserlichen Notars Lukas Caroli, die in ihrer auf das Jahr 1598 zu datierenden zweiten Fassung die gleiche Strophe wie Moscherosch bringt.7 Der Fall beschäftigt die mit dem Codex Manesse befaßten Wissenschaftler und Bibliothekare umso mehr, als sie hoffen, durch ihn Hinweise auf den Verbleib der Handschrift und die Rezeption ihrer Lieder in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gewinnen zu können oder auf die Spur eines weiteren Überlieferungsträgers der Minnelyrik zu stoßen. Er gewinnt darüber hinaus an regionalhistorischer Bedeutung dadurch, daß beide, Caroli und Moscherosch, in besonderen Beziehungen zu dem Leininger Grafengeschlecht standen. Caroli 3 4

5 6

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J. M. Moscherosch: Visiones (wie Anm. 2), Tl. II, S. 317. Melchior Goldast von Haiminsfeld: Paraeneticorum veterum pars I (1604). Hg. von Manfred Zimmermann. Göppingen 1980, S. 356. Das ganze Lied mit der ersten Strophe bei Hugo Kuhn (Hg.): Minnesang des 13. Jahrhunderts. Aus Carl von Kraus >Deutschen Liederdichtem< ausgewählt. Tübingen 2 1962, S. 73-75. Goldast von Haiminsfeld (wie Anm. 4), S. 371, 456. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2. Aufl. des Bibliographischen Handbuchs der Barockliteratur 1980-1981. Teil IV. Stuttgart 1991, S. 2853, Nr. 1 .II. 1. Werner 1981 (wie Anm. 1), S. 32; Werner: Wege und Schicksale (wie Anm. 1), S. 6; Werner: Schicksale der Handschrift (wie Anm. 1), S. 6; Wehrli (wie Anm. 1), S. 151.

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Notizen zur alt- und mittelhochdeutschen

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insofern, als er seine Familienchronik im Auftrag Emichs XII. von LeiningenDagsburg (1562-1607) schrieb und sie diesem widmete. Moscherosch dadurch, daß er von 1626 bis 1628 als Hofmeister im Dienst des Grafen Johann Philipp von Leiningen-Dagsburg (1588-1643) stand und die Beziehung zu dieser Familie über den Tod seines Dienstherrn hinaus aufrecht erhielt.8 Das mußte die Vermutung wecken, Moscherosch habe seine Liedstrophe bei Caroli abgeschrieben oder doch aus der gleichen Quelle bezogen. Nun zeigt sich jedoch, daß die handschriftliche Fassung der Strophe bei Caroli von der Druckfassung bei Moscherosch in Textbestand und Orthographie so stark abweicht, daß eine direkte Übernahme durch Moscherosch ausgeschlossen werden kann und es sein mag, daß beide ihren Text aus je verschiedenen Quellen bezogen haben. Wilfried Werner, der sich am intensivsten mit der Überlieferungsgeschichte des Codex Manesse befaßthat, schlug zur Erklärung des Sachverhalts folgende Hypothesen vor: 1. Einer der Grafen von Leiningen habe aus Familieninteresse zu einem unbekannten Zeitpunkt vor 1621 eine Abschrift der Liedstrophe aus dem Codex Manesse anfertigen lassen. Diese habe Caroli, vielleicht auch Moscherosch einsehen können. 2. Es könnte eine zweite, der Manessischen vergleichbare Liederhandschrift gegeben haben - wofür noch andere Indizien sprechen - die Caroli und/oder Moscherosch abgeschrieben haben. Ohne mich mit der Frage der Minnesanghandschrift weiter zu befassen, füge ich hinzu, daß es sowohl zur Zeit Carolis wie Moscheroschs in den Familien der Grafen von Leiningen-Dagsburg Träger des Vornamens Friedrich gab, so daß die zitierten Verse des Minnesängers in beiden Fällen als Huldigung an Glieder der Familie aufgefaßt werden konnten.9 II Eine konfessionspolemische Schrift, die zumindest in Teilen von Moscherosch verfaßt wurde, und die erhaltenen Verzeichnisse der nach seinem Tod 1669 verkauften Bücher seiner Bibliothek sind geeignet, einiges zur Klärung von Moscheroschs Umgang mit Texten des Mittelalters und mit Handschriften beizutragen. Der anonym und ohne Verlagsangabe erschienene Druck Wunder8

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Zum Aufenthalt Moscheroschs auf der den Grafen von Leiningen-Dagsburg gehörigen Hardenburg bei Bad Dürkheim s. Arthur Bechtold: Moscherosch auf der Hartenburg. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 41 (1928), S. 387^114; Walter Ernst Schäfer: J.M. Moscherosch, Staatsmann, Satiriker und Pädagoge im Barockzeitalter. München 1982, S. 74-81. Detlev Schwennicke (Hg.): Europäische Stammtafeln. N.F. Bd. V: Standeshenrliche Häuser I, Marburg 1981, Tafel 26. Hier Friedrich X. (1593-1631), ein Sohn von Emich XII., dem die Chronik Carolis gewidmet ist, und Friedrich Emich (1621-1698), ein Sohn von Johann Philipp II., in dessen Dienst Moscherosch stand.

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seltzame neue Malerei erfunden durch 3. Franciskaner-Mönchen zu Hagenau/ Im Monat September 1653 (o. O.; o. J.)10 vermag das insofern, als er in einem geschlossenen Textabschnitt Zitate aus sieben alt- und mittelhochdeutschen Schriften bringt und kommentiert. Die Verkaufskataloge der umfänglichen Bibliothek Moscheroschs andererseits geben Hinweise, welche gedruckten mittelalterlichen Texte Moscherosch zur Hand hatte und auf welchen Wegen der Vermittlung sie ihm bekannt wurden. Die Wunderseltzame Malerei betrifft konfessionelle und vermögensrechtliche Auseinandersetzungen in der Stadt Hagenau zwischen etwa 1650 und 1653. Auf der einen Seite standen Franziskaner und Jesuiten aus den Klöstern der Stadt, unterstützt von der überwiegend katholischen Bevölkerung und protegiert von den nach 1648 installierten französischen Verwaltungsbeamten, auf der anderen Seite die wenigen Lutheraner - man spricht von zwölf Familien - , ermutigt durch den Straßburger Magistrat. Moscherosch nahm an diesen Auseinandersetzungen schon insofern Anteil, als seine Familie aus Hagenau stammte und er dort noch Verwandte hatte, aber auch dadurch, daß er in den Jahren danach, 1656 bis 1657, den Auftrag hatte, als Jurist die Lutheraner der Stadt vor einer kaiserlichen Schiedskommission zu vertreten. Unmittelbarer Anlaß für die Entstehung der Schrift war ein weit über das Elsaß hinaus bekannt gewordener Vorfall in Hagenau, der nur dadurch erklärt werden kann, daß angestaute konfessionelle Wut in einigen Köpfen den Verstand vollständig verwirrt hatte. Drei Franziskaner aus dem Hagenauer Kloster, darunter der Guardian, hatten im September 1653 eine katholische Kapelle und Kultgegenstände mit Exkrementen beschmiert und versucht, durch ein Täuschungsmanöver den Verdacht auf die Lutheraner zu lenken eine Provokation, welche die katholische Volkswut anstacheln sollte. Diese abgeschmackte Aktion selbst braucht jedoch im Rahmen unserer Fragestellungen keine Rolle zu spielen." Gewichtiger ist die Frage nach dem oder den Verfassern dieser Schrift. Eine sehr detaillierte lokalhistorische Studie von Auguste Charles Hanauer (1828-1908), dem Bibliothekar und Historiker

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Ich habe in den Wolfenbütteler Barock-Nachrichten IX (1982), S. 427-428 schon auf diesen Druck aufmerksam gemacht. S. auch Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 6), S. 2877, Ν. 59.III.1. Ich benutzte das Exemplar der Wiirttbg. Landesbibl. Stuttgart (Kirch.-G. in 4, Kaps. qt. Κ 1134). Die Handschrift des Verkaufskatalogs von Moscheroschs Bibliothek in der Hessischen Hochschul- und Landesbibliothek HS 3004,1. Sie weist eine nachträglich hinzugefügte Seitenzählung auf, auf die ich mich im folgenden beziehe. Beschreibungen dieses Katalogs bei Adolf Schmidt: Die Bibliothek Moscheroschs. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 2 (1898/99), S. 497-506. Ders.: Die Bibliothek Moscheroschs und ihre Kataloge. In: Zeitschrift für Bücherfreunde N.F. 12 (1920/21), S. 133-141.

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Die Hagenauer Religionsstreitigkeiten sind dargestellt bei: Thimoteus Wilhelm Röhrich: Kirchliches Leben im Elsaß um 1650. In: Mittheilungen aus der Geschichte der evangelischen Kirche des Elsasses, Bd. 2. Paris und Straßburg 1855, S. 507-510; Rodolphe Reuß: L'Alsace au dix-septième siècle. Bd. I. Paris 1858, S. 530; Auguste Charles Hanauer: Le protestantisme à Haguenau. Straßburg und Colmar 1905, S. 319-336 (Hier auch die diplomatischen Verhandlungen vor der kaiserlichen Kommission).

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von Hagenau, führte bereits auf Grund von Hagenauer Ratsprotokollen und Briefen städtischer Beamten den Nachweis, daß Moscherosch Verfasser jener Verse ist - rund zweihundertsechzig Alexandriner - , die den Vorfall berichten und als Hagenauische Geschickt am Anfang stehen.12 Sie bilden zusammen mit einigen angehängten Epigrammen den ersten Teil einer unpaginierten Zusammenstellung mit drei Prosatexten in Briefform, die alle auf den Vorfall Bezug nehmen. Es folgen nämlich: I. Antwort auff die Hagenauische Geschieht, Erläuterung und II. Antwort - ein Briefwechsel zwischen drei anonymen Korrespondenten, von denen zwei, nämlich die Verfasser des ersten und dritten Briefes, miteinander verwandt sind. Sie sprechen sich als »Schwager« an. Der Verfasser des dritten Briefes hält sich, wie in seinem Schreiben klar wird, auf dem Reichstag in Regensburg auf. Der Verfasser des zweiten Briefes (Erläuterung) muß wohl wieder Moscherosch sein. Dafür spricht die sich in diesem Antwortschreiben bekundende Vertrautheit mit prozessualen Vorgängen innerhalb der Straßburger Justizbehörde. Moscherosch war zu dieser Zeit Fiskal, das heißt mit den Voruntersuchungen und der Anklageerhebung betrauter Beamter des »Policey«-Gerichts in Straßburg. Hinzu kommen eine Reihe von Eigentümlichkeiten des Stils und der Argumentationsweise. Im letzten Beitrag (II. Antwort) wird Moscherosch zitiert (»wie Philander selbsten an einem Ort sagt«.) Über die beiden Briefpartner läßt sich vorerst wenig Bestimmtes sagen. In einem der Epigramme, die an die Verserzählung am Anfang anschließen, wird der Ausdruck »Minnenbrüder« zur Bezeichnung der Franziskaner gebraucht. Das ist für den ersten Korrespondenten Anlaß, in der I. Antwort den Verfasser der Verse zu fragen, was es mit diesem Ausdruck auf sich habe: »quia Minnen nobis in his locis videtur vocabulum libidinosum, ac satis obscoenum, & idem quod vel scortari, vel comprimere aliquam. Ob deren wegen Minnenbrüder so viel gesagt seye/ als Nollbrüder/ wie ich auch etliche hab hören nennen.« - Er eröffnet mit seiner Frage eine Erörterung um den Zentralbegriff der Ritterlyrik, die »minne«. Zu einer Zeit, in der man von höfischer Minne wenig weiß, gibt er ihm eine sexuelle Bedeutungskomponente. Auch der Begriff »Nollbruder« und das zugrunde liegende Verb »nollen« werden in diesem Sinn verstanden, »Nollbruder« als Lüstling, »nollen« als »coire«.13 Die Bezeichnung der Bettelbrüder erhält dadurch eine Konnotation, die dem in der reformatorischen und konfessionspolitischen Literatur ohnehin lädierten Bild der niederen Orden zusätzlich schadet. Daraufhin holt der Autor der Erläuterung zu einer weitläufigen etymologischen Erklärung aus und zitiert Belegstellen aus mittelalterlichen Texten, deren Anzahl und Umfang weit über das vom Frageanlaß her zu erwartende 12 13

A. Ch. Hanauer (wie Anm. 11), S. 329. DWB 13, Sp. 878: »Nollbruder=monachus terminarius=paillard (von nollen=coire)«; Francks Etymologisch Woordenbock der Nederlandsche Taal, 2. Aufl. (1929), S. 432: »Minder broeder=minre breeder von lat. frater minor.«

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Maß hinausgeht. Offenbar kommt es ihm darauf an, nicht allein seine Kenntnis alter Schriften und seine Beschlagenheit in etymologischen Fragen zu demonstrieren, auch seine Fähigkeiten in modernen Fremdsprachen sollen ans Licht treten: Die Herren Minnenbrüder/ die nahmsen sich ex humilitatis praelatione mínimos. Hisp. Frayles Mínimos. Frantz: Minimes, die aller Minderste/ oder Geringste/ under allen Brüdern: Fratres minores vel mínimos; daher sie auch Minimen nach unserer Sprach/ nach der Niderländer art/ Minder=Broeders/ oder Minrebroeders/ (wie von F. Comelis Adriansen van Dortrecht Minrebrödr van der Statt van Brüghe zu lesen) genant werden. Von den Oberteutschen aber werden Sie Barfüsser/ Discalceati, Franciscaner/ Minrenbrüder geheissen/ von der Minna her/ dem Altdeutschen Wort/ Liebe: welches wort der Herr/ nach unserer Zeiten zartigkeit/ in deteriori & obscoeno sensu für scortari genommen. Wie zwar auch Goldastus in Notis ad Winsbeckiam Nobilem Germanam davon schreibet/ Minna hodie est nomen inter nupta & praetextata, veluti Venus apud Latinos pro venerio congressu. Eigentlich aber ist Minna oder Minne nichts anders als Liebe/ Und zwar saniori sensu, nicht nur von der Weltlichen/ sondern gar von der Himlischen und Göttlichen Liebe zu verstehen. Und schickt sich zu dieser unserer Hagenauischen benambsung gar fein/ was in MS. Codice Gotefridi de Hagenouuwe/ vor etlich hundert jähren Canonici S. Thomae Argentinensis, zu lesen: Von der Siissigkeit der Gottes Minnen. Ein reine minnegliches wib so rueren lat irn süssen lib git lust und ouch der froeuden kib: jedoch der Minnen sussigkeit due reinen herzen ist bereit daz sy ze Gotte rehte treit/ git aller froeuden überhört: Wan wer ir susse hat bekort der geb umb wibe nit ein ort. Zur froeuden bemden Minnen süsse Mariun sun uns helffen müsse. In Godes Minna, stehet in pr. formulae foederis apud Argentoratum Anno 842. XVI. Kai. Martii, inter Ludovicum Germaniae & Carolum Galliae Reges percussi. Freherus in Commentar. Und Willeram in Cantico Canticorum, ad verba, Recti diligunt te, Die Rehton minnont dih/ dih ne minnot nie man/ er ne sy reht/ unde nie man ist reht er ne minne dih. Et ad verba, Introduxit me Rex, &c. Der Kunig leitota mih in sinon Vuinkellere: unde wista mih wi ih minnan sule: in sinemo Evangelio, daz der vil wuola geluitteret ist vone legalibus fecibus, hat er mih gewiset, daz ih ihn selbon minne ex toto corde, ex tota anima, & omnibus viribus, unde minon proximum minne samo mih selbon. Et Otfridus lib. 2. cap. 6. Ther fater minnot sinan sun then sant er seibo herasun. Et cap. 13. Wir wizzun vuaz ther scado vuas/ thaz vuir Got minnon thesthieu baz. Et lib. 5. cap. 7. Minna mihilo ubaral si ih thir hiar nu sagen seal.

