Leitmedien: Konzepte - Relevanz - Geschichte, Band 2 [1. Aufl.] 9783839410295

Der Begriff des »Leitmediums« steht aktuell zur Disposition. Gibt es noch Leitmedien? Erregte früher meist der angenomme

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Leitmedien: Konzepte - Relevanz - Geschichte, Band 2 [1. Aufl.]
 9783839410295

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung zum zweiten Band
Leitmedien und andere Kandidaten für kommunikationswissenschaftliche Prämierungsanalyse
Form als Leitmedium oder Die Ordnung nach dem Verschwinden der Mediendispositive
Die Macht des Fernsehens – Leit- und/oder Dominanzmedium?
Von ‚evolutionary universals‘ zu ‚Leitmedien‘ – Theoriehintergründe und Begriffsklärung
„why the medium is socially the message“ – Marshall McLuhan und die Theologie des Mediums
Leitmedien in der mediologischen Analyse
Mediale und kulturelle Leitfunktionen. Zwischen Substanz, Form und Struktur der Kommunikation
Vom Nutzen und Nachteil der Leitmedien für die Medienhistoriographie. Am Beispiel der Fotografie
Die Leitmedien der Geschichtsschreibung
Informationsraum in der Wissenschaftskommunikation
Leitmedium Plastik? Zur Konstruktion und Funktion eines Paradigmas im ästhetischen Diskurs um 1800
Die Störung am Apparat. Vom Telephon zum Handy
Invasion der Einzelhändler. Leitmedien und wie sie zerfallen
Benutzerführung und Technik-Enkulturation. Leitmediale Funktionen von Computerspielen
Social software – ein neues Leitmedium?
Warum Mode (k)ein modernes Leitmedium ist …
Autorinnen und Autoren

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Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hrsg.) Leitmedien

Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Peter Gendolla.

Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hrsg.)

Leitmedien Konzepte – Relevanz – Geschichte, Band 2

Medienumbrüche | Band 32

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © 2009 Cappellmeister, www.cappellmeister.com Lektorat & Satz: Daniel Müller, Annemone Ligensa Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1029-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Daniel Müller/Annemone Ligensa/Peter Gendolla Vorbemerkung zum zweiten Band ..................................................................... 9 Michael Giesecke Leitmedien und andere Kandidaten für kommunikationswissenschaftliche Prämierungsanalyse ...........................11 Rainer Leschke Form als Leitmedium oder Die Ordnung nach dem Verschwinden der Mediendispositive ..........................................................................................31 Helmut Schanze Die Macht des Fernsehens – Leit- und/oder Dominanzmedium? .........53 Andreas Ziemann Von ‚evolutionary universals‘ zu ‚Leitmedien‘ – Theoriehintergründe und Begriffsklärung .....................................................69 Leander Scholz „why the medium is socially the message“ – Marshall McLuhan und die Theologie des Mediums .................................85 Thomas Weber Leitmedien in der mediologischen Analyse ...................................................95 Stefan Kramer Mediale und kulturelle Leitfunktionen. Zwischen Substanz, Form und Struktur der Kommunikation................109 Jens Ruchatz Vom Nutzen und Nachteil der Leitmedien für die Medienhistoriographie. Am Beispiel der Fotografie .................................125 Peter Haber Die Leitmedien der Geschichtsschreibung..................................................147

Jan Hodel Informationsraum in der Wissenschaftskommunikation ........................ 161 Peter Brandes Leitmedium Plastik? Zur Konstruktion und Funktion eines Paradigmas im ästhetischen Diskurs um 1800................................. 177 Christian Kassung Die Störung am Apparat. Vom Telephon zum Handy............................. 201 Klaus Kreimeier Invasion der Einzelhändler. Leitmedien und wie sie zerfallen .............. 217 Britta Neitzel/Rolf F. Nohr/Serjoscha Wiemer Benutzerführung und Technik-Enkulturation. Leitmediale Funktionen von Computerspielen .......................................... 231 Dominika Szope Social software – ein neues Leitmedium?..................................................... 257 Dagmar Venohr Warum Mode (k)ein modernes Leitmedium ist … ................................... 271 Autorinnen und Autoren ................................................................................... 289

Inhaltsübersicht Band I Daniel Müller/Annemone Ligensa/Peter Gendolla Vorwort Daniel Müller/Annemone Ligensa Einleitung Jürgen Wilke Historische und intermediale Entwicklungen von Leitmedien. Journalistische Leitmedien in Konkurrenz zu anderen Henning Groscurth/Gebhard Rusch/Gregor Schwering Leitmedien durch Präsenz. Anmerkungen zur Mediendynamik Otfried Jarren/Martina Vogel Gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Koorientierung. Die Leitmedien der modernen Gesellschaft Benjamin Krämer/Thorsten Schroll/Gregor Daschmann Die Funktion der Koorientierung für den Journalismus Corinna Müller/Harro Segeberg Kino-Öffentlichkeit. Vom Umbruch der Medien zum Umbruch von Medienöffentlichkeiten Jeffrey Wimmer Leitpotential kritischer Gegenöffentlichkeiten. Eine kritische Meta-Analyse bisheriger Forschung Josef Seethaler/Gabriele Melischek Leitmedien als Indikatoren politischer Krisen und Umbrüche. Das Beispiel der Weimarer Republik Lars Rinsdorf Alte und neue Leitmedien aus Publikumssicht

Dominik Becker Dahinter steckt meistens ein kluger Kopf. Mehr und dissonantere Leitmedienlektüre infolge der Bildungsexpansion? Thomas Ernst/Dirk von Gehlen Vom universellen zum vernetzten Intellektuellen. Die Transformation einer politischen Figur im Medienwandel von der Literatur zum Internet Daniela Pscheida Das Internet als Leitmedium der Wissensgesellschaft und dessen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wissenskultur Asko Lehmuskallio Social media und fotografische Praktiken. Eine Analyse der Auswirkung neuer Kommunikationstechnologien auf Schnappschussgewohnheiten Johanna Roering/Anne Ulrich „And Now Here Is What Really Happened.“ CNN und Warblogs als konkurrierende Deutungsinstanzen im Irakkrieg 2003 Katrin Tobies Das Mobiltelefon – Leitmedium moderner Arbeitsnomaden? Holger Gamper „Das Volk folgt. Das sagt ja schon der Name.“ Paradoxe Diskurse um die Werbung als Leitmedium im Liberalismus Autorinnen und Autoren

Daniel Müller/Annemone Ligensa/Peter Gendolla

Vorbemerkung zum zweiten Band Die vorliegende zweibändige Publikation „Leitmedien“ ist aus der Jahrestagung des Forschungskollegs (SFB/FK) 615 „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen am 15./16. November 2007 hervorgegangen. Die Aufteilung auf zwei Bände ist zunächst einmal publikationstechnischen Gründen geschuldet (ein einzelner Band hätte mit deutlich mehr als 600 Seiten ein denkbar unhandliches Format erhalten). Zum Begriff „Leitmedium“ gibt es, wie in der Einleitung im ersten Band ausgeführt wird, zwei recht prononcierte Forschungstraditionen, eine sozialwissenschaftliche und eine kulturwissenschaftliche (ggf. wäre als dritter Zugang noch der medientechnologische zu nennen). Trotzdem gibt es zwischen diesen Positionen oder eher Positions-„Clustern“, die sich aus verschiedenen Disziplinen herausgebildet haben, im Herangehen an den Leitmedien-Begriff erhebliche Schnittmengen. Die Siegener Tagung war daher gezielt so konzipiert, die beiden Richtungen miteinander ins Gespräch zu bringen. Damit war natürlich keine übergreifende Synthese – kein Versuch einer verbindlichen „Klärung“ des Leitmedien-Begriffs – angestrebt. Es ging darum, die verschiedenen Zugangsweisen – einschließlich grundsätzlicher Kritik am Begriff und/oder Konzept „Leitmedium“ – produktiv aufeinander zu beziehen. Aus pragmatischen Gründen hat sich nun die Aufteilung ergeben, dass die ganz oder eher kommunikationswissenschaftlich orientierten Beiträge im ersten, die ganz oder eher medienkulturwissenschaftlich konzipierten im zweiten Band vereint wurden. Es wäre aber sehr bedauerlich, wenn die „Fächerkulturen“ nur jeweils den „eigenen“ Band rezipieren würden, denn es haben sich, wie auch auf der Tagung selbst, neben scharfen Widersprüchen auch viele Berührungspunkte ergeben. Ein Beispiel ist der Ansatz der Hamburger Filmwissenschaftler Corinna Müller und Harro Segeberg: Ihr Konzept der „KinoÖffentlichkeit“ (als Teil einer weiteren „Kulturöffentlichkeit“) ist sicherlich für beide Forschungstraditionen von großem Interesse, aber da der Öffentlichkeitsbegriff auf der Tagung überwiegend von Sozialwissenschaftlern aufgegriffen wurde, befindet sich der Beitrag im ersten Band. Eine zusammenfassende Einführung in alle Beiträge findet sich in der Einleitung im ersten Band.

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Michael Giesecke

Leitmedien und andere Kandidaten für kommunikationswissenschaftliche Prämierungsanalyse Wenn in der Folge von ‚Medien‘ und von ‚Kommunikation‘ gesprochen wird, dann aus einer kommunikationstheoretischen Sicht. Ausgangspunkt ist eine kommunikationswissenschaftliche Medientheorie, die im Einzelnen zu erläutern hier zu weit führen würde. ‚Telephon‘, ‚Buch‘, ‚Stimme‘ usf. sind jedenfalls alltägliche Phänomene, die als solche nicht wissenschaftlich untersucht werden können. Man muss sie theoretisch modellieren, damit sie zum Objekt irgendeiner Wissenschaft gemacht werden können. Hier sind augenblicklich weder eine intersubjektiv stabilisierte Axiomatik noch eigene Methoden in Sicht. Welchem Konzept von Kommunikationswissenschaft man auch immer anhängen mag, in ihrem Kontext werden ‚Medien‘ als Kommunikationsmedien zu beschreiben sein. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht macht es keinen Sinn, von ‚Kommunikationsmedien‘ zu sprechen, ohne zugleich die Kommunikatoren zu bezeichnen, als deren Umwelt diese Medien erscheinen. Das heißt im Übrigen auch, dass es keinen Sinn macht, als Kommunikationswissenschaftler von Kommunikatoren (d.h. Sender/Empfänger/Verteiler) zu sprechen, ohne die vermittelnden Medien im Auge zu haben. Es gibt keine medienfreie Verständigung, weshalb die Rede von mediatisierter Kommunikation entweder tautologisch ist oder aus den Bereich der Kommunikationstheorie hinausführt. Und es macht auch keinen Sinn von Medien – und von Kommunikatoren – zu sprechen, ohne zugleich Information mitzudenken. Die Triade von Medien, Kommunikatoren und Informationen, die sich in den Medien spiegeln und zwischen den Kommunikatoren zirkulieren, bilden die kleinste Untersuchungszelle dieser Disziplin. Aus diesem Grund kann die Rede von ‚Medien‘ kaum mehr als eine Schwerpunktsetzung sein, die Bezeichnung eines Einstiegs in einen triadischen Zusammenhang.1 Ihr zirkulärer Zusammenhang verbietet eine Definition jedes einzelnen Elements ohne Rücksicht auf die anderen. Eine allgemeine Medientheorie im Sinne einer Abstraktion von den verschiedenen Klassen von Kommunikatoren/Informationssystemen kann es für den Kommunikationswissenschaftler nicht geben. Bestenfalls lässt sich für viele Zwecke die Aussage rechtfertigen, dass Medien Informationen – in den Augen und Ohren der Kommunikatoren – konstant halten.

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Luhmann hätte vermutlich von ‚Interdependenzunterbrechern‘ gesprochen.

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Michael Giesecke | Leitmedien und andere Kandidaten für Prämierungsanalyse

Kulturelle Kommunikationssysteme Die Chancen für eine ‚kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung‘, wie sie in den ‚Empfehlungen des Wissenschaftsrats‘ 2007 als eine Alternative skizziert wurden, stehen schlecht. Zusätzlich zu den Schwierigkeiten mit dem Medialitätskonzept treten noch jene mit einem Kulturbegriff auf einem angemessenen Allgemeinheitsniveau. Aber auch in diesem Fall könnte die Beschränkung auf strikt kommunikationstheoretische Überlegungen mit einer dann entsprechend begrenzten Reichweite weiterhelfen. Sie führen selbstredend zu einem kommunikationstheoretischen Kulturbegriff, der gewiss nicht allen Interessen der verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften gerecht werden kann. Der andernorts ausführlicher begründete Vorschlag lautet, Kulturen als ökologisches Netzwerke und Systeme zu modellieren, die durch die Koevolution artverschiedener Elemente, durch begrenzte Ressourcen und durch kybernetische Steuerungsprogramme gekennzeichnet sind.2 Jedes konkrete Medium und jede konkrete Kultur existiert nur als ein Element eines Netzwerkes von vielen artgleichen und artverschiedenen weiteren Medien bzw. Kulturen. Die Identifizierung eines einzelnen Mediums ist eine Abstraktionsleistung, die die Ausblendung realer Vernetzungen erfordert und zugleich deren Kenntnis voraussetzt. Als eine allgemeine Beziehungslehre bietet die Ökologie einen guten Ausgangspunkt für die Untersuchungen nicht nur des Miteinanders sondern auch des Gegeneinanders der Medien und Kulturen im kulturellen Netzwerk. Sie lenkt die Aufmerksamkeit nicht auf das einzelne Medium oder eine isolierte Kultur sondern auf die Vernetzung von Medien und von Kulturen in der ‚Kommunikativen Welt‘. Die sich vielleicht einstellende Assoziation von biologischen Ökosystemen ist durchaus hilfreich. So wie in den Biotopen Pflanzen- und Tierarten um Nahrung, Licht, Wasser etc. rivalisieren, sich Jäger- Beute, Wirt-Parasit und andere Interaktionsbeziehungen mit labilen Gleichgewichten herstellen, im Wechsel der Generation Nischen entstehen, die durch Arten aus anderen Systemen besetzt werden können usf., so befinden sich auch die Medien in den Kulturen im Verdrängungswettbewerb um die Aufmerksamkeit der Menschen, gehen untereinander symbiotische Beziehungen ein, sterben aus und eröffnen damit Chancen für alternative Medien. In kulturvergleichender Hinsicht fällt dabei auf, dass praktisch identische Medien und Kodierungsformen in den unterschiedlichen Kulturen ganz verschiedene Nischen finden und damit auch eine unterschiedliche kulturelle Bedeutung erlangen.

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Vgl. Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft; ders.: Die Entdeckung der kommunikativen Welt.

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Michael Giesecke | Leitmedien und andere Kandidaten für Prämierungsanalyse

Ökologische Modelle bieten sich immer dann an, wenn es um die unterschiedliche Verteilung von begrenzten Ressourcen geht. Die Annahme von begrenzten Ressourcen sollte sich als ein weiteres Axiom in den Kommunikationswissenschaften durchsetzen. Es ist sowohl auf die Kapazitäten der Kommunikatoren (z.B. ‚begrenzte Aufmerksamkeit‘) als auch auf die Informationen, die in Kommunikationssystemen zirkulieren können und ebenso auch auf die Medienvielfalt zu beziehen. Es macht das Auftreten von Leitmedien, Leitkommunikatoren und bevorzugten Informationstypen (z.B. ‚Wissen‘) plausibel. Es orientiert die Forscher darauf, bei der Einführung neuer Medien immer auch nach der Vernichtung und Verdrängung alter Medien bzw. Kommunikatoren und Informationen zu fragen. Der vermutlich bekannteste Vertreter medienökologischer Untersuchungen in diesem Sinne ist Neil Postman.3 Jede Rede von Kommunikationssystemen verlangt die Klärung eines prämierten, katalysatorischen Elements. In der klassischen strukturfunktionalen Systemtheorie übernahm die Bestimmung der Funktion des Systems diese Aufgabe. Je nachdem, unter welcher Funktion (Aufgabenstellung, Output für die Umwelt) man soziale Netzwerke betrachtet, bilden sich andere soziale Systeme.4 Dies gilt für Kommunikationssysteme genauso, aber es ist letztlich gleichgültig ob man bei der Systembeschreibung bei den strukturellen oder den funktionalen Merkmalen einsteigt. Je genauer die Medien festgelegt sind, desto weniger Spielraum gibt es für die Kommunikatoren und deren mögliche Aktivitäten. Wollen wir Kulturen als Kommunikationssysteme beschreiben – und nicht nur als soziale Systeme, die per definitionem nur aus sozialen Elementen aufgebaut sind – so haben wir die Wahl, welche Spezie des Biotops wir zum Katalysator machen. Dies können Ameisen, Bakterien, Erdbeeren oder eben Menschen sein. Entsprechend haben wir es mit Ameisenhügeln, als kulturelle Kommunikationssysteme, mit der Kommunikation in Bakterienkulturen usf. zu tun. Und da für die meisten Untersuchungen die Kategorie ‚Mensch‘ zu umfassend ausfällt, wird man sie weiter – z.B. unter Zuhilfenahme soziologische Kenntnisse – differenzieren. Nationalkulturen, Unternehmenskulturen, Vereinskulturen, Jugendkulturen und so fort. Hier zeigt sich, dass auch schon die Rede von bestimmten Kommunikationssystemen das Ergebnis von Prämierungen ist.

3

Vgl. Postman: „Sieben Thesen zur Medientechnologie“; ders.: Das Verschwinden der Kindheit; ders.: Wir amüsieren uns zu Tode; ders.: Das Technopol.

4

Schon Talcott Parsons’ ‚Allgemeines Handlungssystem‘ (general action systems) besaß ‚(Handlungs-)Ziele‘ als Definitionsmerkmal. Vgl. Parsons: The Structure of Social Action.

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Michael Giesecke | Leitmedien und andere Kandidaten für Prämierungsanalyse

Im Vordergrund steht im folgenden die Rolle der Medien in der menschlichen Informationsverarbeitung und Kommunikation in größeren menschlichen Kulturen. Dass die Klärung der konstitutiven Bezugsgrößen in der Fachliteratur häufig unterbleibt und dass überhaupt der Entwicklungsstand der Medientheorie in den Kommunikationswissenschaften so unbefriedigend ist, hängt unter anderem eng mit dem Missverständnis zusammen, diese Disziplin könnte ihren Gegenstand im Alltag unmittelbar finden und benötige hierfür keine spezielle Theorie, sondern nur die alltäglichen Gewissheiten oder das Expertenwissen der Professionals. Natürlich gibt es diese Alltagstheorien, und sie müssen auch von den Kommunikations- und Medienwissenschaften berücksichtigt werden – aber eben als Daten und nicht als Forschungsergebnisse. Für sie ist es eine Aufgabe zu klären, in welchem Sinne z.B. die FAZ ein Kommunikationsmedium ist – und keine Tatsache bzw. Ergebnis. Dies setzt Komplexitätsinduktion, das Auflösen von Wahrscheinlichkeiten in Unwahrscheinliches voraus – und eben dazu dienen Modelle auch. Komplexitätsreduktion, die Sehnsucht des Alltags in der Folge der Aufklärung, kann nur ein zweiter, dann freilich dringlicher Schritt sein.

Leitmedien als prämierte Medien in kulturellen Kommunikationssystemen Die Feststellung von katalysatorischen Elementen und von Leitgrößen, ganz gleich ob in deskriptiver oder normativer Absicht, ist ein Spezialfall von Bewertung, Klasse der Prämierung (im Gegensatz zu Abwertung), Gattung Hierarchisierung. Es werden unter Zugrundelegen von mehr oder – meist – weniger expliziten Maßstäben Rangordnungen zwischen verschiedenen – hoffentlich ähnlichen und deshalb vergleichbaren – Exemplaren festgelegt. Werte sind selbst ein in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung eher unterbelichteter Typus von Information neben Daten und Programmen. Ich will die Unterscheidung hier nicht begründen und mich mit dem Hinweis auf kybernetische Regelkreise begnügen, in denen Daten als In- und Output, Sollwerte als Steuerungsgrößen und Programme als Algorithmen, die steuern, die Basisgrößen bilden. Wichtig ist der Hinweis, weil die Beschäftigung mit Leitmedien als wertebasierte Phänomene auf ein wenig aufgesuchtes Territorium führt. Prämierungen und Hierarchisierungen sind möglich und notwendig, wenn a)

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Alternativen bestehen und

Michael Giesecke | Leitmedien und andere Kandidaten für Prämierungsanalyse

b)

die Kapazitäten von Kommunikatoren/informationsverarbeitenden Systemen nicht ausreichen, um die alternativen Informationen, Medien usf. parallel zu nutzen.

Mit Blick auf die Objekte der Kommunikationswissenschaft können Prämierungen und Rangordnungen nicht nur in Bezug auf Medien sondern auch auf Informationstypen, Kommunikatoren und Kommunikationssysteme und manches andere aufgestellt werden. In der Massenkommunikationswissenschaft im Sinne der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) wird die Prämierung von Informationen seit längerem als Agenda-Setting behandelt. Die Aufmerksamkeit der Kommunikatoren gilt als begrenzt und also muss sie auf bestimmte Informationstypen gelenkt werden. Allerdings bleibt es meist bei der Feststellung der Agenden, die Funktionsweise und Legitimationsgrundlagen der Bewertungsmaßstäbe bleiben untergründig. Da alle Kommunikationsmedien auch als Informationsmedien fungieren und damit die Informationsverarbeitung der Empfänger leiten, kann man mit gutem Grund alle Kommunikationsmedien als Leitmedien bezeichnen. Eine solche Extension des Begriffs ist unfruchtbar. Auch weniger allgemeine funktionalistische Definitionen bringen nichts. Wenn auf einem Podium Fernsehmacher, Zeitungsjournalisten, Internetprogrammierer usf. sitzen, kann man sicher sein, dass jeder dieser Berufsgruppenvertreter das von ihm traktierte Medium zum Leitmedium erklärt und dafür gute Gründe findet. Das kann schon deshalb kaum anders sein, weil dieses Medium ihre Gedanken über die meiste Zeit tatsächlich leitet. Hat man Vertreter von Zeitungen, etwa von Lokalzeitungen, der FAZ und Bild an einem Tisch, werden wir wiederum drei Leitmedien haben. Dazu zwingen schon arbeitsvertraglich festgelegte Loyalitäten. Was sollte man denn von einem Redakteur der Bildzeitung denken, der die FAZ oder das Fernsehen zu seinem Leitmedium erklärt? Die Frage, wer geleitet wird, soll deshalb hier nicht mit einzelnen Personen, Berufsgruppen, Teilöffentlichkeiten usf. beantwortet werden. Obwohl es durchaus Sinn macht, sich mit den Leitmedien von Professionen und Subkulturen zu beschäftigen.5 Vielmehr geht es um größere kulturelle Kommunikationssysteme, in denen tatsächlich Optionen zwischen verschiedenen ‚großen‘ Medien bestehen. Diese großen Systeme haben immer auch Einfluss auf die Werte der Subsysteme, Institutionen, Professionen usw. und deshalb kommt man ohne eine Bestimmung dieses Rahmens nicht ans Ende einer Analyse der 5

Dazu hatte ich in den sieben Jahren der Leitung der Abt. ‚Kommunikationslehre im Gartenbau‘ genug Anlass und Gelegenheit. In den hier auszubildenden Professionen konkurrieren die Pflanzen mit allen anderen Informations- und Kommunikationsmedien.

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Subsysteme. Wer solche ‚grundsätzlichen‘ Ansätze nicht mag, die ‚großen Erzählungen‘ ablehnt und die Kulturgeschichte in Zehn-Jahres-Schritten oder noch kleiner abschreiten will, sollte seine Rede von Leitmedien nicht zum Modell aufblasen. Man sollte schon einige grundverschiedene Kommunikationskulturen kennen, wenn man sich zu kulturellen Leitmedien äußern will. Andererseits können kulturgeschichtliche und kulturvergleichende Analysen vom Konzept der Leitmedien enorm profitieren. Es ermöglicht es nämlich, die Spezifik der Kulturen in der unterschiedlichen Inanspruchnahme der Medien zu suchen. In allen menschlichen Kulturen ist der menschliche Körper ein nicht hintergehbares Informations- und Kommunikationsmedium. Aber daneben haben sich alternative mehr oder weniger technisierte chiro-, typound elektrographische Medien entwickelt. Welche Typologie man hier nutzt, hängt von Untersuchungsabsichten ab und steht somit zur Disposition. Beispielsweise kann man auch Aufführungen, vom Thing und Maskentanz über Theaterformen, Kino bis hin zu Computerspielsessions als Klassifikationsprinzip wählen und damit den performativen Aspekt hervorheben.6 Jedenfalls benötigen wir für weiträumige Kulturvergleiche abstrakte Medienkonzepte. Selbst das von mir lange verwendete Konzept der ‚skriptographischen Medien‘, das für die europäische Kulturgeschichte durchaus fruchtbar ist, erwies sich all zu eng, um die europäische mit der ostasiatischen Kommunikationsgeschichte vergleichen zu können. Hier leistet der Begriff ‚chirographische Medien‘ bessere Dienste, weil die Spezifizierung ‚Hand‘ noch keine Aussage darüber macht, ob mit ihr ‚geschrieben‘ oder ‚gemalt‘ wird – wenn wir es einmal bei der europäischen Begriffsopposition belassen, die einen phonetischen Schriftbegriff zugrunde legt. Diese Opposition ist in Japan und China erst in den letzten Jahrzehnten entstanden. Leitmedien in diesem kulturgeschichtlichen Sinne sind immer kontrafaktisch stabilisiert. Die Kommunikatoren der betreffenden Kulturen halten an dem orientierenden Charakter der Leitmedien auch dann fest, wenn sie in ihrem individuellen Alltag keine tragende Rolle übernehmen. Und selbst im Falle der Enttäuschung von Erwartungen großer Menschengruppen an das Leitmedium, halten diese an der Hierarchie fest. Natürlich nicht beliebig lange. M.a.W., Leitmedien haben den gleichen Status wie Normen in Sozialsystemen, wie sie in der Soziologie schon lange angenommen werden. Positivistische empirische Untersuchungen, die ‚nachweisen‘, dass in einem beliebigen Zeitraum die Mehrheit der Kommunikatoren mehr Zeit für ein beliebiges Medium als für ein anderes, welches bislang als Leitmedium galt, aufgewendet haben, sind aufschlussreich. Aber sie lassen nicht die Schlussfolgerungen zu, das we6

Hier hat Sybille Krämer mit ihren Arbeiten große Verdienste. Vgl. Krämer: Performativität und Medialität.

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niger genutzte Medium sei nun deshalb nicht das Leitmedium in der kulturellen Kommunikationsgemeinschaft. Dies auch deshalb nicht, weil Daten über Verhalten zwar eine steuernde Funktion für die Kommunikatoren besitzen, aber diese sie immer auch noch weiterverarbeiten, in Programme einordnen und bewerten müssen. Nachfolgende Wahrnehmungen und Handlungen sind durch die transformierten Informationen nicht durch die schieren Eingangsdaten determiniert. Kommunikation wird, wie oben schon angesprochen, sowohl durch Daten, die durch Beobachtung zu sammeln sind, als auch durch Normen(Programme) und Werte strukturiert.7

Der selbstreferentielle Charakter der Kommunikation und ihrer Medien Das Bonmot Paul Watzlawicks, dass man nicht nicht kommunizieren könne, dürfte vielen Kommunikationswissenschaftlern gerade recht gekommen sein. Es schmeichelt dem Geltungsbedürfnis, indem es totale Zuständigkeit behauptet. Die Größenphantasien lassen sich allerdings nur aufrechterhalten, wenn man die betroffenen Menschen nicht berücksichtigt – sondern einen Standpunkt außerhalb der Kommunikationsgemeinschaft einnimmt, eine selbstgebastelte etische Definition anlegt und ohne Rücksicht auf die Selbstbeschreibungen der Ortsgesellschaft kodiert. Die kommunizierenden Menschen selbst stehen durchaus vor der Notwenigkeit, mühsam Kommunikationen aufzubauen, zu erhalten und sie auch wieder abzubrechen. Kein Mensch kann immer kommunizieren, wenn irgendwelche potentiellen Kommunikatoren in seiner Nähe sind – und das scheint tatsächlich (fast) immer der Fall zu sein. Selbst die sogenannten einfachen Kulturen, die in überschaubaren Clans leben entwickeln hoch restriktive Normen darüber, wer wann mit wem worüber ins Gespräch kommen darf.8 Die komplexen Verwandtschaftsbeziehungssysteme dienen immer auch der Regulation von Nichtkommunikation. Und diese Regulation hat keine Kultur den einzelnen Individuen bedingungslos überlassen können. Vielmehr legen die Kulturen fest, unter welchen Bedingungen welches Verhalten als Kommunikation zu bezeichnen, wer sich als Kommunikator füh7

Dies steht im Einklang mit der system- und wissenstheoretischen Überzeugung, dass soziales Verhalten durch Erwartungen oder gar, bei N. Luhmann, durch Erwartungserwartungen, gesteuert wird. Von Verhalten auf Erwartungen zu schließen ist zwar unumgänglich aber eben auch unsicher. Vgl. Luhmann: „Normen in soziologischer Perspektive“.

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Ich lasse in dieser Argumentation die nichtmenschlichen Kommunikatoren, die in diesen Kulturen Leitrollen spielen, einmal außer Acht. Vgl. dazu Giesecke: „Die Entdeckung der kommunikativen Welt“.

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len darf und was ein Kommunikationsmedium ist. Eben dadurch werden Individuen und Sachen zu Kommunikationsgemeinschaften. Natürlich gibt es für die Individuen Aushandlungsspielraum, aber die Aushandlung erfolgt vor dem Hintergrund der Normen und die Individuen haben die Kosten für etwaige Verletzungen zu tragen. Akzeptiert man die Beobachtung oder auch das Axiom, dass alle größeren und kleineren Kommunikationssysteme selbst festlegen, ob sie ein solches sind oder nicht, und wann sie kommunizieren, so hat dies auch für die Diskussion um die Leitmedien Konsequenzen. Der Wissenschaftler kann sich dann nicht mit der Beantwortung der Frage begnügen, was für ihn als z.B. Massenkommunikationsforscher ‚Leitmedien‘ sind, sondern er muss fragen, wann die von ihm beobachtete Kommunikationsgemeinschaft sich als eine von Leitmedien bestimmte – und wenn ja, von welchen – erlebt und entsprechend kommuniziert. Sind die Kommunikations- und Medienbegriffe der Wissenschaftler mit jenen der beobachteten Kommunikationsgemeinschaft kompatibel, ‚adäquat‘‚ wie Alfred Schütz formulierte, ‚emisch‘ im Gegensatz zu ‚etisch‘ wie die Ethnologen sagen? Verhalten kann man ohne solche selbstreferentielle Bezüge beobachten, Kommunikation vermutlich nicht. Nun kann man niemanden verwehren als Missionar aufzutreten und anderen eigene Glaubensätze zu predigen, aber zumindest im wissenschaftlichen Kontext sollte es möglich sein, diesen Wechsel wenn nicht der Profession so doch zumindest der Generalperspektive deutlich zu markieren. Kulturelle kommunikative Leitmedien entstehen durch Prämierungen der betreffenden Kommunikationskulturen. Nachdem man einmal um 1500 im deutschsprachigen Raum übereingekommen war, die typographischen Medien als Medien kollektiver Wissensschöpfung, sowie der Verbreitung und Speicherung von Informationen zu begreifen, regierten sie als Leitmedium.9 Dass diese Selbstbeschreibung völlig unwahrscheinlich war und sich gegen vielfältige Alltagserfahrungen immer wieder aufs Neue behaupten muss, braucht kaum hinzugefügt zu werden. Interessanter ist da schon, dass diejenigen, die diese Leitrolle mit allerlei positivistischen Argumenten infrage stellen, gleichzeitig gegen Plagiate in Hausarbeiten, die Akzeptanz von digitalen Medien und performance als Abschlussarbeiten, erst recht natürlich als Dissertationen zu Felde ziehen. Hier wird an der Leitfunktion der Typographie und von ihr abgeleiteter Rechtsvorstellungen, Kodierungstechniken usw. reflexhaft festgehalten. In der Tat scheint es wahrscheinlicher, dass ein Aufsatz in der für das typographische Medium geschaffenen deutschen Standardsprache von der Politik eher (wieder) als Bedingung für die Be9

Die empirischen Belege für diese Bedeutungszuschreibungen habe ich in Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, 2. Kapitel und andernorts zusammengetragen.

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teiligung an Wahlen gefordert wird als das Erreichen eines höheren levels in ‚Age of Empire‘, eine Tanzperformance oder ein Selbstporträt in einem beliebigen graphischen Medium. In Kulturen, die den menschlichen Körper und seine Bewegung zum Leitmedium genommen haben, sind alle diese Orientierungen gänzlich unverständlich. Fabio Crivellari u.a. haben schon Recht, wenn sie in der Einleitung zum Band der repräsentativen Tagung ‚Die Medialität der Geschichte und die Historizität der Medien‘ schreiben: Insbesondere die Geschichte der Macht und des Politischen erschließen sich auf eine neue Weise, wenn etwa berücksichtigt wird, daß in Gesellschaften, denen Schrift entweder nicht zur Verfügung steht oder die sie nur eingeschränkt zur Strukturierung von Kommunikation nutzen, der Körper, der topographisch strukturierte Raum und Bilder wie Monumente zu den wichtigsten Medien gesellschaftlich relevanter Kommunikation werden. Anwesenheit gewinnt dann eine überragende Bedeutung für soziale Strukturbildung. Die Formung von Kommunikation vollzieht sich wesentlich über die performative Gestaltung von Anwesenheit – und eben nicht durch interaktionsferne Massenmedien.10 Prämiert wird dort leibliches Verhalten einschließlich der Rede. So lange unsere Politiker mit gefrorener Miene, minimalsten Körperbewegungen und einer schriftreifen Sprache in den Talkshows gut abschneiden, kann von einer Abkehr von den Idealen der typographischen Massenkommunikation nicht die Rede sein. Die kulturellen Leitmedien bestimmen die politische Diskussion in einer so tiefgreifenden Weise mit, dass man sich weder als Kultur- noch als Kommunikationswissenschaftler von dieser normativen Kraft frei machen kann. Es bleibt nur die Reflexion und das In-Rechnung-Stellen der Zugzwänge und blinden Flecken.

Begrenzte Ressourcen und Ökologie Wo etwas auf die Agenda gesetzt wird, eine Rangordnung aufgebaut wird, da wird immer auch abgewertet. Wer Leitmedien bestimmt, bestimmt auch, dass und meist auch welche Medien unterdrückt werden. Dies wirft Fragen nach Minderheitenschutz, Legitimität von Diskriminierung usf. auf. Es ist nicht nur in der Kommunikationswissenschaft üblich, diese beiden Pole asymmetrisch zu behandeln. Leitfrage ist das Agenda-Setting nicht die Unterdrückung von Themen. Ich sehe keinen wissenschaftlichen Sinn in dieser Ungleichbehand10 Crivellari u.a.: „Einleitung: Die Medialität der Geschichte“, S. 21.

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lung – und habe deshalb die Frage nach Leitmedien auch immer mit jener nach den unterdrückten Medien bzw. den Kosten der Prämierung verknüpft. (Man hätte die Tagung auch ‚Leitmedien und diskriminierte Medien‘ nennen können.) Bei begrenzten Ressourcen ziehen Prämierungen auf der einen Seite Abwertungen, auf der anderen Seite unabweisbar nach sich. Dies ist ein Grundgedanke der Ökologie und mit dessen Anwendung auf die Geschichte kultureller Kommunikation beschäftigt sich die Publikation Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft . Mythen legitimieren Auf- und Abwertungen und darüber hinaus die unterschiedliche Bewertung von Bewertungen. Aber diese i.w.S. ökologischen Gedanken sollen hier nicht im Mittelpunkt stehen, obwohl ihre Propagierung noch durchaus notwendig ist. Es geht zunächst darum, wertebasierte Prämierungen von Auswahlen (rational choice) abzugrenzen, die aufgrund rationaler oder anderer Programme getroffen werden. Dies mag die Abgrenzung von ‚Werten‘ und ‚Programmen‘ ein Stück weiter klären.

Grenzen des Funktionalismus Es ist gewiss nicht falsch, davon auszugehen, dass es für alle kommunikativen Aufgaben mehr oder weniger geeignete Medien gibt und man kann dann dazu auffordern, jeweils die Bestgeeigneten auszuwählen. Man braucht dazu den Begriff des ‚Leitmediums‘ eigentlich nicht – oder doch nur, um unter komplexen medialen Konstellationen das jeweils optimale herauszustellen. In diesem Sinne sucht der systemtheoretische Funktionalismus nach funktionalen Medien und Kodes und kann überhaupt Vorschläge für optimale Konstruktionen von Kommunikationssystemen machen. Das Problem bleibt allerdings festzulegen, was die relevanten Funktionen von Kommunikationssystemen sind. Schon die Kommunikatoren in relativ kleinen Systemen können sich oft nicht über die Ziele einigen und einigermaßen komplexe Organisationen verfolgen parallel immer mehrere Ziele. In Industriebetrieben hat die Entwicklungsabteilung andere Prioritäten als die Produktion und diese wieder andere als der Vertrieb – und dies führt auch zu unterschiedlichen kommunikativen Strategien und unterschiedlichen Präferenzen für die Medienauswahl. Geht man auf die Ebene der Abteilungen und sucht nach funktionalen Medien etwa in der Produktion, zeigen sich bald ähnlich viele Funktionen. Letztlich müssen meist Entscheidungen zwischen verschiedenen aber ähnlich gut – oder schlecht – funktionierenden Strategien bzw. Medien getroffen werden. Wir haben funktionale Äquivalenz. Spätestens dann versagt der Funktionalismus – ebenso auch der Pragmatismus – in seiner Steuerungsfunktion. Man kann es auch positiv

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ausdrücken: Solange funktionalistische und pragmatische Lösungssuche noch zu einvernehmlichen Ergebnissen führen, sollte man diese nutzen. Das Festlegen von Leitmedien macht erst dann Sinn, wenn bei funktional äquivalenten Möglichkeiten Entscheidungen getroffen werden sollen. Dann kann die Entscheidung nur unter Rückgriff auf eine Wertehierarchie getroffen werden, die Prämien auf die Nutzung bestimmter Medien bzw. kommunikativer Funktionen aussetzt. In diesem Sinne ist das Ausrufen von Leitkulturen oder -medien immer eine nichtfunktionale sondern wertebasierte Entscheidung. Folgt man dieser Logik, macht es keinen Sinn, mit funktionalen Argumenten gegen bestimmte Leitmedien zu argumentieren. Zu den vorab zu akzeptierenden Grundbedingungen eines medientheoretischen Dialogs gehört es, von der parallelen Existenzberechtigung verschiedener Medien auszugehen. Die Unentscheidbarkeit liegt gerade darin, dass funktional äquivalente Lösungen vorhanden sind. Es gibt ähnlich erfolgversprechende Programme. In diesem Ansatz macht auch die Rede von einer Leitkultur in Deutschland, die so oder so bestimmt werden kann, Sinn. Man akzeptiert damit vorab, dass es mehrere alternative aber im Prinzip funktional gleichberechtigte Kulturen gibt. Erst im zweiten Schritt legt man fest, wie in Fällen, in denen unter zweckrationalen, pragmatischen oder sonstigen Bedingungen keine Entscheidung möglich ist, trotzdem weiter kommuniziert bzw. gehandelt werden kann. Dieser zweite Schritt ist ausschließlich durch Werte und zwar genau genommen durch die Prämierung eines Wertes oder mindestens eines zusammenhängenden Wertekomplexes (Grundannahme) legitimiert. Wertedialoge sollten nicht mit funktionalistischen Problemlösungen vermischt werden – ebenso wenig wie man Programme mit Daten und Sollwerten in eins setzten kann. Leitmedien lassen sich nicht ausschließlich funktional begründen. Sie sind eine Auswahl aus funktionierenden, sinnvollen Medien – und insofern eben auch funktional. Ihre Hervorhebung beruht jedoch auf Kriterien, die aus einer anderen, in einem gewissen Sinne transfunktionalen Sphäre stammen. Die Buch- und Industriekultur hat die Beschäftigung mit dieser Sphäre eher als heikel empfunden und Mechanismen entwickelt, sie in engen Grenzen zu halten. Wenn die Alternativen auf dem Tisch liegen, wird demokratisch, d.h. durch Mehrheitsentscheidung eine Alternative ausgewählt. Die zugrundeliegenden Werte bei den Mitentscheidern können latent bleiben. Zweitens gibt es Gesetze und Gerichte, an die in Zweifelfällen die Entscheidung delegiert werden kann. Und dann gibt es die Kirche, die für bestimmte Werte der Kulturgemeinschaft ein besonderes Verwaltungsrecht zugesprochen bekommen hat. Diese Strategie hatte solange Erfolg, solange ein gewisser Bestand an Leitwerten allgemein von der Kulturgemeinschaft akzeptiert wurde: Technik als Problemlöser, linearer Fortschritt, Freiheit, Wahrheit und Rationalität, Mehrheitsentscheidungen, Gewaltenteilung und manches mehr als Glücks-

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bringer für Menschen und Gemeinschaften. Sobald Freiheit z.B. von einem allgemeinem Wert zu einer funktionalen Forderung im Sinn von Freiheit, sich seinen Arbeitsplatz zu suchen, seinen Wohnort zu bestimmen etc. gemacht wird, wird es von einem Wert zu einem Programm und verliert an Legitimationskraft für Prämierungen. Man kann sich dann damit beschäftigen, welches Programm am besten geeignet ist, bestimmte Zwecke zu erreichen.

Aufgaben der Geisteswissenschaften in der Prämierungsdiskussion Im folgenden interessiert nicht die Frage, wer wo mit welchen Verlusten Leitmedien ausruft, sondern wie die Kultur- und Geisteswissenschaftler mit den Phänomenen der Prämierung und der begrenzten Ressourcen in unserer Umwelt umgehen sollten. Nach meinem Verständnis braucht sich die Forschung nicht damit zu begnügen, das Alltagswissen zu verdoppeln, es äußerstenfalls in eine andere explizitere symbolische Form zu transformieren. Als Entdecker haben die Forscher die Aufgabe, alternative Sichtweise zur Verfügung zu stellen. (Womit nicht gesagt ist, dass jeder Wissenschaftler Entdecker sein muss.) Mit welchen Modellen und oder Programmen können wir arbeiten, wenn wir nicht den im Alltag bei unserem Thema üblichen Typus hierarchischen Denkens anwenden wollen? Die Frage hat einen ernsten Hintergrund. Der Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften hängt m.E. unmittelbar damit zusammen, dass sie sich viel zu stark darauf beschränkt festzustellen, was ist (Daten bereitzustellen) und bestenfalls alltagweltliche Routinen (Programme) quantitativ zu optimieren. Desiderat ist die Beschäftigung mir der Struktur und Funktionsweise von Sollwerten. Welche Alternative gibt es also zum hierarchischen Denken im Allgemeinen und zur Ausrufung von Leitkommunikatoren, -informationen und -medien im Besonderen? Was können wir mehr tun, als uns an Rankings zu beteiligen oder sie nachzuzeichnen?

Triadisches Denken Wir können als erstes die üblichen Annahmen über die sehr engen Grenzen unser Informationsverarbeitungskapazitäten in Frage stellen und versuchen, diese Grenzen weiter hinauszuschieben. Natürlich sind unsere Ressourcen begrenzt, aber möglicherweise nicht in dem Maße, dass grundsätzlich und bei allen Anlässen nur Entweder-Oder Entscheidungen möglich sind. Neben der linearen Hierarchisierung haben wir die Möglichkeit zu massiver Parallelverarbeitung. Wir brauchen nicht notwendig einen Faktor an die Spitze zu stellen

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sondern können mehrere gleichberechtigt behandeln und zwar nicht nacheinander sondern simultan. Dies ist eigentlich eine Binsenweisheit, die letztlich in der organischen Struktur der Menschen begründet ist, aber sie wird in der Industriekultur nicht sonderlich geschätzt. Alle Menschen und alle menschlichen Kulturen sind multisensuell, zu massiver Parallelverarbeitung fähig und können zugleich mehrere Medien im Handeln und Kommunizieren nutzen. Zwar gilt das Prinzip der begrenzten Ressourcen, aber es lautet nicht ‚Eines zur Zeit‘, ‚Entweder-Oder‘, ‚tertium non datur‘ oder was sonst noch für monokausale Programme kursieren. Latent haben sich Geistes- und Kulturwissenschaftler schon häufig gegen die Rückführung von irgendwelchen Wirkungen auf eine – und zwar genau eine – Ursache gewehrt. Es kommt jetzt darauf an, diese Ablehnung absolutistischer Denkfiguren explizit zu propagieren. Dabei ist freilich gleichzeitig das Prinzip der begrenzten Ressourcen im Auge zu behalten. Deshalb sehe ich im anything goes und anderem multifaktoriellen Denken keine Alternative. Definitionen mit langen Listen gleichgeordneter Merkmale strukturieren Denken und Diskurs zu wenig, weil sie letztlich doch nur selektiv genutzt werden können. Wer in seinen Analyse beständig ‚Sowohl-als-Auch‘-Argumente ins Feld führt, verdoppelt nur die Überkomplexität der Welt. Das gelingt allerdings aufgrund der begrenzten Kapazitäten, Zeit usf. am Ende nicht, sodass sich unter der Hand meist wieder die üblichen binären Schematismen als Selektionskriterien einschleichen. Ich habe zwischen diesen beiden Extremen nach Mittelwegen gesucht und bin am Ende beim triadischen Denken geblieben. Es basiert auf der Annahme, dass Menschen und menschliche Kulturen bei vielen Gelegenheiten in der Lage sind auf drei Faktoren zugleich zu achten und Phänomene als das emergente Produkt des Zusammenwirkens dreier Prozesse zu betrachten.

Anwendungsbeispiel: Kulturvergleich Das durch das triadische Denken eröffnete alternative Herangehen an Bewertungen in und von Mediengeschichte soll an einem Beispiel aus der letzten Veröffentlichung, der ‚Entdeckung der kommunikativen Welt‘, demonstriert werden. Und zwar geht es hier in einem Teil um vergleichende Mediengeschichte. Verglichen werden die Kommunikationskulturen von Mitteleuropa und Japan in der Zeit von 1500 bis zur Mitte des 18. JHs, also dem Ende der Edo-Zeit. Man hätte fragen können: Was ist das kommunikative Leitmedium in den beiden Kulturen – und wie verändert es sich ggfs.? Damit hätte man das Prinzip der Rankings, das wir aus dem modernen Europa – und seinen aktuellen Sport- und Fernsehshows – kennen, übernommen. Es wäre kein alternati-

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ves Modell zu Anwendung gekommen und noch dazu eines, welches in der japanischen Kultur jener Zeit kaum auszumachen ist. Stattdessen habe ich von vornherein das Zusammenwirken mehrerer Medien, Kommunikatoren, Typen von Informationsgewinnung und anderer relevanter Faktoren in den Vordergrund gestellt. Es zeigte sich, dass die Beschränkung auf jeweils drei Faktoren noch gut zu bewältigen war und zu klaren Ergebnissen führt. Die Abb. 1 zeigt die Zusammenfassung der triadischen Komparatistik von drei ausgewählten Größen in Form einer Graphik.11

11 Vgl. Giesecke. „Die Entdeckung der kommunikativen Welt“.

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Abb. 1: Prämierungen als Gewichtsverschiebungen in Triaden

Das Herausgreifen eines beliebigen einzelnen Faktors, bspw. des Leitmedium ‚gedrucktes Buch‘ hätte zu einer Vergewaltigung der japanischen Kultur geführt, eben weil in dieser Kultur diesem Medium keine solche zentrale Rolle zukam. Anderseits muss, wenn man denn überhaupt vergleichen will, von ähnlichen Faktoren ausgegangen werden. Aber eben von mehreren und nicht bloß von einem Faktor. Das triadische Konzept der Sinne, Erfahrungstypen und Kommunikationsmedien sichert diese Gemeinsamkeit. Die unterschiedlichen Verteilungen der Bedeutung der einzelnen Faktoren ermöglichen es auf der anderen Seite auch, die Unterschiede zu erfassen. Obwohl bspw. sowohl in Europa als auch in Japan die kommunikablen Erfahrungen mit Augen, Ohren und Händen gewonnen werden, nutzt man doch in Ostasien taktile Informationen weit stärker und bewertet sie auch höher. Dies führt zu einer Abwertung visueller Informationen und einer im Vergleich zu Europa auch geringeren Anstrengung. solche Informationen dauerhaft zu speichern. Vor diesem Hintergrund verwundert dann kaum, dass auch chirographische Medien einen höheren Rang behalten als die hochtechnisierten typographischen Medien. Das Ergebnis der Prämierungsanalyse ist nicht die Ermittlung eines einzelnen prämierten Faktors – und auch nicht ein bloßes Nebeneinanderstellen von relevanten Faktoren – sondern die Beschreibung eines triadischen Kräftefeldes.

Fazit Was heißt das für das Thema dieser Tagungsbände? Worin liegen die Vorteile des alternativen Vorgehens?

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Es geht darum, die Akte der Selbstsimplifikation der Aufmerksamkeitsfokussierung, der Komplexitätsreduktion im Wahrnehmen, Denken und Handeln nicht so weit zu reduzieren, dass nur noch ein Faktor, z.B. ein Leitmedium übrig bleibt. Das nenne ich absolutistisches Denken bzw. Medienabsolutismus. Menschen und Kulturen haben die Organe und die Fähigkeiten zu massiver Parallelverarbeitung. Sie sind Ökosysteme, und sie sollten auch so handeln – und behandelt werden. Wir brauchen uns deshalb als Forscher nicht mit einfachen Rankings zu begnügen sondern können triadische Konzepte zur Verfügung stellen, die dazu auffordern mehrere Faktoren in ihrer Wechselwirkung zu betrachten. Die Untersuchung von Leitmedien – oder auch von davon nicht abtrennbaren Leitkommunikatoren und -informationstypen – erfolgt als Prämierungsanalyse. Die Grundgedanken dieser Methode und deren theoretische Begründung sollen abschließend thesenförmig zusammengefasst werden.12

Thesen zur Prämierung und Hierarchisierung der Medien und menschlichen Sinne 1.

Obwohl alle menschlichen Kulturen multimedial, multisensuell und massiv parallel verarbeitend angelegt waren und sind, hatten bzw. haben sie doch niemals alle Sinne und Medien gleichmäßig berücksichtigt. Vielmehr erwiesen und erweisen sich die Disproportionen in der Nutzung der Sinne und Medien als wichtigster Motor für alle kulturellen Veränderungen.

2.

Kulturen haben, wenn man sie als nicht-triviale und also komplexe informationsverarbeitende Systeme betrachtet, die Fähigkeit, Bewertungen ihrer eigenen Strukturen, Medien, Informationen, Prozesse etc. vorzunehmen. Mehr noch: sie stehen andauernd vor der Notwendigkeit eben dieses zu tun, und das Aussetzen von Bewertungen ist ein speziell zu organisierendes, mühsames Unterfangen.

3.

Die verschiedenen Kulturen und historischen Epochen unterscheiden sich aus informationstheoretischer Perspektive durch die Sinne, Speichermedien, Prozessoren und Darstellungsformen, die sie bevorzugt benutzen, technisch unterstützen und reflexiv verstärken. Zum anderen unterscheiden sie sich durch die Vernetzungsformen, die sie bevorzugen und die sie als ‚Kommunikation‘ auszeichnen. Drittens unterscheiden sie

12 Vgl. Giesecke: „Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft“.

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sich in den Spiegelungen, die sie zwischen sich und der Natur sowie innerhalb der Kultur zwischen den verschiedenen Medien zulassen und nutzen. Hier geht es beispielsweise um die Frage, was als Kommunikator und Kommunikationsmedium neben dem Menschen in den Kulturen zugelassen wird: Pflanzen, Tiere, Zeitungen, Computer … Zwischen allen diesen ‚zugelassenen‘ Sender/Empfänger/Medien und den Menschen werden dann ähnliche kommunikative Kompetenzen angenommen: Tagesschau und Zeitungen ‚informieren‘, bilden Meinungen, werden von anderen Medien beeinflusst usf. Auch dieser Ein- bzw. Ausschluss kann als Prämierung verstanden werden. 4.

Da alle Kommunikationsmedien von den Menschen wahrgenommen werden müssen, damit sie zu Instrumenten der Verständigung werden können, entspricht die Prämierung bestimmter Medien immer auch der Prämierung bestimmter menschlicher Wahrnehmungsorgane – et vice versa. Das jeweils bevorzugte Sinnesorgan, die bevorzugten Prozessoren (Verstand, Glaube, Gefühl), Speicher- und Kommunikationsmedien bestimmen auch die Theorie der Wahrnehmung, des Denkens, der Darstellung und Verständigung.

5.

Die Erhaltung – und erst recht die Herstellung einer neuen Hierarchie – verlangt in sozialen Systemen und menschlichen Kulturen Legitimationen. Dies sind i.d.R. Ideologien, die über den i.e.S. medientheoretischen Diskurs auf religiöse, soziale u.a. Bereiche hinausgreifen.

6.

Die Kommunikationsforschung steht im Rahmen von Prämierungsanalysen vor der Aufgabe, zu ermitteln, welche Medien, Informationen, Kommunikatoren, kurz: welche Elemente und Prozesse des Systems prämiert und welche anderen abgewertet werden. Sie steht zweitens vor der Aufgabe, die hinter diesen Selektionsprozessen stehenden Grundannahmen oder Programme zu rekonstruieren. Drittens gilt es die tragenden Legitimationen für die Hierarchisierung der Medien und Kommunikatoren, die aus dem Netzwerk erst das kommunikative System machen, zu erfassen. Es werden dabei sowohl Ideologien beschrieben, die das Bestehende legitimeren als auch solche, die Innovationen begründen. Die Behandlung der Legitimationen bedeutet immer auch den Übergang von einer strikt medien- und kommunikationstheoretischen Betrachtung zu einer kulturellen bzw. politischen Sicht. Die Ausrufung von Leitmedien geht einher mit kultureller Mythenbildung.

7.

Prämierungsanalyse enthüllen Gewichtungen, die Kommunikationskulturen zwischen Kommunikatoren, Medien und Informationen vornehmen. Dabei gilt es, die verschiedenen Pole, zwischen denen Balancen

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festgestellt werden, nicht aus den Augen zu verlieren. Natürlich muss dabei selektiv vorgegangen werden. Die Frage bleibt allerdings, wieviel Komplexität – oder Aufmerksamkeit – wir unserer Wahrnehmung und unserem Denken zumuten wollen. Die Kennzeichnung unserer Epoche als multimedial führt, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht weiter. Alle menschlichen Kulturen sind multimedial. Der Zankapfel war immer die Anzahl der wahrgenommenen Medien sowie die Gestaltung der Beziehung zwischen ihnen. Und hier lauten die Pole: Medienabsolutismus als Proklamation eines einzigen Leitmediums oder Medienökologie im Sinne grenzenloser Pluralität. Triadisches Denken bietet einen alternativen Ansatz, der die Extreme des Entweder-Oder-Denkens und des beliebigen Sowohl-Als-Auch meidet und sich stattdessen auf die Suche nach den Balancen zwischen jeweils drei prämierten Faktoren konzentriert. Wir unterschätzen vermutlich in der theoretischen Arbeit unsere Fähigkeit zur Parallelverarbeitung ebenso wie unsere Fähigkeit, Urteile in der Schwebe zu halten. Im Alltag setzen wir sie beständig und erfolgreich ein. Die vom Wissenschaftsrat in seinem Gutachten zur Kommunikations- und Medienwissenschaft geforderte Dreiteilung von drei Ausrichtungen im Feld der Kommunikations- und Medienwissenschaften: die sozialwissenschaftlich orientierte Kommunikationswissenschaft, die kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung und die an der Informatik orientierte Medientechnologie trägt einerseits der Forderung nach einer triadischen Komplexitätserfassung Rechnung – was schon einmal erstaunen mag.13 Andererseits konterkariert die gleichzeitige Forderung nach einer tayloristische Abarbeitung dieser Richtungen das triadische Denken in und mit Balancen und Prämierungen. Es liefert ein gutes Beispiel dafür, wie wenig Komplexitätsverarbeitung heute den kommunikationswissenschaftlichen professionals zugetraut wird. In welchem Maße diese Einschätzung die Realität abbildet, lässt sich derweil nicht entscheiden.

13 Vgl. Wissenschaftsrat: „Bessere Bedingungen für Kommunikations- und Medienwissenschaften in Forschung und Lehre“.

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Literaturverzeichnis Crivellari, Fabio u.a.: „Einleitung: Die Medialität der Geschichte und die Historizität der Medien“, in: dies. (Hrsg.): Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, (= Historische Kulturwissenschaft 4), Konstanz 2004, S. 9-45. Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, 4. durchges. u. erg. Aufl., Frankfurt a.M. 2006. Giesecke, Michael: Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte, Frankfurt a.M. 2007, S. 262ff. Giesecke, Michael: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt a.M. 2002. Giesecke, Michael: „Die Entdeckung der kommunikativen Welt“, http:// www.kommunikativewelt.de/entdeckung_web/html/web68_vergleich_ jap_euro.htm. Giesecke, Michael: „Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft – Trendforschung zur kulturellen Medienökologie –“, http://www.mythen-der-buchkultur.de. Krämer, Sybille (Hrsg.): Performativität und Medialität, München 2004. Luhmann, Niklas: „Normen in soziologischer Perspektive“, in: Soziale Welt, H. 20, 1969, S. 28-48. Parsons, Talcott: The Structure of Social Action, New York 1937. Postman, Neil: Das Technopol. Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992. Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode, Frankfurt a.M. 1988. Postman, Neil: „Sieben Thesen zur Medientechnologie“, in: Werner D. Fröhlich u.a. (Hrsg.): Die verstellte Welt. Beiträge zur Medienökologie, Frankfurt a.M. 1988, S. 9-22. Postman, Neil: Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt a.M. 1987. Wissenschaftsrat: „Bessere Bedingungen für Kommunikations- und Medienwissenschaften in Forschung und Lehre“, http://www.wissenschaftsrat. de, Pressemitteilung 14/07 vom 29.05.2007

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Rainer Leschke

Form als Leitmedium oder Die Ordnung nach dem Verschwinden der Mediendispositive Das Statut, unter dem die Medien Content, Wirklichkeit, Sozialformen und all die anderen Dinge, die man ihnen sonst noch zuschreiben kann, produzierten und anboten, hat sich unmerklich verändert. Und diese Veränderung ist, so scheint es, keineswegs vorübergehender Natur, sondern sie ist strukturell und irreversibel. Die Einzelmedien sind weniger geworden, wiewohl sich ihre Omnipräsenz, sofern das überhaupt noch ging, weiter verstärkt hat. Dabei bemisst sich die Größe und Macht von Medien an dem, was von ihnen im Mediensystem reguliert und geprägt wurde. Und diese Prägekraft ist offenbar zudem auch dasjenige, was gewöhnliche Medien zu Leitmedien macht. Gleichzeitig ist das Einzelmedium selbst, denn nur in einem Vergleich von Einzelmedien macht die Idee eines Leitmediums überhaupt Sinn, stets mehr als eine Technik, eine Apparatur, eine Organisation oder das distribuierte Programm, es ist all das zusammen und zwar auf eine charakteristische Weise. Medien sind zunächst einmal ein Konglomerat von Formen: So hat jedes Einzelmedium spezifische Produktionsformen ausgebildet. Fernsehen wird eben anders produziert als Hypertexte oder aber Theater. Zugleich verfügen die Einzelmedien über charakteristische Organisationsmodi, denn die Theatertruppe unterscheidet sich ebenso vom Fotografen wie von der Filmproduktion. Dass alle Einzelmedien zudem eigene ästhetische Formen ausgebildet haben und sie in spezifischen und genauso sorgfältig getrennten Archiven verwahren und diese Archive auf je besondere Weise zugängig machen, sorgt für die dauerhafte Unterscheidung des jeweils als medienaffin betrachteten Contents. Die Dinge, die in Zeitungs- und Filmmuseen aufbereitet und publik gemacht werden, lassen sich also in der Regel ohne den Hauch eines Zweifels unterscheiden. Dass die Programme der Einzelmedien im Allgemeinen unverwechselbar sind, dürfte trotz der gelegentlichen Irritationen, die Medien auslösen, sobald sie neu im Mediensystem auftreten, eigentlich zumindest solange evident gewesen sein, solange man über die traditionellen Massenmedien, also nicht über Multimedia und Hypertexte redet. Dass der Content auf eine spezifische Weise distribuiert wird, ist so selbstverständlich gewesen wie die Unterschiede der verschiedenen Plattformen. Die Differenzen von Fernsehern und Fotorahmen, Theatersälen und Fotogalerien, Radioapparaten und Zeitungsstapeln gehören zu den Grundkoordinaten unserer Mediensozialisation. Und dass an diesen Koordinaten sich vollkommen unterschiedliche soziale Praktiken und

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Rainer Leschke | Form als Leitmedium

Rituale festmachen, die ebenso vertraut sind wie ihre materiellen Anlässe, ist so selbstverständlich, dass wir vollkommen automatisch dazu in der Lage sind, unsere Wahrnehmungs-, Artikulations- und Sozialformen danach auszurichten und uns zu den erforderlichen Spielarten des Publikums zu formieren. Jedes Medium stellt also eine besondere und unveränderbare Kombination je spezifischer Produktionsformen, besonderer ästhetischer Formen, eigenständigen Formen von Content oder Programm, spezifischen Archiven, eigenen Distributions- und Plattformen sowie sehr genau unterscheidbaren Sozialbzw. Rezeptionsformen dar. Und dieses spezifische mediale Dispositiv, also diese ganz besondere Kombination von Formen, macht das aus, was ein Medium für uns ist und sein kann. Medien waren also zuallererst einmal Dispositive und die Vorstellung von dem, was Medien sind und können, betraf in der Regel der Einfachheit halber stets das ganze Dispositiv. Medien als Dispositive zu betrachten und sie damit mit diesem alten Konstrukt der Foucaultschen Diskursanalyse zu belegen, hat dabei im Falle des gegenwärtigen Mediensystems einen ganz besonderen Sinn. Michel Foucaults im Zuge seiner Machtanalytik entworfene Kategorie versammelt zunächst einmal schlichte Heterogenitäten, nämlich Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes […]. Soweit die Elemente des Dispositivs.1 Dabei ist das Dispositiv kein einfaches Sammelsurium, sondern der Effekt einer geordneten Zusammenstellung: „Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“2 Nun sagt Foucault über die Art, von der dieses Netz ist oder sein soll, relativ wenig, was vielleicht daran liegen mag, dass solche Fragen vermutlich erst unter den Bedingungen der forcierten Integration von Mediensystemen wirklich virulent werden und er sich noch mit einer Ruhe der Diskurse begnügen zu können meinte, die vergangenen Stadien des Mediensystems angehörte. Mediendispositive, also die jeweiligen Komplexe von Produktions- und Organisationsformen, ästhetischen und Archivformen, Distributions- und Plattformen sowie den zugehörigen Sozialformen, die noch ein jedes Einzelmedium ausgebildet hat, arbeiten mit definierteren Entitäten und sind vielleicht nicht in dem Maße offen, wie Foucault das noch für seine Kohärenz von Diskurs, Praxis und Materialität dachte. Das 1

Foucault: Dispositive der Macht, S. 119f.

2

Ebd., S. 120.

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Dispositiv markiert die Geschlossenheit des Offenen und Heteronomen, indem es beides einem Begriff unterwirft und die Zusammenstellung als einander zugehörig qualifiziert. Es geht um die „Verbindung […], die zwischen diesen heteronomen Elementen sich herstellen kann.“3 Und um eben diese Verbindung geht es letztlich ja auch in den Mediendispositiven, denn dort ist sie jeweils so einzigartig, dass sie zumindest metonymisch für ein ganzes Medium herhalten kann und solcherart wieder Eingang in die Diskurse4 gefunden hat. Dabei werden von Foucault die versammelten Elemente zwar als prinzipiell heterogen gedacht, aber genau diese Differenz wird letztlich nicht ernst genommen, besteht doch das Ziel der Diskursanalyse gerade in der Überwindung dieser Differenz. Die Heterogenität ist also vorübergehender Natur, denn die Diskursanalyse fokussiert die Aufmerksamkeit auf jene latenten Kohärenzen, die auch das Heterogene kennt, und kümmert sich um das Herstellen von Verbindungen. Das Heterogene ist also nicht untilgbar divers, sondern allenfalls auf den ersten Blick verschieden. Das qualitativ Diverse wäre denn auch von dem Konzept des Dispositivs nicht zu erfassen. Dennoch sind im Mediensystem Dispositive vielleicht nicht von grundsätzlich anderer Art, aber sie sind zumindest deutlich von dem verschieden, was Foucault sich unter seinem Diskursuniversum dachte. Mediendispositive verfügen zunächst einmal auch über eine apparative Struktur. Diese technische Grundierung gibt den Mediendispositiven einen Zusammenhang, der für die Foucaultschen Varianten nicht immer in diesem Maße gelten mag. Medien verschalten so auf eine je charakteristische Weise Apparate, Ästhetik und soziale Praxen miteinander. Zudem gibt es in den Medien zwischen den einzelnen Ebenen des Dispositivs einen Handlungszusammenhang, der den anderen Dispositiven abgeht. Medien kennen spezifische Produktionsformen, sie haben Repertoires, verfolgen spezifische diskursive und formästhetische Strategien, sie haben eigenständige Distributionsformen ausgebildet und kennen besondere Rezeptionsmodi und eben auch eine eigene Technik, die die Rezeption überhaupt erst ermöglicht. Es gibt also einen Kern des Mediendispositivs, das durch die Notwendigkeit der Handlungsketten sowie die apparativen Voraussetzungen und die zugehörigen Sozialformen in einem Medium gebildet wird und Produktions-, Distributions-, Rezeptionsformen sowie die formrelevanten Strukturen des Contents umfasst.

3

Foucault: Dispositive der Macht, S. 120.

4

So wird etwa in der Wendung ‚Sie Zuhause an den Fernsehschirmen‘ durch den Apparat auf die Rezeptionsform verwiesen oder aber es steht das ‚Radio‘ als Apparat und Plattform für das Medium Rundfunk insgesamt oder aber für andere Teile davon, also die Institution, das Programm etc.

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Dieser Kern repräsentiert auf formästhetischer Ebene das, was Foucault den Diskursen unterstellte. Allerdings ist die Formästhetik des Dispositivs wesentlich unempfindlicher und beweglicher als noch jeder diskursive Zusammenhang. Wir haben es bei Mediendispositiven also quasi mit der formalen Seite der Diskurse zu tun, die in den Medien nicht nur Materialität gewonnen, sondern die offensichtlich die Regie übernommen haben. Zugleich erschöpft sich das Mediendispositiv zweifellos nicht in einem solchen Kern, sondern um dieses Zentrum herum versammeln sich konzentrisch noch weitere, fest eingebundene Heterogenitäten. Das umfasst etwa im Fall des Radios die jeweiligen Institutionalisierungen der einzelnen Handlungsstufen des Mediendispositivs, die Produktionsfirmen, die Archive, die Rundfunkanstalten, das jeweilige Rundfunksystem, die Justiz mit ihren passenden und unpassenden Urteilen, die diversen Agenturen, die für die Zuteilung der Frequenzen sorgen, die Rundfunkökonomie mit ihrem Gebühren- oder Werbesystem und die Literatur oder die Politik, die nicht nur eine spezifische Medienaffinität ausbilden, sondern gleich eigene Formate vom Hörspiel bis zur Rundfunkrede schaffen. Hierzu gehören ebenso die Radioteppiche in öffentlichen oder kommerziellen Räumen, das Radio in den Bewegungsräumen von Automobilen, Zügen und Flugzeugen. Jedes Medium generiert so spezifische Synchronisationseffekte. Es gewöhnt ebenso an einen politischen Ton, wie es seine Publiken schafft, Gesetzgeber zu Aktivitäten motiviert und Öffentlichkeiten formiert. All das also macht ein Mediendispositiv aus und die Mediendispositive sind auch die Träger der Differenzen, die die Medien kenntlich machen. Der Kern des jeweiligen Mediendispositivs ist spezifisch, d.h. er gehört einem einzigen Medium an. Medien werden aufgrund ihrer Dispositive eindeutig identifizierbar und diese Eindeutigkeit steht in eigenartigem Kontrast zur systematischen Unschärfe des Begriffs. Zugleich ist es genau das, was die Leistung des Dispositivs demonstriert: nämlich sehr differente Praxen, Formen und Formate quasi als natürlichen Zusammenhang zu konstituieren, denn die Textsorte Hörspiel ist genauso gut Rundfunk wie das Radio, die Rundfunkanstalt und die Sender. Medien werden also immer schon als Dispositive gehandhabt. Dafür spricht gerade die Unterschiedslosigkeit, mit der von einem Medium gesprochen wird, obwohl jeweils vollkommen unterschiedliche Praktiken und Techniken gemeint sind. Das Dispositiv ist so längst diskursive Praxis gewesen, bevor die Medientheorie sich einen Begriff von der Angelegenheit machte. Und nicht zuletzt in diesem Sinne handelt es sich bei Medien um echte Dispositive, existierten sie doch bereits lange vor ihrem Begriff. Dabei gilt für Dispositive

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Ähnliches wie das, was Foucault für die Diskurse dekretierte: Sie kommen nämlich ohne Subjekte aus5 und zeitigen dennoch Effekte. Zugleich unterliegen die Mediendispositive einem charakteristischen Spiel von Präsenz und Absenz: Denn einerseits werden die Medien zwar erst aufgrund ihrer Dispositive identifizierbar und allpräsent, andererseits ist es ausgerechnet die Verdrängung der Dispositive, die sie geschichtsmächtig werden lässt. Marshall McLuhans Idee der Privilegierung eines Sinns als Kennzeichen von Medienkulturen6 setzt darauf, dass das Produkt oder aber seine Oberfläche dasjenige sei, was das Medium ausmache. Damit aber müssen zugleich alle anderen Stufen seines Dispositivs vergessen werden, weil sie die sinnliche Einheit des Mediums störten. So wird der Einfachheit halber verdrängt, dass zwischen und auf den einzelnen Stufen des Dispositivs durchaus Medienwechsel in ein Medium implementiert werden. So ist das gesprochene Wort in Rundfunk und Fernsehen regelmäßig zunächst einmal Text gewesen und in seiner Internet-Dokumentation kehrt es wieder zu demselben zurück, nämlich zum Text. Mediendispositive gehören so zwar Medien an, sie sind aber keineswegs medial rein, sondern aufgrund dieser systematischen Transformationen systematisch unrein. Insofern verdankt sich ausgerechnet jene von den Medienontologien beschworene universale Geschichtsmächtigkeit der Medien dem gekonnten Verdrängen ihrer Dispositive. McLuhans medienhistorisches Epochenmodell muss so nicht nur die jeweiligen historischen Mediensysteme vergessen, um das bruchlose Sich-Durchsetzen einer epochalen Leitmedialität konstatieren zu können, sondern er muss zudem noch ausgerechnet den mächtigsten Faktor bei der Durchsetzung von Medien, nämlich ihre Dispositive, ignorieren und diese auf die Form ihrer spezifischen Transformationsleistung reduzieren. Die vollkommene Durchdringung von Kulturen und Mediensystemen durch ein neues historisches Leitmedium, der sich mehr oder minder der gesamte medientheoretische Impetus McLuhans verdankt, setzt so etwas voraus, was McLuhan vollständig ignoriert hat und was seinen theoretischen Holzschnitten zu erheblich mehr Nuancen verholfen hätte, nämlich die Dispositive der Leitmedien. Die Macht der Medien, wenn man so etwas überhaupt konstatieren will,

5

Foucault: Dispositive der Macht, S. 34.

6

„England und Amerika waren durch die Beeinflussung des Alphabetentums und der Industrialisierung, die sehr lange dauerte, gegen das Radio ‚immun‘. Diese Formen bringen eine stark visuell ausgerichtete Organisation der Erfahrung mit sich. Die erdhafteren und weniger visuellen Völker Europas waren gegen das Radio nicht gefeit. Sein Stammeszauber prallte von ihnen nicht ab, und die alte Sippenbindung erwachte von neuem unter den Klängen des Faschismus.“ (McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 340.)

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verdankt sich nicht ihrem Content, sondern ihren Dispositiven, die sie in Kulturen einschreiben. Dass McLuhan nach der Umstellung von der Botschaft auf die Form der Medien diesen Machteffekt ausschließlich der aisthetischen Form zuschreibt, stellt aus dieser Perspektive selbst eine durchaus charakteristische Form der Verkennung dar, die diejenige, die die Reduktion der Medien auf ihre Botschaften zweifellos bedeutet hat, zwar ablöste, jedoch nicht prinzipiell bewältigte: Sie verkannte nämlich, dass sowohl die Inhalte als auch die aisthetische Form der Medien nur einzelne Elemente ihrer Dispositive sind, auf deren Macht letztlich beide vertrauen. Diese Ambivalenz von selbstverständlichgleichgültiger Nutzung und Verdrängung war das, was die medialen Dispositive solange in einer Nebensächlichkeit festgehalten hat, aus der sie erst technologisch und pragmatisch wieder aufgerüttelt wurden. Das Mediensystem bestand also aus einer Reihe solcher Dispositive, die einander gelegentlich kreuzten, aber ansonsten weitgehend unabhängig von einander existierten. Die allseitige Identifizierbarkeit von Medien aufgrund ihrer Dispositive sorgte dafür, dass die Grenzen der Mediendispositive untereinander wenigstens einigermaßen scharf gehalten werden konnten und dass das Dispositiv nicht zu einer Angelegenheit des Mediensystems insgesamt wurde. Einzelmedien funktionierten also immer schon als Dispositive und das war eigentlich keine große Sache, solange für alle Medien die gleichen Konditionen galten und sich daher die Dispositive, die sich ohnehin eher im Hintergrund hielten, allenfalls an ihren Peripherien begegneten, sich aber ansonsten nichts taten. Medien und ihre Dispositive gingen einen metonymischen Verbund ein, der sie zur Unkenntlichkeit miteinander verschmelzen ließ: Medien waren ihr Dispositiv und jedes Element des Dispositivs war das Medium. Das bedeutet natürlich auch, dass Leitmedialität sich nicht herstellen ließ, ohne dass sie sich in die Dispositive einschrieb. Leitmedialität beschreibt, wenn man es genau nimmt, daher nichts anderes als eine Logik der Hierarchisierung von Mediendispositiven. Leitmedien waren also Dispositive, die offenbar in der Lage waren, die anderen in einem historischen Mediensystem vorhandenen Dispositive auszustechen und ihrem Diktat zu unterwerfen. Leitmedien, so die Logik des Konzepts, formierten historische Mediensysteme: Sie implementierten eine Differenz quer zu den Mediendispositiven und hierarchisierten sie damit. Sie entwarfen eine Ordnung im Mediensystem und setzten sie letztlich dann auch durch. Leitmedien strukturierten Mediensysteme zunächst einmal nach Affinität und Differenz: Dem jeweiligen Leitmedium affine Medien rückten vor, die differenten hingegen traten zurück und wurden randständig. Dass sich umgekehrt Text-Bild-Verhältnisse im Mediensystem entwickelt zu haben scheinen und man sich vorstellen kann, nach einem immerhin einige Jahrhunderte wäh-

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renden textbasierten Leitmedium7 von einer durch Bilder8 determinierten, also über Leitbilder funktionierenden Kultur auszugehen, macht deutlich, dass die Leitmedien, wenn sie sich durchsetzen, Folgen haben: Das Mediensystem wird gemäß den Affinitäten und Differenzen gegenüber dem Leitmedium strukturiert und die Idee einer Bildkultur bzw. eines iconic turn9 ist Effekt einer solchen Strukturierungsleistung im Mediensystem. Allerdings ist das Geheimnis eines solchen ‚turns‘, dass er weitgehend medienindifferent ist, dass also, wenn von einem iconic turn die Rede ist, sämtliche bildfähigen Medien im Spiel sind. Damit wird eine Indifferenz ausgenutzt, die die Begriffe von Bild und Schrift gleichermaßen geltend machen können: nämlich Einzelmedium und medienübergreifende Wahrnehmungsqualität gleichermaßen bezeichnen zu können. Leitmedium in diesem Sinne wären Schrift und Bild immer nur im Medienverbund und nicht als Einzelmedium. Insofern hätte man es, wenn man der Idee von Bild bzw. Schrift als Leitmedium folgen wollte, dann auch mit Komplexen von Mediendispositiven zu tun. Der Verbund von Medien und die gleichzeitige Behauptung der Überlegenheit einer solchen Kopplung macht nur als Machtfrage10 überhaupt Sinn, und das gilt dann eben auch für die gesamte Leitmediendiskussion. Es geht um die Macht im Mediensystem und seinen Dispositiven. Die Leitung von Mediendispositiven war insofern nie eine einfache, sondern immer schon eine recht komplexe Angelegenheit, zumal wenn neue Mediendispositive wie das Fernsehen Ende der 50er Jahre das Mediensystem neu zu ordnen begannen. Der von Martin Keilhacker11 über Theodor W. Ador-

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Allerdings privilegiert die Idee, dass Bücher reine Textmedien sind, nur einen bestimmten Typ des Buchs: Dass von den Inkunabeln über die illustrierten Klassiker-Ausgaben und Familienzeitschriften des 19. Jhs. und die ornamentalen Buchillustrationen des Jugendstils zu den Comics Text-Bild Kombinationen mediale Standards darstellten, wird dabei meist ignoriert. Monomedialität stellt also eine Grenzform der Medienwirklichkeit dar.