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Und im Heldenbuch Herrn Eschilbachs Gott durch sin Göttlich Minne der hilfft den Tegen rieh. Von der weltlichen Liebe aber wird das Wort Minne (welches insonderheit bey den Niderländern noch heutigs tags gantz gebräuchlich ist/ als Minne/ Minneken/ Liefken/ Minnschapp/ Dilectiol Minnelick amabilis) gelesen in alten teutschen Geschafften/ vorab bey den Poeten/ Als: ex Epitaphio Huberti van Eick/ zu Gent in St. Joh. Kirche. Bid Godt voor my/ die Const minnen dat ick zyn aensicht moet ghewinnen. Und im Heldenbuch: Durh wib und durh ir Minne bin ih nit kommen her/ das wissent Kuniginne Ih minne schild und sper/ das ist due beste Minne der ih nun pflegen kan. Darumb frouu Kuniginne sol ir mih lieb erlan. Und die Edele Teutsche Winßbeckin zu Ihrer Tochter sagt: Ih wil dir minen willen sagen den soltu reht also verstan/ Mähst du ein Kuesches herze tragen des mustu lob und ere han: ob die Minne dir des nit gan/ und wil betwingen mit gewalt dih/ das du minnest einen Mann der seiden ist und Erenwert: der sol nah dem willen min von dir beliben ungewert. In diesem verstand hab ich das Wort Minnen/ und den Namen Minnenbrüder/ hie gebrauchet/ so viel als Liebe Brüder/ oder unser lieben Frauen Brüder/ wie es die Herren P. P. selbsten genehm haben werden; und an das Wort Minnen in obscoena significatione, noch an die Nollbrüderey/ gantz nicht gedacht. Scheinet warhafftig/ als ob dieser Barfüsser Orden insonderheit/ und vor anderen desselben Klöstern eben das jenige zu Hagenau/ dergleichen Bauchfálligkeiten/ Baufälligkeiten sage ich/ futaliter, ergeben: Dann mir bey jetz erzehlter Histori gleich beyfállet/ was sich in Anno 1651. Freytags den 19. Septembris, auff welchen tag ich neben noch andern Deputirten Herren einige Geschaffte in der Statt Straßburg hatte/ daselbsten mit einem Minnenbruder dieses Hagenauischen Barfüßer Closters/ sonst Frater Gix von Sarburg genant/ zugetragen; in dem Er in eines Soldaten/ Frantz Peters wohnung in der Steinstrasse/ bey Maria Magdalena Andres Hiebers hauß=Fraw/ nach dem sie sich beyde mit wein und gutem essen zuvor angefiillet/ in Schanden erdappt worden: doch aber/ weil Ihme der Hurenwürth lufft gemacht/ durch geschwindigkeit entwischet und zum Thor hinauß entkommen.

Das Verfahren zur etymologischen Klärung der Bedeutungsnuancen von »minne« mutet recht modern an. Der Schreiber sammelt Wortformen in romanischen und germanischen Sprachen, berücksichtigt ältere Sprachstufen des Deutschen und stellt Belegstellen aus verschiedenen Abschnitten der deutschen Sprachentwicklung zusammen. Daß er dabei die grundverschiedenen Etyma von lat. minimus und deutsch »minne« nicht unterscheidet, darf man ihm, blickt man auf den damaligen Stand der historischen Sprachforschung, die immer noch davon ausging, daß das Deutsche zu den Ursprachen gehöre und

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insofern mit dem Latein eng verwandt sei, nicht ankreiden.14 Er zieht mit Goldast eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Sprachforschung und Altertumskunde heran - und wagt, ihr zu widersprechen (»Eigentlich aber ist Minna..«).15 Die sieben zum Beleg herangezogenen Autoren erweisen durchgängig, daß »minne« zwar neben seinen spirituellen Bedeutungskonstituenten auch solche erotischer Art hat, aber von sexuellen Konnotationen frei ist. Er habe den Franziskanern nichts Herabsetzendes zuschreiben wollen. Den treuherzigen Versicherungen mag glauben, wer will. Der zeitgenössische gebildete Leser bemerkte sicher, daß diese vorgebliche Ehrenrettung von ehrenrührigen Andeutungen konterkariert wird, und zwar in dem, was beiläufig oder in Parenthese gesagt ist. Denn der Name des Paters Cornelius Adrianus (1521-1581), Guardian des Klosters in Brügge, verband sich mit einer der bekannten Skandalgeschichten des Ordens.16 In seiner Intention noch deutlicher ist der abschließende Textabschnitt. Die Preisgabe der Namen der Beteiligten und des genauen Datums des Vorfalls widersprach den Zensurbestimmungen und war strafrechtlich zu ahnden. Der Autor dieser »Erläuterung« tat gut daran, in der Anonymität zu bleiben. Über seinen philologischen Ausführungen vergaß er den konfessionspolemischen Zweck seines Schreibens nicht. In seinem sprachhistorischen Exkurs reiht der Autor seine Belegstellen in auffälliger Weise. Er stellte nicht den ältesten Beleg, die Formel »In Godes Minna« aus den Straßburger Eiden von 842, an den Anfang, sondern zwölf Verse aus einer Handschrift, die den wenigen bis dahin mit altdeutscher Literatur befaßten Autoren (im wesentlichen Joachim Vadian, Beatus Rhenanus, Flacius Illyricus, Melchior Goldast, Wolfhart Spangenberg, Marquard Freher, 14

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Einen raschen Überblick über die durch die vorherrschende Sprachtheorie bedingten etymologischen Erklärungsverfahren gibt Wolfgang Harms: Funktionen etymologischer Verfahrensweisen mittelalterlicher Tradition in der Literatur der frühen Neuzeit. In: Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit. Hg. von W. Harms und J.M. Valentin. Amsterdam 1993 (Chloe, Beihefte zum Daphnis Bd. 16), S. 1-17. Moscherosch bezieht sich auf die Ausführungen Goldasts zum Begriff minne in dessen Noten (>animadversionesTutschland. Jacob Wympfflingers von Slettstadt zu Ere Der Statt Straszburg und des Rinstroms. Jetzo nach 147 Jahren zum Truck gegeben durch Hansz Michel Moscherosch. Straßburg 1648.« Die Neuauflage eines anonymen Herausgebers findet sich in den Transactions of the Wisconsin Academy of Sciences, Arts and Letters XV,2 (1907), S. 829-873. Über die Handschrift und ihre Edition durch Moscherosch: Friedrich Pfaff: Hans Michel Moscheroschs Vorrede zu Jakob Wimphelings Germania. In: Alemannia 42 (1914), S. 58-62; W.E. Schäfer: Johann Michael Moscherosch (wie Anm. 8), S. 150-153. - Die Handschriften aus der Bibliothek der Herzöge von Croy-Archot bespricht Adolf Schmidt: Die Bibliothek und ihre Kataloge Moscheroschs (wie Anm. 10), S. 136. - Der Verkaufskatalog der Bibliothek Moscheroschs (Bl. 43) führt unter »ungebundenen« Schriften (Handschriften?) auf: »Varia Jacobi Wimffelingii opera«.

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Verlauf der Arbeiten an der Überlieferungsgeschichte des Codex Manesse aufgestellte Hypothese kann dadurch gestützt werden, daß in der Tat ein Buch aus Marquard Frehers Besitz, das Itinerarium Galliae Narbonensis des Johann Jakob Pontanus, Leiden 1606, den Besitzvermerken nach von Freher über Zincgref auf Moscherosch übergegangen ist.49 Durch seine Studien bei Joachim Cluten und Matthias Bernegger - in späterer Zeit wohl auch durch seine Beziehungen zu Rechtsgelehrten wie Johann Otto Tabor und Johann Theodor Sprenger - wurde Moscherosch immer wieder mit den politisch brisanten Fragen des Reichsrechts und der Reichsreformen konfrontiert. Seine juridischen und politischen Ämter und Funktionen, besonders die im Dienst der Freien Reichsstadt Straßburg, hielten gewiß sein Interesse an Handschriften und Drucken wach, die sich auf diese Bereiche erstreckten. Am Anfang seines Interesses für altdeutsche Literatur standen wie bei Goldast und Freher - solche Schriften, die in der Legitimationsstrategie der Freien Reichsstädte und des Kaisertums verwertbar waren. Dabei ging es zugleich - wie bei Goldast und Freher - um den Erweis der Eigenständigkeit deutscher Sprache und Literatur gegenüber den Prioritätsansprüchen romanischer Kulturen. Hinzu kam aber bei Moscherosch ein Gesichtspunkt, der bei Goldast keine, bei Freher eine untergeordnete Rolle spielte: Das Suchen nach Zeugnissen der Vergangenheit seiner heimatlichen Region. Das häufige Zitieren aus Schriften oberrheinischer, speziell elsässischer Autoren, von Otfrid von Weißenburg über Gottfried von Hagenau und Friedrich von Leiningen zu Peter von Andlau und Jakob Wimpfeling, der häufige Rekurs auf Straßburger und Hagenauer Drucke (man denke etwa an die beiden Ausgaben der Heldenbücher) sind sicher kein Zufall. Auch hier waren politische Motive im Spiel: Die Spannungen in den Grenzregionen zwischen dem Reich, Lothringen und Frankreich nahmen zu Moscheroschs Lebzeiten gewaltig zu. Man suchte auf allen Seiten nach historischen Rechtfertigungen politischen Handelns. Aus dem politisch-historischen Interesse entwickelte sich notwendig ein sprachhistorisches. Man darf wohl Moscheroschs philologische Kenntnisse nicht unterschätzen. Jedenfalls verwahrte er in seiner Bibliothek eine große Zahl von Wörterbüchern, Grammatiken, Namenbücher auch seltener Sprachen. Ich zähle allein in der Abteilung »teutscher Sprachbücher« des Verkaufskatalogs seiner Bücher fünfzehn Wörterbücher.50 Im Bewußtsein seiner Kenntnisse altdeutscher Sprache und Literatur wagte Moscherosch im Fall der »Minne« auch einem Goldast von Haiminsfeld zu widersprechen - und hatte, was den höfischen Minnesang betrifft, damit recht.

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Adolf Schmidt: Die Bibliothek Moscheroschs (wie Anm. 10), S. 504. Bibl.kat. Bl. 62-64.

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Die Lyrik Johann Michael Moscheroschs

Das Gesamtwerk Moscheroschs ist in seinen Themen und in der Varietät seiner Formen und Genres weit gespannt. Wie viele seiner dichtenden Zeitgenossen war Moscherosch bestrebt, seine Fähigkeiten durch die Aneignung vieler Gattungen und Stillagen zu erweisen. Manche Bereiche dieses Werkes sind erst noch zu entdecken, entgegen dem Anschein, den die umfängliche Forschungsliteratur erwecken mag. Die Gründe hierfür liegen ebenso sehr darin, daß eine zuverlässige Gesamtausgabe fehlt, wie in der Einseitigkeit der bisherigen Rezeption. Der Lyriker Moscherosch ist gänzlich unbekannt. Man findet in Anthologien zur Barocklyrik zwar Poeme minderer Geister aus dem Umkreis der Straßburger Tannengesellschaft (Rompier, Schneuber), auch fehlt nicht Grimmelshausen mit dem Nachtigallenlied, die Lyrik Moscheroschs vermißt man. Dies, obgleich in seinen Gesichten häufig lyrische Einlagen zu finden sind, fremde und solche aus seiner Feder. Man weiß auch, daß er eine - verschollene - Sammlung geistlicher Gedichte unter dem Titel Straßburger Kleinod zusammengestellt hat.1 Eine stattliche Zahl von Gelegenheitsgedichten kommt hinzu.2 Allerdings bereitet es Schwierigkeiten, den ihm zuzuschreibenden Bestand an Gedichten aus den Gesichten zu bestimmen. Mit Belegen nahm es der in den Gesichten beständig zitierende und paraphrasierende Autor nicht genau. In Randnoten beruft er sich einmal auf nachlässig bezeichnete Quellen, dann fehlt wieder jeder Hinweis. An einigen wenigen Stellen indiziert ein angemerktes »M.«, daß es sich um ein eigenes Produkt handelt. Er schrieb Gedichte ebenso Vgl. Arthur Bechtold: Kritisches Verzeichnis der Schriften Johann Michael Moscheroschs. München 1922, S. 63 (Staßburger Kleinod). Das Lied »Verley uns Fried in unserm Land« findet sich am Schluß der Ausgabe der Gesichte von 1642: Visiones De Don Quevedo: Wunderliche und Warhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt. Hildesheim-New York 1974 (fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe 1642), S. 540. Es wurde vom Bruder Quirin Moscherosch, nach Johann Michaels Tod, in seine Lyriksammlung: Erstes Drey Geistlicher Buß-Freud- und Friedens-Lieder. Straßburg o. J. [1650] in erweiterter Form aufgenommen. Die Personalbibliographien von A. Bechtold (wie Anm. 1 ) und Gerhard Dünnhaupt: Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. Teil II. Stuttgart 1981, S. 1240-1263, sind zu ergänzen durch die von Wilhelm Kühlmann und mir aufgefundenen Texte, die in: Wilhelm Kühlmann und Walter Ernst Schäfer: Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang J. M. Moscheroschs. Berlin 1983 (Philologische Studien und Quellen 109), S. 213-215 aufgeführt sind.

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in Latein und Französisch wie in Deutsch. Dies alles erschwert die Beschäftigung mit seiner Lyrik in den Gesichten. Eindeutigere Verhältnisse werden wir bei seinen Gelegenheitsgedichten vorfinden. I. Moscheroschs Vertrautheit mit der französischen Literatur als Voraussetzung seiner Lyrik Moscherosch lernte in breiterem Umfang und unmittelbarer als andere deutsche Poeten seiner Generation die französische Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts kennen. Seine Aufgeschlossenheit für französische Kultur und Literatur wurde begünstigt durch die Lage und die politischen Beziehungen Straßburgs, wo er studierte und die meisten Jahre seines Lebens verbrachte. Auf seinen beiden Reisen nach Frankreich, als Student 1624 bis 1625 und als diplomatischer Vertreter Straßburgs 1645, hörte er französische Lyrik im studentischen und mondänen Milieu. Durch den Kontakt mit feudalen Familien und französischen Offizieren im lothringischen Raum während des Krieges zwischen 1630 und 1642 lernte er gesellige Lieder kennen. Auch in der schwedischen Garnison Benfeld am Oberrhein, wo er zwischen 1642 und 1645 als Sekretär des Gouverneurs beschäftigt war, muß täglich Französisch zu hören gewesen sein, denn französische Offiziere aus benachbarten Garnisonen gingen aus und ein. Seine Vertrautheit mit den Formen geselliger Lyrik kam ihm weitaus mehr durch unmittelbares Erleben und Hören als durch Lektüre zu.3 Der erhaltene Verkaufskatalog einer großen Zahl von Büchern aus seiner Bibliothek und die in seine Schriften eingerückten französischen Gedichte geben zu erkennen, daß er, schon als Student ein Büchernarr, auch Gelegenheiten ergriff, neueste Ausgaben französischer Autoren zu kaufen. Der Katalog der aus dem Nachlaß verkauften Bücher rubriziert unter der Sparte >Libri Gallici< 9 Bände in Folio, 22 Bände in Quart, 100 Bände in Oktav und 103 Bände in Duodez und Sedez.4 Doch ist die Zahl der selbständigen Titel noch größer, da in einer Reihe von Bänden mehrere Schriften zusammengebunden sind. Sehen wir vorerst von der Lyrik ab und durchmustern dieses Register insgesamt, so verspricht es uns vielseitige Einblicke in die Ausstrahlung französischer Literatur im Zeitalter Richelieus und Mazarins. Dies nicht nur in Hinsicht auf Moscheroschs eigene Schriften, die ja, von den Gesichten (1640) über die Insomnis Cura Parentum ( 1643) und die Anleitung zu einem adelichen Leben (1645) bis zur Méditation sur la vie de Jesus Christ (1646) durch Vorlagen in fremden Sprachen, vorab in Französisch, veranlaßt oder beeinflußt 3

4

Die Bildungsinteressen, die seine Peregrination bestimmten, habe ich in Kap. B, S. 46-86 der in Anm. 2 genannten Schrift breiter dargestellt. Der handschriftliche Katalog befindet sich in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, der ich für die Herstellung von Fotokopien danke (unter HS 30041. S. 67 bis 82 sind die >Libri Gallici< aufgeführt). Vgl. Adolf Schmidt: Die Bibliothek Moscheroschs. In: Zs. f. Bücherfreunde 2 (1898/99), S. 497-506, und ders.: Die Bibliothek Moscheroschs und ihre Kataloge. In: Zs.f. Bücherfreunde N.F. 12 (1920/21) S. 133-141.

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sind. Die Auswirkungen seiner Mittlertätigkeit reichten wohl in das literarische Leben Straßburgs hinein. Ein herausragendes Beispiel: nach der Rückkehr aus Paris 1646 dichtete Moscherosch nach einer immer noch unbekannten französischen Vorlage das biblische Epos Méditation sur la vie de Jesus Christ. Es kam den Bestrebungen der Straßburger Kirchleitung unter Johann Schmidt zur Verbreitung der Meditationspraxis in den Hausandachten entgegen.5 Es gibt Anzeichen dafür, daß die Kenntnis neuer Bücher aus Frankreich über Moscherosch bis in die Fruchtbringende Gesellschaft hinein gelangte. Im Verkaufskatalog ist zwei Mal der Titel Catechisme du Roy (leider ohne nähere Angaben) aufgeführt, einmal unter der Sparte der Manuskripte, ein zweites Mal unter den Büchern in Quart. Es muß sich um den Catechisme royal des Pierre Fortin, Sieur de la Hoguette, handeln, um eine politische Lehrschrift in fiktiven Dialogen zwischen dem jungen Ludwig XIV. und seinem Hofmeister. Sie gab Aufschluß über die politischen Instruktionen, die der etwa siebenjährige Thronfolger erhielt und gab deutliche Hinweise auf Annexionspläne der französischen Krone in den Grenzzonen zum Deutschen Reich. Die erste Ausgabe erschien 1645, also zur Zeit von Moscheroschs Aufenthalt in Paris, als er mehrfach am Hof vorsprach. Im gleichen Jahr 1645 ließ Harsdörffer im Verlag Endter in Nürnberg seine deutsche Übersetzung dieser Dialoge drucken. Am 17. Dezember 1645 übersandte Harsdörffer ein Exemplar des Drucks an Ludwig von Anhalt-Kothen. Man darf annehmen, daß Moscherosch den Fund aus Paris mitgebracht und Harsdörffer zugeschickt hatte, zur Information über die Politik Mazarins.6 Wollte man die Erscheinungsdaten der in Moscheroschs Bibliothek vorhandenen Schriften mit den Daten seiner Reise nach Frankreich vergleichen und die französischen Zitate in den verschiedenen Auflagen seiner Gesichte hinzunehmen, so könnte man wohl weitere Hinweise für seine französisch-deutsche Mittlertätigkeit erhalten. Ohne so weit auszugreifen, können wir zunächst Schwerpunkte der Interessen Moscheroschs an französischer Literatur bestimmen. Als Student in Frankreich 1625 war er darauf bedacht, korrektes und gefälliges Französisch zu erlernen, Einblicke in den Verwaltungs- und Justizapparat einer absoluten Monarchie zu nehmen, Kontakte zu knüpfen und sich auf das weiterführende Studium der Jurisprudenz in Straßburg vorzubereiten. Bei seiner zweiten Reise durch Frankreich 1645 war er selbst schon Amtsperson, kam in diplomatischer 5

6

G. Dünnhaupt (wie Anm. 2), S. 1255, Nr. 29. Zur Meditationspraxis der Straßburger Reformorthodoxie vgl. Kühlmann/Schäfer (wie Anm. 2) S. 183. Im Verkaufskatalog der Bücher Moscheroschs Blatt 67 F. Die anonym erschienene Schrift weist Antoine Barbier: Dictionnaire des ouvrages anonymes. Bd. I. Paris 1872, S. 534 dem genannten Verfasser zu, vermerkt jedoch, daß sie auch gelegentlich Godeau, dem Bischof von Grasse, zugeschrieben wurde. Die Übersetzung Harsdörffers bei G. Dünnhaupt Teil II, S. 789, Nr. 20. Der Briefwechsel zwischen Harsdörffer und Ludwig von Anhalt-Kothen, den Catechisme royal betreffend, bei Gottlieb Krause (Hg.): Der Fruchbringenden Gesellschaft ältester Erzschrein. Leipzig 1855, S. 348 (Brief 27) und S. 349 (Brief 28). Ein Exemplar der französischen Erstausgabe 1645 konnte ich in der Württbg. Landesbibliothek (qt 82) einsehen. Die Annexionsvorschläge hier S. 46ff.

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Mission und mußte sich schon seines Auftrags wegen für die Ziele der Politik Mazarins und deren publizistische Propagierung interessieren. So ist es zu erklären, daß französische Wörter- und Sprachlehrbücher, historische, politische und juristische Schriften, Leitfäden für den Briefstil und den gesellschaftlichen Umgang zwei Drittel der französischen Bestände seines Buchverkaufskatalogs ausmachen. Im Bereich der Politica bevorzugte er das Schrifttum aus der Richtung der >Politischenhonnêtes hommesAriae Gallicae< genannt wurden. Das läßt vermuten, daß auch Robertin Einzeldrucke oder Sammlungen von Liedern nach Königsberg mitbrachte. (Vgl. Joseph Müller-Blattau: Heinrich Albert und das deutsche Barocklied. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 25 (1951), S. 406ff. Dieter Lohmeier: Die Verbreitungsformen des Liedes im Barockzeitalter. In: Daphnis 8 (1979). Soweit ich sehe, konnte bislang nur im Fall des Schweden Johan Ekeblad (1629-1696) ein ähnlich intensiver Sammeleifer für populäre französische Lieder und deren Übertragung in die heimische Literatur beobachtet werden. (Vgl. Kurt Johannesson: Johan Ekeblad und das französische Lied in Schweden. In: Daphnis 8 (1979), S. 97-107. Ekeblad hielt sich als Siebzehnjähriger von 1646 bis 1649 in Paris auf, in den folgenden Jahren absolvierte er ein Studium in Saumur. Er sammelte wie Moscherosch vor allem galante und satirische Lieder und hatte die gleiche Vorliebe für jene gängigen »airs de cour«, die in Kneipen zu hören waren, und die immer fertige Bereitschaft, Texte und Melodien rasch zu notieren. Doch reiste und studierte er mit Adligen und Diplomaten und befreundete sich mit Libertins in einer Weise, wie sie Moscherosch, trotz seiner Zuneigung zu Théophile de Viau und Saint Amant, fremd war.

27

Wilhelm Kühlmann hat es im Stadtarchiv Ulm (Sign. G 2) entdeckt. Vgl. >Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein< (wie Anm. 1) S. 213, Nr. 7.

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sich entschlossen, in schwedische Dienste zu treten. Der schwedische Resident Mockel kannte und schätzte die Gesichte. Moscherosch ging der Ruf einer lutherisch-reichstreuen Gesinnung und eines versierten Beamten voraus. Das Amt brachte zwar Mißhelligkeiten - er hatte unter anderem die Aufgabe, die Interessen der Stadt Straßburg gegenüber französischen Kommandeuren am Oberrhein zu vertreten - , es erlaubte ihm aber doch, in der Sicherheit der Festungsmauern literarischen Arbeiten nachzugehen. Im Offizierskorps der Garnison herrschte das deutsche Element vor. Der Festungskommandant selbst, Oberst Friedrich Moser von Filseckh, war Württemberger. Nach der Niederlage von Nördlingen 1634 hatte der im Straßburger Exil lebende Herzog Eberhard III. von Württemberg Reste seiner Truppen dem schwedischen Oberbefehl unterstellt. Die Brautleute, denen zu Ehren Moscherosch sein Gedicht schrieb, waren von Stand. Ein Obristleutnant der württembergischen Truppen ehelichte die Tochter eines Kapitäns der Garnison. Der Bräutigam Fiedrich von Weiler vom Fürstlich-Württembergischen Regiment zu Fuß entstammte altem württembergischen Adel, der seit Generationen im Hof- und Militärdienst stand.28 Moscheroschs Beitrag zu dieser Hochzeit war ein Gedicht, das der Bräutigam selbst vortragen sollte. Man muß annehmen, daß es Friedrich von Weiler über der Tafel zur Laute sang. Das war bei Epithalamien nicht selten der Brauch.

28

Die Verhältnisse in Benfeld während des Dreißigjährigen Krieges stellen dar: Emil Woerth: Benfeld unter schwedischer Herrschaft 1632-1650. Mülhausen im Elsaß 1907; Eugène Dischelt: Die Festung Benfeld. Berichte über die ehemalige Festung, ihre Verwaltung, ihre Fehden, über Gebäude und Leute, Gebräuche und Gewohnheiten nach meist ungedruckten Urkunden. O. O., o. J. [ca. 1935]. Zu Moser von Filseckh: Eberhard Emil von Georgii-Georgenau: Fürstlich Württembergisches Dienerbuch. Stuttgart 1877, S. 173. Auskünfte über das Geschlecht von Weiler zu Weiler (mit dem Stammsitz in der Nähe von Heilbronn) finden sich bei Emst Heinrich Kneschke (Hg.). Neues allgemeines deutsches Adels-Lexicon. Bd. 9. Leipzig 1870, S. 506; Christian Friedrich August von Meding: Nachrichten von Adelichen Wappen Bd. 3. Weißenfels-Leipzig 1791, S. 747. Den Bräutigam Friedrich von Weiler kann ich bislang nicht nachweisen, doch ist 1606 ein Ludwig von Weiler Hauptmann der württembergischen Truppen, ein Albrecht von Weiler Truchsess am Stuttgarter Hof. Zur Familie der Braut war soviel auszumachen, daß ein >Capitain Polendt< 1648 in der Garnison Benfeld eine Kompagnie befehligte. Es dürfte sich um den Vater der Braut handeln. S. E. Dischert (wie oben), S. 223.

Die Lyrik Johann Michael Moscheroschs Uff Das Adeliche Beylager Deß WolEdelgebornen Gestrengen Friderichs von Weyler & c . Uber das Hochlöbliche Fürstlich-Württembergisch Regiment Wolbestelten oberst Lieutenant zu Fuß Mit Der auch WolEdel Gebornen viel Ehr und Tugendreichen Jungfrawen Margaretha Magdalene von Pollandt &c. Gehalten zu Benfelden den 9. Octobris Anno 1643 1. Nein, Mars halt mich nimmermehr; Andre dienst nehm ich jetz an: besser ists/ Ein kleines Heer/ das man Commendiren kan. Cupido. Mein Hertz und Sinn geb ich dir zu eigen hin/ dir und meiner Schäfferin.

2. Diß wird sie mir zeugen nun/ Wann sie jemand von mir fragt/ daß ich Mars und seinem thun rund und teutsch hab abgesagt. Bey Cupido/ der doch blind und ein nacket kleines kind/ man noch trew und glauben find. 3. Wan Er sonst nichts geben kan so gibt er doch gute wort: Mars ein recht unfreundtlich Mann/ Pocht und kollert immer fort/ gibt nicht bald was er verspricht; Cupido der thut das nicht/ drumb hab ich mich ihm verpflicht. 4. Sey wer will Soldat zu Feldt/ Ich bleib bey Cupido hir: hat Er schon nicht alltag geldt so schafft Er doch gut quartir. und wo Er mich führet hin/ da wird Dulcibella sein/ Meine schöne Schäfferin. 5. Nein. Mars halt mich nimmermehr/ Seines Heers ich nicht mehr acht; Alles geht auf Steltzen her

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Walter Ernst Schäfer und ist sorg zu tag und nacht. Ade Mars/ dein Macht und Kunst Ist ohn Dulcibella Gunst Bey mir Capot und umbsunst. 6.