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Boehm formuliert das mit der gebotenen Vorsicht zunächst als Frage, wobei allerdings seinem ganzen Impetus zumindest eine Rehabilitierung der Bildkultur unterstellt werden darf (vgl. Boehm: „Die Bilderfrage“, S. 325) und die Rede von einer „Bildeuphorie“ (ebenda) lässt hinreichend deutlich werden, wohin die Reise gehen soll.

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Boehm: „Die Wiederkehr der Bilder“, S. 13.

10 So fragt Gottfried Boehm auch ganz konsequent und kommt damit auf den Punkt der Leitmediendebatte: „Woher nehmen die Bilder ihre Macht?“ (Boehm: „Die Bilderfrage“, S. 327). Nun wird diese Frage nicht von ungefähr von ihm nicht annähernd beantwortet und auch ihr gleichsam negativer Rekonstruktionsversuch aus dem Ikonoklasmus heraus verfängt nur bedingt. 11 Vgl. Hausmanninger: Kritik der medienethischen Vernunft, S. 262ff.

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no12 bis zu Neil Postman13 herrschende Instinkt, dass das Fernsehen das Buch noch wesentlich nachhaltiger von seinem Rang im Mediensystem zu verdrängen drohte, als das etwa dem Radio als Vorläufer in der Position des Leitmediums gelungen sei, war insofern – und das erklärt vielleicht diese ansonsten eher skurril anmutende Allianz – vielleicht gar nicht einmal so falsch: Die Affinitäten zwischen den Mediendispositiven Fernsehen und Buch sind eher gering, so dass es vor allem um Abstand und Differenz geht. Bedrohungsszenarien und Bewahrgesten sind also nur der Effekt eines solchen Umbaus von Hierarchien im Mediensystem. Das gilt umso mehr, als Leitmedien und die Ausrichtung des Mediensystems nach ihren Parametern nicht unerhebliche soziale Effekte nach sich ziehen. Leitmedien bleiben ja keineswegs eine interne Angelegenheit des Mediensystems, sondern sie strukturieren genauso gut die Kommunikation in Sozialsystemen. Und hier gewinnt die Herrschaft und Standardisierung im Mediensystem, die ansonsten als eine innere Angelegenheit des Mediensystems hätte abgetan werden können, Brisanz: Sie transformiert sich nämlich in kulturelle und soziale Definitionsmacht. Spezifische Medien sind mit spezifischen sozialen Trägern immer schon eine Art Symbiose eingegangen. Dieser Prozess reguliert die Implementation von Medien in Sozial- und Mediensysteme: Vom ersten sozialen Träger eines Mediums, dem ebenso randständigen wie getriebenen Bastler, dem es vor allem um Prinzipien, Ideen und Möglichkeiten geht, über die Ingenieure und Techniker, die für die Standardisierung und Domestizierung der Technik sorgen, über die Ökonomen, die sich um den Ertrag und die ökonomische Positionierung der Medien kümmern, hat man es zunächst beim Implementationsprozess von Medien in Mediensysteme auf den jeweiligen Stufen der Integration mit bestimmten, historisch wechselnden Funktionseliten als den sozialen Trägern von Medien zu tun. Das gilt auch noch, wenn es um die Beschaffung des erforderlichen Contents geht. Hier ist die Ökonomie in der Regel ratlos und die Ingenieure haben sich längst verabschiedet, so dass sich eine weitere Funktionselite bildet: nämlich die Lieferanten des Inhalts, also Schriftsteller, Fotografen, Filmemacher usw. Den Bastlern ist – wie allen Idealisten in diesem Geschäft der Implementation von Medien in Mediensysteme – in der Regel die kürzeste Verweildauer beschieden, wenigstens wenn es ihnen nicht gelingt, sich rechtzeitig in Ingenieure oder besser noch in Ökonomen zu transformieren. Das verleiht ihnen auch jenen für Kulturwissenschaftler so verführerischen Reiz; sie neigen nämlich allein schon strukturell zur Tragik und d.h. sie bieten Stoff für jede Menge 12 Vgl. Adorno: „Prolog zum Fernsehen“, „Fernsehen als Ideologie“ und „Fernsehen und Bildung“. 13 Postman: Wir amüsieren uns zu Tode.

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aufrüttelnder Geschichten.14 Neben diesen Funktionseliten, die jeweils spezifische Stadien der Implementation von Medien bedienen, entsprechende Attitüden ausbilden und mit dem Schicksal des Mediums solcherart verbunden sind, also neben diesen funktionalen sozialen Trägern, gibt es dann noch die kulturellen sozialen Träger, die das Medium rezipieren und für seine kulturelle Deutung und Durchsetzung sorgen. Diese letzte soziale Trägerschicht, die sich im Falle des Mediums Buch so markant benahm, dass sie sogar einen eigenen Namen, nämlich den des Bildungsbürgertums, bekam, ist für den Erfolg eines Mediums letztlich entscheidend, und ihr eigenes Schicksal verbindet sich mit dem des Mediums: Gelingt es nämlich einem Medium, sich zum Leitmedium aufzuschwingen, dann verfügen seine sozialen Trägerschichten quasi automatisch über eine eminente soziale und kulturelle Definitionsmacht. Von daher ist die Frage des Leitmediums sozio-kulturell alles andere als trivial: Leitmedien bildeten historisch relativ stabile Verbindungen von ästhetischen Formen, spezifischen Genres, Programmstrukturen und all dem, was sonst noch zum Dispositiv eines Mediums gehört, sowie den sozialen Trägern mit den korrespondierenden Kommunikations- und Denkformen aus. Leitmedialität im Mediensystem ist solchermaßen eine ebenso komplexe wie folgenreiche Angelegenheit, und dass sie zu echauffierten Diskussionen motiviert, ist daher keineswegs überraschend. Der drohende Wechsel von Leitmedien mobilisierte stets die sozialen Träger der alten Leitmedien und sie operierten mit immer denselben Strategien, sie versuchten nämlich entweder die Medienkonkurrenz zu diskreditieren oder aber zu funktionalisieren. Eine dritte Möglichkeit bestände für eine soziale Trägerschicht darin, das Medium passgenau zu wechseln. Allerdings ist ein solcher Prozess, der ja auch von den sozialen Trägern einiges verlangt, allenfalls als Ultima Ratio einzuschätzen. Denn der Medienwechsel bedeutet für Trägerschichten, die über ein solches Medium ihre Selbstdefinition und kulturelle Identität organisieren, immerhin eine Neuformulierung und medienästhetische Reorganisation ihres kulturellen Konzepts. Der Wechsel eines Leitmediums kann solchermaßen eine durchaus schmerzhafte Erfahrung darstellen, zumindest erfolgt er nicht spurlos. Von daher geht die Diskussion von Leitmedien immer schon über die Interna des Mediensystems hinaus und es wird genauso gut deutlich, dass dem Begriff des Leitmediums, so ihm denn eine andere als eine bloß zahlenmäßige Überlegenheit innewohnen soll, quantitativ nicht beizukommen ist. Medien-

14 Das sind dann auch die Geschichten, die etwa Friedrich Kittler vorzugsweise erzählt: Seine Heroen sind bastelnde Militärs, verzweifelte Ingenieure und versprengte Adlige, was den Effekt quasi potenziert, wenn der soziale Niedergang sich noch mit der Tragik des medientechnischen Bastlers kombiniert und der Abgang solcherart zusätzlich an Brisanz gewinnt.

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nutzungsdaten mögen Aufschluss darüber geben, wie lange ein Medium durchschnittlich genutzt wird, sie sagen allerdings noch längst nichts über die Definitionsmacht eines Mediums aus, und der Begriff des Leitmediums gewinnt erst im Verein mit dieser kulturellen Definitionsmacht eine kritische Masse. Die reinen Nutzungsdaten interessieren das Marketing, und das war es dann aber auch. Das Problem ist nur, dass sich dann der Begriff des Leitmediums schnell ins Numinose verabschiedet, und das ist auch der Grund, warum so verbissen an der quantitativen Erfassung der Einzelmedien festgehalten wird. Andernfalls hätte man ja, so die Sorge, gar nichts mehr in der Hand, und die Angelegenheiten des Mediensystems, um die es hier ja schließlich geht, sind zu bedeutsam, um sie symbolischer Politik und ihren Unwägbarkeiten zu überlassen. Soweit erscheint das Ganze verständlich zu sein, allerdings ist dann ausgerechnet die gegenwärtige Debatte um den drohenden Verlust des Status Leitmedium beim Fernsehen und die Frage, welches Medium denn nun seine Rolle übernehmen werde, kaum zu erklären. Die Nutzungsdaten allein berechtigen keineswegs zu aufgeregten Debatten, haben sich hier doch akut keine aufregenden Verschiebungen15 ergeben. Dennoch ist offensichtlich etwas in Bewegung geraten, denn andernfalls wäre der Diskurs um Leitmedien vollständig abgehoben und imaginär, was er zweifellos nicht ist. 15 „Trotz dieser enorm gestiegenen Zahl von konkurrierenden Medien sind Radio und Fernsehen, wie die Studie Massenkommunikation belegt, seit über 40 Jahren die unangefochtenen Leitmedien geblieben, und das mit steigenden Tagesreichweiten.“ (Müller: „Radio“.) „Dennoch wird das lineare Fernsehen mit vorgegebenem Programmschema seine Funktion als Leitmedium auf absehbare Zeit behalten. Auch in fünf Jahren dürften mehr als 80 Prozent des Fernsehkonsums auf das Konto des klassischen Fernsehens gehen. Von einer ‚Revolution des Fernsehens‘ ist man offensichtlich weit entfernt. IPTV für geschlossene Nutzergruppen wird das klassische Fernsehen in Deutschland trotz optimistischer Prognosen nicht verdrängen, zumal das Angebot an frei verfügbaren Fernsehprogrammen hierzulande außerordentlich groß ist und Pay-TV traditionell einen schweren Stand hat. Bei jüngeren Bevölkerungsgruppen, vor allem Jugendlichen, vollzieht sich jedoch ein Wandel in der Mediennutzung, der das Internet mitsamt Videoinhalten in den Vordergrund rücken lässt.“ (Breunig: „IPTV und Web-TV im digitalen Fernsehmarkt“, S. 490). „Dabei zeigt sich, dass das Fernsehen nach wie vor als Schwerpunkt der privaten Mediennutzung gilt und damit für die überwiegende Mehrzahl der Mediennutzer noch immer Leitmedium ist.“ (ARD-Forschungsdienst: „Nutzung neuer Medien“, S. 538). „Nichtsdestotrotz bleibt Fernsehen das Leitmedium der Deutschen, mit dem sie – neben Radio – am meisten Zeit verbringen. Dies gilt im Übrigen auch für die Jugendlichen, die – aufgewachsen mit Computer-Maus und World Wide Web – häufig als die erste Generation angesehen werden, die das Internet und den MP3-Player als neue Leitmedien für sich erkoren haben.“ (Eimeren/Ridder: „Ergebnisse der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation, S. 503). „Fernsehen bleibt Leitmedium“ (Gerhards/Klinger: „Mediennutzung in der Zukunft“, S. 481).

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Insofern muss das Leitmedium, wenn der Begriff wenigstens historisch einmal Sinn gemacht haben soll, anders als über seine quantitative Nutzung definiert werden. Quantitativ ist die Lage des Fernsehens gar nicht so schlecht, dennoch wird das Medium wenigstens als Leitmedium abgeschrieben und das offensichtlich nicht, weil die Rezipienten öfter einmal das Verlangen nach etwas Neuem hätten, sondern weil es offensichtlich erheblich an Bedeutung verloren hat. Leitmedien sind bedeutungskonstitutiv und formsetzend, sie prägen Leitformen und eine formale Ästhetik, die letztlich dasjenige ist, was das Mediensystem seiner Gestalt nach strukturiert. Leitmedien sind Referenzmedien und d.h. nicht, dass ihre Inhalte zitiert würden. Vielmehr sind insbesondere die Formen des Mediums das Objekt der Referenz. Fernsehen ist daher solange Leitmedium, solange es ihm gelingt, die Ästhetiken und Formen der anderen Medien des Mediensystems neu zu formatieren. Die Magazinierung und das Formatradio sind Effekte einer solchen Übertragung und deshalb keineswegs einer selbständigen Dynamik des Mediums geschuldet. Bei all diesen Interferenzen handelt es sich um formästhetische Interferenzen zwischen Dispositiven. Foucault, dem es vordringlich um die Analyse singulärer Dispositive zu tun war, hatte solche Interferenzprozesse nicht im Blick, und vor allem hatte er auch keine Beschreibungssprache für einen derartigen hierarchisierten Austausch von Formen. Die Foucaultschen Dispositive waren einfach, oder sie waren zumindest sorgsam voneinander separiert und dadurch einfach. Mediensysteme bestehen jedoch immer schon aus den Konstellationen solcher Dispositive, und da braucht es dann zwangsläufig eine Logik der Hierarchisierung, Interferenz und Migration von Formen zwischen den involvierten Mediendispositiven. Leitmedien sehen sich daher strukturell in den anderen Medien des historischen Mediensystems gespiegelt, und das macht sie stets größer, als sie faktisch sind. Insofern sagen Nutzungsdaten strukturell nur wenig über die Leitungsqualitäten bestimmter Medien aus. Wenn das Fernsehen aufgehört hat, zum Referenzobjekt der anderen Mediendynamiken zu werden, dann mag seine faktische Nutzung gleich geblieben sein, es schrumpft dennoch allein schon deshalb, weil die Spiegelungen in den anderen Medien zurückgehen. Dass diesem Rückgang dann irgendwann auch die Reduktion der faktischen Nutzung folgen mag, sei zugestanden, nur wird damit Nutzung noch längst nicht zu einem zuverlässigen Indikator für die Leitmedialität. Denn wenn diese beginnt, sich in den Nutzungsgewohnheiten zu manifestieren, dann ist der Prozess selbst in der Regel schon gelaufen. Insofern ist der Verlust der Referenzqualität der entscheidende Hinweis auf den drohenden Verlust der Leitfunktion eines Mediums, und die Diskussion um den Status des Fernsehens reagiert genau darauf, ohne es eigens zu formulieren.

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Diese ‚gefühlte‘ Statusänderung des Leitmediums Fernsehen steht gleichzeitig in Korrespondenz mit der ebenso offenkundigen Unsicherheit darüber, was sich denn nun anschicke, an seine Stelle zu treten. Die Angebote sind ebenso zahlreich, wie sie ratlos machen. Vom Computerspiel über das Internet, Blogs, irgendwelche Geo- und Mobilmedien bis zu on demand abrufbaren Archiven ist alles an Medien dabei, was einigermaßen neu ist und wenigstens eine gewisse Aussicht auf Erfolg verspricht. Allerdings hat sich immer dann, wenn unklar ist, wer denn nun überhaupt der Gegner sein soll, meist etwas an der Struktur und damit an der Grundlage geändert, auf der überhaupt über Objekte – und d.h. in diesem Fall: über Leitmedien – verhandelt werden kann. Und genau eine solche Strukturänderung im Mediensystem scheint weitgehend unbemerkt erfolgt zu sein. Denn wenn, was offensichtlich einen historisch neuen Zustand darstellt, die Auswahl der Kandidaten für neue Leitmedien einigermaßen ungeklärt ist, ja noch überhaupt nicht klar ist, ob eine solche Diskussion überhaupt ansteht, dann muss zunächst einmal über das Verhältnis von Medien und Mediensystem nachgedacht werden. Das Konzept von Leitmedien macht, wie gesagt, nur Sinn, wenn davon ausgegangen werden kann, dass ein Medium in der Lage ist, einem Mediensystem seinen Stempel aufzudrücken. Und das ist offensichtlich nicht mehr der Fall. Die zu konstatierenden Schwierigkeiten mit dem neuen Kandidaten für den Status des Leitmediums haben durchaus etwas mit dieser grundlegenden Verunsicherung zu tun. Das Medium Computer ist einerseits in der Lage, so ziemlich alle Bildschirm-, Rundfunk- und akustischen Speichermedien zu emulieren, und selbst die Front gegenüber dem Printsektor, der sich lange gesperrt hat, ist inzwischen hinreichend aufgeweicht. Die außerordentlich hohen Emulationsfähigkeiten des Computers stehen in merklichem Kontrast zu einer recht gering profilierten eigenen Medialität: Vielleicht können noch Hypertextualität und Interaktivität als einigermaßen anerkannte eigenständige Qualitäten des Mediums gelten, aber damit hat es sich schon. Zudem hat es nicht allzu lange gedauert, bis die anderen Medien mit einer ‚me too‘-Strategie nachzogen: So wurde die Interaktivität des Verstehens und der Interpretation bemüht, und die komplexen Zeitverhältnisse und intertextuellen Bezüge der literarischen Moderne sind nicht so furchtbar weit von hypertextuellen Techniken entfernt. Von daher bleibt ausgerechnet die Medialität des Kandidaten für das neue Leitmedium weitgehend undeutlich und droht sich in den Leistungen der anderen Medien zu verlieren. Insofern fehlt es an jener symbolischen Prägnanz, die Leitung in jedem Fall erforderlich macht. Der Computer oder das Internet sind damit gleichermaßen schlechte Kandidaten für die Übernahme von Leitungsfunktionen im Mediensystem. Daher verwundert es auch nicht, dass sich Kandidaten aus der zweiten Reihe, wie etwa das Computerspiel, anheischig machen, den Rang eines Leitmediums

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für sich zu beanspruchen. Aber auch hier fällt es schwer, die mediale Eigenständigkeit nachhaltig unter Beweis zu stellen. Wir haben es also mittlerweile mit Kandidaten für den Status eines Leitmediums zu tun, bei denen noch nicht einmal klar ist, ob es sich bei ihnen überhaupt um eigenständige Medien handelt. Was also mit dem Computer bzw. Netz als Medium passiert ist, ist die eminente Verstärkung des Emulationspotentials bei gleichzeitig gering ausgeprägter Eigenmedialität. Genau diese strukturelle Profillosigkeit des Computers sorgt zwar dafür, dass er mit Verve zum Universalmedium erklärt werden kann, zugleich jedoch bewirkt sie, dass er zum Leitmedium überhaupt nicht mehr taugt. Aber das ist keineswegs die einzige Tendenz im Mediensystem, die darauf hindeutet, dass sich an den für die Frage von Leitmedien relevanten Strukturen etwas geändert hat. Der zweite und vielleicht noch um einiges bedeutsamere Aspekt ist der, dass sich das Leitmedium gerade aufgrund seiner geringen Medienspezifik und hohen Emulationskraft kaum dazu eignet, ein Mediendispositiv auszubilden und damit wenigstens in dieser Hinsicht als Medium kenntlich zu werden und auch zu bleiben. Der Computer schlägt sich nicht in der Spezifik von Produktions-, Distributions-, Erzähl- oder Plattformen nieder, sondern es bleiben meist die Formen der anderen Medien: So emuliert der digitale Schnitt den analogen, er kann nur mehr. Vielleicht kommt noch das Computerspiel einem solchen Dispositiv am nächsten, allerdings ist es auf allen diesen Stufen nicht mehr allein, sondern es muss sich das Medium mit den anderen Emulationen teilen. Wenn ein Mediendispositiv den exklusiven Konnex von spezifischem Content, ästhetischen, Produktions-, Distributions- und Plattformen meint, dann sind inzwischen die traditionellen großen Mediendispositive unrettbar obsolet. Die Mediendispositive sind noch gründlicher zerschlagen und fragmentiert als einstmals die amerikanischen Trusts, denn der ganze Vorgang verdankt sich nicht irgendwelchen ordnungspolitischen Ambitionen, sondern schlichter Technik: Die Digitalisierung nahezu aller Produktions- und Distributionsstufen machte diese Stufen eben auch durchlässig: Weder eine besondere Produktionsform, noch eine Distributionsform oder die Plattformen, auf denen die Medienprodukte zur Kenntnis genommen werden, gehören noch exklusiv zu einem Medium, vielmehr sind auf all diesen Ebenen die zur Verfügung stehenden Varianten vollständig austauschbar: Das Fernsehen verträgt sich mittlerweile genauso gut mit den stolpernden Laienschauspielern von YouTube wie der angestrengten Ästhetik eines avantgardistischen Kurzfilms oder den rasanten Fahrten eines Ego Shooters. Es wird längst nicht mehr nur gesendet, sondern ebenso gut per Video Stream, als DVD-Konserve oder als Podcast distribuiert. Und die Plattformen, auf denen das Ganze dann rezipiert wird, sind kaum minder verschieden: Vom konventionellen Fernsehen über den Rechner,

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die öffentliche Großprojektion, den portablen DVD-Player und das Handy ist TV so ziemlich auf jedem Mediengerät verfügbar gemacht worden. Und auch jedes Mediengerät ist mehr als ein Einzelmedium: So sind etwa GPS-Navigation, Radio, MP3-Player und Telefon in den medialen Endgeräten mittlerweile gewohnheitsmäßig miteinander verschaltet. Geräte, die nur ein einziges Medium bedienen können, sind kaum mehr zu kaufen. Selbst die von der Filmphilologie so sorgsam bewahrte Integrität von Filmwerken wird durch technische Potentiale so nachhaltig subvertiert, dass ihr nur mehr etwas Rührendes anhaftet. HD-DVDs lassen mittlerweile nahezu beliebiges Re-Editing16 zu und diese neu editierten Versionen sollen nicht etwa in privatistischen Zirkeln und Archiven verkommen, sondern sie sollen ausgerechnet vom Distributor des Werkes wieder allgemein verfügbar gemacht werden. Die Rezeptionssituationen sind damit endgültig nicht mehr zuverlässig prognostizierbar: Zwischen UBahnhof und Wohnzimmer ist fast alles denkbar und alle bekannten Organisationsformen des Publikums finden sich realisiert. Damit ist aber von keiner dieser Etappen des Mediendispositivs auf das Medium selbst zurück zu schließen. Medien haben ihre Identifizierbarkeit auf jeder Stufe ihres Dispositivs verloren, und d.h. das Medium schrumpft gerade aufgrund seiner Omnipräsenz und Indifferenz der Plattformen ihm gegenüber. Die Medien verschwinden in der frappierenden Gleichgültigkeit der medienlogischen Stationen17 ihrer Dispositive, und diese Stationen emanzipieren sich zusehends. Es ist viel interessanter, die unterschiedlichen Produktionsmodi zu vergleichen, als sich über Programmstrukturen auszutauschen, und auch die permanente Möglichkeit, die Plattformen ebenso wie die Sozialformen der Rezeption zu wechseln, birgt mehr an medienwissenschaftlichem Fragepotential, als die Analyse des Mediums Fernsehen überhaupt noch zu bieten hat. Die Frage, was denn ein Medium sei, beschäftigt zwischenzeitlich vor allem die Juristen, medienwissenschaftlich ist sie auf eine frappante Art uninteressant geworden. Das Medium ist allenfalls noch eine Restgröße des Mediensystems. Das Medium schrumpft. Wo da aber nun genau die Grenze sein soll, die es am völligen Verschwinden hindert, bleibt systematisch unbeantwortet. Zumeist soll das Problem durch ein nahezu trotziges Beharren auf dem traditionellen Begriff ausgesessen werden, auch wenn alle Techniker und Programmstrategen schon längst etwas anderes angehen, als es der alte Begriff ihres jeweiligen Mediums überhaupt hergibt. Die Institutionen des Mediensystems suchen so durch schlichtes Beharrungsvermögen das Problem, dass mit 16 Zur Re-editierung von Filmen auf HD-DVDS vgl. „New HD DVD Features Allows Consumers To Edit and Upload Video“. 17 Also Produktion, Formalästhetik, Distribution und Plattform, auf der das Medienangebot realisiert wird.

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dem Zerbrechen der Dispositive auch ihre Vertragsgrundlage entfallen ist, zu bewältigen. Wenn jedoch das Medium zu einer Restgröße retardiert, dann werden über kurz oder lang die Medieninstitutionen immer mehr das Schicksal derjenigen Konzerne teilen, die im Zuge von Restrukturierungsmaßnahmen vollständig ihre angestammten Geschäftsfelder verlassen haben: Sie werden nicht mehr die Institutionen eines definierten Mediums sein, sondern Agenturen, die alle mit allem untereinander konkurrieren. Allerdings ist im Mediensektor das jeweilige Produkt nun einmal nicht trivial, und d.h. es kann nicht ausgetauscht werden, ohne die gesellschaftlichen Bedingungen der Medienproduktion zur Diskussion zu stellen. Und in diesem Sinne ist es keineswegs gleichgültig, ob das, was in den Online-Angeboten von Rundfunkveranstaltern geschieht, Rundfunk ist oder nicht; aber das ist dann keine Frage des Begriffs mehr. Die diversen Medienbegriffe strapazieren insofern weitaus eher das medienhistorische Gedächtnis, als dass sie aktuelle Zustände im Mediensystem abbildeten. Der theoretische Trugschluss, dass die spezifische Medialität eines Mediums in irgendeinem formalästhetischen Kern oder gar in einem besonderen Sinn zu finden sei, also in dem, was die diversen Medienontologien zu ihren jeweiligen Wesensbestimmungen inspiriert hatte, erfuhr offensichtlich aufgrund des technischen Schrumpfens des Mediums eine neue Aktualität, obwohl er medientheoretisch erst vor kurzem mit einiger Mühe in die Offenheit der Mediendispositive überführt worden war. Das Medium als Restgröße zieht sich auf jene Formen, Formate und Programmstrukturen zurück, die einst von ihren ebenso gestrengen wie spezifischen Technologien kategorisch gefordert worden waren und von denen die jeweiligen Medien naturgemäß ihren Ausgang nahmen. A und O fallen solcherart medienhistorisch beklemmend genau zusammen – nur dass sie dann eben auch kaum mehr aussagen, als über die Geschichte all jener Formen, die mittlerweile überall zu haben sind, aufzuklären. Das Medium wird so zum Objekt medienhistorischer Forschung; für die akute Produktion, Rezeption und eben auch für die aktuelle Medientheorie ist es jedoch vollkommen unerheblich. Allenfalls als Archiv macht das Medium unter den Konditionen zerbrochener Dispositive noch Sinn. Medienproduktion droht solcherart zunehmend ohne Medien auszukommen, ja sie braucht streng genommen noch nicht einmal etwas über das Medium, dessen sie sich gerade bedient, zu wissen. Nun ist es keineswegs so, dass die Dispositive der einzelnen Medien sich quasi ohne Rest aufgelöst hätten. Sie sind daher nicht völlig folgenlos verschwunden, sondern sie sind vielmehr nur in eine größere Einheit, nämlich die des Mediensystems, überführt worden und haben dort ihre einst markanten Grenzen verloren. Die vielen einzelnen Dispositive der Einzelmedien sind zu einem allgemeinen Mediendispositiv fusioniert worden, und für das gilt, was

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für die Dispositive der Einzelmedien immer schon galt: Dass es sich um Medialität handelt, ist in jeder der einzelnen Stufen des Mediendispositivs erkennbar geblieben, gleich um welches Medium, um welche Plattform oder Distributionsform es gehen mag. Erkennbar ist allerdings nicht mehr, um welches Medium es sich im Einzelnen handelt. Die Identifizierbarkeit ist damit gleichsam nur unschärfer geworden. Genau genommen geht es um eine andere, nämlich eine wesentlich generellere Unterscheidung: Die Unterscheidung von Medium und Nicht-Medium tritt an die Stelle solcher obsolet gewordener Differenzen wie der von Rundfunk und Grammophon. Auch wenn solche generelleren Unterscheidungen, wiewohl sie als Unterscheidung genauso gut oder schlecht wie alle anderen Unterscheidungen funktionieren, im Ruf erhöhter Unschärfe stehen, so hilft nichts, denn ihre Generalität bildet nur die gegenwärtigen Strukturen des Mediensystems ab, und die zu hintergehen hätte Folgen für die mögliche Relevanz des betreffenden theoretischen Modells. Die Überführung der Dispositive der Einzelmedien in ein generelles Mediendispositiv wirkt sich natürlich auch auf die Frage der Leitmedialität aus. Es erhellt sich nahezu von selbst, dass es dann in diesem Kontext verschwindender Mediendispositive keinen Sinn mehr macht, überhaupt von Leitmedien zu reden. Denn den Schrumpfformen noch Leitqualität zubilligen zu wollen, ist geradezu widersinnig, und einigermaßen akzeptable Kandidaten, die an diesem Zustand etwas ändern könnten, indem sie quasi antizyklisch ein eigenes Mediendispositiv ausbildeten, sind nicht in Sicht. Die Bedingungen für einen solchen Kandidaten wären klar: Sein mediales Dispositiv müsste im Wesentlichen die Strukturänderung des Mediensystems unbeschadet überstanden haben, und es müsste ihm exklusiv gehören, um für die nötige Identität sorgen zu können. Selbst die einigermaßen hoch gehandelten Kandidaten aus der zweiten Reihe – Computerspiel und Internet – können ein solches autonomes Dispositiv nicht vorweisen, ja mehr noch: Sie gehören zu den führenden Protagonisten bei der Auflösungsbewegung medialer Dispositive. So bedienen sich beide, das Computerspiel und das Internet, an den im Mediensystem sonst noch verfügbaren Formen und integrieren diese in die eigene Produktion. Insofern bleibt das Interesse an der Übernahme der Leitung im Mediensystem der Wunschtraum von einzelnen Medien und ihren interessierten Verfechtern. Mit den Dynamiken im Mediensystem haben solche Interessen wenig zu tun, und gerade die Kandidaten lösen sich mit eminenter Geschwindigkeit in die aufgesprengten Etappen und Stationen der Mediendispositive auf. Wenn es also so zu sein scheint, dass Leitmedialität als Qualität eines einzelnen Mediums verabschiedet werden muss und sie einer vergangenen Organisationsform des Mediensystems angehört, dann stellt sich die Frage, wie in die kollabierten Mediendispositive überhaupt noch Strukturen einzuziehen sind. Das auf der Ebene des Mediensystems restituierte Dispositiv verschwin-

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det in der Allgemeinheit genereller Medialität und enthält sich jeglicher auch nur einigermaßen trennscharfer Ordnungsleistung. Denn selbst wenn die Leitmedien als Medien verabschiedet werden müssen, dann bleibt immer noch die Frage, was mit den Ordnungsleistungen, die die Leitmedien übernommen hatten, geschieht. Dabei war von zwei Ordnungsstufen auszugehen: der der einfachen Unterschiede der Medien, die durch ihre Dispositive besorgt wurden, und der der Hierarchisierung dieser Ordnungen und Unterscheidungen durch die Leitmedialität. Es geht also darum, dass innerhalb des integrierten Mediensystems die Leistung eines immerhin zweidimensionalen Ordnungssystems kompensiert werden muss. Da Medien einerseits zu klein geworden sind, um noch Ordnung stiften zu können, und sie sich zugleich aus den Etappen der Mediendispositive zurückgezogen haben, kann ein einzelnes Mediendispositiv auch nicht mehr die Textur für ein Ordnungsmodell abgeben. Dies gilt umso mehr, als damit auch nur eine Dimension der komplexen Ordnungsleistung von Leitmedialität abgebildet worden wäre. Die neue Ordnung muss damit quasi quer zu den Medien stehen. Ordnung kann im Mediensystem, wenn überhaupt, dann nur transmedial organisiert werden. Die implodierten Medien sind hierbei kein Faktor, so dass es auf Strukturen ankommt, die sich einerseits aus den Medien herausgelöst haben und die andererseits strukturell transmedial angelegt sind. Hinzu kommt, dass sich zwar der Zusammenhalt der Etappen der Mediendispositive aufgelöst hat, dass sich aber zugleich – und das ist quasi als bedingter, kompensatorischer Effekt zu denken – die Querintegration der einzelnen Etappen der Mediendispositive nachhaltig verstärkt hat. Die Emanzipation der Etappen der Dispositive führt zu einer orthogonalen Richtungsänderung der Integration des Mediensystems. Das Mediensystem wird dadurch quasi transversal verknüpft und das hat nichts mit einer transversalen Vernunft18 zu tun, sondern damit, dass die Gemeinsamkeiten zwischen den Medien auf den jeweiligen Produktionsstufen zwischenzeitlich größer geworden sind, als die der unterschiedlichen Stufen eines Mediendispositivs jemals waren. Damit hat sich die Richtung der Interdependenzen geändert. So stehen etwa die diversen Produktionsformen in Wettbewerb untereinander: Sie sind Objekte einer befremdlich freien Wahl und das vollkommen unabhängig davon, welche Inhalte für welche Plattform nun gerade produziert werden sollen. Ein wenig komplexer sind die Interdependenzen auf der Ebene des Contents und der Formästhetik, aber auch hier haben die Freiheitsgrade gegenüber den Medien massiv zugenommen.19 18 Welsch: Vernunft, S. 761 ff. 19 Das betrifft mittlerweile selbst Einheiten wie die der Geschlossenheit von Textstrukturen, die nicht nur in Hypertexten, sondern genauso gut auch von den Fea-

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Das Mediensystem wird damit quasi querverstrebt und durch diese vertikale Integration zugleich wieder stabilisiert. Und diese Streben, die sich aus der verstreuten Konkursmasse der Mediendispositive entwickelt haben, sind dabei die Textur der Ordnungsstruktur im Mediensystem um 90° zu drehen. Wenn es auch keinen Sinn mehr macht, von Leitmedien zu reden, so macht es durchaus noch Sinn von Ordnungsstrukturen im Mediensystem zu reden, und bei den beschriebenen Querverstrebungen der vertikalen Integrationsbewegung handelt es sich um nichts anderes als um die aktuellen Ordnungsstrukturen des Mediensystems. Diese Etappen oder Stationen des Mediensystems, in denen die Querverstrebungen emergieren, existieren vollkommen unabhängig von den traditionellen Medien. Differenziert werden sie durch nichts anderes als schlichte logische Notwendigkeit. Sie sind daher ausschließlich formal und damit vergleichsweise unempfindlich gegenüber historischen Zufälligkeiten. Sämtliche Medienprodukte, egal welche und gleich welchem Medium sie auch immer angehören sollten, müssen produziert werden, Form gewinnen, über irgendeinen Inhalt oder irgendein Motiv verfügen, distribuiert und letztlich auf irgendeiner Plattform rezipiert werden. In allen diesen Punkten haben sich mittlerweile recht stabile intermediale Bezüge etabliert, von denen die diversen Intermedialitätsdebatten jedoch nichts zu ahnen scheinen. Denn die Intermedialität der Distribution oder Produktion findet sich kaum irgendwo einigermaßen ernsthaft diskutiert. Ohnehin hängen die Intermedialitätsdebatten geradezu verzweifelt am abgestorbenen Körper der traditionellen Medien, indem sie alle diese Prozesse aus dem Verhältnis von Medien zueinander zu erklären suchen. Dabei bleibt völlig unerkannt, dass die einzelnen Säulen der Mediendispositive vollkommen unabhängig von einander verstrebt sind: Der Bezug der Produktionsformen zueinander hat nur wenig oder gelegentlich auch gar nichts mit dem der Formästhetiken oder Motive zu tun, und die Distributions- und Rezeptionsformen haben sich nicht nur voneinander, sondern eben auch von dem Rest abgesetzt. Das aber bedeutet, dass die transversalen Querverstrebungen des Mediensystems nicht nur von den Medien unabhängig und damit transmedial organisiert sind, sondern dass sie auch weitgehend von einander unabhängig sind. Das jedoch macht dem Leitmodell grundsätzlich zu schaffen: Wenn die Integration des Mediensystems auf mindestens fünf verschiedenen, von einantures der HD-DVDs zur Disposition gestellt werden. Selbst wenn die Erfolgsaussichten solcher Medienkalküle eher skeptisch zu beurteilen sind (vgl. Leschke: „,Diese Site wird nicht mehr gewartet‘“), so zeigt doch allein schon ihr Auftauchen die veränderten Rahmenbedingungen des Mediensystems und dessen gegenwärtiger Erfassungsradius, denn es werden damit bereits die ihrer Struktur nach widerspenstigsten Objekte der neuen Ordnungsstruktur des Mediensystems unterworfen, und d.h. der Prozess ist so gut wie abgeschlossen.

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der unabhängigen Integrationsprozessen beruht, dann gibt es eben diese fünf rein formalen Leitstrukturen im Mediensystem. Eine Privilegierung einzelner dieser Verstrebungen oder Traversen des Mediensystems ist per definitionem genauso ausgeschlossen wie ihre Hierarchisierung. Insofern bleibt nur, diese fünf Leitstrukturen zu analysieren, und Form ist eine dieser fünf Leitstrukturen im Mediensystem, die allerdings immer bedeutsamer zu werden scheint, da sie über einen der beiden möglichen Identifizierungsmodi von Medienprodukten verfügt. Der andere Modus, mittels dessen Medienprodukte identifiziert werden können, nämlich die Identifizierung von Objekten auf der Ebene des Contents, ist mit der rasanten Bewegung der Stoffe durch die Medien nicht nur zunehmend indifferent geworden, sondern er wurde wie alle anderen Säulen des Mediensystems auch auf sich selbst zurückgeworfen, und d.h. es bleiben bestenfalls noch intertextuelle Bezüge. Demgegenüber verfügen die genauso allgegenwärtigen medialen Formen über eine Eigenlogik und spezifische Konnektivität. Die Ordnungsleistung von medialen Formen ist daher vergleichsweise größer als die von Stoffen, Plots und Motiven, was sie im Zweifel zu den verlässlicheren Indikatoren im Mediensystem werden lässt. Von Form als Leitmedium kann allerdings allenfalls ironisch die Rede sein, denn Form kann zunächst einmal Vieles sein, nur ist sie mit Sicherheit kein Medium und – wie gesagt – Medien leiten nicht mehr. Form als Leitmedium meint also eine dieser Querverstrebungen oder Leitstrukturen des gegenwärtigen Mediensystems. Das, was Intermedialität – immer ein wenig diffus bleibend – zu beschreiben versuchte, lässt sich einigermaßen genau bestimmen, wenn die orthogonalen Versäulungen des Mediensystems jeweils in ihren Integrationsmodi reflektiert werden. Was den Content anbelangt, so hat die intermedial gesonnene Philologie bereits das Nötige getan und tut es noch. Die anderen Säulen sind es, die noch zu klären sind, allerdings ohne die Gewissheit, damit die Leitinstanz des Mediensystems gefunden und erklärt zu haben. Mediale Formen sind das, was sich im Bereich der Ästhetik zwischen den Medien bewegt, und das ist nicht im Sinne einer normativen Ästhetik, sondern im Sinne von Aisthesis gedacht. Formen tun vor allem eins: sie überführen Strukturen in einen wahrnehmbaren Modus. Zudem sind mediale Formen über die Grenzen von Medien hinweg außerordentlich mobil, und sie sind das immer schon gewesen, ohne dass ihnen sonderliche Aufmerksamkeit zuteil geworden wäre. Mediale Formen operieren unterhalb der Einheit des Medienprodukts oder Werkes, und gerade das macht sie so indifferent gegenüber den Medien. So sind dramaturgische Strukturen genauso gut in Dramen wie eben auch in Narrationen, Berichten und Computerspielen zu finden und das zusätzlich noch in allen verfügbaren Medien, in allen Distributionswegen und auf allen Plattformen. Diese systematische Unabhängigkeit von Medien und Content-Typen, wie etwa Genres, lässt sie zu einer Art Währung von Medienpro-

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dukten werden: Die mittleren Einheiten, die nahezu überall zu finden sind und deren Kenntnis die Rezeption ungemein erleichtert, werden zu einer Art mobilem Ordnungsdienst. Mediale Formen sind die Halbfertigprodukte des Mediensystems: Es sind allseits verfügbar gehaltene Schemata, vielfältig untereinander kombinier- und montierbar, dennoch keineswegs ohne Eigensinn. Mediensysteme haben sich immer schon ganze Inventare solcher Formen gehalten, und diese Inventare sind nie geizig gewesen, vielmehr haben sie sich verstreut und unter die Medien gemischt. Mediale Formen operieren so stets im Kollektiv, als Einzelne hingegen gelten sie nichts – wenigstens im Mediensystem. Mediale Formen funktionieren qua Redundanz, und d.h. eben auch, dass man allerorten auf sie trifft. Sie sind so omnipräsent, dass ihnen wenig Aufmerksamkeit und noch viel weniger Ehrgeiz geschenkt wird. Auch wenn mediale Formen zumeist ihren Ursprung in irgendeinem Einzelmedium haben und es daher z.B. genauso gut Spiel- wie Erzählformen gibt, so haben doch gerade sie sich vergleichsweise schnell von ihrer Bindung an das Ursprungsmedium gelöst. Mediale Formen stehen daher als Darstellungsformen dem Mediensystem nahezu unbegrenzt zur Verfügung: So sind zentral- und bedeutungsperspektivische Darstellungen mit ihren jeweiligen Implikationen in jedem Bildmedium zu finden, das sie technisch auch nur einigermaßen zu realisieren vermag. Die Formintegration bestand also schon geraume Zeit, bevor die technische Integration der anderen Stufen des Mediensystems bewerkstelligt war. Mediale Formen waren daher bereits vor dem digitalen Medienumbruch beweglich, allerdings gelang es ihnen nicht, integrative Kraft zu entfalten. Die Bindungskraft der Mediendispositive ließ Integrationsmodi unabhängig von Einzelmedien nicht denkbar werden. Erst in das von den aufgelassenen Mediendispositiven hinterlassene Vakuum konnten mediale Formen vorstoßen und ordnungspolitische Bedeutung gewinnen. Wenn also Form zu einem Leitmedium oder Ordnungsfaktor werden konnte, so ist das vor allem der versiegenden Bindungskraft von Mediendispositiven zu verdanken. Mediale Formen ermöglichen daher die Orientierung in einem weitgehend deregulierten Mediensystem. Sie ermöglichen das durch die Erfassung der Bedeutung von Formen und solcherart tritt die Form an die Stelle von Medien, die Bedeutung im Verein mit ihren Inhalten konstituierten. Dies gilt umso mehr, als wir es mittlerweile eigentlich vornehmlich mit Medien zweiter Ordnung zu tun haben. So reduziert sich die Medienqualität des Web auf eine reine Vernetzungsleistung, die sinnlich wahrnehmbaren Oberflächen und Displays hingegen operieren mit den allseits bekannten Bild- und Textstrategien. Die Medienqualität des Web ist daher vergleichsweise dezent, sie ist eigentlich nur mehr im Prozess der Interaktion wahrnehmbar. Die schreienden sinnlichen Differenzen, derer sich die Aufmerksamkeitsökonomie bedient, sind nicht mehr eine Angelegenheit des Mediums selbst, sie spielen sich vielmehr auf ei-

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ner vollkommen anderen Ebene ab, die sich selbst eher verbirgt, als dass sie sich wahrnehmbar macht. Die Ordnungsleistung der Formen fällt daher eher nüchtern aus. Mediale Formen sind ein Ordnungsmodell der Medien unter anderen. Sie erfassen ihr Objekt nie vollständig, sondern immer partiell. Sie bilden also begrenzte Ordnungsstrukturen in einem offenen Feld. Sie verfügen auch nicht über eine Binnenhierarchie, wie sie die Medien mit dem Modell der Leitmedialität etabliert haben. Dennoch, gerade wegen ihrer flachen Hierarchien und ihres signifikanten Mangels an Totalität, korrespondiert ihre Ordnungsleistung vorzüglich mit der gegenwärtigen Situation des Mediensystems. Die Ordnung des Mediensystems ist daher ähnlich zerstreut wie Walter Benjamin sich das einst von seinem Modell eines angemessenen Rezipienten, dem zerstreuten Examinator20, dachte: Mediale Formen sind das, was dem zerstreuten Examinator auch noch nach dem digitalen Medienumbruch erlaubt, sich zu orientieren und trotz aller Zerstreutheit wenigstens etwas von den verschwindenden Medien mitzubekommen.

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20 Vgl. Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, S. 41.

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Boehm, Gottfried: „Die Wiederkehr der Bilder“, in: Boehm, Gottfried (Hrsg.): Was ist ein Bild?, München 42006, S. 11-38. Breunig, Christian: „IPTV und Web-TV im digitalen Fernsehmarkt“, in: Media Perspektiven, H. 10, 2007, S. 478-491 (http://www.media-perspektiven. de/uploads/tx_mppublications/10-2007_Breunig.pdf). Eimeren, Birgit van/Ridder, Christa-Maria: Ergebnisse der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation. Trends in der Nutzung und Bewertung der Medien 1970 bis 2005, in: Media Perspektiven, H. 10, 2005, S. 490-504 (http://www.media-perspektiven.de/uploads/tx_mppublications/102005_Eimeren.pdf). Foucault, Michel: Dispositive der Macht: über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978. Gerhards, Maria/Klingler, Walter: Mediennutzung in der Zukunft – Konstanz und Wandel. Trends und Perspektiven bis zum Jahr 2010, in: Media Perspektiven, H. 10, 2004, S. 472-482 (http://www.media-perspektiven.de/ uploads/tx_mppublications/10-2004_Gerhards.pdf). Hausmanninger, Thomas: Kritik der medienethischen Vernunft. Die ethische Diskussion über den Film in Deutschland im 20. Jahrhundert, München 1992. Leschke, Rainer „,Diese Site wird nicht mehr gewartet‘. Medienanalytische Perspektiven in den Medienwechseln“, in: Scherfer, Konrad (Hrsg.): Webwissenschaft – eine Einführung, Münster 2008, S. 52-71. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle [1964], Düsseldorf 1968. Müller, Dieter K.: „Radio – der Tagesbegleiter mit Zukunft“, in: Media Perspektiven, H. 1, 2007 (http://www.media-perspektiven.de/uploads/tx_ mppublications/01-2007_Mueller.pdf). Müller, Horst: „Leitmedien oder ,Leidmedien‘? Hurra-Journalismus führt zu Kompetenzverlust“, in: Redaktion 2006 – das Journalistenjahrbuch, 23.12. 2005, http://www.blogmedien.de/?p=359, 07.11.2007. „New HD DVD Features Allows Consumers To Edit and Upload Video“, http://blog.streamingmedia.com/the_business_of_online_vi/2007/07/ new-hd-dvd-feat.html, 07.11.2008. Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie [1985], Frankfurt a.M. 1989. Welsch, Wolfgang: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.M. 1996.

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Helmut Schanze

Die Macht des Fernsehens – Leit- und/oder Dominanzmedium? 1

Medienmacht – Medienkultur

Nur auf den ersten Blick mutet die Diskussion über Leit- und/oder Dominanzmedien akademisch an. Sie ist aber eine durchaus politische. Ist Politik rationaler Umgang mit der Macht, so wird diese nicht zuletzt durch Medien als Agenturen der Öffentlichkeit erlangt und ausgeübt.1 Ist die Leistung der Medien die der Herstellung von Öffentlichkeit, so werden sie von den Herrschenden gesucht, aber auch gemieden. Die klassische Politik der Kabinette meidet die Medien; die Demokratie und die von ihr abgeleiteten modernen Formen der Herrschaftsausübung suchen sie. Über Medien lässt sich Macht erlangen, festigen und ausüben, aber auch kritisieren und stürzen. Seit der Antike wird von der Macht der Worte, von der Macht der Bilder geredet. Für die antike Rhetorik geht es um Gerechtigkeit und politische Entscheidungen in kontroversen Situationen, aber auch um Lob und Tadel der politisch Handelnden. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts bedient sich der Macht der Bücher und der Presse gegen eine feudale Arkanpolitik. Publizistische Mediennutzung zu Zwecken des Machtgewinns und der Machterhaltung, auch zur Gegenmacht im Sinne der checks and balances moderner Formen politischer Verfassung, bedarf bestimmbarer „Mediensprachen“. Medienpolitik ist nicht nur Politik durch Medien, sondern auch Politik in Bezug auf Medien. Kriegsaktionen werden umfassend durch Medien begleitet, Journalisten in die Kriegsführung eingebettet. Politiker versuchen, auf Medien einzuwirken, sie zu kontrollieren. Nicht ohne Grund versichern sich die „Mächtigen“ dieser Erde im „Medienzeitalter“ dabei verstärkt der Erkenntnisse der empirischen Medienwissenschaft, welche insofern das Erbe der antiken Rhetorik angetreten hat. Gleiches gilt für die Herstellung von Gegenöffentlichkeiten, nicht erst seit Bertolt Brechts medientheoretischen Forderungen nach einem Rückkanal. Kritische, kulturwissenschaftliche Medienforschung hat den ideologischen Gehalt der Medien analysiert und zum Aufbau von Öffentlichkeit (auch im Sinne einer Gegenöffentlichkeit) aufgerufen. Medien stehen nicht nur im Dienste der 1

Vgl. Schanze: „Ansätze zu einer Agenturtheorie der Medien unter besonderer Berücksichtigung des Fernsehens“.

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Helmut Schanze | Die Macht des Fernsehens – Leit- und/oder Dominanzmedium?

Macht, sie verhelfen auch den „Schwachen“ zu einer Gegenöffentlichkeit. Leitmedien, welche die jeweilige „Agenda“ setzen, sind durch eine Orientierungsfunktion für andere Medien, prominente Rezipienten und hohe Reichweite gekennzeichnet und genießen hierbei die besondere Aufmerksamkeit der Politik.2 Sie werden von ihr umworben und gefürchtet. Die Frage aber ist: Gewinnen sie nicht dabei zugleich eine Eigenmacht; wird der Diener der Öffentlichkeit zu deren Herrn? Eine zentrale Frage der kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft(en) ist – spätestens seit der Thematisierung des modernen Medienbegriffs zu Beginn des 20. Jahrhunderts – ob und inwieweit die „Medien“ „mitarbeiten am Gedanken“ und damit quasi autonom werden, wenn sie als Kommunikationsorganisationen und als technisch bestimmte Dispositive auch in politische Prozesse eingreifen. Während die klassischen Mediendefinitionen diese ‚Mitarbeit‘ mit guten (auch medienkritischen) Gründen aus der Mediendefinition herausrechnen, gehen die kulturwissenschaftlichen und mediengeschichtlichen Ansätze seit Paul Valéry und Walter Benjamin, aber auch bei Marshall McLuhan explizit von dieser ‚Mitarbeit‘ aus. Medien verwandeln die ‚Kunst‘ selber – so Valéry in einem Text, den Benjamin als Motto für seinen „Kunstwerkaufsatz“, der Ikone der Mediengeschichte, wählte.3 Neue Medien generieren neue Weisen der Wahrnehmung. Medien sind mehr als nur neutrale „Übergänge“ oder heteronome „Werkzeuge“. Als kulturelle Institutionen, für die und in denen Menschen tätig sind, bilden sie eigene Freiheiten – wie die „Pressefreiheit“, die „Rundfunkfreiheit“ – aus. Medien sind heteronom und autonom zugleich, wenn sie als Agenturen der Öffentlichkeit fungieren. Der Begriff der „Agentur“ beinhaltet beides: Der in ihr tätige Agent steht im Dienst eines Prinzipals, das „das Sagen hat“; seine Professionalität und seine technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten entziehen ihn aber der „Herrschaft“. Während der Künstler der Moderne seine Freiheit unbeschränkt beansprucht, dafür aber auch das Recht hat, unter den Brücken zu schlafen, arbeitet der moderne Knecht in den Medien, wie bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel ausgeführt hat, tendenziell sein „natürliches Dasein“ „hinweg“.4 Besondere Bedeutung gewinnen die Medienfreiheiten und die Versuche ihrer Regulierung – Stichwort „Zensur“ von Seiten der Mächtigen – in der Geschichte der Medien selber. Sie erscheint als komplexe Geschichte von technischen Dispositiven zur Herstellung von Öffentlichkeit, beginnend mit der Erfindung der Schrift und der Macht der Schreiber, über die „Presse“ bis hin zu 2

Vgl. die Beiträge von Otfried Jarren und Jürgen Wilke in diesem Band.

3

Vgl. Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“.

4

Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes.

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den Medien der Audiovision und, gegenwärtig, der Digitalmedien, die unabsehbar sich als „Mitarbeiter“ auch im politischen Prozess qualifizieren. In diesem medienkulturellen Feld ist der Begriff eines „Dominanzmediums“ zu verorten.

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Geschichte der Leitmedien – Geschichte der Dominanzmedien

Mediengeschichtlich ergibt sich in den letzten gut zwei Jahrhunderten vom „Gutenberg-Zeitalter“ über das der „Neuen Graphien“, den „Audiovisionen“ und den „Digitalmedien“ nicht nur ein Wandel in den Medienkonstellationen, sondern auch eine rasante Zunahme an Komplexion. Die „alten Medien“ kommen keineswegs außer Gebrauch; sie werden vielmehr im Kontext der „Neuen Medien“ neu bestimmt. In diesem Sinne kann man vom jeweils „Neuen Medium“ historisch als dem jeweiligen „Dominanzmedium“ sprechen. Der Begriff „Dominanzmedium“ ist seit Ende der 80er Jahre als medienhistorisches und medientheoretisches Konzept belegt.5 Im Kern geht es zunächst um eine nähere Abgrenzung der „Gutenberg-Galaxis“ von seiner Vor- und Nachgeschichte, dem Zeitalter der Mündlichkeit und der Handschrift einerseits, den technischen Audiovisionen, vor allem dem „Hörfunk“ und dem „Fernsehen“ andererseits. Erweitert wurde die Folge von Medienkonstellationen vor und nach der Erfindung des Buchdrucks dann aber auch um die zu beobachtende „Wiederkehr des Buchs“ in den Digitalmedien. In der Vorgeschichte des Begriffs „Dominanzmedium“ liegen medienhistorische Epochenbildungen, die auf die Medienumbruchsszenarien des Medienumbruchs der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurückgehen. Zu nennen sind hier aus der Literaturgeschichte bekannte Namen wie Hugo von Hofmannsthal, Alfred Döblin, Benjamin, aber auch die Begründer der Filmtheorie und -geschichte, wie Béla Balázs und Siegfried Kracauer. Zu Recht hat

5

Vgl. Schanze: „Die Tradition des Buchs in unserer Gesellschaft unter dem Druck der neueren Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationsmedien“, „Die Wiederkehr des Buchs“, „Geschriebene Bilder“, „Einleitung“, „Integrale Mediengeschichte“, „Mediengeschichte des Drucks“, „Fernsehtheorie“, „Mediengeschichte“; Kammer u.a.: Textsysteme und Veränderungen des Literaturbegriffs; Roloff u.a.: Europäische Kinokunst im Zeitalter des Fernsehens. Einen analoges Vorgehen findet sich bei Friedrich Kittler in seiner mediengeschichtlichen Epochenparallele, vgl. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, insbes. S. 149158. Hier wird das „Buch“ implizit als historisches „Dominanzmedium“ eingeführt. Von einer Folge von Dominanzmedien handelt auch Werner Faulstich, vgl. Faulstich: Geschichte der Medien.

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Horst Wenzel darauf hingewiesen, dass „Mediengeschichte selbst ein Medieneffekt“ sei.6 Die Evidenz des „Zerfalls der Worte“, wie sie um 1900 bereits bei von Hofmannsthal ebenso selbstkritisch wie kulturkritisch thematisiert wurde, wurde zum Modell einer historischen Epochenkonstruktion, in der, sehr abgekürzt, zunächst die „Schrift“ vom „Buch“ – so die These bei Walter Ong7 –, dann das „Buch“ von der „Audiovision“ – so die These von McLuhan8 – und schließlich durch das „Digitalmedium“ epochenkonstitutiv dominiert werden. Die Besonderheit der „Multimedia“ besteht, vorbegrifflich formuliert, dass nicht nur die Schrift und das Buch, sondern auch die Töne und das bewegte Bild unter den „Druck“ der „neueren Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationsmedien“ geraten, die „Schrift“ und das „Buch“ aber neue Chancen auf der „Digitalen Plattform“ erhalten, was nicht zuletzt auch die Mediengeschichtsschreibung inspiriert hat. Die Geschichte der Multimedia (der generischen – nachahmenden – Medien) der letzten gut 30 Jahre des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart gerät zu einer verkleinerten Mediengeschichte, beginnend mit dem Buch und seiner Digitalisierung in den Textsystemen über die Digitalisierung der Töne, der Bilder und schließlich der Filme und der Audiovisionen, was wiederum deren Erforschung zu einem umfassenden Desiderat nicht zur im Blick auf die Einzelmedien, sondern auch im Blick auf eine „Integrale Mediengeschichte“ erhebt. Mediengeschichte lässt sich als diskontinuierliche Folge von „Dominanzmedien“ schreiben, an deren offenem Ende derzeit der „Computer im Netz“ steht. Gegenwärtig sind die elektronischen Digitalmedien zu „Dominanzmedien“ geworden: „die dominante Repräsentationsform von Wissen“ ist „nun das Programm“.9

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Fernsehen als Paradigma

Wie aber steht der medienhistorisch und medientheoretisch verortete Begriff des „Dominanzmediums“ zum Begriff des „Leitmediums“? Eine einfache Abbildung der beiden Begriffe aufeinander, im Sinne der historischen Konstruktion, dass sich das jeweilige Dominanzmedium zugleich auch als „Leitmedium“ qualifiziere, ist kaum möglich. Als „Leitmedium“ wird im gegenwärtigen Me6

Wenzel: „Vom Anfang und vom Ende der Gutenberg-Galaxis“, S. 339. Das Teilprojekt A4 des Forschungskollegs FK 615 „Medienumbrüche“ der Universität Siegen hat ein umfangreiches Dossier entsprechender Texte gesammelt und ausgewertet.

7

Vgl. Ong: Oralität und Literalität.

8

Vgl. McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis.

9

Kammer u.a.: Textsysteme und Veränderungen des Literaturbegriffs, S. 5.

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diendiskurs immer noch „das Fernsehen“ angesehen, auch wenn dies gelegentlich, auch im politischen Raum, bestritten wird. Dabei geht der Blick zurück in die Mediengeschichte, aber auch in die Medienzukunft. Dass – so eine Stimme aus dem benachbarten Ausland – die „Leitmedien Radio und Fernsehen den öffentlichen Diskurs in der Schweiz“ ‚beherrschten‘, müsse in Frage gestellt werden. Denn – und hier schwingt auch gute politische Tradition ohne „Deutschen Lautsprecher“ mit – es gelte für die Eidgenossenschaft und ihre Hochschätzung von Mündlichkeit der öffentlichen Verhandlungen und der Schriftlichkeit der Gesetze: „Zweifellos sind sie hier weniger dominant als in den Nachbarländern“.10 Der Verfasser führt dies auf eine gewachsene Bedeutung der Tageszeitung in seinem Lande zurück. Der österreichische Kulturstaatsekretär Franz Morak dagegen blickt in die Zukunft. Er hält, im gleichen Kontext einer Diskussion über den „Rundfunk im Umbruch der elektronischen Medien“ – gemeint sind hier die „neuen“ Digitalmedien – fest: „Das Fernsehen ist nach wie vor das Leitmedium, und wird es auch noch länger bleiben“. Aber: „Und dieses Fernsehen wird vor allem mit dem Internet um Nutzer-Aufmerksamkeit ringen müssen.“11 Im politischen Diskurs bleibt also offen, in welchem Verhältnis der Begriff des „Leitmediums“ zu dem des aktuell „dominanten“ Mediums steht. Dies gilt auch für die medienwissenschaftliche Begriffsbildung. In seiner knappen lexikalischen Definition des Begriffs der „Massenmedien“ (der Plural ist durchaus angemessen), hat Udo Göttlich darauf hingewiesen, dass der Begriff des „Leitmediums“ „oft“ im Zusammenhang mit dem Begriff des „Dominanzmediums“ verwandt werde. Damit, so Göttlich, sei „jeweils die Dominanz eines spezifischen Einzelmediums in einer bestimmten historischen Phase gemeint, dem nach Maßgabe der Entfaltung der publizistischen Kriterien: Aktualität, Universalität, Periodizität und Publizität – eine Hauptfunktion in der Konstitution gesellschaftlicher Kommunikation und von Öffentlichkeit“ zukomme.12 Er führt beispielhaft, im Sinne eines erweiterten mediengeschichtlichen Ansatzes, die „Flugschrift“ der frühen Neuzeit an. Aber: „In der zweiten Hälfte des 20. Jh. ist das unbestrittene Leitmedium das Fernsehen.“ „Möglicherweise“, so der Verfasser, „wird das Leitmedium des 21. Jh. Multimedia sein“, was aber „nichts anderes heißt, als dass die bislang einem einzelnen Medium zugeschriebene Leistung sich eben nicht mehr auf ein Einzelmedium bezieht, sondern via Computertechnik auf eine vernetzte Medienvielfalt“.13

10 Studer: „Elektronische Medien in der Schweiz im Umbruch“, S. 53. 11 Morak: „Die Zukunft des Dualen Rundfunksystems“, S. 121. 12 Göttlich: „Massenmedium“, S. 194. 13 Ebd.

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Sind also die Begriffe „Leitmedium“ und „Dominanzmedium“ in Bezug auf „Fernsehen“ gegenwärtig (noch) nahezu austauschbar, oder sind spezifische Differenzierungen nötig und sinnvoll? Dass dabei keine einfache Begriffsabgrenzung vorgenommen werden kann, erhellt bereits aus den Statements im medienpolitischen Diskurs und aus dem medienwissenschaftlichen Definitionsansatz. Der eingeführte Begriff des „Leitmediums“, wie ihn die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft entwickelt hat, vermischt sich in den öffentlichen Diskursen mit denen eines „Dominanzmediums“, das für eine Epoche und ihre Darstellung in der Mediengeschichte durchaus auch eine Leitfunktion hat, die Begriffe gehen aber nicht ineinander auf, noch sind sie synonym. Folgen wir dem medienhistorischen Ansatz, so kann ein „Dominanzmedium“ in einer bestimmten Epoche der Mediengeschichte als „Agent des Wandels“14 qualifiziert werden. Für das 20. Jahrhundert ist dies, darüber besteht in Politik und Medienwissenschaft gleichermaßen Konsens, die „entwickelte Audiovision“, „das Fernsehen“. Es wird, zumindest im euro-amerikanischen Konsens, von der Nutzungsform her definiert, als „Television“, wobei die Dimension des „Hörens“ definitorisch im Hintergrund bleibt. Die technische Bezeichnung „Rundfunk“ oder „Radio“ bleibt im allgemeinen Sprachgebrauch dem „Hörfunk“ vorbehalten, dem älteren Bestandsstück der Audiovision, das aber weitgehend auch die Gesamtstruktur des modernen „Massenmediums“ bestimmt hat. Die Definition von der Nutzungsform her unterscheidet die Audiovisionen einerseits von den Druckmedien, andererseits aber auch vom „Computer im Netz“, dem „Neuen Medium“. Wie ist „das Fernsehen“ in der historischen Konstruktion einer Folge von Dominanzmedien zu verorten? Ist „Fernsehen“, das „Leitmedium“ des „Zeitalters der Audiovision“, in der Medienkonstellation am Ende des 20. Jahrhunderts auch in dieser Funktion abgelöst worden, wie zuvor nur die „Presse“ und das „Buch“? Nicht ohne Grund konnte McLuhan von einem Ende der „Gutenberg-Galaxis“ sprechen – ob er damit das Ende des 19. Jahrhunderts oder seine Gegenwart meinte, in der sich das Fernsehen in der Tat „durchgesetzt“ hatte und – dies ist sein Exempel: auch Wahlen in den USA entschied – blieb sein Geheimnis. Einige seiner Interpreten wollen aus seinen Schriften eine Prophetie auf ein neues Zeitalter, das Zeitalter der „Automation“ herauslesen. „Innerhalb der elektronischen Medien könnte schon bald das Fernsehen als Leitmedium von interaktiven Mediensystemen abgelöst werden“.15 In der Tat 14 Vgl. Eisenstein: The Printing Press as an Agent of Change. 15 Schmitz: „Neue Medien und Gegenwartssprache“, S. 8, vorsichtig, unter Bezug auf Sandbothe/Zimmerli: „Einleitung“, S. VIII, und im Blick auf eine empirische Untersuchung im Auftrag der Telekom, Kalt: „Multimedia“.

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wird man gegenwärtig zwar von einem neuen Dominanzmedium im Sinne der medienhistorischen Epochenkonstruktion, aber nur sehr eingeschränkt von einem „Leitmedium“ Computer sprechen können. Auch wenn das Fernsehen auf der „Digitalen Plattform“ neu erfunden wurde, und auch im Blick auf neue Chancen von Schrift und Buch: die Nutzungsform Fernsehen weist auch heute noch einen dezidierte Leitfunktion als Agentur der Öffentlichkeit auf. Die Mediengeschichte der Gegenwart, mit ihrem Komplex von ganz alten, alten, neuen und ganz neuen Medien, die auf der „Digitalen Plattform“ ein Ensemble an Differenzierungen und Fusionen anbieten, zeigt Inkonsistenzen, Brüche, Diskontinuitäten und Abbrüche, die eine einfache Bestätigung der Macht der Medien durch empirische Medienforschung, aber auch eine pauschale Kritik einer alles beherrschenden „Kulturindustrie“ nicht mehr zulassen. Die Utopien der Ermächtigung des Nutzers durch die „Neuen Medien“, die – scheinbar – einen „emanzipativen Mediengebrauch“ im Sinne der Herstellung einer Gegenöffentlichkeit ermöglichen, wie auch das Ausgeliefertsein an irrationale mediale Kettenreaktionen, provozieren eine Hyperdynamik, in der Medien nicht mehr nur eine Orientierungsform bilden, sondern geradezu zur Desorientierung beitragen, die dann wieder durch neue Orientierungsmedien („Metamedien“) bearbeitet werden können. Sind sie, die „Suchmaschinen“ und „Portale“ nun die wahren „Leitmedien“ geworden, oder provozieren sie nicht doch jene Nostalgie des Buchzeitalters, ja sogar die einer wiederkehrenden, simulierten Mündlichkeit in „Web-Logs“ („Blogs“) und „Foren“, wie sie im „Neuen Medium“ zu beobachten ist? Oder ist gar die Renaissance des „guten“ Buchs und der „Qualitätspresse“ als alte und neue Leitmedien zu registrieren, in Konkurrenz zum „Fernsehen“, das sich auf seine Unterhaltungsfunktion reduzieren lässt? Versucht man sich an einer „Integralen Mediengeschichte“, so sind die medialen Konstellationen und Konflikte, der „Kampf“ um „Aufmerksamkeit“, ja um „Herrschaft“, die Kategorien im Kontext der „Agenturen der Öffentlichkeit“, auch von medienwissenschaftlichen Interesse. Um der analytischen Klarheit willen sollte und muss dabei der systematische Begriff des „Leitmediums“ vom medienhistorischen und -theoretischen Begriff des „Dominanzmediums“ geschieden, beide Begriffe jedoch aufeinander bezogen bleiben. Einerseits ist der Begriff des „Leitmediums“ (oder besser: der Leitmedien) eine Beschreibungskategorie in der Erforschung politischer Medienmacht, dient aber andererseits in der Mediengeschichtsschreibung auch dazu, einen „Kanon“ für in bestimmten Epochen beispielhaften „Medien“ zu bilden. So ist die große These vom „Vierten Alliierten“, der Presse nämlich, für die Napoleonischen Zeit und deren Ende in einer großen Dreierkoalition der drei Kaiser und Könige, eine sowohl systematisch-aktuelle wie auch eine dezidiert historische. Man wird für das frühe 19. Jahrhundert an das „Imperium“ der Buch- und

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Zeitschriften des Verlegers Johann Friedrich Cotta erinnern, der in der Tat „Leitmedien“ aufbaute, so mit seiner Augsburgischen Allgemeinen Zeitung, und am Ende des 19. Jahrhunderts an die maßgeblichen Leistungen des Verlegers Samuel Fischer, um in der Mediengeschichte des Drucks zu bleiben.16 Aus der damaligen Macht des „Leitmediums“ der neu entdeckten „öffentlichen Meinung“ lässt sich die epochale Bedeutung des Buchmediums im 18. und des Pressemediums im 19. Jahrhundert ableiten; beide Medien werden, als Abkömmlinge der „Gutenberg-Galaxis“, durch die „Neuen Medien“ des 19. Jahrhunderts, an seinem Ende manifest, als Dominanzmedien abgelöst – keinesfalls jedoch, wie das Schweizer Beispiel zeigen mag, als „Leitmedien“. Gleiches gilt, mutatis mutandis, auch für das „Fernsehen im Umbruch“. Umgekehrt wird man aber den Begriff des „Dominanzmediums“ auch in der publizistischen Diskussion einsetzen, allein schon deshalb, weil man damit die „Modernität“ des Kommunikators (so in der Virtuosität bei der Absendung von Short Messages [SMS]) demonstrieren will, und damit seine Unabhängigkeit von der „Horde“ der Journalisten.

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Geschichte des „Bildschirmmediums“: der „schüchterne Riese“ und das Zeitalter der „Automation“

Fernsehen nimmt hier eine Zwischenposition ein. Einerseits ist und bleibt es das „Pantoffelkino“, andererseits animiert es den „mündigen Nutzer“, der selbst sein Programm gestalten will (oder soll). Fernsehen wird seit den 80er Jahren jährlich neu erfunden – kurz, es mutiert zum generischen „Digitalmedium“. Es blieb dabei gleichwohl, im publizistischen Sinn, „Leitmedium“ unter einem neuen „Dominanzmedium“. Und dies heißt nichts anderes, als dass im „Umbruch der elektronischen Medien“ medienhistorisch eine Dominanz des „Digitalmediums“ zum Ereignis wird, ohne dass dabei die Leitfunktion des „alten Mediums“ – nun auf der „Digitalen Plattform“ mit tausend und mehr Kanälen installiert – signifikant aufgehoben würde. Sozialwissenschaftliche Medienforschung kann empirisch nachweisen, dass gerade die jeweils „alten Medien“ ihre Leitfunktion durchaus behalten können, und kulturwissenschaftliche Medienforschung wird diesen Befund ästhetisch wie auch historisch stützen können. Umgekehrt aber wird das neue Dominanzmedium – mit Elizabeth Eisenstein – zum Agenten des Wandels und mischt sich, als neue Agentur der Öffentlichkeit, in deren Konstitution mit Macht ein. Zwar hat der „Schüchterne Riese“, wie McLuhan sein Fernsehkapitel titelte,17 gegen seine 16 Vgl. Schanze: „Mediengeschichte des Drucks“, inkl. weiterführende Literatur. 17 Vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 336-366.

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Konkurrenten aus Presse und Hörfunk ein lange verborgenes Dasein geführt, war eher – um eine andere Stimme zu zitieren – der „hidden persuader“.18 Als aber die Macht der Fernsehdiskussionen den Politikern bewusst wurde, war auch das neue Dominanzmedium erkannt. In medienhistorischer Sicht wurde es das Fernsehen – entsprechend dem Satz, dass die Eule der Minerva ihre Flügel erst in der Dämmerung erhebe – erst zu einem Zeitpunkt, als „der Computer“ schon längst die „Kontrolle“ übernommen hatte. McLuhans angebliche Prognostik war in der Tat schwach: Was er an „Automation“ beschreibt, war zum Zeitpunkt der Niederschrift der „Magischen Kanäle“ bereits durch die elektronische Technik der vernetzten Rechner überholt. Aber dieses technologiegeschichtliche Faktum wurde von der „Öffentlichkeit“ erst zwei Jahrzehnte später wahrgenommen, mit dem Durchbruch des „World Wide Web“. Andererseits ließ eine „Medienphilosophie“ des bewussten „Fernsehens“ bis zum Ende der 90er Jahre auf sich warten.19 Nimmt man den Begriff des Dominanzmediums als einen für die Konstruktion von Mediengeschichte leitenden Begriff, so ist das Beispiel „Geschichte des Fernsehens“ also in doppelter Weise von Interesse. In der „literaturwissenschaftlichen Fernsehforschung“ provozierte sie eine einlässliche Beschäftigung mit dem Medienbegriff selbst, in der sozialwissenschaftlichen Medienforschung die Frage nach den „Auswirkungen“ der Medien. Jede „Theorie der Neuen Medien“ – und dies sind die alten Medien in der Mediengeschichte immer auch gewesen – muss sich dieser Doppelstruktur von Konstitution, bzw. „Erfindung“, und „Auswirkung“ zuwenden, und insofern auch den Bezug der Begriffe „Leitmedium“ und „Dominanzmedium“ aufeinander in Rechnung stellen. Die historische Fernsehforschung sah sich von Anbeginn in den 70er und 80er Jahren diesem multiplen Medienbegriff ausgesetzt. Als Beispiel kann das Forschungsprogramm des „Sonderforschungsbereichs 240 Bildschirmmedien“ an der Universität Siegen dienen.20 Es formulierte als Ausgangsthese einen doppelten Medienbegriff: a)

Medium als sinnlich wahrnehmbarer Repräsentationsmodus kognitiver Inhalte.

18 Vgl. Packard: Die geheimen Verführer (Originaltitel: „The Hidden Persuaders“). 19 Vgl. Fahle/Engell: Philosophie des Fernsehens. 20 Vgl. u. a. Schanze: „Stand und Aufgaben der Fernsehforschung im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 240 der deutschen Forschungsgemeinschaft ‚Ästhetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien‘“.

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b)

Medium als sozial bestimmbare und organisatorisch begrenzte Institution (Hörfunk, Fernsehen, Film etc.).21

Die 1985 vorgesehene „Schwerpunktbildung beim Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland“ war nicht nur forschungsökonomisch zu begründen. Sie erfolgte vielmehr konsequent aus der Position des „Dominanzmediums“ in der ersten, des „Leitmediums“ in der zweiten Definition und ihren forschungsgeschichtlichen Hintergründen. So lässt sich die Diskussion um die Frage nach „Leitmedium“ und/oder „Dominanzmedium“ Fernsehen auf Programm und Methodiken des Sonderforschungsbereichs abbilden. Sie stellte die Forschung vor eine methodologisch keineswegs einfache Aufgabe. Sie war, so die abschließenden Überlegungen im Sammelband Bildschirm – Medien – Theorien,22 nicht nach einer einheitlichen, entweder systematisch-empirischen oder historisch-kulturwissenschaftlichen, Methode zu lösen, sondern forderte ein „Methodenquadrupel“ historisch-hermeneutischer, empirischer, konstruktivistischer und dekonstruktivistischer Vorgehensweisen. Methodiken sind stets eine Frage des Gegenstands; Methodendiskussionen reflektieren nicht zuletzt die Frage nach seiner Konstitution. Themensetzungen, Epistemologien, Methoden im engeren Sinn, aber auch Teleologien bestimmen nicht nur die Vorgehensweisen, sondern auch den Begriff des „Mediums“ selbst. Den unterschiedlichen Standpunkten in der Methodendiskussion sind unterschiedliche Medienbegriffe zuzuordnen, Theoriekonzepte, die selber wiederum durch „Medien“ bestimmt sind. Der Kanon des Bildes, der Kanon des Tons, der Kanon der Schrift und der Kanon der Zahl lassen sich nicht einfach aufsummieren; forschendes Vorgehen bleibt an die anthropologisch gegebene Differenz der Basismedien, in denen Ergebnisse formuliert werden konnten, gebunden. Der „klassischen“ Druckform ist das „Bild“ als „Illustration“ die gegebene Ergänzung, die „Töne“ lassen sich nicht auf Notationen beschränken, und die Zahlen und Anzahlen, welche eine genauere Empirie erzeugt, bedürfen der anschaulichen Darstellung. Gerade weil „Fernsehen“ als entwickelte Audiovision ein Universalmedium anbietet, war mit dieser auch begrifflichen Komplexion zu rechnen. Wird Fernsehen als „Bildschirmmedium“ definiert – ohne dabei die „Töne“ zu vergessen – so ist diese Komplexion auch in das „Neue Fernsehen“ zu transformieren. In der Tat ist Fernsehen auf der „Digitalen Plattform“ eine der 21 Vgl. den Antragsband des Sonderforschungsbereichs 240 „Ästhetik, Pragmatik und Geschichte der Bildschirmmedien. Schwerpunkt: Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland“, S. 6. Die Antragsfassung ist von Helmut Kreuzer verfasst; sie geht zurück auf eine von Thomas Koebner, Siegfried J. Schmidt und Schanze erarbeitete Vorlage. Die Definitionen wurden von Schmidt eingebracht. 22 Vgl. Gendolla: Bildschirm – Medien – Theorien.