Wan ich schon mit jederman rauff/ und alle Lande trutz/ daß man von mir sagen kan/ Mein was hab ich dessen nutz? weil doch alle Macht und kunst Ist ohn Dulcibella Gunst Bey mir Capot und umbsunst. 7. Nun Diana blaßt zu Pferd. Cupido reit auff die Hätz. Heunt/ wan ich Marchiren werd/ geht es starck zum Musterblatz/ 29

und von dar fort wie ein Blind wo mich treibet hin der wind biß ich Dulcibella find. 8. Dann ich bin jhr General, und ist jhrer Augen glantz Mein Geschütz und Arsenal: Ihre Brüste meine Schantz. Ihr Hertz mein Post da ich steh. Ihr Mund mein Rund so ich geh. Tausend Küss sind mein Armee. 9. Nur ein ding bringt mir unglick Dann von jhrer Straelen blitz Ich todtlebend so erschrick Als wann aller Welt geschütz war auff ein Pastey geführt/ und mit süsem gifft chargirt gegen mein arm Hertz plantirt. 10. Dannoch such ich solchen Streit da mir Feindschafft wird für Lieb/ da ich wunden nehm zur beut und Haß gegen Freundschafft üb. und da/ Dulcibella/ dein Seuffzerquickend Hertzen pein Meine Sold und Lehnung sein.

Die Wendung »fort wie ein Blind« bezieht sich auf eine betrügerische Praxis einzelner Regimentskommandeure. Man stellte bei der Musterung und der Feststellung der Mannschaftsstärken »blinde« Soldaten auf, sozusagen Karteileichen, die nach der Musterung weggeschickt wurden. Der Regimentsinhaber bezog fortan Löhnung für sie. Vgl. Grimm DWB II, Sp. 121, Nr. 12.

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11. Weil aber die Zahlung ich Nicht krieg alle Monat bahr/ So wird sie doch finden sich Richtig auff drey viertel Jahr. Dann daß ist der Helden Sieg, den sie bringen auß dem Krieg/ von der Drommel zu der Wieg. Schreibts zu bezeugung gehorsamer Ehre und Gliickwiinschung Philander von Sittewalt.

- Ein keck daherkommendes galantes Lied eines Offiziers, der nicht mehr wirbt, der sich schon im Besitz seiner Beute weiß. Von der eingespielten topischen Argumentation des Epithalamium hat sich Moscherosch fast ganz frei gemacht. Er hält sich nicht an die gängigen Verarbeitungsschemata, etwa an den Ausgang der Invention vom Namen der Braut (a nomine) oder von der Jahreszeit, vom Herbst, und der von ihr ausgehenden günstigen Wirkung auf die Kopulation (ex tempore) oder von der in Bürgerkreisen beliebten anagrammatischen Verrätselung von Namen. Eine Reminiszenz an das bürgerliche Hochzeitsgedicht liegt allenfalls in der Anspielung auf den Kindersegen in der Schlußstrophe. Die Soldaten in der Tafelrunde und die Braut waren die Adressaten des Gedichts. Dem entspricht eine unzeremonielle entspannte Stillage, der sparsame Gebrauch von exempla und mythologischen Anspielungen und die Distanz von allem, was an die Sphäre der »Blackscheiserey« erinnern konnte.30 Das tragende Argument durch alle elf Strophen ist das der Liebe als Krieg und Feldzug, die Vorstellung der »militia amoris«, die durch ein modisches Vokabular aktualisiert wird. Aus der Entgegensetzung von Mars und Cupido entfaltet sich die in fast jeder Strophe neu einsetzende Absage an den Kriegsdienst und das Bekenntnis zum Liebesdienst, so die Absage an den kärglichen Sold im Kriege (Str. 3, 6), an die Entbehrungen des Lagerlebens (Str. 4), an die Unruhe und das Ungestüm des Lebens im Felde (St. 7, 8). Daß sich der Bräutigam in Strophe acht gleich vom Oberstleutnant zum General befördert, paßt zum kecken Tonfall des Ganzen. Die Gebote der sprachlichen Reinheit, seit Opitz für die neue deutsche Kunstpoesie verbindlich, kümmerten Moscherosch nicht. Er hielt sich an den Jargon adliger Offiziere, der in wachsendem Maß vom Französischen bestimmt war. Gewiß erzielte sein Lied gerade durch das moderne französische Militärvokabular, angewandt auf den Liebeskrieg, Lacheffekte über der Tafel. Die 30

Die Literatur zum barocken Epithalamium und seiner Geschichte führt Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, auf. Zur Thematik der »militia amoris« jüngst Wilhelm Kühlmann: Militât Omnis Amans. In: Daphnis 7 (1978), H. 1-2, S. 199-214.

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Wendung »etwas ist capot, wird capot gemacht« (ein Terminus des Kartenspiels für den, der keinen Stich macht), war eben in die deutsche Soldatensprache übernommen worden.31 Moscherosch verdoppelte gleich ihren Effekt, indem er sie zweimal in den Refrain stellte. Zusammen mit den gegen Schluß sich häufenden termini technici der Artillerie (»mit gifft chargirt«, »gegen mein hertz plantirt«) evoziert »capot« den burschikosen Tonfall der galanten Franzosen in Liebessachen, die »franchise« der Weltleute. Das klingt wie eine Herausforderung an Opitz, der postulierte:32 So stehet es auch zum hefftigsten unsauber/ wenn allerley Lateinische/ Französische/ Spanische und Welsche Wörter in den text unserer rede geflickt werden; als wenn ich wolte sagen. Nemt an die courtoisie, und die devotion Die euch ein chevalier, madonna, thut erzeigen: Ein handvoll von favor petirt er nur zue lohn Und bleibet ewer Knecht und serviteur gantz eigen.

Moscherosch liebte diesen Ton und die rauhbeinige Geselligkeit seit den Tagen in Paris und an der Loire. Die flüchtigen, pikanten Reize, die sich aus ihm gewinnen ließen, waren ihm mehr wert als der Prestigegewinn, der aus einem regelhaften Poem erwuchs. Eines unter anderen Beispielen für diese Art pointierender Sprachmischung ist im Gesicht Soldaten-Leben zu finden. Es ist die Adaption des Lutherchorais Ein feste Burg ist unser Gott für das Lagerleben im Krieg:33 Gott ist der Christen Hiilff und Macht/ Ein veste Citadelle Er wacht und schillert Tag und Nacht/ Thut Rond und Sentinelle JESUS/ist das Wort/ Brust-Waehr/ Weg und Port Der rechte Corpoural Haupt-Mann und General Quartier und Corps de Garde.

Gut möglich, daß dieses der »Gelegenheit« angepaßte Lutherlied auch von Moscherosch stammt. Es gibt keinen Beleg. Die von ihm geschilderte Situation, in der es Philander, der Held der Gesichte, hörte, erscheint denn doch zu unwahrscheinlich. Es wird erzählt, Philander habe es beim nächtlichen Spionieren unter den Mauern einer Stadt von der auf dem Wehrgang patroullierenden Wache gehört - welches ich auch [das Lied] weil er es zum zweyten mal außgesungen/ von Worten also finster in meine Schreib-Taffel (wie mein Brauch jederzeit/ und nach Gelegenheit noch ist) verzeichnet/ als es hie stehet [...]

31

32

33

Duden, Etymologie, Mannheim-Wien-Zürich 1963, S. 310; Friedrich Kluge: Et. Wörterbuch. Berlin "1963, S. 350. Martin Opitz (wie Anm. 24), S. 24—25,27. Scherzhaften Liedern allerdings gab Opitz Lizenz vom strengen Gebot der puntas. Gesichte, Anderer Theil. Straßburg 1665, S. 691.

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Es dürfte schwer fallen, in der geschilderten Situation ein Lied von immerhin 54 Versen aufzuzeichnen. Doch ergibt sich aus der Schilderung, in welcher Weise Moscherosch selbst die Lieder sammelte, die er in seine Gesichte einbrachte. Sie erheben keinen Anspruch auf literarischen Rang. Hier dürfte einer der Gründe zu suchen sein, weshalb er es mit der Scheidung von Eigenem und Fremdem nicht genau nahm und nie eine Sammlung seiner Lieder zum Druck brachte. Offenbar hatte Moscherosch in den zwei Jahren, während denen er in der Festung Benfeld mit deutschen und schwedischen Soldaten Dienst tat und mit französischen Offizieren und Kommissaren verhandelte, häufig Gelegenheit, französische Lieder zu hören oder auch in Einzeldrucken (Flugschriften) oder Sammelausgaben kennenzulernen. Das Gesicht Hans-hiniiber. Ganß herüber ist in Benfeld zu dieser Zeit entstanden. 34 Es enthält eine Serie von französischen und deutschen Trink- und Liebesliedern, die bei den von Moscherosch geschilderten Gastereien und Gelagen gesungen wurden. Sie geben wohl den Ton trinkfester Kumpanei wieder, der unter den Offizieren der Garnison herrschte. Eines der französischen Lieder entspricht im Versmaß und der Reimordnung, in der thematischen Entgegensetzung von Kriegs- und Lagerleben und der Absage an das Soldatenleben so sehr dem Hochzeitsgedicht Moscheroschs, daß es wohl zu den Liedern, die ihn inspiriert haben, gehören muß. Einmal mehr gibt er keinen Herkunftsnachweis. Seine erste Strophe lautet:35 Tout le monde court aux Amies moy ie cours au vin. Je ne crains point les alarmes du Peuple mutin: Car le Vin a tant des charmes que les plus braves gens d'armes, Ils perdent leur vin.

Auch in diesem Fall ist kaum anzunehmen, daß er das Gedicht in der Studierstube kennengelernt hat (allerdings findet sich in seinem Bibliothekskatalog der anonyme Titel einer Gedichtsammlung L'antisoldat ou Le soldat pacifique).36 Mehr spricht dafür, daß Moscherosch wie bei seiner ersten Frankreichreise die Venus- und Bacchuslieder, die er hörte, sich notierte und für seine Rolle als animateur bei passender Gelegenheit aufhob. Die Gelegenheitsdichtung Straßburgs, die während des Krieges trotz Hungerepidemien, Pestwellen und materieller Not so dicht und regelmäßig wie vor dem Krieg geschrieben und gedruckt wurde, ist noch kaum erfaßt, geschweige denn in ihren Eigenheiten und ihrer Entwicklung aufgearbeitet. Das erschwert zunächst jeden Versuch, die zahlreichen Hochzeits-, Trauer- und Gratulati-

34 35 36

Die Widmung ist datiert »uff Ganghulffstag 1643«, d. h. auf den 9. Oktober 1643. Gesichte 1642 (wie Anm. 19), Bd. II, S. 214. Verk.kat. S. 81, Nr. 81.

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onsgedichte Moscheroschs, die er für Straßburger Familien schrieb, von den Usancen der Autoren um ihn abzuheben. Mit diesem Vorbehalt darf man doch festhalten, daß seine Kasualcarmina zwei sehr verschiedenen und in mancher Hinsicht oppositen Bereichen angehören. Da sind zum einen die artistisch anspruchsvollen Poeme der humanistischen Praxis, in die Moscherosch durch die Neulateiner und Professoren der Poesie Johann Paul Crusius (1588-1629) und Caspar Brülovius (1585-1627) eingeführt worden war. Das früheste lateinische Epicedium von ihm, das bisher bekannt ist, schrieb der Neunzehnjährige 1620, als Schüler der letzten Klasse der Akademie. Während seiner Studienzeit, die sich nach der Frankreichreise 1625-1626 bis etwa 1630 erstreckte, dienten seine - zumeist lateinischen - Kasualgedichte dazu, unter Kommilitonen Freunde zu gewinnen, unter Stadtbürgern Ansehen zu erwerben und Professoren und Scholarchen günstig zu stimmen. Er war dringlicher als die mitstudierenden Söhne des Patriziats darauf angewiesen, ein Netz von sozialen Beziehungen zu knüpfen. Die Widerstände, die das Stadtbürgertum seinen wiederholten Versuchen entgegensetze, einen Lehrstuhl an der Universität oder eine Bestallung in den Ratsbehörden zu erlangen, sind bislang unterschätzt worden. Er war Fremder, hanauisch-lichtenbergischer Untertan. Um sich hervorzutun, bedurfte es einer formstrengen Kunstdichtung aus distanzierter Haltung, die aus dem Arsenal artistisch-rhetorischer Topik schöpft und den Bedürfnissen der altständischen Gesellschaft angepaßt war, also die Sozialordnung profilierte und Leitbilder lutherischer ars vivendi und ars moriendi erstellte. Hierfür eigneten sich Epicedien mehr als andere Kasualgedichte. Eine zweite Phase der Hervorbringung solcher streng gemessenen Gedichte setzte mit Beginn von Moscheroschs Tätigkeit als Fiskal von Straßburg 1645 ein. Nun ging es darum, den gesellschaftlichen Anschluß an die Gruppe der promovierten Juristen zu finden, die als Syndici für den Magistrat oder als Generaladvokaten in den höheren Gerichten Dienst taten. Es galt, jenen Mangel auszugleichen, den Moscherosch sein Leben lang mit sich trug: er hatte seine juristischen Studien nicht zu Ende führen können, war nicht promoviert. So feierte er die Angehörigen Straßburger Juristen in Epicedien und Epithalamien und nutzte seine ausgebreiteten historisch-antiquarischen Kenntnisse für Schriften zur Straßburger Stadtgeschichte. In der gleichen Zeit jedoch traten immer häufiger deutsche Gedichte, zumeist in der sangbaren Odenstrophe mit sechs oder acht Versen und einem Kehrreim hervor. Daß Moscherosch diese geschmeidige Liedform wie schon in Benfeld zu Hochzeitsgedichten nutzte, entsprach der von Weckherlin und Opitz eingeleiteten deutschsprachigen Kunstübung. Auffalliger ist ihre häufige Verwendung in Trauergedichten. Die andern Beiträger zu solchen Gelegenheiten, vor allem die Mitglieder der Tannengesellschaft Rompier, Schneuber und Schallesius, hielten weiterhin an lateinischen Distichen, an Alexandrinern oder pindarischen Oden in Deutsch, also an den Formen der Humanistenpoesie, fest. Moscherosch spielte offenbar eine Sonderrolle. Die Gesellschaftslyrik, die

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er bei den feudalen Familien in Kriechingen und Finstingen, auf seinen Reisen und im Umgang mit den vorwiegend adligen Offizieren der schwedischen und französischen Truppen kennengelernt hatte, bestimmte nun seinen lyrischen Ton mit. Wie sicher sich Moscherosch in beiden Sphären bewegte, ersieht man daraus, daß er wenige Monate vor dem Hochzeitsgedicht auf Friedrich von Weiler eine Folge lateinischer Alexandrinergedichte in wechselnden Versmaßen und mit Annotationen in Latein und Griechisch den Andenken Gustav Adolf von Schweden geweiht hatte.37 Oder wie er selbst in einem französischen Brief schrieb: >Je suis Courtisan si ie veux, & peux prendre le visage tel que ie veux, si ie veuxHof-SchuleArgentinensisVon des Esels Adel und der Sau TriumpfEselkönig< und dessen Verhältnis zu Messerschmids >Von des Esels Adel und der Sau Triumpf< vgl. jetzt Klaus Conermann: Rosenkreuzerischer Eselkönig und bäurische Legation oder Abschickung der Esell in Parnassum. Zwei Tiersatiren des frühen 17. Jahrhunderts. Auflösung einer Stofftradition und Entstehung eines politischen komischen Romans. In: Daphnis 14 (1985), S. 721-757.

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bekannten Autoren und Übersetzer, die für diese Verlage satirische Schriften verfaßten, standen in verwandtschaftlichem oder arbeitsrechtlichem Verhältnis zu diesen Verlegern. Der stellungslose Jurist Fischart war Schwager Bernhard Jobins und für dessen Verlag von etwa 1570 an als eine Art Korrektor tätig. Nach Fischart erfüllte Wolfhart Spangenberg zwischen 1595 und etwa 1611, bis zu seinem Weggang von Straßburg, für Johannes Carolus die gleiche Funktion. Auch er, ausgebildeter Theologe, doch als Flacianer der Kirchenleitung verdächtig, blieb zunächst ohne Amt und Würde in Straßburg. Man muß damit rechnen, daß auch bei Georg Friedrich Messerschmid, der als Jurist (davon später) in Straßburg keine Verwendung fand, aber 1615, 1617 und 1622 seine Übersetzungen satirischer Schriften bei Johann Carolus erscheinen ließ, ähnliche Aufgaben für diesen Verlag erfüllte. Er wäre dann sozusagen der Nachfolger Wolfhart Spangenbergs. Es hat auf jeden Fall den Anschein, daß die Anstöße zu den Straßburger satirischen Vers- und Prosaschriften, die besonders zwischen 1607 und 1619, also nach dem Bischöflichen Krieg und am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, in einer Phase ökonomischer Prosperität zunahmen, aus verlegerischem Interesse und Kalkül entstanden und die einzelnen Schriften Teile eines größer konzipierten Programms sind.11 Nach der Mitte der zwanziger Jahre - das fällt auf - erschienen satirische Schriften in Straßburg fast immer ohne oder mit fingierter Verlagsangabe, entgegen der Polizeiordnung von 1628, welche die früheren einschlägigen Zensurbestimmungen noch einmal präzisiert und verschärft hatte. Das gilt für neu auftauchende Schriften (Almannus Boccalinus: Das wunderseltzame Leben [...] der Signor Richeza d'Alemanni [...] 1624, in der Parnassischen Truckerey), aber auch für schon bekannte wie Fischarts Geschichtklitterung in der Auflage von 1631 (Gedruckt zu Grenflug im Gänßereich). Das mag mit der politischen Vorsicht des Magistrats der »neutralen« Reichsstadt zu tun haben, in einer Zeit, als der Krieg - ab 1622 - auf die Nachbarschaft, die unterelsässischen Gebiete, übergriff. Die Verlagsgeschichte läßt sich zu dieser Zeit nur ungenau erfassen.12 Man wird den Antworten auf die berührten verlags- und leserhistorischen Fragen kaum näher kommen, wenn man - anhand bisher unbekannter Archivalien und zweier bisher nicht erfaßter Schriften Messerschmids - Licht in dessen Biographie bringt. Immerhin lassen solche Zeugnisse Rückschlüsse auf Messerschmids Herkunft, seinen Bildungsgrad und sozialen Rang und damit

Anders als Erich Kleinschmidt (wie Anm. 3, S. 323) scheint mir die Kontinuität satirischer Schriften weniger durch »Autorengemeinschaften« als durch Verlagsinteressen und -traditionen getragen zu sein. Die soziale Position von Fischart, Spangenberg, Messerschmid in der Gesellschaft Straßburgs war wohl zu schwach, als daß sie ihre Autoreninteressen gegenüber den Verlagsinteressen eines Johann Carolus hätten durchsetzen können, wenn sie je nicht übereingestimmt haben sollten. Über die Straßburger Zensurverhältnisse im angesprochenen Zeitabschnitt gibt Jean-Pierre Kintz (wie Anm. 8) Bescheid.

Mehr als nur Übersetzer: Georg Friedrich Messerschmid (ca. 1595-1635)

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eine Antwort auf die Frage zu, ob er die ihm imputierte Rolle als Mitarbeiter von Johannes Carolus gespielt haben könnte. Doch zunächst zur Bibliographie seiner Schriften. Ihr Katalog ist umfangreicher und in den Themen weiter gestreut, als bisher angenommen. Zu den nach der jüngsten Arbeit über Messerschmid, der von Guillaume van Gemert, bekannten fünf Übersetzungen nach italienischen Vorlagen treten zumindest zwei Schriften anderen Charakters - wobei die von van Gemert aufgeworfene Frage, ob Messerschmid auch als Übersetzer der so überaus wirkungsmächtigen Piazza Universale des Tomaso Garzoni zu gelten habe, zunächst offen bleiben muß. Es sind dann folgende Werkgruppen zu unterscheiden: 1. Drei Übersetzungen aus dem Italienischen, die nach Thematik, Struktur und Stil dem seit Beginn des 16. Jahrhunderts (Erasmus, Bonaventure des Périers und andere) florierenden Genre des ironischen Enkomiums zugerechnet werden müssen: a) Sapiens Stultitia. Die kluge Narrheit. Ein Brunn deß Wollustes: Ein Mutter der Frewden: Ein Herrscherin aller guten Humoren. Von Antonio Maria Spelta, Poeta Regio, Historico, & Oratore: hiebevor zum offiermaln/ cum censura, verbessert aufgelegt. Zu einer Defensión, und Beschirmbd/ aller Frewd: und Mutigen Persohnen/ und zu einer widerfechtung/der zuviel Klug und Hirnsinnigen Köpffen. Ein Moral und Lehrbiichlin/handelt von zu vieler Sorgfältigkeit/ unnd dienet zu einem underricht/ allen und jede Standes Leuthen. Ist anjetzo nun ausser der Italiänischen Spraach/ Lehm: unnd Lustes wegen/ bestes Vermögens/ in die Teutsche versetzt/ Durch Georg Friederich Messerschmid. Gedruckt zu Straßburg/ bey Johann Carolo. 1615.13 b) Von Deß Esels Adel. Und Der Saw Triumph. Ein sehr Artige Lustige und Liebliche beschreibung Attabalippe deß Peruanischen Esels Adel: und der Saw von Corfu: Vorzugs und Excellentzien/ ihrer aller beschajfenheit/ Nutz/ Artzeney: und andere schöne Tugenten/mit anmutigen Bossen/denckwiirdigen schönen Historien gleichsam in einem Spiegel darinnen vorgestellt/ auch welches under ihnen vor das Adelichst zu achten unnd zuhalten/ trefflich artlich dargethan wird. Zu menniglichs kurtzweil und belustigung an tag gegeben/ Durch Griphangno Fabro-Miranda M.DC.XVII.U "

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Johann Georg Theodor Graesse: Trésor des livres rares et précieux ou nouveau dictionnaire bibliographique. Bd. 6, 1. Dresden, S. 464; Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Bd. II. Dresden 1886, S. 585; Curt von Faber du Faur: German Baroque Literature. A Catalogue of the Collection in the Yale University Library. Bd. II. New Haven 1968, S. 13; Harold Jantz: German Baroque Literature. A descriptive catalogue of the collection of Harold Jantz and a guide to the collection of microfilm. Bd. I. New Haven, S. 21; National Union Catalogue Bd. 561, S. 243; Martin Bircher(Hg.): Deutsche Drucke des Barock 1600-1720 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Abtl. A. Bd. 1. Nendeln 1977, S. 79; Guillaume van Gemert (wie Anm. 1), S. 272. Eine zweite Auflage erschien 1622 wieder bei Carolus in Straßburg (van Gemert S. 272, Anm. 21). Graesse Bd. I, S. 247; Goedeke Bd. II, S. 586; National Union Catalogue Bd. 561, S. 243; Martin Bircher Bd. I, S. 78; Guillaume van Gemert S. 280.

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Waller Ernst Schäfer

c) Spital Unheylsamer Narren/ unnd Närinnen. Herrn Thomasi Garzoni. Auß der Italiänischen Sprach Teutsch gemacht. Durch Georgium Fridericum Messerschmid/Argent: [...] Gedruckt zu Straßburg bey Johann Carolo. Im Jahr/1618,15 Den detaillierten bibliographischen Angaben und Inhaltsanalysen van Gemerts zu diesen Schriften ist allenfalls hinzuzufügen, daß das ironische Enkomium ebenso wie die Fazetienliteratur, von der van Gemert (wie Anm. 1, S. 270) das Genre ableiten will, in den Gesamtkomplex der menippeischen Satire gehören. Dafür spricht schon der Wechsel von Prosaerzählung, eingelegten Reimversen (besonders häufig Zitate aus Sebastian Brants Narrenschiff) und Dialogszenen, also der für die Menippea charakteristische Mischcharakter dieser Schriften. Auch entsprechen viele Stilistika dem satirischen genus acutum dicendi mit seinen Ironismen, vor allem in Gestalt der dissimulatorischen Ironie, seinen Paradoxien und Wortfiguren, besonders den Paronomasien.16 Die captatio benevolentiae im Titel der ersten Schrift, adressiert an freudige und mutige Personen, und die Zurückweisung der zu klugen Köpfe erinnert deutlich an den von Rabelais gepriesenen »pantagruelischen« Geist und an den Kontrast zwischen dem lebensfrohen und draufgängerischen Mönch Jean und dem bedenklichen, ängstlichen Panurg.17 Bei aller Unschärfe der Grenzen dieses an keinem >auctor classicus< ausgerichteten und nur von schwachen Theorieansätzen begleiteten Komplexes menippeischer Satire gilt es doch, sich über das ironische Enkomium hinaus die Weite seiner Varianten bewußt zu halten, um den Zusammenhang der von Messerschmid übersetzten Satiren mit den zu Beginn des 17. Jahrhunderts verstärkt einsetzenden neulateinischen Satiren eines John Barclay, Lipsius, Heinsius und Barläus zu erkennen, von denen noch Rompier von Löwenhalt im Vorwort zu Moscheroschs erster Ausgabe der Gesichte spricht.18 15 16

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18

Faber du Faur Bd. II, S. 13; Martin Bircher Bd. I, S. 78; van Gemert S. 288. Ich verweise hier nur auf die neuere (von der Germanistik noch wenig rezipierte) Literatur zur menippeischen Satire von Jozef Ijsewijn: Neo-Latin Satire: Sermo and Satyra Menippea. In: Robert Ralph Bolgar (Hg.): Classical Influences in European Culture A.D. 1500-1700, Proceedings of an International Conference at King's College, Cambridge, April 1974, Cambridge 1976, S. 41-55; Werner von Koppenfels: Mundus alter et idem. Utopiefiktion und menippeische Satire. In: Poetica 13 (1981), S. 16-66. Helmut Castrop: Die varronische Satire in England 1660-1690. Heidelberg 1983. Die Frage des >Pantagruelismus< behandelt August Buck: François Rabelais. In: Klaus Heitmann (Hg.): Der französische Roman. Bd. I. Stuttgart 1975, S. 63-94. J. M. Moscherosch: Visiones De Don De Quevedo. Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt. Hildesheim, New York 1974 (Nachdruck der Ausgabe Straßburg 1642) >Vorred an den Leserc »bedunken mich under alten und neuen schreiberen in disem handel die künstlichsten zu seyn/ welche durch seltzame verzukungen/ wunderbahrliche erscheinungen und träume der leuthe fehl und mängel der masen zierlich-bossirlich entdäken/ daß sie dem leser zugleich ein ergötzung/ und kluge lehr zur besserung seyn kännen. in welcher art der Erasmus/ Barklaius/ Heynsius/ Kunäus/ und andere scharff-sinnige manner/ auch bey den gelehrtesten/ nicht weniger lob und preuß/ als durch andere jhre biicher/ erlanget [...]«

Mehr als nur Übersetzer: Georg Friedrich Messerschmid (ca. 1595-1635)

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2. Die Übersetzung einer Aphorismensammlung, die ein italienischer Ordensgeistlicher (Sebastiano Querini oder Quirini) aus Tacitus' Annalen zusammengetragen hatte:19 Insigniores Aphorismi: Erlesene Kriegs und Regenten Regulen. Auß Cornelio Tacito, Historicum Principe [...] Durch Quirinum, Ertzbischofen zu Nixia und Paris Italienisch: Jetzo aber/ In hoch Teutschem vorgestellt/ Durch Georgium Fridericum Messerschmid. Not. Caes. Pubi. Gedruckt zu Heylbronn/ bey Christoff Krausen. Anno 1633. Wie der Titel der Übersetzung und der italienische Originaltitel erweisen, ist die Schrift als ein Beitrag zum europäischen Tacitismus gedacht, erschien allerdings zu einem Zeitpunkt, zu dem diese den frühen Absolutismus kennzeichnende historisch-politische Bewegung ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte.20 Wie auch in anderen Aphorismen-Sammlungen dieses Zeitabschnitts wird der pointierten Form des Aphorismus durch hinzugefügte Beschreibungen und Kommentare die Schärfe genommen.21 3. Die Übersetzung eines auch sonst häufig ausgeschriebenen Kompendiums des Spaniers Antonio de Torquemada, das in sechs Kapiteln in Dialogform Themen der Naturlehre, der Moralphilosophie und der Geographie nordischer Länder behandelte, ohne daß die Auswahl und der Zusammenhang dieser Themen erklärt würde: Historischer Blumengarten. Gesprächs weyse zugerüst/und in Sechs unterschiedliche Theyler/ab- und eingetheylet. Darinnen werden Materien der Humanitet, Philosophy, Theology, Cosmography, und Geography, neben mehr anderen vielen fürwitzigen und anmutigen sachen/ verhandelt. Erstlichen durch Herrn Antoni de Torquemada Hispanisch beschrieben/ nachgehendt von Herrn Coelio Malaspina Wälsch: So dann jetzo Hochteutsch gemacht/ durch Georg Friderich Messerschmiden. Gedruckt zu Straßburg bey Johann Carolo/1626.