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möglichen Nutzeroberflächen des Digitalmediums, bei der alle seine Elemente, die Texte, die Töne und die bewegten Bilder, zunächst jeweils eigenständigen Prozessen der Digitalisierung unterworfen werden müssen. Die technischen Prozesse des „(De-)Multiplexing“ machen aus den unterschiedlichen „Kanälen“ ein speicher- und sendbares „Format“, das beim Nutzer wieder zerlegt wird, um Auge und Ohr zu erreichen. Die „Digitalisierung“ des Fernsehens, einschließlich der Ermächtigung des Nutzers, erfordert eine differenzierende Erforschung nicht nur der technischen Voraussetzungen und der Institutionen, sondern auch des „Programms“ des Fernsehens, so, wie es sich in einem halben Jahrhundert entwickelt hatte. Dem stellte sich der „Sonderforschungsbereich 240 Bildschirmmedien“ mit seiner Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland,23 der ersten umfassenden Mediengeschichte des Fernsehens als „Einzelmedium“ überhaupt. Zu den „Rahmenaspekten“ traten die Darstellungen des konkreten Bezugs des „Fernsehens“ zu den älteren Medien, wie der Literatur, der Bildenden Kunst, der Musik und des Films, und zu seinen eigenen „Formen“, die es als Medium der „Bildung“ qualifizierten, seiner Aufgabe als Informant und Dokumentar der Gegenwart und schließlich auch als Medium der „Unterhaltung“.24 In diesen Darstellungen, soweit sie sich auf die „Epoche“ der Audiovision bezogen, erschien Fernsehen immer zugleich als Dominanz- und als Leitmedium.

5

Transformationen der Audiovision

Fernsehforschung, und mit ihr auch die Frage nach dem Status des Fernsehens als ‚Dominanz und/oder Leitmedium‘, entstand am Rande eines Medienumbruchs. Absehbar war die Neuerfindung des Fernsehens, weit über eine „Duale Rundfunkordnung“ hinaus, welche die „Mächtigen“ zur Regulierung des „Leitmediums“ verordneten. Sie hatte mit einem ungemessenen Selbstvertrauen der ‚Macher‘ zu rechnen, die ihre eigene Geschichte am liebsten selber schreiben wollten, sie hatte die Technikskepsis der eingeführten Kulturwissenschaft zu bearbeiten und die Fremdheit der systematisch-empirischen Wissenschaften gegenüber historischen Anfragen. Wenn Mediengeschichte zum Paradigma der Posthistorie avancierte, so mussten nicht nur die eingeführten Methoden der empirischen Medienforschung, sondern auch die klassischen „Werkzeuge des Historikers“ in Frage gestellt werden. Sie sah aber auch bereits das „Ende“ der analogen Audiovisionen. Fiel in einer „Geschichte des 23 Kreuzer/Thomsen: Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. 24 Angelehnt an die Bandtitel von ebd.

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Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland“ das „Leitmedium“ noch mit dem aktuellen „Dominanzmedium“ zusammen, so waren einerseits noch die „alten“ Leitmedien – gemeint sind hier Presse und Buch, aber auch das neue „Dominanzmedium“ – in Anschlag zu bringen. Das neue Kunstwort „Bildschirmmedien“ im Titel und die Schwerpunktsetzung „Geschichte des Fernsehens“ trug dem Rechnung. Die Frage nach dem „Verhältnis“ von „Leitmedien“ zu „Dominanzmedien“, die einbeschlossen ist in die Frage nach der „Macht“ der Medien, im Sinne einer real-politischen Macht und Gegenwart einerseits, eines in Diskurstheorien verhandelten „Gewaltverhältnisses“ andererseits, wie es sich in „Anstalten“ und „Medien“ in der Kulturgeschichte ausgebildet hat, verspricht also auch in Zukunft keine einfache Lösung. Der mediengeschichtliche Ansatz wird die beiden Begriffe konkret einsetzen: zur Beschreibung der kanonischen Geschichte der Einzelmedien (so auch des Fernsehens) als Leit- und Dominanzmedien, als Begrifflichkeit einer Makrostruktur der Mediengeschichte und zur Beschreibung von Medienkonstellationen und Medienkonfigurationen in bestimmten Epochen. Dabei kommt es, mit Notwendigkeit, zu Überschneidungen und Diskontinuitäten. Ist das Fernsehen, das hier als Paradigma eingebracht wird, im 20. Jahrhundert als „Dominanzmedium“ zu bestimmen, so qualifiziert es sich erst in den 80er Jahren vom „schüchternen Riesen“ zum „Leitmedium“ im Sinne der publizistischen Definition, und es verliert diese Zuschreibung keineswegs im „Medienumbruch“ zu den „Digitalmedien“, in dessen Hype es aber radikal neu definiert wurde und der auch den von ihm scheinbar „aufgehobenen“ alten Medien, wie dem „Buch“, neue Spielräume gab. Die zitierten Aussagen der Medienpolitik sind zutreffend, aber sie bedürfen der genauen Differenzierung. Wird dem „Fernsehen“ noch einen Leitfunktion zugesprochen, so dürfte sie weniger einer Fortschreibung der alten Dominanzposition entspringen, sondern eher einer Neudefinition, die gerade auch in der Vielzahl der „Kanäle“ ein emanzipatives Potenzial des einstigen „Massenmediums“ entdeckt hat. Auch die Neubewertung der Presse als Leitmedium reflektiert keineswegs auf die Massenpresse und der massenhaften Trivialliteraturproduktion seit dem 19. Jahrhundert, sondern auf dem unübersehbaren Anspruch des Buchs, der Zeitschrift und der Zeitung, wie ihn der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und seine Kritik der Mächtigen im 18. Jahrhundert hervorbrachten. Die historische Medienforschung kann sich auf den multiplen Medienbegriff des Zeitalters der „Multimedia“ einlassen. Sie kann die politischen und kulturellen „Auswirkungen“ der Medien und deren Nutzung im Detail kritisch beschreiben. Die hochdifferenzierten Agenturen der Öffentlichkeit können, im wessen Dienst auch immer, funktional über den Begriff des „Leitmediums“ bestimmt, ja sogar im Sinne einer übersichtlichen Darstellung ihrer Geschichte

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„kanonisiert“ werden. Als „Repräsentationsmodi“ arbeiten sie mit an der Konstruktion unserer Welt. In diesem Zusammenhang sind sie über das jeweilige „Dominanzmedium“ definiert, das die Formen der Wahrnehmung und seiner Rationalität, das Hören, Sehen und Lesen, in unabsehbarer Weise bestimmt.

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Andreas Ziemann

Von ‚evolutionary universals‘ zu ‚Leitmedien‘ – Theoriehintergründe und Begriffsklärung 1

Einleitung

Es scheint, wenn man diversen Alltagsbeobachtungen folgt, einschlägige Selbstbeschreibungen aufgreift oder statistische Analysen liest, eine gewisse Selbstgewissheit von und über Leitmedien zu geben. Bisweilen sind dies dann der Spiegel, die Zeit oder Bild, für viele das Fernsehen und für die Gruppe der 14-29jährigen der Computer. Worauf sich diese Urteile allerdings über den Modus der Selbstbindung hinaus stützen und welchem Verständnis von Leitmedien sie genau folgen, bleibt nur allzu oft ungewiss.1 Es scheint mir deshalb verfehlt, vom empirischen Phänomenbereich auszugehen, um eine Klärung zu erwarten. Ich werde genau entgegengesetzt vorgehen und aus verschiedenen soziologischen Theorieperspektiven einen Begriffshorizont zu ‚Leitmedien‘ abstecken. Drei Prämissen und Einschränkungen seien dem vorausgeschickt. (1) Meine Überlegungen zu Leitmedien sind keineswegs auf Verbreitungsmedien bzw. die klassischen Massenmedien beschränkt. (2) Meine Theorieperspektive verdankt sich wesentlich einer funktionalistisch-systemtheoretischen Architektur von Gesellschaftstheorie im Allgemeinen und Medientheorie im Besonderen. Beide Prämissen ermöglichen zum einen folgenden weiten Medienbegriff:2 Medien sind gesellschaftliche Einrichtungen und Technologien, die etwas entweder materiell oder symbolisch vermitteln und dabei eine besondere Problemlösungsfunktion übernehmen.3 Und beide Prämissen ermöglichen zum

1

Dahinter steckt ein klassischer Topos – einst von Augustinus inauguriert: Solange mich niemand nach xy fragt, dann weiß ich es. Wenn mich aber jemand nach xy fragt und ich es erklären soll, dann weiß ich es nicht mehr.

2

Ziemann: Soziologie der Medien, S. 17.

3

Zu diesem Medienverständnis gehört ergänzend: „Sie verfügen über ein materielles Substrat […], welches im Gebrauch oder durch seinen Einsatz Wahrnehmungen, Handlungen, Kommunikationsprozesse, Vergesellschaftung und schließlich soziale Ordnung im Generellen ermöglicht wie auch formt.“ (Ziemann: Soziologie der Medien, S. 17). Hieran lässt sich auch der allgemeine Begriffsvorschlag von Gebhard Rusch binden: Medien als konventionalisierte Orientierungsmittel für Kommunikation und Rezeption unter Einschluss „von Kognition und Handeln vieler Akteure, der in diesem Handeln benutzten Dinge, Gerätschaften und Vorgehensweisen, der so-

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Andreas Ziemann | Von ,evolutionary universals‘ zu ,Leitmedien‘

anderen eine dezidierte Verschränkung von Medienevolution und sozialer Evolution, von Medien- und Gesellschaftswandel, die dann die Kombination von Evolutionstheorie und Phasenmodellen mit Epocheneinteilung nahe legt. (3) Wenn von ‚Medien‘ nach dieser Definition die Rede ist, dann ist das in funktionaler Hinsicht eine ex-post-Zuschreibung und in genealogischer Hinsicht ein diskursives Ergebnis. Die kollektive Aneignung von Medien und die Diskurse über sie erzeugen erst die Form, die Funktion, das Wissen und selbstredend auch die Machtverhältnisse von Medien. Medien erzeugen keineswegs von sich aus ein Wissen über das, was sie sind und können. Dieses Wissen stellen Mediendiskurse vielmehr aller erst her. Mediendiskurse formieren also die operative Logik von Medien und machen zugleich diese Logik sichtbar.4 Konsequent weitergedacht bedeutet das, dass auch ‚Leitmedien‘ erst auf dem Weg der diskursiven Aushandlung und Zuschreibung entstehen und sie deshalb eine Attributionsgröße bzw. -einheit darstellen.

Parsons’ Konzept der evolutionary universals

2

Eine erste theoriegeleitete Annäherung an Leitmedien ergibt sich aus der Lektüre eines selten rezipierten Aufsatzes von Talcott Parsons aus dem Jahre 1964: „Evolutionary Universals in Society“. Parsons greift dort Überlegungen auf, die er an anderer Stelle zum Erklärungsproblem des gesellschaftlichen Strukturwandels angestellt hatte.5 Jeder Strukturwandel kann nach drei Richtungen untersucht werden: (1) Quellen des Wandels, (2) Wirkungen und mögliche Folgen des Wandels, (3) Verallgemeinerungen über Trends und Muster des Wandels. Mit dem Konzept der evolutionary universals ist ein genau solches allgemeines Wandlungsmuster gefunden und benannt, mit dem sich dann empirisch bestimmte Entwicklungsniveaus unterscheiden lassen – zuerst verschiedene Entwicklungsniveaus im Unterschied zwischen Humanem und Subhumanem, dann Entwicklungsniveaus verschiedener Gesellschaftsformen.6 zialen Kontexte dieses Handelns, seiner ökonomischen Eigenschaften und seiner politischen Konsequenzen und Folgen.“ (Rusch: „Mediendynamik“, S. 17). 4

Schneider: „Reiz/Reaktion – Vermittlung/Aneignung“, S. 113.

5

Vgl. Parsons: „Outline of the Social System“.

6

Die Fragen und die Erklärungsbedürftigkeit von Ordnung einerseits und Wandel andererseits gehören weiterhin zum soziologischen – genauer: gesellschaftstheoretischen – Kerngeschäft und zu den spannendsten Problemstellungen. Mit Blick auf den vorliegenden Sammelband lässt sich diese Ambivalenz und Korrespondenz

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Andreas Ziemann | Von ,evolutionary universals‘ zu ,Leitmedien‘

Eine evolutionäre Universalie als besonderer Typus struktureller Innovation bedeutet dann jede in sich geordnete Entwicklung oder „Erfindung“, die für die weitere Evolution so wichtig ist, daß sie nicht nur an einer Stelle auftritt, sondern daß mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere Systeme unter ganz verschiedenen Bedingungen diese „Erfindung“ machen.7 Beispiele aus der Biologie sind der Gesichtssinn bzw. die Entwicklung der Augen8 oder das Innenskelett; Beispiele aus der Soziologie sind Sprache, Religion, Landwirtschaft, Kriegstechnologie, Geld, Bürokratie und andere mehr. Es ist nun nach Parsons entscheidend, dass diese Universalien einen Steigerungseffekt auslösen und Überlegenheit bedeuten. Die Konsequenz ist, „daß nur diejenigen Systeme, die diesen Komplex entwickeln, höhere Niveaus der generellen Programmkapazität erreichen.“9 Der Grund dafür liegt in einer auf die erstmalige Durchschlagskraft der Innovation nachfolgenden Institutionalisierung. Nicht Sprache oder bestimmte Technologien allein bedeuten bereits Komplexitätserweiterung, bessere Koordination und langfristige Steigerung der Umweltanpassung, sondern erst im Verbund mit der kulturellen Organisation des Gebrauchs, des Lehrens und Lernens und etwa ihrer besonderen Legitimierung treten sie derart dominant und richtungweisend auf, dass sie einerseits irreversibel der Form nach und andererseits unverzichtbar der Funktion nach werden. Auf die Evolution artifizieller Errungenschaften folgen gleichsam (hoch-)spezialisierte Strukturmechanismen ihrer Rationalisierung und Legitimierung (beispielsweise durch Amts- und Berufsrollen und durch organisierte Sozialsysteme). Wenn ein soziales System bzw. die Gesellschaft sich auf evolutionäre Universalien eingestellt und nachhaltig davon abhängig gemacht hat, dann lassen sie sich nicht mehr aufgeben, ohne Katastrophen (vor allem bezüglich sozialer Ordnung) auszulösen;10 und dann lässt sich auch ihre Re-

von Wandel und Ordnung ebenfalls anbringen: Leitmedien scheinen Ordnung herzustellen und hierarchisch zu stabilisieren, sonst würde das ‚Leit-‘ keinen Sinn machen; aber sie sind auch Ergebnis eines Wandlungsprozesses inmitten alternativer Technologien und konkurrierender Angebote und eine entsprechend gewordene (also historische) Dominanzgröße, sonst würde das ‚Leit-‘ ebenfalls keinen Sinn machen. 7

Parsons: „Evolutionäre Universalien der Gesellschaft“, S. 55.

8

Vgl. dazu mit Blick auf neuere biologische Forschungen und das Pax 6-Gen Mayr: Das ist Evolution, S. 251ff.

9

Parsons: „Evolutionäre Universalien der Gesellschaft“, S. 56.

10 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 508.

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gression nicht anders denn über ein katastrophisches Szenario vorstellen. „Evolutionäre Errungenschaften tendieren dazu“, wie Luhmann kommentiert, Resultate der Evolution zu zementieren. Man wird sie nicht wieder los. Neue Möglichkeiten, mit Komplexität umzugehen, sind gewonnen und andere gesellschaftliche Einrichtungen stellen sich darauf ein. Eine Abschaffung wäre mit weitreichenden destruktiven Auswirkungen verbunden und ist dadurch so gut wie ausgeschlossen. Neuerungen auf dieser Ebene müssen als funktionale Äquivalente einspringen können, und das geschieht typisch nicht in der Form eines kompletten Austausches, sondern eher in der Form einer Ergänzung und Spezialisierung.11 Die direkte Anwendung dieses Gedankengangs auf ‚Leitmedien‘ ermöglicht nun, diese ebenfalls in ihrer unverzichtbaren Problemlösungs- und Anpassungskapazität zu betrachten mit enormen Gewinnen der Komplexitätssteigerung sowohl in ihrem originären Bereich als auch für andere Vergesellschaftungsbereiche, die sich davon abhängig gemacht haben; und für die es – deswegen das Präfix ‚Leit-‘ – keine funktionalen Äquivalente oder kaum welche gibt, sondern maximal unterkomplexe Substitute. Erwartbar sind, worauf das Luhmann-Zitat gerade hingewiesen hat, nachfolgende funktionale Spezifizierungen und Ergänzungen, die aber grundsätzlich der etablierten Logik der Errungenschaften unterstehen bzw. folgen. Parsons insistiert zwar in seinem Aufsatz, in dem er noch weitere evolutionäre Universalien wie soziale Schichtung, Bürokratie, Geld, Markt, Recht bzw. Verfassung12 und demokratische Wahlen mit geregelter Ämterverteilung bespricht, darauf, keine „Theorie“ der gesellschaftlichen Evolution geschrieben und vorgelegt zu haben.13 Man kann aber ohne Mühe eine solche in der Richtung herauslesen, dass (a) für zunehmende Komplexität und (b) für funktionale Spezialisierung votiert wird. Beiden Zielangaben fehlt nur letztlich ein Erklärungspotenzial ihrer Genese. Dies wiederum ergänzt Luhmann mit seiner dezidierten Übernahme der prominenten evolutionstheoretischen Trias von Variation, Selektion und Restabilisierung.14 11 Ebd., S. 510f. 12 Vgl. dazu eigenständig auch Luhmann: „Verfassung als evolutionäre Errungenschaft“. 13 Vgl. Parsons: „Evolutionäre Universalien der Gesellschaft“, S. 71. 14 Siehe sehr grundsätzlich zur biologischen Evolutionstheorie im Anschluss an Darwin und zu neueren Fortschreibungen die zahlreichen Arbeiten von Ernst Mayr, zentral etwa Artbegriff und Evolution (1967) und Das ist Evolution (2003). Die prominente und Konsens beanspruchende allgemeine Definition von ‚Evolution‘

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3

Luhmanns evolutionstheoretischer Ansatz

Luhmann ist der Überzeugung, dass Wandel und Ordnung sich nicht auf der Ebene von Operationen, sondern auf der Ebene von Strukturen abspielen und dass die Evolutionstheorie deshalb in die soziologische Strukturtheorie einzuhängen ist. So positioniert, kann die Evolutionstheorie dann mögliche Erklärungen liefern für ungeplante Strukturänderung.15 Noch nicht entschieden ist damit gleichzeitig die Frage nach dem Richtungsziel bzw. Ergebnis. Es kann Fortschritt bedeuten, muss es aber nicht. Man sollte die Resultate der Evolution deshalb erst einmal wertneutral betrachten: Erstens eingedenk des Umstandes, dass die Evolutionstheorie sich als skeptische Alternative gegenüber Schöpfungstheorien einerseits und einem Fortschrittsmodell der Geschichte andererseits etabliert hat.16 Zweitens ist Wertneutralität aber auch gegenüber dem Phänomenbereich geboten. Denn wie wenig Perfektion als Ziel und Ergebnis gerade bei kultureller Evolution anzutreffen ist, zeigt die hohe Variation von Experimenten, Erfindungen, Patenten und neuen Erkenntnissen, die verschwinden, vergessen werden und keinen kulturellen Strukturwert ausprägen. Die Geschichte menschlicher Kultur und Technologie ist nicht eine Geschichte des Notwendigen, sondern des Überflüssigen […]. [Mediale und kulturelle] Evolution produziert brauchbare Kompromisse, nicht Perfektion.17

lautet bei Mayr: Das ist Evolution, S. 25: „‚Evolution ist die zeitliche Veränderung in den Eigenschaften der Populationen von Lebewesen.‘ Mit anderen Worten: Die Population ist die so genannte Einheit der Evolution. Gene, Individuen und biologische Arten (Spezies) sind zwar ebenfalls von Bedeutung, aber der Wandel der Populationen ist das charakteristische Kennzeichen für die Evolution des Lebendigen.“ Zu den Auswirkungen Darwins auf die Soziologie siehe Baldus: „Darwin und die Soziologie“. Auffällig an Luhmanns Soziologisierung der biologischen Evolutionstheorie (siehe dazu ergänzend Kuchler: „Das Problem des Übergangs in Luhmanns Evolutionstheorie“) ist der explizit triadische Prozess, den die Biologie selbst auf den Zweischritt von Variation und Selektion begrenzt und (Re-)Stabilisierung als Teil der Selektion begreift. Referenzquelle für diese Erweiterung auf Restabilisierung ist Campbell: „Variation and Selective Retention in Socio-Cultural Evolution“. Bemerkenswert ist daneben die generelle (latente) Vorliebe Luhmanns für die Dreizahl innerhalb seiner Theoriearchitektur: dreistelliger Kommunikationsprozess, drei Sinndimensionen, drei Muster und Formen gesellschaftlicher Differenzierung in der frühen und mittleren Werkphase, drei Typen sozialer Systeme. 15 Vgl. Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 190. 16 Vgl. ebd., S. 183f. und S. 192. 17 Baldus: „Darwin und die Soziologie“, S. 324; vgl. auch Basalla: The Evolution of Technology.

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Luhmanns neutrale Formel für die Erklärungskapazität der Evolutionstheorie ist doppelt konnotiert. Sie lautet zum einen: von geringer Entstehenswahrscheinlichkeit zu hoher Erhaltungswahrscheinlichkeit18; und zum anderen: Ermöglichung und Aufbau höherer Komplexität, ohne dass die Autopoiesis eines Systems kollabiert.19 Dreierlei wird schließlich in der Beschreibung des Evolutionsprozesses entkoppelt, um der nicht unwesentlichen Komponente des ‚Zufalls‘ gerecht zu werden und um „tiefer liegende“ Gründe oder allgemeine Prinzipien des Wandels aus der Erklärung ausschließen zu können. Wenn es ein allgemeines Wandlungsprinzip gibt, dann ist es die Evolution selbst (reflexiv gesteigert: die selbst wiederum Ergebnis von Evolution ist). Die drei Stadien oder die drei verschiedenen Bausteine der Evolution lauten bei Luhmann nun bekanntlich: (1) Variation, d.h. es gibt gleichzeitig verschiedene Problemlösungen; (2) Selektion, d.h. eine Problemlösung setzt sich durch und wird zum dominanten Typus oder Muster; (3) Restabilisierung, d.h. es erfolgt eine Akzeptanz und Neustrukturierung unter Einbezug des Bisherigen, und daraus resultieren wiederum eigendynamische, kausallogisch interdependente Anschlüsse sowie spezielle Erweiterungen des Lösungsparadigmas. Im Kontext seiner Gesellschaftstheorie als Strukturtheorie bezieht Luhmann die Variation auf die Ebene der Elementaroperationen, also auf Kommunikationen; und dabei vor allem auf die Möglichkeit einer Nein-Fassung, einer unerwarteten Ablehnung. Die Selektion wird kurz geschlossen mit der Ebene der Strukturen, also mit Handlungserwartungen, Kommunikationsformen oder beispielsweise mit dominanten Eigenwerten der Gesellschaft wie Wahrheit oder Profit, an denen sich dann kollektive Erwartungen ausrichten. Und die Restabilisierung bezieht sich auf die Ebene der einzelnen Sozial- und Gesellschaftssysteme wie auch auf jene der umfassenden Weltgesellschaft. Worum es dann Luhmann vor allem geht, ist, mittels evolutionstheoretischer Begriffe und Beschreibungen den Wandel und Wechsel verschiedener Gesellschaftsformen und Strukturmuster zu rekonstruieren und zu erklären. Man kann, bei aller Plausibilität der Beschreibung, bezweifeln, ob Luhmann tatsächlich die Brüche und revolutionären Sprünge zwischen den Gesellschaftsformen, vor allem im Übergang von Stratifikation zu funktionaler Differenzierung, hinreichend erfasst,20 oder ob er (nur) die evolutionären Veränderungen innerhalb einer Gesellschaftsform und Kulturära rekonstruiert und erklärt. Ich will dies nicht weiter vertiefen, sondern auf einen anderen Gedankengang Luhmanns eingehen, der explizit die Medienentwicklung mit dem Gesell18 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 414. 19 Vgl. Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 194. 20 Vgl. hierzu kritisch Kuchler: „Das Problem des Übergangs in Luhmanns Evolutionstheorie“.

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schaftswandel verbindet. Es geht mir hierbei um einen Theoriehintergrund zu Medienevolution und Leitmedien, der eben gesellschaftstheoretischer Natur ist. Provokant formuliert: Ohne Gesellschafts- bzw. Sozialtheorie bleibt jede Medienanalyse blind und erkenntnisarm. Man kann auch hier darüber streiten, ob die adäquate Beschreibung der Medienentwicklung und des Medienwandels in Korrelation mit Gesellschaftsstrukturen und Gesellschaftsepochen eher in Termini von ‚Evolution‘ oder von ‚Revolution‘ zu erfolgen hat.21 Der Hauptunterschied wäre dabei einer der Zeitlogik: Kontinuität vs. Diskontinuität. Man kann das Moment der Diskontinuität und qualitativen Sprünge aber (als wieder andere Alternative) auch selbst als Teil der Evolution begreifen. Luhmann tut dies dezidiert und legt unter der Hand eine Chronologie der Leitmedien nahe – die weder eine gemeinsame Abkunft noch einen master plan teilen – in Verbindung mit verschieden komplexen Gesellschaftsstrukturen und ihrer entsprechend dominanten Form. Die bekannten Stadien und Zäsuren lauten: Mündlichkeit, (Hand-)Schriftlichkeit, Buchdruck, Fernseher und Computer. Die gesellschaftstheoretische Schlussfolgerung dieser Medienbeobachtung lautet schließlich: Die Ausbildung immer komplexerer Gesellschaftsformationen wäre ohne neue Mediengattungen und ohne damit verbundene neue Kommunikationsstrukturen und Integrationsprinzipien nicht möglich gewesen; also ohne Schrift keine Hochkultur, ohne Buchdruck weder Reformation noch moderne Wissenschaft und ohne digitalisierte Massenmedien keine Weltgesellschaft. Zwingend war an diesen Errungenschaften und Effekten nichts. Sie sind im Kern alle kontingent. Analytisch entscheidend ist aber, dass sich diese Kausalhypothesen überhaupt erst mittels evolutionstheoretischer Argumente aufstellen lassen, um mögliche Erklärungen für nicht vorhersehbare und ungeplante Strukturveränderungen zu finden. Des Weiteren ist mit Bezug auf die gesellschaftlichen Leitmedien zu berücksichtigen, daß die Phasenfolge der Gesellschaftstypen und der Kommunikationsweisen nicht einfach als Prozeß der Verdrängung und der Substitution des einen durch das andere verstanden werden darf. Eher handelt es sich um einen Prozeß des Hinzufügens von voraussetzungsvolleren Formationen, die dann die Bedingungen des Möglichen neu

21 Vgl. dazu Bickenbach: „Medienevolution – Begriff oder Metapher?“ sowie Rusch: „Mediendynamik“, S. 83ff.

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definieren und von da her umfunktionieren, was an älterem Strukturgut schon vorhanden ist.22 Die evolutionären Errungenschaften neuer Produktions- und Verbreitungstechniken von Kommunikation lassen sich als Erhöhung der Mittel, als Vergrößerung des Einflussbereichs und als Erweiterung der sozialen Teilnehmer bzw. Adressen verstehen. Fortan laufen die neuen Errungenschaften mit den alten Kommunikationstechniken parallel, nötigen zu einem Umstellungs- und Rekombinationszwang; und dies bedeutet, einerseits werden die gesellschaftlichen Strukturen „unter Einschluß ihrer schon älteren Möglichkeiten rekonstruiert“23, und andererseits werden die medientechnologischen Strukturen unter Ausschluss bestimmter alter Möglichkeiten neu konstruiert. Gleichwohl aber wird mit der Erfindung von Schrift Mündlichkeit ebenso wenig obsolet wie mit der Erfindung des Computers das Buch oder die Zeitschrift. Vielmehr ergibt sich eine höhere Wahl- und Gebrauchsfreiheit an Kommunikationsmöglichkeiten, die sich wechselseitig entlasten, zu spezifischen Verfeinerungen führen und aus ihrem intermedialen Zusammenwirken neue Anwendungen und Einsatzpunkte hervorbringen.

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Evolution der (Leit-)Medien und kulturelle Praxis

Die Trias von Variation/Selektion/Restabilisierung gibt uns ein Erklärungsschema für die Entstehung und den Innovationsreichtum von Medientechnologien und anderen kulturellen Errungenschaften an die Hand. Näher zu spezifizieren ist aber über die Selektionsphase als Innovationsphase hinaus die Frage der Restabilisierung.24 Schon Parsons hatte hier relativ abstrakt auf ‚Institutionalisierung‘ gesetzt. Eine sehr ähnliche Argumentation findet sich in aktuellen techniksoziologischen Diskursen.

22 Luhmann: „Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien“, S. 312. 23 Luhmann: „Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie“, S. 20. 24 Interessant ist in grundlagentheoretischer Hinsicht, dass man nach Luhmann die evolutionstheoretische Trias mit zwei Zäsuren versehen kann, „man sowohl zwischen Variation und Selektion als auch zwischen Selektion und Stabilisierung unterscheiden kann“ (Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 212). Ich glaube, dass für Erklärungen oder Kausalhypothesen zur zweiten Unterscheidung im Feld von Medienevolution und Medienkultur vornehmlich die kulturelle Praxis mit dem Positivwert der Akzeptanz (vs. Ablehnung) heranzuziehen ist und dass zudem jene zweite Zäsur erst als Ergebnis etwas zum ‚Leitmedium‘ deklarieren kann.

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Bei Werner Rammert25 etwa werden technische Innovationen einerseits sehr plausibel über Projektkonstellationen, parallel konkurrierende Innovationsschwärme und unintendierte Effekte intentionalen Forschungshandelns und Experimentierens beschrieben und damit einschlägige Argumentationen eines Technikdeterminismus negiert. Andererseits mündet Rammerts Beschreibung der soziotechnischen Evolution in die bereits von Luhmann bekannten Mechanismen: 1. Die Variation zeigt sich in der gleichzeitigen Konstruktion vieler Technisierungsprojekte nebeneinander zu ein und demselben Problem. 2. Die Selektion der Projektvarianten wirkt durch die institutionellen Filter ökonomischer Märkte, politischer Machtverhältnisse und kulturell vorherrschender Weltbilder, die nur einige für die Weiterentwicklung auslesen. 3. Die Stabilisierung erfolgt durch die institutionelle Einbettung als Teil der Technostruktur und die kulturelle Etablierung als technisches Paradigma.26 Mediengeschichtlich einschlägig sind für die Phase der Variation beispielsweise die verschiedenen Experimente zur Telegrafie oder zur Fotografie. Legendär für die Phase der Selektion wäre etwa der ökonomische Filter der amerikanischen Pornofilmindustrie, der zur Durchsetzung des VHS-Formats gegenüber Betamax und Video 2000 geführt hat;27 oder aktuell war es das US-Filmstudio Warner Bros., das der Blu-ray Disc wohl den Durchbruch beschert hat gegenüber HD-DVD. Was dieser Sichtweise und Argumentation fehlt, ist der explizite Einbezug kollektiver Akzeptanz gegenüber Medien und sich neu formierender (medien-)kultureller Praktiken.28 Politik, Militärwesen und Ökonomie 25 Vgl. Rammert: Technik – Handeln – Wissen. 26 Ebd., S. 21. 27 Vgl. weiterführend Zielinski: Zur Geschichte des Videorecorders. 28 Dieses Desiderat dürfte wohl dem dominanten Rekurs auf Konzepte Bruno Latours und die Akteur/Netzwerk-Theorie geschuldet sein. Es sei keineswegs unterschlagen, dass Rammert, leider aber nur randständig, die Nutzungsbeziehungen erwähnt, welche eigenständig die praktische Bedeutung von Technik und Technologien hervorbringen, und damit auf den praxeologischen Ansatz anspielt im Sinne von „Technik-in-Benutzung“ bzw. „situierte Techniken“ (vgl. Rammert: Technik – Handeln – Wissen, S. 63). Äußerst stichhaltig wird demgegenüber aber der komplexe Prozess der Technikentwicklung selbst beschrieben mit den zentralen Phasen von Entstehung, Stabilisierung und Durchsetzung. „In der frühen Phase der Technikgenese konkurrieren mehrere Technisierungsprojekte mit hoch variablen Konstruktionsentwürfen: Kontroversen und Konstruktionsalternativen sind Kennzeichen einer interpretativen Flexibilität, die noch offen lässt, was nach welchen Kriterien als beste technische Form für eine noch zu definierende Funktion gilt. In der Phase der sozialen Schließung hat sich eine der technischen Formen als dominantes

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leisten unbestritten ihren Teil zur Durchsetzungsfähigkeit neuer Medientechnologien. Aber deren jeweilige instrumentelle Eigenlogik ist für das entscheidende Innovationsdual von breiter, wenn nicht sogar gesamtgesellschaftlicher Akzeptanz/Nicht-Akzeptanz wohl kaum ausschlaggebend. Konstitutives Moment für den Akzeptanzstatus eines neuen Mediums und erst recht für den Status und die Auszeichnung ‚Leitmedium‘ ist der aller erfinderischen Innovation nachfolgende konkrete Mediengebrauch im Verbund und in Konkurrenz zu anderen Kulturfeldern und anderen kulturellen Praktiken.29 Erst bestimmte Diskurse und Praktiken – und seien sie später auch stark habitualisiert und entsprechend unbewusst – realisieren, variieren und etablieren schließlich Formen und Funktionen von Medien. Die Bandbreite an Verhaltensübungen und Handlungsmustern reicht von sinnlicher Wahrnehmung, über Finger-, Hand- und Körperkoordinationen bis hin zu reflexiven Denkprozessen. Nicht zu unterschätzen sind dabei die praktischen Urteile des Funktionierens oder Nicht-Funktionierens; medientechnologisch ausgelöste Frustration überlagert sehr schnell das Anfangsvertrauen mitsamt den offerierten Versprechungen. Damit sich eine neue Medienkultur dauerhaft durchsetzt und eine nachhaltige Restabilisierung erfolgt, müssen dem schließlich noch spezifische Praktiken der Kommunikation, vor allem solche des Vermittelns, Lernens und Einübens zur Seite gestellt werden.30 Erst auf dieser breiten Basis Design durchgesetzt, an dem sich nachfolgende Projekte orientieren. Diese Schließung erfolgt nicht nach eindeutigen rationalen Wahlen für die effektivste oder effizienteste Technik […]. Zum Funktionieren einer Technik gehört nicht nur die technische Konstruktion, sondern auch die gesellschaftliche Konstruktion der Kriterien und Testverfahren, die definieren, was Funktionieren und Nichtfunktionieren heißt. Nach der Schließung beginnt die Phase der Stabilisierung, wobei sich das dominante Design zu einem technischen Paradigma verfestigt und der weitere Verlauf der technischen Entwicklung den Charakter eines determinierten Pfades, einer ‚technischen Trajektorie‘ […] annimmt. Was in der Anfangsphase der Technikgenese noch an konstruktiver Variabilität und institutioneller Selektivität möglich war, verschwindet zugunsten einer sozial eingerichteten Eigendynamik der weiteren technischen Entwicklung.“ (Rammert: Technik – Handeln – Wissen, S. 28) Zum Einklinken von Technifizierung und Kommerzialisierung in die Variationsdynamik von Medien siehe neuerdings auch Rusch: „Mediendynamik“, S. 61ff., oder etwa Stöber: „What Media Evolution Is“. 29 Eine mittlerweile einschlägige Sichtweise, die sich vor allem dem practice turn und cultural turn verdankt – was man auch immer sonst von ihnen halten mag. Siehe dazu exemplarisch Schatzki u.a.: The Practice Turn in Contemporary Theory; Reckwitz: „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken“ und Das hybride Subjekt; sowie kritisch Bongaerts: „Soziale Praxis und Verhalten – Überlegungen zum Practice Turn in Social Theory“. 30 Vgl. dazu Vogel: „Geist, Kultur, Medien“, S. 54f. Legendär sind etwa die Fehlgriffe und Missbräuche im anfänglichen Umgang mit Telegrafie oder Telefon.

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bedeutet kollektive Aneignung ab einem gewissen Zeitpunkt dann kulturelle Normalisierung31 des Leitmediums; spätestens jetzt scheint es unverzichtbar und hätte sein Fehlen ungeahnte bis destruktive Konsequenzen. Jedes Leitmedium schafft sich seine entsprechenden Subjekte und idealtypischen Nutzer, d.h. aus kollektiver Aneignung und kultureller Normalisierung resultieren medial präfigurierte bis programmierte Subjektkulturen. Andreas Reckwitz hat von der bürgerlichen Moderne bis zur Gegenwart drei dominante Medien- und Subjektkulturen ausfindig gemacht:32 Die Praxis der Schreib- und Lesekultur schafft das innenorientierte bürgerliche Schriftlichkeitssubjekt; die Praxis des Kinoerlebens und des Fernsehens erzeugen das außengeleitete audiovisuelle Subjekt; und die Praxis der Computer(spiel)technologie bringt den expressiv-optionalitätsorientierten Charakter der Postmoderne, das Computersubjekt hervor. Insofern ein Leitmedium simultan mit anderen Medientechnologien, Kulturformen, System- und Lebenswelten existiert, kann es nur eine relative Hegemonie ausprägen und beanspruchen. Gleiches gilt für die medienprogrammierte Subjektkultur, die im Spannungsfeld steht zu anderen sub- oder anti-hegemonialen Subjektmodellen. Neben der Pluralität von Kulturen und neben historischen Ablösungsprozessen ist gleichwohl eine Universalisierungstendenz zu konstatieren. Eine medieninduzierte und technisch basierte hegemoniale Subjektkultur versteht sich also nicht als singuläre Kultur neben anderen, sondern expansionistisch als Verkörperung ‚des‘ allgemeinen Subjekts mit den Menschen avancierter Modernität, als Ausdruck eines letztlich verbindlichen, von jedem Einzelnen anzustrebenden Subjektmodells. Die hegemoniale Kultur strebt damit, obwohl sie regelmäßig von einer zahlenmäßigen Minorität ausgeht, nach einer quantitativen Verbreiterung, so wie etwa die bürgerliche Kultur im 19. Jahrhundert eine Verbürgerlichung oder zumindest Verkleinbürgerlichung auch nicht-bürgerlicher Lebensformen intendiert.33 Die Leitfunktion eines Mediums und die Hegemonie eines Subjektmodells wirken zunehmend über ihre Ausgangsmilieus hinaus: erstens durch institutionelle Verbindlichkeit und zweitens durch Attraktion auf andere Gruppen, die ihnen dann, auch ohne Selbstaneignung, Anerkennung zukommen lassen.

31 Vgl. Link: Versuch über den Normalismus. 32 Vgl. Reckwitz: Das hybride Subjekt. 33 Ebd., S. 69f.

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Begriffsbestimmung und Ausblick

Ein Leitmedium, so lässt sich nach alledem resümieren, ist eine evolutionäre gesellschaftliche Errungenschaft, welche (a) weder teleologischer/finalistischer Art ist noch zwingend notwendig war, (b) Weltkomplexität reduziert und parallel interne Komplexität steigert,34 (c) bis auf Weiteres irreversible Strukturvorteile und funktionale Überlegenheit für die Lösung/Bearbeitung eines bestimmten Problems besitzt, (d) dadurch Sicherheit(en) garantiert und Vertrauen generiert, (e) aufgrund ihrer Nachhaltigkeit sowohl interne Erweiterungen bzw. Ergänzungen – einerseits technologischer Art im Modus der Pfadabhängigkeit, andererseits sozialer Art durch spezialisierte Rollenmuster und Berufsformen – als auch externe Abhängigkeiten ausbildet und forciert, (f) durch kulturelle Aneignung, Akzeptanz und Tradierung etabliert und legitimiert wird und (g) ihren Status selbst nur wiederum durch einen alternativen Prozess von Variation/Selektion/Restabilisierung verlieren kann, ohne dass vorhersehbar wäre, mit welchen gesamtgesellschaftlichen Risiken oder Gefahren und mit welchen destruktiven Struktureffekten und Ordnungsumbrüchen dies verbunden ist. Im Rekurs auf das Theorem funktionaler Differenzierung und die entsprechende Vorstellung der modernen Gesellschaft als unitas multiplex ist von einer Gleichzeitigkeit und Mehrzahl verschiedener Leitmedien auszugehen. In Relation zu divergenten Problemstellungen und Aufgabenfeldern existieren parallel singuläre Leitmedien im wechselseitig entlastenden (aber auch stimulierenden) Nebeneinander. Diese Begriffsvorlage könnte nun – durchaus erwartbar – zum Ergebnis führen, dass sich einige so genannte Leitmedien nicht mehr damit identifizieren bzw. darunter rubrizieren lassen. Dies könnte zwei mögliche Ursachen haben: (1) Mein Definitionsvorschlag ist zu strikt und unvollständig; (2) nicht alles, was laut alltagsweltlicher Übereinkunft und erst recht nicht laut Selbstbeschreibung Leitmedium ist, ist tatsächlich ‚Leitmedium‘. Gleichwohl lässt sich aber diese skizzenhafte Begriffsschärfung von ‚Leitmedium‘ meines Erachtens auf zahlreiche, verschiedene Phänomene und Gebiete beziehen – wie sie auch Gegenstand des Sammelbandes sind – und schafft dabei hoffentlich Vergleichbarkeit. Daneben sollten meine Ausführungen für den Problemkomplex von Strukturänderung und Ordnungsstabilisierung sensibilisieren. Evolutionstheoretische Argumentationen erlauben zwar keine stringenten Kausalerklä-

34 Es ist die gesonderte Funktion eines jeden Leitmediums, auch auf der anderen, also der Umwelt-, Publikums- oder Nutzerseite Komplexität zu reduzieren, indem es sich für bestimmte Probleme vordringlich bis exklusiv anbietet und damit von alternativer Entscheidungswahl entlastet.

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rungen – dies ist nicht zuletzt dem Einbau von ‚Zufall‘ in die Theorie geschuldet –, sie geben aber mögliche Aufschlüsse über ungeplante und nichtintendierte Strukturänderungen. Man kann es also, wie Luhmann vorschlägt, mit Kausalhypothesen versuchen, um herauszufinden, welche Faktoren für welche Veränderungen wichtig waren und welche nicht.35 Dass gesellschaftliche und mediale Evolution Ordnung restabilisiert, dürfte unbestritten sein. Zu fragen ist aber immer und in aller Konsequenz erstens nach technologischer Pfadabhängigkeit bzw. „zentralisierter Interdependenz“.36 Welche etablierten Strukturveränderungen und Medientechnologien forcieren ergänzende Apparate, unterstützende Organisationssysteme und spezialisierte Rollen, vor allem Berufsrollen?37 Als analytische Unterscheidung wirkt hier selegierte Innovation/nicht-selegierte Innovation. Zweitens ist die Dimension von diskursiver und praktischer Akzeptanz/Nicht-Akzeptanz aufzugreifen. Kein (neues) Medium setzt sich eigenmächtig durch, vielmehr ist ein ganzes Ensemble soziokultureller Kräfte und Akteure daran beteiligt: kollektive Aneignungspraktiken und Habitualisierung, User-Netzwerke, Distinktionsversprechen und entsprechendes symbolisches Kapital, technische Standardisierung/Normierung, ökonomische Markteinführung/-beherrschung, Patentschutz und andere rechtliche Regulierungen, Ausdifferenzierung wie auch (Re-)Integration speziell darauf reagierender bzw. eingestellter Branchen und organisierter Sozialsysteme. Die dritte Frage, die aus evolutionstheoretischen Gründen konzediert, dass evolutionäre Errungenschaften und Leitmedien weder finalistisch angelegt noch daraus erklärbar sind, gilt einer Unterscheidung nach erfolgter Restabilisierung: epochemachend vs. nicht-epochemachend.38 Welche Leitmedien lassen sich über ihre Fähigkeit zu zentralisierter Interdependenz hinaus als faktisch wie historisch ‚epochemachend‘ beschreiben?39 Solcher Art können dann Evolu35 Vgl. Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 233f. 36 Luhmann: „Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie“, S. 17. 37 Es scheint eine eigene Konstante der Medienevolution sowie entsprechender Mediengeschichtsschreibung zu sein, dass jede neue Medientechnologie ihr spezialisiertes Personal mit hervorbringt und dauerhaft institutionalisiert. Die Institutionalisierung des Personals stärkt natürlich wiederum die Institutionalisierung der Medientechnologie und macht ihr Verschwinden bis auf Weiteres unwahrscheinlich. Die medien-verursachten Rollenbilder und -träger reichen von schreib- und rechenkundigen Beamten der frühen Hochkultur, über Telegrafisten und das „Fräulein vom Amt“ bis hin zu IT-Experten, Web-Designern oder Software-Ingenieuren. 38 Vgl. Luhmann: „Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie“, S. 17f.; Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 515f. 39

Die Antwort fällt in the long run der Geschichtsschreibung aufgrund stetigen Selektionsdrucks immer knapper aus. Interessant ist dann, was in/nach einem 50jähri-

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tionstheorie und Phasenmodelle in der Mediengeschichte wie auch generell in einer Universalgeschichte (wieder) zusammengebracht werden.

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gen, 100jährigen und 1000jährigen Rückblick medientechnologisch erinnerungswürdig scheint. Welche Errungenschaften des 20. Jahrhunderts werden etwa in 150 Jahren als epochal ausgezeichnet: Fernsehen, Raumfahrt/Mondflug, Computer, Mobiltelefon, Internet, digitale Speichermedien …?

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Leander Scholz

„why the medium is socially the message“ – Marshall McLuhan und die Theologie des Mediums Der berühmte und inzwischen zum Kanon der Medienwissenschaft gehörende Satz über das Medium, das zur Botschaft geworden ist, findet sich im ersten Kapitel von Marshall McLuhans Understanding Media (1964), wenn ich richtig gezählt habe, genau sechsmal. Eingeführt wird der Satz, der auch die Überschrift des ersten Kapitels abgibt, als ein Schock. Gleich zu Beginn des ersten Abschnitts heißt es, dass für eine Kultur, die daran gewöhnt sei, sich über Aufteilungen zu definieren, „splitting and dividing“, die Erinnerung an das Medium als die eigentliche Botschaft des Mediums ein wenig schockartig wirken müsse: „a bit of a shock“.1 Sich zu erinnern, „to be reminded“, sich etwas wieder ins Gedächtnis zu rufen, das gewusst und vergessen worden ist, heißt, die Arbeit einer anamnesis zu leisten. Jahrzehntelang hat man sich mit der Analyse der Inhalte begnügt, ohne zu sehen, dass man das, worauf man die Analyse hätte ausrichten müssen, die ganze Zeit vor Augen hatte. Aber um eben das wahrnehmen zu können, was von Anfang an da war, und zwar noch vor jeder Wahrnehmung, weil es die Wahrnehmung und ihre Aufteilungen selbst bedingt, muss man einen Schock erleiden, der einem den Zugang zu diesem Anfang verschafft. „After three thousand years of explosion“, heißt es in der Einleitung, „the Western world is imploding.“2 In dem Moment, in dem man sich wieder an das erinnert, was schon einmal da war, vor dreitausend Jahren, rückt die gesamte Geschichte der Aufteilungen, Spezialisierungen und Fragmentarisierungen in eine greifbare Nähe; sie implodiert in einem einzigartigen Moment. Dass dieser Moment, der es erlaubt, die Geschichte von dreitausend Jahren als eine Mediengeschichte zu rekonstruieren, ein theologischer Moment des Lichts ist, in das man schauen muss, ohne blind zu werden, ohne sich von einem etwaigen Inhalt blenden zu lassen, ist weder zufällig, noch vermeidbar, wenn man die Geschichte der Medien auf nichts anderes als auf die Medien dieser Geschichte zurückführen will. Aus diesem Grund steht bei Marshall McLuhan sowohl am Anfang als auch am Ende der mediengeschichtlichen Rekonstruktion eine Ganzheit, „a total field“,3 so dass der in Besitz genommene Globus, bevölkert von unzähligen Menschen, die alle zu einem einzigen

1

McLuhan: Understanding Media, S. 7.

2

Ebd., S. 3.

3

Ebd., S. 13.

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medialen Körper gehören, zuletzt wieder wie ein Dorf erscheinen kann. Dazwischen liegen isolierte Körperteile: eine Hand, ein Auge, die Haut, das Ohr, ein Fuß, der Mund. Aber wenn man verstanden hat, dass wir uns am Ende einer Entwicklung befinden, „the final phase“,4 an dem alle diese Körperteile wieder eingesammelt und vereinigt werden, dann hört sich der Satz, demzufolge das Medium die eigentliche Botschaft ausmacht, wie das Versprechen einer Heimkehr an. Insofern könnte man den Singular „the medium“ auch so auffassen, dass es im Grunde genommen nur ein einziges Medium gibt, auf das sich dieser Satz beziehen kann und das die Bedingungen zu erfüllen verspricht, unter denen das Medium zu seiner eigenen Botschaft wird. Während am Anfang des ersten Kapitels von Understanding Media noch die Ankündigung eines Schocks steht, die den Leser verunsichern oder vielleicht auch provozieren, in jedem Fall aber dessen Aufmerksamkeit binden soll, klingt derselbe Satz ein paar Seiten später, nach dem Auftritt des theologischen Lichts, schon ganz natürlich: „[W]e can now say ‚The medium is the message‘ quite naturally.“5 Um dieses „quite naturally“, um diese Naturalisierung des Mediums als Botschaft soll es im Folgenden gehen.

1

Die Zerteilung des Körpers

In dem Buch The Gutenberg Galaxy (1962) hat Marshall McLuhan sein Verhältnis zu Harold A. Innis, der zumindest im Nachhinein als Begründer der Toronto School of Communication gilt, derart charakterisiert, dass seine Arbeit nur eine Fußnote zu den Arbeiten von Innis darstelle. Und sicherlich kann man sagen, dass McLuhan zentrale Theoreme zur Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse anhand der diese Verhältnisse dominierenden Kommunikationsmittel von Innis übernommen hat. Dass aber trotzdem erst McLuhan den entscheidenden Satz zur Gründungsszene der Medienwissenschaft liefern konnte, liegt meines Erachtens an einer zentralen Verschiebung des Untersuchungsfeldes, die das Medium allererst zum Ort seiner selbst macht, so dass „the formative power in the media“ aus der Perspektive McLuhans keinen anderen Grund haben kann als „the media themselves“.6 Das unvermeidbar tautologische Argument, mit dem die Medien bei McLuhan als sie selbst etabliert werden, das mit dem bereits erwähnten theologischen Moment des Lichts zu tun hat, auf das ich gleich zurückkommen werde, verdankt sich dabei zunächst dem Verschwinden einer Größe, die bei Innis noch die entscheidende Beo4

Ebd., S. 3.

5

Ebd., S. 13.

6

Ebd., S. 21.

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bachtungshinsicht abgibt, unter der die dominanten Kommunikationsmittel einer Gesellschaft betrachtet werden. Denn während bei Innis vor allem in seinem Buch Empire and Communications (1950) das empire die maßgebliche Bezugsgröße darstellt, unter der die räumliche und zeitliche Organisationskraft von communications analysiert werden kann, scheint diese politische Dimension bei McLuhan vollständig von der medialen absorbiert zu sein. Die Kommunikationsmittel, die bei Innis noch die Kommunikationsmittel einer Gesellschaft sind, fallen bei McLuhan mit dieser Gesellschaft in eins. Medien werden nicht länger als Mittel zur Sicherung und Ausdehnung von politischer Macht verstanden, die neben dem Militär, der Verwaltung, der Ökonomie und anderen Bereichen der Herrschaftsausübung einen weiteren Bereich darstellen, sondern umfassen alle diese Bereiche auf eine Weise, dass sich die historisch-gesellschaftlichen Formationen vollständig anhand der jeweiligen Wirkungsweise eines einzelnen Mediums beschreiben lassen. Am aufschlussreichsten zeigt sich diese Verschiebung des Untersuchungsfeldes an der Umstellung von einer Aufmerksamkeit für Fragen der body politic zugunsten der Perspektive einer medialen Anthropologie. Es ist nicht mehr das Reich, der Staat, die Gesellschaft, die medial expandieren oder sich ausdehnen, sondern wir selbst, unser Körper, der Mensch: „extension of ourselves“,7 „extension of our body“8 oder wie es schlicht im Untertitel zu Understanding Media heißt: „extension of man“. Dementsprechend tritt an die Stelle historisch-gesellschaftlicher Formationen eine historisch angelegte Typologie, in der einzelne Aspekte des einen Mediums, das zu seiner eigenen Botschaft geworden ist, einzelnen Aspekten des zerteilten Menschen korrespondieren, der erst dann wieder zu einem ganzen Menschen werden kann, wenn er die Botschaft dieses einen Mediums vernommen hat. So entsteht eine analogische Reihe von einzelnen Medien und einzelnen Körperteilen, anhand der sich der Mensch etwa als ein oral-sakraler oder aber als ein alphabetischer, ein typographischer und schließlich als ein elektronischer fassen lässt. Aus einem Fuß wird ein Rad, aus einem Ohr ein fixierter Laut, aus einem Auge ein sichtbares Zeichen; und wie bei jeder typologischen Reihe kann man sich selbstverständlich auch bei dieser um die richtige Zuordnung streiten.9 Aber der entscheidende Punkt dieser Reihe besteht darin, dass sie sich nicht ins Unendliche fortsetzen lässt und nicht einem Historismus jeweils einzelner Medien folgt, sondern dass sie dort aufhören muss, wo sie begonnen hat. Denn wenn die jeweilige Ausweitung und die damit einhergehende Zerteilung des Körpers das 7

Ebd., S. 7.

8

Ebd., S. 3.

9

Zu dieser Problematik am Beispiel des Buchdrucks vgl. Scholz/Schütte: „Heiliger Sokrates, bitte für uns! – Simulation und Buchdruck“, S. 23-47.

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gesamte Feld der Wahrnehmung zu einer bestimmten historischen Zeit bedingt und organisiert, dann kann man dieses Bedingen und dieses Organisieren unserer Wahrnehmung nur dann als solches in den Blick bekommen, wenn es nicht mehr bloß um einzelne Körperteile und einzelne Wahrnehmungen geht, sondern wenn das gesamte Feld der Wahrnehmung und somit auch der gesamte Körper des Menschen auf dem Spiel stehen. Daher muss es einen privilegierten historischen Moment geben, in dem sich das Medium nicht mehr in seinen Botschaften, sondern als solches, als mit sich selbst identisch zeigt, als ein Medium, das zu seiner eigenen Botschaft geworden ist, so dass man von diesem privilegierten historischen Moment aus erst die Geschichte der Aufteilungen, Spezialisierungen und Fragmentarisierungen erfassen und begreifen kann. Was dieser einzigartige Moment der Geschichte möglich macht, ist die Einsicht, dass sich das Medium am Anfang der Geschichte nur zerteilt hat, um sich am Ende dieser Geschichte wieder zu versammeln. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Verschiebung der Aufmerksamkeit für Fragen der body politic bei Innis hin zu einer medialen Anthropologie bei McLuhan etwas mit dem zu tun hat, was man Globalisierung nennt: „global embrace“.10 Denn jetzt geht es nicht mehr bloß um die Herrschaft eines bestimmten Reiches, um die Politik eines bestimmten Staates, um die soziale Formation dieser oder jener Gesellschaft. Was jetzt auf dem Spiel steht, ist nichts Geringeres als die Menschheit selbst. Dem Schock, mit dem Understanding Media einsetzt und der in der Wahrnehmung der zerteilten, zersplitterten und zerstreuten Wahrnehmungen der Geschichte besteht, folgt daher unmittelbar die Diagnose einer sich ankündigenden und immer drohender werdenden Gefahr, wenn alle diese Wahrnehmungen sich in einem einzigen schockartigen Moment versammeln und das Medium selbst zur Kenntnis genommen wird. Denn das Medium selbst wahrzunehmen, heißt, die Gesamtheit der communications einer dreitausendjährigen Geschichte auf einmal registrieren zu müssen, die jetzt alle gleichzeitig in einem Raum und in einer Zeit stattfinden, „abolishing both space and time“.11 Was früher zerteilt, zersplittert und zerstreut war, historisch und geographisch, findet jetzt zur gleichen Zeit und im selben Raum statt, „as far as our planet is concerned“.12 Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in der die gesamte Geschichte zu implodieren droht, birgt ganz neue Konflikte, Spannungen und Auseinandersetzungen, auf die wir unaufhaltsam zusteuern. Deswegen reicht es nicht mehr aus, einzelne Reihen von communications zu analysieren, sondern man muss nach dem Medium selbst

10 McLuhan: Understanding Media, S. 3. 11 Ebd., S. 3. 12 Ebd., S. 3.

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fragen, nach der Gesamtheit der Kommunikationen und ihren Bedingungen. Aber um das tun zu können, braucht man ein Medium, das nicht bloß ein einzelnes Medium unter anderen ist, sondern ein Medium, das sich verallgemeinern lässt, das alle anderen Medien beinhaltet und das aus diesem Grund überhaupt in der Lage ist, das Versprechen einzulösen, die Gesamtheit der Kommunikationen in den Griff zu bekommen; ein Medium also, von dem sich „quite naturally“ sagen lässt, dass es für die Gesellschaft die eigentliche Botschaft ausmacht: „why the medium is socially the message“.13

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Das Medium im Singular

Das Beispiel des elektrischen Lichts, das McLuhan unmittelbar im Anschluss an die Erinnerung des Mediums als die eigentliche Botschaft nennt, um seine These zu erläutern, ist deshalb nicht bloß ein illustratives Beispiel, das besonders anschaulich wäre, sondern stiftet allererst die kohärente Menge der einzelnen Medien, die erst dann als solche erkannt werden können, wenn ihnen als Elemente einer Menge gemeinsame Eigenschaften zukommen. Obwohl das elektrische Licht ebenfalls als ein einzelnes Medium eingeführt wird, an dem sich das zeigen lassen soll, was auch für alle anderen Medien gilt, muss es sich daher zugleich signifikant von allen anderen Medien unterscheiden. Als konstitutives Beispiel steht das elektrische Licht sowohl außerhalb als auch innerhalb der Menge, deren Kohärenz es überhaupt erst möglich macht. „The electric light“, heißt es apodiktisch, „is pure information.“14 Als Medium ist das elektrische Licht ganz bei sich selbst; seine Materialität geht vollständig in seiner Informativität auf. Der Träger der Information ist die Information selbst, und die Information ist der Träger selbst. In dieser Gleichung erscheint das elektrische Licht auf gleichsam spekulative Weise als identisch mit sich selbst: Das Medium ist die Botschaft, und die Botschaft ist das Medium. Aus diesem Grund kann das elektrische Licht den theologischen Moment der Selbstidentität verkörpern, der es erst erlaubt, das Medium als Medium zu etablieren. Denn bevor es eine Menge von einzelnen Medien geben kann, die als Elemente dieser Menge alle etwas gemeinsam haben, muss dieses Gemeinsame als solches anschaulich und von einem einzigen Medium verkörpert werden. Im Unterschied zu allen anderen Medien ist das elektrische Licht daher ein reines Medium, dem sich die gemeinsamen Eigenschaften aller anderen Medien unmittelbar ablesen lassen. Der für alle Medien geltende Satz „The medium is the message“ lautet im Falle des elektrischen Lichts daher zunächst: „It is a medi13 Ebd., S. 10. 14 Ebd., S. 8.

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um without a message“.15 Umgekehrt hat das zur Folge, dass alle anderen Medien unreine Medien sind, insofern sie nur deshalb als Medien erkannt werden können, weil sie vermittelt durch das Beispiel eines reinen Mediums an einer Eigenschaft partizipieren, die das elektrische Licht unmittelbar verkörpert. Der eben zitierte Satz „It is a medium without a message“ geht daher wie folgt weiter: „as it were, unless it is used to spell out some verbal ad or name.“16 Das elektrische Licht kann dazu verwendet werden, einen Buchstaben zum Leuchten zu bringen, aber was dann im Licht dieses Mediums aufscheint, ist nicht etwa seine Botschaft, sondern ein anderes Medium, nämlich der Buchstabe. Die Botschaft eines Mediums, das keine Botschaft hat, besteht in der Filiation aller anderen Medien, indem jedes Medium auf ein jeweils anderes verweist: „This fact, characteristic of all media, means that the ‚content‘ of any medium is always another medium.“17 Theologisch ist der Moment des elektrischen Lichts deshalb, weil es der Erscheinung eines reinen Mediums bedarf, um mittels dessen Verallgemeinerung alle anderen Medien in eine allgemeine Beziehung setzen zu können. Nur weil es ein Medium gibt, das alle anderen Medien beinhaltet, können alle anderen Medien so aufeinander verwiesen sein, dass ein Medium jeweils ein anderes Medium zum Inhalt hat. Auf diese Weise stiftet das Beispiel eines einzelnen Mediums die Allgemeinheit einer allgemeinen Medientheorie, die für alle einzelnen Medien gelten soll. Unmittelbar nach dem Auftritt des theologischen Lichts zählt McLuhan die dadurch gestiftete Reihe der einzelnen sich jeweils beinhaltenden Medien auf: „The content of writing is speech, just as the written word is the content of print, and print is the content of the telegraph.“18 Weil ein Medium alle anderen Medien beinhaltet und damit den Kreislauf der Medien sicherstellt, ist es möglich, von einem späteren Medium zu einem früheren Medium zurückzugehen und schließlich festzustellen, dass das früheste und das späteste Medium aufeinander verweisen. Denn auf die selbst gestellte Frage nach dem ersten Medium in dieser historischen Reihe von der Sprache bis zum Telegraphen, nämlich was denn der Inhalt der Sprache sei, antwortet McLuhan: „an actual process of thought, which is in itself nonverbal“.19 Während am Anfang der mediengeschichtlichen Rekonstruktion ein sich selbst gegenwärtiger Prozess steht, der für seine Vergegenwärtigung auf kein Medium angewiesen ist, „an actual process of thought“, steht am Ende derselben ein

15 Ebd., S. 8. 16 Ebd., S. 8. 17 Ebd., S. 8. 18 Ebd., S. 8. 19 Ebd., S. 8.

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Prozess, der vollständig mit seinem Medium eins geworden ist und sich daher in diesem Medium gegenwärtig sein kann. Denn was das elektrische Licht ankündigt, ist die letzte und unüberbietbare Extension des Körpers, die alle vorhergehenden Extensionen wieder versammelt: „With the arrival of electric technology, man extended, or set outside himself, a live model of the central nervous system itself.“20 Während die Geschichte der einzelnen Medien durch die Extension einzelner Sinne in Gang gesetzt wird, ist ihr Ende dadurch gekennzeichnet, dass es nun um die Extension der Gesamtheit dieser Sinne geht, wenn das elektrische Netz, das im Körper die zentrale Instanz der Koordination darstellt, „the chief role“,21 zur zentralen Instanz der Gesellschaft geworden ist. Denn erst in diesem Moment kann sich die Gesellschaft als eine Mediengesellschaft verstehen, und der Umstand, dass Medien immer schon die gesellschaftlichen Formationen bestimmt haben, „because it is the medium that shapes and controls the scale and form of human association and action“,22 kann für diese Gesellschaft zu einer Wahrheit werden. Die historische Botschaft, die bislang immer von jemand anderem überbracht worden ist, erscheint dann als angekommen, wenn das Medium zum Bote seiner selbst geworden ist.

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Zum Beispiel in der Medienwissenschaft

Unverkennbar in dieser mediengeschichtlichen Kreisbewegung, bei der die einzelnen Medien als ein historischer Durchgangsort eines einzigen Mediums erscheinen, sind die Vorgaben einer geisteswissenschaftlichen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Man braucht immer einen einzigartigen Moment, in dem die Botschaft als angekommen erscheint, um von diesem Moment aus die Vorboten dieser Botschaft als solche erkennen zu können. Entscheidend an dieser historischen Kreisbewegung ist daher nicht nur die Beobachtung einer zunehmenden Akkumulation einzelner Medien, die jeweils ein vorhergehendes Medium beinhalten, sondern dass diese Beobachtung nur aufgrund eines solchen Mediums angestellt werden kann, das ganz bei sich selbst ist, weil es alle anderen Medien beinhalten kann. Besonders wirksam geworden ist dieses Schema der Geschichtsschreibung in solchen medienwissenschaftlichen Arbeiten, bei denen die Entfaltung einer historischen Reihe von einzelnen Medien von der Schrift bis zum Computer aus dem letzten Medium dieser Reihe als demjenigen Medium abgeleitet wird, das erst in einem vollwertigen 20 Ebd., S. 43. 21 Ebd., S. 43. 22 Ebd., S. 9.

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Sinne ein Medium genannt werden und daher diese Reihe retroaktiv begründen kann. In diesem Schema lassen sich die medialen Operationen eines vorhergehenden Mediums, etwa der Schrift oder des Buchdrucks, nur deshalb nachträglich verstehen, weil sie durch den Computer als solche direkt versanschaulicht werden. Das heißt, die medialen Operationen, etwa der Schrift oder des Buchdrucks, können ausschließlich dadurch erschlossen werden, dass sie als solche in den Operationen des Computers noch präsent sind.23 Der Computer markiert daher nicht nur den vorläufigen Höhepunkt einer akkumulierenden Geschichtsschreibung, sondern das konstitutive Beispiel eines allgemeinen Mediums, von dem aus die Akkumulation der einzelnen Medien überhaupt erst möglich wird. Denn die gesteigerte Reihe sich jeweils beinhaltender Medien lässt sich nur rekonstruieren aufgrund dieses allgemeinen Mediums, dessen vermeintliche Fähigkeit, alle anderen Medien zu beinhalten, die mediengeschichtliche Rekonstruktion auf tautologische Weise steuert. Marshall McLuhans These von der medialen Extension einzelner Sinne, die zuletzt durch eine unüberbietbare Extension des Zentralnervensystems im „elektronischen Zeitalter“ ihren retroaktiven Horizont erhält, leistet insofern eine historische Rezentrierung der „westlichen Welt“ unter den Bedingungen der Globalisierung, als sie es erlaubt, die Etablierung des Computers nicht nur im Sinne eines neuen technischen und gesellschaftlichen Steuerungsinstruments aufzufassen, sondern überhaupt erst als „chief role“ einer Mediengeschichte von dreitausend Jahren symbolisch zu instituieren. Was die Theorie tut, wenn sie einzelne Medien auf ein Allgemeines hin beobachtet und zugleich die Existenz solcher Medien aus dieser Beobachtung ableitet, ist den Schock der Fragmentarisierung, mit dem Understanding Media einsetzt, einer Figur der Ganzheit zuzuführen, bei der das Ganze immer mehr ist als die Teile, aus denen sich das Ganze zusammensetzt. Auf diese Weise wird die technische und gesellschaftliche Steuerungsfunktion, die dem Computer im „elektronischen Zeitalter“ zugetraut wird, nämlich die zerstückelte und fragmentarisierte Gesamtheit der Kommunikationen in den Griff zu bekommen, zunächst einmal theoriepolitisch ausgeübt, insofern dieses Zutrauen allererst durch die phantasmatische Besetzung des Computers als Figur der Ganzheit möglich wird. Denn die scheinbar unendliche Reihe der vereinzelten und fragmentarisierten Medien erscheint dann nicht mehr als bedrohlich und uneinholbar, wenn sie ihre Kohärenz durch ein einziges Medium erhält, dem sich die Reihe erst als Reihe zu verdanken hat. Aus diesem Grund reicht es nicht aus, wenn man an McLuhans Entwurf einer allgemeinen Medientheorie anschließen will, sich von den Ganzheitsfiktionen, die seine Medientheorie durchziehen, zu distanzieren 23 Zu dieser Problematik am Beispiel des Buchdrucks vgl. Müller: „Überlegungen zu Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit“, S.168-178.

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und seine akkumulierende Geschichtsschreibung als einen unreflektierten Ethnozentrismus zu kritisieren. Darüber hinaus wird man sich die Frage stellen müssen, ob mit dem Verzicht auf die Ganzheitsfiktionen nicht ebenfalls ein Verzicht auf die Vorstellung einer gegebenen Reihe von einzelnen Medien einhergehen muss.24 Denn wenn auch eine allgemeine Medientheorie nicht anders als in Form einer Verallgemeinerung eines Singulären auftreten kann und in diesem Sinne dem konstitutiven Beispiel, das ihren hervorragenden Gegenstandsbereich beschreibt, stets nachträglich ist, dann ist es entscheidend, an welchen Beispielen eine Medienwissenschaft ihr Wissen generiert. Was für die Etablierung der Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin die Kunst der Renaissance war oder für die Germanistik die Literatur der Weimarer Klassik, ist für die Medienwissenschaft der Computer gewesen. Aus dieser Perspektive kann es gar keine alten Medien geben, sondern nur solche Medien, die noch keine neuen Medien sind. Denn wenn der Computer die Rolle eines singulären Allgemeinen einnimmt, können alle anderen Medien nur insofern als Gegenstand gegeben sein, als sie an diesem Allgemeinen partizipieren. Aber ebenso, wie es inzwischen fraglich geworden ist, vor der Erfindung der Kunst von einer Geschichte der Kunst zu sprechen, oder vor der Erfindung der Literatur von einer Geschichte der Literatur, ist es auch fraglich, vor der Erfindung des Mediums von einer Geschichte des Mediums zu sprechen. Aus diesem Grund wird auch eine allgemeine Medienwissenschaft nicht darum herum kommen, der Historizität ihres Gegenstandes dadurch Rechnung zu tragen, dass sie über die Geschichte des Mediums hinaus auch eine Geschichte schreibt, die davon handelt, wie ihr dieser Gegenstand zum Gegenstand einer Wissensproduktion geworden ist. Anders ausgedrückt, auch eine Wissenschaft, die nach den medialen Bedingungen des Diskurses fragt, wird ihre eigene Diskursivität nicht los. Ich möchte daher zum Abschluss einen Satz von Friedrich Kittler zitieren, in dem sich auf besondere Weise die unvermeidlichen Paradoxien zumindest einer bestimmten Phase der Medienwissenschaft verdichten, insofern sich auch die mediale Wahrheit eines Diskurses noch als Wahrheit diskursivieren lassen muss: „Ohne Computertechnik keine Dekonstruktion, sagte Derrida in Siegen.“25

24 Vgl. dazu den Vorschlag bei Schüttpelz: „Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken“. 25 Kittler: „Es gibt keine Software“, S. 367.

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Literaturverzeichnis Kittler, Friedrich: „Es gibt keine Software“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/ Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.): Schrift, München 1993, S. 367-387. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man, London 1995. Müller, Jan Dirk: „Überlegungen zu Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 18, 1993, S.168-178. Scholz, Leander/Schütte, Andrea: „Heiliger Sokrates, bitte für uns! – Simulation und Buchdruck“, in: Fohrmann, Jürgen (Hrsg.): Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien u.a. 2005, S. 23-128. Schüttpelz, Erhard: „Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken“, in: Archiv für Mediengeschichte, „Kulturgeschichte als Mediengeschichte“, hrsg. v. Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl, H. 6, 2006, S. 87-110.

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Thomas Weber

Leitmedien in der mediologischen Analyse Der Begriff des Leitmediums ist verbunden mit der Vorstellung, dass ein, meist neu etabliertes, Medium sich als dominierend gegenüber anderen zeitgenössisch existierenden, aber in ihrer Entwicklung älteren Medien erweist und dabei eine derartige Prägnanz und Prägekraft entfaltet, dass es nicht allein nur die Ästhetik anderer Medien beeinflusst, sondern auch in der kulturellen Denkweise einer Gesellschaft zur zentralen Referenzfigur wird.1 Es fragt sich jedoch, ob in hochkomplexen, aus verschiedenen Mediensystemen bestehenden Medienkulturen diese Sichtweise überhaupt noch greift und nicht durch eine differenziertere, medienökologische Betrachtungsweise abgelöst werden muss. Ansätze, die dies konzeptionell thematisieren, werden hierzulande schon seit einigen Jahren debattiert. Ich nenne hier nur pars pro toto die Arbeiten von Bernhard Siegert2, Michael Giesecke3 oder Siegfried Zielinski4, die vor allem von der Idee einer eindimensionalen, linearen, gar teleologischen Mediengeschichtsschreibung abrücken. Zu nennen wäre aber auch gleichfalls die in Deutschland noch wenig bekannte, in Frankreich entwickelte Mediologie, die sich keineswegs nur an ihrem wohl prominentesten Vertreter, Régis Debray, festmachen lässt.

1

Aus einer mediologischen Perspektive kann es insofern kein Leitmedium geben, allenfalls Leitmedien im Plural, da in unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursen je andere Leitmedien als Leitmedium zu identifizieren sind. In Anlehnung an die von Andreas Ziemann in diesem Buch vorgeschlagene Definition von Leitmedien, die sie als evolutionäre gesellschaftliche Funktion beschreibt, würde aus einer mediologischen Perspektive der Begriff Leitmedium weniger ein real existierendes Medium als vielmehr eine aus Ziemanns Darlegungen ableitbaren gesellschaftlichen Anspruch bezeichnen. Es geht insofern bei dem Begriff des Leitmediums in der mediologischen Analyse um einen hegemonialen Anspruch, der bestimmten Medien attribuiert wird, wodurch sie erst zu Leitmedien werden. Ein solcher Anspruch entsteht zum einen im Selbstverständnis derjenigen, die Leitmedien organisieren und propagieren, zum anderen aber auch bei den „Usern“, die durchaus ein Bedürfnis nach Orientierungshilfe und Erkennungsmerkmalen einer Gemeinschaft haben. Insofern ist der deutsche Begriff des Leitmediums nicht als real existierendes Medium aufzufassen, sondern als Modell der Attribuierung gesellschaftlicher Macht bei der Regulierung von Kommunikationsverhältnissen zu verstehen.

2

Vgl. z.B: Siegert: Passage des Digitalen.

3

Vgl. z.B.: Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit.

4

Vgl. z.B.: Link/Zielinski: Variantology.

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1

Was ist Mediologie?

Zunächst wäre festzustellen, dass Mediologie der Medienwissenschaft zwar ähnlich, aber nicht mit ihr identisch ist. Mediologie5 definiert sich nun nicht nur nicht durch den Gegenstand Medien, wie Debray ausführt, sondern verzichtet ganz auf eine Definition eines festumrissenen Medienbegriffs. Auch wenn Debray nun nicht der einzige mediologische Autor ist, trifft sich eine seit Anfang der 90er Jahre wachsende Anzahl von mediologisch orientierten Künstlern, Publizisten und Wissenschaftlern darin, sich stattdessen eher auf kulturelle Übermittlungsprozesse zu konzentrieren. Ausgangspunkt ist dabei die Frage nach der symbolischen Wirkungskraft von Zeichen, deren Übermittlung nicht nur von der gesellschaftlichen Organisation, sondern in zunehmendem Maße auch von technischen Medien bestimmt wird. Es geht dabei weniger um die Bedeutung oder um den Sinn der Zeichen, als vielmehr um ihre Effizienz oder ihre Macht. Die Mediologie schlägt – verkürzt gesagt – eine Analyse des Zusammenhangs von Ästhetik, Technik und Ökonomie vor, der den Prozess der kulturellen Übermittlung strukturiert. Die wohl allgemeinste Definition findet sich auf der französischen Website6 der Mediologen, die ich hier etwas verkürzt paraphrasiere: Die Mediologie untersucht die komplexe Korrelation zwischen einer symbolischen Form (einer Doktrin, einem künstlerischen Genre, einer Religion etc.), einer Form der kollektiven Organisation (einer Partei, einer Schule, einem Industriezweig etc.) und einem technischen System der Kommunikation (technisches Medium, Archivierungssystem etc.) im Hinblick auf ihre Wirkungsweise, also mithin daraufhin, welche Strategien der Glaubwürdigkeit oder Plausibilität zur Anwendung kommen. Dabei setzt die Analyse bei dem Begriff transmettre an, den man im Deutschen am ehesten mit „übermitteln“ übersetzen könnte, da transmettre im Gegensatz zu „kommunizieren“ nicht an sprachliche Codes gebunden ist und ebenso die Übermittlung von Ideen wie von materiellen Gütern bezeichnen kann. So lässt sich Geld oder Grundeigentum genauso übermitteln oder übertragen wie politische Macht oder ein Fußballspiel. Während Kommunikation prinzipiell ein räumlicher Transport ist, der ein Netz knüpft (wie z.B. das World Wide Web), bei dem es immer einen Sender und einen Empfänger gibt, die zwar an unterschiedlichen Orten, nicht aber in 5

Zur Definition von Mediologie siehe auch die deutschsprachige Website Forum Mediologie. Dort finden sich neben Kurzdefinitionen, Diskussionsbeiträgen und Artikeln weitere Hinweise auf mediologische Publikationen.