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20

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Martin Bircher Abt. Α., Bd. 4, S. 114-115, Nr. 3252. Ich benutzte ein Exemplar der Stadtbibliothek Ulm, van Gemert (wie Anm. 1, S. 296) das Exemplar der HAB Wolfenbuttel. Eine konzise Zusammenfassung der Bewegung bei Wilhelm Kühlmann: Geschichte als Gegenwart. Formen der politischen Reflexion im deutschen Tacitismus des 17. Jahrhunderts. In: Respublica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Vorträge des 5. Jahrestreffens des Internationalen Arbeitskreises für Barockliteratur. Hgg. von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann. Bd. I. Wiesbaden 1987, S. 325-348; hier zu Messerschmid S. 346; s. in diesem Band Nr. 3 ! Man vergleiche wie Theodor Verweyen: Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattungsform und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert. Bad Homburg v.d.H. u.a. 1970, die Entwicklung der Gattung gegen die Jahrhundertmitte skizziert. Ich habe in: Moral und Satire. Konturen oberrheinischer Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit, Bd. 7), S. 1-29 vergleichbare Feststellungen für die Apophthegmensammlung >Exilium melancholiaeSimplicissimus TeutschKriegsbuch< Georg Friedrichs vgl. Werner Hahlweg: Griechisches, römisches und byzantinisches Erbe in den hinterlassenen Schriften des Markgrafen Georg Friedrich von Baden. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 98 (1950), S. 38-114. Das Studium Georg Friedrichs von Baden-Durlach in Padua 1590 und seines Sohnes Karl in Padua 1621 belegt Gustav Knod: Oberrheinische Studenten in Padua. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. XV (1900), S. 225. Die Publikationsdaten nach der gedrängten Darstellung von Emilio Bonfatti: Verhaltenslehrbücher und Verhaltensideale. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 3: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock 1572-1740. Reinbek 1985, S. 74-87.

Mehr als nur Übersetzer: Georg Friedrich Messerschmid (ca.

1595-1635)

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gewählt und als > Administrator zunächst eingesetzt worden war, zum Vorsteher der Stadt- und Amtsschreiberei eines dieser Landämter, in Ettenheim, rechts des Rheins, bestimmt.27 Mit den Worten des Sohnes: wegen von E. F. G. Hochgeehrten und nunmehr seelig abgeleibten Fürst Vattem/ dem auch Durchleuchtigsten Hochgebornen Fürsten und Herrn/ Herrn Johann Georgen Marggrafen zu Brandenburg [...] Auch gewesten Postuliertem Administratorn, hoher Stiffts Straßburg/ etc. meinem noch lebendem altem Vattern/ Paulo Messerschmiden/ Not. Pubi, erwiesener hoher unnd Fürstlicher vieljähriger Milten und Gnaden. Sintemaln höchstgedachte I. F. Gn. selbigen nit allein à consiliis gebraucht: sondern auch zu dem Syndicat der Stadt/ und Amptschreiberey Ettenheim/ Bißthumbs Straßburg/ gnädig gesetzt und promoviret, und allweilen Fürstliche geliebet/ und besonders solches seiner auffrichtig-Stand-hafftig- und Redligkeit wegen. Dann/ als in Anno 1603. bey unglückhafftig geführtem Bischofflichem Krieg/ vielhöchstgedachter Ihre F.Gn. durch lang gepflogene Unterhandlung/ das gedachte Bißthumb quittiret/ und an das Hauß Lottringen erwachsen/ und also die Evangelische Dienere/ welche sich der Römisch Catholischen Religion nit nahen oder bequemen wollen/ Repuls und Urlaub bekommen/ warunter dann gedachter mein lieber Vatter/ sonderlich deren einer gewesen wiewoln jhme hart zugesetzt worden/ vermeinend/jhne deß ansehentlichen Dienstes und respective Verdienstes wegen/ abfällig zu machen/ da hat er jhme erwehlet/ lieber mit dem Volck Gottes Ungemach zu leiden [...] und also sedem zu mutirn [...].

Johann Georg von Brandenburg habe dem Vater ein Angebot mit den Worten gemacht: Herr Stattschreiber wolt jhr mit Uns in die Chur-Brandenburg ziehen/jhr solt wol versorget werden/ etc. Er hierüber geantwortet/ gnädigster Fürst und Herr/ etc. thue mich dessen unterthänig bedancken/ meine Gelegenheit aber ist für dißmal nicht mit Weib und unerzogenen kleinen Kinderlein/ sich vom Vatterland und der Freundschafft zubegeben/ etc.

Demnach ist Paul Messerschmid nach rund einem Jahrzehnt von Ettenheim in sein »Vaterland« zurückgekehrt. Das kann nur das lutherische Straßburg sein. Ob er aber nun nach seiner Entlassung aus brandenburgischen Diensten Stadtschreiber in Straßburg geworden ist, wie van Gemert annimmt, ist eher zu verneinen. Die wörtlich wiedergegebene Anrede »Herr Stattschreiber« wird sich eher auf seine Stellung in Ettenheim beziehen. Auch müßte Paul Messerschmid in der vollständig zusammengestellten Reihe der Straßburger Stadtschreiber zu finden sein, wenn er dieses wichtige politische Amt innegehabt hätte. Er ist es nicht.28 Immerhin muß Paul Messerschmid zumindest durch sein Amt in Ettenheim Einkünfte bezogen haben, die es ihm erlaubt hätten, dem Sohn (die Zahl seiner Kinder ist unbekannt) eine solide Ausbildung zu geben. Doch hier

27

28

Die Ereignisse des Bischofskriegs nach Rodolphe Reuss: Histoire de Strasbourg depuis ses origines jusqu'à nos jours. Paris 1922, S. 298ff. Vgl. auch ADB Bd. 10, S. 175 (Johann Georg, Markgraf von Brandenburg). Einen Eindruck von den Verwaltungsinstanzen im bischöflich Straßburgischen Amt Ettenheim gibt Johann Baptist Ferdinand: Streifzug durch die Geschichte Ettenheims. In: Die Ottenau 24 (1937), S. 1-37. Nach François-Joseph Fuchs: Les critères du choix des sécretaires de la ville de Strasbourg au XVIe siècle. In: Horizons européens de la Réforme en Alsace. Mélanges offerts à Jacques Rott, hrsg. von Marijn de Kroon und Marc Lienhard, Strasbourg 1980, S. 14-15, war Joseph Junt von 1593 bis 1613 Ratschreiber der Stadt.

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stößt man auf eine schwer verständliche Lücke in den biographischen Daten Georg Friedrich Messerschmids. Bei der Suche in den Matrikeln deutscher und italienischer Universitäten konnte kein Eintrag gefunden werden.29 Das ist umso erstaunlicher, als die Funktion als Kanzlist in Durlach und die spätere Tätigkeit als kaiserlich bestallter Notar in Heilbronn doch wohl eine juristische Fachbildung voraussetzen und sich auch sonst Hinweise auf eine akademische Bildung Messerschmids finden. Der gewichtigste wohl im ersten Teil des italienisch-deutschen Wörterbuchs: Ihm sind gleich fünf Geleitgedichte von Persönlichkeiten aus dem Straßburger Akademiemilieu beigegeben, solche der Professoren Caspar Brülow (gest. 1627) und Johannes Paul Crusius (gest. 1629; Crusius bezeichnet Messerschmid als »consobrinus«, als Geschwisterkind), von Caspar Simon (gest. 1647)30 und dem Poeten Samuel Gloner (gest. 1640). Dazu kommt ein italienisches Sonett eines anonymen Beiträgers. Nimmt man hinzu, daß Messerschmid in den Insigniores aphorismi davon spricht, daß er sich »von jugend auff/ deß Studij Historico-politici, gern beflissen und angenommen«, dann muß man annehmen, daß er, zwischen 1595 und 1600 geboren, etwa ab 1613, zu der Zeit, als Brülow und Crusius an der Straßburger Akademie zu lehren begannen, dort auch studiert und den Grund zu seinen philologischen und juristischen Kenntnissen gelegt hat. Offenbar konnte er so wenig wie sein Vater in Straßburgs Verwaltung Fuß fassen. Das Amt in Durlach dürfte sein erstes gewesen sein. Es war von kurzer Dauer. Am 15./25. April 1622 sah sich Georg Friedrich von Baden-Durlach gezwungen, mit der Übertragung der Regierung an seine Söhne zugleich alle Beamten seines Staates vom Eid und ihren Pflichten zu entbinden. Das dürfte auch das Ende der Tätigkeit Messerschmids in der Karlsburg gewesen sein. Die Widmung des zweiten Teils des Wörterbuchs ist aus Heilbronn mit dem Datum des 24. August (Bartholomä) 1625 datiert. Messerschmid führt darin aus, der Magistrat von Wimpfen habe seinen Eltern »vil Jahr hero Schutz und Schirm gegeben« und ihn selbst in diesen gefährlichen Zeiten aufgenommen. Der Kontakt zum badischen Hof kann zu dieser Zeit nicht mehr sehr intensiv gewesen sein. Messerschmid widmete sein Wörterbuch noch allen drei badischen Markgrafen, obgleich Karl von Baden-Durlach, der Zweitälteste Sohn Georg Friedrichs, schon am 27. Mai des gleichen Jahres gestorben war. Sicher

29

Guillaume van Gemert (wie Anm. 1), S. 270: »Sein Name läßt sich aber in keiner der einschlägigen Matrikeln deutscher und niederländischer Universitäten nachweisen«. Eigene Bemühungen blieben gleichermaßen ohne Ergebnis. Auf italienischen Universitäten kann er wohl nicht gewesen sein, denn einer der Verfasser von Geleitgedichten für die >Insignores aphorismiBlätter zur Stadtgeschichte< der Stadt Bietigheim-Bissingen enthalten in Heft 5 (1986) die Stammtafel der Familie Hornmold. Meine Angaben stützen sich auf diesen familiengeschichtlichen Artikel, auf den mich Archivrat Weckbach vom Stadtarchiv Heilbronn freundlicherweise aufmerksam machte. Ich danke für alle geleistete Hilfe. Ratsprotokoll Heilbronn 64, Bl. 35, Bl. 188, Bl. 253. Ratsprotokoll 66, S. 90.

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(geb. 1605) - noch nicht durch die Notsituation des Krieges verkürzt oder beeinträchtigt war (auch wenn Messerschmids Bildungsgang bislang noch nicht dokumentiert werden kann). Ihr folgt die relativ kurze, vielversprechende Phase am durlachischen Hof, die durch den militärischen Zusammenbruch des Staatswesens um 1622 jäh unterbrochen wurde. Die letzten zehn Jahre in Heilbronn müssen trotz der freilich stets wechselnden Kriegslage zu einer gewissen seßhaften Ruhe geführt haben. Doch ist Messerschmid wahrscheinlich durch eine der um 1635, 1636 in Süddeutschland grassierenden Seuchen im Alter von etwa vierzig Jahren hinweggerafft worden. Die sehr verschiedenen Zwecken verpflichteten literarischen Schriften schreiben sich in den jeweiligen sozialen Horizont dieser drei Phasen ein. Messerschmids Anteil an der Straßburger Satiren- und Narrenliteratur beschränkt sich auf seine Straßburger Zeit, man darf wohl sagen auf die Zeit seiner Verbindung zum Verleger Johann Carolus, dessen Aktivitäten und Verlagsprogramm von der Literaturwissenschaft stärker beachtet werden sollten.

Walter Ernst Schäfer

Nachwirkungen der Satire-Auffassung Johann Fischarts im 17. Jahrhundert

I Die Fischart-Literatur ist ziemlich einhellig der Meinung, die Nachwirkung von Fischarts Schriften nach seinem Tod um 1590 sei schwach und wenig nachhaltig gewesen. Sie sei im Umkreis Straßburgs und am Oberrhein zwar noch in den ersten Dezennien des 17. Jahrhunderts spürbar, verliere sich dann aber. Einzelne seiner Schriften, nicht alle, würden noch in den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts nachgedruckt, verschwänden aber dann vom Buchmarkt. Auch stellte man fest, daß diese späten Drucke nicht mehr seinen Namen oder doch jene bekannten anagrammatischen Kryptonyme tragen, sondern entweder anonym oder unter nicht deutbaren Decknamen erschienen. Man deutete das dahin, daß offenbar selbst sein Name vergessen gewesen sei. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert werde sein Name kaum mehr genannt.1 Das erstaunt angesichts der zahlreichen Auflagen seiner Schriften zu Lebzeiten und der Aufmerksamkeit, die sie gefunden haben. Ich habe den Eindruck, daß dieses Bild sich gründlich verändert, wenn man über das Werk Fischarts hinaus den Blick auf die Geschichte einiger Verlage Straßburgs zwischen dem Todesjahr Fischarts bis etwa 1640 wirft. Aus diesem Grund habe ich meiner Studie zu den Satiren Wolfhart Spangenbergs (1567 - um 1636), abweichend von den Usancen bei solchen Monographien, ein Kapitel zur Verlagsgeschichte vorangestellt.2 Hier in Kürze: Es fällt nicht schwer, nachzuweisen, daß im Programm der Verlage Jobin - für den Fischart arbeitete - und Carolus die satirische Literatur sowohl in Originalwerken wie in Übersetzungen, besonders aus dem Italienischen, auch in oft erwei1

2

Zur Wirkungsgeschichte Fischarts: Hermann August Bob: Johann Fischarts Nachleben in der deutschen Literatur. Diss. Straßburg 1914. Adolf Hauffen: Johann Fischart. Ein Literaturbild aus der Gegenreformation. 1. Bd. Berlin 1921, S. 93 (»von einer lebendigen fruchtbaren Nachwirkung kann keine Rede sein.«). Erich Kleinschmidt: Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Köln, Wien 1982, S. 313-314 spricht von einer »Straßburger Fischart-Pflege bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts«. Wilhelm Kühlmann: Johann Fischart. In: Deutsche Dichter der Frühen Neuzeit (1450-1600). Ihr Leben und Werk. Hg. von Stephan Füssel. Berlin 1993, S. 589-612, hier S. 603, S. 612, Anm. 57. Walter Emst Schäfer: Die satirischen Schriften Wolfhart Spangenbergs. Tübingen 1998 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Bd. 94), S. 10-12. Walter Ernst Schäfer: Die satirischen Schriften Wolfhart Spangenbergs (wie Anm. 1), S. 4 - 1 4 .