6

Le site de la médiologie.

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verschiedenen Zeitaltern sein können, ist die Übermittlung ein Transport in der Zeit, der zeitlich voneinander entfernte Subjekte miteinander verbinden und sogar zwischen Toten und Lebenden vermitteln kann. Sie erfordert nicht die physische Präsenz eines Senders und kann sich über Jahrhunderte hinweg vollziehen.

2

Mediensphären und ihre Einteilung

Das Verhältnis der Mediologie zu Leitmedien lässt sich am ehesten an Debrays Einteilung der kulturellen Entwicklung festmachen, die jeweils von unterschiedlichen Mediensphären geprägt wird.7 In Anlehnung an Marshall McLuhan unterscheidet Debray – auf den ersten Blick scheinbar mediendeterministisch – in Logosphäre, Graphosphäre und Videosphäre. Doch diese Aufteilung stützt sich nicht allein nur auf einen Medienwechsel, sondern wird erst möglich durch das Zusammenspiel von symbolischen Formen, Medien und kollektiver Organisation. Ein epochaler Paradigmenwechsel findet aus mediologischer Sicht erst dann statt, wenn auch die Machtverhältnisse und ihre Legitimierung, die Mechanismen des Glaubenmachens sich verändern. Debray setzt beispielsweise das Aufkommen der Videosphäre etwas kurios anmutend mit dem Jahr 1967/68 an, also nicht etwa mit der Entstehung des Fernsehens, sondern mit der Einführung des Farbfernsehens und einer durch die 68er-Bewegung veränderten Debattenkultur. Der Mediologie geht es nicht um die Eigenheiten eines bestimmten Einzelmediums, sondern um das Verhältnis verschiedener Mediensysteme in Medienkulturen. Mediologische Analysen setzen bei medialen Differenzen an, mithin also bei medialen Brüchen, an denen Medialität hervortreten kann. Dabei spielt der Gedanke einer absoluten teleologischen Entwicklung von Medien gegenüber der Vorstellung eines konkurrentiellen und subsidiären Verhältnisses von Medien nur eine untergeordnete Rolle – was insofern die Idee eines Leitmediums relativiert. Denn ein neues Medium allein reicht nicht aus, um das Ensemble eines Mediensystems, einer Kultur neu auszurichten und damit gesellschaftliche und kulturelle Wertmaßstäbe zu verändern. So weist Debray etwa darauf hin, dass der Buchdruck als Technologie in China schon lange vor Europa bekannt gewesen sei, die Denkweise des kaiserlichen Chinas aber kaum verändert und sich auch nicht technisch weiterentwickelt habe. Im mittelalterlichen Europa habe der Buchdruck, oder präziser gesagt, seine Fort-

7

Vgl. dazu insbesondere folgende Titel von Debray: Cours de médiologie générale; Manifestes médiologique; Jenseits der Bilder; Einführung in die Mediologie.

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entwicklung durch den Buchsatz mit beweglichen Lettern, in relativ kurzer Zeit zu einem Umbruch des kulturellen Denkens geführt.8 Die Mediologie widerlegt nun gerade den Mythos, dass ein neues technisches Medium automatisch auch eine Veränderung der Medienästhetik zur Folge habe. Die Fotografie hat beispielsweise Mitte des letzten Jahrhunderts die Malerei keineswegs ausgelöscht, sondern sie lediglich von ihrer Abbildfunktion befreit. Umgekehrt hat die Fotografie in ihren Anfängen gerade jenes Repertoire an ästhetischen Formen wiederholt, das die Malerei dieser Zeit abzulegen begann; Debray nennt etwa das Genre-Bild oder die Porträtfotografie in steifen Posen.9

3

Das Chaos der Medien

Was könnte Mediologie zur Analyse auch von neueren Medienentwicklungen beitragen, die gerade nicht mehr von den relativ langen Zeiträumen kultureller Übermittlung geprägt werden, auf die sich die meisten mediologischen Ansätze bisher konzentrierten? In den letzten Jahren sind nun neben Debray eine Reihe von anderen mediologischen Autoren hervorgetreten, die vor allem auch im Hinblick auf die Entwicklung von Internet und digitalen Medien dezidiert von einer Hypersphäre sprechen wie etwa Pierre Lévy10, Louise Merzeau11 oder auch Daniel Bougnoux12 und Paul Soriano13. Bei dem oft als Leitmedium ge8

Für das Entstehen einer neuen Mediensphäre ist das Milieu entscheidend. „Die chinesische Welt hat das Prinzip des Buchdrucks (wie auch das Geheimnis der Papierherstellung) fünfhundert Jahre vor Europa entdeckt. Aber die chinesische Ideografie besteht aus Tausenden von Schriftzeichen (und nicht aus sechsundzwanzig); die Wirtschaft des Landes kennt die Schraubpresse nicht (die der Winzer, die Gutenberg als Handpresse wiederverwenden wird), und es besitzt keine bedeutende Metallindustrie; vor allem aber braucht ein despotisches Regime, das dem Staatsmonopol zugeneigt ist, dem Handel misstraut und sich darauf beschränkt, einige (religiöse oder dynastische) Klassiker zu reproduzieren, einen solchen Gedankenvervielfältiger nicht. Deshalb hat der Buchdruck die mittelalterliche Mentalität, nicht aber die chinesische Kultur verändert.“ Debray, Einführung in die Mediologie, S. 109/110. An anderer Stelle heißt es: „Ohne Buchdruck gäbe es keine Reformation. Ohne Reformation gäbe es keinen Buchdruck im großen Maßstab.“ Ebd., S. 109, oder: „Die beiden Phänomene bringen einander gegenseitig hervor.“ Ebd., S. 109.

9

Vgl. Weber: „Zur mediologischen Konzeption“.

10 Vgl. Lévy: Die kollektive Intelligenz. 11 Vgl. Merzeau: „Ceci ne tuera pas cela“. 12 Vgl. Bougnoux: „Si j’étais médiologue …“ und „Correspondance, Cher Régis“. 13 Vgl. Soriano: „Les nouvelles hybrides“.

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nannten Fernsehen zeigen sich nun aktuell gerade an der Schnittstelle zum Internet deutlich kompliziertere Verwicklungen, die sich mit einem Blick auf die long durée, auf lange, epochale Zeitabschnitte nicht mehr erklären lassen. Vielmehr wäre zu überlegen, ob nicht allein nur Bruchstellen, sondern auch verstetigte Veränderungsprozesse von Medien zu beobachten wären, wie sie hierzulande etwa Markus Stauff14 in seinem Buch über das neue Fernsehen in Abgrenzung zur Vorstellung eines stabilen Mediums beschreibt, und die von Mediologen wie kürzlich von Merzeau „das Chaos der Medien“15 genannt werden. Ohne hier den schon häufig gebrauchten Begriff der Hybridisierung überstrapazieren zu wollen, trifft er jedoch genau jenen Prozess der gegenseitigen Durchdringung verschiedener Mediendispositive, den man nun aus einer mediologischen Sicht – wie Soriano anmerkte16 – nicht nur eindimensional z.B. als ästhetische Tendenz auffassen kann, sondern der sich auf allen Ebenen zeigt, also der der Produktion, der Technik, der Ökonomie, der institutionellen Entwicklung und nicht zuletzt auch auf jener der Wertmaßstäbe, mit denen Medien und d.h. auch Realität oder politische Grundwerte beurteilt werden. Die Mediologie öffnet hier ein Feld der Beobachtung nicht allein nur von kulturellen Übermittlungen, sondern – wie der von Mediologen gerne zitierte Bruno Latour formuliert – auch von kulturellen Transformationen (bei denen z.B. technische Innovationen plötzlich in politische Programme umschlagen oder ökonomische Strategien zu einer bestimmten Ästhetik führen). Drei kurze Fallbeispiele illustrieren vielleicht schlaglichtartig eine solche aus mediologischer Sicht nur differenziert zu beschreibende Hybridisierung, mit der auch eine Transformation von Wertmaßstäben verbunden ist.

3.1

Der Diskurs über die Zukunft des Fernsehens/TV Zukunft

Das erste Beispiel betrifft den über die Zukunft des Fernsehens in den letzten Jahrzehnten – inzwischen auf knapp 2 Mio. Websites – geführten Diskurs, der nunmehr ein eigenes Geschäftsfeld darstellt und zu einem erheblichen Teil zur Finanzierung einer Reihe von Newsportalen beiträgt.17 In der Vielzahl der dort lancierten Meldungen über neue technische Formate, Geräte oder Finanzierungsmodelle ist Meinungsführerschaft oder zumindest ein zentrales Forum – Kennzeichen für ein Leitmedium – kaum auszumachen, auch wenn die ein o14 Stauff: Das neue Fernsehen. 15 Merzeau: „Une nouvelle feuille de route“. 16 Soriano: „Les nouvelles hybrides“. 17 Das in Deutschland bekannteste ist wohl Heise Online, es finden sich aber auch entsprechende Sektionen in praktisch allen Portalen, die einen Newsfeed unterhalten.

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der andere Website immer mal wieder mit pointierten Positionen zur Zukunft des Fernsehens überrascht: Da vertritt z.B. der in Deutschland wenig bekannte Mediensoziologe Jean-Louis Missika18 in der Online-Ausgabe der Bietigheimer Zeitung die Meinung, dass das herkömmliche Fernsehen sich auflöse.19 Oder Thomas Rapp, Direktor der Bayerischen Akademie für Fernsehen, meint im Yahoo-Portal anlässlich des Weltfernsehtages (der am 21.11. gefeiert wird zum Gedenken an das erste von der UN abgehaltene Weltfernsehforum vom 21.11.1996), dass sich zwar etwas wandele, aber nichts grundlegend ändere.20 Eine Orientierung in der verwirrenden Vielfalt der Stimmen ist schwer; ich möchte daher eine herausgreifen, die den meisten wahrscheinlich unbekannt sein dürfte, obwohl sie sich bei Recherchen häufig als Quelle vieler anderer Meldungen herausstellte: Die sogenannte TV Zukunft – eine Branchen-Zeitschrift, die von einer, vielen wahrscheinlich ebenfalls unbekannten, Institution herausgegeben wird: der Deutschen TV-Plattform. In der Selbstdarstellung heißt es: Die Deutsche TV-Plattform ist ein Zusammenschluß von Programmherstellern und -Anbietern, privaten und öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Netzbetreibern und Industrieunternehmen, Universitäten und Forschungsinstituten, Bundesministerien, Landesregierungen und Medienanstalten sowie anderen, mit dem Fernsehen der Zukunft befassten Unternehmen und Institutionen.21 Neben ordentlichen Mitgliedern gibt es auch außerordentliche Mitglieder, die über keine Stimmrechte verfügen; dazu zählen Bundesministerien, Landesregierungen, Verwaltungen, Behörden, Vereine – kurzum Institutionen, die demokratisch legitimiert sind.22 Nun ist anzumerken, dass die deutsche TV-Plattform kein Entscheidungsträger ist: hier finden keine Wahlen statt und es wird auch nichts entschieden. Selten kommt man zu gemeinsamen Empfehlungen, da in diesem Gremium ganz unterschiedliche Interessengruppen versammelt sind. Worum es dieser Konfliktgemeinschaft geht, ist vor allem Publizität für die eigenen Anliegen.

18 Missika: La fin de la télévision. 19 Missika: „Das Ende des Fernsehens“. 20 „Man kann problemlos 100 neue Kanäle über Mobile-TV oder IPTV einführen, aber guten Content zu erstellen ist nicht so einfach.“, in: Rapp: „Fernsehen bleibt“. 21 TV-Plattform: „Über uns“. 22 Eine Mitgliederliste findet sich etwa unter TV-Plattform: „Mitglieder“, ebenso die Bedingungen der Mitgliedschaft unter TV-Plattform: „Mitgliedschaft“.

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Aufteilung USA Neuseeland Australien Frankreich GB D

Gesamt 0,7 0,8 0,7 0,5 0,9 0,4

Werbung 73 78 71 45 42 51

Öff. Fin. 2 9 13 19 26 40

Pay-TV 10 13 5 24 14 3

Sonstiges 15 – 11 12 18 6

Tabelle 1: Anteil der TV-Wirtschaft am Bruttosozialprodukt (in %)23

Einig ist man sich darin, dass man den Umsatz der deutschen TV-Wirtschaft erhöhen möchte. Vorbild sind z.B. die USA, wo man in diesem Segment 0,7% des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet, in Deutschland dagegen nur 0,4% – eine Differenz, die Hoffnung auf ein gigantisches Wachstumspotential weckt.24 Ein schlüssiges Finanzierungskonzept gibt es derzeit jedoch nicht. Vielmehr wird man seit einigen Jahren mit immer neuen Vorschlägen beglückt, die von einer bezahlungspflichtigen Grundverschlüsselung für alle Programme über eine Beteiligung der Privaten an den Rundfunkgebühren bis hin zu – so jüngst gehört – einem steuerfinanzierten Modell reichen. Eines sollte man dabei nicht aus den Augen verlieren: Von Programm oder Programminhalten ist nur in Ausnahmefällen die Rede und dann auch nur neudeutsch als „Content“; in erster Linie geht es um neue technische Standards, die strategisch zur industriepolitischen Positionierung dienen und nicht zuletzt auch nach entsprechender apparativer Ausstattung verlangen, also um den Verkauf von Geräten – TV-Handys, Settopboxen oder HDTV-Fernsehern.

3.2

Pannenshows oder Die Ästhetik der inszenierten Dysfunktion

Das zweite Fallbeispiel, sogenannte Pannenshows, ist eines der hervorstechendsten Formate, das im Fernsehen ebenso wie im Internet zu finden ist und betrifft zumindest punktuell den im Diskurs abwesenden Content. Hatten die Pannenshows zunächst in den 80er Jahren in Folge einer privaten Ausbreitung von Videokameras im Fernsehen eine erste Konjunktur, finden sie nun in 23 Quelle: nach Hamm: Fernsehen auf dem Prüfstand, S. 35. 24 Geschätzte Finanzierung durch öffentliche Hand: ca. 8 Mrd. EUR für öffentlichrechtliche Rundfunksysteme. Deutschland investiert „mehr […] in das öffentlichrechtliche Fernsehen […] als jedes andere Land“ und hält „mit 14 national empfangbaren Sendern das bei weitem breitest[e] öffentlich-rechtliche Programmangebot auf dem Fernsehmarkt“ bereit. Hamm: Fernsehen auf dem Prüfstand, S. 8.

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mit 60.000 täglich neu eingestellten Videoclips allein auf einem Videoportal wie YouTube einen dammbruchartigen Zuspruch. Da diese bislang keine dem herkömmlichen Fernsehen vergleichbare Programmstruktur kennen und statt fester Zeitstrukturen auf Algorithmen setzen, die jeweils die am meisten angeklickten Clips in den Fokus der Aufmerksamkeit stellen, entsteht ein sich selbst verstärkender Regelkreislauf, der zu Hitlisten der Top 10, der Top 100 usw. führt, für die sich die Pannenclips besonders eignen. Hinzu kommt eine anspruchslose Ästhetik, die nicht nur Pannen darstellt, sondern von einer Vielzahl von Störungen – schiefen Bildausschnitten, falschen Brennweiten, verwackelten Bildern, übersteuerter Tonspur etc. gekennzeichnet ist – kurzum eine Ästhetik, die ähnlich wie schon zuvor in den 80er Jahren zunächst amateurhaften Aufnahmen geschuldet war. Es haben sich inzwischen allerdings hierfür eigene, feste Konventionen herausgebildet, die weit über Pannenshows hinausreichen und zu einer Ästhetik der inszenierten medialen Dysfunktionen verselbständigt haben, die unseren kulturellen Maßstäbe von Authentizität und insbesondere die Authentifizierungsstrategie der audiovisuellen Medien verschieben. In anderen, älteren Medien findet ein Re-Import, eine Rückübersetzung dieser Ästhetik statt. Im Kino z.B. wurde ein Film wie The Blair Witch Project vor allem durch die Internetwerbung bekannt oder im Fernsehen zeigt sich dies in der seit den 90er Jahren zu beobachtenden explosionsartigen Vermehrung von Doku-Formaten, von Reality TV bis hin zu Fake-Dokus. Bezugsjahr 1990 1995 2005

Sendeminuten dokumentarischer Formate pro Woche 10.000 30.000 50.000

Tabelle 2: Summe (gerundeter Durchschnitt) der Sendeminuten pro Woche, die wöchentlich auf dokumentarische Formate (inkl. Magazine) in 19 deutschen Fernsehsendern entfallen.25

Auch Pannenshows wären hier wieder zu nennen. Dabei kommt es zu einer Transformation der Ästhetik, die sich nicht allein nur aus einem ästhetischen Diskurs erklären lässt.

25 Die Angaben sind Ergebnis einer Kalkulation, die auf der Basis einer statistischen Programmauswertung von jeweils drei Wochen (je Mitte März, Juli, November) in den jeweiligen Bezugsjahren vom Autor durchgeführt wurde, um die Größenordnung der Veränderungen einzuschätzen.

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So ist zu beobachten, dass das Fernsehen die von ihm selbst ins Internet ausgegründeten Plattformen bzw. Formate wieder ins eigentliche Fernsehprogramm re-importiert. Ein Beispiel hierfür wäre etwa das Videoportal MyVideo, in dem User die Möglichkeit haben, selbstgedrehte Videoclips hochzuladen. Die besten Clips wurden in der wöchentlich ausgestrahlten Fernsehsendung MyVideo Show gezeigt, die besonders gelungene Pannen-Videos vorstellt, wie z.B. den Sturz der Woche: Dabei kommt es zu einer Art technischer und ästhetischer Konvergenz. In den TV-Pannen-Videos zeigt sich unten der für ins Internet eingestellte Clips typische Abspielbalken. Über die Einstellungen der Moderatorin wird ebenfalls gelegentlich ein Abspielbalken geblendet (u.a. mit Namen der Moderatorin), der aber technisch wie fernsehästhetisch unmotiviert ist. Die Frage des Leitmediums scheint sich selbst ad absurdum zu führen: Welches Medium ist hier Leitmedium? Sollte man auf Grund der ästhetischen Referenz des Fernsehens ans Internet davon ausgehen, dass das Internet das neue Leitmedium ist? Tatsächlich ist die Pro7/Sat1-Gruppe zu 30% an dem Videoportal beteiligt, genauso wie z.B. die RTL-Gruppe das Portal Clipfish unterhält. Hier entwirft das Fernsehen selbst ein neues Geschäftsmodell. Wie Frank Hornung unlängst im Spiegel schrieb: Aus Sicht der Film- und Fernsehindustrie ist das Internet deshalb nicht nur wahlweise Bedrohung oder ein neuer Vertriebskanal, sondern auch ein weltweiter Talentpool, aus dem sich unbegrenzt schöpfen lässt.26 Man könnte sogar noch schärfer formulieren: Das Internet liefert User Generated Content praktisch zum Nulltarif. Dem Publikum wird insofern nicht nur ein billiger ästhetischer Standard beigebracht, sondern es bringt auch noch die Produktion kostengünstig selbst bei.

3.3

Hybridisierung als Konvergenz-Diskurs der EU-Kommission

In den letzten Jahren ist die Konvergenz von Fernsehen und Internet auch auf der Ebene der EU-Politik zum Thema geworden. Nicht zuletzt geraten auch hier Maßstäbe durcheinander, die man im Hinblick auf die Konstitution eines gemeinsamen Europas als einfacher Bürger bisher vielleicht für grundlegend

26 Hornig: „‚Fernsehen war gestern‘“, S. 103.

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hielt. Um Missverständnisse zu vermeiden: es geht hier nicht um eine Verschwörung gegen demokratische Grundwerte, sondern um die Beobachtung von schleichenden Verschiebungen, um die Transformation von Maßstäben. Fernsehen und Internet wurden bisher in unterschiedlichen politischen Diskursfeldern debattiert: Bislang galt für die Regulierung des audiovisuellen Sektors die – mit verschiedenen Modifikationen 1989 verabschiedete, bis heute geltende – sogenannte Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“, in der es – hier stark verkürzt gesagt – vor allem um die Stärkung der europäischen Fernsehproduzenten durch Subventionen und Quotenregelungen ging. Dagegen unterlag das Internet dem Kommunikationssektor, also jenem Bereich, der vor allem von der Telekommunikation geprägt wird und in dem es vor allem galt, ehemalige Staatsmonopole zu entflechten und einen Wettbewerb in Gang zu bringen. Beide Sektoren werden in der Barroso-Kommission nun zusammengefasst und geleitet von Viviane Reding, EU-Kommissarin für Informationsgesellschaft und Medien, so der offizielle Titel, deren größter beruflicher Erfolg – so die Darstellung auf ihrer eigenen Homepage – bislang die Senkung der Roaming-Gebühren bei Auslandstelefonaten mit dem Handy war.27 Die durch neue technische Verfahren nun möglich gewordene Konvergenz von Fernsehen und Internet zieht offenbar auch einen neuen Regulierungsbedarf seitens der EU nach sich, es fragt sich nur, nach welchen Kriterien. Ich möchte hierfür als Beispiel eine Rede von Reding zitieren, die sie am 23.11.2006 anlässlich der Eröffnung des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik von Lutz Hachmeister in Berlin gehalten hat. Zunächst beschreibt Reding ganz allgemeine und wohl auch allgemein unstrittige Werte der EU-Kommission: „Regelungsziele sind beispielsweise der Schutz von Minderjährigen, die Einhaltung der Menschenwürde, kulturelle Vielfalt oder Medienpluralismus.“28 Bei der Konvergenz wird es nun schwierig. Fernsehsysteme unterliegen auf Grund ihrer besonderen historischen Entwicklung in den verschiedenen europäischen Staaten einer nationalen Kontrolle, da das demokratische Selbstverständnis, mithin die Projektion der eigenen Nationalidee hiervon berührt sind. Für das Internet dagegen gibt es bislang kaum gesetzliche Regelungen, nicht zuletzt da seine Verbreitung territorial kaum eingegrenzt werden kann. Was geschieht nun also, wenn Fernsehprogramme zukünftig über das Internet verbreitet werden sollen? Die EU-Kommission hat hier nun offenbar einen Kompromiss gesucht, der bestehende Regulierungen zunächst unangetastet lässt, und den Vorschlag

27 Reding: „Viviane Reding“. 28 Reding: „Digitale Konvergenz“.

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einer sogenannten abgestuften Regelungsdichte unterbreitet: d.h. es wird eine vom Übertragungsweg unabhängige Unterscheidung getroffen: Für lineare Programme, bei denen Kontrollmöglichkeiten durch Verbraucher nur eingeschränkt vorhanden sind [Anm. d. A.: also herkömmliche Fernsehprogramme], gibt es einen höheren Regelungsbedarf als für nicht-lineare Programme, denen ein hoher Grad an Verbraucherkontrolle inhärent ist [Anm. d. A.: also – verkürzt gesagt – Internet-TV in seinen verschiedenen Spielarten].29 Für Reding fällt Letzteres tendenziell in den Bereich des Kommunikationssektors, und sie führt weiter aus: „Das Hauptziel der Regelungen im Kommunikationssektor ist darauf ausgerichtet, Wettbewerb und einen funktionierenden Markt herzustellen.“30 Dabei sind Meinungsfreiheit und die Freiheit der Medien […] nicht die einzigen vertraglich garantierten Freiheiten, die es zu verwirklichen gilt. Neben sie treten die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit.31

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29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd.

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Stefan Kramer

Mediale und kulturelle Leitfunktionen. Zwischen Substanz, Form und Struktur der Kommunikation Unter der großen Aufmerksamkeit von Presse und Politik, der internationalen Hard- und Softwareindustrie wie nicht zuletzt eines überwiegend jugendlichen Publikums hat im August 2008 in Leipzig die siebte internationale Spielemesse „Games Convention“ stattgefunden. Allerdings handelt es sich dabei um die letzte Leipziger Veranstaltung dieser Art. Die erstmalig im Jahre 2002 in der sächsischen Metropole veranstaltete „europäische Leitmesse“ und „führende Messe Europas für interaktive Unterhaltung, Infotainment, Edutainment und Hardware“ wird nämlich, wie der veranstaltende deutsche Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU) am 25. Februar 2008 bekannt gegeben hat, ab 2009 in den Kölner Messehallen stattfinden. Längst hat sich, wie sich nicht zuletzt auch an dem Gerangel um derartige Veranstaltungen zeigt, für die Produkte der Spieleindustrie der Terminus eines „neuen Leitmediums der Jugendkultur“ eingeprägt. Und auf diesen setzen die Messeveranstalter in ihren Vermarktungsstrategien und Standortentscheidungen konsequent. Nicht zuletzt das hat den ökonomischen Faktor und die wirtschaftspolitische sowie standortstrategische Brisanz auch dieser Messe erhöht und die Konkurrenzen unter den Messegesellschaften um sie enorm verschärft. Unterstrichen wird diese Entwicklung durch die beeindruckenden Entwicklungszahlen der Spieleindustrie wie auch ihrer Leipziger Leitmesse. Diese verkündet stolz eine Zunahme von 166 Ausstellern im Jahre 2002 zu 503 vertretenen Firmen im Jahre 2007 und von 80.000 Besuchern 2002 zu 185.000 verkauften Tickets bei der letztjährigen Veranstaltung. Die enttäuschte Reaktion des sächsischen Wirtschaftsministers Thomas Jurk, der sich unter diesem Eindruck nicht zu Unrecht „gegen den ruinösen Wettbewerb öffentlich getragener Messegesellschaften“ aussprach, oder des Leipziger Oberbürgermeisters Burkhard Jung hinsichtlich dieses von der Politik und von der Öffentlichkeit des Bildungsbürgertums vor einiger Zeit noch überhaupt nicht zur Kenntnis genommenen Mediums der Unterhaltungssoftware ist also durchaus nachvollziehbar: Was die Games Convention heute ist, ist sie durch und mit Leipzig. Wir können die Entscheidung des BIU nicht nachvollziehen, die Erfolgsstory der Games Convention in Leipzig nicht mehr zu unterstützen. Leipzig ist gut aufgestellt im Hinblick auf Service, Umfeld und Erreichbarkeit und wird in den nächsten Jahren weiter in die Infra-

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struktur investieren. Wir sind auch über 2008 hinaus für eine Games Convention oder für die Rückkehr des BIU offen. Für Leipzig ist die Entscheidung des Verbandes ein herber Schlag.1 Dieses allgemeine Ringen um die Gunst eines Mediums, welches andererseits in der bürgerlichen öffentlichen Meinung wie nicht zuletzt auch in der politischen Meinungsmache doch als das hässliche Entlein dessen gilt, was das kulturelle Selbstverständnis unserer Gesellschaft(en) ausmacht, scheint doch ein wenig zu verwundern. Dies insbesondere, wenn man an die allgemeine Kulturschelte denkt, welche, nachdem die Spieleindustrie angesichts ihrer wirtschaftlichen Erfolge auch von den Kulturwächtern nicht mehr gar so einfach ignoriert werden konnte, unter plakativen Stichwortgebern wie „Pisastudie“ oder „Amok-laufende Jugendliche“ in der Gesellschaft nicht minder omnipräsent ist als die Hardware-, vor allem aber die Softwarebranche der Computer- und Konsolenspielindustrie selbst. Und auch die Presse sieht im Allgemeinen mit jenen eher den Niedergang aller Zivilisation nahen als das Emporkommen einer neuen, die Gesellschaft bereichernden Kultur, die es zu begleiten und zu unterstützen gälte. So treten Presse und Politik, solange nicht, wie im Falle der von Köln abgeworbenen Games Convention, konkrete wirtschaftliche Interessen bedroht sind, in den allermeisten Fällen in seltener Eintracht vehement gegen den Siegeszug der Computerspiele und für traditionelle Bildungswerte ein. Damit sind konkret noch immer die (bei ihrer Einführung damals nicht minder angefeindeten) Anordnungen der typographischen Kultur und eines durch das aufgeklärte Bildungsbürgertum der Neuzeit geprägten elitären Idealismus gemeint. Diese lehnen jegliche Öffnung zu Neuem und Populärem seit jeher ab und sehen sich, wie es schon in den kulturkritischen Studien zur Kulturindustrie deutlich geworden ist, durch sie auch bald ein Jahrhundert nach den ersten Überlegungen zu einer auf die „Massenkultur“ der industriellen Hochmoderne abzielenden kritischen Theorie auch unter den postindustriellen Bedingungen einer weidlich ausdifferenzierten und globalisierten Informationsgesellschaft nach wie vor in ihrer eigenen Existenz bedroht. Offen geblieben ist bei aller hoch ideologisierten Kritik genauso wie bei allem plakativ werbewirksamen Marktgeschrei um dieses zweifelsohne umsatzstärkste „Medium“ der Gegenwart, bei dem die Begriffe von Leitmesse und Leitmedium, ganz gleich ob positiv oder negativ interpretiert, omnipräsent zu sein scheinen: Wer ist es denn eigentlich, der durch welches Medium von wo wohin geleitet wird? Darüber vermochte leider bisher keine der genannten Messen eine zufrieden stellende Auskunft zu erteilen, und auch deren Veranstalter wussten zur Untermauerung dieser Behauptung nichts anderes als eben 1

„Leipziger Messe bedauert BIU-Entscheidung“.

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die wirtschaftlichen Erfolgsquoten anzuführen. Und diese ließen sich durchaus um nicht minder beeindruckende Angaben hinsichtlich der Verkaufszahlen von Spielesoftware wie auch von deren zunehmenden Nutzerzahlen und Nutzungsdauer ergänzen. Doch lässt sich von diesen Zahlen her, also rein quantitativ und ausschließlich von der Senderseite her, tatsächlich der Leitcharakter eines Mediums verifizieren? Oder gehört für die Feststellung einer Leitfunktion nicht vielmehr auch die qualitative Analyse des Empfängers, also die Frage nach der konkreten Nutzung, der tatsächlichen Wirkung wie vor allem nach den Formen der kulturellen Reproduktion der durch die Medien und in den Medien angebotenen Bedeutungen? Und, nicht zuletzt, lässt sich unter dieser Voraussetzung überhaupt für irgendein Medium eine Leitfunktion verifizieren bzw. lässt sich unter ihr überhaupt ein Medium als Leitmedium konstatieren? Oder müsste dieser Terminus nicht eigentlich längst als ideologisch oder ökonomisch funktionalisierter Propagandabegriff in Händen von Kritikern wie Befürwortern der in den Fokus genommenen Industrien geächtet werden? In diesem Falle könnte er zwar nicht mehr als Kategorie für die Beschreibung gesellschaftlich-kultureller Prozesse und medialer Phänomene herhalten. Er wäre allerdings, da er aus den populären Diskursen kaum noch wegzudenken ist, für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über seinen eigenen Charakter als Medium und Motor für gesellschaftliche Prozesse umso interessanter. Eine zufrieden stellende Antwort auf die Frage nach dem leitmedialen Charakter der Spielesoftware jedenfalls wusste auch bei intensiveren Recherchen niemand der beteiligten Messeveranstalter und Produktanbieter zu geben. Eine solche hatte stattdessen (wie offensichtlich hinsichtlich nahezu aller Fragen, welche die Öffentlichkeit, als deren Sprachrohr sich die meisten Programmanbieter ja verstehen, bewegen) ein weiteres als Leitmedium gehandeltes Medium zur Hand – das Fernsehen. So hatte zum Anlass der Leipziger Games Convention des Jahres 2007 nämlich die Sendung „Kulturzeit“ des öffentlichrechtlichen Senders 3sat eine kritische Auseinandersetzung mit dem Medium Computerspiel angekündigt. Doch auch von dieser wurde der Medienbegriff fast beliebig zwischen Hard- und Software ausgetauscht und blieb der mediale Charakter der Computerspiele, die ja, technisch gesehen nicht mehr als nur eine bloße Software sind und zudem, wenn man die Apparatustheorien zugrunde legt, immer auf ein ganz anderes Medium, den Computer oder die Konsole, angewiesen sind, gänzlich ungeklärt. Nicht aber, wie ja bereits die Werbung der Messeveranstalter unmissverständlich konstatierte und es auch die Aufmerksamkeit der „Kulturzeit“ unterstrich, deren leitmedialer Charakter. Allerdings stellte sich bei der Sichtung jener Themensendung zu den Computerspielen heraus, dass es auch hier, nicht anders als bei den Messeveranstaltern der Games Convention und bei deren Ausstellern, anstelle einer differenzierten Auseinandersetzung offensichtlich um nichts anderes als um scharfe Konkurren-

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zen – einerseits um Marktanteile, andererseits um die kulturell-gesellschaftliche Autorität – der Medien selbst ging. So stellte sich die Ausstrahlung der „Kulturzeit“ zu dem Thema, die sich selbst ja über ihre Leitmedialität hinaus auch noch als Leitorgan von guter Kultur (in Abgrenzung gegen die Unkultur) und Political Correctness (in Abgrenzung gegen die Unmoral) präsentiert, unbewusst selbst als ein Spiegelbild, wenn schon, zumal der Medienbegriff auch bei deren Diskussionen weiterhin ungeklärt blieb, nicht der Leitmedien, so aber doch der gegenwärtigen Leitmediendebatte dar. Es ging in der Kulturzeit-Sendung zu den Computerspielen darum, zwei gegensätzliche Positionen gegenüber zu stellen. Und das funktioniert unter den gegenwärtigen Anordnungen des populären Diskurses am besten, wenn man diese Thematik mit derjenigen von Terrorismus oder, wie in diesem Beispiel, zumindest mit derjenigen der Jugendgewalt verknüpft. Um das einzulösen, hatte die Kulturzeit-Redaktion ein ganzes Bataillon von Soziologen und Pädagogen eingeladen, die dem Fernsehpublikum anhand von Fragebogenuntersuchungen und Statistiken nahe legten, dass Killerspiele – und somit also Computerspiele im Allgemeinen – leitmedial wirksam seien, indem sie nämlich Gewalt beförderten. Die Nachweiskette hierzu stellte sich als überaus simpel heraus: Jugendliche begehen Gewalt, anschließend werden Killerspiele in ihrer Wohnung gefunden und Nachbarn interviewt, die rund um die Uhr das Ballern durch die Wand mitverfolgt und die Spiegelungen der Blutspritzer auf dem Monitor durch die Fenster erkannt haben wollen, zudem Jugendliche vor die Kamera gezerrt, die behaupten, Gewalt zu lieben; und schon besteht kein Zweifel mehr daran: Killerspiele – und eigentlich ja Computerspiele überhaupt, nicht aber Computer, die, wenn man von Medien und Leitmedien spricht, ja die eigentlichen Adressaten der Kritik sein sollten – sind für Gewalt verantwortlich. Sie gehören also verboten. Weitere Einflussfaktoren auf das Gewaltverhalten geflissentlich übersehend und unter gleichzeitiger Diffamierung etwa eines Forschungsschwerpunktes zu „Computerspielen und sozialer Wirklichkeit“ der Kölner Fachhochschule, wo man zu den ganz anderen Ergebnissen nämlich einer weitestgehenden Neutralität solcher Spiele gegenüber dem Gewaltverhalten ihrer Nutzer gelangt ist, forderte dies an jenem Abend u.a. der Kriminologe und ehemalige niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer, dem in besagter Sendung ein nicht geringer Raum zur Darlegung seiner Thesen gegeben wurde. Somit lag es auf der Hand: Man soll lieber „Kulturzeit“ schauen und in Buchform die „Gallischen Kriege“ lesen, die sich zwar als nicht weniger blutrünstig herausstellen, dabei allerdings dem anderen, dem „guten“ Medium eines klassisch konventionalisierten Lektürekanons entweder angehören oder dieses, wie 3sat und die „Kulturzeit“, doch zumindest zu unterstützen vorgeben.

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Es soll uns an dieser Stelle allerdings nicht darum gehen, an diese Debatte anzuknüpfen und sich damit auch auf deren ideologisch und machtpolitisch vorgegebenen Dispositionen einzulassen. Vielmehr soll dieses hier nur knapp wiedergegebene Beispiel zur Grundlage eines sehr viel grundsätzlicheren Diskurses über die Frage nach den Leitmedien herhalten. Wenn man nämlich ein wenig genauer hinschaut, ging es bei der genannten Debatte, die zudem mit dem Fernsehen über ein Medium ausgetragen wurde, welches von den Beteiligten bei anderen Gelegenheiten hinsichtlich Verrohung, Gewalt und Bildungsmisere nicht weniger angeprangert wird als die an jenem Abend im Fokus stehenden Computerspiele, in Wirklichkeit gar nicht um die Erfassung einer möglichen Wahrheit der Medien und ihres Wesens. Es ging auch nicht um die Bestimmung von deren tatsächlicher Position in der Gesellschaft und Kultur. Stattdessen tauchen die Medien hier in Wirklichkeit erst auf einer zweiten Diskursebene auf: nicht als Gegenstand einer differenzierten Auseinandersetzung sondern als Waffe und Stellvertreterschauplätze für die eigentlich im Zentrum der Leitmediendebatte stehenden Kämpfe um ordnungspolitische Machtansprüche und deren Institutionalisierungsanordnungen sowie um die dazu gehörigen Bestimmungs- und Repräsentationsautoritäten über das, was Kultur und Moral recht eigentlich sein sollen. Auf dieser Ebene geführt, dreht sich die Leitmediendebatte also um nichts anderes als um den seit Jahrtausenden in nahezu allen Kulturen und Gesellschaften ausgefochtenen Kampf um die Bewahrung von Ordnungsprinzipien oder deren Anpassung und Erneuerung. Und dabei handelte es sich immer auch schon um einen Kampf um die Plattformen der kulturellen und politischen Macht und Äußerungsautorität. So stellt dieser sich in seinen Grundstrukturen auch in unserer Zeit, in der sich die typographische Kultur mit Hilfe der Festschreibung der einst von ihr selbst durchbrochenen moralischen Standards gegen die Dezentralisierungstendenzen der Informationsgesellschaft zu behaupten versucht, nicht wesentlich anders dar als etwa der Kampf, den die Kirchen vor fünfhundert Jahren gegen die Typographie und damit gegen Säkularisierung und Bürgertum ausgefochten hatten. Die Frage nach den Leitmedien lässt sich, wie sich daran zeigt, nicht sinnvoll aus den Dispositionen ihres eigenen Diskurses heraus beantworten. Sie vermag in der Form und mit den Einschränkungen, unter denen sie derzeit verhandelt wird, in Wirklichkeit niemals etwas anderes zu leisten als nur die Bestätigung der apriorisch getroffenen kulturell-politischen Festlegungen eines Medienbegriffs zwischen der Aura Gottes (Mittelalter), der Aura des Einzelwerks (Neuzeit), der Aura des medialen Dispositivs (Moderne, Kulturindustrie) und schließlich derjenigen der Bewegung, des Flow und der unaufhörlichen Aktualisierung nicht mehr fixierbarer Bedeutungseinheiten, wie sie mit der postindustriellen Medienkultur mehr und mehr auch an die Stelle der Aura ei-

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nes fixierbaren Mediendispositivs getreten ist. Ergänzt wird das durch die damit nach wie vor einhergehende Binärdifferenzierung von „guten Medien“ (zentralistische Printkultur) und „schlechten Medien“ (dezentral angeordnete Medien), wahrer und falscher Kultur oder Moral und Unmoral, was dann entweder in Form der jeweils eigenen moralisch-kulturellen Überlegenheit bestätigt oder als Verlust beklagt wird. Letzteres ist, wie die Positionierung der öffentlichen, weil veröffentlichten Meinung zu den Computerspielen derzeit zeigt, zumeist verbunden mit dem Aufruf zum Kampf für das Gute, nämlich für das vorgängige und bedroht erscheinende Werk bzw. Mediendispositiv. Das Argumentationssystem dieser Positionen ist, wie z.B. die Untersuchungen Christian Pfeiffers zeigen, inhärent in aller Regel durchaus schlüssig. Allerdings besteht das Desiderat all dieser Untersuchungen, wenn man einmal von ihren monokausalen Zugängen auf ihren Gegenstand absieht, außerdem darin, dass die apriorisch zugrunde gelegten Parameter ihrer Debatten selbst niemals zum Gegenstand des Diskurses gemacht werden. Damit bleiben alle diese Debatten letzten Endes, da sie ihr Ergebnis ja von vorne herein zu kennen vorgeben, ergebnislos und lässt sich auf ihrer Grundlage eine Existenz von Leitmedien jenseits des nahezu beliebig konstruierten Diskurses jedenfalls nicht verifizieren. Das um so mehr, zumal dieser sich ja nicht einmal auf einen gemeinsamen Medienbegriff zu einigen vermag. Wir befinden uns also, wenn wir die Debatte um die Leitmedien auf einer Ebene austragen, auf welcher wir die Begrifflichkeit unseres Gegenstandes ausschließlich innerhalb unseres eigenen, kulturell und ideologisch bereits vorweg geprägten Diskurses definieren, unausweichlich in dem Dilemma einer axiomatischen Diskursanordnung. Diese ist nicht deduktiv abgeleitet. Sie schließt nicht vom Allgemeinen auf das Besondere. Vielmehr argumentiert sie ausschließlich funktionalistisch. Und mit dieser Problematik gelangen wir zu einer recht grundsätzlichen Fragestellung nach der disziplinären und kulturellen Verortung der Medienwissenschaft wie ihrer Gegenstände. Bei der Medienwissenschaft im Allgemeinen wie auch bei der Frage nach den Leitmedien im Besonderen handelt es sich, wie wir eigentlich alle wissen, es aber nichtsdestoweniger nur allzu selten unseren eigenen Argumentationen zugrunde legen, in Wirklichkeit um ein Themenfeld, für das es keine monokausalen Erklärungsmuster gibt und für das es unter den im Allgemeinen üblichen gegenwärtigen Positionierungen der Einzeldisziplinen auch keine Definitionsautorität geben kann. Weder geben uns nämlich technische Bestimmungen allein Auskunft darüber, was ein Medium ist oder lässt sich über apparative Dispositionen derjenigen Geräte, die man als Medien bezeichnet, eine Leitmedienfunktion begründen, noch können Prozesse in Politik und Gesellschaft allein Ableitungen aus den Medien begründen. Die Frage nach den Apparaten muss also notwendigerweise immer zu derjenigen nach ihrer Funktion führen, um zu Er-

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gebnissen hinsichtlich der Leitmediendebatte wie auch der Definition dessen gelangen zu können, was überhaupt ein Medium ist. Die KommunikationsFunktion der Medien beinhaltet in diesem Sinne immer zugleich eine indigen soziologische Fragestellung. So ist sie etwa von Norbert Elias2 oder Jürgen Habermas3 grundlegend formuliert und in der empirischen Kommunikationsforschung auf ihre Gegenstände angewendet worden. Indem allerdings die Sozialwissenschaft einen Begriff von Öffentlichkeit und Masse definiert und von diesem aus empirisch die Bestimmung eines Leitcharakters von Einzelmedien bestimmt hat, ist sie dem Verständnis von Gesellschaft zwar vielleicht näher gekommen. Sie hat diesem aber keinen Medienbegriff zugrunde gelegt, an dem die Kommunikation hätte abgearbeitet werden können. Ihm fehlt nach wie vor die Bestimmung eines Gegenstandes, um von der Definition von Öffentlichkeit auf einen möglichen (medialen) Vorgänger und Impulsgeber derselben schließen zu können. Die Frage, wer geleitet wird, klärt sich hier zwar, wenn auch unbefriedigend, in der unbestimmten Definition einer Masse, die ja nicht selten nahezu äquivalent zu dem Begriff der Öffentlichkeit gebraucht wird. In jedem Fall bleibt aber, selbst dann, wenn man die auf der Hand liegende Differenz zwischen einer in Gruppen und Individuen, Interessengemeinschaften und Verbänden ausdifferenzierten Öffentlichkeit und einer homogenen Masse, einem einheitlich wahrnehmenden, denkenden und handelnden Kollektivkörper einmal außer acht lässt, auch hier die Frage offen: Wer oder was in Wirklichkeit ist es eigentlich, der oder das die Masse resp. Öffentlichkeit leitet? Eine gängige Definition, wie sie der Soziologe Udo Göttlich (zitiert auch in einer weiteren, als „heimliches Leitmedium“4 gehandelten Plattform von Öffentlichkeit, der Wikipedia-Seite des WorldWideWeb) formuliert hat, besteht hierbei darin, dass ein Leitmedium ein spezifisches dominierendes Einzelmedium in einer bestimmten historischen Phase der Medienentwicklung sei, welchem eine Hauptfunktion in der Konstitution gesellschaftlicher Kommunikation und von Öffentlichkeit zukomme.5 Folge ich dieser Bewertung, dann muss ich auf der Grundlage der oben vorgeschlagenen Definitionen der Medien zwischen Apparatur (Technik) und ihrer Funktion der Existenz von Leitmedien allerdings gänzlich widersprechen. Keineswegs lässt sich angesichts der hier ausgesparten 2

Elias: Die Gesellschaft der Individuen.

3

Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit.

4

So die Historikerin Maren Lorenz in einem Interview mit dem DeutschlandRadio vom 11.05.2007, wobei sie Wikipedia zugleich eine Leitmedialität zu- und jegliche Seriosität abspricht: Deggau/Lorenz: „Historikerin Lorenz“.

5

Göttlich „Wie repräsentativ kann populäre Kultur sein? Die Bedeutung der Cultural Studies für die Populärkulturanalyse“; vgl. auch „Leitmedium“.

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Funktion, welche Medien ja erst zu solchen macht, nämlich die Existenz einer fixen materiellen Identität von Einzelmedien annehmen, um von ihr her quantitativ auf die Nutzung und qualitativ auf die Rezeption und die Verbindungsstrukturen einzelner Medien innerhalb konkreter Gesellschaften und in globaler Perspektive abzielen zu können und daraus zu folgern, dass sie eine Öffentlichkeit zu konstituieren in der Lage wären, was auch immer das zwischen der Bestimmung einer kollektiv handelnden Masse und von fragmentierten Individuen sein soll. Und genauso wenig lässt sich sinnvoll behaupten, dass die Bedeutungsstruktur der Erzeugung von Öffentlichkeit eine analog informationswissenschaftlich lineare Kette von Maschinen zu einzelnen Empfängern sei, die in ihrer Summe dann eine Öffentlichkeit, nämlich eben jene viel beschworene, aber nie jenseits ihrer ideologischen Bestimmung näher definierte Masse, ergeben würden, auf welche die Apparatur abzielte. Im Zentrum der Überlegungen zu den Leitmedien und damit auch zu den Medien im Allgemeinen, kann, wenn man auch jenseits des eigenen Diskurses genauer hinschaut, in Wirklichkeit also keineswegs der sozialwissenschaftlich geprägte, dabei allerdings weitestgehend medienunkritisch bleibende Begriff von Öffentlichkeit stehen bleiben. Genauso wenig lassen sich für die (Leit-) Medien aber auch der physikalische Medienbegriff der Sendung von – dabei inhaltlich nicht benannter – Information, der textwissenschaftliche Begriff des Medieninhalts oder der kulturwissenschaftliche Begriff der Extension von Körperfunktionen (ohne die Funktion dabei zu hinterfragen) sinnvoll zur Anwendung bringen. Und schon gar nicht trifft auf sie der technik- und medienwissenschaftlich geprägte Terminus des Apparatus, also der Substanz, des Materials der Kommunikation und damit, erkenntnistheoretisch betrachtet, des Substrates der Herausbildung von Öffentlichkeit zu, zumal diese dabei gänzlich indifferent bleibt. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gehört hinsichtlich einer Erkenntnismethode, die bei diesem Gegenstand gleichzeitig deduktiv wie auch induktiv vorgehen muss, vielmehr der alle diese vorgängigen Termini jenseits der Binärdifferenz zwischen Materie (Substanz) und Eigenschaft als „Form“ (Eidos) zusammenfassende und zu seinem Ausgangsmaterial hernehmende Begriff der „Struktur“. Und darunter versteht sich nicht der inflationär benutzte und zugleich erkenntnistheoretisch extrem verengte und seine Gegenstände verengende Terminus der Hochmoderne, wie er sich u.a. in den wissenschaftlichen Methoden des Strukturalismus niedergeschlagen hat. Vielmehr ist für seine sinnvolle Verwendung an sein ursprüngliches Verständnis als structura, die Bauweise, und zugleich als struere, das Aufschichten, anzuknüpfen. Die wechselseitige Bedingtheit von Substantiv (das Sein) und Verb (das Werden) dieses lateinischen Begriffes lässt sich dabei als Grundlage für einen Strukturbegriff hernehmen, der sich als Isomorphie, als Entsprechung der Erkenntnis mit ih-

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ren äußeren Bezugsgrößen, versteht. In dieser Hinsicht gilt es, die Frage nach den Medien wie insbesondere diejenige nach ihrer möglichen Leitfunktion von den in ihrem Zusammenhang herkömmlich betrachteten Bereichen des Apparatus und der Öffentlichkeit auf diejenige nach der Entsprechung des gesamten Erkenntnismechanismus zwischen biologischen und neurobiologischen, psychischen, technischen und soziokulturellen Faktoren mit denjenigen einer äußeren Wirklichkeit, also nach dem Verhältnis von Aussage, Wahrnehmung und Ding, zu erweitern. Zwischen diesen Kategorien, die in ihren Grenzmarkierungen zueinander ja viel eher auf die ihnen zugrunde liegenden Diskurse als auf eine etwaige äußere Substanz verweisen, existieren ja, wenn man in erkenntnistheoretischer Unkenntnis über die Existenz einer Substanz stattdessen ihre Form als mögliche Referenzgröße heranzieht, um von ihr her schließlich im Zusammenwirken mit den Elementen unserer Wahrnehmung und Erkenntnis auf die Ebene zu gelangen, welche hier Struktur genannt werden soll, keine fix definierbaren Schnittstellen jenseits des jeweiligen Diskurses. Vielmehr sind alle Einzelelemente immer bedingende Größe wie zugleich auch inhärenter Bestandteil des jeweils anderen und nicht zuletzt auch dessen – nicht materiell-substantielle sondern vielmehr kulturell-soziale – Konstruktion als Identität bildendes Anderes. Struktur schaut dabei nicht auf die Identität der jeweiligen Form und auf die Differenzen zwischen den einzelnen Substanzen der Bedeutungsbildung wie den Apparat, das Individuum oder die Öffentlichkeit. Sie blickt vielmehr auf deren Bewegung und Schnittstellen untereinander, auf die Verknüpfung von Substantiv und Verb, von Sein und Werden. Als entscheidendes Bedeutungen gebendes Element in allen Kommunikationsprozessen verweist sie damit unmittelbar auf das ursprüngliche Verständnis des griechischen Begriffs Medium zurück. Es geht um die Mitte, um die zentralen Marktplätze von Handel, Politik, Kultur, Kommunikation und Bedeutung. Das Medium als Mitte geht weder von einer fixen äußeren Wirklichkeit des Apparatus (als Erweiterung menschlicher Fähigkeiten) noch von der fixierbaren Größe eines individuellen oder gesellschaftlichen Organismus (der Masse) aus, an welche Informationen zu vermitteln wären. Interessant bei der Vorstellung der Existenz einer Masse ist nicht zuletzt, dass deren Begrifflichkeit und politische Kategorie selbst eine elitäre Schöpfung ist, die in Händen einer selbst ernannten Machtund Bildungselite die erkenntnispragmatischen Binärdifferenzen modernen Denkens (High Culture vs. Low Culture, Elite vs. Masse) einschließlich der eigenen Definitionshoheit über dieselben aufrecht zu erhalten hilft. Unter dem, wie ich meine, sehr viel demokratischeren Medienbegriff der Mitte dagegen versteht sich Bedeutung als eine dynamische, sich unaufhörlich aktualisierende Größe mit wechselnden, sich damit gegenseitig nivellierenden Hierarchien, die selbst Materie, Form und Struktur, also auch Medium und

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Leitfunktion ist. Sie kann daher auch sehr gut auf die herkömmlichen axiomatischen Differenzbeziehungen aus Medium und Öffentlichkeit verzichten. Stattdessen fragt sie nach einer Struktur in der Bewegung und an den Schnittstellen des Kontaktes aller beteiligten Parameter zueinander sowie zwischen ihrem jeweiligen Innenraum und dessen mannigfaltigen Konstruktionen einer äußeren Wirklichkeit, die dabei aber jeweils auch nur in ihrer Verbindung mit dem Innenraum beschreibbar wird. Den gängigen Dichotomisierungen der (Leit-)Mediendebatte ist also ein vom Apriori einer Öffentlichkeit genauso wie von demjenigen einer apparativen Materialität von Medien absehender, vielmehr dynamischer und an die Struktur gebundener Medienbegriff der Mitte vorzuziehen. Mit ihm lässt sich über ideologisch-binäroppositionelle, daher ohne Aussicht auf Ergebnis bleibende Debatten wie diejenige um die Leipziger Games Convention und das Computerspiel hinaus gelangen. An ihre Stelle könnte somit ein vom Ballast der gesellschaftlich-kulturellen Diskursanordnung zumindest teilweise befreites Nachdenken über die Leitmedien und damit nicht zuletzt auch ein solches über die Medien und die Medienwissenschaft selbst treten. Bei der Privilegierung des Strukturbegriffs für die Beschreibung von Medien hinsichtlich der Debatte nach den Leitmedien ist also, wie sich zusammenfassend sagen lässt, zunächst einmal davon auszugehen, dass Medien nicht über ihre Materialität sondern immer nur über ihre Funktion zu Medien werden können. Und diese besteht in aller Regel in der Kommunikation. Auf der anderen Seite ist aber auch davon auszugehen, dass Kommunikation ihrerseits nur unter Verwendung von Hilfsmitteln stattfinden kann. Dazu zählen, allgemein betrachtet, natürliche Bedingungen wie die Luft, die Schallwellen weiterleitet oder die Lichtstrahlen, welche Gestik und Mimik aber auch visuelle Texte sichtbar machen, genauso wie Kulturtechniken, also unter konkreten diskurshistorischen und soziokulturellen Bedingungen und institutionellen Anordnungen produzierte Hilfsmittel der Kommunikation wie das Buch, das Kino, das Fernsehen oder das Telefon und der Computer mit seinen Netzwerken, die ja außerdem auf die eine oder andere der vorgängig genannten Kategorien, auf Licht- oder Schallwellen oder auf elektrische Impulse zurückgreifen müssen, um ihre Kommunikationsfunktion erfüllen zu können. Die Apparaturen der Medien, welche in dem ihnen zugrunde liegenden Erkenntnisprozess als Materie und Substanz das Sein darstellen, und die Kommunikation, welche den Apparaturen eine sich unter wechselnden soziokulturellen Bedingungen und technischen Weiterentwicklungen mit dadurch bedingten neuen Funktionsweisen ständig wandelnde Form verleiht und somit das Werden darstellt, lassen sich also immer nur unter ihrer gegenseitigen Bezugnahme aufeinander definieren. Erst die Hinzufügung einer sich in der Kombination von virtuellem Sein und unaufhörlich aktualisiertem Werden generie-

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renden Struktur, die ihre Substanz und Form zu Bedeutung verknüpft, schafft aber erst die Voraussetzungen dafür, dass sich aus ihren Prozessen heraus eine Medialität beschreiben lässt. Bei ihr handelt es sich nicht bloß um die Materialität der Apparatur, und es handelt sich auch nicht bloß um einen funktionalen Werkzeugcharakter im Kommunikationsprozess oder um ein quasi ätherisches Dazwischen der an diesem beteiligten Substanzen. Vielmehr handelt es sich bei der Struktur der Medien in Wirklichkeit um die ihnen zugrunde liegende konkrete Ordnung, die sich auch als eine Metaebene von Bedeutung, nämlich als Kultur, beschreiben lässt. Doch dabei darf nicht übersehen werden, dass auch die Begrifflichkeit von Kultur immer erst ein Produkt und nicht die Voraussetzung ihres Funktionssystems sein kann. Aus ihr gehen, wie sich ein immanenter Blick auf alle diejenigen Begriffe und Kategorien zeigt, welche mit den Medien im Allgemeinen und mit den Leitmedien im Besonderen in Zusammenhang gebracht werden, solche Begrifflichkeiten wie diejenige des Mediums oder diejenige der Kommunikation als Identitäten und Differenzen herausbildende Kategorien eines soziokulturellen (Selbst-)Verständnisses recht eigentlich erst hervor. Und diese Multikausalität, dieser Pluralismus von Produzieren, Repräsentieren, Wahrnehmen und Erkenntnis, trifft als Bedeutungen bildende Dynamik aller Kommunikationsprozesse umso mehr zu, wenn wir die Frage nach den Medien auf diejenige nach den Leitmedien zuspitzen. Deren Begrifflichkeit beinhaltet ja unmittelbar die genannten Verknüpfungen von Substanz (Medium) und Funktion (Leiten). Sie muss mit dem Ansinnen, eine Leitfunktion der Medien zu begründen, zweifellos erfolglos bleiben, wenn sie dabei nur auf einen (etwa auf die Materialität der Apparaturen, die Funktionalität der Kommunikation oder auch auf deren Institutionen oder die deren Etablierung zugrunde liegenden Diskurse) blickt. Aber selbst dann, wenn alle der beteiligten Parameter parallel zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden, dabei jedoch deren im ständigen flow befindliche Verknüpfungen und die Schnittstellen zwischen ihren jeweiligen Innen- und Außenräumen übersehen werden, wird eine solche Betrachtungsweise nicht zu einem fruchtbaren Ergebnis führen. Denn vor allem diese Verknüpfungen und Schnittstellen mit der ihnen innewohnenden Dynamik und Wandelbarkeit sind es, die als Struktur den tatsächlichen Charakter der Medien, nämlich denjenigen der Mitte, ausmachen und somit auch jeder etwaigen Leitfunktion von Medien zugrunde liegen.6 Wenn wir die Medien auf Basis dieser Überlegungen hinsichtlich ihrer Struktur definieren, dann lässt sich damit sowohl vom Apriori ihrer Materialität, also ihrer Apparativität, wie auch von demjenigen ihrer Funktion, also der 6

Vgl. das hier zugrunde gelegten Medienverständnis auch mit Kramer: „Äther. Und es gibt ihn doch …“.

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Kommunikation, absehen. Und das ist die Voraussetzung dafür, die definitorischen Fallen zu überwinden, welche diesen Begriffen diskurshistorisch eingegeben worden sind. Denn die materielle Substanz und die Kommunikationsfunktion der Medien sind ohnehin voneinander abhängig. Sie sind zudem aber immer auch Produkte kultureller d.h. individueller und gesellschaftlicher Konstruktion, welche ja ihrerseits einen Kommunikationsprozess darstellt, der auf Hilfsmittel (wenn man in diese Mediendefinition zurückfallen würde) angewiesen ist. Sie verweisen, wie sich hier zeigt, jeweils auf Bedeutungsparameter, die außerhalb ihrer selbst, nämlich in der Form, dem Eidos, dem Hinzugefügten, liegen und somit auch nicht aus sich selbst heraus, als Immanenz, beschreibbar sind. Und bei Kultur handelt es sich in ähnlicher Weise ja um nichts anderes als um die ausgehandelten Verknüpfungen zwischen Individuen, die aus ihren Innen-Außen-Beziehungen heraus kommunikativ immer neue, größere Innenräume bilden, welche sich ihrerseits gegen neue Außenräume abgrenzen (wie etwa Familien, Vereine und Verbände, Dorfgemeinschaften, Nationen, Bündnisse etc.). Um Kultur in Form einer beschreibbaren (nämlich Begriffe und Kategorien herausbildenden) Ordnung bilden zu können, benötigen sie wiederum Hilfsmittel wie die Medienapparaturen, die ihrerseits immer Erzeugnisse derjenigen Kultur sind, welche sie kommunizieren und die sie im Prozess der Kommunikation überhaupt erst erschaffen. Die Medien stellen sich nach den bisherigen Ausführungen immer selbst als ein Ergebnis von Öffentlichkeit dar, wenn wir darunter eine institutionalisierte Gemeinschaft von Individuen verstehen. Dabei nehmen die Medien aber auch ihrerseits Einfluss auf die Konstitution derjenigen Strukturen von Kommunikation, welche in ihrem Ergebnis das hervorbringen, was sich dann erst in ihrem Ergebnis Öffentlichkeit nennt. Und dies geschieht immer und ausschließlich in den Händen von Teilen eben dieser Öffentlichkeit, aus der sie hervorgehen und in die sie hineinwirken, nämlich an den Schnittstellen der sich multiplizierenden Innen-Außen-Verknüpfungen. Hierbei handelt es sich um den flow einer sich unaufhörlich aktualisierenden Form und Begriffs- wie Bedeutungsbildung. Und bei deren sich verschiebenden Schnittstellen handelt es sich um das, was wir hier als Struktur bezeichnen wollen. Somit ist sie es, die jenseits des materiellen oder des funktionalen Charakters der Medien, deren tatsächlichen Leitbedingungen bedingt und dabei die in den Diskursen prägenden Begriffe wie Substanz, Form oder Funktion recht eigentlich erst produziert und mit einer Bedeutung anfüllt, die nicht auf die Substrate dieser Begriffe sondern vielmehr ausschließlich auf die wandelbare Struktur ihrer Verknüpfungen miteinander verweist. Wenn wir in dieser Hinsicht vom Bewusstsein und von der Kultur des Menschen her auf die Medien blicken, dann bedeutet das, dass wir nicht mehr zwischen Gesellschaft, Technik, Diskurs und Handeln und also auch Kultur

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unterscheiden müssen und in diesem Sinne letzten Endes auch auf eine Fixierung sowie auf die Idee einer Fixierbarkeit der Differenz zwischen Innen und Außen verzichten können, wie sie das Verständnis des Leitmediums hinsichtlich der Empfängerperspektive von seitens eines Senders medial vermittelter Informationen bislang ja vorausgesetzt hat. Auf der Grundlage der gängigen Verwechslung des Begriffs der Öffentlichkeit mit einer durch diesen imaginierten äußeren Wirklichkeit in Form einer von Beginn an verknüpften Gemeinschaft von Individuen (aus der nur allzu oft der nächste Fehlschluss, derjenige der Imagination einer Masse, hervorgeht), stellt sie in dieser Gleichung das Innen und stellen die Medien und die Informationen, also die Inhalte der Medien, das Außen dar. In Wirklichkeit ist stattdessen aber davon auszugehen, dass Öffentlichkeit immer Gesellschaft als die Wiederholung ihrer Individuen im Deleuze’schen Sinne einer hinzufügenden Aktualisierung ist.7 Sie bleiben mitsamt allen ihren vorgängigen und gegenwärtigen Kulturtechniken, Institutionen und Konventionen zwar als Spur in der Konstruktion von Gesellschaft resp. von Öffentlichkeit erhalten. Dabei sind sie aber nicht mehr dasselbe wie die Referenzgrößen, die Substrate ihrer Entstehung. Und ebenso entsteht Gesellschaft immer aus Kultur heraus. Dabei entwickelt sie ihrerseits Sprache, Zeichen, Kategorien, Aussagen und, damit wechselwirksam zusammenhängend, Diskurse. Diese wiederum werden ihrerseits in die Bildung von Institutionen, technische Entwicklungen und anderes kulturelles Handeln übersetzt, um dabei die Gesellschaft (als in Zeit und Raum durchlässigen und wandelbaren Superorganismus) genauso wie ihre Individuen (als Teilorganismen, die sich dabei aber keineswegs auf die ausschließliche Zugehörigkeit zu diesem einen Superorganismus auszeichnen) immer wieder neu zu formieren und zu formulieren. Es gilt also, eine Fixierung auf das eine oder das andere Phänomen zu vermeiden und damit aus den axiomatischen Beschränkungen der Medien- und der Leitmediendebatte heraus zu kommen, die unaufhörlich künstliche Binärdifferenzen wie diejenige zwischen Medien und Öffentlichkeit erschaffen, um auf deren Grundlage Kausalverbindungen zwischen beiden einschließlich der jeweils eigenen Identität zu konstruieren, die in Wirklichkeit aber auf nichts anderem als nur auf der Definition des jeweils Anderen beruht. Anstatt nach diesem Muster entweder auf Gesellschaft oder auf Kultur oder auf die Medien zu blicken und diese materiell zu fixieren, ist also von nur in der Konstruktion existierenden und sich dabei kommunikativ unaufhörlich verschiebenden Innen-Außenbeziehungen eines in Wirklichkeit als Makroorganismus bestehenden, dabei nach Belieben teilbaren und neu verknüpfbaren Ganzen auszugehen. Und genau das ist es, was die gegenwärtige Leitmediendebatte, die apriorisch von den Ergebnissen genau dieser willkürlich vorge7

Vgl. Deleuze: Differenz und Wiederholung.

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nommenen Teilungen ausgeht, ad absurdum führt. An ihrer Stelle soll vielmehr eine dynamische, in der Mannigfaltigkeit existierende Univozität eines Gesamtorganismus angenommen werden, bei dem in Ermangelung einer Binärdifferenz und angesichts einer Verzichtbarkeit von einzelnen systemischen Elementen zugunsten rhizomartiger Strukturen auch nicht das Eine Leitfunktionen gegenüber dem Anderen übernehmen kann. Hierarchien entstehen hier also nicht substantiell sondern ausschließlich diskursiv und sind damit wandelbar. Auf dieser Basis sind vor allem die Bewegung und die sich unaufhörlich fortentwickelnde Interaktion, also die Kommunikation in den Innenräumen dessen, was sich als die Struktur dieses in seiner Vielheit univoken Organismus bezeichnen lässt, in das Zentrum der Aufmerksamkeit einer grundlegenden Debatte um die Medien zu rücken. Die sich in aller Regel an einer etwaigen materiellen Realität orientierenden oder nach Funktionsmechanismen fragenden Diskurse um die Medien, welche allen Überlegungen zu den Leitmedien definitorisch zugrunde liegen, sind also um die innere Wirklichkeit der Erkenntnis zu ergänzen. In der Verknüpfung all dieser Parameter einer in der Kommunikation entstehenden Erkenntnis miteinander lässt sich der Begriff des Mediums allerdings nicht mehr sinnvoll als ein Werkzeug oder Übermittler und nicht einmal mehr als ein Dazwischenliegendes bezeichnen. Vielmehr ist es notwendig, das Medium in seiner ureigentlichen Bedeutung als Mitte, als Marktplatz, und also als Struktur wieder zu entdecken. Denn es ist die Struktur, welche die dynamische Gesamtheit der Schnittstellen wie zugleich die Verknüpfung aller Parameter von Produzieren, Wahrnehmen, Erkenntnis und Bedeutungsbildung ausmacht. Wenn man diesen Schritt zu einer strukturellen Mediendefinition als Mitte macht, muss diesem allerdings das Zugeständnis vorausgehen, dass die Debatte um die Leitmedien in ihrer bisherigen diskursimmanenten (nämlich von den Vertretern der Apparatustheorien substantiell, von den Vertretern der sozial-/kommunikationswissenschaftlichen Zugangsweisen funktional verfochtenen) Form nicht in der Lage ist, ihre Voraussetzungen (nämlich die gängigen Medienbegriffe) mit zum Gegenstand ihres Diskurses zu machen und somit nur aus sich selbst heraus begründbar, also obsolet ist. Stattdessen ließe sich die Frage nach den Medien und nach deren etwaigem Leitcharakter allein durch einen heterotopen und sich mit Blick auf die Bedeutungen bildende Struktur von Form und Materie für das jeweilige Andere öffnenden Blick auf sie sowie durch eine die Einnahme dieses „anderen Ortes“ begünstigende Mediendefinition der Mitte beantworten. Denn dieser könnte uns letzten Endes zum Kern einer von den sich selbst beobachtenden und hinterfragenden Disziplinen und von den sich gegenüber dem imaginierten Anderen öffnenden Kulturen gemeinsam zu formulierenden Frage nach den Medien und nach den Medienwissenschaften selbst führen.

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Literaturverzeichnis Deggau, Christine/Lorenz, Maren: „Historikerin Lorenz: Wikipedia ist ein heimliches Leitmedium“, http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/ 624384/, 01.02.2008. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1997. Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt a.M. 1991. Göttlich, Udo: „Wie repräsentativ kann populäre Kultur sein? Die Bedeutung der Cultural Studies für die Populärkulturanalyse“, in: Albrecht, Clemens u.a. (Hrsg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung durch die Cultural Studies, Köln 2002, S. 33-51. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1962], Frankfurt a.M. 1990. Kramer, Stefan: „Äther: Und es gibt ihn doch … Desontologisierte Überlegungen zur Immanenz der Medien, in: Kümmel-Schnur, Albert/Schröter, Jens: Äther. Ein Medium der Moderne, Bielefeld 2008, S. 33-55. „Leipziger Messe bedauert BIU-Entscheidung“, Pressemitteilung der Leipziger Messe, 25.02.2008 (http://www.leipziger-messe.de/LeMMon/PRESSE. NSF/e8351bb082913bfbc125664e00310a0e/1e0ca0c7b5cce12cc12573fa0 048bb58/$FILE/GC.rtf). „Leitmedium“, Wikipedia, www.de.wikipedia.org/wiki/Leitmedium, 01.02.2008.

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Jens Ruchatz

Vom Nutzen und Nachteil der Leitmedien für die Medienhistoriographie. Am Beispiel der Fotografie 1

Es gibt keine Leitmedien

Im Jahr 2005 bezeichnet Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, den Film forsch als „das Leitmedium des 21. Jahrhunderts“.1 Den Rahmen für diese – zumal angesichts des erst begonnenen Jahrhunderts – reichlich gewagte Behauptung bildet die Präsentation eines Kanons von Filmen, den die Bundeszentrale für Politische Bildung als Grundlage für ein noch zu gründendes Schulfach, zumindest aber für die feste Verankerung des Films im Lehrplan zusammenstellen ließ. Die Begrifflichkeit des „Leitmediums“ pointiert hier als Chiffre die Dringlichkeit, mit der ein Bedarf für das neue Schulfach angezeigt wird: Das wichtigste Medium, so sollen die Kultusministerien begreifen, kommt in der Schule nicht vor! Zwar, so Krüger weiter, spiele der Film „in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle“, doch „Filmbildung“ sei in der Schule noch nicht angekommen. Solche Missachtung trifft freilich viele Bereiche ‚der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen‘: Computerspiele und Popmusik ebenso wie Comics oder das Fernsehen. Dass man gerade für das gar nicht mehr so junge, sondern bereits in Würde gealterte Medium Film Partei nimmt, verrät – ebenso wie die Erstellung eines Kanons von Filmen, „die Sie kennen müssen“ – wie stark das Plädoyer traditionell bildungsbürgerlichen Vorstellungen anhängt und den Film durch seine Anerkennung als Unterrichtsgegenstand offiziell nobilitiert sehen möchte. Das Anliegen, anhand des Films bereits in der Schule bildanalytische Kompetenzen auszubilden, verdient durchaus Anerkennung – gerade auch als Gegenwicht zur xten Forderung, ‚Schulen ans Netz‘ anzuschließen oder das ‚gute Buch‘2 zu fördern. Gleichwohl: Wäre der Film dieses Leitmedium, für das es Krüger so nachdrücklich erklärt, müsste man dann überhaupt so nach Filmbildung schreien? Vielleicht ist ja die Forderung auch eher symptomatisch dafür, dass die neuen Medien das alte Medium Film mittlerweile so gediegen

1

Krüger: „Geleitwort“, S. 7. Vgl. in einer anderen Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung: „Der Film ist das Leitmedium unserer Zeit.“ (Kötzing: „Editorial“).

2

Hier sehr pointiert Exner: „Zurück in die Zukunft oder doch lieber lesen?“.

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erscheinen lassen,3 dass es, gerade, weil es kein Leitmedium (zumindest nicht der Jugendkultur) mehr ist, für des Schulunterrichts würdig befunden werden kann.4 Das einleitende Beispiel soll hier vor allem dafür stehen, dass der Leitmedienbegriff die Grenzen des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs längst überschritten hat und als strategischer Begriff sogar Appellcharakter entwickeln kann. Eine Internetrecherche ergab im November 2007 rund 90.000 Treffer für den Suchbegriff ‚Leitmedium‘, für ‚Leitmedien‘ immerhin noch 44.000.5 Auffällig ist nicht nur die Quantität der Verwendungen, sondern auch die Einsicht, dass sich so ziemlich alles, was mit Medien nur irgendwie zu tun hat und vergleichsweise häufig rezipiert wird, als Leitmedium qualifizieren lässt. Neben den erwartbaren Kandidaten Internet oder Computer findet man etwa die Behauptung, Wikipedia sei das „heimliche Leitmedium“ der Gegenwart6; eine Ringvorlesung in Göttingen fragte im Wintersemester 2005/06: „Bilder. Ein (neues) Leitmedium?“7; der Chefredakteur des neuen Kunstmagazins Monopol, Cornelius Tittel, dekretiert kurzerhand: „Kunst ist das neue Leitmedium“8; und schließlich erklärt uns die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, dass der Spiegel das publizistische Leitmedium der Bundesrepublik sei.9 Warum verfängt der Begriff so? Mir scheint, dass er als Kurz- und Leerformel schnell und griffig den als Leitmedium bezeichneten Gegenstand mit Wichtigkeit auszeichnet: Wenn wir ohnehin in einer Mediengesellschaft leben, wie wichtig müssen dann erst deren Leitmedien sein! Und im wissenschaftlichen Kontext soll die gesellschaftliche Relevanz des Leitmediums auf seine Erforscher abfärben, indem sie das wissenschaftspolitisch so nützliche Etikett des ‚Gegenwartsbezugs‘, der Erdung der wissenschaftlichen Arbeit im aktuellen Zeitgeschehen, verleiht. Frei nach dem in der medienwissenschaftlichen community schon sprichwörtlich gewordenen Diktum aus dem Kursbuch Medienkultur möchte ich als 3

Vgl. Agentur Bilwet: „Alte Medien“.

4

Damit soll nicht prinzipiell verneint werden, dass man auch gute Argumente dafür anführen kann, den Film zum Leitmedium auch der multimedialen Bildkultur zu erklären; vgl. z.B. Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino, S. 291.

5

Gesucht wurde am 13.11.2007 mit der Suchmaschine Google. Erstaunlich ist, dass sich die Treffer bei einer neuerlichen Recherche am 15.04.2008 erheblich reduziert hatten.

6

So die Historikerin Maren Lorenz in Deggau/Lorenz: „Historikerin Lorenz: Wikipedia ist ein heimliches Leitmedium“.

7

Vgl. die Buchfassung Hoffmann/Rippl: Bilder.

8

Zit. nach Serrao: „‚Kunst ist das neue Leitmedium‘“.

9

Vgl. z.B. Russ-Mohl: „Was Journalisten lesen“.

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Prämisse dieses Beitrags formulieren, dass es keine Leitmedien gibt, jedenfalls keine in einem substanziellen Sinn.10 Damit soll weniger gemeint sein, dass ein Leitmedium nicht immer Leitmedium bleibt, sondern dass die Untersuchung von etwas als Leitmedium – also eine sprachliche Performanz – überhaupt erst das Leitmedium hervorbringt. Oder anders gesagt: Leitmedien sind zuallererst einmal Leitmedien medienwissenschaftlicher Diskurse und Theoriebildung. Dass Medien Leitmedien primär in der Beobachtung sind, unterscheidet den inkriminierten Begriff zwar nicht grundsätzlich von anderen. An dieser Stelle gilt es allerdings, diese Tatsache angesichts einer sich allzu rasch einstellenden Selbstevidenz des Konzepts in Erinnerung zu rufen, um überhaupt erst Ertrag und Kosten gegeneinander abwägen zu können.

2

‚Leitmedien‘ als Grundbegriff der Medienwissenschaft

So selbstverständlich der Begriff ‚Leitmedien‘ in wissenschaftlichen und journalistischen Zusammenhängen aufgerufen wird, so unreflektiert ist er doch in seiner Aussagekraft, seinen Implikationen und Voraussetzungen geblieben. Zu den von Alexander Roesler und Bernd Stiegler zusammengestellten Grundbegriffen der Medientheorie zählt ‚Leitmedium‘ jedenfalls nicht – und dies vermutlich nicht aufgrund mangelnder Relevanz, sondern vielmehr weil er als kaum der Reflexion bedürftig angesehen wird.11 Als offenkundig selbstevidenter Begriff ist er theoretisch notorisch unterbestimmt und reduziert sich auf ein Attribut, das man einem Medium zuschreibt, um es im Vergleich zu anderen Medien in seiner Wichtigkeit auszuzeichnen. So schreibt Jürgen Wilke als einer der wenigen, der sich mit der Begrifflichkeit vor ihrer Anwendung auseinandersetzt: Der Begriff ‚Leitmedium‘ klingt etwas vage, ja wird selbst im wissenschaftlichen Gebrauch bisher recht unspezifisch verwendet. Man versteht darunter ein Medium, dem gesellschaftlich eine Art Leitfunktion zukommt, dem Einfluß auf die Gesellschaft und auf andere Medien beigemessen wird.12

10 Vgl. Engell/Vogl: „Vorwort“, S. 10. 11 Vgl. Roesler/Stiegler: Grundbegriffe der Medientheorie. Auch im Register, das mehr Begriffe umfasst, taucht das ‚Leitmedium‘ nicht auf. Dies gilt gleichermaßen für das Kompendium Winkler: Basiswissen Medien. In diesem Fall ist es umso erstaunlicher, weil Winkler sich an anderer Stelle zumindest kursorisch mit der Plausibilität des Begriffes auseinandersetzt (Winkler: Docuverse, S. 187-189). 12 Wilke: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“, S. 303.

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Einerseits wäre zu klären, ob es sich bei den bislang als ‚Leitmedien‘ bezeichneten Gegenständen – von Wikipedia bis Kunst – überhaupt um Medien handelt, die Frage also nach dem Medienbegriff; andererseits, ob die betreffenden Medien – oder Medien überhaupt – eine Leitfunktion ausüben. Jürgen Wilke schreibt lapidar: Grundsätzlich wird der Begriff Leitmedium sowohl auf die technisch unterschiedlichen Mittel der Massenkommunikation als auch auf einzelne Gattungen und Titel angewandt.13 Dass auch einzelne Presse-Organe als Leitmedien bezeichnet werden, mag mit einem publizistikwissenschaftlichen Gebrauch des Medienbegriffs vereinbar sein, der darauf voreingestellt ist, Leitwirkung nur in messbarer Einstellungsänderung zu sehen. Wenn man den Medienbegriff bis auf das Niveau einzelner Presseorgane, also eigentlich publizistische Institutionen, herabsenkt, vergibt man das spezifische Erkenntnispotential des Medienbegriffs. Auch wenn die bislang angeführten Beispiele die Frage nach einem operablen Medienbegriff stellen, wird es im Folgenden nicht um die Frage der Medialität gehen, sondern stattdessen um den ersten Teil des Kompositums und damit die zweite Frage, ob einzelne Medien oder Medien überhaupt eine Leitfunktion ausüben und wie dies beobachtet werden könnte. So vage der Begriff auch sein mag, grundsätzlich weist er – das klingt schon in Wilkes Formulierung „Einfluss auf die Gesellschaft und auf andere Medien“ an – auf zwei Arten von Wichtigkeit, die der Begriff des Leitmediums koppelt: Dominanz (über andere Medien) und Folgenreichtum (für die Gesellschaft). Die Idee, dass es so etwas wie Leitmedien gibt, ist in dieser Hinsicht grundlegend für die Genese der Medienforschung – nicht alleine die Tatsache, dass man Medien selbst als Botschaft fokussiert und technikzentriert auf ihre sozialen Effekt hin beobachtet werden,14 sondern dass man ein Medium isoliert und als dominant setzt, denn nur so scheinen in der Ko-Existenz von Medien, nicht zuletzt in den als Forschungsgegenstand präferierten Medienumbrüchen, die einem bestimmten Medium zugeschriebenen Effekte überhaupt klar zuordnen. Dies lässt sich bereits bei Marshall McLuhan nachlesen, der über das Wort ‚Leitmedien‘ nicht verfügt, aber dennoch seine Gültigkeit als Konzept voraus-

13 Wilke: „Leitmedien und Zielgruppenorgane“, S. 303. 14 Vgl. Winkler: „Die prekäre Rolle der Technik“, hier S. 11: „Es wird als eine kopernikanische Wende angesehen – und als die Initialzündung der Medienwissenschaft selbst – den Blick umorientiert zu haben von der Ebene der Inhalte und der künstlerischen Formen auf jene Techniken, die eben keineswegs nur ‚Werkzeug‘ oder ‚Voraussetzung‘ kommunikativer Prozesse sind.“

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setzt. Bekanntlich hat McLuhan die abendländische Geschichte und Mediengeschichte in die vier großen Epochen: Oralität, Literalität, Buchdruck und elektrische Medien, unterteilt, von denen jede durch die Auswirkungen des jeweils herrschenden Mediums auf Wahrnehmung, Denken und Gesellschaftsorganisation charakterisiert ist.15 Zugleich geht McLuhan davon aus, dass sich die Medien „gegenseitig beeinflussen und vermehren“16 und führt gerade auch in seinem Hauptwerk Understanding Media ein ganzes Panorama weiterer Medien vor, die neben den großen vier existieren. Die diagnostizierten gesellschaftlichen Umbrüche bleiben freilich fix an die vier dominanten Medien, also die Leitmedien von McLuhans Erzählung, gekoppelt.17 Einerseits wird also von „Hybridisierungen“ und Vermischung gesprochen, andererseits von Konkurrenz- und Dominanzverhältnissen, in denen Medien aufeinander losgelassen werden.18 Als Alternative votiert McLuhan für das medienökologische Programm, ältere Medien gezielt – und zwar mittels anderer Medien – zu stützen: Befindet sich der Buchdruck oder die Schrift in Gefahr, kann sie von einem anderen Medium gerettet oder gestützt werden. Man läßt eine alte Technologie also nicht einfach vor die Hunde gehen, ohne etwas dagegen zu unternehmen.19 Nicht genauer bekannte Akteure, im Allgemeinen denkt McLuhan an Künstler als medienbewusste Leitfiguren, können folglich den medialen Dominanten trotzen und die Medienvielfalt zu konservieren. McLuhan denkt also die empirisch – schon in der Ko-Existenz von gesprochenem, geschriebenem und gedruckten Wort – nicht zu leugnende Pluralität von Medien mit der Determinationskraft medientechnischer Innovation zusammen, indem er statt von un15 Als praktische Resümees, die die umständliche Rekonstruktion der Periodisierung aus der McLuhan-Lektüre ersparen vgl. Leschke: Medientheorie, S. 248-253, und immer noch Kloock/Spahr: Medientheorien, S. 59-71. 16 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 85. 17 Vgl. z.B. ebd., S. 133: „Man kann also behaupten, daß nur das phonetische Alphabet allein die Technik war, die zur Schaffung des zivilisierten Menschen führte […].“ Die doppelte Exklusivität („nur“, „allein“) – nichts anderes und auch keine anderen Medien – wird gegenüber der englischen Fassung („alone“) in der deutschen Übersetzung noch unterstrichen. 18 Vgl. z.B. ebd., S. 42: „Denn jedes Medium ist auch eine wirksame Waffe, mit der andere Medien […] besiegt werden können“; außerdem ebd., S. 91: Medien schaffen „neue Verhältnisse nicht nur innerhalb unserer eigenen Sinnesempfindungen […], sondern auch unter sich selber, wenn sie auf sich gegenseitig einwirken“. 19 McLuhan: Das Medium ist die Botschaft, S. 30. Konkreter wird McLuhan dann in dem bewahrpädagogischen Vorschlag, die Zeit, die man einem bestimmten Medium (in Sonderheit dem Fernsehen) widmet, zu rationieren (vgl. S. 36f.).

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weigerlicher Verdrängung von der Dominanz bestimmter neuer Medien und ihrer Effekte ausgeht. Die Annahme schlichter Ko-Existenz oder einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Medien würde es hingegen nicht erlauben, mit ähnlicher Klarheit menschheitsgeschichtliche Periodisierungen anhand von Medientechnik vorzunehmen. Der Einsicht, dass neue Medien alte nicht zum Verschwinden bringen, hat die Rhetorik der mediendeterministisch auftretenden Theorien Rechnung getragen. In diesem Sinne formuliert Friedrich Kittler 1993 die These, dass neue Medien ihre Determinationskraft auf die anderen Medien ausüben: „Neue Medien machen alte nicht obsolet, sie weisen ihnen andere Systemplätze zu.“20 Und Jochen Hörisch bekräftigt fünf Jahre später in gewohnt lockerer Formulierung: „Neue Medien haben alte noch nie verdrängt. Ja, es spricht einiges dafür, daß alte Medien um so überlebenslustiger werden, je älter sie sind.“21 Es werden also Mediengeschichten nicht einander ablösender Medien, sondern aufeinander folgender Mediendominanzen vorgelegt. Der technikzentrierten Medientheorie erlaubt das Konzept der Leitmedien, von Ablösung auf Dominanz umzustellen und somit höhere Plausibilität zu gewinnen, ohne in der Sache Abstriche machen zu müssen.22

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Leitmedien der Periodisierung

Eine Hierarchisierung, wie sie das Konzept der Leitmedien vorsieht, stellt als Modus der Komplexitätsreduktion im Prinzip eine produktive Einschränkung dar, die neue Beobachtungen ermöglicht. Mein Verdacht ist, dass eine Medienwissenschaft ohne das Konzept der Leitmedien wahrscheinlich gar nicht hätte entstehen können. Erst die Option, die Vielfalt ko-existiereder und damit 20 Kittler: „Geschichte der Kommunikationsmedien“, S. 178. Dass dabei das neue Medium als aktives Handlungssubjekt fungiert, das passive, wenn nicht gar ohnmächtige alte Medien repositioniert, wird expliziert in ders.: Grammophon, Film, Typewriter, wo Medienpluralismus – spätestens im gegenwärtigen Computerzeitalter – nur ein „scheinbarer“ (S. 4) ist und Mediendifferenz überhaupt nur noch als „Oberflächeneffekt“ auftritt (S. 7). Die These der Verdrängung hat sich mithin nur verkleidet. 21 Hörisch: „Einleitung“, S. 32. 22 Auch wenn das Leitmedien-Konzept aus der Logik technikdeterministischer Medienforschung erwächst, bleibt es dort nicht stehen. Aus medienökologischer Perspektive geht Michael Giesecke davon aus, dass jede Hochkultur über ein Leitmedium verfügte, das nun freilich nicht aus eigener Kraft, sondern durch kulturelle Wertungsprozesse, die ‚Prämierung‘ bestimmter Wissensformen usw., seine herausgehobene Stellung erhielt (Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, S. 226f.).

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potentiell zu berücksichtigender Medien zu reduzieren, indem man sie auf eine Dominante ausrichtet oder hinter ihr verschwinden lässt, ermöglicht es überhaupt eine Korrelation von Medien, Kultur, Gesellschaft und Wahrnehmung herzustellen. Insbesondere die historiographische Operation, der sich die Medienwissenschaft mit besonderer Emphase widmet, die Periodisierung, wäre – wie am Beispiel McLuhan schon angedeutet – nicht ohne jene Lizenz zum Hierarchisieren möglich, die das Konzept der Leitmedien erteilt. Wie das funktioniert, lässt sich schon an der in der Medienwissenschaft relativ konsensuellen (um nicht zu sagen kanonischen) Abgrenzung einer oralen Epoche am Anfang der Mediengeschichte zeigen, die so monomedial nur erscheinen kann, weil alle Kommunikations- und Speichermöglichkeiten, die möglicherweise auch als Medien in Frage kämen (Tanz, Malerei, Knotenschnüre usw.), zur Seite geschoben werden.23 Selbstverständlich dient es der Sache ebenso wenig, wenn man wie Werner Faulstich Verbalsprache überhaupt aus dem Kanon der Medien entfernt24 und stattdessen, um „die Geschichte aller Medien, ihrer Vernetzung, als System“25, zu schreiben, mehr oder minder wahllos Kandidaten aufhäuft. Im Übrigen kommt Faulstichs Mediensystem trotz oder gerade wegen seiner wunderbaren Medienvermehrung selbst nicht ohne Hierarchisierung aus, wenn etwa kurzerhand die Frau zum ersten Leitmedium erklärt wird.26 Die Identifikation einer Epoche erfordert innere Homogenität ebenso wie Heterogenität nach außen; zu Beginn und Ende sind zwei Trennereignisse oder Schwellen zu fixieren, ein Ereignis post quem und ein Ereignis ante quem. Als erstes Ereignis fungiert in unserem Fall zumeist die Erfindung, alternativ Publikation, Diffusion oder Institutionalisierung einer Medientechnik, die gesellschaftliche Dominanz erlangt, als zweites Ereignis das Aufkommen einer weiteren Medientechnik, die nach dem selben Muster die erste in ihrer Geltung ablöst („Medienumbruch“, „Medienrevolution“).27 Dazwischen entfaltet sich die epochenstiftende Prägemacht des jeweiligen Mediums. Zwischen

23 Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur, S. 131, setzt orale Kommunikationssysteme geradezu intrinsisch mit dem von ihm favorisierten Ideal eines nichthierarchischen, da multimedialen Kommunikationssystems gleich. 24 Zumindest legt Faulstich dies nahe, wenn er Verbalsprache als Medium ganz außen vor lässt und fragt: „Welche Rollen spielen unmediale Kommunikation und Wahrnehmung?“ (Faulstich: Das Medium als Kult, S. 17). 25 Ebd., S. 9. 26 Vgl. ebd., S. 35. 27 Vgl. zur Rhetorik mediengeschichtlicher Erzählungen – mit allerdings jeweils nur wenigen Aperçus zur Rolle von Leitmedien – Leschke: „Vom Eigensinn der Medienrevolutionen“; Bickenbach: „Medienrevolution“, S. 111-116.

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den sich jeweils ablösenden Medien findet sich relative Stabilität, sodass der Wandel primär in den sich jeweils abfolgenden Medien selbst fundiert wird. Zwei Zuspitzungen fallen in dieser Periodisierung zusammen: zunächst wird das Mediengeflecht einer Zeit auf ein dominantes Medium zusammengezogen und schließlich dieses Medium als prägend für eine ganze Epoche erklärt. Leitideen werden, so will es Friedrich Kittlers Programm der „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“28, durch materiell-medientechnische Zäsuren abgelöst. Die Renaissance und die Aufklärung werden zur Gutenberg-Galaxis oder zum Aufschreibesystem 1800. Der freie Platz des Geistes ist von den Medien jedoch so geschmeidig belegt worden, dass die Geschichtsschreibung in vieler Hinsicht diejenige des 19. Jahrhunderts geblieben ist: Im Hintergrund der Epoche agiert eine Kraft, die mehr oder minder exklusiv Kultur und Gesellschaft regiert. Geistesgeschichte und Medientechnikgeschichte folgen – zumindest, was die Periodisierung betrifft – historiologisch ähnlichen Prämissen. Man stellt die Leitidee als Angelpunkt der historiographischen Komplexitätsreduktion und Sinnstiftung kalt und ersetzt sie einfach durch das Leitmedium.29 Die auf diesem Wege gewonnenen Epochenzäsuren ermöglichen der aktuellen Gesellschaft Orientierung und Identitätsstiftung. Wenn die Medientheorie beispielsweise die Gutenberg-Galaxis verabschiedet, so löst sie offensiv den von Jochen Hörisch so treffend formulierten Anspruch ein, „diensthabende Fundamentaltheorie“ zu sein.30 „Der Computer“, so liest man denn auch bei Kittler, „ist das Leitmedium unserer Kultur, das sie von allen anderen Kulturen unterscheidet.“31 Das schlichte Konstatieren medialer Differenz – ehemals verfügte man nicht über den Computer – wird mittels des Begriffs ‚Leitmedium‘ aufgeladen mit epochemachender Qualität. Solche Überbetonung des Noch-nie-Dagewesenen ist von Niklas Luhmann freilich als das Funktionsprinzip identitätsstiftender Komplexitätsreduktion herausgestellt worden:

28 Kittler: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. 29 Natürlich macht es in der Sache einen Unterschied, ob man ‚Geist‘ oder Technik als Letztbeweger der Geschichte annimmt. Der Modus der historiographischen Sinnstiftung, in dem die Entfaltung dieser Kräfte beobachtet wird, bleibt von dieser Umstellung allerdings reichlich unbeeindruckt. Zur Kontinuität von Denkmustern, die die Medientheorie eigentlich als abgelegt glaubt, vgl. auch Schröter: „Der König ist tot, es lebe der König“. 30 Hörisch:, „Vom Sinn zu den Sinnen“, S. 106. 31 Kittler: „Schrift und Zahl“, S. 201.

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Der Neuheitsanspruch, der die Epochendifferenzen markiert, symbolisiert in gewisser Weise die Willkürlichkeit der Gesamtkonstruktion und versiegelt zugleich die vorherige Geschichte als ewas, was einer nun vergangenen Epoche angehört. Die Zäsur, und mit ihr die Neuheitsqualität, ist so gut wie immer übertrieben; aber eben das ist ein Erfordernis ihrer Funktion im Kontext von Selbstsimplifikationen.32 Der Schlüssel zu dieser Selbstsimplifizierung ist wie bereits erwähnt die – übertriebene – Hierarchisierung medialer Vielfalt durch das Konzept ‚Leitmedien‘. Auch wenn Identitätsstiftung gerade jener ‚Nutzen‘ war, den Friedrich Nietzsche in der historistischen Geschichtsschreibung seiner Zeit so sehr vermisste,33 so halte ich es in Zeiten, die in Neu-Zäsurierungen schwelgen, gerade angezeigt, auf die wissenschaftlichen ‚Nachteile‘ zu ungestüm simplifizierter Periodisierungen hinzuweisen.

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Der Preis der Leitmedien

Selbst wenn man weiß, wie sehr das Tagesgeschäft der Medienwissenschaft, wohl ohne sich dessen bewusst zu sein, vom Konzept der Leitmedien profitiert, sollte man um den Preis wissen, der mit solchen Setzungen verbunden ist. Im Folgenden sollen solche Verluste angedeutet werden, denn die Aufmerksamkeitsfokussierung, die der hierarchisierende Begriff des Leitmediums impliziert, lässt anderes aus dem Blickfeld fallen. Dies möchte ich sehr kursorisch anhand der Stellung der Fotografie in einigen übergreifenden Mediengeschichten vorführen – das heißt eigentlich an der Stellung, über die sie nicht verfügt. Wie schon angedeutet, fällt bei McLuhan die Fotografie aus dem Quadrivium der großen Leitmedien hinaus und kommt nur selten zur Sprache – im Panorama der Medien von Understanding Media wird sie dann in die große Erzählung eingepasst, indem sie pikanterweise als just jene Initialzündung zum elektronischen Zeitalter auftreten darf, die das Zeitalter des Buchdrucks verabschiedet: Denn die Fotografie spiegelte die äußere Welt automatisch wider und gab uns ein äußerlich reproduzierbares visuelles Vorstellungsbild. Es war dieser wichtige Wesenszug der Gleichförmigkeit und Wiederholbarkeit, der den Bruch zwischen Mittelalter und Renaissance verursachte und der auf Gutenberg zurückgeht. Die Fotografie trug in fast 32 Luhmann: „Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie“, S. 25. 33 Vgl. Nietzsche: „Unzeitgemässe Betrachtungen“.

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gleich entscheidendem Maße zum Bruch zwischen rein mechanischer Industrialisierung und dem grafischen Zeitalter des elektronischen Menschen bei. Der Schritt vom Zeitalter des typografischen Menschen zum Zeitalter des grafischen Menschen wurde mit der Erfindung der Fotografie vollzogen.34 Die Idee des Leitmediums gerät freilich paradox, wenn das chemotechnische Analogmedium Fotografie den Bruch zum elektronischen Zeitalter schon einläutet, während die elektronischen Medien selbst noch kaum entwickelt sind. Ebensowenig überzeugt, dass dieser Wandel gerade durch Produktion von ‚Gleichförmigkeit‘ geschehen soll, wenn diese hier schon dem Buchdruck zugeschriebene Qualität eigentlich längst durchgesetzt sein müsste. Der Fotografie wird somit zwar eine zentrale Stellung in der Mediengeschichte eingeräumt, die ‚fast‘ der revolutionären Wirkung des Buchdrucks gleichkomme, doch drängt sich der Verdacht auf, dass die ‚Eigenwerte‘ der Fotografie von vornherein so perspektiviert sind, dass sie den großen medienhistorischen Bogen nicht stören und möglichst widerstandslos in das etablierte Ablaufmodell hineingepresst werden. Das Problem der Fotografie lässt sich freilich auch ‚bearbeiten‘, indem man es von vornherein völlig negiert. Ihre Mediengeschichte des sozialen Gedächtnisses unterteilen Jan und Aleida Assmann, analog zu McLuhan, in nur vier Epochen: Oralität, Literalität, Buchdruck und Elektronik.35 Dies ist einigermaßen erstaunlich, insofern die Fotografie durchaus als Medium in Betracht käme, das – zumindest gekoppelt mit der Presse – fundamental ist für die Herauskristallisierung fotografischer Ikonen, d.h. hochgradig symbolisch verdichteter visueller und massenmedial zirkulierter Darstellungen im Modus analoger Aufzeichnung, und damit auch für die Zunahme visueller Elemente im sozialen Gedächtnis. Indes taucht im ‚elektronischen Zeitalter‘ – seltsam genug – lediglich der Film als analogtechnisches Gedächtnismedium auf.36 Irritierend für in die medientheoretischen Klassiker nicht-initiierte Leser ist, dass unter dem Diktat eines kanonisierten Bestandes an Leitmedien, das elektronische Zeitalter stets unmittelbar an die Gutenberg-Galaxis anschließt. Hartmut Winkler hat erkannt: 34 McLuhan: Understanding Media, S. 291. 35 Vgl. exemplarisch Assmann/Assmann: „Das Gestern im Heute“. Dieselbe Periodisierung, nur mit anderen Namen (brain memory, script memory, print memory, electronic memory) findet sich in Wenzel: „Vom Anfang und vom Ende der GutenbergGalaxis“. Und auch bei Wenzel wird die Fotografie nicht einmal erwähnt. 36 Vgl. ebd., S. 137. Der Film kommt außerdem als Medium vor, das ermöglicht, Gehalte aus dem Speichergedächtnis für das öffentliche Bewusstsein zu reaktualisieren (vgl. ebd., S. 128).

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Sehr viel sinnvoller erscheint es, dem Vorschlag von Kittler zu folgen und als drittes eine Phase der technischen Bilder oder allgemeiner der ‚Realaufzeichnung‘ zu konstruieren. Photographie, Film und Tonbzw. Geräuschaufzeichnung wären dadurch beschrieben, daß nicht mehr Symbole, sondern nun Spuren realer Ereignisse Gegenstand der Aufzeichnung sind.37 Bei Friedrich Kittler erhalten die analogen Aufzeichnungsmedien in der Tat einen eigenen Stellenwert. Bevor im Aufschreibesystem 2000 die digitalen Medien das Kommando übernehmen, markieren die „drei technischen Urmedien“38 Grammophon, Film, Typewriter im späten 19. Jahrhundert das Aufschreibesystem 1900, das jenseits der Kategorie des Sinns operiert und damit das sinn- und subjektzentrierte Aufschreibesystem 1800 ablöst, das auf literarischer Bedeutungsproduktion basierte. Doch auch in diesem differenzierteren Tableau findet das technische Bildmedium Fotografie keine Aufnahme, ohne dass dafür eine explizite Begründung gegeben würde.39 Man könnte vermuten, dass der Fotografie – im Gegensatz zu Kinematographie und Phonographie – die von Kittler immer wieder angeführte zeitliche Dimension des ‚Datenflusses‘ abgesprochen wird. Es scheinen allerdings auch theorie-ästhetische Gründe für den Ausschluss entscheidend gewesen zu sein. Zum einen hätte sich ein Aufschreibesystem 1850 nicht so gut ausgenommen wie der Schritt in ganzen Jahrhunderten und dem literarischen Zeitalter vielleicht allzu schnell den Garaus gemacht. Zum anderen geht es darum, die simultane Erfindung von Phonograph, Kino und Schreibmaschine zu einer „Medienrevolution von 1880“ zusammenzuziehen, die auf einen Schlag „die Sektoren von Akustik, Optik und Schrift erst auseinanderdifferenzierte“.40 Die mechanische, nicht von Sinn durchwirkte Aufzeichnung des Optischen irritierte allerdings längst seit der Etablierung der Fotografie und wurde als Spezifikum – wie auch als Hindernis für die künstlerische Bildproduktion – erfasst.41 37 Winkler: „Medien – Speicher – Gedächtnis“. 38 Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 79. 39 Kittler: „Geschichte der Kommunikationsmedien“ erwähnt die Fotografie gar nicht. In Grammophon, Film, Typewriter, das sich eingehender mit dem ‚Aufschreibesystem 1900‘ befasst, kommt sie nahezu ausschließlich als Chronofotografie vor, die das Technikereignis Kinematographie vorbereitet. 40 Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, S. 30, resp. S. 79. 41 Dies zeigt sich etwa in der Debatte um das fotografische Detail, vgl. Gunthert: „Ein kleiner Strohhalm oder Die Geburt des Photographischen“; Ruchatz: „Von Überraschungen“. In Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 21, finden sich sogar Überlegungen zur Spezifik der Fotografie, die jedoch für die Gesamtanlage des Buches folgenlos bleiben.

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Als die Fotografie schließlich in Kittlers Vorlesung Optische Medien Eingang findet, geschieht dies vollkommen entkoppelt von der Periodisierung nach ‚Aufschreibesystemen‘. Dafür wird die Fotografie nun in zweierlei Hinsicht an den Buchdruck gekoppelt. Zum einen behauptet Optische Medien grundsätzlich, dass sämtliche medientechnischen Innovationen im Medium Buch integriert seien, insofern sie nur dort „als solche stattfinden konnten. Sie ließen sich speichern, weitergeben und dank technischer Zeichnungen im Text selbst prozessieren.“42 Doch noch mit einem zweiten, spezifischeren Argument wird die Fotografie in die Gutenberg-Galaxis hineingezogen. Ausgehend von der These, dass „ein historisch definiertes Printmedium […] jeweils das entsprechende optische Medium“ erfordere, bestimmt Kittler zunächst Illustrierte und Lithographie als Korrelate der Rotationspresse, um daraufhin die Fotografie als „automatisierte Lithographie“ zu kennzeichnen.43 Wie bei McLuhan wird also der Eigenwert der Fotografie reduziert, als Variante des Buchdrucks ausgegeben und damit von den anderen analogtechnischen Aufzeichnungsmedien isoliert. Dass dabei faktographische Details unter die Räder kommen44 – beispielsweise waren die Illustrierten lange noch durch Holzschnitte, eine sicher altmodische, aber alternativlose Technik, und nicht durch Lithographien bebildert – unterstreicht nur, dass das Erkenntnisinteresse hier eben nicht der Passgenauigkeit medienhistorischer Daten gilt, sondern vielmehr den großen Bögen und markanten Zäsurierungen. Während distanzierte Makroperspektiven mit eher deterministischen Ansätzen korrespondieren und scharfe Umbrüche produzieren, erkennt der mikrologische Blick auf die Details eher eine Multiplizität von gesellschaftlichen Faktoren berücksichtigende, weniger eindeutige Darstellungen, die eher Kontinuitäten zutage fördern.45 Dass die Mediengeschichtsschreibung die Fotografie so sehr an die Ränder verwiesen hat, hätte man aus solch mikrohistorischer Perspektive damit zu begründen, dass diese anders als Schrift und Buchdruck nicht als Leitmedium in Frage komme, weil ihre Anwendung nicht ausreichend im gesellschaftlichen Alltag implementiert gewesen sei. Freilich ist dies ein Kriterium, das gerade die Medienhistoriographie aus Makroperspektive zumeist dezidiert ausblendet. Am

42 Vgl. Kittler: Optische Medien, S. 78. Für den Hinweis auf diesen Gedanken danke ich Sven Grampp. 43 Ebd., S. 167, resp. S. 185. 44 Der Einfachheit und des Platzes halber verweise ich hier nur auf „Medienhistorische Erleuchtungen“. 45 Vgl. Misa: „Retrieving Sociotechnical Change from Technological Determinism“, S. 117: „I will argue that machines make history when historians and other analysts adopt a ‚macro‘ perspective, whereas a causal role for the machine is not present and is not possible for analysts who adopt a ‚micro‘ perspective.“

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präsumptiven Ende der Fotografie geht Bernd Stiegler beispielsweise von einer durch die Digitalisierung bewirkten „Revolution des photographischen Bildes“ aus, „deren Auswirkungen“ allerdings „noch kaum unsere Wahrnehmungsschwelle überschritten haben“. Der epistemologische Status der Fotografie habe sich Ende des 20. Jahrhunderts „radikal verändert, auch wenn vieles beim alten geblieben sei“. Denn entscheidend seien die Konsequenzen, die sich durch die Digitalisierung für die Photographie insgesamt ergeben haben, ohne daß sie im Detail und in der universellen Praxis Anwendung finden würde.46 Auch hier ergibt sich die saubere Zäsur nur, wenn man eine strikte Hierarchisierung durchführt, die alte Medientechnik dem neuen Leitmedium Computer unterwirft und von der konkreten Nutzung zur „Fotografie an sich“ umschaltet. Die Perspektive wird auch hier von den großen Zäsuren diktiert. Also liegt der Verdacht näher, dass der durch den Fokus auf Leitmedien produzierte Gegenstandskanon der Medientheorie und -geschichte die Fotografie schlicht links liegen gelassen hat. Dass die Fotografie aus dem Raster der kanonisierten Leitmedien heraus gefallen ist, hat dazu geführt, dass sie nur vergleichsweise selten medienwissenschaftlich in den Blick genommen wurde – und dies vermutlich vor allem zum Schaden der Medienwissenschaft. Die Fragen, die Fotografie an die Mediengeschichte stellen könnte, blieben ungefragt. Nicht von ungefähr hat beispielsweise Roland Barthes der Fotografie zugesprochen, eine „anthropologische Revolution“ herbeigeführt zu haben. Sie bewirke nicht mehr ein „Bewußtsein des Daseins, sondern ein Bewußtsein des ‚Dagewesenseins‘“ und entwickele so eine vollkommen neue „Kategorie der Raum-Zeitlichkeit: örtlich unmittelbar und zeitlich vorhergehend“.47 In diesem Sinne ist natürlich auch die Fotografie schon als ‚Leitmedium‘ bezeichnet worden. Herta Wolf, beispielsweise, zähmt das Pferd von hinten, vom „Ende des fotografischen Zeitalters“ auf und vermerkt, dass sich das „durch die chemotechnische Bildgenerierung bestimmte Zeitalter“ dem Ende zuneige und das „durch das Leitmedium Fotografie geprägte Zeitalter“ zu Ende gegangen sei.48 Doch eine schlichte Erweiterung des Gegenstandskanons

46 Stiegler: „Digitale Photographie als epistemologischer Bruch und historische Wende“, S. 105-107. 47 Barthes: „Die Rhetorik des Bildes“, S. 39. 48 Wolf: „Einleitung“, S. 17. In dies: „Vorwort“, S. 38, findet sich die – in Hinblick auf den Kontext der Leitwirkung – spezifischere Formulierung, „daß bis zum Ende des ‚fotografischen Zeitalters‘ die Fotografie das Leitmedium der Kunstproduktion war: […] Leitmedium, weil es ihre Medienspezifika waren, die vermittels des

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kann das skizzierte Problem nicht lösen. Auch wenn ich hier dafür plädiere, den Medien abseits des Leitmedien-Kanons mehr Aufmerksamkeit zu schenken, so sollte dies gerade nicht dazu führen, die Relevanz des ‚eigenen‘ Mediums mit der gleichen Geste zu reklamieren: indem man Fotografie selbst zum Leitmedium erklärt.

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Jenseits der Leitmedien

Bei aller erkenntnisleitenden Produktivität scheint mir ein als selbstverständlich vorausgesetztes Konzept von Leitmedialität doch mit so vielen Kosten behaftet, dass man sich überlegen sollte, welche Alternativen für die Medienhistoriographie offen stehen. Zwei Auswege lassen sich skizzieren – eine Schnellreparatur und eine grundsätzlicher angelegte Alternative, die die Rede von einem Mediensystem wirklich einmal ernst nimmt. Als Mindestforderung wäre zu stellen, dass man nicht einfach von Leitmedien einer Kultur spricht, sondern die Kontexte genauer spezifiziert werden, in denen etwas als Leitmedium fungiert. So könnte man möglicherweise behaupten, dass die Fotografie im Rahmen des kommunikativen Familiengedächtnisses eine leitende Rolle spielt. Fotoalben und Diaabende sind Kristallisationspunkte, die als Anknüpfungspunkt und Strukturvorgabe für die Erzählung der Familiengeschichte fungieren.49 Die Leitfunktion des Mediums Fotografie könnte man vor allem darin ausmachen, dass die Produktion fotografischer Aufnahmen integraler und fundierender Teil von familiären Festlichkeiten (Hochzeiten, aber auch Kindergeburtstage, Heilig Abend usw.) ist. Nicht ersetzt aber komplementiert wird die Fotografie in dieser Funktion mittlerweile durch die Videokamera oder digitale Fotografie – d.h. die Leitfunktion wäre möglicherweise schon wieder abgelaufen.

Fotografischen neue künstlerische Produktionsweisen und neue Konzepte von Kunst haben entstehen lassen.“ 49 Hiermit wäre der Medienbezug auch des kommunikativen Gedächtnisses zu beobachten. Die von Jan und Aleida Assmann forcierte Entgegensetzung von mediengebundenem kulturellen Gedächtnis und quasi amedialem kommunikativen Gedächtnis speist sich meiner Ansicht nach nicht zuletzt aus einer verkürzten Halbwachs-Lektüre. Halbwachs negiert nur, dass Medien nicht an Stelle des Gedächtnisses treten können, nicht aber, dass bereits angeeignete Gedächtnisbestände mit Speichermöglichkeiten wie Fotografien oder Tagebüchern interagieren können. Vgl. hierzu exemplarisch Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, S. 1-3; zur Assmannschen Halbwachs-Lektüre und der Unterscheidung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 34-56.

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Nehmen wir als weiteres Beispiel das Rechtssystem, dann lässt sich beobachten, wie innerhalb eines Sozialsystems Normen jeweils diverse Medien zum Gebrauch vorschreiben. Während Gesetze der publizierten Druckform bedürfen, um gültig zu sein, erfordern Vertragsabschlüsse im Idealfall die handschriftliche Unterzeichnung (als materielle Spur der persönlichen Anwesenheit und Zustimmung), während im Strafprozess verbale face to face-Kommunikation die Norm ist (wenngleich selten durch Videoübertragungen vermittelt). Im Prozess gewinnt sogar die manuelle Aufzeichnung durch einen Gerichtszeichner eine Spezifik gegenüber den in Deutschland im Gerichtssaal verbotenen technischen Aufzeichnungsmedien. Dabei erhalten die jeweiligen Medien ihre Valenz offensichtlich weniger unmittelbar durch ihre technische Verfasstheit, sondern indem sie in Differenz zu anderen Medien gesetzt werden: die manuelle Unterschrift etwa im Gegensatz zum unpersönlichen Massenmedium Buchdruck. Und was wäre beispielsweise das Leitmedium der Wissenschaft? Das wesentliche Medium wissenschaftlicher Fachkommunikation ist – zumal in Zeiten der Weltgesellschaft – eigentlich der Buchdruck, in manchen naturwissenschaftlichen Fächern mit gesteigertem Umsatz von Forschungsergebnissen vielleicht auch schon die Internetpublikation.50 Aber wozu trifft man sich dann überhaupt zu Tagungen, in deren Rahmen verbale Diskurse gepflegt werden? Wozu halten wir mündliche Prüfungen ab? Wozu Vorlesungen, die dem Ideal nach frei gesprochen sein sollen (und eben nicht gelesen)? Und orientiert sich dann die verbale Form an der schriftlichen oder umgekehrt?51 Eine Leitfunktion könnte man nur zweifelsfrei feststellen, wenn man über eine Regel verfügte, die erlauben würde solche Zuweisungen abzusichern. Die Kontexte, innerhalb derer einem Medium Leitfunktion zugeschrieben werden kann, müssten demnach vermutlich sehr genau und kleinteilig festgelegt werden. An den hier ausgeführten Beispielen kann man allerdings auch ahnen, dass es möglicherweise überhaupt nicht mehr möglich ist, sichere Zuordnungen von Dominanzen zu treffen, sondern ein Geflecht von aufeinander bezogenen Funktionszuweisungen.

50 Interessant zu fragen wäre, wie die Dignität der Buchpublikation im Internet sichergestellt werden kann – wird sie allein durch strenge Review-Prozesse kompensiert? 51 Einen – wenngleich problematischen – Lösungsvorschlag unterbreiten Koch/ Oesterreicher: „Schriftlichkeit und Sprache“, S. 587f.

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Vor diesem Hintergrund drängt sich folgerichtig als zweite Alternative ein systemischer Zugriff52 auf, der die Leitfunktion von Medien durchaus feststellen kann, aber nicht von vornherein festschreibt: Der systemische Zugriff wird nicht leugnen, dass jedes neue Medium – ein strukturell zweifellos besonders folgenreiches Ereignis für das Mediensystem – unstreitig die Balance der Medien irritiert, verändert und damit auch Konsequenzen für die anderen Medien hat, ohne dass man es gleich als Dominante setzt. Es ergeben sich vor allem Konkurrenzverhältnisse, in denen Funktionen von einem auf andere Medien umgelagert werden: Das gemalte Porträt, insbesondere die Porträtminiatur, wird durch die Etablierung fotografischer Porträtstudios zu einer marginalen malerischen Praxis, wohingegen das Porträtieren insgesamt einen Aufschwung erlebt.53 Allerdings scheint die Malerei trotzdem noch eine Weile als Orientierung zu fungieren, weil sich die konventionelle Inszenierung und Codierung des fotografischen Porträts sich an ihr orientiert. Umgekehrt gewinnt das gemalte Porträt durch die Verbreitung der Fotografie an Dignität und Spezifik – wie ließe sich sonst auch die Praxis beschreiben, dass fotografische Porträts auch nach Fotografien angefertigt werden? Analog könnte man auch differenzierter beschreiben, wie die Möglichkeit zu digitaler Bildproduktion den Wert fotografischer Praxis verändert. Beim bereits diskutierten Vorschlag von Bernhard Stiegler, die digitalisierte Fotografie insgesamt von der fotografischen Praxis zu unterscheiden, ist zwar gewissermaßen ein systemischer Gedanke angelegt, aber nach wie vor die Frage der Dominanz eines Leitmediums beibehalten. Nicht, dass die digitale Fotografie Formen der analogen nachahmt, nicht, dass das Vertrauen in die Verlässlichkeit selbst gemachten Knipserfotografien kaum erschüttert sein dürfte, selbst, dass die digitale Praxis – eingestandenermaßen – nicht dominiert, ändert etwas daran, dass der Befund: das neue Medium dominiert das alte in all seinen Aspekten, kurz: das Konzept des Leitmediums, geradezu zwanghaft noch am Werk ist. Eine systemische Sichtweise könnte auf solche Totalisierungen verzichten. Die Frage ist freilich, ob die Medienwissenschaft überhaupt darauf eingerichtet ist. In seinem Buch Docuverse stellt Hartmut Winkler ein „Konzept der Kumulation“, das Mediengeschichte als ständige Bereicherung und Differenzierung“ begreift, der hier kritisch skizzierten „These der Ablösung“ gegenüber, die davon ausgeht, dass in Medienumbrüchen ehemals mächtige 52 Der Systembegriff meint hier entschieden kein geschlossenes System im Sinne der Systemtheorie, sondern eher das jeweils verfügbare Repertoire an medialen Optionen, bei dem jedes Medium stets auf ein anderes, alternativ nutzbares verweist. 53 Vgl. Freund: Photographie und Gesellschaft, S. 41-81; McCauley: A. A. E. Disdéri and the Carte de Visite Portrait Photograph, New Haven/London 1985.

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durch neue Medien marginalisiert, also alte Leitmedien durch jeweils neuere abgelöst werden. Bei aller Kritik hält Winkler daran fest, „daß die These der ‚Substitution‘ das deutlich interessantere Konzept“ sei, weil es Mediengeschichte als „dramatischen Vorgang“ beschreibe, in dem Medien in einem Verdrängungswettbewerb stehen.54 Dass Medienkonkurrenz nur unter dem Schirm des Begriffs ‚Leitmedien‘ formulierbar bleibt, ist sicher, wie eben erst gezeigt, überspitzt. Hinter dem Problem der ‚Leitmedien‘ verbirgt sich aber letztlich die die epistemologische wie strategische Grundsatzfrage nach der künftigen Ausrichtung der Medienwissenschaft. Wollen wir eine Wissenschaft, die in der Produktion von Orientierungswissen und steiler Thesen umstandslos einen erheblichen Teil an Komplexität – und historiographisch durchaus noch behandelbarer Komplexität – unter den Tisch fallen lässt? Oder setzen wir auf eine Forschungspraxis, die einzelne Phänomene differenziert beschreiben kann, dafür aber weniger zu prägnanten Periodisierungen und Generalisierungen gelangt, entsprechend auch weniger griffige, öffentlichkeitswirksame Aussagen produziert? Nachdem es einst zweifellos leitmedienbasierte Provokation war, die Medienwissenschaft überhaupt erst auf die kulturwissenschaftliche Landkarte gesetzt hat, wäre zu überlegen, ob sich wissenschaftliche Konsolidierung nicht besser anders bewerkstelligen ließe. Die Mindestanforderung müsste allerdings darin bestehen, das Konzept der Leitmedien nicht mehr als unbezweifelbare Gewissheit latent zu halten, sondern als epistemologisches Fundament zu problematisieren und in seinen Konsequenzen zur Diskussion zu stellen.

Literaturverzeichnis Agentur Bilwet: „Alte Medien“, in dies.: Medienarchiv, Bensheim/Düsseldorf 1993. Assmann, Aleida/Assmann, Jan: „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis“, in: Merten, Klaus u.a. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 114-140. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997.

54 Winkler: Docuverse, S. 188f. Nicht unähnlich fragt eine jüngere Nummer des Archiv für Mediengeschichte, ob als Alternative zu wahlweise kulturellen oder technischen Aprioris in der Medienhistoriographie eine dritte ‚langweilige‘, da risikolose neutrale Position überhaupt wünschenswert sei; Engell u.a.: „Editorial“, S. 8.

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Barthes, Roland: „Die Rhetorik des Bildes“, in ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a.M. 1990, S. 28-46. Bickenbach, Matthias: „Medienrevolution – Begriff oder Metapher? Überlegungen zur Form der Mediengeschichte“, in: Crivellari, Fabio u.a. (Hrsg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, S. 109-136 Deggau, Christine/Lorenz, Maren: „Historikerin Lorenz: Wikipedia ist ein heimliches Leitmedium“, http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/ thema/624384/, 13.04.2008. Elsaesser, Thomas: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München 2002. Engell, Lorenz: „Editorial“, in ders. (Hrsg.): Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), Weimar 2006, S. 5-9. Exner, Christian: „Zurück in die Zukunft oder doch lieber lesen? Der lange Weg zum Bildungsgut Kino. Eine Zwischenbilanz“ in: Filmdienst, H. 6, 2008, http://film-dienst.kim-info.de/artikel.php?nr=152284&dest=frei& pos=artikel, 15.03.2008. Faulstich, Werner: Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike (8. Jahrhundert), Göttingen 1997. Freund, Gisèle: Photographie und Gesellschaft, München 1976. Giesecke, Michael: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschung zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt a.M. 2002. Gunthert, André: „Ein kleiner Strohhalm, oder Die Geburt des Photographischen“, in: Fahle, Oliver (Hrsg.): Störzeichen. Das Bild angesichts des Realen, Weimar 2003, S. 15-22. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967. Hörisch, Jochen: „Vom Sinn zu den Sinnen. Eine Kurz-Geschichte der Medien“, in: Archiv für Mediengeschichte, H. 1, 2001, S. 101-114. Hörisch, Jochen: „Einleitung“, in: Ludes, Peter: Einführung in die Medienwissenschaft, Berlin 1998, S. 11-32. Hoffmann, Torsten/Rippl, Gabriele (Hrsg.): Bilder. Ein (neues) Leitmedium? Göttingen 2006. Holighaus, Alfred (Hrsg.): Der Filmkanon. 35 Filme, die Sie kennen müssen, Bonn/Berlin 2005.

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Peter Haber

Die Leitmedien der Geschichtsschreibung Das Konzept der Leitmedien wird in den aktuellen Diskussionen zur Hauptsache im Kontext von Massenmedien verwendet. So fokussierte Habermas den Begriff Leitmedien etwa kürzlich auf die Presse: „Die Qualitätspresse spielt mindestens im Bereich der politischen Kommunikation – also für die Leser als Staatsbürger – die Rolle von ‚Leitmedien‘.“1 Sucht man mit Google nach dem Begriff Leitmedien, so taucht auf den ersten Rängen die Spezialsuchmaschine Rivva auf, die mit dem Anspruch daherkommt, die Leitmedien des öffentlichen Diskurses mit einem „gewichteten Schlagzeilenüberblick über die deutschsprachige Blog- und Online-Medienlandschaft“ zu bestimmen.2 Rivva berechnet dabei, welche deutschsprachigen Online-Medien „Medienmacht“ besitzen. Definiert wird diese Kenngröße bei Rivva folgendermaßen: „Wer liefert die Stories mit dem größten Gesprächsstoff? Wer rollt aus Schneebällen Lawinen? Wer hat die meinungsstärkste Community im Rücken?“3 Im Folgenden geht es nicht um die Leitmedien der politischen Kommunikation, sondern um die wissenschaftsinternen Leitmedien eines einzelnen Faches, nämlich der Geschichtswissenschaft. Dabei stellt sich ganz grundlegend die Frage, wieweit sich die heute im Kontext der Massenmedien verwendeten Leitmedien-Konzepte und die damit verbundenen Fragestellungen auf das eng begrenzte Feld der wissenschaftlichen Kommunikation innerhalb eines einzigen Faches anwenden lassen. Kann man von einer geschichtswissenschaftlichen Öffentlichkeit sprechen und wie lassen sich die medialen Strukturen in diesem Bereich benennen? Welcher Wandel lässt sich – ausgelöst etwa durch die gegenwärtige Digitalisierung der wissenschaftlichen Kommunikation – zur Zeit beobachten? Und: Wieweit lassen sich Beobachtungen im Feld der Geschichte auf andere wissenschaftliche Teilbereiche übertragen? Oder um im Bild von Rivva zu bleiben: Können auch in den Geschichtswissenschaften Schneebälle diskursive Lawinen auslösen? Im ersten Teil dieses Beitrags werden zuerst neuere Ansätze der Historiographiegeschichte auf ihre Relevanz und Praktikabilität für die hier skizzierten Fragen diskutiert, um dann in einem zweiten Teil ein mediales Steuersystem der geschichtswissenschaftlichen Kommunikation, das Rezensionswesen, auf seine leitmediale Bedeutung hin zu untersuchen. 1

Habermas: Ach, Europa, S. 134.

2

„Was ist Rivva?“.

3

„Everything counts“.

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Peter Haber | Die Leitmedien der Geschichtsschreibung

Die Geschichte der Medien der Geschichte Die Geschichte der Geschichtsschreibung erfreut sich im deutschen Sprachraum seit einigen Jahren zunehmender Beliebtheit. Horst Walter Blanke unterschied vor anderthalb Dekaden zehn Typen der Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft: personenbezogene Porträts, werkgeschichtliche Arbeiten, Überblicke über den gegenwärtigen Forschungsstand, institutionsgeschichtliche, methodengeschichtliche, geistesgeschichtliche, problemgeschichtliche Arbeiten, Arbeiten zur gesellschaftlichen Funktion der Geschichtsschreibung, Historiographiegeschichte als Sozialgeschichte und metatheoretische Reflexionen.4 Auch Jan Eckel und Thomas Etzemüller benennen in ihrem aktuellen Forschungsbericht ähnliche Gegenstandsbereiche der klassischen, bis etwa in die 1970er Jahre dominanten Historiographiegeschichte, fassen diese allerdings in fünf statt zehn Gruppen zusammen:5 Zum einen sei die geschichtswissenschaftliche Methodologie Gegenstand einschlägiger Untersuchungen gewesen, wobei insbesondere der Übergang von einer vorwissenschaftlichen Geschichtsschreibung zur philologisch orientierten historischen Text- und Quellenkritik intensiv untersucht wurde. Zum zweiten habe das Geschichtsdenken der Historiker interessiert; diese geistesgeschichtliche Ausrichtung sei insbesondere seit den 1920er Jahren sehr dominant gewesen. Eine dritte Strömung der Historiographiegeschichte habe sich mit den politischen Funktionen und Implikationen der Geschichtsschreibung beschäftigt, ein vierter Zweig sich den historiographischen Konzeptionen, Themen und Interpretationen gewidmet, während schließlich ein fünfter Untersuchungsstrang den theoretischen Grundsatzproblemen der Geschichte und der Geschichtswissenschaft gegolten habe. Erst in den letzten Jahren habe sich die Historiographiegeschichte neuen Fragestellungen zugewandt und zum Beispiel Ansätze einer Sozialgeschichte der Geschichtswissenschaft in die Untersuchungen einfließen lassen: Hier interessierte beispielsweise, welche Rolle die Institutionen der Geschichte spielen, wie sich Professionalisierungsprozesse innerhalb des Faches auswirken und wie sich die Laufbahnmuster von Historikern verändern. Eine etwas andere Typisierung nehmen Olaf Blaschke und Lutz Raphael vor: Sie unterscheiden Zugänge, die sich auf die Produkte von Historikern beziehen, von Zugängen, die sich auf die Produzenten konzentrieren.6 Zu den Produkten von Historikern zählt zur Hauptsache das von ihnen verfasste

4

Blanke: „Typen und Funktionen der Historiographiegeschichtsschreibung“.

5

Eckel/Etzemüller: „Vom Schreiben der Geschichte der Geschichtsschreibung“.

6

Blaschke/Raphael: „Im Kampf um Positionen“.

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Peter Haber | Die Leitmedien der Geschichtsschreibung

Werk. Dies ist die Historiographiegeschichte im engeren Sinn, von der sie, Lingelbach7 folgend, die Geschichte der Geschichtswissenschaft unterscheiden: Die Historiographiegeschichte ist aber nur ein Aspekt der Geschichte der Geschichtswissenschaft, auch wenn sie oft mit ihr verwechselt wird. Denn neben der Geschichtsschreibung (Historio-Graphie) bringen Historiker auch noch andere Erzeugnisse hervor: Forschung und Lehre, Schüler und ‚Schulen‘, historische Institute, Tagungen und Arbeitskreise, fachliche Normsetzungen, Prüfungen, Gutachten, Administration, Drittmittelprojekte etc.8 Gerade die Frage, nach den Produkten der Geschichtsschreibung, die Frage also, was Historiker produzieren, lenkt den Blick auf den hier interessierenden Aspekt der Medien respektive der Leitmedien der Geschichtsschreibung. Rudolf Stichweh hat die Publikation als das basale Element der Wissenschaft bezeichnet: Eine der Folge der Tatsache, dass die Wissenschaft als Kommunikationszusammenhang aus Publikationen als ihren Elementarakten besteht, ist, dass in mancher Hinsicht dasjenige, was nicht publiziert wird, nicht zur Wissenschaft gehört, obwohl es vielleicht wahr ist.9 Aufbauend auf diesen Befund lässt sich das Publikationssystem der Geschichtswissenschaft als Medienverbund mit funktional ausdifferenzierten Ausprägungen verstehen, mit verschiedenen Traditionen, Reichweiten und Adressaten. Es stellt sich aber die Frage, wie in diesem Publikationssystem die Leitmedien zu identifizieren und mit welchem Instrumentarium sie zu analysieren sind. Zuvor aber ist die Frage zu klären, wie der Leitmedien-Begriff in diesem Kontext zu verwenden ist, konkret: mit welcher Granularität die Verwendung des Begriffes einhergehen soll. Ist mit Leitmedien ein bestimmtes Medium gemeint, also zum Beispiel das Buch (in Abgrenzung zum Beispiel von der Fachzeitschrift)? Oder bezeichnet Leitmedium einen bestimmten Buchtyp, etwa die fachwissenschaftliche Monographie in Abgrenzung zum Sammelband? Oder ist mit Leitmedium eine bestimmte Ausprägung eines einzelnen Mediums gemeint, also etwa eine einzelne Buchreihe – die „Kritischen Studien zur Ge-

7

Lingelbach: Klio macht Karriere.

8

Blaschke/Raphael: „Im Kampf um Positionen“, S. 72.

9

Stichweh: Wissenschaft, Universität, Professionen, S. 68f. (Hervorhebung im Original).

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schichtswissenschaft“ zum Beispiel oder die „Schwarze Reihe“ des Fischer Taschenbuch-Verlages?10 Ein Leitmedien-Konzept, das sich für die hier skizzierte Fragestellung verwenden ließe, scheint ein medienwissenschaftliches und ein geschichtswissenschaftliches Desiderat zu sein. Da hier nicht der Ort ist, ein entsprechendes Konzept zu entwickeln, soll in einem pragmatischen Sinn das Buch – genauer gesagt: das fachwissenschaftliche Buch – als Leitmedium betrachtet werden. Dafür sprechen gute Gründe: Anders als in vielen STM-Bereichen11 kann das monographische Buch in den Geschichtswissenschaften – so wie in den meisten anderen Geisteswissenschaften wohl auch – als erstaunlich veränderungsresistente Publikationsform bezeichnet werden. Akademische Meriten verdient man sich im Feld der Geschichtswissenschaft nicht in erster Linie mit dem Schreiben von Aufsätzen oder der Herausgabe von Sammelbänden, sondern mit dem Verfassen und Publizieren einer klassischen Monographie. Auf die leitmediale Bedeutung des Buches als Medium der wissenschaftsinternen Kommunikation weist einerseits die aktuelle Diskussion der Krisensymptome des historischen Buchmarktes hin,12 andererseits die wachsende Bedeutung des historischen Rezensionswesens, auf das im zweiten Teil dieses Beitrages eingegangen wird. Auch wenn umfassende Untersuchungen fehlen, so ist zumindest die Reputation der verschiedenen Verlage innerhalb der scientific community erforscht. In einer (allerdings nicht repräsentativen) Umfrage wurden 250 deutsche Historikerinnen und Historiker gefragt, bei welchem Verlag sie bei freier Wahl am liebsten ihr Manuskript publizieren würden.13 Die berufliche Positionierung der Befragten reichte dabei von erstsemestrigen Geschichtsstudierenden bis zu Professoren. Bei den Studienanfängern landete der Deutsche TaschenbuchVerlag auf dem ersten Platz, gefolgt von Suhrkamp, Oldenbourg, UTB, Fischer, Klett und Beck. Signifikant anders urteilten indes Berufshistoriker: Am liebsten würden sie ihr Manuskript bei Beck im Programm sehen, gefolgt von Vandenhoeck & Ruprecht, Fischer, Suhrkamp, Oxford University Press, Cambridge University Press, Deutscher Verlags-Anstalt, Schöningh, Wallstein und – erst auf Platz elf – dem Deutschen Taschenbuch-Verlag. Diese Divergenzen erstaunen auf den ersten Blick, erscheinen bei näherem Hinsehen aber verständlich: Während bei Erstsemestern im Vordergrund steht, was man kennt (etwa klassische Schulbuchverlage wie Klett) und was

10 Siehe dazu: Pehle: „Zwei Buchreihen“. 11 STM steht für Science, Technology, Medicine. 12 Blaschke/Schulze: Geschichtswissenschaft und Buchhandel in der Krisenspirale? 13 Blaschke: „Reputation durch Publikation“.

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auch erschwinglich ist (nämlich Taschenbuchverlage wie dtv), orientieren sich Berufshistoriker, die das Feld der Historiographie viel präziser kennen, an anderen Kriterien. Im Unterschied zu den Erstsemestern wissen sie vermutlich, dass die Publikation eines gebundenen Buches ein höheres Prestige genießt als ein Taschenbuch, denn es symbolisiert Beständigkeit und wissenschaftliche Bedeutsamkeit.14 Als interessante Ausnahme dürfte hier der Suhrkamp Verlag gelten, der mit seiner Reihe „Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft“ (stw) dem Medium Taschenbuch im geisteswissenschaftlichen Umfeld Anerkennung verschaffen konnte.

Neue Leitsysteme für alte Leitmedien? Die „Mythen der Buchkultur“, wie Giesecke seine anregende Analyse des Buchzeitalters genannt hat, waren zumindest im Bereich der Geschichtswissenschaften weitaus beständiger, als noch vor einigen Jahren prognostiziert:15 Das Buch und insbesondere das monographische Fachbuch scheint immer noch im Zentrum des medialen Gefüges der Geschichtswissenschaft zu stehen. Gleichwohl ist nicht alles beim Alten geblieben und es lassen sich, bei genauerem Hinsehen, durchaus einige „feine Unterschiede“ im Vergleich zur prädigitalen Zeit ausmachen. So scheint zum einen die Abgrenzung zwischen fachwissenschaftlicher Literatur und populärer historischer Darstellung langsam zu erodieren. Ein Indiz dafür ist sicherlich die oben skizzierte unterschiedliche Wahrnehmung der einzelnen Verlage bei Studienanfängern und etablierten Historikern. Verlage wie zum Beispiel dtv haben in den letzten Jahren ihr Profil dahingehend verändert, dass sie sich aus dem eigentlichen wissenschaftlichen Taschenbuchsegement zurückgezogen und sich vermehrt auf das sogenannte „mittlere Buch“ konzentriert haben. Das „mittlere Buch“ bezeichnet den für das Feld der Geschichtswissenschaften markanten Bereich von Publikationen, die zwischen den wissenschaftlichen Fachbeiträgen auf der einen Seite und den historischen Bestsellern auf der anderen Seite liegen.16 Anzumerken ist dabei, dass bei den fachwissenschaftlichen Büchern immer mehr die akademischen Qualifikationsarbeiten und die Berichte aus der Drittmittelforschung dominieren, was insofern von 14 Vgl. Ziermann: Der deutsche Buch- und Taschenbuchmarkt 1945-1995. 15 Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Siehe auch z.B.: Jochum: Kritik der Neuen Medien. Natürlich auch: McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis; Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. 16 Felken: „Die Geschichtskultur und das ‚mittlere Buch‘“.

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Bedeutung ist, dass beide Bereiche grundsätzlich nicht nach den Gesetzmäßigkeiten des Buchmarktes funktionieren. Der Markt der historischen Bestseller ist, anders als etwa in Frankreich oder im angelsächsischen Raum, vom wissenschaftlichen Publikationsbetrieb weitgehend abgekoppelt. Mit anderen Worten: Das schmale Segment des „mittleren Buches“ ist in den letzten Jahren tendenziell noch schmaler geworden. Eine Reihe, wie zum Beispiel „Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik“, die ab 1977 von renommierten Fachleuten wie Wolfgang J. Mommsen, Jörn Rüsen, Jürgen Kocka, Reinhart Koselleck und Thomas Nipperdey bei dtv verantwortet wurde, sucht man im aktuellen Verlagsprogramm vergeblich. Auch der Fischer Taschenbuch-Verlag hat sein geschichtswissenschaftliches Programm auf wenige neue Titel beschränkt und konzentriert sich auf die respektable Backlist in diesem Bereich.17 Eine weitere Veränderung betrifft die Fachzeitschriften, die vom digitalen Wandel im wissenschaftlichen Bereich weit mehr betroffen sind als die Bücher. Dies mag damit zu tun haben, dass Zeitschriften zum Teil Texte veröffentlichen, die sich von der Länge her sehr gut für die Lektüre am Bildschirm eignen. Rezensionen etwa – auf die wir weiter unten noch ausführlicher eingehen werden – weisen einen Umfang auf, der von vielen Leserinnen und Lesern gerade noch als am Bildschirm lesbar wahrgenommen wird. Zeitschrifteninhalte werden zudem nur selten integral gelesen: In der Regel werden einzelne Aufsätze benötigt, die kopiert respektive gescannt werden. Da liegt eine digitale oder hybride (also gedruckte und digitale) Distribution von Fachzeitschriften nahe. In den STM-Fächern ist dies schon seit Jahren selbstverständliche Praxis, im Bereich der Geisteswissenschaften generell und in den Geschichtswissenschaften speziell steckt diese Entwicklung zumindest im deutschen Sprachraum erst in den Anfängen.18 Von besonderem Interesse sind die Rezensionen, die traditionellerweise Teil der Fachzeitschriften sind. Bereits die ersten wissenschaftlichen Zeitschriften im 17. Jahrhundert bestanden vorwiegend aus Buchhinweisen und heute bilden Rezensionen „einen festen Bestandteil wissenschaftlicher Kommunikations- und Publikationspraxis.“19 Fast jede Fachzeitschrift verfügt heute über einen Rezensionsteil. Mit der Verbreitung des World Wide Web Mitte der 1990er Jahre entstand zudem eine ganze Reihe neuer, zumeist über Mailinglisten verbreiteter Rezensionsdienste im Netz; für das Fach Geschichte sind dies zum Beispiel ‚sehepunkte‘, IASL-Online oder Forum Qualitative So-

17 Siehe Pehle: „Zwei Buchreihen“. 18 Zur aktuellen Situation in diesem Bereich siehe zum Beispiel: Haber: „Digitalisierung und digitale Archivierung“. 19 Mey: „Editorial Note“.

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zialforschung (FSQ).20 Eine dominierende Stellung in diesem Segment hat H-Soz-u-Kult, das mit über 15.000 Abonnentinnen und Abonnenten praktisch flächendeckend die Akteure der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft erreicht. H-Soz-u-Kult wird an der Humboldt Universität zu Berlin produziert und ist Teil des weltweiten Netzwerkes H-Net, das an der Michigan State University in den USA koordiniert wird. Rezensionen sind ein unentbehrliches Steuerungsinstrument der scientific community, da sie über wichtige Publikationen und aktuelle Trends im Fach informieren. Für die verschiedenen Akteure erfüllen Rezensionen unterschiedliche Funktionen:21 Die Leserinnen und Leser wollen über Neuerscheinungen informiert werden und sind an Lese- und allenfalls Kaufempfehlungen interessiert. Zudem suchen sie in Rezensionen auch Hinweise auf für sie entlegene Themenfelder, da „Geschichte“ ein schon längst nicht mehr überblickbares Feld geworden ist. Die Rezensenten verfolgen das Ziel, sich als Experten in einem bestimmten Themenfeld bemerkbar zu machen. Gelegentlich werden Rezensionen auch dazu benutzt, direkt oder indirekt auf eigene Arbeiten im gleichen Themenbereich hinzuweisen. Außer bei Publikumsmedien wie etwa Tageszeitungen erhalten Rezensenten kein Honorar, sondern werden lediglich mit einem Rezensionsexemplar des besprochenen Buches entschädigt. Buchautoren und Herausgeber haben ein Interesse an Rezensionen, weil sie möchten, dass ihre Publikationen und ihre Expertise in der Fachwelt bekannt und gewürdigt werden. Für die Verlage sind Rezensionen fast kostenlose Werbung und ein einfacher Weg, die eigenen Produkte bekannt zu machen. Zudem sind Verlage vor allem bei populären Titeln an griffigen, zitierbaren Urteilen interessiert, die sich für Websites und allfällige Neuauflagen einsetzen lassen. Die Redakteure der Rezensionsorgane wiederum möchten sich – so wie die Rezensenten auch – als Experten positionieren und ein Netzwerk aufbauen. Trotz dieser multifunktionalen Bedeutung und der langen Tradition gelten Rezensionen als eine Textsorte minderer Qualität. Rezensionen werden zum Beispiel weder bei wissenschaftlichen Evaluationen noch bei bibliometrischen Auswertungen berücksichtigt, vielmehr gelten sie als Privatmeinung der Autoren und als Gelegenheit, sich zu positionieren bzw. unliebsame Konkurrenten mit einer schlechten Rezension zu schädigen. Dabei erfüllen Rezensionen eine ähnliche Funktion wie Gutachten: es handelt sich bei Rezensionen letztlich um eine formalisierte, wissenschaftsinterne Qualitätskontrolle. Während Gutach-

20 Zur Entwicklung des geschichtswissenschaftlichen Rezensionswesens siehe Middell: „Vom allgemeinhistorischen Journal zur spezialisierten Liste im H-Net“; ferner Schulze: „Zur Geschichte der Fachzeitschriften“. 21 Die folgende Gliederung nach Mey: „Editorial Note“.

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ten nicht veröffentlichte Berichte zu nicht veröffentlichen Texten sind, stellen Rezensionen veröffentlichte Berichte zu veröffentlichten Texten dar. Damit Rezensionen eine qualitätssichernde Funktion wahrnehmen können, müssen sie gewisse Kriterien erfüllen.22 So müssen die Texte eine inhaltliche Zusammenfassung der besprochenen Werke enthalten und beurteilen, ob die vom Autor genannten Zielsetzungen erreicht wurden. Die Rezension muss das besprochene Werk in einen aktuellen Forschungskontext einbetten, die Untersuchungsmethoden nennen und die Aufbereitung der Ergebnisse beurteilen. Eine gute wissenschaftliche Rezension sollte über diese grundlegende formalen Erfordernissen hinaus das besprochene Werk nicht nur an den eigenen Vorgaben beurteilen, sondern auch der Frage nachgehen, wie sich die erbrachten Resultate vor dem Hintergrund der – konstitutiv zu knappen – wissenschaftlichen Ressourcen eines Faches oder einer Fachrichtung ausnehmen.23 Einiges spricht dafür, dass – wie auch Mey festgestellt hat – das Internet der Textsorte Rezension Rahmenbedingungen geschaffen hat, welche die Erfüllung der hier skizzierten Qualitätskriterien wesentlich erleichtern: Die Textsorte Rezension als ‚good scholarly reviews‘ hat – so scheint es – erst mit dem Internet überhaupt eine Chance erhalten, wirksam zu werden bzw. es bildet sich im Internet ein eigener Sektor, den es ‚zu Printzeiten‘ so nicht gegeben hat (und erklärt auch möglicherweise den ‚Erfolg‘, den die eingangs beschriebenen Rezensionsdienste haben, wobei die in den diversen ‚Diensten‘ angebotenen Texte der obigen ‚Klassifikation‘ entsprechend auch zuweilen ‚brief reviews‘ zulassen, dafür allerdings diese wiederum in einer Fülle, die für Printzeitschriften schwerlich realisierbar wäre).24 Welche Rahmenbedingungen sind gemeint? Zum einen ist sicherlich die Flexibilität beim verfügbaren Speicherplatz zu nennen. Anders als bei gedruckten Zeitschriften, die ein bestimmtes Seitenkontingent für Rezensionen zur Verfügung haben, ist bei Online-Diensten die Ressource Platz nicht beschränkt. 22 Ergänzend zu Mey: „Editorial Note“ siehe auch Nicolaisen: „The Scholarliness of Published Peer Reviews“. 23 Jäger: „Von Pflicht und Kür im Rezensionswesen“. Neben den klassischen Rezensionen mit den hier skizzierten Punkten haben sich auch Kurzbesprechungen (brief review) und Sammelrezensionen sowie, gleichsam als extended version davon, so genannte Rezensionsaufsätze (review essay) etabliert. 24 Mey: „Editorial Note“, Paragraph 21.

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Trotzdem kennen die meisten Online-Dienste in ihren Richtlinien eine Platzbeschränkung. Bei H-Soz-u-Kult z.B. steht in den Richtlinien: „Der Umfang der Rezension soll 1.000–1.200 Wörter bzw. 8.000–10.000 Zeichen (inkl. Anmerkungen) nicht überschreiten.“25 Limitiert ist bei vielen Diensten auch die Zahl der Rezensionen, die in einem bestimmten Zeitraum verschickt werden. Bei H-Soz-u-Kult sind dies rund 1.000 Rezensionen pro Jahr. Da die Texte in erster Linie als Mail verschickt werden, ergibt das pro Arbeitstag rund drei Rezensionen. Bei sehepunkte werden die Rezensionen nicht im Volltext verschickt, sondern die Abonnenten erhalten jeweils Mitte des Monats eine Zusammenstellung der besprochenen Bücher mit einem direkten Link zur jeweiligen Rezension. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang auch, dass beide Dienste – sowie die meisten anderen Online-Rezensionsdienste im Bereich der Geschichtswissenschaften – nach dem Open Access-Prinzip funktionieren, das heißt, alle Texte sind kostenfrei für alle zugänglich. Eine weitere Rahmenbedingung, die sich mit der Online-Verfügbarkeit von Rezensionen verändert hat, ist die erhöhte Visibilität. Bei H-Soz-u-Kult zeigt sich dies eindrücklich durch die zurzeit fünffache Verwertung der Texte, was zusammen mit der Visibilität auch die Attraktivität für alle Beteiligten, an diesem Dienst mitzuwirken, erhöht: Zum einen werden die Besprechungen an die zurzeit rund 15.000 Abonnentinnen und Abonnenten verschickt. Knapp 80 Prozent der Empfängerinnen und Empfänger befinden sich in Deutschland, der Rest verteilt sich hauptsächlich auf die Schweiz, Österreich und Nordamerika, wobei die Mails aber insgesamt in über 50 Länder verschickt werden. Gestützt auf die Anmeldeinformationen und eine 2005 durchgeführte Umfrage schreibt die Redaktion zur Zusammensetzung der Leserinnen und Leser: Ganz überwiegend handelt es um Wissenschaftler/innen, Akademiker/innen und Studierende. Inzwischen finden sich Abonnenten/innen auf jeder Beschäftigungsebene an fast allen Forschungseinrichtungen im deutschsprachigen Raum.26 Die zweite Nutzung ist eine Aufschaltung des Volltextes auf der Homepage von H-Soz-u-Kult. Dabei werden die Texte angereichert mit einer Abbildung des Buchumschlages, mit Links zu Rezensionen von anderen Diensten zum gleichen Buch (falls vorhanden) und zu Bestandesangaben verschiedener Bibliotheken. Die Texte werden von der dreißigköpfigen, ehrenamtlich arbeiten25 Formale Hinweise: „Allgemeine Hinweise zur Abfassung von Rezensionen“ (HSoz-u-Kult) und „Richtlinien für Rezensenten“ (sehepunkte). 26 „Mediadaten“.

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den Rezensionsredaktion mit Deskriptoren versehen – oder neudeutsch metadatiert – und sind entsprechend strukturiert auch auffindbar. Praktisch zeitgleich werden die Texte – allerdings ohne Zusatzinformationen – auf der zentralen Seite von H-Net aufgeschaltet, was dazu führt, dass die Texte von den meisten Suchmaschinen sehr hoch gerankt werden.27 Die vierte Verwertungsschiene ist ein RSS-Dienst, der es ermöglicht, das Angebot von H-Soz-u-Kult über einen sogenannten RSS-Reader zu abonnieren und mit anderen Inhalten zu syndizieren.28 Die fünfte Verwertungsart schließlich basiert auf einem Medienbruch: Alle H-Soz-u-Kult Rezensionen erscheinen ferner vierteljährlich als Open-Access Rezensionszeitschrift Historische Literatur in Kooperation mit dem Franz Steiner Verlag und dem Dokumentenserver der Humboldt-Universität. Sie bleiben damit einer weltweiten Öffentlichkeit langfristig und kostenlos zugänglich.29 Eine weitere Rahmbedingung ist die zumindest grundsätzlich mögliche Interaktivität. Sowohl beim Versand per Mail als auch bei der Publikation auf einer Website wären Diskussionen über die Rezensionen möglich. Bei H-Soz-u-Kult wird von dieser Möglichkeit zum jetzigen Zeitpunkt allerdings kein Gebrauch gemacht. Die Mailingliste wird von der Zentralredaktion in Berlin moderiert und nur ausnahmsweise werden Reaktionen auf einzelne Besprechungen an alle Abonnenten verschickt. Und auf der Website sind die Einträge im Moment nicht mit einer Kommentarfunktion versehen. Es ist zu vermuten, dass sich H-Soz-u-Kult und andere, ähnliche Dienste im Zuge der gegenwärtigen Dynamik im Netz solchen interaktiven Elementen öffnen werden. Mit Blick auf die Leitmedien der Geschichtswissenschaft kann heute festgehalten werden, dass sich die leitmediale Bedeutung des Buches kaum verändert hat, dass sich aber das zentrale Leitsystem der Leitmedien, das fachwissenschaftliche Rezensionswesen also, einem tiefgreifenden Wandel unterzieht. Für

27 Zu H-Net siehe: McGrath u.a.: „H-Net Book Reviews“; Kornbluh/Knupfer: „HNet Ten Years on“. 28 RSS steht für ‚Really Simple Syndication‘ und ist so etwas wie die „gemeinsame Währung im Universum der aktuellen Quellen“. Mittels RSS lassen sich Aktualisierungen von Web-Inhalten gebündelt und strukturiert sowie den individuellen Bedürfnissen angepasst anzeigen. Siehe zum Beispiel für eine kurze Einführung: Plieninger/Stabenau: „Nutzung und Einsatz von RSS“. 29 „Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften“. Zur Geschichte und Entwicklung von H-Soz-u-Kult siehe auch: Hohls/Helmberger: „H-Soz-u-Kult: Eine Bilanz nach drei Jahren“; Hohls: „H-Soz-u-Kult: Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften“.

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diesen Befund sprechen nicht nur die seit über zehn Jahren kontinuierlich wachsenden Abonnentenzahlen von H-Soz-u-Kult, sondern auch der Umstand, dass einige gedruckte Zeitschriften in den letzten Jahren ihren Rezensionsteil aufgegeben haben oder ihn in Zusammenarbeit mit einem der OnlineDienste erstellen.30 Es stellt sich zum Schluss die Frage, welche Auswirkungen eine konsequentere Nutzung des medialen Potentials von Online-Rezensionen haben könnte. Wie würde sich die wissenschaftliche Kommunikation verändern, wenn zu aktuellen Rezensionen im Netz fachliche (oder auch nicht ausschließlich fachliche) Debatten geführt werden könnten? Und schließlich: Welche Rolle werden zukünftig wissenschaftliche oder wissenschaftsaffine Weblogs, bei denen seit einiger Zeit eine gewisse Dynamik zu beobachten ist, in der Fachkommunikation spielen? Werden sie die Rolle von offenen Rezensionskanälen übernehmen oder werden sich geschichtswissenschaftliche Weblogs eher als Mediatoren zwischen Fachwelt und Öffentlichkeit etablieren? Nach welchen Kriterien werden sich die Leitmedien der wissenschaftsnahen Blogosphäre in Zukunft definieren und allenfalls etablieren?31

Literaturverzeichnis „Allgemeine Hinweise zur Abfassung von Rezensionen“, http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/daten/texte/Rezensionshinweise_HSK_Buecher. pdf, 06.07.2009. Blanke, Horst Walter: „Typen und Funktionen der Historiographiegeschichtsschreibung. Eine Bilanz und ein Forschungsprogramm“, in: Küttler, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt a.M. 1993 (Geschichtsdiskurs 1), S. 191-211. Blaschke, Olaf: „Reputation durch Publikation. Wie finden deutsche Historiker ihre Verlage? Eine Umfrage“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 55, H. 10, 2004, S. 598-620. Blaschke, Olaf/Raphael, Lutz: „Im Kampf um Positionen. Änderungen im Feld der französischen und deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945“, in: Eckel, Jan/Etzemüller, Thomas (Hrsg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 69-109. 30 Siehe: Helmberger: „Historische Rezensionen im Internet“, S. 177. 31 Siehe dazu die im Weblog weblog.histnet.ch seit 2007 geführten Diskussionen zu diesen Fragen („blogosphäre“ [Suchergebnisse]).

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Informationsraum in der Wissenschaftskommunikation Dass in den Geschichtswissenschaften das Buch weiterhin als Leitmedium für die Wissenschaftskommunikation bezeichnet werden darf, hat Peter Haber vorgängig bereits dargelegt. Weiter hat er gezeigt, wie der digitale Wandel sich auf das Rezensionswesen als ein „Leitsystem“ der Wissenschaftskommunikation ausgewirkt hat. Dieser Beitrag wählt einen anderen Ansatz, um die Frage nach „Leitmedien“ in der Wissenschaftskommunikation in den Blick zu nehmen. Er möchte die Eigenheiten der Wissenschaftskommunikation mit dem Denkmodell des Informationsraums erschließen. Der Informationsraum bezeichnet jenen Teilbereich des Kommunikationsprozesses, in dem Informationen in einer Struktur dergestalt organisiert und bereitgestellt werden, dass sie von interessierten Individuen aufgefunden werden können. Ein solcher Informationsraum ist für den interaktiven Charakter der Wissenschaftskommunikation konstitutiv. Der Informationsraum, so die These, kann für die Wissenschaftskommunikation den Charakter eines Leitmediums in Anspruch nehmen. Im Folgenden wird geschildert, welche Rolle der Informationsraum in der Wissenschaftskommunikation einnimmt, wie der digitale Wandel den Informationsraum in Informationsräume aufgeteilt hat, die auf unterschiedlichen Logiken gründen, und welche Rolle das Subjekt (der „User“) in der Nutzung dieser Informationsräume spielt. Die Darstellung hat dabei den Charakter einer explorativen Skizze, die noch einer theoretischen und empirischen Vertiefung bedarf.