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terten Neuauflagen einen beträchtlichen Anteil hatte und daß die bei ihnen erschienenen Satiren in vielfältiger Weise satirische Techniken, Stillagen, Motive Fischarts übernahmen und umgestalteten. Diese Buchproduktion war von einer kontinuierlichen Verlagsgeschichte getragen. Der Sohn von Bernhard Jobin, Tobias Jobin, übernahm nach dessen Tod 1593 den Verlag und führte ihn bis 1604 weiter.3 In diesem Jahr kaufte Johann Carolus Verlag und Druckerei Jobins Erben ab und betrieb überaus erfolgreich die Verlagsgeschäfte bis zu seinem Tod 1634.4 An seine Stelle trat der Sohn Moritz Carolus, von 1634 bis 1640 tätig.5 Die Linie läßt sich noch weiter ziehen. Es war der Verleger Johann Philipp Mülbe, der, von 1637 bis 1652 tätig, mit den Gesichten Moscheroschs (1. Aufl. 1640) und der Klag von der Panonyme Flöhe Rompiers von Löwenhalt (1640) dieses Verlagsprogramm wieder aufnahm. 6 Unter den genannten fünf Verlegern waren eigenwillige und bedeutende Persönlichkeiten. Bernhard Jobin trat in Vorworten und Widmungszuschriften in den von ihm verlegten Schriften hervor. Johann Carolus begründete um 1609 die erste Zeitung in deutscher Sprache, die Relation, und wandte sich gleichfalls in Vorworten und Widmungen an sein Publikum. Der Traditionszusammenhang, auf den ich hinweisen möchte, wurde aber nun nicht allein durch die Erbfolge im Jobinschen Verlag und dessen Kauf durch Carolus begründet, wohl mehr noch dadurch, daß Verlagsmitarbeiter, die im freundschaftlichen oder gar wie Fischart im verwandtschaftlichen Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber standen, auf die Wahrung der eingespielten Verlagsproduktion und deren Anpassung an die Marktverhältnisse bedacht waren. Hier ist an erster Stelle eben Wolfhart Spangenberg zu nennen. Er stand noch Tobias Jobin, dem Sohn von Fischarts Verleger, nahe und verstand sich in gewissem Maß als Nachfolger Fischarts. Dies zeigen das von ihm gewählte Pseudonym Lycosthenes Psellionoros, das dem Fischartischen Decknamen Huldrich Elloposcleros nachgebildet ist, mehr aber noch Spangenbergs Überarbeitung und Erweiterung von Fischarts Flöh Haz in der Ausgabe von 1610 und seine zahlreichen Anleihen von Themen, Motiven, Stilfiguren Fischarts in seinem GansKönig (1611) und EselKönig (1625), die bei Johann Carolus erschienen. Die charakteristischen Stilmerkmale Fischarts, die wuchernde Reihenbildung, das Spiel mit Lautmalereien und 3

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Die umfängliche Literatur zum Verlag Jobin (Tobias und Bernhard) jetzt zusammengefaßt von François Joseph Fuchs. In: Nouveau Dictionnaire de Biographie Alsacienne Nr. 19, S. 1806-1807. Jean-Pierre Kintz: J. Carolus. In: Nouveau Dictionnaire de Biographie Alsacienne Nr. 6, S. 461. François Ritter: Histoire de l'imprimerie alsacienne aux XVe et XVIe siècles. Strasbourg 1955, S. 302, 485. Johann Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Wiesbaden 1963, S. 424, Nr. 70. Die ausführlichsten Informationen zu Mülbe (1608-1675) bei Arthur Bechtold: Kritisches Verzeichnis der Schriften Johann Michael Moscheroschs. München 1922, S. 10-11.

Nachwirkungen

der Satire-Auffassung

Johann Fischarts im 17. Jahrhundert

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Assonanzen, die durch Paronomasien bewirkten semantischen Verwirrspiele kehren bei Spangenberg, der musikalisch begabt war, wieder. 7 Auch Georg Friedrich Messerschmid (um 1595-1635) beherrschte diese stilistischen Techniken und setzte sie in seinen Übersetzungen italienischer Satiren für Johann Carolus wie des Antonio Maria Spelta La Saggia Pazzia (1615), des Adriano Banchieri La nobilitò dell'asino Attabalippa dal Peru (1617) und des Tomaso Garzoni L'Hospidale de'pazzi incurabili (1618) ein. Auch Messerschmid, obgleich er aus einer Straßburger Familie stammte, fand wie Spangenberg hier kein Amt. Doch stand er mit Johann Carolus, für den er arbeitete, bis zu seinem Weggang nach Heilbronn um 1625 in freundschaftlichem Verkehr.8 In Johann Michael Moscheroschs Bibliothek stand nachweislich der Eulenspiegel Reimenßweis Fischarts, auf den er sich in seinen Gesichten mehrfach bezog. 9 Das Stammbuch Rompiers von Löwenhalt enthält ein großformatiges Wappenblatt Fischarts. 10 In seiner Klag von der Panonyme Flöhe nahm Rompier die Motivik der Flöh Haz wieder auf. 11 Wollte man sich die Mühe machen, die genannten und andere Schriften gründlich und im Zusammenhang durchzugehen, so würde sich herausstellen, daß der Nachklang der Satiren Fischarts am Oberrhein bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges beträchtlicher war, als man bisher angenommen hat. Schon früher, aber auch noch in jüngsten Jahren sind Forschungsbeiträge erschienen, die in Hinsicht auf Moscherosch und Grimmelhausen das

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Biographische Darstellungen zu Spangenberg finden sich bei Gustav Bossert: W. Sp. In: ADB XXXV (1893), S. 48-58; Fritz Behrend: W. Sp. In: Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Literatur Elsaß-Lothringens 30 (1914), S. 136-152. Ders.: Die Spangenbergs. Eine familiengeschichtliche Studie aus dem 16. und 17. Jahrhundert. In: Zeitschr.f. Kirchengeschichte, Bd. 56 (1937), S. 114-123; Hans Müller: Zu den Familien Cyriakus und Wolfhart Sp. In: Südwestdeutsche Blätter für Familien- und Wappenkunde 11 (1961), S. 137-142; Ders.: W. Sp. (gegen 1570-1636). In: Zeitschrift für deutsche Philologie 81 (1962), S. 129-168 und 385^101, sowie in 82 (1963), S. 454-471. Otto Haug (Hg.): Pfarrerbuch Württembergisch Franken, Teil II: Die Kirchen- und Schuldiener, Stuttgart 1981, S. 436-437. Wilhelm Kühlmann: W. Sp. (geb. 1567) in Straßburg und Buchenbach - Nachträgliches zur Werkausgabe. In: Daphnis 16 (1987) S. 387-401: hier in diesem Band abgedruckt unter Nr. 22; Walter Ernst Schäfer: Die satirischen Schriften W. Sp's (wie Anm. 1). Vgl. meine Studie: Mehr als nur Übersetzer: Georg Friedrich Messerschmid (ca. 1595-1635). In: Daphnis 22 (1993), H. 2-3, S. 311-328, hier in diesem Band abgedruckt unter Nr. 23. Das Manuskript des Verkaufskatalogs der Bibliothek Moscheroschs befindet sich in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, HS 3004,1. Adolf Schmidt: Die Bibliothek Moscheroschs. In: Zs.f. Bücherfreunde 2 (1898-99), S. 497-506. Der Eintrag von Fischarts >EulenspiegelTannengesellschaftGeschichtsklitterungPhoenixPractickContinuatio< Absichten und Strategien seiner Satire ausführlich zu erläutern, so muß schon Moscherosch von den Leserreaktionen auf die ersten sieben Gesichte enttäuscht gewesen sein. Der Begriff Satire tat sich noch schwer im populären Bereich, war erklärungsbedürftig. Moscherosch schlägt zunächst das hergebrachte topologische Verfahren ein, die fremdartige Neuigkeit den deutschsprachigen Lesern nahe zu bringen. Er geht auf den Ursprung und die Etymologie der Satire zurück.27 Und er vergleicht mit vorliterarischen Formen des Verspottens und des Fasnachttreibens. Satire hat ihren Ursprung in den Umzügen der Satyren, bei denen sie spöttische Lieder sangen. Das ist die verkürzte Fassung der von Aristoteles, von Horaz, Evanthius und den Kommentaren antiker Satiren entwickelte Theorie vom gemeinsamen Ursprung von Tragödie, Satyrspiel und Satire, wie sie sich in den Renaissancepoetiken, zum Beispiel bei Cäsar Julius Scaliger, 27

So auch in der Regel die Poetiken im Kapitel Satire, z. B. Julius Cäsar Scaliger: Poetices libri Septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Bd. I: Buch 1 und 2. Hg. von Luc Deitz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 186-191.

Nachwirkungen der Satire-Auffassung Johann Fischarts im 17. Jahrhundert

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wiederfindet.28 Bei der etymologischen Erklärung macht es sich Moscherosch einfach. Er übergeht die zahlreichen, von den Poetiken und Satirekommen taren diskutierten Ableitungsversuche, die ihn weit ins Griechische und Lateinische führen würden und setzt einfach: Satyrisch (als Schreibart) komme vom lateinischen >Satyra £ < m & gcfi r i t t e t vnt> g e r i e t ; ¿ > u r d ? D e n V o l b e f c t ? i t e i i i ü á n s f t ó i « : XÜinbolö 2 í l c o f r i b a s X P w f l b i u m e j?on ^ r t f l ^ f r a n s t t e b c l f f c m : ö c s ^ e n n p a t i t a g r a t i >« ¿ U n t > c < r « u e l ó b e r ( l e n £ ò f f d r e f < w i miter/ißrb rnö ierîtcand'/vnô ;fcHuni>pi?tfiajs· a £ ( œ < w f $ mut

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IV. Johann Fischart: Aller Practick Großmutter. Ausgabe 1574. Titel mit Titelholzschnitt.

Nachwirkungen

der Satire-Auffassung

Johann Fischarts

im 17.

Jahrhundert

V. Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Des Abenteuerlichen Simplicissimi Ewig-währender Calender. Erstausgabe Nürnberg 1671. Titelkupfer.

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VI. Johann Michael Moscherosch: Les visiones de Don Francesco de Quevedo Villegas. Oder Wunderbahre Satyrische gesichte. Erstausgabe Straßburg 1640.

Walter Ernst Schäfer

Moscherosch und Grimmelshausen im Urteil Tiecks und Eichendorffs. Ansätze für eine vergleichende Rezeptionsforschung

Die historische Entwicklung wissenschaftlicher Beschäftigung mit Grimmelshausen auf der einen, mit Moscherosch auf der anderen Seite zeigt deutliche Unterschiede, auch in Hinsicht auf die Erforschung der Wirkungsgeschichte beider. Für das Werk Grimmelshausens liegen umfängliche, weitgehend vollständige Bibliographien der Textausgaben, der Bearbeitungen und Adaptionen von Texten, der Besprechungen und literaturhistorischen Würdigungen vor, angefangen von Quirin Moscheroschs Äußerung über den »homo satyricus in folio« Grimmelshausen bis zu Günther Grass' Treffen in Telgte vor Jahren. Auch kann man schon auf ausgearbeitete Darstellungen der Wirkungsgeschichte zurückgreifen,1 große Überraschungen sind da nicht mehr zu erwarten. Anders die Situation bei Moscherosch. Hier fehlen vorerst bibliographische Hilfsmittel, die eine breite Erfassung der Zeugnisse seiner Wirksamkeit erlauben würden. Die umfänglichste Titelaufnahme von kritischen und literaturhistorischen Würdigungen hat Heinrich Dittmar seiner frühen Ausgabe der Gesichte von 1830 beigefügt. Die Personalbibliographie Arthur Bechtolds 1928 schreibt sie für den Zeitraum zwischen dem 17. Jahrhundert und 1830 nur aus und ergänzt sie durch einige wenige Angaben für das 19. Jahrhundert. Wolfgang Harms hat im Nachwort seiner Reclam-Ausgabe 1986 einige Fluchtlinien für die Nachwirkung der Gesichte skizziert.2 Angesichts der sehr viel größeren Wirkungsdichte Moscheroschs - zumindest im 17. und 18. Jahrhundert - ist das nicht mehr als ein erstes Abstecken des Feldes. Hier gibt es gewiß noch Entdeckungen zu machen. - Auf eine solche darf ich verweisen. Der Artikel eines jugoslawi1

Gisela Herbst: Die Entwicklung des Grimmelshausenbildes in der wissenschaftlichen Literatur, Bonn 1957; Italo Michele Battafarano unter Mitarbeit von Hildegard Ellert: GrimmelshausenBibliographie 1666-1972. Werk-Forschung-Wirkungsgeschichte, Neapel 1975; Günther Weydt: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Stuttgart 2 1979; ders.: Zum Problem der Wirkungsgeschichte am Beispiel Grimmelshausens. In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses. Cambridge 1975, Heft 4. Hg. von Leonard Forster und Hans-Gert Roloff. Bern und Frankfurt/M. 1976, S. 36-41 ; Volker Meid: Grimmelshausen. Epoche-WerkWirkung. München 1984 (Arbeitsbücher für den literaturgeschichtlichen Unterricht). (Hier eine kommentierte Bibliographie zur Wirkungsgeschichte, S. 196-203).

2

Wunderliche und wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewald, d.i. Satirische Schriften von Johann Michael Moscherosch. Hg. von Heinrich Dittmar. Berlin 1830 (Bibliothek der wichtigsten deutschen prosaistischen Satiriker und Humoristen des siebzehnten Jahrhunderts, 1); Arthur Bechtold: Kritisches Verzeichnis der Schriften Johann Michael Moscheroschs. München 1922; Johann Michael Moscherosch: Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt. Hg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1986 (RUB Nr. 1871).