Informationsraum und Wissenschaftskommunikation Der Begriff des Informationsraums ist zwar gebräuchlich, insbesondere in den Informationswissenschaften, aber nicht näher definiert. Enderle bezeichnete 2001 mit dem Informationsraum jene „Informationswelt gedruckter Fachliteratur, die dank […] [ihrer] impliziten Standards ein verlässliches System darstellt“1 und stellte anschließend Überlegungen dar, wie die Erfahrungen mit diesem System auf das Internet angewendet werden können. In der Sicht Enderles wurden mit dem Informationsraum auch Aufgaben der Selektion und der Qualitätssicherung erfüllt. Der Informationsraum steht demnach für das bibliothekarische Bemühen, Ordnung in das Chaos des Internets zu bringen und Internet-Ressourcen als 1

Enderle: „Der Historiker, die Spreu und der Weizen“, S. 50.

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digitale Informationseinheiten analog zu Büchern zu behandeln. Viele Fachportale sind Ausdruck dieses Anspruchs, Kriterien der fachwissenschaftlichen Erschließung auf das Internet auszudehnen. Doch die scientific community bleibt von der Entwicklung zu einer „GoogleGesellschaft“ nicht unberührt.2 Den Suchmaschinen wird die Funktion eines neuen „Gatekeepers“3 zugedacht; sie entscheiden zunehmend darüber, welche Informationen an die User gelangen. Davon scheint auch der Informationsfluss in den Wissenschaften betroffen. So legte jüngst eine Studie von Machill u.a. dar, dass Studierende unter gewissen Bedingungen mit Google eher zu relevanten wissenschaftlichen Ergebnissen gelangten als mit der Suche in einem Bibliothekskatalog.4 Der von Enderle beschriebene Informationsraum, so könnte man meinen, fällt dem digitalen Wandel zum Opfer: die Suchmaschine ersetzt die Bibliothek, Bücher und Bibliothekare werden überflüssig. Doch was hat es mit diesem Wandel auf sich? Gugerli u.a. kommen bei ihrer Analyse zum Einfluss der Informationstechnologien auf die Dispositive des Wissens zum Schluss, dass „die Rede von Revolution und dauerndem Wandel sich zunehmend verselbständigt und innerhalb eines neuen Dispositivs des Wissens ein zentrales Element der Kontinuität darstellt.“5 Dem Reden vom Wandel ist also auch beim Denkmodell des Informationsraumes mit Vorsicht zu begegnen. Als Dispositive bezeichnen Gugerli u.a. im Sinne Foucaults die Anordnung unterschiedlicher Elemente, die Diskurse ebenso umfassen wie Institutionen und Akteure […], die zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt in einer Gesellschaft die Produktion, Validierung, Sanktionierung und Verwaltung von Wissensbeständen organisieren.6 Die Organisation von Wissensbeständen ist folglich ein zentraler Bestandteil dieses Dispositivs. Gugerli u.a. formulieren drei Dimensionen, die das Disposi2

Vgl. Thomas, „Wissenschaft in der digitalen Welt“.

3

Vgl. Wolling, „Suchmaschinen – Gatekeeper im Internet“; Lewandowski: Web Information Retrieval, S. 13; Schulz u.a.: Suchmaschinen als Gatekeeper in der öffentlichen Kommunikation.

4

Die Proband/innen waren Studierende der Journalistik und befanden sich im zweiten bis vierten Fachsemester. Sie hatten 15 Minuten für das Lösen einer Suchaufgabe, wofür sie entweder Google, Google Scholar oder die Institutsbibliothek nutzen konnten. Vgl. Machill u.a.: „Leistungsfähigkeit von wissenschaftlichen Suchmaschinen“.

5

Gugerli u.a.: „Rechne mit deinen Beständen“, S. 81.

6

Ebenda.

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tiv bestimmen: Verarbeitung, Kommunikation und Organisation. Diese Dimensionen beziehen sich dabei auf einen informationstechnologischen Kontext, in dem Verarbeitung eher als Datenaufbereitung und Kommunikation als Vernetzung verstanden wird. Dennoch lassen sich diese Dimensionen auch für die Analyse der Wissenschaftskommunikation nutzen. Folglich wäre ein Informationsraum zu verstehen als die Organisation von verarbeiteten Informationen, die eine wissenschaftliche Kommunikation ermöglicht. Mit Wissenschaftskommunikation wird im Folgenden die scholarly communication, also die „Kommunikation von Forschungsergebnissen innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft“7 und nicht die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse an die Gesellschaft, bezeichnet. Gerade diese interne Wissenschaftskommunikation zeichnet sich seit jeher durch die Aktivität der einzelnen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus, die spezifische Informationen für eine konkrete Fragestellung suchen oder diese der scientific community zur Verfügung stellen. Die Auswahlprozesse finden in der Wissenschaft nicht nur bei der Bereitstellung von Informationen, sondern auch bei der Rezeption statt, und es gehört zu den Qualifikationen eines Wissenschaftlers und einer Wissenschaftlerin, sich die relevanten Informationen beschaffen zu können. Daraus leiten sich Anforderungen an die Ausgestaltung des Informationsraumes ab. Dieser hat sich im Zuge der Entwicklung moderner Wissenschaft in den letzten 200 Jahren entwickelt. Die Auswirkungen des digitalen Medienwandels sollen Gegenstand der folgenden Überlegungen sein. Es lässt sich zunächst eine Aufteilung in Informationsräume beobachten, die sich in der Logik der Organisation unterscheiden, sich im Alltag aber zunehmend zu überschneiden scheinen. Es wird kurz darauf eingegangen, dass diese Informationsräume Ausdruck unterschiedlicher Interessen der beteiligten Akteure sind und dass sie für die Nutzer(innen) einerseits eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten eröffnen, aber auch zusätzliche Kompetenzen im Umgang mit ihnen verlangen.

Drei Informationsräume des digitalen Wandels Der klassische vordigitale Informationsraum ist in seiner Konzeption auf das Leitmedium Buch in einem weiten, auch Zeitschriften und Dokumente umfassenden Sinn ausgerichtet. Der Informationsraum umfasst einerseits die inhaltlich-systematische Auswahl und Erschließung der Informationen beispielsweise im Bibliothekskatalog, aber auch die konkrete räumliche Organisation der 7

Hagenhoff u.a.: Neue Formen der Wissenschaftskommunikation, S. 5.

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physikalischen Objekte, die Träger der Informationen sind, z.B. im Bibliotheks-Magazin oder im Lesesaal. Ziel bei der Schaffung dieses Informationsraums ist die Gewährleistung eines im Wortsinne einfachen Zugriffs auf die Informationen. Gestalter des Informationsraumes sind Bibliotheken, deren Aufgabe darin besteht, wissenschaftliche Informationen zu organisieren. Aber auch Autor(inn)en, Redaktionen und Verlage prägen den Informationsraum. Es sind also eigens ausgebildete Fachpersonen, die in Bibliotheken, Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Veranstaltungen die Strukturierung der Informationen vornehmen. Dieser fachprofessionell erstellte Informationsraum hat sich durch den digitalen Medienwandel in Bezug auf seine mediale und informationstechnologische Ausprägung verändert. Bibliotheken ermöglichen den Online-Zugriff auf ihre in Datenbanken überführten Kataloge, spezialisierte Webportale liefern strukturierte Informationen zu Internet-Ressourcen,8 Fachzeitschriften sind online zugänglich. Insofern kann, wie es Gugerli u.a. für die Dispositive des Wissens tun, von einer Inkorporierung neuer Informationstechnologien in den Informationsraum gesprochen werden.9 Der digitale Wandel führt aber zu einer entscheidenden Veränderung bei den Möglichkeiten, die wissenschaftlichen Informationen zu organisieren. Die Informationen liegen digital oder digitalisiert vor und sind damit maschinenlesbar. Außerdem sind diese Informationen durch die Vernetzung digitaler Endgeräte auch einfach über größere Distanzen zu transportieren, bzw. ortsunabhängig zugänglich. Suchmaschinen setzen bei diesen veränderten Voraussetzungen an. Auch Suchmaschinen organisieren die Informationen, wählen aus und gewichten, doch sie tun dies algorithmisch maschinell. Folglich kann von einem algorithmisch-maschinell erstellten Informationsraum gesprochen werden.

Organisationslogik der Informationsräume Dem fachprofessionell erstellten Informationsraum einer Bibliothek liegt die Logik einer systematischen Gliederung der Informationen zugrunde. Die Fachpersonen organisieren die Informationen auf der Grundlage semantischer Erkenntnisoperationen mit in Thesauri festgelegten Schlagworten. Sie verse-

8

Zur Typologie der verschiedenen Arten von wissenschaftlichen Webportalen vgl. Rösch/Weissbrod: „Linklisten, Subject Gateways, Virtuelle Fachbibliotheken, Bibliotheks- und Wissenschaftsportale“.

9

Gugerli u.a.: „Rechne mit deinen Beständen“, S. 81.

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hen überdies die Informationen mit Meta-Daten, die den Zugang zu den Informationen erleichtern.10 Im algorithmisch-maschinell organisierten Informationsraum herrscht die Logik der statistischen Berechnung und der Vermessung vor: Hier werden Häufigkeiten, Verteilungen und Positionierungen von Zeichenfolgen, seien dies Worte oder Hyperlinks, zur Grundlage von Auswahl und Gewichtung, bzw. zur Bestimmung von Relevanz erkoren.11 Mit dem Web 2.0 entsteht ein weiterer Informationsraum. Die Strukturierung von Informationen erfolgt in diesem community-basiert organisierten Informationsraum über freies Verteilen von nicht vorgegebenen Stichworten (tags)12 durch eine große Zahl von Individuen, die eine spontane und informelle Gemeinschaft bilden. Diese Mikro-Strukturierung von individuell interessierenden Informations-Teilbeständen, die Ähnlichkeiten mit den Anfängen der bibliothekarischen Verschlagwortung aufweist, wird algorithmisch-maschinell unterstützt mit statistischen Auswertungen von Häufigkeiten und Verknüpfungen dieser Stichworte. Dadurch lassen sich die Stichworte proportional zu ihrer Popularität, beispielsweise in tag clouds, anzeigen. Zudem können zu jeder Information ähnliche Informationen angezeigt werden, wobei die Ähnlichkeit aufgrund der Übereinstimmung der Stichworte berechnet wird. Bekannte Anwendungen sind die Foto-Plattform Flickr oder auch der Bookmark-Verwaltungs-Dienst del.icio.us. Die Logik des community-basiert organisierten Informationsraums ist die der Schwarmintelligenz,13 die sich gerade bei Vorzeige-Projekten des Web 2.0, insbesondere der Online-Enzyklopädie Wikipedia, als Referenz großer Beliebtheit erfreut, aber nicht unwidersprochen geblieben ist.14 Die Benutzer(innen) des Informationsraums gewinnen hierin als aktive Mitgestalter(innen) noch mehr an Bedeutung. Auf ihre Rolle wird am Ende noch näher einzugehen sein.

10

Zur Entstehung der Sachkataloge, die aufgrund der massiv gestiegenen Buchproduktion Ende des 19. Jahrhunderts den „Abschied von der Universalbibliothek“ bedeuteten, und zur darauf folgenden Auseinandersetzung um die Anwendung eines systematischen Katalogs oder eines Schlagwortkatalogs, vgl. Jochum: Kleine Bibliotheksgeschichte, S. 133-150.

11 Vgl. zur Funktionsweise von Suchmaschinen: Lewandowski: Web Information Retrieval. 12 Vgl. Smith: Tagging. 13 Surowiecki: Weisheit der Vielen. 14 Vgl. Lanier: „Digital Maoism“.

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Konvergenz der Informationsräume Die Trennung der Informationsräume nach der Logik ihrer Erstellung, die sich in den Begriffen Volltext, Schlagwort, tag zusammenfassen lässt, mag in der Theorie zur Klärung der Unterschiede hilfreich sein. In der Praxis überschneiden sich Informationsräume je länger je mehr. Dabei sind die fortwährenden Bemühungen des größten und innovativsten Suchmaschinen-Unternehmens Google zwar auffällig, aber (noch) wenig bedeutsam: In Google Books werden bereits zahlreiche wissenschaftliche Publikationen teilweise oder vollständig mit der Volltext-Indizierung der Suchmaschine erfasst und Google Scholar erschliesst große Aufsatz-Bestände in fachwissenschaftlichen Zeitschriften. Zieht man aber in Betracht, dass der fachprofessionell erstellte Informationsraum sich auch durch Selektion und Qualität sichernde Funktionen auszeichnet und überdies mit der Strukturierung mittels Metadaten und der Sicherstellung der langfristigen Zugänglichkeit die für die Wissenschaft zentrale Aufgabe der Referenzierbarkeit erfüllt, wird deutlich, dass der algorithmischmaschinell erstellte Informationsraum in seiner Bedeutung für die Wissenschaftskommunikation hinter dem fachprofessionell erstellten Informationsraum zurückstehen muss. Auch die elaborierten Methoden des Page-Rankings (eine Art Qualitätssicherung mittels statistischer Analyse der Verlinkungen) und des Clusterings15 (Bündelung ähnlicher Suchergebnisse) oder die CacheFunktion, die das Aufrufen von nicht mehr verfügbaren Web-Inhalten aus einem Zwischenspeicher ermöglicht, können an diesem Umstand nicht viel ändern. Die Suchmaschinen gewinnen aber auch indirekt im wissenschaftlichen Alltag an Bedeutung. Im fachprofessionell erstellten Informationsraum kommt vermehrt die Logik der Volltext-Suche in algorithmisch-maschinell erstellten Indices zum Zuge. So plant etwa der Fachportalverbund vascoda die Suchmaschinentechnologie zur „Ausgabe einer gerankten Gesamtergebnisliste“16 zu nutzen, da diese Form der Informationsorganisation den Benutzer(innen) von den Suchmaschinen her vertrauter ist. Andererseits wird mit dem Konzept des Semantic Web der Versuch unternommen, die Informationen derart aufzubereiten und mit Metadaten zu versehen, dass Maschinen auch die Bedeutung von Inhalten erkennen und Zusammenhänge herstellen können.17 Dies soll durch die konsequente Nutzung von definierten Metadaten erreicht werden, was konkret bedeuten würde, dass 15 Beispielsweise bei der Suchmaschine Vivismo, vgl. Valdes-Perez: „Introducing Clustering 2.0“. 16 Krause/Mayr: Allgemeiner Bibliothekszugang, S. 6. 17 Vgl. Ziegler: „Sinn oder nicht Sinn“.

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Suchmaschinen Schlagworte interpretieren und präzisere Resultate liefen könnten. Allerdings bleibt bei der Idee des Semantic Web bislang offen, wer diese Metadaten erfassen soll, denn diesen Verarbeitungsschritt müssen noch immer Menschen vornehmen. Die Anhänger/innen des Semantic Web hoffen auf eine Verbindung mit den Möglichkeiten des Web 2.0: Aus Social Tagging soll Social Semantic Tagging werden. Dabei sollen die gemeinschaftlich von unzähligen Freiwilligen erstellten und an Informationen angebrachten Tags systematisch mit Definitionen verknüpft werden, um ihre begriffliche Unschärfe, Bedeutungsvielfalt und Heterogenität zu vermindern.18 Das Social Tagging wird bereits versuchsweise im fachprofessionell erstellten Informationsraum zur Verschlagwortung von Beständen eingesetzt, etwa an der Universitätsbibliothek Mannheim.19

Machstrukturen der Informationsräume Die Bemühungen der verschiedenen Akteure, die Informationsräume einander funktional anzugleichen, machen deutlich, dass es sich dabei nicht nur um Ausprägungen unterschiedlicher Technologien handelt. Sie sind auch Ausdruck von Machtverhältnissen und Interessen, die in ihren Konstellationen in der hier gebotenen Kürze nur summarisch gestreift werden können. Um die Situation zu verdeutlichen, sei sie hier auf eine ökonomische Perspektive reduziert und in der Darstellung zugespitzt. Im Wandel des fachprofessionell erstellten Informationsraumes bilden sich Veränderungen in der Ökonomie des Wissens ab. In der analogen Gutenberg-Galaxis waren Informationen teuer. In Verlagen und Bibliotheken stellten ausgebildete und im Lohnverhältnis stehende Fachpersonen sicher, dass das Preis-Leistungsverhältnis bei der Auswahl und Organisation wissenschaftlicher Informationen stimmte. In der digitalen Ära hat sich die Situation verändert. Das Buch ist zwar (zumindest in den Geschichtswissenschaften) noch immer das Leitmedium, die wissenschaftlichen Informationen sind aber nicht mehr auf Printprodukte beschränkt und der Informationsraum dehnt sich auf digitale Medien aus. Zwar ist die Attraktivität von Informationen im Internet hoch, doch ihr Verkaufswert neigt gegen Null. Die Verlage fürchten um ihr Geschäft, erhöhen die Preise und schotten die Inhalte ab. Die Autor/innen bangen um ihre Urheberrechte, wünschen aber auch Sichtbarkeit im Netz. Und die Wissenschaftler/innen sorgen sich um die Zugänglichkeit der wissenschaft18 Vgl. Voss: „Vom Social Tagging zum Semantic Tagging“; Good u.a.: Bridging the Gap Between Social Tagging and Semantic Annotation. 19 Vgl. Hänger/Krätzsch: „Collaborative Tagging“.

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lichen Informationen, weil die Bibliotheken die steigenden Preise der Verlage nicht mehr bezahlen können, und sind zugleich auf qualitätssichernde Instanzen im Kommunikationsprozess angewiesen. Es scheint, als sei der Kampf um Open Access die letzte Möglichkeit, die etablierten Mechanismen des fachprofessionell organisierten Informationsraumes ins digitale Zeitalter zu retten.20 Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um Deutungsmacht. Das digitale Format ermöglicht dank automatisierter, algorithmisch-maschineller Verfahren auch die kostengünstige Organisation der Information. Die Suchmaschinen-Betreiber stellen den Informationsraum kostenlos zur Verfügung, sie hoffen ihr Geld durch Zusatzdienste und Marktpräsenz zu verdienen, vor allem aber durch die kommerzielle, ebenfalls maschinell-algorithmische Auswertung von Nutzungs- und Nutzerdaten.21 Die Situation ist unübersichtlich: Wissenschaftler versuchen bessere Suchmaschinen zu entwickeln,22 Wissenschaftsportale setzen Suchmaschinentechnologien ein, und Google schließt Kooperationsverträge mit Bibliotheken ab, um deren gesamte Buchbestände zu digitalisieren, was Widerstand bei den Verlagen auslöst,23 die aber andererseits mit Google kooperieren, um ihre Artikel bei Google Scholar online zugänglich zu machen.24 Die Diskussion dreht sich daher in letzter Zeit vor allem um die Suchmaschinen, und um die Frage, welche Macht die Suchmaschinen bzw. ihre Betreiber in der Informationsgesellschaft haben. Die Warnungen vor der „Infokrake Google“25 nehmen dabei zuweilen Züge von Verschwörungstheorien an.26 20 Offensichtlich ist die Malaise bei der Entwicklung der Abonnementspreise wissenschaftlicher Zeitschriften, vgl. Graf: „Wissenschaftliches E-Publizieren mit ‚OpenAccess‘“, S. 68; Hagenhoff: Neue Formen der Wissenschaftskommunikation, S. 10. 21 Vor allem durch Platzierung von Werbung, vgl. Machill u.a.: „Suchmaschinenforschung“, S. 14f.; Fabos, „Search Engine Anatomy“. 22 Hier haben sich die deutschen und französischen Bemühungen kürzlich getrennt, in Frankreich wird ein Google-Konkurrent namens Quaero entwickelt, in Deutschland eine neue Suchtechnologie unter dem Titel Theseus, vgl. Stieler, „Politische Querelen behindern europäische Google-Alternativen“. 23 Vgl. hierzu Lesk: „Should Indexing Be Fair Use?“; Baksik: „Fair Use or Exploitation“. 24 Beispielsweise mit dem Wissenschaftsverlag Reed-Elsevier, vgl. Thomas: „Wissenschaft in der digitalen Welt“, S. 316. 25 Vgl. den gleichnamigen Themenschwerpunkt in c’t 10/2006, darin Sixtus: „Jenseits von Gut und Böse“. 26 Vgl. Maurer u.a.: „Report on Dangers“; dazu auch: Krempl: „Forschungsreport: Google muss zerschlagen werden“.

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Ein kürzlich erschienener Artikel von Theo Röhle in einem informationswissenschaftlichen Sammelband von Marcel Machill und Markus Beiler27 hebt sich hier wohltuend ab. Röhle legt dar, dass die meisten Erklärungsansätze zur Bedeutung der Suchmaschinen in der heutigen Informationsgesellschaft zu kurz greifen. Röhle nennt den politisch-ethischen Ansatz von Introna und Nissenbaum, die den Suchmaschinen wegen ihrer Einschluss- und Relevanzkriterien vorwerfen, bereits bekannte Inhalte zu favorisieren, was „einer egalitären, an Habermas’ Öffentlichkeitsmodell angelehnten, Kommunikationskultur im Internet entgegenläuft.“28 Röhle hält dagegen, dass diese These der Hierarchisierung von Informationen empirisch nicht belegt werden könne, und zudem die wichtigen Aspekte der Nutzerinteraktion und Akkumulation von Nutzerdaten nicht berücksichtige. Einen ähnlichen Vorbehalt bringt Röhle gegenüber dem kommunikationswissenschaftlichen Ansatz, Suchmaschinen als Gatekeeper zu analysieren,29 und dem technikdeterministischen Verständnis von Suchmaschinen, die das Internet als Machtmaschinen kolonisierten.30 Stattdessen schlägt Röhle vor, mit dem Konzept des Dispositivs eine Vorstellung verteilter Macht in den Blick zu nehmen und nicht „schon im Vorhinein die Macht allein bei der Technik oder dem Nutzer zu verorten“.31 Welche Rolle, so ist hier anschließend zu fragen, ist den Benutzer(innen) in den Informationsräumen zugedacht?

Informationsräume und die Rolle der User Für die Wissenschaftler/innen, die für Ihre Arbeit den wissenschaftlichen Informationsraum nutzen wollen, bedeutet diese Differenzierung in verschiedene Informationsräume zunächst einmal, dass sie über jeweils spezifische Fähigkeiten zu deren effizienter Nutzung verfügen müssen. Der erfolgreiche Umgang mit dem Informationsraum ist nicht mehr in erster Linie abhängig von der Kenntnis der Ordnungssysteme, welche die Informationen organisieren, sondern von der Geschicklichkeit, sinnvolle Kombinationen von Zeichenketten zu generieren. Bei der Bibliothek werden die Benutzer angehalten, sich in einer Einführung zeigen zu lassen, wie sie in den Informationsraum einzutreten und 27 Machill/Beiler: Macht der Suchmaschinen. 28 Röhle: „Machtkonzepte in der Suchmaschinenforschung“, S. 129. 29 Beispielsweise bei Wolling: „Suchmaschinen – Gatekeeper im Internet“, und Machill u.a.: Transparenz im Netz. 30 Röhle bezieht sich hier auf Lehmann u.a.: „Zehn Prinzipien der neuen Wissensordnung“. 31 Röhle: „Machtkonzepte in der Suchmaschinenforschung“, S. 139.

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ihn zu nutzen haben: wo sich die Kataloge befinden, wie darin gesucht werden kann, wie man die Bücher bestellen und wo man sie abholen kann. Die Suchmaschine bietet keine solche Einführung, die Benutzer(innen) verlangen auch keine. Doch im algorithmisch-maschinell organisierten Informationsraum ist der Erfolg bei der Suche abhängig von der Kompetenz des Benutzers und der Benutzerin, eine zielführende Suchabfrage zu formulieren. Die beobachtete Praxis bei der Nutzung von Suchmaschinen ist, zumindest in den Augen vieler Wissenschaftler/innen, die noch im Umgang mit dem fachprofessionell organisierten Informationsraum sozialisiert wurden, ohnehin erschreckend wenig elaboriert, ja direkt simpel: In der Mehrheit der Fälle werden versuchsweise Zeichenketten eingegeben und es wird die erste Ergebnisseite überflogen, bevor die Suchabfrage variiert wird.32 Daran schließt die Bewertung der Informationen an, die als Ergebnis einer Volltext-Suche ausgeworfen werden. Die qualifizierte Leistung beim Prozess der Informations-Organisation, einst von Fachpersonal erledigt, wird an die User delegiert. Und die Qualität dieser individuellen Leistung wird zusehends durch die Fähigkeit zur Informationsfilterung, ja sogar der Informationsabwehr bestimmt.33 In der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie34 besitzt nicht mehr die Information ökonomischen Wert, sondern die Aufmerksamkeit, welche die einzelnen Nutzer(innen) diesen Informationen zuwenden. Es erstaunt daher nicht, dass sich Google für die User und ihr Verhalten im Informationsraum interessiert.35 Im community-basiert erstellten Informationsraum nehmen die Nutzer(innen) die Organisation der Informationen, ja bisweilen sogar die Erstellung der Informationen (Wikipedia) selbst vor. Da im Gegensatz zum fachprofessionell erstellten Informationsraum keine fachlichen Vorkenntnisse zur Gestaltung oder Nutzung des community-basierten Informationsraums nötig sind, kann buchstäblich jede und jeder darin tätig werden. Daher wird beim Web 2.0 ei32 Erlhofer hat die Strategien bei der Nutzung von Suchmaschinen untersucht. Diese Untersuchung war allerdings nicht auf wissenschaftliche Nutzung beschränkt. Rund 60% der Suchabfragen verliefen nach einem der drei folgenden Muster: 1. eine Zeichenkette eingeben und den ersten Treffer auf der Ergebnisliste evaluieren, 2. Ergebnisliste evaluieren (3 bis 4 Treffer genauer anschauen) und Suche variieren (Eingabe einer abgeänderten Zeichenkette im Suchfenster); 3. verschiedene Links auf der Ergebnisliste der Suchmaschine anklicken, kurz ansehen und evaluieren und dann die Suche allenfalls variieren. Vgl. Erlhofer: Informationssuche im World Wide Web, S. 182-200. 33 Vgl. Degele: „Neue Kompetenzen im Internet“. 34 Vgl. Goldhaber: „The Attention Economy and the Net“. 35 Vgl. Fabos: „The Commercial Search Engine Industry“, S. 194.

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nerseits das Potential sich selbst organisierenden Wissens gelobt,36 das frei von ökonomischen Interessen großer Firmen sei, andererseits aber die Dominanz von Laienwissen oder die Huldigung des „cult of the amateur“37 kritisiert. Bei der Debatte um die Deutungshoheit in den Informationsräumen, besonders im community-basiert organisierten, wird meist vergessen, dass die Web 2.0-Technologien auch Wissenschaftler/innen Möglichkeiten in die Hand geben, sich zu vernetzen und den Informationsraum mit gleichgesinnten Partner/innen nach eigenen Kriterien und Interessen zu organisieren. Der community-basiert organisierte Informationsraum ist der vielleicht wichtigste in der Wissenschaftskommunikation, und zwar vermutlich schon seit vordigitaler Zeit. Noch immer sind Telefonanrufe (mittlerweile per Skype) und Gespräche in der Kaffeepause bedeutungsvolle analoge Formen dieses Informationsraumes. Im digitalen Bereich haben E-Mails bereits eine zentrale Bedeutung für die Wissenschaftskommunikation eingenommen,38 Weblogs und community-Plattformen werden dies womöglich in naher Zukunft tun.

Informationsraum als Leitmedium? Welche Schlüsse können aus dieser Tour d’horizon aus der Perspektive des Denkmodells „Informationsraum“ gezogen werden? Sind wir Zeugen eines Wandels im gesellschaftlichen Informationsverarbeitungsprozess, bei dem Maschinen Menschen, Aggregatoren Verlage, browsergestütze Suchabfragen in Volltext-Indices das Blättern in Schlagwort- und Autoren-Katalogen ersetzen? Oder sind die Dispositive der wissenschaftlichen Kommunikation so flexibel, dass sie die im digitalen Wandel neu entstandenen Logiken zur Organisation von Informationen in den bestehenden Informationsraum einbinden können? Die Frage kann auch aus der Sicht der User gestellt werden: Ist für die Wissenschaftskommunikation die spezifische Organisationsform des benutzten Informationsraums nicht bedeutungslos, solange die Benutzer(innen) in der Lage sind, schnell und einfach zu den gewünschten wissenschaftlich relevanten Informationen zu gelangen? Viele Wissenschaftler(innen) mögen zur Ansicht neigen, dass es gleichgültig ist, ob ein wissenschaftlicher Text über Google Books oder in einer Bibliothek zugänglich gemacht, oder ob ein Zeitschriftenaufsatz auf einem Fachportal oder in Google Scholars bereitgestellt 36 Jüngst etwa Shirky: Here Comes Everybody. 37 Carr: The Amorality of Web 2.0. 38 E-Mail hat als Standard-Kommunikationsmittel die wissenschaftliche Kommunikation in den letzten 10 Jahren maßgeblich verändert, vgl. Thomas: „Wissenschaft in der digitalen Welt“, S. 18.

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wird. Die vorliegenden Untersuchungen zu Recherche-Strategien legen nahe, dass der Sucherfolg gleichermaßen vom Verfahrenswissen39 (wie nutze ich den Informationsraum?) wie auch vom inhaltlichen Wissen40 (wonach suche ich eigentlich?) abhängig sind. Mit anderen Worten: Nicht die Ausprägungen des Informationsraums entscheiden über das Gelingen von Wissenschaftskommunikation, sondern es zählt die Kompetenz der User, diese Informationsräume zu nutzen. Das Denkmodell des Informationsraums weist in zweifacher Hinsicht auf Ambivalenz hin. Einerseits zeigt das Modell die Ambivalenz bei der Bewertung des digitalen Wandels, die im Informationsraum deutlich wird. Tiefe und Dimensionalität des Wandels erschließen sich den Beobachter/innen nicht, weil sie selbst Teil des Geschehens sind und daher zuwenig Distanz zum Gegenstand der Beurteilung besitzen. Die Chancen und Risiken dieses Wandels, ja überhaupt Charakter und Reichweite des Wandels können sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Die Ambivalenz scheint auch auf in der Beurteilung des Denkmodells. Bestimmt der Informationsraum mit der Organisation der wissenschaftlichen Informationen in einer Art und Weise die wissenschaftliche Kommunikation, dass man ihn als Leitmedium bezeichnen könnte? Oder sind im Falle der Wissenschaft die Fähigkeiten der Benutzer(innen), sich des Informationsraums für ihre Zwecke zu bedienen, für eine erfolgreiche Kommunikation dermaßen ausschlaggebend, dass für den Informationsraum die Charakterisierung als Leitmedium nicht stichhaltig erscheint? Falls sich diese Frage für das hier vorgestellte Denkmodell überhaupt beantworten lässt, müsste der Informationsraum noch präziser umschrieben werden. Dabei wäre auch zu klären, wie das Denkmodell des Informationsraums, das hier mit dem Geltungsanspruch für die Wissenschaftskommunikation vorgeschlagen wurde, sich auf andere Bereiche gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse anwenden lässt.

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39 Degele: „Neue Kompetenzen im Internet“, S. 65. 40 Zur Bedeutung von Inhaltswissen für Sucherfolg bei Internet-Recherchen vgl. Hölscher: Informationssuche im Internet, S. 203-208.

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Leitmedium Plastik? Zur Konstruktion und Funktion eines Paradigmas im ästhetischen Diskurs um 1800 Als Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik die Bedeutung der Skulptur gegenüber der Poesie deutlich herabsetzte,1 reflektierten seine philosophischen Überlegungen zum Verhältnis der Künste zugleich den um 1800 längst vollzogenen medialen Wandel, infolgedessen das Ideal der Statue als paradigmatische Bildform durch die bewegten und lebendigen Bilder der Literatur abgelöst worden ist. Im ausgehenden 18. Jahrhundert stellt die Plastik als Kunstform2 kaum mehr jenes Leitmedium dar, als das sie im Blick auf die Antike wahrgenommen wurde. Dennoch wird sie im ästhetischen Diskurs dieser Zeit noch als ideales Leitmedium deklariert.3 Vor allem Winckelmanns Schriften und die daran anschließende Kunstpolitik des Weimarer Klassizismus4 erklärten die Plastik zum bevorzugten Medium des klassischen Kunstideals.5 Die Plastik nimmt auf diese Weise die Diskursfunktion eines Leitmediums ein, ohne de

1

„In dieser Rücksicht wird die Skulptur hauptsächlich gegen die Poesie zurücktreten müssen. Zwar überwiegt in der bildenden Kunst die plastische Deutlichkeit, in der das Leibliche vor unseren Augen steht, aber auch die Poesie kann die äußere Figur des Menschen beschreiben, sein Haar, Stirne, Wange, Wuchs, Kleidung, Stellung usf., freilich nicht mit der Präzision und Genauigkeit der Skulptur; doch was ihr hierin abgeht, ergänzt die Phantasie, die außerdem für die bloße Vorstellung nicht solcher festen und ausgeführten Bestimmtheit bedarf und uns den Menschen vor allem handelnd, mit allen seinen Motiven, Verwicklungen des Schicksals, der Umstände, mit allen seinen Empfindungen, Reden, Aufdeckungen seines Inneren und äußeren Begebenheiten vorführt. Dies vermag die Skulptur entweder gar nicht oder nur in sehr unvollkommener Weise, da sie weder das subjektive Innere in seiner partikularen Innigkeit und Leidenschaft noch wie die Poesie eine Folge von Äußerungen darstellen kann, sondern nur das Allgemeine der Individualität, soweit der Körper es ausdrückt, und etwas Sukzessionsloses in einem bestimmten Moment und dieses bewegungslos ohne lebendige fortschreitende Handlung gibt.“ (Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 353f.).

2

Im Folgenden verwende ich den Begriff der Plastik in einem weiten Sinn, der das Plastische vor allem als eine dreidimensionale Kunstform auffasst. Vgl. hierzu Dongowski: „Plastisch“.

3

Vgl. hierzu insbes. Liebsch: Geburt der ästhetischen Bildung.

4

Vgl. hierzu auch Dönike: Pathos, Ausdruck und Bewegung.

5

„Plastisch ist in der klassisch-romantischen Ästhetik die Formulierung der Kunst als Ideal auf der Ebene des Stils.“ (Dongowski: „Plastisch“, S. 815).

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facto ein solches darzustellen.6 Diese ästhetischen Diskurs-Strategien zeitigen aber einen ganz anderen Effekt in dem eigentlichen Leitmedium dieser Zeit: der Literatur. Das Paradigma der Plastik wird im literarischen Diskurs produktiv angeeignet, insofern die Darstellungsform der Statue als Modell einer Medientransgression inszeniert und lesbar gemacht wird. In literarischen und kunsttheoretischen Texten fungiert die Plastik immer auch als Transfermedium zwischen Literatur und bildender Kunst. Im Folgenden wird dieser ästhetischen und literarischen Konstruktion des Leitmediums Plastik nachgegangen. Es wird die These verfolgt, dass das Paradigma der Plastik im ästhetischen Diskurs um 1800 die Position eines fingierten oder fiktionalen Leitmediums einnimmt, das als rhetorischer Stellvertreter für das Leitmedium Literatur fungiert. Dabei soll zum einen die Konstruktion des Leitmediums Plastik am Beispiel von Winckelmanns Statuen-Beschreibungen und Herders Theorie der Plastik dargestellt und zum anderen anhand von Goethes „Laokoon“-Aufsatz und Eichendorffs Marmorbild die Funktion des Leitmediums Plastik für den literarischen Diskurs um 1800 aufgezeigt werden.

1

Die Konstruktion des Leitmediums Plastik

Winckelmanns Statuenbeschreibungen Auf die besondere Bedeutung der Plastik für seinen Begriff der idealischen Schönheit weist Winckelmann bereits in seiner 1755 erstmals erschienenen Schrift Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst hin. Das Plastische ist bei Winckelmann mit der schönen Bildung des menschlichen Körpers verbunden.7 Hierbei unterscheidet er zwischen individueller und idealischer Schönheit. Für Winckelmann wird eine Plastik […] individuell schön dann, wenn sie anhand eines Modells ausgearbeitet wird, idealisch schön hingegen, wenn sie die körperlichen Vorzüge mehrerer Modelle zu einer Einheit zusammenschließt.8 Die Vorstellung der Plastik als Verkörperung der idealischen Schönheit bildet mithin das unausgesprochene Zentrum von Winckelmanns Überlegungen. 6

Unter Leitmedium verstehe ich in diesem Kontext ein im ästhetischen Diskurs dominantes Dispositiv, das zugleich die Strukturen anderer Kunstmedien wesentlich beeinflusst.

7

Vgl. Liebsch: Geburt der ästhetischen Bildung, S. 57-76.

8

Ebd., S. 67.

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Sein prominentes Diktum von der „edle[n] Einfalt und stille[n] Grösse der Griechischen Statuen“9, das anhand der Laokoon-Gruppe entfaltet wird, bezieht sich schließlich explizit auf eine Skulptur. Allerdings spricht Winckelmann in diesem Kontext nicht von der Plastik als Form, sondern von dem Meer als Analogon des Ausdrucks der Plastik: Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck: So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele.10 Das Paradigma der Statue erscheint hier in der Metaphorik des Meeres, die sich als Widerstreit von Tiefe und Oberfläche darstellt. Die Tiefe des Meeres signifiziert eine stille Größe, die sich gegen das Pathos der Oberfläche absetzt. In Winckelmanns weiteren Ausführungen zur Laokoon-Gruppe wird das Gesicht des Laokoon mit der Qualität der Tiefe des Meeres parallelisiert, wohingegen am „schmertzlich eingezogenen Unter-Leib“11 das Pathos der Meeresoberfläche ablesbar wird. So drückt sich das ästhetische Ethos von Winckelmanns früher Schrift paradoxerweise im Bild einer Naturgewalt aus. Das Meer wird zum paradigmatischen Ausdruck sowohl einer ästhetischen Anschauung als auch einer Form des guten Lebens. Dass für Winckelmann die Meeres- und Wasser-Metaphorik in seiner Abhandlung kein zufälliges Einsprengsel darstellt, zeigt sich noch an einem anderen wichtigen Argument der Abhandlung. Der herausragende Status, dem Winckelmann der Plastik in seiner frühen Schrift zukommen lässt, wird schließlich durch die Beschreibung des Wasserkastenverfahrens, das angeblich Michelangelo für die Herstellung seiner Statuen genutzt hat, unterstrichen: Michael Angelo nahm ein Gefäß mit Wasser, in welches er sein Modell von Wachs oder von einer harten Materie legte: Er erhöhete dasselbe allmählig bis zur Oberfläche des Wassers. Also entdeckten sich zuerst die erhabenen Theile, und die vertieften waren bedeckt, bis endlich das gantze Modell blos und ausser dem Wasser lag.12

9

Winckelmann: Kleine Schriften, S. 45.

10 Ebd., S. 43. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 50.

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Winckelmann bezieht sich hierbei auf eine Stelle aus Vasaris Künstler-Viten. Vasaris Beschreibung erscheint ihm aber zu ungenau, und er legt daher eine eigenständige Darstellung der Wasserkastenmethode vor. Demnach wird das Modell in einen viereckigen Behälter gelegt, der anschließend mit Wasser gefüllt wird. Der Behälter wird mit Maßeinheiten versehen, die in einem vergrößerten Maßstab auf den ebenfalls viereckigen Marmorblock übertragen werden. Nun wird das Modell in dem Wasserkasten nicht angehoben, sondern es wird sukzessive Wasser aus dem Behälter abgelassen. Die jeweils über der Wasseroberfläche sichtbar gewordenen Teile des Modells werden dann von dem Bildhauer nacheinander am Stein herausgearbeitet. Winckelmann sieht in der Wasserkastenmethode eine Alternative zu dem zu seiner Zeit üblichen Bleifaden-Verfahren, das er vorweg beschreibt und als zu unbestimmt kritisiert.13 Michelangelo habe die Methode, nach der die Griechen gearbeitet haben, entdeckt, die dann aber verloren gegangen sei: Michael Angelo hat einen vor ihm unbekannten Weg genommen, und man muß sich wundern, da ihn die Bildhauer als ihren grossen Meister verehren, daß vielleicht niemand unter ihnen sein Nachfolger geworden. Dieser Phidias neuerer Zeiten und der gröste nach den Griechen ist, wie man vermuthen könte, auf die wahre Spur seiner grossen Lehrer gekommen, wenigstens ist kein anderes Mittel der Welt bekannt geworden, alle möglich sinnlichen Theile und Schönheiten des Modells auf der Figur selbst hinüber zu tragen und auszudrücken.14 Winckelmann erscheint in dieser Darstellung als ein zweiter Entdecker der ursprünglichen Technik der Griechen. Sein Rekonstruktionsversuch wird für ihn somit zum Paradigma der idealischen Nachahmung. Diese vermeintlich ursprüngliche Technik der Bildhauerei beruht jedoch auf einer Fehlinterpretation der Vasari-Stelle. Carl Justi hatte bereits auf Winckelmanns Fehldeutung aufmerksam gemacht und den ganzen von Winckelmann unternommenen Rekonstruktionsversuch verworfen.15 Winckelmanns Darstellung ist insofern eher eine kreative kunsthistorische Fiktion als die Beschreibung einer ursprünglichen künstlerischen Technik. Sie kongruiert – und dadurch weist sie sich bereits als fiktive und konstruktive Theorie der Plastik aus – mit Winckelmanns ästhetischen Grundsätzen. Der in dem Laokoon-Kommentar vor-

13 Vgl. ebd., S. 49f. 14 Ebd., S. 50. 15 Vgl. Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen, Bd. 1, S. 379-385.

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genommene und für Winckelmann zentrale Vergleich mit dem Wasserelement wird hier nochmals anschaulich. Das Meer erscheint nun in der Form des Wasserkastens als Medium, welches die Herstellung der Skulptur ermöglicht. Erstaunlich ist an Winckelmanns Rekonstruktionsversuch weniger die Tatsache, dass er aus einer Textstelle falsche Schlüsse gezogen hat, sondern dass er diesem letztlich technischen Aspekt ein solches Gewicht zuspricht. M.E. lässt sich dieses Moment in Winckelmanns ästhetischen Überlegungen durch eine Bemerkung Justis erhellen, die das Paradox der Bildnerischen in der Plastik zum Ausdruck bringt: Die Statue in Marmor und Erz, obwohl allein für das Auge der Welt für die Dauer bestimmt, ist vielfach ein Werk des Fleißes der Hilfsarbeiter, ein Werk von Cirkel und Lineal. Die schaffende Thätigkeit des Meisters, der Antheil des Genies findet seinen Spielraum zum großen Theil in der Herstellung jenes vergänglichen Modells. Das Denkmal wird zu einer Copie dieses Modells: die Übertragung des Modells auf den Marmor ist es, die den technischen Scharfsinn beschäftigt.16 Die Übertragung wäre demnach die eigentlich künstlerische Tätigkeit, die die Marmorstatue als solche erschafft. Es geht nicht um die konkrete technische Ausführung, sondern um die produktive Imagination eines Kopiervorgangs. Eine solche produktive Vorstellung einer idealischen Kopie hat Winckelmann mit seiner fiktiven Wasserkastenmethode zweifellos vorgelegt. In seiner Theorie der Plastik, die so sehr das Idealische des Dargestellten hervorhebt, wird auch das technische Verfahren noch idealisch. Das Idealische stellt sich dabei als Figuration der Venus Anadoymene dar. Denn die Produktion der Statue ist als eine Art Meeresgeburt lesbar. Wie die Venus Anadoymene entsteht die Plastik aus dem Wasserelement. Die Winckelmannsche Wasserkastenmethode komponiert mithin die Geburt der Venus mit der Meeresmetapher der stillen Größe und den Statuen der Griechen und Michelangelos. Winckelmann erwähnt die Figur der Venus Anadoymene bereits am Anfang seiner Schrift, wenn er die Darstellung des nackten Körpers aus der kulturellen Praxis der griechischen Spiele herleitet und legitimiert: Phyrne badete sich in den Eleusinischen Spielen vor den Augen aller Griechen, und wurde beym Heraussteigen aus dem Wasser den Künstlern das Urbild einer Venus Anadyomene.17

16 Ebd., S. 379. 17 Winckelmann: Kleine Schriften, S. 34.

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Diese Urszene einer mythischen Anschauungs- und Darstellungsweise präfiguriert gewissermaßen das von Winckelmann später eingeführte Verfahren zur Herstellung von Skulpturen. Die Geburt der Plastik aus dem Geist des Wasserkastens bildet sicherlich einen der Grundsteine für Winckelmanns sehr eigene Mythologie der Bilder und des Bildnerischen. Denn auch seine Statuenbeschreibungen setzen sich zumeist aus einem Spektrum mythischer Narrative zusammen. Die Wandlungsfähigkeit seiner Beschreibungskunst lässt sich vor allem an den großen Beschreibungen der Statuen im Belvedere ablesen. Winckelmanns Beschreibungen der Statuen im Belvedere erscheinen in besonderer Weise geeignet, um die Funktion der Plastik im ästhetischen Diskurs um 1800 zu untersuchen. Sie gehören zweifelsohne zu den einflussreichsten Ekphrasen dieser Zeit. Ernst Osterkamp hat deutlich gemacht, welche Wandlungen vor allem die Beschreibungen des Torso, des Apollo und des Laokoon in Winckelmanns Ästhetik durchlaufen haben. Waren in den frühen Fassungen der Belvederehof als Ausstellungs- und Versammlungsort der idealischen Kunst und eine damit verknüpfte fiktive Redesituation für seine Ästhetik der Beschreibung zentral, so werden die Ekphrasen im Kontext der 1764 erstmals erschienenen Geschichte der Kunst des Alterthums aus diesem lokalen Zusammenhang herausgelöst und in den Rahmen eines historischen Lehrgebäudes eingefügt.18 Am Anfang seines in Rom begonnenen Projektes der Statuenbeschreibung stand der Gedanke, die Erkenntnis der Schönheit durch das Medium der Beschreibung zu vermitteln. Winckelmann nennt diese Form der Beschreibung die Beschreibung nach dem Ideal.19 Beschreibungen wie die des Torso im Belvedere vermitteln also weniger die sichtbaren Formen, als vielmehr die unsichtbaren Ideen, das Ideal der Kunst. Ihre Funktion besteht dementsprechend nicht in der Form des Anschauungsersatzes, sondern die Beschreibungen „ergänzen, intensivieren und vertiefen die Anschauung“20. Insbesondere die Beschreibung des Torso macht deutlich, dass es Winckelmann nicht um Anschauungsersatz geht. Seine Beschreibung fungiert vielmehr als „imaginierte Restaurierung“21 des ganzen Kunstwerks: Mich deucht, es bilde mir der Rücken, welcher durch hohe Betrachtungen gekrümmet scheinet, ein Haupt, welches mit einer frohen Er18 Vgl. Osterkamp: „Winckelmanns Beschreibungen der Statuen im Belvedere“, S. 450. 19 „Die Vorstellung einer jeden Statue sollte zween Theile haben: der erste in Absicht des Ideals, der andere nach der Kunst“ (Winckelmann: Kleine Schriften, S. 169). Vgl. hierzu auch Drügh: Ästhetik der Beschreibung, S. 141-150. 20 Osterkamp: „Winckelmanns Beschreibungen der Statuen im Belvedere“, S. 445. 21 Ebd., S. 446.

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innerung seiner erstaunenden Thaten beschäfftiget ist; und indem sich so ein Haupt voll von Majestät und Weisheit vor meinen Augen erhebet, so fangen sich an in meinen Gedanken die übrigen mangelhaften Glieder zu bilden: es sammlet sich ein Ausfluß aus dem Gegenwärtigen und wirket gleichsam eine plötzliche Ergänzung.22 Auffällig an Winckelmanns Statuenbeschreibungen im Belvedere ist schließlich der rhetorische Gestus, der u.a. an die Eikones des Philostrat erinnert. Osterkamp erkennt vor allem in den Pariser Entwürfen zur Beschreibung des Apollo im Belvedere und in den früheren Fassungen der Torso-Beschreibung eine grundlegende rhetorische Struktur. So heißt es etwa im zweiten Entwurf des Pariser Manuskriptes: Gehe vorher mit deinem Geist in das Reich uncörperlicher Schönheiten, […] um dich zur Betrachtung dieses Bildes zuzubereiten. Sammle Begriffe erhabener Dichter und versuche ein Schöpfer einer himmlischen Natur zu werden und wenn du in dir selbst ein Bild erzeuget und eine vollkomnere Gestalt […] als dein Auge gesehen, hervor gebracht hast, als denn trit hinzu zu dem Bilde dieser Gottheit.23 In dieser Simulation einer Redesituation wird der Leser als Zuhörer angesprochen, der – wie bei Philostrat – an einer Vorführung der Redekunst teilhat. Diese Form einer Prunkrede ist bei den Statuenbeschreibungen in der Geschichte der Kunst nicht mehr gegeben. Den Grund sieht Osterkamp in dem veränderten Argumentationsmodus der Geschichte der Kunst, dem sich nun die Beschreibungen anpassen mussten. Winckelmann stellte also in seinem Opus magnum den ursprünglichen Plan, durch die Beschreibungen der Statuen im Belvedere das Ideal und die Schönheit als das Wesentliche der Kunst zu begründen, zugunsten eines kunstgeschichtlichen Begründungszusammenhangs zurück. An die Stelle einer überzeitlichen Darstellung des Ästhetischen trat nunmehr die historische Rekonstruktion des Schönen in der Kunst: Vor dem Denkhorizont der Kunstgeschichte veränderte sich der argumentative Status der Beschreibungen grundsätzlich: Auch die prominentesten Zeugnisse antiker Kunstübung werden hier zu Belegstücken in einem kunsthistorischen Beweisgang, in deren ästhetischer

22 Winckelmann: Kleine Schriften, S. 172. 23 Ebd., S. 275f.

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Gestalt sich die geschichtlichen Produktionsbedingungen von Kunst spiegeln.24 Entgegen Osterkamps Annahme einer grundsätzlichen argumentativen Assimilation, bewahren aber die Statuenbeschreibungen in der Geschichte der Kunst durchaus ihren eigenen Stil. Als solche bleiben sie gegenüber dem historischsystematischen Gestus der kunsthistorischen Lehrschrift fremd. So fällt etwa die Beschreibung des Apollo aus dem historisch argumentierenden Modus der Schrift heraus. Zwar wird hier nicht, wie im Florentiner Manuskript,25 auf den Ausstellungsort verwiesen, aber wiederum wird der Leser als konkretes Gegenüber angesprochen: „Gehe mit deinem Geist in das Reich unkörperlicher Schönheiten […]“26. Der grundsätzlich rhetorische und narrative Gestus der frühen Fassung bleibt insofern erhalten. Es ist zwar keine bewusst inszenierte Prunkrede wie bei Philostrat, aber die Rhetorizität der Beschreibung entfernt sich deutlich von den historischen und archäologischen Erwägungen des Gesamtkontextes der Geschichte der Kunst. Vielmehr markiert die „pygmalionische Metaphorik […] eine spezifische Illusionserwartung“27. In der Beschreibung werden auch Winckelmanns Begriffe des Schönen und des Idealischen expliziert – wenngleich sie nicht in einen übergeordneten Argumentationsmodus eingegliedert sind. Die idealische Schönheit, das wird insbesondere in der Beschreibung des Apollo deutlich, ist eine zusammengesetzte Schönheit. Dort heißt es: […] die einzelnen Schönheiten der übrigen Götter treten hier, wie bey der Pandora, in Gemeinschaft zusammen. Eine Stirn des Jupiters, die mit der Göttinn der Weisheit schwanger ist, und Augenbranen, die durch ihr Winken ihren Willen erklären. Augen der Königinn der Göttinnen mit Großheit gewölbet, und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem geliebten Branchus die Wollüste eingeflößet.28 Karl Philip Moritz hat bekanntlich in seiner Schrift In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können? gerade Winckelmanns Apollo-Beschreibung in das Zentrum seiner Kritik der Kunstbeschreibung gestellt. Dort wo Winckelmann

24 Osterkamp: „Winckelmanns Beschreibungen der Statuen im Belvedere“, S. 458. 25 „Der Apollo so die erste Statue zu Linker Hand dieses Hofes, so ehemahls ein Garten gewesen ist, ist der Apollo genannt de Belvedere.“ (Winckelmann: Il Manoscritto Fiorentino, S. 5). 26 Winckelmann: Geschichte der Kunst, S. 781. 27 Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 21. 28 Winckelmann: Kleine Schriften, S. 267f.

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gerade die Einheit und Lebendigkeit des Werkes zu erfahren meint, sieht Moritz ein Werk der Zerstörung: Umrisse vereinigen, Worte können nur auseinander sondern; sie schneiden in die sanfteren Krümmungen der Konturen viel zu scharf ein, als daß diese nicht darunter leiden sollten. […] Auch macht die Winckelmannsche Beschreibung aus dem Apollo eine Komposition aus Bruchstücken, indem sie ihm eine Stirn des Jupiters, Augen der Juno, usw. zuschreibt; wodurch die Einheit der erhabnen Bildung entweihet, und ihr wohltätiger Eindruck zerstört wird.29 Für Moritz waren Winckelmanns Ausführung Indiz für die Zerstückelung der Einheit des vollendeten Werkes. In der Tat erscheint der Apoll als eine idealische Version von Frankensteins Monster: die schönsten Glieder werden hier zu einem Werk zusammengefügt. In diesem Sinn beruht Winckelmanns Apoll auf einem Akt der Zerstückelung. Zergliedert wird aber nicht die Figur des Apollo, sondern die anderen Götter, aus denen sich der Körper des Dargestellten in Winckelmanns Rede generiert. Was Moritz entgeht, ist der rhetorische Gestus, der Winckelmanns Text auszeichnet. Ihm geht es ja gar nicht um Beschreibung, sondern um eine fiktionale Vergegenwärtigung und Belebung der Statue: „Winckelmanns pygmalionische Ekphrasis geht daher den Weg der hermeneutischen Vergegenwärtigung.“30 Seine Beschreibung ist eigentlich eine Erzählung, die die Plastik dem Leser vor Augen stellen soll. Nicht durch Beschreibung, sondern durch Narration wird die Plastik zu einem Medium, das in Winckelmanns Sinn leitend, nämlich idealisch, werden kann. Der Grundstein des Apoll ist dementsprechend nicht der Marmor, sondern das Ideal: Der Künstler derselben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebauet, und er hat nur eben so viel von der Materie genommen, als nöthig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen.31 Die Statue des Apoll ist somit als Plastik wesentlich idealisch. Daher ist nicht nur die Beschreibung des Apoll idealisch, sondern die Statue selbst ist als Leitmedium eine von Winckelmanns Geschichte der Kunst narrativ erzeugte Idee. So folgt auf eine kurze Lobrede auch schon bald die bereits erwähnte Aufforderung an den Leser sich in „das Reich unkörperlicher Schönheiten“32 zu bege-

29 Moritz: „In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?“, S. 1002f. 30 Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 23. 31 Winckelmann: Geschichte der Kunst, S. 781. 32 Ebd.

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ben. In diesem Reich des Unsichtbaren und der Imagination wird der Leser als Leser selbst zum „Schöpfer einer himmlischen Natur“33. Nur dort spielt sich die von Winckelmann inszenierte Szene des Apoll ab, der den Python verfolgt hat. Nur im Kontext der unkörperlichen Bilder wird die Vorstellung eines idealischen Apoll möglich, der die Stirn des Jupiter und die Augen der Juno besitzt, ohne die von Moritz indizierte Vorstellung einer Zerstückelung der körperlichen Ganzheit hervorzurufen. Um einen solchen Gang zum imaginären Leitmedium Plastik zu vollziehen, ist es nötig, alles zu vergessen, auch die historische Argumentationslinie der Geschichte der Kunst: Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen.34 Für Winckelmann wird die Plastik als Leitmedium seiner Ästhetik nur in der Form eines lebendigen Mediums, eines imaginären Animismus der Statue möglich. Die pygmalionische Illusion der Beschreibung besteht einmal mehr in der Komposition mythologischer Narrative. Hier sind es die mythischen Szenen des Apoll und des Pygmalion, die die lebendige Repräsentation der Statue im Text ermöglichen: Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben, wie diejenigen, die ich wie vom Geiste der Weissagung aufgeschwellet sehe, und ich fühle mich weggerückt nach Delos und die lycischen Hayne, Orte, welche Apollo mit seiner Gegenwart beehrte: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit.35 Das Bild, das hier Leben gewinnt, ist vor allem Winckelmanns Erzählung selbst. Das Bild der Plastik erweist sich in seiner Narration als selbstreferentieller Verweis auf das Erzählen des Bildlichen. Diese Form der Repräsentation des Bildes ist freilich nicht beschreibbar: Wie ist es möglich es zu malen und zu beschreiben! Die Kunst selbst müßte mir rathen, und die Hand leiten, die ersten Züge, welche ich hier entworfen habe künftig auszuführen.36

33 Ebd. 34 Ebd., S. 783. 35 Ebd. 36 Ebd.

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Winckelmann nimmt mithin das Unbeschreibbarkeitspostulat, das Moritz später gegen ihn zu wenden versucht, hier schon vorweg. Dort wo das Malen scheitert, tritt das Erzählen auf den Plan: dass die Allegorie der Kunst nun dem Autor zur Hilfe kommt, ist nämlich selbst schon eine weitere in die Zukunft projizierte mythische Narration. Für Winckelmann ist es die Imagination, die das Medium Plastik zu einem Paradigma der Ästhetik werden lässt. Lebendigkeit und Bewegung sind die Prädikate, die die Statue zu einem Begriff des Leitmediums führen. Während Winckelmann aber die imaginierte Plastik durch das Paradigma des Sehens entwirft, setzt Herder in seiner Theorie der Plastik auf das Gefühl.

Herders Theorie der Plastik Im Vierten Kritischen Wäldchen (1769) und in dem parallel entstandenen Beitrag zur Plastik entwickelt Herder eine Theorie der Plastik, die die Vorstellung einer unsichtbaren Plastik, die bei Winckelmann bereits anklingt, konsequent umsetzt. Das bei Winckelmann noch dominierende Sinnesorgan, das Auge, wird aber in Herders Überlegungen durch die fühlende Hand abgelöst. Diese Wende von der Kategorie des Sehens zu der des Gefühls nimmt ihren Ausgang von der Frage, ob der Blinde einen Begriff des Schönen zu erlangen vermag. Ausgehend von Diderots Überlegungen zum ästhetischen Vermögen eines Blinden in dem Lettre sur les Aveugles37 entfaltet Herder einen Darstellungsbegriff, der das Gefühl an die Stelle des visuellen Sinns setzt. Die Plastik wird demzufolge in ihrer Körperlichkeit anders als die Malerei erst durch den Modus des Fühlens und Tastens adäquat erfasst. Während das Medium der Malerei für Herder nur Flächen darstellt, ist das Medium der Plastik die Kunstform, die das Körperliche zu repräsentieren vermag. Der Körper ist erst durch die Vorstellung des Fühlens – nicht aber durch ein tatsächliches Betasten der Statue – erfahrbar.38 Herder wendet sich damit implizit auch gegen Lessings Bestimmung der Leitmedien Poesie und Malerei, als Darstellungen von Handlungen in der Zeit einerseits und Darstellungen von Körpern im Raum andererseits.39 37 Vgl. Diderot: „Lettre sur les Aveugles“. 38 Herders Überlegungen zur Plastik sind deutlich dem französischen Sensualismus verpflichtet. Insbesondere Condillacs Traité des Sensations ist hier zu nennen. Condillacs Abhandlung geht von der Fiktion einer empfindenden Statue aus. Auf diese Weise wird die Plastik selbst zugleich zum fühlenden und erkennenden Medium der sensualistischen Wahrnehmungstheorie (vgl. Condillac: Abhandlung über die Empfindung). Vgl. hierzu auch Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 61-66. 39 Vgl. Lessing: „Laokoon“, S. 116.

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Herders im Vierten Kritischen Wäldchen unternommene Kritik an Riedels Theorie der schönen Künste und Wissenschaften impliziert zugleich einen Paradigmenwechsel in der Ästhetik. Herders „Ästhetik der Fühlsamkeit“40 unternimmt nämlich eine Revision des Begriffs des Schönen unter dem Vorzeichen der Wahrnehmung. Für Herder ist bereits „die Sprache der Schönheit metaphorisch“41 verfasst: Er [der Begriff der Schönheit; P.B.] ist hier seiner Abstammung nach: denn schauen, Schein, Schön, Schönheit sind verwandte Sprösslinge der Sprache: er ist hier, wenn wir recht Acht geben auf seine eigentümliche Anwendung, da er sich bei Allem, was sich dem Auge wohlgefällig darbietet, am ursprünglichsten findet. Nach dieser ersten Bedeutung ist der Begriff der Schönheit ‚ein Phänomenon‘ und also gleichsam als ein angenehmer Trug, als ein liebliches Blendwerk zu behandeln.42 Für Herder ist aber nicht der Gesichtssinn, sondern der Tastsinn der ursprünglich ästhetische Sinn: Die Entwicklung der Kunst folgt nämlich der Genese der Sinne. Diese ursprünglicheste Kunst deren Analyse folglich am Anfang jeder Ästhetik stehen muss, ist die Plastik.43 Herder verweist in diesem Kontext auf die Erfahrungen eines Blindgeborenen, dem durch eine Operation das Sehen ermöglicht wurde: Am merkbarsten ward dieser Unterschied zwischen Gesicht und Gefühl, Flächen und Körperbegriffen an dem Blinden, dem Cheselden das Gesicht gab. […] Nun ward ihm sein Auge geöffnet, und sein Gesicht erkannte nichts, was er voraus durchs Gefühl gekannt hatte. Er sah keinen Raum, unterschied auch die verschiedensten Gegenstände nicht von einander; vor ihm stand, oder vielmehr auf ihm lag eine große Bildertafel. Man lehrte ihn unterscheiden, sein Gefühl sichtlich erkennen, Figuren in Körpern, Körper in Figuren verwandeln; er lernte und vergaß. ‚Das ist Katze! das ist Hund! sprach er, wohl, nun kenne ich euch, und ihr sollt mir nicht mehr entwischen!‘ sie entwischten ihm noch oft, bis sein Auge Fertigkeit erhielt, Figuren des Raums als

40 Fridrich: ,Sehnsucht nach dem Verlorenen‘, S. 178. 41 Ebd., S. 180. 42 Herder: „Viertes Kritisches Wäldchen“, S. 289f. 43 Fridrich: ,Sehnsucht nach dem Verlorenen‘, S. 182.

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Buchstaben voriger Körpergefühle anzusehen, sie mit diesen schnell zusammen zu halten, und die Gegenstände zu lesen.44 Der Gesichtssinn bedarf demnach, um die visuelle Wahrnehmung adäquat zu verstehen, einer Rückübersetzung in den von Herder als Gefühl bezeichneten haptischen Sinn. Dieser Transformationsprozess des ursprünglichen ästhetischen Sinns in das Reich der Sichtbarkeit wird von Herder als lesen bezeichnet. Das dem Medium der Plastik zugehörige Gefühl wird als lesbar markiert und somit zu einem Begriff der produktiven Einbildungskraft, die das Gefühl in ein Verfahren der Übertragungsarbeit eingliedert. Herders Rehabilitierung des Gefühls als eines ästhetischen Begriffs mündet schließlich in einer Gründung des Schönheitsbegriffs im Gefühl: Alle Schönheit der Körper, als Formen, ist also fühlbar; vom Gefühle sind alle Ästhetische Ausdrücke, die jene bezeichnen, genommen, sie mögen angewandt werden, wo sie wollen: rau, sanft, weich, zart, Fülle, Regung, und unendlich viel andre, sind vom Gefühle.45 Die Übertragungsarbeit, die Herders Ästhetik in Bewegung setzt, ist, wie Inka Mülder-Bach gezeigt hat,46 wesentlich durch die Korrelation und Opposition der Begriffe Hand und Auge gekennzeichnet. Für Herder tritt in der ästhetischen Erfahrung das Gefühl an die Stelle des Auges. Das Auge als Sinnesorgan wird aber nicht abgelöst, sonder es fungiert in der Weise der fühlenden und tastenden Hand: Warum spricht sie [die Hand; P.B.] lauter Gefühle? Und warum sind diese Gefühle, wenn sie nicht übertrieben sind, keine Metaphern? Sie sind Erfahrungen. Das Auge, das sie sammlete, war nicht Auge mehr, das Schilderung auf einer Fläche bekam: es ward Hand, der Sonnenstrahl ward Finger, die Einbildungskraft ward unmittelbare Betastung: die bemerkten Eigenschaften sind lauter Gefühle.47 Dieses Verfahren „einer imaginativen Verwandlung von Auge in Hand“48 ist keineswegs eine metaphorische Deutung.49 Die Sprache des Gefühls wird bei 44 Herder: „Plastik“, S. 246. 45 Herder: „Viertes Kritisches Wäldchen“, S. 298. 46 Vgl. Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 59-76. 47 Herder: „Viertes Kritisches Wäldchen“, S. 312. 48 Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 72. 49 So Fridrichs Lektüre dieser Stelle: „Indem Herder den Tastsinn selbst als metaphorisch deutet, wendet sich der vorhergehende Beweis, dass das Auge sich als

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Herder vielmehr als eigentliche, ursprüngliche Rede deutlich. Das, was bei Winckelmann und Lessing als ästhetischer Schein und Täuschung markiert ist, die Illusion der Lebendigkeit von Kunst, lässt sich bei Herder als „Wahrheit im Modus der Illusion“50 beschreiben. Herder greift durchaus auf Winckelmanns Beschreibungsästhetik zurück und unterstellt dieser bereits Ansätze zu einer Ästhetik der Plastik durchs Gefühl: Bemerket jenen stillen, tiefsinnigen Betrachter am Vatikanischen Apollo: er scheint auf einem ewigen Punkte zu stehen, und nichts ist weniger; er nimmt sich eben so viel Gesichtspunkte, als er kann, und verändert jeden in jedem Augenblick, um sich gleichsam durchaus keine scharfe, bestimmte Fläche zu geben. Zu diesem Zweck gleitet er nur in der Umfläche des Körpers sanft umhin, verändert seine Stellung, geht und kommt wieder; er folgt der in sich selbst umherlaufenden Linie, die einen Körper und die hier mit ihren sanften Abfällen das Schöne des Körpers bildet.51 Herder Projekt einer Ästhetik, die das Medium der Plastik in den Mittelpunkt stellt, berührt sich deutlich mit Winckelmanns Versuch einer idealischen Ästhetik der Statuenbeschreibung, wenn es darum geht, die Plastik als solche in einem imaginären Vorstellungsraum zu entwerfen. Herders Theorie der Plastik ersetzt das Auge als ästhetisches Paradigma durch die Hand und ermöglicht damit die Darstellung einer Ästhetik des imaginierten fühlbaren Körpers, die man auch eine Ästhetik der Blindheit nennen könnte. So entweicht aus den beiden großen theoretischen Entwürfen zur Plastik ausgerechnet das für die bildenden Künste so zentrale Dispositiv der visuellen Erfahrung. In den ästhetischen Abhandlungen von Herder und Winckelmann zeigt sich mithin selbst schon an, dass in dem Begriff der Plastik als Leitmedium die narrative Funktion des literarischen Diskurs um 1800 gemeint ist.

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Die Plastik im literarischen Diskurs um 1800

Winckelmanns Idealisierung der Plastik hat bekanntermaßen die Kunstanschauung des klassisch-romantischen Diskurses wesentlich beeinflusst. Während aber Goethe die pygmalionische Illusion der Winckelmannschen Statuenbeschreibung in seine Ästhetik integriert, wird bei den Romantikern der Topos Hand verhält, allerdings gerade ins Gegenteil.“ (Fridrich: ,Sehnsucht nach dem Verlorenen‘, S. 185). 50 Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions, S. 72. 51 Herder: „Viertes Kritisches Wäldchen“, S. 310f.

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der belebten Statue zum Sinnbild einer von Ambivalenzen gezeichneten vergangenen Kunstform. Gleichwohl sind beide Diskursformationen den von Winckelmann und Herder formulierten Einsichten verbunden. Auf sehr unterschiedliche Weisen lösen sie sich im Zeichen der Plastik vom Paradigma der Sichtbarkeit und öffnen sich einer Ästhetik der imaginierten Plastik. In Goethes „Laokoon“-Aufsatz wird dies unter der produktiven Illusionsbildung eines bewegten Marmorbildes möglich, in Eichendorffs Marmorbild entwickelt sich die imaginäre Entstehung der Statue analog zu Winckelmanns Geburtsmythen der Plastik.

Goethes „Laokoon“ Eine ganz eigene Ästhetik des Gefühls hatte Goethe in seinen Römischen Elegien etabliert. Die Differenz von Sehen und Fühlen, von Auge und Hand scheint darin aufgehoben zu sein: Und belehr ich mich nicht? wenn ich des lieblichen Busens Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab. Dann versteh’ ich erst recht den Marmor, ich denk’ und vergleiche, Sehe mit fühlendem Aug’, fühl mit sehender Hand.52 Das Paradigma der Plastik erweist sich hier als Symbiose von selbstreferentieller Poetik und pygmalionischer Erotik. Als theoretische Ausdifferenzierung und poetologischer Kommentar zu dieser Form einer Ästhetik des Plastischen lässt sich Goethes Text „Über Laokoon“ lesen. In dem 1798 erschienenen Beitrag hatte Goethe den Versuch unternommen, die viel diskutierte LaokoonGruppe einmal ohne Bezug auf den antiquarischen Diskursraum und vor allem ohne Referenz auf den mythischen Stoff zu beschreiben und auszulegen.53 Für ihn zeigt sich die Gruppe als Szene einer Familientragödie. Im Namen der Laokoon-Gruppe sieht er keine für das Bild wesentliche Bedeutung: So ist auch bei dieser Gruppe, Laokoon ein bloßer Name, von seiner Priesterschaft, von seinem trojanisch-nationellen, von allem poetischen und mythologischen Beiwesen haben ihn die Künstler entklei-

52 Goethe: „Römische Elegien“, S. 405 (zitiert nach dem Erstdruck im sechsten Stück des 1. Jahrgangs der Horen 1795). 53 Vgl. hierzu Brandes: „Goethes Schriften zur Kunst im Kontext der zeitgenössischen Laokoon-Diskussion“.

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det, er ist nichts von allem, wozu ihn die Fabel macht, es ist ein Vater mit zwei Söhnen, in Gefahr zwei gefährlichen Tieren unterzuliegen.54 Goethe genügt es aber nicht, die Laokoon-Gruppe nur visuell wahrzunehmen. Um die Plastik adäquat zu rezipieren, schlägt Goethe dem Leser ein Wahrnehmungsexperiment vor: Um die Intention des Laokoons recht zu fassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung, mit geschlossnen Augen, davor, man öffne sie und schließe sie sogleich wieder, so wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden. Ich möchte sagen, wie sie jetzt dasteht, ist sie ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblicke da sie gegen das Ufer anströmt.55 Goethe gibt hier Anweisungen für die Produktion eines inneren Trickfilms. Das fixierte Bild, das der Gegenstand der Betrachtung ist, wird für einen Moment in ein zeitliches Kontinuum der Bewegung übersetzt. Als Hinweis für den Kunstreisenden ließe sich diese Textstelle im Sinne einer Anweisung für einen optischen Selbstversuch verstehen. Für den Leser ist Goethes Bemerkung jedoch eine Trope des Rezeptionsvorgangs, die den Eindruck der Lebendigkeit hervorrufen soll. Diese imaginäre Animation der Statue dient – anders als die bewegten Bilder des Films – vor allem dem Verständnis des angeschauten Bildes, ist mithin Bestandteil eines durch das erzählte Sehen generierten hermeneutischen Verfahrens.56 Die Vorstellung eines bewegten und damit zugleich zeitlichen Bildes gehört dabei durchaus zum Rezeptionsvorgang der Bildwahrnehmung. Auf diese Weise schafft Goethe hier das, was Lessing der bildenden Kunst untersagt hat: er erzeugt Handlungen in bewegten Bildern. Der Begriff des Sehens erhält durch dieses Goethesche Experiment eine weitere Bedeutung für die Wahrnehmung von Kunst. Die Intention, so Goethe, 54 Goethe: „Über Laokoon“, S. 429. 55 Ebd., S. 493. 56 Ohne die Tätigkeit der Einbildungskraft, wie es Norbert Christian Wolf behauptet, ist dieses Verfahren freilich nicht denkbar. Zwar ist die „,Lebendigkeit‘ der Plastik“ in der Tat für Goethe „keine imaginative Zutat “ (Wolf: „Fruchtbarer Augenblick“, S. 392; Hervorh. v. mir; P.B.), die Einbildungskraft wird hier aber zum Ermöglichungsgrund eines Sehen des Unsichtbaren, einer Anschauung der abwesenden Bewegung. Gleichwohl lässt sich Goethes visuelles Experiment nicht ausschließlich als „optische Manipulation“ bezeichnen, wie es Mülder-Bach tut (MülderBach: „Bild und Bewegung“, S. 30). Das Sehexperiment hat aber durchaus Affinitäten zum romantischen Konzept der inneren Schau und der damit einhergehenden ,projektiven Einbildungskraft‘ (vgl. Vietta: Ästhetik der Moderne, S. 125ff).

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werde nicht allein durch das Da-Sein des Werkes deutlich, sondern durch den Akt des Sehens. Diese Form des Sehens impliziert ein Zusammengehen von visueller Wahrnehmung und produktiver Einbildungskraft. Wie bei Winckelmanns Beschreibung des Torso ergänzen hier die bewegten inneren Bilder die Wahrnehmung des Bildes zu einem ästhetischen Gesamteindruck der Plastik. Die Erkenntnis der Kunst impliziert also einen Konstruktionsprozess, der bei Goethe durch die Komposition von Sehen und Imagination hergestellt wird. Die Medialität der Kunst verschiebt sich bei Goethes Analyse des Laokoon somit von den Kunstformen zum Bildbetrachter, der zugleich zum Produzenten imaginärer Bilder wird. Dabei zeichnet sich Goethes poetisches Beschreibungsverfahren durch eine doppelte Metaphorik aus. Das Augenblickhafte der Szene übersetzt Goethe in die Naturmetaphern des Blitzes und der Welle, beides Ausdrucksformen des Transitorischen. Die stillgestellte Laokoon-Gruppe verweist aber nur mittelbar auf die Bewegtheit der Plastik. Denn die Fixierung des Blitzes und die Versteinerung der Welle bedeuten eine Stillstellung der Bewegung. Der bewegte Marmor, um den es ja eigentlich geht, wird erst durch die Imagination bewirkt, verbunden mit einer besonderen Form des Seh-Reizes. Zunächst ist die Laokoon-Gruppe noch als Gegenstand im Raum kenntlich, durch das zweimalige Schließen der Augen wird die Bewegung der Gruppe zum Gegenstand einer visuellen Erfahrung, die aber erst durch die Imagination erzeugt wird. Das Gesehene erweist sich hier als Effekt einer poetischen Darstellungsweise. Diese imaginative Erfahrung stellt Goethe dann aber wieder in den Kontext des unbewegten Bildes. Die Gruppe erscheint nun als versteinerte Bewegung. Doch ist diese Stillstellung der Bewegung nur vordergründig der Sinn dieser Darstellung. Der Begriff der Fixierung und der Versteinerung führt hier auf eine falsche Fährte, denn Goethes Interesse liegt im Moment der Veränderung, der unmöglich darzustellen ist. Das Vorübergehende ist das Undarstellbare, und in diesem Sinn sind auch die Metaphern des fixierten Blitzes und der versteinerten Welle zu verstehen: als Naturunmöglichkeiten, die erst in der poetischen Denkform wahr werden. Goethe geht es hier dezidiert um eine poetisierte Bildlichkeit. Im Kontext von Goethes Überlegungen ist zwar die idealische Kunstform Winckelmanns keineswegs leitend. Gleichwohl behält die Plastik bei Goethe den Status eines Leitmediums:

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Die Bildhauerkunst wird mit Recht so hoch gehalten, weil sie die Darstellung auf ihren höchsten Gipfel bringen kann und muß, weil sie den Menschen von allem, was ihm nicht wesentlich ist, entblößt.57 Die Plastik als Leitmedium wird aber auch bei Goethe vermittels einer Poetisierung der Statue erreicht. Erst durch die Komposition von projektiver Einbildungskraft und visueller Wahrnehmung wird die Ästhetik der Plastik erfahrbar, die durch metaphorische Operationen zur Darstellung gelangt.