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sehen Germanisten, Strahinja Kosticá, im Jahresbericht der Stadt Sindelfingen 1969 ist in der deutschen Germanistik unbeachtet geblieben. Er berichtet von dem ungewöhnlichen Fall eines Soldaten im Heer Maria Theresias, der 1757 in preußische Gefangenschaft kam und im Lager in Frankfurt/Oder über die Gesichte Moscheroschs geriet. Nach der Rückkehr nach Slawonien, dem nordöstlichen Teil von Kroatien, seiner Heimat, begann er, in eigenen Schriften die Struktur der Traumgesichte nachzuahmen. So entstand die in Serbokroatien noch lange nachwirkende Schrift Satir (1762) von Matija Antun Reljkovicá (Matthias Anton Relkovic von Ehrendorf, 1732-1798).3 Von der frühen Ausstrahlung Moscheroschs auf die Bildungsschichten Dänemarks wußte man bislang schon, von einer Wirkung in den Südosten des Reiches war bisher nichts bekannt. Doch auch im nordischen Raum sind nicht alle Einwirkungen Moscheroschs erfaßt. Schon 1968 verwies Bernt Olsson auf die Übernahme von Motiven und Versen Moscheroschs in Georg Stiernhielms Epos Herkules (1658).4 Bei solch ungleicher Ausgangslage scheint es verfrüht, an einen Vergleich der Wirkungsgeschichte Moscheroschs und Grimmelshausens zu denken. In mancher Hinsicht läßt sich ihre Wirkung nicht vergleichen. Moscherosch war im 18. Jahrhundert und bei den Frühromantikern auch als Lyriker gut bekannt. Das belegt die Aufnahme einer Reihe von Gedichten aus den Gesichten in Anthologien von Karl Wilhelm Ramler und Johann Gottfried Herder wie die Übernahme zahlreicher, zum Teil überarbeiteter Gedichte und Texte durch Achim von Arnim und Clemens Brentano in Des Knaben Wunderhom 1805 und in die von Aloys Schreiber herausgegebene Badische Wochenschrift 1806 und 1807.5 Von Grimmelshausen, dessen Name zur Zeit der Romantik noch unbekannt war, konnte allenfalls das Nachtigallenlied aus dem Simplicissimus als lyrisches Gedicht herangezogen werden, das dann auch von Brentano als das eines Unbekannten in das kanonbildende Repertoire der Romantik aufgenommen wurde. Vergleichbar jedoch, so sollte man meinen, müßte die Nachwirkung der Gesichte einer - der Simpliciaden andererseits sein, angesichts ihrer gemeinsamen Herkunft aus dem Komplex des niederen Romans und der Wiederaufnahme von Erzählstrukturen und Motiven Moscheroschs durch Grimmelshausen selbst. Hier soll an einigen wenigen Knotenpunkten in der Frühromantik, bei Ludwig Tieck, und in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei Gervinus und Eichendorff 3

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Strahinja Kosticá: Aus der Geschichte der deutsch-südslawischen kulturellen Beziehungen. In: Jahresbericht der Stadt Sindelfingen, Sindelfingen 1969, S. 514-518. Bernt Olsson: Stierhielm och Moscherosch. Med anledning av ett diktfynd. In: Särtryck ur Svensk Litteraturtidskrifft 2 (1968), S. 3 9 ^ 8 . Vgl. Heinrich Dittmar (Hg.): Wunderliche [...] Gesichte (wie Anm. 2), S. LXVIII; Heinz Rölleke: Neuentdeckte Beiträge Clemens Brentanos zur Badischen Wochenschrift in den Jahren 1806 und 1807. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 241-346 (mit einem minutiösen Nachweis der von Brentano und Arnim aus Moscherosch übernommenen Texte, ihrer Praktiken der Bearbeitung und dem Abdruck einer Würdigung Moscheroschs durch Brentano); Volkmar Braunbehrens: Nationalbildung und Nationalliteratur. Zur Rezeption der Literatur des 17. Jahrhunderts von Gottsched bis Gervinus. Berlin 1974, S. 56ff.

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aufgezeigt werden, daß die Wirkung beider von der Mitte des 19. Jahrhunderts ab in völlig verschiedenartigen Bahnen verlief, weil ihre Hauptschriften in verschiedene Traditionszusammenhänge eingerückt wurden. Das dürfte als Arbeitshypothese für eine künftige vergleichende Wirkungsforschung gelten. Daß mit den Romantikern eine völlig neue Ära der Rezeption barocker Literatur einsetzte, zeigt sich unter anderem darin, daß sich Tieck wie Brentano und Arnim vom Urteil der kritischen Autoritäten des 17. und 18. Jahrhunderts über Moscherosch völlig frei machten, ja, diese Urteile wahrscheinlich nicht kannten. Christian Thomasius zum Beispiel hatte in seinen Monatsgesprächen mit den Geschmackskriterien der galanten Epoche Moscheroschs Gesichte abgewertet:6 In Philanders Traum=gesichten ist eine gezwungene invention, die den Leser gleich verdrießlich macht. So sind auch die Laster gar zu plump taxiret/ weil er denen Leuten ganz trocken und derb und mit einem ernsthaften Humeur die Wahrheit sagt/ da doch vil mehr ein Satyricus mit Lustigkeit und en raillant die Laster antasten sol.

Die scherzende Satire in der Art Boileaus war zu dieser Zeit gefragt. Karl Wilhelm Flögel in seiner Geschichte der komischen Literatur hatte die Gesichte zwar ihrer »körnigten« Sprache wegen gelobt, aber doch auch Einschränkungen gemacht, weil Moscherosch »hier und da Collectaneen-Gelehrsamkeit anbringt, wo sie nicht taugte«.7 Was die Forschung zur Nachwirkung der Literatur des 17. Jahrhunderts generell feststellt, daß nämlich die Frühaufklärung von der Barockliteratur abrückt und die im 18. Jahrhundert gültigen ethischen und ästhetischen Wertungskriterien die Erinnerung an sie verdämmern lassen, gilt, wenn auch, wie mir scheint, in minderem Maß als etwa für die Lyrik des 17. Jahrhunderts, für die Gesichte Moscheroschs. Ludwig Tieck in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts, Clemens Brentano und Achim von Arnim um 1805, in ihrem Gefolge Jacob Grimm einige wenige Jahre später, entdeckten die Gesichte in den Bibliotheken von Berlin, Jena, Heidelberg und Kassel völlig neu und schrieben sie, sprachlich geglättet und in altdeutscher Manier überarbeitet, in ihren eigenen Schriften aus. Arnim fügte ausgedehnte Passagen aus Moscheroschs letztem Gesicht Soldaten-Leben in die Novellensammlung Der Wintergarten (1809) ein und aktualisierte diese Schilderung von Kriegsgreueln, indem er sie innerhalb des Erzählrahmens von einem Invaliden der Napoleonischen Kriege erzählen ließ, der die versammelte Gesprächsgesellschaft vor Illusionen und falscher Kriegsbegeisterung warnte.8 Hier bei Arnim 6

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Christian Thomasius: Freymüthige lustige und ernsthafte, jedoch Vernunfft = und gesetzmäßige Gedanken oder Monatsgespräche. Bd. 1. Halle 1690 (Nachdr. Frankfurt/M. 1972), S. 177. Karl Friedrich Flögel: Geschichte der komischen Literatur. Bd. III. Liegnitz und Leipzig 1784, S. 417. Achim von Arnim: Sämtliche Romane und Erzählungen. Auf Grund der Erstdrucke hg. von Walther Migge. 2. Bd. Darmstadt 1963, S. 215-239, im vierten Winterabend unter dem Titel: Der Krieg. Über die Erzählabsichten Arnims und die Reaktionen Brentanos s. Wulf Segebrecht: Die Thematik des Krieges in Achim von Arnims Wintergarten. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 45 (1985), S. 310-316.

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- wie auch bei Brentano - zeigt sich hinter der Entdeckerfreude noch wenig Interesse an der Eigengesetzlichkeit historischer Zeiträume. Jacob Grimm gar verwandelte eine politische Parabel Moscheroschs, die am Ende der Gesichte auf die Zukunft der Ständegesellschaft im Deutschen Reich weisen sollte - auf die ihn offenbar Brentano aufmerksam gemacht hatte - , in ein altdeutsches Märchen, abgehoben von jedem Zeitbezug. 9 Anders - und wie ich meine sensibler für die Intentionen Moscheroschs und Grimmelshausens in ihrem historischen Raum - Ludwig Tieck in seiner frühen Prosaskizze Ein Tagebuch von 1798, aus der Reihe der StraußfederErzählungen. 10 Die kleine Schrift knüpft im Titel und mit den ersten Sätzen ausdrücklich an Gestalt und Funktion pietistischer Tagebücher an:" Darum halten sich auch die Herrnhuter so gern Tagebücher, weil ihnen bequem fallt, sich beständig beobachten zu können; ich habe keinen schlechteren oder besseren Grund dazu, das meinige anzufangen. In meiner Kindheit wurde ich schon dazu angeführt, um mich in der Selbsterkenntniß zu üben.

Das Schreiben des Tagebuchschreibers dient der Selbsterkenntnis, dem >nosce te ipsumc, wie wir es von Moscherosch, Grimmelshausen und ihrem religiösen Umkreis, der Reformorthodoxie in Straßburg und einem von Augustinus geprägten Katholizismus bei Grimmelshausen kennen.12 Aber nun nicht wie bei Moscherosch und Grimmelshausen eine Selbsterkenntnis, die zur demütigen Einsicht in die Stellung des Menschen als Gattungswesen im Kosmos, in der gottgewollten Ordnung der geschaffenen Welt führt, als, bei Tieck, Selbsterkenntnis als Bewußtwerdung des Individuums in seiner imaginativen Freiheit und Verfügungsmacht, als Bewußtwerdung des schreibenden, imaginierenden Subjekts. Das Tagebuch Tiecks führt mit launigem Witz und zur nicht endenden Verblüffung des Lesers verschiedenartigste Elemente aus dem Leben des fiktiven Tagebuchschreibers zusammen: Erzählungen von sentimentalen Liebesbegegnungen wechseln mit hypochondrischen Selbstreflexionen, Notizen über Lektüreerfahrungen mit Schilderungen von Visionen in halbwachem 9

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Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. 1. Bd. Nach der zweiten und verbesserten Auflage von 1819 hg. von Heinz Rölleke. Köln 2 1984, S. 93: »Von dem Mäuschen, Vögelchen und der Bratwurst«. Zum Abdruck dieser »Fabel« durch Brentano in der Badischen Wochenschrift s. Heinz Rölleke: Neuentdeckte Beiträge (wie Anm. 5), S. 281-284. Nach Rölleke, S. 286, wurden die Brüder Grimm durch Brentano auf die Erzählung Moscheroschs aufmerksam. Sie übernahmen die von Brentano vorgenommenen Textänderungen zum großen Teil, obgleich ihnen auch der Originaltext Moscheroschs bekannt war. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Knut Kiesant: Zur Rezeption der Literatur des 17. Jahrhunderts durch die Romantik. In: Weimarer Beiträge 26 (1980), H. 12, S. 42, indem er feststellt, daß Tieck genauer als die beiden Schlegel die historische Funktion der Literatur des 17. Jahrhunderts zu erfassen imstande war. Ludwig Tiecks Schriften. Hg. von Georg Reimer. Bd. 15. Berlin 1829 (fotomech. Nachdruck Berlin 1966), S. 293. Vor allem Dieter Breuer: Grimmelshausens Simplicianische Frömmigkeit: Zum Augustinismus des 17. Jahrhunderts. In: Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Hg. von Dieter Breuer. Amsterdam 1984, S. 213-252, weist überzeugend ideelle Rückgriffe auf Augustinus nach.

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Zustand, die sich auf Moscherosch zurückbeziehen lassen. In diesem Panorama der Erlebniswelt eines sensiblen, sich ständig selbst über die Schulter sehenden Geistes werden nun beide, Moscherosch und Grimmelshausen, an verschiedener Stelle und in verschiedenerweise eingebracht. Der Tagebuchschreiber hat das Bedürfnis, auch die »Schilderung« eines Schriftstellers vorzubringen:13 Ich will daher versuchen, einen Schriftsteller zu schildern, den ich gern und viel lese [...] Es ist kein anderer, als Hans von Moscherosch, der unter dem angenommenen Namen Philander von Sittewalt gegen das Ende des dreißigährigen Krieges zwei Theile Gesichte herausgab, eine Nachahmung der Suennas des Spanischen Quevedo; dieser Moscherosch war zugleich ein Mitglied der fruchtbringenden Gesellschaft, in der er den Beinamen des Träumenden führte.

Diesem nüchternen bibliographischen Eintrag folgte ein einfühlsames Porträt Moscheroschs und schließlich eine Leseprobe aus den Gesichten, aus jenem Teil von A la Mode-kehrauß, wo erzählt wird, wie ein junger Prinz von seinem noch regierenden Vater in die weite Welt entsandt wird, um mit seinem Hofmeister als Führer den größten Narren dieser Erde zu suchen, dem er einen goldenen Apfel überreichen soll. Bei Moscherosch diente dieser Erzählrahmen dazu, Begegnungen mit fragwürdigen Repräsentanten absolutistischer Herrschaftsformen in Szene zu setzen. Es entstand bei ihm eine Revue fürstlicher Narren, sozusagen ein >heroisches< Narrenspital. Tieck übernimmt für das Tagebuch diese Struktur, entwickelt sie weiter. Er läßt den Tagebuchschreiber mit einem Begleiter, jetzt einem Maler, auf Reisen gehen. Ein verstorbener reicher Onkel hat in seinem Testament verfügt, daß er, der Schreiber, durch die Welt ziehen, die drei größten Narren suchen und ihre Portraits zu Hause, im Ahnensaal, ausstellen lassen soll. Hier nahm Tieck ein zusätzliches Element auf, das er bei Christian Weise, in dessen Die drey ärgsten Ertznarren der gantzen Welt (1672) fand.14 Er ließ die Suche nach dem größten Narren auf den Erzähler selbst, den Tagebuchschreiber, zulaufen. Dessen Portrait wird am Ende am heimatlichen Herd zu sehen sein. Die satirische Sicht nach außen verkehrt sich, schlägt auf das schreibende Subjekt selbst um. Die romantische Ironie, die Relativierung von Wertungen, kündigt sich an. Tiecks Tagebuch steht zeitlich am Ende der ansonsten weitgehend von französischen Vorlagen inspirierten Erzählungen der Straußfedern-Serie. Sie entspricht schon den eigenständigen erzählerischen Intentionen Tiecks.15 13 14

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Ludwig Tiecks Schriften (wie Anm. 11), S. 304. Christian Weise: Die drey ärgsten Ertz-Narren In der gantzen Welt, o. O. 1672 (überarbeitet, Leipzig 1673). Hg. von W. Braune. Halle 1878. Achim von Arnim hat nach Tieck dieses Erzählmotiv gleichfalls in den >Wintergarten< übernommen (Sämtliche Romane und Erzählungen [wie Anm. 8] 2. Bd., S. 326-344: »Die drei Erznarren«), ein Indiz mehr dafür, in welchem Maß Arnim und Brentano (vgl. Heinz Rölleke: Neuentdeckte Beiträge [wie Anm. 5], S. 277-278) bei ihrem Aufarbeiten älterer Literatur von Tieck abhängig waren. Ernst Ribbat: Ludwig Tieck. Studien zur Konzeption und Praxis romantischer Poesie, Kronberg 1978, legt in seiner Interpretation der Genesis der »Straußfeder«-Erzählungen (Kap. 2: >Die Krise literarischer AufklärungGeschichtklitterungEhezuchtbüchlein< und >GeschichtklitterungTannengesellschaftPatientia< in Johann Michael Moscheroschs Patientia politica et Christiana (1627-1662). In: Simpliciana 14 (1992), S. 145-162; Alberta Bresci: I Gesichte Philanders von Sittewalt di Johann Michael Moscherosch (1601-1669): tra romanzo picaresco e prosa satirico-morale. Diss, masch. Florenz 1995/96; Kenneth Graham Knight: Johann Michael Moscherosch. Satiriker und Moralist im 17. Jahrhundert. Stuttgart 2000; - Johann Michael Moscherosch: Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt. Ausgewählt und hg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1986 (Reclams UB 1871). Zu Nr. 15 (Komplex >Satire