Eichendorffs Marmorbild In Eichendorffs 1818 erschienener Novelle Das Marmorbild ist das klassizistische Paradigma der Plastik augenscheinlich an sein Ende gekommen. Im Kontext von Eichendorffs Erzählung wird die Statue zum Sinnbild einer vergangenen und abgestorbenen Kunstepoche. Erzählt wird die Geschichte des jungen Mannes Florio, der sich in eine Marmorstatue verliebt, die sich unter seinen Blicken zu beleben scheint und ihm im weiteren Handlungsverlauf als schöne und begehrenswerte Frau entgegentritt. Erst am Ende der Geschichte wird er durch den Freund und Sänger Fortunato über den vermeintlich wahren Sachverhalt aufgeklärt. Die von ihm geliebte Frau ist demnach nur eine gespenstische Erscheinung der Venus, die mit diesem Trugbild junge Männer ins Verderben führen will. Als Florio seine Verblendung erkennt, wird er sich gleichzeitig seiner Liebe zu dem Mädchen Bianka gewahr, die nun als Figuration der Jungfrau Maria erscheint. Auch wenn die Schluss-Sequenz der Erzählung, der Geschichte eine vermeintliche Aufklärung zu geben scheint, sind die wahren Verhältnisse des Erzählten alles andere als gewiss.58 In jedem Fall wird aber die am Ende diagnostizierte Blindheit des Helden zugleich zum Ermöglichungsgrund der Erzählung. Erst durch seine Blindheit wird ihm die Statue zum lebendigen Bild. Seine visuelle Erfahrung muss mithin als ein imaginatives Sehen verstanden werden. So erscheint auch die ganze Urszene der Betrachtung der Plastik als eine durch die Einbildungskraft hervorgerufene Szene des Fühlens und des Gefühls, die zudem gleichzeitig die Wassergeburt der Plastik zur Darstellung bringt. Das Venusbild tritt erstmals bei Florios nächtlicher Wanderung in Erscheinung. Diese entscheidende Sequenz der Novelle wird von Träumen umrahmt. Nach einem Gartenfest, auf dem Florio die Bekanntschaft der neben 57 Goethe: „Über Laokoon“, S. 492. 58 Vgl. hierzu Brandes: „Das Leben der Bilder im Text“.

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der Venus drei wichtigsten Figuren gemacht hat (Fortunato, Bianka, Donati), träumt er von sich als Odysseus, der von Sirenen versucht wird und dessen Schiff unterzugehen beginnt. Aus diesem Albtraum erwachend drängt es Florio nach draußen. In seiner Erinnerung wirken noch die Feier und die Erscheinung Biankas nach, allerdings in verwandelter Form. Es deutet sich hier schon eine Metamorphose des schönen Frauenbilds an, als das er Bianka zunächst wahrgenommen hat: Die Musik bei den Zelten, der Traum auf seinem Zimmer, und sein die Klänge und den Traum und die zierliche Erscheinung des Mädchens nachträumendes Herz hatten ihr Bild unmerklich und wundersam verwandelt in ein viel schöneres, größeres und herrlicheres, wie er es noch nirgend gesehen.59 Das individuelle sinnlich wahrgenommene und memorierte Bild wandelt sich durch die Traumarbeit in ein allgemeines Bild. Die personale Schönheit, die durch Leben bestimmt ist, wird zu einer nicht-schaubaren Gestalt, zu einem Bild, das jedes gesehene Bild noch übertrifft. Auf ein solches, durch innere Anschauung gewonnenes Bild trifft Florio dann in der Gestalt des Marmorbildes. Dass die Marmorbilder der Griechen eben keine personalen Bilder darstellen, darauf weist auch Winckelmann hin: Die Nachahmung des Schönen der Natur ist entweder auf einen einzelnen Vorwurf gerichtet, oder sie sammlet die Bemerckungen aus verschiedenen einzelnen, und bringet sie in eins. Jenes heißt eine ähnliche Copie, ein Portrait machen; es ist der Weg der Holländischen Formen und Figuren. Dieses aber ist der Weg zum allgemeinen Schönen und zu Idealischen Bildern desselben; und derselbe ist es, den die Griechen genommen haben.60 Ein solches idealisches Bild trägt nun auch Florio mit sich, als er in einem Garten, den er durchwandert das Marmorbild erblickt. So in Gedanken schritt er noch lange fort, als er unerwartet bei einem großen, von hohem Bäumen umgebenen Weiher anlangte. Der Mond, der eben über die Wipfel trat, beleuchtete scharf ein marmornes Venusbild, das dort dicht am Ufer auf einem Steine stand, als wäre die Göttin so eben erst aus den Wellen aufgetaucht und betrachte nun, selber verzaubert, das Bild der eigenen Schönheit, das der trunkene

59 Eichendorff: „Das Marmorbild“, S. 396f. 60 Winckelmann: Kleine Schriften, S. 37.

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Wasserspiegel zwischen den leise aus dem Grunde aufblühenden Sternen widerstrahlte. Einige Schwäne beschrieben still ihre einförmigen Kreise um das Bild, ein leises Rauschen ging durch die Bäume rings umher. Florio stand wie eingewurzelt im Schauen, denn ihm kam jenes Bild wie eine lang gesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte vor, wie eine Wunderblume, aus der Frühlingsdämmerung und träumerischen Stille seiner frühesten Jugend heraufgewachsen. Je länger er hinsah, je mehr schien es ihm, als schlüge es die seelenvollen Augen langsam auf, als wollten sich die Lippen bewegen zum Gruße, als blühe Leben wie ein lieblicher Gesang erwärmend durch die schönen Glieder herauf. Er hielt die Augen lange geschlossen vor Blendung, Wehmut und Entzücken.61 Die Plastik ist eine aus dem Wasser hervorgehobene Göttin. Die Formulierung, dass „die Göttin so eben erst aus den Wellen aufgetaucht“ sei, verweist deutlich auf die Figur der Venus Anadyomene.62 Aber als Statue ist die Darstellung der Göttin hier zugleich Produkt der Einbildungskraft. Die Bewegung der Lippen und die „seelenvollen Augen“ werden allerdings unter dem Eindruck einer Blendung erfahren. Die Blindheit des Protagonisten ist hier als Ermöglichungsgrund des idealischen und belebten Körpers der Statue lesbar. Die Plastik als Medium wird in dieser pygmalionischen Anschauung zum Ursprung der Narration des Marmorbildes. Das Medium Plastik erscheint und bewahrt sich als Leitmedium erst durch die Transformation ins Literarische. Dieses Moment einer Medientransgression wird insbesondere anhand der Beschreibungsverfahren der Szene deutlich. Es werden nämlich gleich drei bildliche Darstellungen literarisch vermittelt und vorgestellt. Zuerst sieht Florio nur das Venusbild, die Statue, dann betrachtet die Venus „das Bild der eigenen Schönheit“63, schließlich wird diese Spiegel- und Geburtsszene zum Bild, das von den Schwänen gleichsam umrahmt wird. „Einige Schwäne beschrieben still ihre einförmigen Kreise um das Bild, ein leises Rauschen ging durch die Bäume ringsumher.“64 Der Begriff des Bildes wird somit 1) in ein plastisches Bild, 2) ein Spiegelbild und 3) eine (malerische) Bildkomposition, wie sie für das Gemälde charakteristisch ist, unterteilt. Das Venusbild ist in der Bildbe61 Eichendorff: „Das Marmorbild“, S. 397. 62 Vgl. Pikulik: „Die Mythisierung des Geschlechtstriebes in Eichendorffs Das Marmorbild “, S. 133. 63 Eichendorff: „Das Marmorbild“, S. 397. 64 Ebd. Zur Bedeutung der Kreisstruktur im Marmorbild vgl. Marhold: „Motiv und Struktur des Kreises in Das Marmorbild “.

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schreibung somit durch eine plurale Bildlichkeit gekennzeichnet. Zugleich wird das bildnerische Verfahren in eine Rhetorik der Schreibbewegung übersetzt, die suggeriert, dass das Bild sich selbst (be-)schreibt: „Einige Schwäne beschrieben […]“. Das Schreiben und Bilden wird durch den Bildgehalt des Schwans, der den Eros und die Zeugungskraft hervortreten lässt, auf das Moment der Zeugung zugespitzt, das wiederum mit dem Bildthema der Geburt korreliert. Aus der Vision der Plastik entsteht mithin eine differentielle Bildwahrnehmung, die für die gesamte Erzählung bestimmend bleibt. Die Plastik wird somit in dieser für die romantische Literatur paradigmatischen Erzählung zu einer poetischen Produktivkraft, die mit der Lessingschen Kritik der Medientransgression spielt. In Eichendorffs Marmorbild erscheint zwar in der Figur der Bianka, die als Personifikation der christlichen Kunst lesbar ist, die Malerei als neues Leitbild des Protagonisten und Künstlers Florio; gleichwohl bleibt die am Ende als leblos, fragmentiert und kalt beschriebene Marmorstatue die eigentliche ästhetische Produktivkraft, die die Narration von Eichendorffs Novelle wesentlich bestimmt. Anhand dieser uneigentlichen poetischen Figur erweist sich die Konstruktion des Leitmediums Plastik einmal mehr als Allegorie des Leitmediums Literatur, das sich im intermedialen Spiel der Künste stets neu generiert und zur Darstellung bringt.

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Die Störung am Apparat. Vom Telephon zum Handy Störungsformationen Die Frage nach den Leitmedien wird zumeist aus einer empirisch-soziologischen Perspektive heraus formuliert. Was ein Leitmedium ist, resultiert demzufolge aus einem Rezeptionsverhalten von Mediennutzern, die in bestimmten historischen Situationen und unter bestimmten medialen Bedingungen in einer bestimmten, und das heißt in diesem Fall in einer quantifizierbaren Art und Weise reagieren bzw. agieren. Es geht also immer um eine Pluralität von Individuen, deren je einzelne und durchaus divergente Handlungsintentionen sich zu einer kulturprägenden Mediennutzung aufaddieren. Ob wir es wollen oder nicht: Als medientechnisches Faktum verändert das Handy alias Telephon alias Fernsprecher genau wie jedes andere Medium das Kommunikationsverhalten seiner Nutzer. Dass dies umso mehr für Leitmedien geht, versteht sich im Grunde von selbst. Womit der Bogen zurückgeschlagen wäre zu dem Problem, ob das Telephon jemals ein Leitmedium gewesen ist oder nicht. Diese Frage stellt allerdings für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Mediengeschichte selbst ein Problem dar, fallen doch Medien genauso wenig wie alle anderen Apparate vom Himmel (des Technischen oder gar Ontologisch-Mathematischen), um sich dann ex post mit einer kulturellen Praxis zu verbinden. Im kulturwissenschaftlichen Zugriff befinden sich Medien vielmehr in einem ständigen Veränderungsprozess, sie stellen niemals erkaltete und erstarrte technische Artefakte dar. So gewendet gilt es, die kultur- und medienhistorischen Bedingungen der Möglichkeit dafür zu rekonstruieren, dass sich die Frage nach dem Leitmedium Telephon allererst stellen lässt. Oder konkret gefragt: Worin genau besteht die technisch-epistemologische Stabilität des Mediums Telephon, die dessen empirisch-soziologische Kontinuität als Leitmedium überhaupt erst ermöglicht? Welche kulturellen Techniken liegen dem Telephon zugrunde, wodurch es zu einem Medium werden kann? Die longue durée eines Mediums ist in kulturhistorischer Perspektive genauso wenig selbstverständlich wie die Stabilität eines beliebigen kulturellen Phänomens, auch wenn allein schon der Begriff des Technischen eine gewisse Durabilität mitzubringen scheint. In diesem Sinne werde ich im Folgenden versuchen, die longue durée des Mediums Telephon kulturtechnisch zu ergründen. Damit aber stehen gut 125 Jahre Mediengeschichte zur Disposition, seit 1876 Alexander Graham Bell und Elisha Gray im Abstand von nur zwei Stunden ihre Patente auf eine elektrische Fernübertragung von Sprache eingereicht

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hatten.1 Dies macht einen roten Faden notwendig, der zumindest jenen Weg markieren hilft, den ich mit meiner Geschichte des Telephons beschreiten werde. Es handelt sich hierbei um eine ebenso triviale wie weitreichende These. Sie lautet, dass Störungen nicht als Bedrohung und Äußeres von Kommunikation aufzufassen sind, sondern im Gegenteil als eine intrinsische Eigenschaft jeder Form von Informationsaustausch. Populär geworden ist diese These mit dem „Parasit“-Buch von Michel Serres,2 und seither beherrscht sie weite Diskursbereiche innerhalb der so genannten mathematischen und anderer Medientheorien.3 Allerdings verwundert es angesichts der Popularität des Störungstheorems, dass ganz konkrete Prozesse und Funktionen von Störung bislang fast ausschließlich in den Natur- und Ingenieurswissenschaften verhandelt werden, nicht aber in den Geisteswissenschaften.4 Eine derartige Konkretisierung möchte ich hier am Beispiel der Telephongeschichte vorschlagen, also nach der spezifischen historischen Praxis des Produktivwerdens von Störungen bei der elektrischen Stimmübertragung fragen. Damit verschiebt sich die Frage nach den Leitmedien zwangsläufig von der empirisch-soziologischen Ebene der Mediennutzung hin zur Kontinuität kulturtechnischer Praktiken im Umgang mit Störungen. Und zugleich löst sich die Paradoxie einer Produktivität der Störung auf, wenn man diese als die womöglich sogar zentrale Bedingung versteht, unter die Medien die Dinge stellen, und die sie zugleich selbst sind. Leitmedien lassen sich als solche Kulturtechniken verstehen, die einen virtuosen Umgang mit Kommunikationsstörungen erlauben. Wie lässt sich das Verhältnis von Medium und Störung nun weiter einschränken oder zumindest auf ein engeres Erkenntnisinteresse hin eingrenzen? Ich denke, dass sich prima vista drei unterschiedliche Schnittstellen oder Öffnungen plausibel machen lassen, an denen sich das Telephon gegen Störungen definieren muss. Erstens lassen sich Apparate und Geräte daraufhin rekonstruieren, wie in ihnen Störung – und das meint zumeist deren Aufhebung – implementiert ist. Der Störung wird innerhalb der Ordnung des Realen begegnet, z.B. indem bei einem Telephon die Hör- und Sprechmuschel, um diesen schönen Anachronismus zu gebrauchen, räumlich so weit voneinander getrennt sind, dass sich das Telephon nicht selbst, sondern nur den Benutzer diesseits des Übertragungskanals hört. Rückkopplungen sind immer unwillkommene Gäste. 1

Vgl. Hiebel u.a.: Die Medien, S. 136f.

2

Vgl. Serres: Der Parasit.

3

Vgl. z.B. den Überblick bei Kümmel „Mathematische Medientheorie“.

4

Vgl. eine rühmliche Ausnahme, die der im Rahmen des Kölner Forschungskollegs „Medien und kulturelle Kommunikation“ entstandene Band Kümmel/Schüttpelz: Signale der Störung darstellt.

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Diesem nicht expliziten oder im weiteren Sinne technisch verkörperten Störungswissen stehen zweitens die informationstheoretischen Formalisierungen gegenüber, die mit Namen wie Norbert Wiener, Harry Nyquist, Ralph V. L. Hartley, Claude Shannon und anderen verbunden sind. Wie bereits angedeutet, ist eine mathematische Medientheorie im Anschluss an Friedrich Kittler undenkbar ohne die herausragende Position der Zahl, ohne diese Explizierung von Wissen schlechthin. So kann es im Telephon durchaus schon einmal rauschen, ohne dass damit die ganze Botschaft unverständlich wird, weil die intrinsische Redundanz des Symbolsystems Sprache den Sinn gegen ein gewisses Störungsmaß immunisiert. Diese beiden Ebenen möchte ich hier jedoch ausklammern, weil sie zum einen gut dokumentiert und aufgearbeitet sind und weil sie zum anderen die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen dem impliziten und dem expliziten Störungswissen vernachlässigen, die mir wesentlich zu sein scheinen. Um gerade dieses Wechselspiel thematisieren zu können, möchte ich mir eine dritte Perspektive zu eigen machen. Sie sucht einen buchstäblichen Mittelweg zwischen einem möglichst umfassend verallgemeinerten, mathematischen Störungskonzept und den konkret implementierten Störungsprozessen in einzelnen Apparaten. Um einen solchen Weg beschreiten zu können, unterscheide ich zwischen drei verschiedenen Störungsformationen. Diese Formationen definieren mit Blick auf die longue durée Klassen oder Gruppen von Apparaten bzw. Geräteteilen, in denen ähnliche Formen von Störungen oder vergleichbare Strategien der Störungsbewältigung zum Tragen kommen. Störung resultiert im Telephon erstens aus den sehr langen Signalwegen, zweitens aus der hohen Anzahl potenzieller Gespräche und drittens aus der begrenzten Bandbreite des Übertragungskanals. Indem ich nun diese drei Störungsformationen genauer analysiere, entsteht zwangsläufig eine – freilich allzu kurze – Historiographie des Telephons, die den Dispositiven seiner Störungen als Medien selbst folgt.

Distanz – die Trägheit des Signals Zu einem Medium im Sinne Marshall McLuhans wird das Telephon von dem Moment an, da es sich der Materialität seiner Drähte und Kabel bewusst wird. Wenn die Nachricht das Medium definiert, dann müssen die Kanäle komplex sein. Ich meine also mit der Materialität der Kommunikationskanäle etwas grundlegend anderes als die bloße Länge einer Leitung und die damit verbundene quantitative Schwächung des Signals. Diese Vorstellung einer Signaldämpfung entspringt dem mechanistischen Bild von Wasserleitungen und ist von der spezifischen Materialität des elektrischen Kabels denkbar weit entfernt. Illustrieren lässt sich das mechanistische Stromverständnis mit einem Zi-

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tat von William Fardely, in welchem der Mannheimer Ingenieur um die Mitte des 19. Jahrhunderts den Widerstand der einzelnen Apparateteile schlicht und einfach addiert: Ist der Widerstand in den andern Theilen des Schliessungsdrathes gering, so wird durch Vermehrung der Anzahl der Drahtwindungen der Widerstand des ganzen Kreises vergrössert, und es erfolgt daraus eine verminderte Wirkung.5 Strom fließt im Einklang mit einem intuitiven Form-Inhalt-Denken überall dort gut, wo es wenig Widerstand gibt. Und nachdem Georg Ohm 1825 sein Widerstandsgesetz formuliert hatte, konnte dieser Widerstand im Verhältnis zur Länge und dem Material des verwendeten Metalldrahtes auch exakt berechnet werden.6 Befinden wir uns mit diesem Übertragungskonzept zeitlich besehen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, folgt die Epistemologie doch noch ganz dem Mechanismus des Newton’schen Denkens. Blanke, d.h. nicht isolierte Metalldrähte setzen dem elektrischen Informationsfluss epistemologisch besehen weniger einen elektrischen als einen mechanischen oder zumindest hydrodynamischen Widerstand entgegen. Bedenkt man des Weiteren, dass das Telephon erst 1876 patentiert wurde, so beginnt seine Geschichte nicht als Apparat zur elektrischen Übermittlung gesprochener Sprache, sondern vielmehr als ein konkretes Kabelproblem der Telegraphie. Doch kommen wir zurück zur medialen Unschuld des Telephons, das um 1850 eben noch ein Telegraph ist, und damit auch zurück zur Frage nach den zugrunde liegenden Störungsformationen. Zwei Momente können dafür verantwortlich gemacht werden, dass das Telephon alias Telegraph in seine störungstechnische Pubertät kommt. Zunächst gibt es seit etwa 1850 mit dem Gutta Percha ein Isoliermaterial, das erstmals längere Signalwege realisierbar werden lässt. Der Draht verwandelt sich in mehr oder minder komplexe Kabelstrukturen, und erst in der Folge des massiven Auseinanderrückens von Sender und Empfänger wird Distanz als Störung relevant. So veränderten sich die scharfen Eingangspulse, die Samuel Morse in Washington in sein unterirdisches Kabel einspeiste, auf ihrem Weg nach Baltimore in nurmehr allmählich an- und absteigende Spannungskurven:

5

Fardely: Der electrische Telegraph, S. 64f.

6

Vgl. Ohm: „Vorläufige Anzeige des Gesetzes, nach welchem Metalle die Contactelektricität leiten“.

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What should have been clear and unambiguous blips came through distorted and blurred, sometimes to the point that operators couldn’t be sure whether they had registered a real signal or not.7 Vor diesem materialtechnischen Hintergrund wird kein Geringerer als der englische Physiker und Chemiker Michael Faraday 1854 gebeten, mithilfe einer Versuchsstrecke Drähte mit Kabeln zu vergleichen.8 Seine Analyse erfolgt so prompt wie zielsicher: The induction consequent upon charge, instead of being exerted almost entirely at the moment within the wire, is to a very large extent determined externally; and so the discharge or conduction being caused by a lower tension, therefore requires a longer time.9 In Kabeln existiert eine spezifische Form der Trägheit, weil ein Teil der Energie dafür verwendet wird, ein elektrisches Feld um den Leiter herum aufzubauen. Denn zwischen der seit dem 18. Jahrhundert bekannten Leidener Flasche und einem Kabel besteht kein prinzipieller Unterschied: Es sind beides Kondensatoren, mit denen sich elektrische Spannung speichern lässt. Wahrnehmbar wird diese Trägheit des kapazitären Widerstandes als Verzögerung und Abschwächung des telegraphierten Signals. Damit änderte sich der Status dieser ersten Störungsformation grundlegend. War in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Distanz lediglich für die Abschwächung eines Signals verantwortlich, wird plötzlich dessen Decodierbarkeit grundsätzlich infrage gestellt. Eine geringere Signalstärke ist lediglich ein quantitatives und damit kein prinzipielles Problem. Wenn dagegen die Form der Signale selbst zur Disposition steht, ist die Identität von Nachrichten kategorisch gefährdet. Kann die elektrische Fernübertragung der Stimme überhaupt gelingen? In der Radikalität dieser Fragestellung verbirgt sich das Selbstreflexivwerden des Mediums Telegraphie bzw. Telephonie, und dieser Prozess der second order observation ist stets mit einer Explizierung von Wissen verbunden. Das mediale Wissen, dass die Übertragungsstrecke selbst als Sender und Empfänger zu verstehen ist, konnte nicht mehr länger ignoriert bzw. als rein quantitatives Störungsmoment abgehandelt, sondern musste vielmehr expliziert werden.

7

Lindley: Degrees Kelvin, S. 121.

8

Vgl. Smith/Wise: Energy and Empire, S. 446f.

9

Faraday: „On Electric Induction. Associated Cases of Current and Static Effects“, S. 515.

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Die Mathematisierung der medienepistemologischen (Selbst-)Einsicht, dass jedes Übertragungsmedium zugleich ein Speichermedium ist, erfolgte 1854. Der irische Physiker William Thomson, besser auch als Lord Kelvin bekannt, wurde gebeten, die Kabeltests Michael Faradays zu begutachten. Nachdem Thomson relativ schnell einen absoluten Ausdruck für die Kapazität eines Kabels gefunden hatte, waren die Rechenergebnisse beeindruckend: Das 100 Meilen lange Kabel besaß die Kapazität einer riesigen Leydener Flasche: If the gutta-percha had only the same […] inductive capacity as glass, the insulated wire […] would have had an electrical capacity equal to that of an ordinary Leyden battery of 8300 square feet.10 Und noch im selben Jahr konnte Thomson die erste Telegraphengleichung überhaupt aufstellen, in welcher die Laufzeitverzögerung eines Signals direkt proportional zur Kapazität und zum Widerstand sowie proportional zum Quadrat der Leitungslänge ist: „We may infer that the retardations of signals are proportional to the squares of the distances, and not to the distances simply“.11 Die quadratische Abhängigkeit von der Entfernung zwischen Sender und Empfänger ließ die Phantasie eines weltumspannenden Kabelnetzes zu einem irrealen Traum werden. Immerhin, so wussten sich die Telegraphen zu trösten, kommt überhaupt etwas durch das Kabel. Doch mit der elektrischen Übertragung der Stimme lässt sich die von William Thomson festgeschriebene Deformation der Signale kaum vereinbaren. So führt die bloße Materialität des elektrischen Leiters zwangsläufig dazu, dass Ort und Zeit durcheinander geraten. Jede Übertragung ist mit einem Verschmieren der Signale in der Zeit verbunden. Oder medientheoretisch formuliert: Im elektromagnetischen Kanal lässt sich niemals von Übertragung alleine, also von Übertragung ohne Speicherung sprechen, womit die Übertragungsmedien ihre Unschuld verlieren. Störungen, die zuvor als äußer(lich)e Speichereffekte zur Problembehebung an die Ingenieure delegiert werden konnten, wandern nunmehr in die Epistemologie des Mediums Telephon selbst ein.12 Zum Ende des 19. Jahrhunderts existierte ein weltumspannendes Telegraphennetz. Und obwohl sich zur gleichen Zeit das Telephon sukzessive zum Massenmedium entwickelte, war mit unterirdisch verlegten Telephonkabeln bereits nach etwa 30 Meilen Schluss, bei den Freileitungen lag 10 Thomson: „On the Electro-statical Capacity of a Leyden Phial and of a Telegraph Wire Insulated in the Axis of a Cylindrical Conducting Sheath“, S. 535. 11 Thomson: „On the Theory of the Electric Telegraph“, S. 386. 12 Die Funktion des Feldkonzepts von James Maxwell lasse ich an dieser Stelle außen vor.

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die faktische Grenze jeder Stimme aus der Ferne bei 1.000 Meilen. Doch nicht nur, dass die Stimmen auf ihrem Weg immer leiser wurden. Die Trägheit der Kabel dämpfte die hohen Frequenzen viel stärker als die niedrigen Bänder, womit die Stimmen zu schlichtweg anderen wurden. Die erste vollständige Erklärung dieser Geisterstimmen lieferte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der so geniale wie skurrile Interpret der Maxwell’schen Feldtheorie Oliver Heaviside. So kommt es just in dem Moment, da das Telephon den Weg zum Massen- und Leitmedium anzutreten beginnt, zum Showdown zwischen der alten praxisorientierten Garde der Elektroingenieure und den mathematisch hochversierten Anhängern der noch jungen Maxwell’schen Theorie des elektromagnetischen Feldes. Heaviside erweiterte die bisherige Thomson’sche Telegraphengleichung um einen entscheidenden Parameter: die Induktivität oder elektrodynamische Kapazität. Während die Ingenieure diesen neuen Parameter als bloßen Signalwiderstand verteufelten, wendete ihn Heaviside als neue Form der Störung ins Positive.13 Der komplexe Widerstand eines Wechselstromsignals entsteht aus dem dynamischen Zusammenspiel von Ohm’schem Widerstand, Kapazität und Induktivität. Damit wurde jedes Kabel zu einem schwingfähigen System und jede Übertragung im Sinne Michel Serres’ zu einer Kakophonie mehrerer Stimmen. Der Kanal rauscht nicht, er spricht selbst: „Mündlich kommunizieren heißt, einen Sinn den Gefahren des Rauschens auszusetzen.“14 Von dem Moment an, da die Dämpfung eines Signals von der Form des Signals selbst abhängt, bedeutet Telephonieren nicht mehr länger nur im ingenieurspraktischen Sinne die Beseitigung akzidentieller Störungen. Das Rauschen wandert sukzessive aus den Apparaten und der Praxis eines impliziten Ingenieurswissens heraus und gewinnt in den Köpfen von Mathematikern jenen Grad an Explizitheit, der die Bedingung der Möglichkeit für jenen unglaublichen epistemischen Erfolg bildet, den das Störungskonzept im 20. Jahrhundert feiern wird. Doch um beim Telephon zu bleiben: Die zugehörige Theorie lieferte, wie gesagt, Oliver Heaviside. Ich kann an dieser Stelle die Theorie der Schwingkreise, die Vorstellung von oszillierenden Strömen und Resonanzphänomenen nicht weiter entfalten. Wichtig ist mit Blick auf eine Wissensgeschichte des Telephons als Leitmedium, dass zum Ende des 19. Jahrhunderts zusammen mit der statischen Kapazität die dynamische Induktivität das elektromagnetische Feld eines jeden Leiters vollständig beschrieb. Alle Agenten des Fernsprechens hatten zusammengefunden, womit sich der epistemische Status der Kabel grundlegend verändert:

13 Vgl. Fagen: A History of Engineering and Science in the Bell System, S. 242f. 14 Vgl. Serres: Der Parasit, S. 49.

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Sie werden selbst zu Filtern. Vor diesem Hintergrund stellt Heaviside zwischen 1885 und 1887 seine „transmission-line theory“ auf. Sein erklärtes Ziel lautet, die Dämpfung der hohen Stimmfrequenzen in den Griff zu bekommen: „Now when there are only a very few waves per second, the influence of inertia in altering the shape of the signals becomes small.“15 Dabei zeigte sein schlussendlicher Ausdruck für die frequenzabhängige Dämpfung, dass man Störungen durchaus mithilfe einer wohlkalkulierten Balance der Parameter ausgleichen konnte – niemals jedoch durch die empirische Praxis und Intuition noch so erfahrener Ingenieure. Entscheidend an Heavisides „transmission-line theory“ ist erstens, dass das komplizierte Ineinanderspiel ihrer Parameter verantwortlich ist für die Dämpfung oder Unterhaltung verschiedener Frequenzen im Kabel. Und zweitens folgt daraus unmissverständlich, dass eine gezielte Erhöhung der Induktivität paradoxerweise durchaus dazu führen kann, dass die Dämpfung insgesamt verringert wird. Diese Produktivität der Störung – wogegen der „practical telephone man“ noch lange vehement protestieren sollte – fand ihren sichtbaren Ausdruck darin, dass entlang der Kabelstrecken in regelmäßigen Abständen Induktivitäten in Form von Spulen angebracht wurden.16 William Thomson schreibt über diese „loaded lines“: It had been worked out in a very completed manner by Mr Oliver Heaviside […] that electro-magnetic induction is a positive benefit: it helps to carry the current. It is the same kind of benefit that mass is to a body shoved along against a viscous resistance.17 Die Wissensgeschichte der elektromagnetischen Induktivität (und Kapazität) erinnert somit deutlich an das zähe neuzeitliche Ringen um das Konzept der mechanischen Trägheit. Von der Negativität eines bloßen Widerstandes gegen den Kommunikationsfluss befreit, ist die Induktivität nicht mehr länger eine

15 Heaviside: „Electromagnetic Induction and its Propagation, Section 40: Preliminary to Investigations concerning Long-distance Telephony and Connected Matters“, S. 120. Vgl. auch Heaviside: „On the Extra Current“. 16 Fagen: A History of Engineering and Science in the Bell System, S. 242. Mithilfe von Spulen wurde bereits seit 1820 das Magnetfeld eines elektrischen Leiters verstärkt. Vgl. Aschoff: Geschichte der Nachrichtentechnik, Bd. 2, S. 49-52. Übrigens war das merkwürdig widersprüchliche Verhalten der stromanzeigenden Spulen der Anlass für Georg Ohm, sich mit dem Leitungsvermögen von Metalldrähten zu beschäftigen. 17 Thomson: „Ether, Electricity, and Ponderable Matter“, S. 487f.

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destruktive Eigenschaft, sondern der epistemologische Schlüssel zur Rekonstruktion der Schwingungsfähigkeit langer Leitungen.18

Kanal – das Rauschen vieler Stimmen Das „loading“ der langen Kabelstrecken war von ebenso großem ökonomischem Erfolg wie von extrem kurzer Lebensdauer. Von dem Moment an, da die Elektronenröhre die Verstärkung der elektrischen Signale übernahm, spielte die passive Kontrolle der „transmission lines“ schlichtweg keine Rolle mehr.19 Aus den langen Leitungen werden schlagartig kurze – und an die Stelle der Distanz tritt eine neue Störungsformation: diejenige des Kanals. War die Draht- oder Kabelleitung der frühen Telephonie zu lang, verwandelte sie sich nach 1910 unter dem technologischen Dirigat der Elektronenröhre in einen Kanal, der stets zu eng war. Was genau ist damit gemeint? Ein Kanal transportiert seit seinen antiken Anfängen nicht bloß ein isoliertes Ding, sondern einen ganzen Strom von unterschiedlichen Signalen. Und bereits Alexander Graham Bell und sein erbitterter Konkurrent Elisha Gray liebäugelten mit der Idee, die Bindung eines einzigen Gesprächs an eine Leitung zu überwinden.20 Wie so oft in der Geschichte der Medien sollte dabei ein menschlicher Sinn externalisiert oder extensionalisiert werden, nämlich das Hören polyphoner Musik oder mathematisch präzise formuliert die Fourieranalyse, die es dem Ohr erlaubt, unterschiedliche Instrumente aus dem Orchester herauszuhören. Wenn der Datenstrom in der Form von „musical tones“ mit unterschiedlicher Tonhöhe übertragen würde, dann sollten laut Bell und Gray auf der Empfängerseite entsprechend abgestimmte Resonatoren nur auf die jeweiligen Tonhöhen ansprechen: „When two or more electrotomes are simultaneously sounded the tone of each will still be reproduced without confusion on the sounder.“21 Tatsächlich jedoch konnten diese „Harmonic Telegraphs“ erst mithilfe des so genannten Multiplexings realisiert werden. Und

18 Vgl. hierzu ausführlich Fagen: A History of Engineering and Science In the Bell System, S. 241–252. 19 Vgl. Robert von Lieben, der in seiner Patentschrift Kathodenstrahlrelais von 1906 eine Anwendung im Bereich der Telephonie explizit anspricht: „Insbesondere für manche Probleme der Telephonie (Übertragung der Sprache auf große Entfernungen […]) kann die Anwendung dieses Relais von Vorteil sein“. (Lieben: Kathodenstrahlenrelais.) 20 Vgl. Siegert: „Die Mama-Connection. Das Telephon, Pygmalion und die Taubstummenpädagogik“. 21 Gray: Electric Telegraph For Transmitting Musical Tones.

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dieses setzte technisch besehen eben die trägheitsfreie Röhrenverstärkung voraus. Die Elektronenröhre hatte ihren Ursprung in der Radiotechnik, doch das so genannte „Audion“ von Lee de Forest kam erst 1912 im Research Department der Bell Labs an.22 Friedrich-Wilhelm Hagemeyer fasst die Situation in seiner noch immer lesenswerten Dissertation von 1979 pointiert zusammen: Für die Telephonie ist deutlich, dass Anfang der zwanziger Jahre alle Detailprobleme gelöst sind […]: auf der Übertragungsebene abgeschlossen, expandierte die Telephonie auf der Systemebene des Netzes neu.23 Aus den point-to-point-Verbindungen werden komplexe Kommunikationsnetze im Wortsinne, und das heißt: Es laufen mehrere Signale über ein und dieselbe Verbindung. Edwin Colpitts und Otto Blackwell schreiben 1921: In a carrier multiplex system, a number of separate telephone, telegraph or signaling messages are superimposed simultaneously on a single electrical circuit by employing a separate alternating current, usually called a ‚carrier current‘, for each of the separate messages. […] The different carrier frequencies which are superimposed on a circuit must differ sufficiently in frequency so that they may be separated from each other at the terminals by the use of proper electrical circuits.24 War für das Modulieren des carriers alleine die Verstärkerröhre zuständig, kamen bei der Separierung der verwendeten Frequenzbereiche und damit der einzelnen Stimmen erneut die Filter der langen Kabelstrecken zum Einsatz. Wesentlich für die technisch-epistemologische Stabilität des (Leit-)Mediums Telephon ist nun, dass sich die Störungsformation damit erneut radikal änderte. Verschwammen die Signale vormals mit der Zeit im Raum, d.h. wurde eine singuläre Übertragung in sich unverständlich, so galt es nun, verschiedene simultane Gespräche innerhalb ein und desselben Kanals voneinander zu trennen. Dass zwischen Kakophonie und gelungener Kommunikation die Anschreibung einer allgemeinen, mathematisierten ‚Schwingungslehre‘ liegt, be22 Vgl. De Forest: Wireless Telegraphy. Damit konnte 1915 die erste transkontinentale Telephonverbindung in den USA dauerhaft in Betrieb genommen werden. 23 Hagemeyer: Die Entstehung von Informationskonzepten in der Nachrichtentechnik, S. 124. 24 Colpitts/Blackwell: „Carrier Current Telephony and Telegraphy“, S. 205.

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legt die medienhistorische Produktivität des Telephons. Indem die epistemologische Kontinuität gestörter Stimmen aus der Ferne und die wissenshistorische Diskontinuität der jeweiligen Apparate und Technologien über einen langen Zeitraum ineinander greifen, kann ein Leitmedium wie das Telephon allererst emergieren. Vilém Flusser spricht in diesem Zusammenhang sogar von „einem archaischen und paläotechnischen Charakter“, den sich das Telephon bewahrt hätte.25 Nach Distanz und Kanal möchte ich nun innerhalb der longue durée eines sich sukzessive explizierenden Störungswissens eine dritte rupture markieren: die Bandbreite.

Filter – die Ästhetik der Ökonomie Von dem Moment an, da sich der Fernsprecher in ein Massenmedium verwandelt hatte, wurde die verfügbare Bandbreite zu einer wertvollen, weil stets begrenzten, Ressource. Konnte mithilfe des Multiplexings eine vorhandene Bandbreite zwar effektiver ausgenutzt werden, blieb trotzdem das Problem, dass die menschliche Stimme über einen extrem großen Frequenzbereich moduliert. Was natürlich die Frage aufwarf, ob man nicht die Bandbreite eines einzelnen Gesprächs dadurch verringern konnte, dass man diejenigen Informationen herausfilterte, die für das Verstehen nicht zwingend notwendig waren. Mit dieser Idee und Frage wiederholte sich nicht nur die Geschichte von Philipp Reis’ Telephonapparat oder dem anthrogenen Ursprung technischer Medien. Taubstummenpädagogik und die experimentelle Phonologie eines Wolfgang von Kempelen führten zu einer „Semiotisierung des Artikulationsorgans“ bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts.26 Ich kann auf diese kultur- und mediengeschichtlich äußerst spannende Vorgeschichte hier nicht weiter eingehen. Für die Telephonie hätte eine Segmentierung der Stimme in einzelne Laute den entscheidenden Vorteil, dass sich die jeweiligen Segmente bandbreitenschonend separat übertragen lassen würden. Doch die Theorie des voice codings operierte sogar noch anthropogener: Der Bell-Ingenieur Homer Dudley konzipierte die menschliche Stimme selbst als ein Carriersystem, also als Modulation von Nutzsignalen auf eine bestimmte Trägerfrequenz: „Speech is like a radio wave in that information is transmitted over a suitably chosen carrier.“27 Auch dies charakterisiert ein Leitmedium: Es, das Telephon, beerbt die Technik späterer Medien (des Radios), um diese zu Vorgängermedien werden zu 25 Flusser: „Die Geste des Telefonierens“, S. 185. Dieser Text Flussers ist freilich vor der Konvergenz von Telephon und Computer entstanden. 26 Haase: Die Revolution der Telekommunikation, S. 15. 27 Dudley: „The Carrier Nature of Speech“, S. 495.

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lassen. Vor diesem medienhistorischen Hintergrund repräsentiert der Vocoder oder „Voice Operation DEmonstratoR“ von Homer Dudley die signifikanten artikulatorischen Bewegungen des Sprechapparates und eben nicht die sehr viel aufwendigeren Signale selbst.28 Der Vocoder kann als Vorläufer aller heutigen Strategien gelten, die Bandbreite eines Signals zu reduzieren, um mehrere Kanäle auf nur einem einzigen Kabel zu lokalisieren. Seine öffentlichkeitswirksame Premiere hatte der Apparat auf der Weltausstellung 1939 in New York. Entscheidend ist dabei, dass es sich nicht um ein rein statistisches Verfahren in der Tradition Claude Shannons handelt, sondern vielmehr um ein verlustbehaftetes und damit ästhetisch wirksames Kompressionsverfahren mit dem Ziel, die für den Empfänger relevanten Informationen zu isolieren. Dies ist das mediale Erbe der digitalen Informationsverarbeitung – und damit komme ich zum Handy – aus der analogen Übertragungstechnologie: Der ökonomische trade off ist nicht rein statistisch-mathematisch definiert, sondern eben auch semantisch. Das mobile Telephonieren basiert auf dem so genannten „Linear Predictive Coding“, das die starre Filterdatenbank des Vocoders von Homer Dudley ablöste und durch eine adaptive Filterfunktion ersetzte. Seine Wurzeln liegen in den Arbeiten von Norbert Wiener aus den 1930er Jahren zur Vorhersage von Kurvenverläufen. Das Übertragungsproblem der digitalen Medien geht also direkt auf die Probleme und Techniken der analogen Nachrichtentechnik zurück: Shannon entwickelte sein Abtasttheorem und Informationsmaß in genau dem historischen Moment, als Notwendigkeiten des zweiten Weltkriegs das Telefonsystem, diese von Haus aus analoge Stimmenübertragung, auf digitale Verfahren wie Frequenzmultiplex oder Pulscodemodulation umstellten.29 Die Abkehr vom analogischen Prinzip des Bell’schen Telephons geschah nicht mit der Einführung digitaler Codes, sondern mit der Vereinigung von Telegraphie und Telephonie im parametrischen Voice-Code: Es wird nicht die Sinneswahrnehmung selbst übertragen, sondern der Sinn der Stimme telegraphiert, den dann ein Empfänger zuallererst decodieren muss. Dass hierfür im Falle des Mobiltelephons Computer die notwendige signaltechnische Arbeit verrichten müssen, markiert einen nicht unironischen Rückbezug zum Problem der alten drahtbasierten point-to-point-Verbindungen. Das Übersprechen vom einen in ein anderes Funknetz gelang beim streng geschützten iPhone schon wenige 28 Ebd., S. 505. 29 Kittler: „Fiktion und Simulation“, S. 209.

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Wochen nach dessen Markteinführung. Das Mobiltelephon ist faktisch, was es im Gegensatz zur internetbasierten Telephonie à la Skype nicht sein möchte: Fernsprechen im Netz oder Rhizom, ohne jede Gewähr, dass die eigene Stimme nicht unversehens den Kanal wechselt. Ich ziehe ein kurzes Fazit. Für das Telephon lässt sich sehr präzise nachzeichnen, dass besonders Leitmedien die Dinge unter die Bedingungen stellen, die sie selbst sind. So markieren die drei (analogen) Störungsformationen Distanz, Kanal und Filter einerseits technologische Zäsuren einer Mediengeschichte des Telephons. Andererseits ist in den heutigen Kompressionsalgorithmen von Mobil- und Internettelephonie jenes historische Wissen implementiert, das als Störung allererst internalisiert und expliziert werden musste. Der produktive Umgang mit Störung beschreibt zugleich die konstruktive Manipulierbarkeit der Limitierung von Kanälen wie die Selbstvergewisserung eines Mediums, das seine Geister niemals wird loswerden können.

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Klaus Kreimeier

Invasion der Einzelhändler. Leitmedien und wie sie zerfallen Anstatt einer allgemeinen Begriffsdiskussion habe ich mich für eine andere Vorgehensweise entschieden und werde zunächst erklären, wie es zum Titel meines Beitrages – „Invasion der Einzelhändler“ – gekommen ist. Danach will ich an drei Fallstudien erläutern, warum der Typus des Einzelhändlers geeignet ist, um die Problematik des Begiffs Leitmedium zu beleuchten. Ich werde mich mit Film beschäftigen, auch mit dem Fernsehen, und am Ende werde ich mich der These nähern, dass die Ära der Leitmedien sich ihrem Ende zuneigt, weil sie schlicht nicht mehr gebraucht werden. Das Ende der Leitmedien ist kein dramatischer, eher ein schleichender Prozess. Kein Umsturz, auch kein Umbruch, vielmehr ein Verdämmern oder Verbleichen ehemals erstaunlich stabiler Strukturen. Ein sanftes fading away in einer kulturellen Landschaft, in der lauter Um-, Ab- und Aufbrüche gewittern und unsere Welt umzustülpen scheinen. Das Ende der Leitmedien: eine tektonische Verschiebung, der freilich kein Tsunami folgt. Die Anwendung der Einzelhändler-Metapher geht zurück auf den Titel eines Fernsehspielfilms, Industrielandschaft mit Einzelhändlern, den Egon Monk 1970 für den NDR gedreht hat. Neun Jahre später verfasste Monks Kollege Klaus Wildenhahn einen Artikel mit eben diesem Titel1 und entfachte so eine Debatte unter deutschen Dokumentarfilmern und Kritikern über die Methodik dokumentarischen Arbeitens – eine Diskussion, die befristet einige Wellen schlug, dann aber bald verebbte. Vor kurzem griff der österreichische Regisseur und Medienkünstler Manfred Neuwirth den Begriff erneut auf und erinnerte noch einmal an den Ansatz Klaus Wildenhahns: Im Titel des Wildenhahnschen Aufsatzes ist der Widerspruch zwischen der Großindustrie Film und dem Einzelhändler Dokumentarist angelegt. Dieser Begriff des Einzelhändlers läßt sich nach zwei Seiten hin interpretieren. Es geht um den Handwerker – im speziellen Filmhandwerker –, der sich gegen die Massenfertigung stellt und im besten Sinne Qualitätsarbeit leistet. Doch dieser Handwerker ist in seiner Existenz gefährdet. Er kann nur mehr in den Nischen des industriel-

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Wildenhahn: „Industrielandschaft mit Einzelhändlern“.

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len Systems arbeiten, obwohl die qualitätvolle ‚Handarbeit‘ nach wie vor gefragt ist. Doch wo sind die Auftraggeber?2 Manfred Neuwirth führt nun anstelle der „Industrielandschaft“ die „Digitallandschaft“ ein und modifiziert die Situationsbeschreibung folgendermaßen: Film, Video, Computer verschmelzen immer mehr zu einer einheitlichen Bildproduktionsmegamaschine, deren fortgeschrittenstes Stadium die Generierung von Bildern ohne Kamera darstellt. Dazu kommt, daß Bilder auf der Seite der Rezeption immer verfügbarer, abrufbarer werden, und daß auf der Seite der Produktion sich eine Beliebigkeit des Montierens von Bildern und Tönen durchsetzt. Die Berieselungsmaschine funktioniert. Neuwirth versichert, es gehe ihm nicht um eine „kulturpessimistische Betrachtung der Medienentwicklung“, doch wenn er hinzufügt, er wolle nur zeigen, „daß die gesellschaftlichen Räume für den Film/Videodokumentaristen eng geworden sind“, lässt er doch durchblicken, dass ihm Kulturpessimismus – sozusagen als Berufskrankheit des traditionellen Filmkünstlers – zu einem liebgewordenen Gemütszustand geworden ist. Er ist eben ein notorischer Einzelhändler, ein Einzelhändler klassischer Provenienz. Ich werde nun an drei Fallstudien die Rolle verdeutlichen, die der Einzelhändler als Medientypus (der zugleich ein Sozialtypus ist) in der Medienentwicklung und in den Medienumbrüchen spielt. Dabei sollen sich auch die Wandlungen herausschälen, denen diese Rolle unterliegt – und an den Wandlungen wiederum wird sich klären, was es mit den Leitmedien und unserem Diskurs über Leitmedien auf sich hat. Alle drei Fallstudien beziehen sich auf einen relativ knappen Zeitraum; sie datieren aus den Sommermonaten des Jahres 2007 und sind somit symptomatisch für die aktuelle Medienkonstellation.

Erste Fallstudie: Schlöndorff, Constantin und das Fernsehen Am 12. Juli 2007 veröffentlichte der Filmregisseur Volker Schlöndorff in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel, in dem er die von ihm als ökonomischen Zwang empfundene Praxis der Zweifachverwertung großer Filmproduktionen kritisierte. Er meinte damit das inzwischen äußerst verbreitete Verfahren, Filmproduktionen schon in der Planungsphase als Kinofilme und gleichzeitig als Mehrteiler für die Fernsehverwertung anzulegen:

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Neuwirth: „Digitallandschaft mit Einzelhändlern“.

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Bei den jetzt geplanten und in Arbeit befindlichen Mehrteilern ist man gezwungen, bis zu 200 Minuten statt der etwa 110 Minuten Spielfilmlänge zu liefern, innerhalb eines nicht wirklich verdoppelten oder annähernd erhöhten Budgets und Drehplans, sieht sich somit von vornherein zum Schludern gezwungen. Keine einzige Sequenz kann mehr mit der für einen Spielfilm erforderlichen Sorgfalt gedreht werden, immer heißt es, für die Fernsehfassung ist das gut genug. Es ist eben ein ‚Verschnitt‘, in dem Sinne, wie das Wort bei Weinpanscherei verwendet wird, jedenfalls kein ‚Grand Cru‘.3 Schlöndorff verfolgte zu diesem Zeitpunkt ein eigenes Projekt, die Filmproduktion Die Päpstin, nach dem Bestseller von Donna W. Cross. In einer redaktionellen Vorbemerkung klärte die Süddeutsche Zeitung ihre Leser eben darüber auf; zudem nannte sie zwei weitere Projekte, die als Kinofilme und als Fernsehmehrteiler in Planung waren: Anonyma von Max Färberböck und Baader Meinhof Komplex von Bernd Eichinger und Stefan Aust. Alle drei Projekte wurden von der Constantin Filmproduktion vorbereitet. Und so geschah es dann, dass nur eine Woche später die Constantin in der Süddeutschen Zeitung antwortete – in Gestalt ihres Aufsichtsratsmitglieds Günter Rohrbach, der von Schlöndorff wissen wollte, in welcher Welt er eigentlich lebe, „wenn er heute für eine Artentrennung von Film und Fernsehen plädiert“. Ausgerechnet er, der doch einer Generation von Filmemachern angehört, die es ohne das Fernsehen vermutlich gar nicht gäbe. Der sogenannte neue deutsche Film der Sechziger und Siebziger – Fassbinder, Wenders, Kluge und eben auch Schlöndorff – fand vor allem im Fernsehen statt, das ihn im wesentlichen auch finanziert hat.4 Schlöndorff gehöre schließlich einer Generation an, „die es ohne das Fernsehen […] gar nicht gäbe“. Am Ende eine gemeißelte These, mit der Rohrbach dokumentiert, dass Medientheorie und Medienpraxis in seinem Verständnis von Medienmanagement zur geglückten Einheit verschmelzen: Wenn der deutsche Kinofilm überleben will, muss er sich der Wahrheit beugen, dass die große Zeit des Kinos offensichtlich vorbei ist. Filme existieren heute an vielen Orten und in mehreren Aggregatzuständen. Diese Entwicklung werden wir nicht aufhalten können, schon gar nicht mit dem Gestus des Nostalgikers.

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Schlöndorff: „Vorhang auf, Vorhang runter“.

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Rohrbach: „Das Kino bleibt ein Traum“.

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Die Geschichte nahm für Schlöndorff erst einmal kein gutes Ende. Wenige Tage nach dem Schlagabtausch brach die Constantin die Zusammenarbeit mit dem Regisseur ab; mit seinem Artikel habe er, so die Firmenleitung, das Vertrauensverhältnis „massiv gestört“. Versuchen wir nun, in diese Geschichte ein wenig Klarheit zu bringen, und halten wir uns dabei an das agierende Personal. Rohrbach hat seine Karriere in den 1950er Jahren als Kritiker in der renommierten Zeitschrift Filmkritik begonnen, setzte sie dann beim Fernsehen fort und brachte es beim WDR zum Hauptabteilungsleiter Fernsehspiel. Später war er als Geschäftsführer der Bavaria verantwortlich für erfolgreiche Großproduktionen wie Das Boot, Die unendliche Geschichte und Stalingrad sowie für den Ausbau des Unternehmens zu einem modernen multimedialen Produktions- und Dienstleistungsbetrieb. Auch heute noch steht Rohrbach, als Aufsichtsratsmitglied der Constantin, für das Label ‚Großproduktion‘ und ‚Mainstream-Kino‘ – als Beispiele seien hier die Eichinger-Filme Das Parfum und Der Untergang genannt. Sein Wirken repräsentiert also authentisch den Medienwandel von der sogenannten ‚großen Zeit des Kinos‘ zur Dominanz des Fernsehens; er selbst hat diese Transformation schon beim Fernsehen und dann als Filmproduzent in Deutschland federführend vorangetrieben. Die Geschichte dieser Transformation ist zugleich die einer beeindruckenden Medienkonvergenz – eine Geschichte, in deren Verlauf technische und ästhetische Wechselwirkungen und zunehmende ökonomische Interdependenz zusammenwirken und die Integration eines älteren Mediums in einen neuen Medienverbund vorantreiben. Zu dieser Konvergenz ist es gekommen, weil das Fernsehen – zunächst nichts anderes als ein Laufbildmedium wie die Kinematografie – für seine Entwicklung und Expansion Filme (nicht etwa nur Spielfilme) dringend benötigte und somit an der Förderung, aber auch an der Beeinflussung des Filmmarktes existentiell interessiert war. Aus der Perspektive eines hochrangigen Medienmanagers wie Rohrbach hat besonders das gebührenfinanzierte Fernsehen in der Bundesrepublik das deutsche, teilweise auch das internationale Kino nachhaltig unterstützt, es hat massiv in die Produktion von Filmen investiert, zahlreiche anspruchsvolle Filme erst möglich gemacht und somit die Filmkultur im Lande erheblich gefördert. Die Filmemacher – meint Rohrbach – haben daher allen Grund, dem Fernsehen dankbar zu sein. Was die Faktenlage betrifft, ist ihm kaum zu widersprechen. Aber seine Sicht ist natürlich auch die eines MedienindustrieMagnaten, der es versteht, den von ihm selbst vorangetriebenen Prozess, nämlich die Usurpation eines älteren Mediums und seine Integration in die Strukturen eines jüngeren Mediums, als kulturelle Erfolgsgeschichte darzustellen:

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In den späten achtziger, vor allem aber in den neunziger Jahren emanzipierte sich das Fernsehen endgültig vom deutschen Kinofilm. Es rekrutierte seine eigenen Produzenten, Drehbuchautoren und Regisseure, vor allem aber schuf es sich seine eigenen Stars. Aus der Sicht der Filmemacher ist die gegenwärtige Situation von deprimierender Klarheit, das Fernsehen braucht sie nicht. Es hat seine eigenen Filme und Serien, die erfolgreicher sind als fast alles, was ihnen die deutsche Kinoproduktion zu bieten hat, und leider nicht selten auch besser.5 Aus dem Blickwinkel Schlöndorffs stellt sich die Sachlage anders dar. Der Regisseur sieht sich, obwohl längst Zulieferer eines komplexen, diversifizierten und hochentwickelten Industriesystems, als Autor und Produzent seiner Filme und als Repräsentant eines traditionellen, in der bürgerlichen Kultur fundierten Kunstsystems, in dem originäre, genuin unantastbare Gebilde entstehen. Er verteidigt die Errungenschaften der Filmgeschichte gegen deren Industrialisierung durch das Mediensystem – und er greift die Fördermechanismen an, die einem Trend der Quantifizierung ästhetischer Produkte Vorschub leisten: Insgesamt ist es ein Schlag ins Gesicht der Filmgeschichte, zu behaupten, es gäbe von Natur aus keinen Unterschied zwischen großem Spielfilm und Fernsehmehrteiler, jeder Spielfilm verfüge im Schneideraum ohnehin über genug Material, um ihn auch auf die Länge eines Zwei- oder Dreiteilers zu strecken. Bei dieser Argumentation geht es nur darum, alle Fördertöpfe und Finanzierungen auf diese Art Projekte und insbesondere Fernsehprojekte passend zu machen.6 Die Produktionsfirma Constantin weist zwar darauf hin, Schlöndorff habe sich von Anfang an mit der Art der Verwertung, also auch mit der Herstellung eines Mehrteilers für das Fernsehen, einverstanden gezeigt, doch vermutlich hat der Regisseur in dieser Bestimmung nur die Klausel eines Knebelvertrags gesehen, die er schlucken musste, die dann aber als Kröte im Halse des Cinéasten stecken blieb. Für den passionierten Filmemacher bleibt der Film, verstanden als Kinofilm, letztlich das Leitmedium gegenüber dem Fernsehen. Mit allen Cinéasten teilt er die Auffassung, dass die Kunst der Kinoleinwand gehöre, die Massenware hingegen dem Fernsehen. Und soweit es um Geld und um die umkämpften Förderressourcen geht, ist Schlöndorff mit anderen Cinéasten der Meinung, dass der Film gewiss durch Fernsehinvestitionen gefördert, umgekehrt aber auch das Fernsehen durch die Kinoförderung quersubventioniert werde. 5

Ebd.

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Schlöndorff: „Vorhang auf, Vorhang runter“.

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Unter veränderten Vorzeichen, doch strukturell sehr ähnlich wiederholt sich mit der Kontroverse zwischen ihm und der Constantin der Rechtsstreit zwischen Bertolt Brecht und der Filmfirma Nero, als es 1930 um die Verfilmung der Dreigroschenoper ging. Sah sich der Stückeschreiber durch die noch junge Filmindustrie in seinen Urheberrechten als Literaturproduzent verletzt, so begehrt mit Schlöndorff ein Filmautor gegen den modernen audiovisuellen Industriekomplex mit seinen Distributionskanälen und ökonomischen Verwertungsketten auf. Ihm geht es um mehr als das Urheberrecht – er kämpft für das von ihm als elementar verstandene, wenn auch sehr fiktive Recht des freien Künstlers auf die Anerkennung der Singularität seines Werks und seiner Produktionsweise. Beiden gemeinsam aber ist die Position des Einzelhändlers auf verlorenem Posten: Kämpfte Brecht als Repräsentant der Buch- und Theaterkultur gegen ein neues Leitmedium (dessen Siegeszug er freilich kommen sah7), so gilt dies auch für Schlöndorff als Repräsentanten der Filmkultur – mit dem Unterschied freilich, dass das Leitmedium Fernsehen selbst im Begriff ist, sich in neuen Medienkonstellationen und -konvergenzen allmählich aufzulösen. Als Medieneinzelhändler ist Schlöndoff ein historischer Typus, in gewisser Weise old fashioned, und seine Geschichte ist eine Story aus den Medienevolutionen des 20. Jahrhunderts. Es gibt aber auch den Einzelhändler neuen Typs, den meine zweite Fallstudie vorstellen wird.

Zweite Fallstudie: Schawinski, die Quote und die Flop-Industrie Ende August 2007 stellte Roger Schawinski, von 2003 bis 2006 Geschäftsführer des Fernsehsenders Sat.1, in Berlin sein Buch Die TV-Falle vor. Die gesamte Branche, vor allem die Kritiker, erwarteten eine Generalabrechnung mit dem deutschen Fernsehen, und in der Tat reitet Schawinski in seinem Buch eine Reihe polemischer Attacken, allerdings gegen altbekannte und noch immer fest im Sattel sitzende Gegner. Man erfährt das eine oder andere Detail über 7

Brecht: „Der Dreigroschenprozeß“, S. 156. In diesem von der Medienwissenschaft bisher vernachlässigten Text beschreibt Brecht exemplarisch, wenngleich aus der Perspektive des sich bedrängt und enteignet wähnenden Produzenten, in welchem Maße neue Medien (hier der Film) überlieferte Medienpraxen verändern, durchdringen und sie nach ihrem Bilde formen: „[D]enn immer weiter doch wird diese Art des Produzierens die bisherige ablösen, durch immer dichtere Medien werden wir zu sprechen, mit immer unzureichenderen Mitteln werden wir das zu Sagende auszudrücken gezwungen sein. Die alten Formen der Übermittlung nämlich bleiben durch neu auftauchende nicht unverändert und nicht neben ihnen bestehen. Der Filmesehende liest Erzählungen anders. Aber auch der Erzählungen schreibt, ist seinerseits ein Filmesehender. Die Technifizierung der literarischen Produktion ist nicht mehr rückgängig zu machen.“

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die Kriegskonstellation zwischen der RTL-Familie und der ProSiebenSat.1Gruppe, vor allem über das „permanente, äußerst komplexe Verfahren“8 des Programmierens von Sendungen innerhalb einer Sendergruppe als strategisches Instrument im Kampf um die höchstmöglichen Marktanteile. Schawinskis Zorn gilt den öffentlich-rechtlichen Anstalten, die sich von Gebühren mästen und gleichzeitig schamlos nicht nur die Programme der Privaten kopieren, sondern „ein ständiges umfassend plattes Kitschangebot ohne besondere Ansprüche“9 anbieten – eine alte Polemik, die in der Tat auf eine Schieflage der Konkurrenzverhältnisse im dualen System verweist. Ein weiterer prominenter Gegner Schawinskis ist Alexander Kluge, dem es mit Hilfe der Firma DCTP gelungen ist, dauerhaft kulturelle Programmfenster im Angebot der Privaten zu etablieren, und der seit etlichen Jahren ungehindert als gnadenloser Quotenkiller im Nachtprogramm von RTL bzw. Sat.1 gespenstert: ohne Zweifel der erfolgreichste Einzelhändler der deutschen Mediengeschichte nach dem zweiten Weltkrieg. Ähnlich wie Aust mit seinem Spiegel TV-Imperium habe sich Kluge, so Schawinski, „eine Lizenz zum Gelddrucken“10 verschafft, ohne ein „relevantes öffentliches Bedürfnis“11 zu befriedigen. Und nicht zuletzt schießt sich Schawinski auf die politischen Instanzen ein, er greift die Landesmedienanstalten an und empört sich über das, was er den „direkten, ungebremsten Durchgriff der Politik ins Medienwesen“12 nennt. Interessanter als diese sattsam bekannten, wenngleich noch immer aktuellen Gefechtslinien ist das Selbstbild, das Schawinski teils implizit, teils explizit in seinem Buch konfiguriert hat und dem er mit der Präsentation seines Buches in Berlin Nachdruck zu verleihen suchte. In einer kritischen Situation des kommerziellen Fernsehens im allgemeinen und der ProSiebenSat.1-Familie im besonderen stellt er sich selbst als kompetenten, qualitätsbesessenen, über die brancheninternen Brutalitäten erhabenen, weil verantwortungsbewussten Medienmanager dar. Zwar hat er seinen Dienst bei Sat.1 quittiert und betrachtet nun, scheinbar von außen, das Schlachtfeld, auf dem er noch vor kurzem seine Regimenter dirigiert hat – doch die Position des externen Beobachters und der Gestus der unbestechlichen Analyse sind ihm gerade recht, um sich für den Wiedereinstieg ins europäische Medienmanagement auf womöglich höherem Niveau und mit weiter reichenden Kompetenzen zu empfehlen. Auch Schawinski ist ein Einzelhändler, ein Einzelhändler seiner selbst und seiner ihm un-

8

Schawinski: Die TV-Falle, S. 142.

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Ebd., S. 162.

10 Ebd., S. 122. 11 Ebd., S. 125. 12 Ebd., S. 131.

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terstellten Fähigkeiten, der im Unterschied zu dem altmodischen Einzelhändler Schlöndorff keinen content, sondern seine Souveränität im Umgang mit den komplexen Netzwerken des audiovisuellen Industrie-Archipels in einer Phase des Umbruchs zwischen analogen und digitalen Medienpraxen anzubieten hat. Unübersehbar befindet sich das Privatfernsehen in Deutschland in einer Krise: die Risiken des Aufbruchs in eine digitale Zukunft setzen ihm stärker zu als den festgefügten, finanziell gut gepolsterten Öffentlich-Rechtlichen. Die Prognosen zur Entwicklung des Mediums allein in den kommenden fünf bis zehn Jahren weisen erhebliche, für das freie Unternehmertum bedrohliche Unschärfen auf. In dieser Situation ist die Performance, also das Erscheinungsbild des überragenden Geschäftsführers gefragt. Die Figur setzt sich aus Fiktionen zusammen, doch die stereotypen Begriffe „Glaubwürdigkeit“ und „Vertrauen“, die heute das gesamte politische Geschäft als symbolische Konstruktion zusammenhalten, gehören auch zur semantischen Ausrüstung des Medienmanagers als Einzelhändler seiner selbst. Sein Habitus macht ihn zum relativ neuen Sozialtypus einer Epoche, in der die Gewissheiten und bewährten Konzepte früherer Jahrzehnte von Kontingenzen und Imponderabilien, von Risiken und Gefahren überlagert werden oder längst obsolet geworden sind. Als Stratege siedelt der geniale Medienmanager stets am Rande des Flops; die Fixierung auf die Quote fügt der Figur den ambivalenten Charme des Glücksspielers hinzu. Es gehört zu seinem Selbstbild wie zu seinem öffentlichen standing, dass er den Widerspruch zwischen Qualität und Quote als Zwiespalt des eigenen Bewusstseins auszuhandeln sucht. Er habe, als er sein Amt bei Sat.1 antrat, auf Programmqualität gesetzt, „um auf diese Weise zu Quoten und Image zu gelangen“ schreibt Schawinski. Was ich jedoch massiv unterschätzte, war die Gefahr, dass man sich auf diese Weise schnell zu weit vom bestehenden Markenkern, zu weit von seinem Stammpublikum entfernen kann.13 In Betrachtungen dieser Art, deren eindimensionale Struktur sich kaum vom Basiswissen des modernen Medienmarketings unterscheidet, erschöpfen sich in der Tat das Dilemma des Medienmanagers und das ganze Geheimnis des Fernsehgeschäfts. Wie banal es in diesem Geschäft oft zugeht, illustriert eine Beobachtung der taz am Rande der Buchpräsentation in Berlin. In der Diskussion kam auch der Sat.1-Vierteiler Blackout zur Sprache, laut Schawinski ein „außergewöhnliches Stück Fernsehen“14, dessen Scheitern im Quotenkampf er in seinem 13 Ebd. 14 Ebd., S. 98.

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Buch ausführlich analysiert. Sein früherer Kollege Marc Conrad, mit Schawinski verantwortlich für die Produktion und gleichfalls auf der Veranstaltung anwesend, hatte allerdings eine Erklärung von durchschlagender Schlichtheit parat: Blackout sei für das Donnerstagsprogramm konzipiert gewesen, doch dummerweise am Sonntag gelaufen. „Wenn man von Anfang an gesagt hätte, wir machen etwas für den Sonntag, hätten wir das anders konzipiert.“15 Banaler kann ein Fehlschlag kaum sein – und vermutlich trifft Conrads Deutung recht präzis den Sachverhalt. Schawinski, Conrad und eine überschaubare Anzahl von Geschäftsführern vergleichbarer Prägung repräsentieren den Typus des gut dotierten, in seiner Manövrierfähigkeit allerdings begrenzten, zwischen Quotendiktatur und FlopPhobie lavierenden Allround-Managers inmitten der Verwerfungen des Medienumbruchs zwischen ‚analog‘ und ‚digital‘. Sie haben die ungewisse Zukunft fest im Blick, aber es ist ihr Schicksal, an die traditionellen Strukturen der Anstalt, des Senders, allenfalls einer Senderfamilie wie ProSiebenSat.1 gefesselt zu sein. Vermutlich haben sich diese Strukturen aber schon heute überlebt. Was Siegfried Zielinski vor etlichen Jahren in seinem Buch über Film und Fernsehen als Zwischenspiele der Mediengeschichte schrieb – „Ich gehe nicht mehr zum Film. Der Film kommt auch nicht mehr zu mir. Er geht mit mir.“16 – das gilt künftig, teilweise schon heute, auch für das Fernsehen. Die komprimierte Ausgabe der Tagesschau, die ich mir auf mein Handy senden lassen kann, macht mich nicht nur von der kompakten Empfangsapparatur und dem festen Empfangsort, sondern auch von der Programmstruktur und den Zeitleisten der Sender unabhängig. DVD-Recorder und Computer, also eine allgemein verfügbare technische Grundausstattung, verwandeln das Fernsehen schon heute in eine dezentrale Veranstaltung. Die medienpolitisch umstrittene, aber wahrscheinlich unaufhaltsame Okkupation des Internets durch die öffentlich-rechtlichen Sender impliziert nicht nur eine Vervielfältigung des Angebots und der Programmformate. Fernsehen im Internet insgesamt wird vielmehr die traditionelle Struktur der dispersa publica im Zeitalter der Massenmedien umwälzen und über die Rückkanalfähigkeit die alte SenderEmpfänger-Relation unterminieren. Wichtiger noch: Der Personal Computer ersetzt längst die alten Produktionsstandorte und ihre Maschinenparks, die Softwareindustrie ist der Motor und zugleich das entscheidende Bindeglied zwischen audiovisueller Produktion und ihrer weltweiten Veröffentlichung, und das Internet funktioniert gleichzeitig als raumlose Fabrikhalle und ortloses Archiv.

15 Raab: „Zaungast im Epizentrum“. 16 Zielinski: Audiovisionen, S. 224.

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Dies ist die Stunde eines Einzelhändlers ganz neuen Zuschnitts, seine Zahl ist heute schon Legion, und man muss keineswegs Prophet sein, um von einer Invasion zu sprechen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die wirtschaftlichen Strukturen in der Medienindustrie verändern wird. Ein Indikator für diese Entwicklung sind Filmportale im Internet wie YouTube, die inzwischen die Film- und Fernsehproduktion beeinflussen, als Publikationsplattform jedoch vom Kino wie von den Fernsehsendern vollkommen unabhängig sind.

Dritte Fallstudie: Diaz, die Filipinos und das Internet Anfang September 2007 lief als Abschlussfilm der Filmfestspiele von Venedig die Produktion Death in the Land of Encantos des philippinischen Regisseurs Lav Diaz. Bekannt wurde Diaz erstmals 2004 mit seinem Film Evolution of a Filipino Family, an dem er elf Jahre gearbeitet hatte. Darum muss zunächst etwas zu den Zeitverhältnissen gesagt werden, die für Diaz maßgeblich sind. Death in the Land of Encantos ist mit mehr als zehn Stunden einer der längsten Filme der Festivalgeschichte. In einem früheren Film von Diaz, Heremias, gibt es eine Kameraeinstellung, die annähernd eine Stunde lang ist. Diaz selbst sagt dazu, in einem Interview mit Tilman Baumgärtel, die Filipinos seien als malayisches Volk nicht vom Konzept der Zeit bestimmt, sondern vom Konzept des Raumes und von der Natur. Erst mit den spanischen Kolonisatoren habe die Reglementierung durch die Zeit Einzug gehalten. Diese Feststellungen sind anschlussfähig an sozio-ethnografische Beobachtungen von Claude Lévi-Strauss und an Theorien von Michel Foucault. Ich will diesen Verbindungslinien hier nicht nachgehen, sondern nur Diaz selbst zitieren, der als Bauernsohn auf der Insel Mindanao, wie er sagt, jeden Tag 10 km zur Schule laufen musste und 10 km wieder zurück. Er spricht von Raumdurchmessung, nicht von verbrauchter Zeit. „Diese langsame Ästhetik ist Teil meiner Welterfahrung.“17 Zweitens muss über die Produktionsweise und die Produktionsmittel von Diaz und seinen Kollegen gesprochen werden. Diaz dreht mit einer handlichen Digitalkamera und schneidet seine Filme auf einem G4-Macintosh-Rechner. Um die Filme auf einer großen Leinwand wie in Venedig zeigen zu können, muss das Material nur auf ein Videoband überspielt werden. Diaz nennt sein Speichermaterial, das digitale Videotape, seine „Befreiungstheologie“. Der pathetische Begriff hat einen handfest ökonomischen Kern. Die Produktionsmittel gehören ihm selbst, nicht einem arbeitsteiligen und hoch hierarchisierten Filmstudio. Der Computer, auf dem Diaz seine Filme schneidet, steht in einem winzigen Raum in Manila; bei starkem Regen wird der Fußboden überflutet, 17 Baumgärtel: „Meine Filme sind wie Gemälde“.

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was ihn nicht daran hindert, ungerührt weiter zu arbeiten. Die reduzierte Bildqualität des digitalen Videomaterials gegenüber einem in 35mm oder 70mm gedrehten Hollywoodfilm wird für ihn dadurch kompensiert, dass er keine Kompromisse mit der Industrie eingehen muss. Zur Befreiungstheologie wurde die neue Technik nicht nur für junge philippinische Regisseure, sondern auch für zahlreiche Filmemacher in Malaysia und im gesamten südostasiatischen Raum – damit für neue Einzelhändler außerhalb der etablierten Filmindustrie: global umtriebige Solitäre, deren Produktionen heute auf den großen Filmfestivals in Europa und den USA Erfolge feiern. Ihre Filme erreichen allerdings noch nicht die indigenen Bevölkerungen ihrer Länder (für die sie konzipiert sind), weil dort die Infrastruktur für ein unabhängiges Kino noch nicht existiert. Diaz und seine Kollegen sind die neuen Protagonisten einer globalisierten Kinematografie nach dem Umbruch von den analogen zu den digitalen Medien. Sie sind als Eigentümer ihrer Produktionsmittel wirkliche Independents, sie sind international orientiert und untereinander vernetzt. Schließlich muss über die ästhetischen Aspekte dieses Umbruchs gesprochen werden. Diaz kann es sich leisten, seine eigenen ästhetischen Maßstäbe zu etablieren. Material und Herstellung sind billig, niemand macht ihm irgendwelche Vorschriften; er allein bestimmt, dass seine Filme acht oder zehn Stunden lang sein sollen und dass den Stoffen eine langsame Erzählweise adäquat sei. Er sagt: Man kann sich das acht Stunden lang ansehen und dadurch eine bereichernde Erfahrung haben. Oder man kann zwei Stunden rausgehen, und wenn man zurückkommt, ist der Film immer noch da.18 Diaz arbeitet mit hybriden Formen – nicht nur mit der Mischung von Dokumentar- und Spielfilm, die auch im kommerziellen Kino mittlerweile Standard ist. Seine Filme sind politische Experimentalfilme, elaborierte Collagen aus realistischen, strikt dokumentarischen, fiktionalen, magisch-traumhaften und militant politischen Semantiken, die sich an das einheimische Publikum wenden, aber auch an eine internationale community neuer Cinéasten, die ihre Wahrnehmungserlebnisse nicht mehr ausschließlich im Kino, schon gar nicht vom Fernsehen, sondern zunehmend aus dem Internet bezieht. Eine Konsequenz aus den technisch bedingten Umwälzungen zogen im Winter 2007/08 die in der Writers Guild of America zusammmengeschlossenen 12.000 Drehbuchautoren Hollywoods, die monatelang gegen ihre Arbeitgeber streikten: gegen jenes Machtkartell, das sich schon lange Alliance of 18 Ebd.

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Motion Picture and Television Producers nennt, weil die berühmten fünf großen Filmkonzerne längst unter dem Einfluss der nationalen TV-Networks und global agierender Telekommunikationskonzerne stehen. Folgerichtig brachen unter dem Streik als erste die Produzenten der Talkshows und Sitcoms zusammen, die etliche Wochen gezwungen waren, ihre Konserven zu versenden. Kann man die 12.000 Drehbuchschreiber als eine Ansammlung von Einzelhändlern bezeichnen? Wohl kaum: Die Skriptautoren waren schon immer die – teilweise recht gut bezahlten – Heloten Hollywoods; was sie auszeichnet, sind ihr hoher Organisationsgrad und ihre kampfstarke Gewerkschaft, deren Interventionen stets ein Indiz für einen Medienwechsel, für Brüche im Gefüge der alten Leitmedien waren. 1985 ging es um den Siegeszug des Kassettenrekorders und der Videokassette: Sie brachten den Konzernen neue zusätzliche Einnahmen, an denen die Autoren beteiligt sein wollten – sie veränderten aber auch einschneidend den Markt und erschütterten erstmals die Hegemonie des Kinos als einziger Amortisationsstätte der Filmproduktion. Heute geht es abermals um die neuen Vertriebskanäle. Die Autoren wollen nicht nur am DVD-Geschäft partizipieren, sie wollen auch an den Filmen und Fernsehserien im Internet mitverdienen sowie an den Downloads, die für die Nutzer von Handys und i-Pods angeboten werden. Noch immer werden die großen Umsätze von einigen wenigen, anonymer gewordenen Imperien realisiert, aber die Leitmedien Kino und Fernsehen, für die diese Imperien einst standen, lösen sich mit der Vielfalt der Vertriebskanäle, ebenso mit der Vielfalt der Nutzeroptionen allmählich auf. Jeder nutzt das Handy oder das Internet anders, der individuelle Zugriff auf die neuen Medien schwächt den Zentralismus, die Sogkraft, die mit dem Prinzip des Leitmediums einmal verbunden war. Metaphorisch gesprochen, kann man die Epoche der Leitmedien als das Feudalzeitalter der Mediengeschichte bezeichnen. Diese Epoche neigt sich ihrem Ende zu. Bezieht man diese Überlegung auf die großen historischen Koordinaten, wäre das Medienfeudalzeitalter der Epoche der Hochindustrialisierung zuzurechnen: die Massenpresse, das Radio, Kino und Fernsehen haben viel für die Selbstreflexion, damit auch für den Zusammenhalt der alten Industriegesellschaften in der Zeitspanne etwa zwischen 1850 und 1990 geleistet. Der gegenwärtige Medienumbruch besiegelt zugleich das Ende der klassischen Industriegesellschaft und das Ende des Medienfeudalismus. Erst das Fernsehen hat uns gelehrt, die Frage, was ein Leitmedium sei, präzis auf den Begriff zu bringen. Erst mit dem Fernsehen lernten wir, was ein Leitmedium leistet: als zentrale Instanz der Alltagskultur und des Alltagswissens, als Sinnstiftungsmaschine und Steuerungsinstanz des common sense und der kollektiven Aufmerksamkeitspotentiale, als Organisator von Wahrnehmungsstrategien und Verhaltensweisen. Doch ebenso gilt: Die allmähliche Auflösung

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der Megamaschine Fernsehen verweist uns auf die Auflösung des Prinzips ‚Leitmedium‘ überhaupt, auf sein Verschwinden aus der Geschichte. Der Feudalismus der mächtigen Sendezentralen mit ihren generalisierenden Sinnstiftungsangeboten ist im Begriff, anachronistisch zu werden. Zählebiger hingegen ist der Einzelhändler als prototypischer Medienakteur. Er wechselt allerdings seine Haut. Mit den traditionellen Industriekomplexen verschwindet der Autor-Produzent, der seine Seele an die Konzerne verkauft, noch lange nicht, aber er wird zu einer unzeitgemäßen, irgendwie tragikomischen Figur. Auch der tycoon, der Medienmanager vom Schlage Rohrbachs oder Schawinskis, bewegt sich zunehmend in unsicherem Terrain und wird an Boden verlieren, wenn er am Konzept des Leitmediums, des Vollprogramms, der zentralen Botschaften festhält. Die Invasion der neuen, digital gerüsteten Einzelhändler unterminiert die alte Industrielandschaft; sie wird nicht etwa die bewährten Medien von heute auf morgen abschaffen, aber das Prinzip des Leitmediums wird seine Bindekraft einbüßen und seine Faszination verlieren.

Literaturverzeichnis Baumgärtel, Tilman: „Meine Filme sind wie Gemälde“, in: taz, 29.08.2007. Brecht, Bertolt: „Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment“, in: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18, Frankfurt a.M. 1967, S. 139209. Neuwirth, Manfred: „Digitallandschaft mit Einzelhändlern“, http://members. aon.at/manfred.neuwirth/texts/texts_by/digitallandschaft_main.html, 26. 02.2008. Raab, Klaus: „Zaungast im Epizentrum“, in: taz, 29.08.2007. Rohrbach, Günter: „Das Kino bleibt ein Traum“, in: Süddeutsche Zeitung, 19.07.2007. Schawinski, Roger: Die TV-Falle. Vom Sendungsbewußtsein zum Fernsehgeschäft, Zürich 2007. Schlöndorff, Volker: „Vorhang auf, Vorhang runter“, in: Süddeutsche Zeitung, 12.07.2007. Wildenhahn, Klaus: „Industrielandschaft mit Einzelhändlern – Nachtrag zu den Duisburger Debatten um den Dokumentarfilm im November 1979“, in: Filmfaust, Nr. 20, November 1980. Zielinski, Siegfried: Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1989.

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Benutzerführung und Technik-Enkulturation. Leitmediale Funktionen von Computerspielen Das Computerspiel ist das Leitmedium unserer Zeit. Dass es diesen Platz innehat, erklärt sich trotz und gerade jenseits seiner Inhalte. In der Medienkultur des 21. Jahrhunderts kann sich ein Leitmedium unseres Dafürhaltens nicht (mehr länger) über Inhalte, sondern nur über seine Struktur und seine Funktion definieren. Gleichzeitig eröffnet diese Perspektivenverschiebung Aufschlüsse einerseits über das postulierte Leitmedium und andererseits über Mechanismen der Medienkultur im Allgemeinen. Um die These zu untermauern, dass das Computerspiel als das Leitmedium des 21. Jahrhunderts verstanden werden kann, muss zunächst der Begriff des Leitmediums weiter spezifiziert werden. Die ad hoc-Behauptung, dass es sich beim Computerspiel um ein ‚gefühltes Leitmedium‘ handelt, postuliert auch, dass wir im Folgenden von dem Computerspiel und eben nicht von bestimmten Formaten, Genres oder Enunziationen ausgehen. Die Frage, was ein Leitmedium sei, beantwortet sich unterschiedlich – je nachdem, wen man und wonach man fragt. Eine zu erwartende Antwort ‚des Mannes und der Frau von der Straße‘ auf die Frage, welche Medien sie am häufigsten benutzen und über welche Medien sie häufig sprechen, wäre sicherlich: Bild-Zeitung und Computerspiele, Google, Blockbusterfilme und Deutschland sucht den Superstar. Eine Umfrage in Verlagshäusern, Medienbüros und Staatskanzleien hätte – so ist zu vermuten – das gleiche Ergebnis. Die Antwort auf die Frage, was ein Leitmedium sei, ließe sich verallgemeinernd so verstehen, dass ein Leitmedium dasjenige Medium sei, das intersubjektives Orientierungswissen politischer und kultureller Natur zur Verfügung stelle: Wochenund Tageszeitungen, die Tagesschau, Spiegel(-Online) und ein gutes Buch. In der Suche nach der Definition und einem Kanon der Leitmedialität kann auch die Kommunikationswissenschaft befragt werden. Diese untersucht im Zusammenhang mit Leitmedien zumeist Zeitungen oder Zeitschriften, also einzelne Medienprodukte, wie den Spiegel oder die Bild-Zeitung. Hohe Verbreitung oder Reichweite und Zitierhäufigkeit werden hier als Kriterien für Leitmedialität herangezogen,1 allerdings auch ein Qualitätsanspruch, besondere journalistische Leistungen und ein Publikum, das aus gesellschaftlichen Eliten (Führungsschicht, Entscheidungsträger) zusammengesetzt ist. Die Bild-Zeitung fällt wegen mangelnden Qualitätsanspruchs – wer immer den auch festlegen

1

Vgl. z.B. Wilke, „Leitmedien und Zielgruppenorgane“, S. 302f.

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mag – in dieser Sichtweise schon als Leitmedium aus; sie wird unter populären Medien abgehandelt. Im Allgemeinen geht die Kommunikationswissenschaft davon aus, dass Leitmedien bestimmte Themen aufgreifen und verbreiten, so genanntes Agenda-Setting betreiben, das dann die öffentliche Diskussion prägt. Das Computerspiel fiele also bei der Kommunikationswissenschaft durch das Raster und wäre kaum geeignet, ein Leitmedium zu sein oder zu werden. Es ist ein populäres Medium – inwieweit gesellschaftliche Eliten Computerspiele spielen, wäre zu überprüfen – und Computerspiele betreiben kein Agenda-Setting, sie sind vielmehr Thema in Medien, die gegebenenfalls Leitmedien sind. Statt nun aber resigniert aufzugeben und die Idee vom Computerspiel als Leitmedium zu Grabe zu tragen, soll im Folgenden vielmehr der kommunikationswissenschaftliche Begriff von Leitmedien zurück gestellt werden. Dessen Zugriffsweise hat unseres Verständnisses nach ein dreifaches Problem: Sie leidet unter einem elitären Kulturverständnis, einem unscharfen Medienbegriff und einem unklaren Verständnis von der Funktionsweise der Medien. Wenden wir uns der detaillierten Auseinandersetzung mit dieser Generalkritik zu: Das elitäre Kulturverständnis des verhandelten Begriffs der Leitmedialität manifestiert sich unter anderem in der normativen Themenzentriertheit des Begriffs. Themen, die in Formaten verhandelt werden, welche nicht bestimmten Qualitätsansprüchen genügen, werden ausgeschlossen. Das Themenfeld ‚Berühmtheit‘, ‚Prominenz‘ und ‚Stars‘ beispielsweise begegnet uns tagtäglich in In Touch, Gala, der Bild, Explosiv, Prominent, Deutschland sucht den Superstar oder ähnlichen Formaten, und in bestimmter Hinsicht prägen Diskussionen über diese Themen unsere Gesellschaft vermutlich tiefgreifender als es Berichte in so genannten Leitmedien tun. In der Aushandlung gesellschaftlicher Bedeutung hat das Streben nach 15 Minuten Ruhm möglicherweise eine dominantere Leitfunktion als Diskussionen um Tarifverhandlungen. Zumindest aber gehören beide Themenfelder zu einem Ensemble der Herstellung von intersubjektivem Orientierungswissen – ein Faktum das ausgeblendet wird, wenn man von vorn herein ‚inhaltliche‘ Relevanzkriterien aufstellt. Wenn man also über Computerspiele spricht, so hilft ein a priori eingeschränktes Kulturverständnis nicht weiter. Denn Computerspiele entfalten ihr Potenzial insgesamt als populäre Medien oder Medienformate und lassen sich weder auf ,Serious Games‘ noch auf ‚Kunst‘ reduzieren. Was ein kluges oder ein weniger kluges Spiel ausmacht, wäre im Einzelfall zu entscheiden. Der unscharfe Medienbegriff der kommunikationswissenschaftlichen Wendung des Leitmedienbegriffs ist in der Fixierung auf einzelne Medienprodukte begründet. Wenn der Spiegel, die FAZ oder die Hörzu als mögliche Leitmedien gehandelt werden, dann wäre auf dieser Ebene nicht das Computerspiel per se dagegen zu stellen, sondern es müssten vielmehr einzelne Spiele wie z.B. Fifa

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Soccer 2008, Chemicus oder Barbie als Rapunzel betrachtet werden. Vom Standpunkt eines kultur- und medientheoretisch konturierten Leitmedienbegriffs wären jedoch nicht einzelne Medienprodukte zu vergleichen, sondern stattdessen bestimmte Medien mit spezifischen Eigenschaften. Es wäre dann über Zeitungen und Zeitschriften oder das Fernsehen oder die Computerspiele als jeweils unterscheidbare Medien(formationen) in ihren konkreten historischen, sozialen und ästhetischen Ausprägungen zu sprechen. Das unklare Verständnis von der Funktionsweise der Medien manifestiert sich schließlich in der durch den kommunikationswissenschaftlichen Begriff der Funktion von Leitmedien vorgegebenen Wirkungsunterstellung, die hierbei schlicht auf den Medien(formats)inhalt bezogen wird – es wird über Themen gesprochen. Der Einfluss von Medien beschränkt sich jedoch nicht auf Themen. Er ist tiefgreifender. So hat beispielsweise die Tagesschau nicht insofern Leitmedienfunktion, als dort bestimmte Themen verhandelt werden, sondern weil es das Fernsehen mit der Tagesschau geschafft hat, eine Tagesstrukturierung oder gar -ritualisierung vorzunehmen. Gleiches gilt nun auch für Computerspiele: Ihre Leitmedialität lässt sich kaum an den in ihnen verhandelten Themen diskutieren. Ihre diesbezügliche Qualität gewinnen sie stattdessen aus den funktionalen und strukturellen Gebrauchsformen, die sie generieren. Wenn also im Folgenden das Computerspiel als Leitmedium verhandelt werden soll, dann eben gerade nicht aus einer Perspektive seiner Inhaltlichkeit, seiner Formathaftigkeit oder seines Agenda-Settings. Es gilt vielmehr Handlungsmuster, die am Computerspiel abgelesen werden können, und die paradigmatisch für unseren Umgang mit digitalen Medien sind, ins Zentrum der Reflexion zu rücken. Für solch eine Argumentation kommt dem ‚Kern‘ des Leitmedienbegriffs wesentliche Bedeutung zu. Denn auch im Zentrum der kommunikationswissenschaftlichen Argumentation steht der Gedanke, dass ein Leitmedium gesellschaftliches Orientierungswissen zur Verhandlung anbietet und damit als Konstitutivum von Intersubjektivität, Gemeinschaft und Erfahrung gilt. Zu verändern wäre unseres Dafürhaltens lediglich die Konzeption der ‚Herstellung‘ solchen Orientierungswissens. Das an den Paradigmen ‚klassischer‘ Kommunikationsmodelle und einem Kulturbegriff der Differenz (Hoch- vs. Populärkultur) aufsitzende Modell bedarf einer Revision. Die folgenden Überlegungen fußen darum auf der Annahme, dass das gesellschaftliche Wissen unserer Kultur aktuell nicht im Sinne einer top downKommunikation von Kommunikatoren und opinion leaders durch die gesellschaftlichen Schichten hindurch bewegt und dabei immerwährend ‚übersetzt‘ wird, sondern dass sich das Orientierungswissen in einer Gesellschaft, die durch eine Gleichzeitigkeit von Differenzierung und Entdifferenzierung gekennzeichnet ist, in unterschiedlichsten Artikulationsformen und Materialisie-

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rungen immerfort neu schreibt und umschreibt. Orientierungswissen ist insofern weniger an einen ‚Kanon‘ von Normen und als relevant erachteten Informationen gebunden, sondern stellt sich viel mehr vermittelt über einen ‚diffusen‘ common sense her. Damit ‚gleitet‘ der Ort der Leitmedialität aber latent aus dem ApparativInstitutionellen des Mediums in ‚das Sprechen‘. Gesellschaftliche Bedeutungsproduktion ist als eine vielschichtige und in permanenter Bewegung begriffene Verhandlung offener Wissensbestände zu verstehen, die in ihrer jeweiligen Verhandlung und Neuverhandlung instantiiert, reglementiert und immer neu bestätigt werden. Solche ‚Verhandlungen‘ formen das, was umgangssprachlich als common sense2 bezeichnet werden könnte. Aufgabe (technischer) Medien ist es nunmehr, nicht eine Agenda zu setzen, sondern die Zirkulation und Variation von Bedeutungsaushandlungen zu gewährleisten. John Fiske und John Hartley haben die Idee des ‚bardischen Fernsehens‘ („bardic television“) aufgeworfen, die als Analogie den mittelalterlichen Barden bemüht. Dieser – so Fiske/Hartley – hätte wie aktuelle Massenmedien auch keine eigenen ‚Themen‘ kommuniziert, sondern ‚nur‘ den Transport von oral history von Ort zu Ort übernommen. Dennoch sei seine Funktion gewichtig, da er einerseits als Institution den Transport sichergestellt und andererseits durch sein ‚dramaturgisches‘ Talent die Forcierung des Gehörten betrieben habe. Frage man aber nach dem Ort des ausgehandelten Wissens, so wäre dies eben nicht beim Barden, sondern in der Volkskultur anzusetzen. In ähnlicher Weise konturieren wir nun im Folgenden unseren Begriff eines Leitmediums: Als Leitmedium verstehen wir ein präsentes und strukturfunktionales technisches System, das hochgradig an der Oszillation bestimmter relevanter Wissensformationen beteiligt ist. Wesentlich erscheint uns dabei aber zweierlei: einerseits dass ‚der Barde‘ durchaus einen identifizierbaren Effekt am ‚Übertragenen‘ ausübt (im Falle des Computerspiels ein Verschwinden und Naturalisieren einer bestimmten Form des ‚ideologischen‘, operationalen Wissens) und andererseits, dass ‚der Barde‘ keineswegs in einem System ‚nur‘ symbolischer Operationen unterwegs ist, sondern immer auch gekoppelt mit spezifischen Formen von Handlungswissen auftritt. Wenn wir also das Computerspiel als Leitmedium identifizieren, kann es daher auch weniger um Computerspiele im Sinne einzelner identifizierbarer Produkte gehen, als vielmehr um die Durchdringung der gegenwärtigen Medienkultur durch das ‚Spielerische‘, das sich gerade im Computerspiel manifestiert. Dieser konstatierten Durchdringung soll im Folgenden unter vier Aspek2

Kriterien eines common sense können in Bezug auf Clifford Geertz durch fünf Eigenschaften zusammengefasst werden: Natürlichkeit, Praktischheit, Dünnheit, Unmethodischkeit und Zugänglichkeit (vgl. Dichte Beschreibungen, 275-286).

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ten nachgegangen werden: der Conflict Enculturation Theory, dem Stellenwert der Regel, dem Rollen-Begriff und der Konzeptualisierung der Interaktivität. Bevor dies aber verhandelt werden kann, soll kurz (exkursiv) über den hier zugrunde liegenden Medienbegriff des Digitalen nachgedacht werden, um zu klären, warum gerade Computerspiele als Leitmedien konzeptualisiert werden müssen. Dies geschieht weniger zur Legitimation oder Nobilitierung eines Gegenstandes, sondern weil hier die These vertreten werden soll, dass das Computerspiel exemplarisch und als paradigmatisches Segment einer Medienkultur des ‚Digitalen‘ zu verstehen ist.

Vernetzte (Spiel-)Rechner Ein Leitmedium innerhalb eines zunehmend vernetzten Systems der Medien definiert sich weniger über die Formatierung oder die Inhaltlichkeit, sondern durch seine Konstitution von kommerzieller, technischer, ästhetischer und kultureller Bedeutung und Einflusskraft. Aus dieser Perspektive wäre nun die These zu vertreten, dass nach dem Fernsehen aktuell der Computer, oder präziser: die über das Internet miteinander vernetzten Rechner und digitalen Systeme das Leitmedium zumindest für die abendländischen Kulturen der ‚Ersten Welt‘ darstellen. Wenn heute der vernetzte Computer als potentielles Leitmedium wahrgenommen wird, so bleibt dessen medialer Status nichtsdestotrotz weiterhin fragwürdig bzw. unterbestimmt. Er oszilliert zwischen bloßem Rechenwerkzeug, ‚Container‘ für andere Medien, technischer Infrastruktur und digitalem Universalmedium. Andererseits scheint für den herausgehobenen Status des vernetzten Computers die Behauptung einer emanzipatorischen Stellung des Mediums kennzeichnend, die in Schlagworten der gleichberechtigten Teilhabe wie Partizipation, Interaktion oder Immersion kulminiert. Diese – wenn auch unscharfen – Konzeptualisierungen des Computers haben aber auch Aus- und Rückwirkungen auf die Ansprüche und Definitionskriterien hinsichtlich des Paradigmas ‚Leitmedium‘ selbst. Universalität, Vernetzung, Hybridität und Intermedialität werden zu Voraussetzungen für alle Mediengattungen und -formate, um im multimedialen Mediensystem potentielle Leitfunktion übernehmen zu können. Der Computer evoziert die Vorstellung eines ‚Universalmediums‘, also eines Metamediums, welches sich substantiell aus der unterstellten Ineinandercodierbarkeit aller getrennt veranschlagten Einzelmedien ergibt. Töne, Bilder, und Texte, sowie Radio, Fernsehen, Bücher und das Kino finden in dieser Universalitätsvorstellung ihr hybrides Miteinander. So gesehen würde das Computerspiel als ‚ultimative‘ Remedialisierung im Sinne Bolter und Grusins mit seinen visuellen Repräsentationen,

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Cut-Scenes, Textbausteinen und Klängen archetypisch für eine solche Verschmelzung einstehen. In dieser eher ‚strukturellen‘ Perspektive (und in Abgrenzung von einer inhaltszentrierten Perspektive) erweist sich das Computerspiel als höchst charakteristisch für eine so rekonstruierte Logik des multimedialen Mediensystems. Das Spiel adaptiert etablierte symbolische Formen, ist dem Computer von Anfang an beigegeben und entwickelt vor allem im vernetzten Computer eine dominante Sonderstellung, insofern hier alle Symptome der Unifizierung und der ihr anhängigen Effekte zum Tragen zu kommen scheinen. Gleichzeitig ‚enkulturiert‘ sich über das Spiel das neue vernetzte Leitmedium in die Kultur.

Conflict Enculturation Theory Die Spielforscher John M. Roberts und Brian Sutton-Smith haben 1962 anhand einer vergleichenden Studie von Kinderspielen die „conflict enculturation theory“ entwickelt (übersetzt etwa ‚Theorie des Anpassens von Konflikten in die Kultur‘). Diese Theorie bietet eine kultursoziologische Erklärung für die Entwicklung des vermehrten Spielens mit dem Computer, die schließlich das Computerspiel funktional mit einer Adaptionsbewegung an die Veränderungen digital prozessierter Medialität und der Stellung des vernetzten Computers in Zusammenhang bringt. Sutton-Smith geht davon aus, dass Spiele immer auf gesellschaftlich relevanten Konflikten beruhen. „Games have to do with some of the major tasks of survival in the groups in which they are found“, schreibt Sutton-Smith.3 Diese Konflikte würden von Spielen adaptiert und in dem vom Spiel geschaffenen Freiraum einer symbolischen Lösung zugeführt. Marshall McLuhan konstatiert einen ähnlichen Bezug zwischen einer Gesellschaft und ihren Spielen: Spiele sind Volkskunst, kollektive gesellschaftliche Reaktionen auf die Haupttriebkräfte oder Wirkungsweisen einer Kultur. Spiele sind wie Institutionen, Ausweitungen des sozialen Menschen und der organisierten Gesellschaft.4 Bei seinen Überlegungen zur Einordnung des Videospiels in das System der Enkulturation kommt Sutton-Smith zu der Überzeugung, dass es der Umgang mit der Maschine selbst ist, den es zu meistern gilt: „The adaptive problem in

3

Sutton-Smith, Toys As Culture, S. 63.

4

McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 255.

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the video game is to ‚beat the machine‘“.5 Denn die gesellschaftlichen Probleme, die in Videospielen adaptiert würden, gründeten zumeist auf der Computertechnologie und ihren Auswirkungen: Sei es der Umgang mit Raumfahrt, Atombomben, Robotern u.Ä. Insofern sei der Computer als Gegner zu verstehen und jedes Videospiel ein Wettkampf. Das Videospiel nun reduziere die ‚Maschine‘ und die mit ihr verbundenen Probleme auf ein menschliches Maß, auf eine Ebene, die eine Reaktion und einen Umgang mit ihnen erlaube, und so ein Angstpotential abbaue. „Video games are, among other things, a human response to the fear of the great machine“.6 Im konkreten Spiel habe der Computer die gleichen Fähigkeiten wie menschliche Spieler und sei insofern ein bezwingbarer Gegner. Nach wie vor sei der Computer jedoch auch Regelgeber, der die Art des Spiels und den Umgang mit ihm festlege.7 Tatsächlich sind Computerspiele, die allein gegen den Computer gespielt werden, in der Regel darauf angelegt, schließlich den Spieler gewinnen zu lassen, der sich so der ‚Maschine‘ überlegen fühlen kann. Lassen Spiele nicht die Möglichkeit des Gewinnens zu, so werden sie nicht lange oder nicht häufig gespielt werden, da sich kaum jemand freiwillig ständigem Verlieren aussetzt. Folgerichtig bieten die meisten Computerspiele unterschiedliche Schwierigkeitsgrade an, so dass die Spieler nach ihren Fähigkeiten auswählen und schließlich gewinnen können. Das bedeutet jedoch nicht, dass ein Spieler ein einmal begonnenes Spiel beim ersten Mal durchspielen kann. Vielmehr ist auch bei einem skalierbaren Schwierigkeitsgrad ein Üben notwendig, was wiederum zu dem Gefühl beiträgt, für den Sieg wirklich etwas getan zu haben. Wer will schon einen Sieg geschenkt bekommen … Bei diesem Ansatz – bezogen auf die Computerspiele – geht es also nicht um das, was gespielt wird oder was in der spielerischen Welt geschieht, sondern um die Tatsache, dass mit einem Gerät, dem Computer gespielt wird, im Hinblick auf einen Prozess der Enkulturation von Technik. Sehr früh in der Computerspielgeschichte wurde diese Funktion von Spielen, technische Geräte verständlicher, menschlicher zu machen – ob bewusst oder unbewusst – von William Higinbotham am Brookhaven National Laboratory (BNL) genutzt.8 Um die Arbeit der Abteilung für den Tag der offenen

5

Sutton-Smith, Toys As Culture, S. 66.

6

Ebd., S. 67.

7

Vgl. ebd., S. 66.

8

Higinbotham arbeitete, nachdem er einige Zeit beim Manhattan Projekt (dem USAtomforschungsprojekt) beschäftigt war, am Brookhaven National Laboratory (BNL), einem 1947 von der US-Regierung auf einem ehemaligen Armee-Stützpunkt eingerichteten Forschungslabor. Dem Department of Energy unterstellt, wurde und wird am BNL physikalische Grundlagenforschung betrieben, vor allem

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Tür aufzubereiten, wollte der Physiker Higinbotham nicht nur Statistiken zeigen, sondern baute mit einem Kollegen zusammen Tennis for Two, eine Anwendung für einen Analogcomputer, die heute oft als das erste Videospiel bezeichnet wird. Von außen ein schwarzer Kasten unter einem Oszilloskop, konnten doch die Besucher selbst Hand anlegen und mit der Technik spielen. Auch wenn sie damit keinen wesentlichen Einblick in die Forschung am BNL erhielten, so war die Technik mit Tennis for Two doch nichts völlig unzugängliches mehr, sondern etwas, das man auch anfassen und selbst beeinflussen konnte. Auch historisch lässt sich zeigen, dass die Einführung neuer Produktionsund Distributionstechnologien häufig spielerische Aspekte im Sinne adaptiver Enkulturationsbewegungen nach sich zieht. Die Eisenbahn fand ihr spielerisches Äquivalent in der Achterbahn (und der Modelleisenbahn), die zunehmende maschinelle Produktion in den Fabriken in Spielautomaten, den Slot Machines.9 Solche spielerischen Adaptionen sind Teil einer industriellökonomischen Entwicklung, in der Soziales und Technisches sich immer enger durchdringen, und in der das Spiel an der Enkulturation des Technischen auf bestimmte Weise mitwirkt.10 Computerspiele könnten so betrachtet als eine Form der Aneignung und des sich Gewöhnens an eine neue Produktionstechnologie gelten. Der Prozess der Aneignung betrifft dabei vermutlich nicht nur Aspekte der Aneignung technischer Kompetenzen und der Gewöhnung an die neue Technologie, sondern auch die Adaption an damit verbundene neue Produktionsweisen, Kommunikationsgewohnheiten und mentale Justierungen (z.B. durch veränderte Aufmerksamkeitshaltungen am Bildschirmarbeitsplatz oder die Einübung in die Produktivitätsanforderungen neoliberaler Dienstleitungskultur).

im Bereich der Nuklearphysik. 1948 kam Higinbotham zum BLN und war 19511968 Leiter der Instrumentation Abteilung, die sich mit der Entwicklung von wissenschaftlichen Geräten beschäftigte. 9

Vgl. z.B. Hutamo: „Slots of Fun, Slots of Trouble“.

10 Die spielerischen Adaptionen von „großtechnischen Systemen“ (vgl. Braun/Joerges: „Große technische Systeme) sind Teil einer industriell-ökonomische Entwicklung, die – in Anlehnung an Siegfried Giedions „Herrschaft der Mechanisierung“ – als ‚Herrschaft der Elektronisierung‘ charakterisiert werden kann und die an der Enkulturierung des Technischen und eines Paradigmas der Regelrationalität und ‚Algorithmisierbarkeit‘ von Rationalität in der Kultur mitwirken.

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Regeln Der zweite Aspekt, der im Folgenden betrachtet werden soll, und der die Durchdringung der gegenwärtigen Medienkultur mit dem Spielerischen charakterisiert, betrifft den Stellenwert der Regel. Spiele haben Regeln. Ihnen folgend wird festgelegt, wer gewonnen und wer verloren hat und was zu tun ist, um zu gewinnen bzw. zu unterlassen, um nicht zu verlieren. Auf eine bestimmte Weise zeichnen sich (frühe) Computerspiele durch simple Regeln und einfache Spielprinzipien aus. Auf dem ersten Atari-ArcadeAutomaten von 1972 – dem PONG-Spiel – findet sich als Spielanleitung nur der Satz „Deposit Quarter – Ball will Serve Automatically – Avoid missing Ball for Highscore“. Diese Regelanweisung ist so verblüffend einfach, dass die Frage nach den – vermutlich viel umfassenderen – technikimpliziten Regeln des Spiels aufgeworfen wird; nach Regeln, die in den Apparat selbst als Teil seines Funktionierens eingeschrieben sind, die aber, weil sie unserem direkten Zugriff entzogen sind, nicht als explizite Anweisungen daherkommen, sondern ihre Wirksamkeit im performativen Vollzug des Spielens entfalten. Man kann hier an die Regeln für die Flugbahn des Balls denken oder für die Bewegungen der Schläger, die von den Spielern durch Steuerelemente bedient werden müssen. So könnte spekuliert werden, ob die betonte Einfachheit des Spiels – die nur bedingt der technischen Limitation damaliger Gerätetechnik geschuldet zu sein scheint – nicht sogar die strategische Durchsetzung des Medienverbundes verständlich machen hilft. Daran anschließend wäre zu fragen, inwiefern die Limitation von abstraktem Lernen oder die Auseinandersetzung mit Regelwissen im Spiel nicht auch eben eine Form der Enkulturierungen ‚technikideologischer‘ Bestände der digitalen Technik darstellen.11 Denn die Erfahrung, ein Spiel intuitiv spielen zu können, ‚erzählt‘ auch von einer generellen intuitiven Benutzbarkeit der Programme und Werkzeuge des Rechners. So wie (seit Mitte der 1990er Jahre) die Tastenkombination „W-A-S-D“ in vielen keybordgesteuerten Spielen konventionell die vier Laufrichtungen angibt, so ist ‚Ctrl C‘ bzw. ‚Apfeltaste C‘12 gemeinhin der Kopierbefehl vieler Software-Anwendungen. So wie ein Spiel dem Spieler im ‚Herumspielen‘ seine Regeln offenbart, so ist auch das ‚Herumspie11 Erst im Zusammenhang der gesteigerten sozialen Implementierung digitaler Technik erhält das Computerspiel seine Leitmedium-Funktion. Der Pong-Automat von 1972 ist demgegenüber lediglich als früher Vorläufer zu betrachten, dessen Funktion im damaligen Mediensystem nur bedingt für Rückschlüsse auf die heutige Situation zulässt. 12 Die Funktionalität von ‚Copy&Paste‘ wurde zunächst durch Apples Betriebssysteme Lisa (1981) und Macintosh (1984) bekannt und später durch Microsoft für Windows-Rechner adaptiert.

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len‘ mit komplexen Softwareanwendungen Teil einer intuitiven und erfahrbaren Sozialisation an die ‚multimedialen Werkzeuge‘ unseres Arbeitsalltags. Tatsächlich stellt der Begriff der Regel ein entscheidendes Verbindungsglied zwischen Spiel und Software-Anwendung dar. Um dies verständlich zu machen, muss zunächst der Begriff der Regel präzisiert werden, gibt es doch unterschiedliche Arten von Regeln. So unterscheidet John R. Searle in seinem Buch Sprechakte zwischen konstitutiven und regulativen Regeln. Konstitutive Regeln sind Regeln, die Handlungen erst ermöglichen, sie eben konstituieren. Dies ist bei dem, was wir unter Spielregeln verstehen, der Fall. Die Regeln für Schach zum Beispiel konstituieren das Schachspiel. Sie legen die Begrenzungen des Spiels fest (64 Felder) die Parteien (zwei Spieler), die Spielfigurenkonstellation (jeweils 8 Bauern, eine Dame und ein König und je 2 Türme, Springer, Läufer). Sie legen fest, wie die Figuren auf dem Brett bewegt werden dürfen, dass abwechselnd gezogen wird, dass nur jeweils eine Figur auf einem Feld stehen darf, wann eine Partei gegnerische Figuren schlagen darf und welche Gewinnbedingungen gelten. Dieser unvollkommene Katalog von Regeln deutet an, wie aufwändig es ist, ein Spiel zu entwerfen. Und er zeigt auch, wie rigide diese Regeln sind, die ein Spiel konstituieren: Schach existiert ohne die Regeln nicht und nur wer die Regeln befolgt, spielt auch Schach. Setzt ein Spieler zwei Figuren gleichzeitig oder zieht er einen Turm diagonal über das Feld, so bewegt er zwar die Spielfiguren, spielt aber kein Schach, sondern macht entweder ‚Blödsinn‘ oder spielt ein anderes Spiel. In einer etwas erweiterten Sichtweise kann die konstitutive Regel auch als eine Regel begriffen werden, die ‚jenseits‘ einer gesellschaftlichen Alltäglichkeit existiert. Die konstitutive Regel ist in einer gewissen Weise arbiträr und suggeriert eine gesellschaftliche Herausgelöstheit. Sie sitzt auf der Effektivität der freiwilligen Vereinbahrung auf, steht also ‚neben‘ den gesellschaftlich konstitutiven, intersubjektiven Regeln und Normen.13 Huizinga bringt diese Funktion der Regel auf den Begriff des „Zauberkreises“, der das Spiel in seiner Abgrenzung gegenüber dem alltäglichen Leben definiert. Die Stabilität dieses im Spiel zu erfahrenden Heraustretens aus dem Alltag generiert sich über die Effektivität der bestehenden Regeln, die (zumindest für die Dauer des Spiels) als ‚natürlich‘ gelten, zur Natur des Spiels und der Spielerfahrung werden. Die Schachfi13 Tatsächlich muss in gewissem Sinne die Formierung konstitutiver Regeln in Abhängigkeit und als Folge von regulativen Regeln und kultureller Bedeutungsproduktion gesehen werde. Dies wird insbesondere bei den Regeländerungen deutlich, die ein Spiel erfahren kann. Gerade das Schachspiel wird zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen mit sehr unterschiedlichen Spielregeln gespielt. Diese Variationen der Regeln lassen sich in Bezug zu unterschiedlichen soziokulturellen Räumen und deren Veränderungen setzen. Vgl. zu diesem Aspekt am Beispiel des Schachs weiterführend Wiemer: „Ein ideales Modell der Vernunft?“.

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guren nach einem strengen Algorithmus und Regelsystem übers Brett zu ziehen, scheint im Moment des Spiels genauso wenig ‚unnatürlich‘ oder als Erfahrung eines ‚ver-rückten‘ Handelns wie die Erfahrung, für die richtige Platzierung eines Cursorkreuzes über einem Comichuhn bei gleichzeitiger Betätigung der Maustaste Punkte zu erhalten. Die Effektivität der konstitutiven Regeln erklärt die Unmittelbarkeit der Erfahrung im Zauberkreis des Spiels. Regulative Regeln hingegen beziehen sich auf Handlungen, die nicht erst regelgebunden entstehen, sondern unabhängig von ihnen existieren. Dies ist zum Beispiel bei Verkehrsregeln der Fall – es gibt zwar in Deutschland das Linksfahrverbot, aber wenn jemand auf der linken Straßenseite fährt, dann nimmt er immer noch am Verkehr teil (wie lange ist eine andere Frage). Der Großteil der Regeln, die unseren Alltag ‚regeln‘, sind regulative Regeln. Einige, wie die Verkehrsregeln, sind niedergeschrieben und ein Verstoß gegen sie wird geahndet, andere werden im täglichen Gebrauch erlernt, können also als allgemein bekannt angenommen werden, wie zum Beispiel, dass man sich in einer Schlange hinten anzustellen hat, wieder andere, wie zum Beispiel viele Benimmregeln, sind sehr vage und müssen oftmals in der direkten Interaktion ausgetestet oder ausgehandelt werden. Die regulative Regel steht also in engem Zusammenhang mit dem intersubjektiv geltenden Steuerungs- und Orientierungswissen. Sie kann als ‚Norm‘ verstanden werden und steht damit in Beziehung zum common sense einer Gesellschaft. Geertz schreibt: Der common sense präsentiert die Dinge – so, als läge das, was sie sind, einfach in der Natur der Dinge. Ein Hauch von ‚wie denn sonst‘, eine Nuance von ‚versteht sich‘ wird den Dingen beigelegt – aber hier nur ausgewählten, besonders herausgestrichenen Dingen.14 Somit kann die regulative Regel verstanden werden als ein ebenso unsichtbar wie unmittelbar wirksames Steuerungssystem, das allerdings nicht nur im Spiel sondern auch im alltäglichen Handeln relevant ist. Ist die Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Regeln erst einmal getroffen, so kann man weitergehend noch einige darüber hinausgehende Eigenschaften von konstitutiven Regeln ausmachen (Eigenschaften, die so nicht unbedingt auf regulative Regeln zutreffen): Katie Salen und Eric Zimmerman nennen in ihrem Buch Rules of Play folgende Charakteristiken von Spielregeln:

14 Geertz: Dichte Beschreibungen, S. 277.

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Konstitutive Regeln sind eindeutig und explizit. Es heißt: ‚Du darfst den Ball nicht werfen‘ und nicht: ‚Wenn dir danach ist, dann spiele den Ball mit dem Fuß‘. Dies trifft keinesfalls auf alle regulativen Regeln zu.

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Konstitutive wie regulative Regeln limitieren die Handlungen von Spielern: ‚Du darfst den Ball nicht werfen‘.

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Konstitutive Regeln sind festgelegt (was ebenfalls nicht bei allen regulativen Regeln der Fall ist): Es gibt Regelbücher.

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Konstitutive Regeln sind verbindlich und die Regeln werden von allen Spielern anerkannt (es ist demgegenüber fraglich, ob das bei regulativen Regeln der Fall ist). Wer sich nicht an die Regeln hält, spielt falsch. Wirft sich eine Gruppe von Fußballspielern den Ball zu, wäre zu fragen, was die da eigentlich tun – Fußballspielen jedenfalls nicht.

Zudem sind konstitutive Regeln wiederholbar (regulative Regeln nicht unbedingt) – sie gelten für jeden Spielzug, werden also innerhalb einer Partie wiederholt angewandt, wie auch für jede neue Partie, die nur gespielt werden kann, weil die Regeln eben wiederholbar sind. Spielregeln sind also, so kann man sagen, Vorschriften für Handlungsabläufe und damit nichts anderes als Programme, womit wir bei einer grundlegenden Gemeinsamkeit zwischen Spielen und digitalen Medien angelangt sind. Programme sind die Grundlage für die Arbeit von Computern und die Arbeit mit Computern. Und Computerprogramme haben genau die Eigenschaften, wie sie auch Spielregeln haben. Computerprogramme arbeiten mit eindeutigen und expliziten Instruktionen. Sie sind eine Abfolge von distinkten Operationen. Am bekanntesten ist wohl der formallogische ‚if … then (else)‘ Befehl, die ‚wenn-dann‘-Bedingung: Wenn x gegeben ist, dann mache y – oder etwas anderes. Und auch die Eingabe durch die Benutzer muss eindeutig sein.15 Ein Computerprogramm also

15 Die gesprochene oder geschriebene Instruktion: ‚Puschel, mach’ das Bild mal schön!‘ an Photoshop wird das Programm eher unbeeindruckt lassen. Selbst wenn sich Photoshop durch ‚Puschel‘ angesprochen fühlen würde, könnte es doch mit dem Begriff ‚schön‘ nichts anfangen, sondern würde die Bildeigenschaften durch viele einzelne Parameter, wie Größe, Auflösung, Farbgebung, Schärfe, Ebenen, Gradation, etc. definieren, also wieder durch exakt bestimmbare Eigenschaften. ‚Mach’ mal‘ birgt das zweite große Problem, denn ein Benutzer muss ganz spezifische und vom Programm definierte Tätigkeiten ausführen um zu einem Ergebnis zu kommen, das er als schön bezeichnen würde.

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limitiert die Handlungen von Benutzern,

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ist festgelegt und verbindlich.

Ein Programm wird geschrieben und hier werden die Funktionen definiert. Es ist möglich, die Funktionen umzudefinieren oder umzuprogrammieren – dann handelt es sich aber nicht mehr um das gleiche Programm. Ein Computerprogramm wird zudem von allen Benutzern anerkannt. Im Gegensatz zum Spiel geschieht dies nicht freiwillig, denn um mit einem Programm zu arbeiten, muss dieses von seinem Benutzer ‚anerkannt‘ werden. Ihm bleibt nichts anderes übrig. Zu guter Letzt: Computerprogramme sind wiederholbar. Wie ein Spiel kann ein Programm immer wieder ausgeführt werden. Und – und dies ist der entscheidende Unterschied zu Automaten und die Gemeinsamkeit mit dem Spiel – es arbeitet mit Variablen. Das heißt, in Abhängigkeit von den Eingaben werden sich der Ablauf und das Ergebnis verändern. Konstitutive Regeln

Regulative Regeln

Programme

eindeutig und explizit

teilweise uneindeutig

eindeutig und explizit

limitieren Spielhandlungen

sollen Handlungen limitieren

limitieren Handlungen

festgelegt

teilweise festgelegt

festgelegt

verbindlich

teilweise verbindlich

verbindlich

werden von allen Spielern anerkannt

Verhandlungssache

müssen anerkannt werden

wiederholbar

teilweise wiederholbar

wiederholbar

arbeiten mit klar definierten Variablen

eine potenziell unbegrenzte Zahl von Variablen

arbeiten mit klar definierten Variablen

Es spricht also einiges dafür, Computerprogramme als konstitutives Regelwerk zu verstehen. Bedeutet dies jedoch in der Konsequenz, die Vereinbarung, die die Programmregeln stiften, als intersubjektive Vereinbarung jenseits der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu begreifen, also als eine Vereinbarung des Zauberkreises? Auf eine bestimmte Art und Weise sind Programme in der Tat auch intersubjektiv geltendes Steuerungs- und Orientierungswissen, stehen also in einem

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Konnex mit dem regulativen Regeln. Weniger auf der Ebene der konkreten Handlungsformen, sondern mehr auf der Ebene der Konzeptualisierung von Programmen können diese auch als Produkt einer kommonsensualen Aushandlung begriffen werden. Klassische Betriebssysteme wie Windows oder OS X definieren nicht nur die Konstituenten ihrer Funktionalität, sondern auch die ‚Regulativität‘ ihrer die jeweiligen Programmgrenzen überschreitenden Kommensurabilität. Nicht nur, dass alle Betriebsysteme (jenseits produktökonomsicher Abgrenzungen) auf einer ‚sprachlichen‘ Ebene miteinander kommunizieren müssen,16 also einer Art Universalsprache des Codes bedürfen – sie müssen auch konzeptuell kompatibel sein. Wer ein Betriebssystem zumindest in der Anwendung beherrscht, beherrscht auch alle anderen Betriebssysteme ähnlicher Struktur. Die Analogien von Ordnern, Dokumenten, Mülleimern und Ablageorten durchzieht als Norm und common sense die Ausdrucksebene jedes Programms. Deutlicher werden diese Vereinbarungen noch auf der Ebene der Anwendungen: Der Befehl zum ‚Speichern eines Dokuments‘ befindet sich ‚üblicherweise‘ immer in einem Pulldownmenü am linken oberen Bildschirmrand. Dateinamen setzen sich ‚üblicherweise‘ immer aus einem Präfix (individueller Namen der Datei) und einem Suffix (Anhang der eine Programmzugehörigkeit ausweist). Diese Regeln sind aber fast schon common sense und kommen uns auf eine merkwürdige Weise ‚natürlich‘ vor. Insofern läge es nahe, das Programm als konstitutives Regelwerk zu verstehen, das auf regulativen Vereinbarungen aufsetzt. Was wäre hieraus nun aber für die Leitmediendebatte zu schlussfolgern? Zweierlei: Einerseits, dass die für das Subjekt ‚offen zu Tage liegenden‘ konstitutiven Regeln und die common sense regulativen Funktion und Regeln des Programms gerade in ihrer wechselseitigen Verschränktheit von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als Bedingung der Leitmedialität zu gelten haben. Dies wäre insofern wichtig und konstitutiv für Leitmedialität da sich somit die Herstellung von Orientierungswissen beschreiben lässt als ein Prozess, in dem Wissen mit einer offensichtlichen Form des intersubjektiv Ausgehandelten verknüpft wird und damit seine unterschwellig normierende Funktion ‚verbirgt‘, während es eben gerade auf dieser unsichtbaren Ebene seine normierende Kraft effektiv entfalten kann. Orientierungswissen wäre im Bezug auf ein Leitmedium also nunmehr zweierlei: einmal ein Wissen, das dem Subjekt als ausgehandelt erscheint und zum anderen ein diesem Wissen angelagertes, verunsichtbartes, also diskursiv wirksames Wissen von Normen, Werten und Regulativen. Zum zweiten wird aber auch deutlich, dass das Computerspiel nochmals auf diese ‚Dialektik‘ von sichtbarem und unsichtbarem Regelwerk befragt wer16 Vgl. Ralston/Reilly: Encyclopedia of Computer Science, Stichwort „Operating System“.

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den muss. Nur wenn auch hier diese Ambivalenz von ‚offensichtlich zutage tretender‘, intersubjektiv ausgehandelter Regel und verunsichtbarter Norm nachweisbar ist, kann das Computerspiel weiter als Beispiel für unsere Diskussion gelten. Wenden wir uns also nochmals aus anderer Perspektive den Regeln des Spiels zu. In Auseinandersetzung mit Johan Huizinga wäre als ein prinzipieller Faktor des Spielprinzips das Nebeneinander von Regel und Regelverletzung zu nennen. Jedes Spiel lebt von dem Nebeneinander der Einhaltung der konstitutiven Regeln und dem gezielten und effektiven Regelbruch. Innerhalb des Spiels ist der Regelbruch wesentlich weniger streng geahndet als das Spielverderben. Falschspielereien wie das verdeckte Foul, die Schwalbe, die Abseitsfalle, stellen Siegbedingungen und Spielspaß (für Spieler wie Zuschauer) sicher. Jedoch: Der Spieler, der sich den Regeln widersetzt oder sich ihnen entzieht, ist ein Spielverderber. Der Spielverderber ist etwas ganz anderes als der Falschspieler. Dieser stellt sich so, als spiele er das Spiel, und erkennt dem Scheine nach den Zauberkreis des Spiels immer noch an. Ihm vergibt die Spielgemeinschaft seine Sünden leichter, als dem Spielverderber, denn dieser zertrümmert ihre Welt selbst.17 Im Bezug auf die Regel könnte hier nun aber auch gefolgert werden, dass der Falschspieler die konstitutiven Regeln verletzt; der Spielverderber aber die regulativen Regeln durchbricht: er setzt die Vereinbarung der (geschützten) Existenz des Zauberkreises selbst außer Kraft. Dieser Wiederstreit durchzieht und konturiert auch in vielen Fällen das Computerspiel. Einerseits wird das Spiel wahrgenommen als determiniertes Agieren innerhalb eines binärlogischen Entscheidungsbaumes, andererseits gehört der Betrug bzw. das ‚kalkulierte taktische Foul‘ inhärent mit in die Konzeption des Spieles: Internetlisten mit hints, cheatcodes und walk through-Anleitungen sind wichtiger Teil der ‚Spielelandschaft‘. Offensichtlich ist nun aber, dass diese Möglichkeiten der ‚Regelverletzung‘ nicht tatsächlich als eine Art von Dialektik fungieren; der cheatcode ist kein Außerkraftsetzen der konstitutiven (Programm-)Regel, sondern eine im Spielcode immanent vorhandene Möglichkeit des Spiels innerhalb seines prädisponierten Rahmens. Wer über die Eingabe einer im Internet aufgefundenen Tastenkombination seiner Spielfigur Unsterblichkeit, unbegrenzten Waffenzugriff, alternative Wege oder unendliche Ressourcen verschafft, nutzt dezidiert im Spiel selbst mitprogrammierte Optionen aus und aktiviert weitere Handlungsbäume innerhalb eines ri-

17 Huizinga: Homo Ludens, S. 20.

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giden Codes. Die Regelverletzung setzt die regulativen Regeln des Spiels also nicht außer Kraft, sondern bestätigt die Logik des Spiels als Regelspiel. Die institutionalisierte Bereitstellung von vorgeblichen Regelverstoßmöglichkeiten ist vor diesem Hintergrund eine Verschleierung von technischen und vor allem apparativen Ideologemen zu sehen.18 Oder noch forcierter ausgedrückt: Die Variation der konstitutiven Regeln beim cheaten o.ä. lenkt vom innewohnenden konstitutiven Regulatorium des Spiels als Programm ab, insofern sich ein Spiel als ‚Regelwerk‘ eben nicht von einer Software für Büroarbeit unterscheidet. Der große Unterschied von Spiel und Programm scheint allein die Gewinnbedingung zu sein. Das Ergebnis der Arbeit an einem Programm – sei es ein Text, ein Bild, eine Kalkulation – wird aus dem spielerischen Programmzusammenhang heraus genommen und in Zusammenhängen eingesetzt, die nicht konstitutiven, sondern regulativen Regeln unterworfen sind. Und dass in solchen Zusammenhängen keine klaren Gewinnbedingungen durch Regeln formuliert werden, wird aus obiger Tabelle deutlich. In solchen Zusammenhängen stehen andere Funktionen im Vordergrund, wie zum Beispiel die Interaktion und die Rolle, die man in einer sozialen Gruppe einnimmt. Damit sind wir beim dritten Aspekt angelangt, den Rollen.

Rollen Roger Caillois geht in seiner 1958 verfassten und schon 1960 auf Deutsch erschienenen Abhandlung über die Spiele und die Menschen davon aus, dass Spiele entweder geregelt oder fiktiv sind, nicht aber beides zusammen. Caillois schreibt, dass „die Fiktion, also das Gefühl des als ob die Regel ersetzt und genau die gleiche Funktion erfüllt“.19 Das Gefühl des als ob kommt vor allem im Rollenspiel zum Tragen. Denn im Rollenspiel wird so getan, als ob man eine andere Person sei. Das als ob wirkt in allen Rollenspielen, beispielsweise im Kinderspiel, wenn ein Kind mit ausgebreiteten Armen durch die Wohnung läuft, Brummgeräusche von sich gibt und beim Kühlschrank zum Tanken anhält, beim Cowboy-und-Indianer-Spiel, beim Puppenspiel und natürlich auch beim Theaterspiel. In all diesen Spielen regelt die Fiktion das Verhalten der Spielenden, schreibt vor, was getan werden darf, um nicht aus der Rolle zu fallen – ein Flugzeug trinkt eben nicht, sondern tankt. Die Fiktion legt die Bedeu18 Vgl. zur ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Konzept der Regel und des Regelbruchs Consalvo: Cheating, Kücklich: „Modding, Cheating und Skinning“ und Nohr: Die Natürlichen des Spielens. 19 Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 15.

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tung der Spielgegenstände fest und ggf. auch ein Spielfeld. Doch natürlich gibt es Unterschiede zum Spiel nach Regeln, so gibt es zum Beispiel keine eindeutigen Gewinnbedingungen – ein Rollenspiel kann nicht gewonnen oder verloren werden und auch können und werden die Regeln der Fiktion während des Spiels oftmals durch Umdeutungen und Erweiterungen verändert. Dadurch ist auch der Ablauf erheblich variabler. Spiele nach Regeln werden im Englischen als Game bezeichnet, Spiele mit der Fiktion als Play.20 Rollenspiele sind eine paradoxe Angelegenheit. Denn man tut so – und dies möglichst überzeugt und überzeugend – als sei man etwas oder jemand anderes, muss aber wissen, dass man eben nicht diese andere Person ist. Schauspieler sollen ihre Rolle so überzeugend wie möglich spielen; sie müssen aber zugleich wissen, dass sie nur eine Rolle spielen.21 Das Rollenspiel findet sich nun in vielfältigen digitalen Anwendungen. Sehr bekannt ist hier beispielsweise die Plattform Second Life (online seit 2003).22 Second Life wurde und wird damit beworben, dass man sich mit quasi unendlichen Gestaltungsmöglichkeiten einen Avatar – ein zweites Selbst – erstellen kann, mit dem man dann sein zweites Leben führt. Auch wenn tatsächliche Benutzerzahlen schwer festzustellen sind, so scheint dies doch für viele Menschen attraktiv zu sein. Jedoch sind die in der Werbung angepriesenen Gestaltungsmöglichkeiten nicht unendlich, sondern beginnen mit einem ganz klaren und restriktiven Auswahlprozess. Man kann zwischen männlich und weiblich wählen und dann jeweils aus sechs verschiedenen Typen. Im „Appearance Editor“ geht es dann an die weitere Gestaltung des Avatars. Hier sind die Möglichkeiten schon größer und

20 Durch die Verbindung von Play und Game können natürlich Aspekte von Rollenspielen auch mit Siegbedingungen verknüpft werden wie dies bei Computerspielen in der Regel der Fall ist. Wenn ein Computer(rollen)spiel gewonnen wird, dann aber eben im Sinne von Game und nicht von Play. 21 Ein Schauspieler wäre nicht mehr Schauspieler und würde in Schizophrenie verfallen, wenn er nicht die Fähigkeit hätte, zwischen dem eigenen Selbst und der von ihm auf der Bühne repräsentierten Figur zu unterscheiden. Und nicht nur die Schauspieler, sondern auch das Publikum muss wissen, dass Theater nur ein Spiel ist. Riefe heutzutage ein Zuschauer einem Helden auf der Bühne eine Warnung vor dem Schurken zu, so spräche dies zwar einerseits für die Qualität der Darstellung, andererseits aber auch für die Unfähigkeit des betreffenden Zuschauers, das Paradox zu erkennen. Beim Rollenspiel stellt sich also nicht die Frage „To be or not to be“, es ist vielmehr ein gleichzeitiges to be and not to be (vgl. Neitzel: „To be and not to be“). 22 Second Life ist kein Spiel mit Gewinnbedingungen im Sinne von game (s.o.). Man kann es als Infrastruktur für verschiedene Online-Community-Anwendungen betrachten. Der größte Reiz für viele Nutzer von Second Life liegt aber vermutlich in den Rollenspiel-Aspekten.

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zu den unentgeltlich angebotenen Möglichkeiten lassen sich noch weitere hinzukaufen.23 Während der Spieler an seinem Avatar herumbastelt, erscheint im Appearance Editor ein Fenster mit folgender Aussage: „You look marvelous. Take your time and edit your appearance and be sure to save it when you’re done.“. Abgesehen davon, dass der Spieler sich fragen kann, ob er denn wirklich fabelhaft aussieht, wird hier das Paradox des Rollenspiels wieder deutlich. Denn wer ist mit „You look marvelous!“ eigentlich gemeint? Dieses Kompliment kann sich wohl kaum auf das Aussehen des Spielers vor dem Monitor beziehen, denn der wird vom Programm nicht gesehen. Also muss sich das Kompliment auf die Figur auf dem Monitor beziehen. Diese kann jedoch nicht mit „You“ angesprochen werden, insofern müsste es „he, she, it looks marvelous“ heißen. Auf der anderen Seite ist aber der Avatar der Stellvertreter des Spielers in der Fiktion, also innerhalb des Spiels gewissermaßen doch der Spieler, denn durch ihn wird er von den anderen Spielern angesprochen, durch ihn bewegt er sich in der Spielwelt und durch ihn spricht er mit den Mitspielern. Der Avatar ist eine Extension des Spielers, die es ihm möglich macht, in der Spielwelt zu agieren und zugleich ist er eine fiktionale durch das Programm vorgegebene und vom Spieler modifizierbare Figur.24 Das Verhältnis zwischen Rolle und Spieler ist also beim digitalen Rollenspiel etwas anders beschaffen, als beim konventionellen Rollenspiel. Stecken Spieler und Rolle im konventionellen Rollenspiel in einem Körper, so wird die Rolle im digitalen Rollenspiel vom Körper des Spielers getrennt und einem, wie Sybille Krämer es nennt, „semiotischen Körper“ als „Datenkonfiguration“ übertragen.25 Dieses als ob, das Vorgeben etwas zu sein, ohne es tatsächlich zu sein, findet sich jedoch nicht nur in explizit spielerischen Computeranwendungen, sondern in der Oberflächengestaltung eines jeden Programms. Nehmen wir das Beispiel des Papierkorbs. Der Papierkorb kann zunächst einmal als ein Bild betrachtet werden, das auf der Oberfläche eines Computermonitors erscheint. Ein Bild aber würde keine Rolle spielen, also nicht so tun als wäre es ein Papierkorb, oder besser: Es hätte nicht die Funktion eines Papierkorbs, sondern würde lediglich das Abbild eines Papierkorbs sein. Das Icon auf dem Monitor jedoch verhält sich anders. Obwohl es nur so aussieht wie ein Papierkorb und gar kein Papierkorb ist, funktioniert es doch für den Benutzer wie ein Papier23

Wer den Appearance Editor bedienen kann, kann ‚im Prinzip‘ auch Photoshop. Hier wird noch einmal deutlich, dass es sich bei Second Life um ein komplexes Programm handelt. Nicht zuletzt deshalb lassen Firmen oder auch Prominente wie Rainer Calmund ihre Avatare von Profis gestalten.

24 Vgl. Neitzel: „Wer bin ich?“. 25 Vgl. Krämer: „,Performativität‘ und ,Verkörperung‘“, S. 193f.

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korb. Er schiebt seine überflüssigen Dateien hinein und ab und zu wählt er die Funktion „Papierkorb entleeren“ – bringt also den Papierkorb zur Mülltonne. Jedoch wirft ein Benutzer kein Papier in einen Papierkorb, er bewegt vielmehr die Maus zu einem bestimmten Icon, das er über ein anderes Icon schiebt, was wiederum eine bestimmte Rechenoperation im Rechner auslöst, in der dieser den Pfad zum Dokument umdefiniert. Die Benutzung eines grafikbasierten Programms ist damit ähnlich verfasst wie ein Spiel. Auch in einem Computerspiel erschießt ein Spieler keine Moorhühner, sondern betätigt bestimmte Tasten zu einem bestimmten Zeitpunkt, was Operationen im Computer auslöst. Ohne die Fiktion, ein Moorhuhn zu erschießen und ohne die Fiktion, etwas in den Papierkorb zu legen aber würde weder das Moorhuhnspiel noch das Papierkorbspiel funktionieren. Damit man mit einem grafikbasierten Programm eine Datei löschen kann, muss man so tun als ob man die Datei in den Papierkorb wirft. Es ist ein Rollenspiel. Man nimmt Teil an einer Fiktion, die technische Abläufe in visuellen Zusammenhängen ‚handhabbar‘ macht, indem sie funktionale Icons als Analogien anbietet. Computerspiele und andere Computerprogramme teilen sich also nicht nur eine spezifische Form der visuellen Repräsentation, sondern auf der jeweiligen Interface-Ebene (also der Oberfläche des Betriebssystems oder der Oberfläche des Spielinterfaces) eine Form des Rollen-Spiels. Eine grafische Benutzerschnittstelle ist eine Softwarekomponente, die einem Computernutzer die Interaktion mit der Maschine über grafische Objekte (Desktop, Ordner, Papierkorb, Menü) mittels eines Interface (Maus, Tastatur, Joystick, Controller) erlaubt. Mithilfe dieses technologischen Konstrukts einer Oberfläche, die sich ‚über‘ die Maschine legt, und einem aus graphischer und haptischer Ansprache bestehenden Interface stiftet der Rechner eine Form der Enkulturierung (oder Naturalisierung) seiner komplexen programm- und codebasierten Architektur.26 Das Grafische von Software und Computerspiel ist somit eine Form der sekundären Signifikation, die die ‚darunter liegende‘ Ebene von Algorithmus und Code zu einem wahrnehmungsnahen Zeichensystem überformt und das Entstehen funktionaler Rollenspiele (‚Ich schiebe das Dokument in den Papierkorb‘) und räumlichen Handelns (‚Lara Croft geht nach links‘) ermöglicht. Diese effektive Überformung des symbolischen (und arbiträren) Codesystems als ‚Bild‘ und Spielangebot hat weit reichende Konsequenzen. Der Com26 Ab und zu allerdings wird diese Enkulturierung brüchig: „GUIs benutzen […] Metaphern, um das Arbeiten mit dem Computer einfacher zu machen, aber es sind schlechte Metaphern. Ihre Anwendung zu erlernen ist im Wesentlichen ein Wortspiel, ein Prozess, in dem man neue Definitionen von Wörtern wie ‚Fenster‘, ‚Dokument‘ und ‚sichern‘ lernt, die sich von den alten unterscheiden, ja ihnen in vielen Fällen nahezu diametral entgegenstehen“ (Stephenson: Die Diktatur des schönen Scheins, S. 83).

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puter wird naturalisiert und ‚natürlich‘ und entkleidet sich der (hermeneutischen) Mehrdeutigkeit. Der Text des Programms und Codes muss nicht länger als Text ‚gelesen‘ werden. Die ‚oberflächliche‘ multimediale Bildlichkeit des Rechners und das ‚Herumspielen‘ mit den Ordnern, Pinselchen, Fenstern und Mülleimern ist dabei dem Wunsch der Austreibung von Sprache, Zahl und Text geschuldet. Die Arbitrarität der Sprache wird umgangen durch den Rückgriff auf das technische Bild. Es entsteht das Versprechen einer Welt, die sich gerade aus der ‚neuen‘, ‚künstlichen‘ und vor allem immer erkennbaren Oberfläche der Bilder speist. An diese Bilder können nun Handlung, Erfahrung oder Kommunikation angekoppelt werden, die den sowohl apparativen wie auch textuell-codierten Gehalt der Medienerfahrung naturalisieren. Die visuellen Erfahrungswelten der Spiele sind einer der wirkmächtigsten Orte, an denen der Text, die Gemachtheit und die Arbitrarität aus den Rechnern ‚ausgetrieben‘ wird. Der letzte und größte ‚Trick‘ einer solchen Enkulturierung aber ist das Versprechen der Teilhabe vermittels Interaktion und Partizipation.

Interaktion und Partizipation Spielen ist keine vorrangig interpretative Tätigkeit, sondern eine partizipative. Spieler und Spielerinnen bestimmen den Ablauf des Spiels und seinen Ausgang, ganz schlicht: Beim Spielen tun wir etwas. Auch Programme entfalten ihre Fähigkeiten erst, wenn Benutzer Eingaben vornehmen, auf die die Programme dann reagieren, worauf die Benutzer dann ihrerseits reagieren. Brenda Laurel sieht das interessante Potential eines Computers „in its capacity to represent action in which humans can participate“.27 Es ist ein Wechselspiel. Wie bei jedem Spiel gab es auch unter den Computerspielern Ansätze, nicht nur nach den Regeln zu spielen, sondern Spielregeln auch zu verändern und neue aufzustellen. Die Computerspiel-Szene war von Beginn an geprägt von Modifikationspraktiken der Spieler, erleichternd kam hinzu, dass es auf frühen Heimcomputern häufig in BASIC geschriebene Spiele gab, die noch relativ einfach umzuprogrammieren waren. Aus der so genannten ‚Warez-Szene‘, die den Kopierschutz von proprietärer Software hackte, entstand in den 80er Jahren die Demo-Szene, in der Modifikationen von Spielen ausgetauscht wurden.28 Dieses Potenzial wird heute von Computerspielfirmen (prominente Bei27 Laurel: Computers As Theater, S. 1. 28 Die heutige ‚Demo-Szene‘ konzentriert sich meist auf aufwändig programmierte Computeranimationen, die komplexe Audiovisionen mit sehr geringem Speicherbedarf realisieren und hat sich weitgehend von der ‚Warez-Szene‘ emanzipiert. Sie kann als eine eigenständige ‚digitale‘ Kunstform angesehen werden, die Programmierfertigkeit mit audiovisueller Ästhetik verbindet. Vgl. Schäfer: „Spielen jenseits

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spiele sind id-software und Valve) genutzt, um die Spieler länger an eine Spielserie zu binden. Von Spielern hergestellte Modifikationen werden in die nachfolgenden Produkte übernommen.29 Doch es muss nicht bei der unentgeltlichen Arbeit bleiben, insbesondere in journalistischen Berichten wird immer wieder hervorgehoben, dass aus begeisterten Spielern auch erfolgreiche GameDesigner werden können.30 Auch Fan-Fiction31 muss heute nicht mehr unbedingt geschrieben oder gefilmt werden, die digitalen Medien bieten selbst Tools um sie zu erstellen. So können z.B. ‚Machinima‘ als eine digitale Version von Fan-Fiction bezeichnet werden. Machinima (ein Kunstwort aus cinema, machine und animation) sind digitale Filme, die mit Hilfe von Game-Engines (Bibliotheken mit zusammenhängenden Funktionen zur Spieleprogrammierung) erstellt werden.32 Die Computerspiele werden so einerseits kommentiert und fortgeschrieben, andererseits stellen die Amateur-Regisseure auch ihr eigenes Können aus. Machinima müssen jedoch nicht in geschlossenen Fan-Kreisen verbleiben, so werden die Red vs. Blue- Filme, die in den aus dem Spiel Halo entstanden, inzwischen auf DVD vertrieben. Was für das Spiel gilt, scheint ähnlich aber auch für das digitale Netz und die Computer selbst zu gelten. Unter dem Aktuellen buzzword ‘Web 2.0’ wird verschiedentlich auf die nunmehr vorhandene Möglichkeit der Partizipation am institutionell-technischen Mediensystem verwiesen, die dem Mediennutzer über die Bereitstellung eines ‚breiten‘ Rückkanals eingeräumt wird. In dieser „Wunschkonstellation“ (Hartmut Winkler)33 des Partizipativen materialisiert sich der (wiederholt und eindringlich artikulierte) Wunsch, dem Ordnungsmodell der technischen Medien(macht) einen emanzipatorischen, dissidenten der Gebrauchsanweisung“ und die Ausstellung origami digital, eröffnet am 10.12. 2002 im Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt (http://www.digitalcraft. org/index.php?artikel_id=395). 29 Am weitest gehenden und bekanntesten ist die Totalmodifikation Counter-Strike, die von ‚Moddern‘ unentgeltlich aus dem Spiel Half-Life (Valve 1998) entwickelt wurde. Valve brachte diese Entwicklung dann 2000 als Half-Life: Counter-Strike auf den Markt (vgl. Laukkanen: Modding Scenes). 30 Vgl. z.B. King/Borland: Dungeons and Dreamers und Kushner: Masters of Doom. 31 Vgl. z.B. Jenkins: Textual Poachers. 32 Vgl. Lowood: „High-perfomance Play“. 33 Der Vorschlag Winklers zielt im Wesentlichen darauf ab, Medientechnologien des Digitalen nicht lediglich hinsichtlich ihrer tatsächlichen Effekte und Effektivitäten zu untersuchen, sondern danach zu fragen, auf welche intersubjektiven Wünsche sie reagieren. In unserem Beispiel wäre die vorgebliche oder tatsächliche Interaktivität und Partizipativität des Digitalen als eine solche Wunschkonstellation benennbar.

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und/oder demokratischen und „taktischen“ (Michel de Certeau) Mediengebrauch gegenüber zu stellen. Damit scheinen sich nun aber nicht nur Wunschkonstellationen von Marketing und Nachrichtentechnik zu erfüllen, sondern auch wiederholt vorgetragene theoretisch-analytische Postulate des emanzipativen Gebrauchs von Medien – von Bertolt Brechts Radiotheorie über Walter Benjamins Kritik der technischen Reproduzierbarkeit bis hin zu Hans Magnus Enzensbergers Überlegungen zur Medientheorie. Entscheidend ist hierbei die Verschiebung der Ebene in der Konzeptualisierung des Mediums: Partizipation taucht im Bezug auf den Computer und das Spiel nicht nur auf der Ebene des technischen Rückkanals oder der Vernetzung auf – Partizipation ist im Bezug auf jedes Medium auch eine Funktion der Teilhabe an gemeinsamen Wissensvorräten. Ganz im Sinne der oben angeführten Konzeptualisierung von Medien als strukturierenden ‚Maschinen‘ der Moderation von Wissen ist auch der Computer und das Computerspiel Teil der Zirkulation und Materialisierung von Wissen in der Gesellschaft. Das ‚Novum‘ dieses Mitwirkens des Spiels am common sense ist aber, dass diese Teilhabe sich hier nicht über die Ebene von Konsumption definiert, sondern (auch) über die Ebene des Handelns. Es ist also die Handlung (verstanden als kulturelle und intersubjektive Praxis) selbst, die das Spiel und den Computer über die Suggestion der partizipativen Teilhabe aneinander bindet. Strukturell sind also Metaversen wie Second Life anschlussfähig an Blogs und YouTube. So genannte ‚Social Software‘ scheint die Zukunft zu sein. Das Internet wird nicht mehr nur genutzt, um etwas auszustellen, auszusagen oder vorzustellen. Plattformen wie YouTube haben immer auch eine KommentarFunktion. Das bedeutet, selbst wenn man ‚nur‘ etwas ausstellt, so wird doch impliziert, dass es auch gesehen und kommentiert wird, worauf wiederum mit einem Kommentar reagiert werden kann. Entscheidend scheint dabei aber auch zu sein, dass das Ausgestellte über die Verbindung beispielsweise zum Privaten und Intimen einen ‚Abdruck des Realen‘ in sich zu tragen hat. Insbesondere in den Selbstdarstellungsvideos, die man gehäuft auf YouTube findet, wird dabei der Aspekt des Rollenspiels wieder deutlich. ‚Lonelygirl15‘ erlangte beispielsweise in diesem Zusammenhang Bekanntheit. In Form eines regelmäßigen Videoblogs präsentierte ‚Lonelygirl15‘ alias ‚Bree‘ sich seit August 2006 auf YouTube. Eine schnell wachsende Zahl von Fans verfolgte das ‚persönlichen Videotagebuch‘ des vermeintlich 16jährigen Mädchens, das mit seinen Fans zudem über eine ‚persönliche‘ MySpace-Seite Kontakt hielt. Die 16jährige ‚Bree‘ aber entpuppte sich als eine 20jährige neuseeländische Schauspielerin namens Jessica Rose, und die Videobeiträge als Teil einer fiktionalen Serie, die von der Creative Arts Agency (CAA) produziert wurde. Die LG15-Serie ist mittlerweile ein kommerziell erfolgreiches fiktionales Serienformat mit dutzenden Charakteren und verschiedenen Spin-Offs, die zusammen vermutlich

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weltweit mehrere Millionen Zuschauer erreichen.34 Das Internet generiert sich durch die Implementierung solcher Strukturen als partizipatorische Plattform, auf der eine Ökonomie der Aufmerksamkeit regulativ die Produktion von sozialem Mehrwert bestimmt.35

Fazit Computerspiele leiten niemanden, indem sie Meinungsführerschaft erreichen oder bestimmte Themen über opinion leader in bestimmte Diskurse ‚einimpfen‘. Auch führen sie nicht direkt zu spezifischen Handlungen. Vielmehr, so die hier vertretene Position, entwickeln Medien leitmediale Funktionen, wenn sie normalisiert oder naturalisiert sind, bzw. effektiv zur Normalisierung und Naturalisierung medientechnischer Veränderungen beitragen. Und so prägt das Computerspiel – jenseits der Diskussion um Aggression oder Killerspiele – durch paradigmatische Formen der Enkulturation des Technisch-Digitalen den heutigen Umgang mit Medien. Die Bereitstellung von gesellschaftlichem Orientierungswissen ist also keine Funktion, die Inhalte oder Ereignisse der vormedialen Realität aufarbeitet und kommentiert. Die Bereitstellung von gesellschaftlichem Orientierungswissen bedeutet heute ‚abstrakte‘ Wissens- und Handlungsmuster für eine ‚digitale Kultur‘ bereit zustellen, an die sich das Subjekt adaptieren und diese akkomodieren kann. Das Computerspiel ist der ‚Ort‘ der Enkulturierung des Digitalen. Hier werden abstrakte, ideologische und diskursive Wissensbestände zur ‚Internalisierung‘ aufbereitet. Diese Aufbereitung (beispielweise von Normen und Werten) stellt ihre Effektivität durch die Verunsichtbarung der zugrundeliegenden intersubjektiven Geltungsformen sicher:36 die Anpassung des Subjekts an die regulative gesellschaftliche Norm tarnt sich in der vorgeblichen Anpassung des Subjekts an die konstitutive Vereinbarung. Spiele vermitteln zwar auch praktisches Handlungs- und Orientierungswissen im Umgang mit digitalen Medien sowie eine von den Neuen Medien geforderte „spielerische“ Aneignung von interaktiven Oberflächen und Funktionsangeboten digitaler Medien. Ihre Funktion reicht aber tiefer als ‚nur‘ einen

34 Vgl. „Lonelygirl15“. 35 Die Gratifikationen, die dabei zu erzielen sind, bestehen einerseits in sozialem Kapitel in Form von Anerkennung in der jeweiligen ‚Szene‘, andererseits ist die Transformation dieses Kapitals in finanzielle Erträge oftmals nur eine Frage von Klickraten und Page-Impressions, den heimlichen ‚Währungen‘ der Aufmerksamkeit innerhalb der Internetökonomie. 36 Vgl. Nohr: Die Natürlichen des Spielens.

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spielerischen Modus des Lernens zur Verfügung zu stellen. Das Spielerische durchdringt die digitalen Medien in Hinblick auf die Regelung, die geregelte Interaktion, das Rollenspiel, die Partizipation und die Aufhebung von Grenzen – die Grenzen zwischen Sender und Empfänger, zwischen Ich und Nicht-Ich und zwischen Spiel und Arbeit. Möglicherweise ist die Behauptung der partizipativen Teilhabe an der Technik und der Textualität des digitalen Mediums (im Spiel zum Alleinstellungsmerkmal erhoben, im Web 2.0 zur Erfüllung des politischen Traums eines ‚freien Mediums‘ verklärt) der stärkste Moment des Leitmediums. Partizipation bedeutet bei genauerer Betrachtung hier keinesfalls die Teilhabe an einem Spiel, einem Zauberkreis jenseits der realen Welt, sondern die Teilhabe an der Welt selbst, in der Arbeit, Selbstdarstellung und die Konstruktion von Identität zum Spiel verklärt werden. Dabei sein ist alles.

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Social software – ein neues Leitmedium? Im Jahre 1996 verkündete John Perry Barlow, der Begründer der „Electronic Frontier Foundation“ die Unabhängigkeit des Cyberspace: Governments of the Industrial World, you weary giants of flesh and steel, I come from Cyberspace, the new home of Mind. On behalf of the future, I ask you of the past to leave us alone. You are not welcome among us. You have no sovereignty where we gather.1 Barlow hatte die Bühne des Weltwirtschaftsforums in Davos gewählt, um das Cyberspace als eine letzte „freie“ Bastion zu verteidigen und seine Rebellion gegen den „Telecommunication Reform Act“ der Clinton Regierung zu deklarieren. Heute, mehr als zehn Jahre später, scheint dies nicht mehr zu interessieren. Joichi Ito, Mitglied im Vorstand von Creative Commons und Socialtext2 kommentiert 2005 kurz: „Barlows Unabhängigkeitserklärung damals, das war eine andere Zeit, die ist jetzt vorbei.“3 Doch auch heute sind im Netz revolutionäre Stimmen vertreten, allerdings nehmen sie eine andere Richtung ein. So spricht 2005 der damalige Leiter des Zentrums für Neue Medien an der Donau-Universität Krems, Thomas Burg, von einer „Umwälzung im realen Leben, ausgelöst durch menschliche Netze, die wir online knüpfen.“4 Der Journalist Mario Sixtus schreibt im selben Jahr: Es ist eine erstaunliche Volksbewegung, die sich derzeit formiert. Computer-Freaks und Netzrebellen sehen anders aus. Die neuen Web-Bewohner kommen als Siedler, nicht als Revolutionäre.5 Als Plattform dieser „Volksbewegung“ fungiert heute das sogenannte Web 2.0. Der Begriff, der aufgrund von Marketing-Strategien vieler Unternehmen zu ei1

Barlow: „A Declaration of the Independence of Cyberspace“.

2

Creative Commons ist eine gemeinnützige Gesellschaft, die im Internet verschiedene Standard-Lizenzverträge veröffentlicht, mittels derer Autoren an ihren Werken, Nutzungsrechte einräumen können. Socialtext Incorporated ist eine Firma, die „soziale Software für Firmen“ produziert. Ito ist außerdem Vizepräsident von International Business and Mobile Devices für Technorati sowie Chairman von Six Apart Japan.

3

Zit. in Sixtus: „Social Software und das neue Leben im Netz“.

4

Ebd.

5

Ebd.

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ner eher vagen Beschreibung des World Wide Web wurde, verweist auf eine veränderte Wahrnehmung und Benutzung des Webs. Tim O’Reilly prägte den Begriff im Jahre 2004 und veröffentlichte ein Jahr später einen Artikel, der heute als eine erste grundlegende Beschreibung der erweiterten Situation gelesen werden kann.6 Das Zerplatzen der Dot-com-Blase im Herbst 2001 interpretiert O’Reilly als einen Wendepunkt für das World Wide Web und konstatiert, dass das Web nicht zusammengebrochen sei, sondern an Wichtigkeit gewonnen habe. Interessante neue Anwendungsmöglichkeiten und Seiten würden „mit erstaunlicher Regelmäßigkeit“ auftauchen „und die überlebenden Firmen schienen einige wichtige Dinge gemeinsam zu haben.“7 O’Reilly formulierte das entscheidende Merkmal der aktuellen Situation: „NetzwerkEffekte durch Nutzerbeteiligung sind der Schlüssel zur Marktdominanz in der Web 2.0 Ära.“8 Entscheidendes Merkmal wird eine gewachsene und weiterhin wachsende „Architektur der Beteiligung“.9 Das Hauptaugenmerk liegt also auf der organisatorischen Seite: Inhalte werden nicht mehr zentralisiert von den „großen Medien“ erstellt, sondern von Usern, Teilnehmern, von Akteuren produziert, die alle darauf bedacht sind, ihre eigene Meinung, ihren Standpunkt, ihre Vorlieben und Anliegen zu artikulieren oder sich selbst darzustellen. Susanne Regener führte 2007 die Bezeichnung des Medienamateurs10 ein, der in Abgrenzung zum Laien oder Dilettanten, sein Schöpfertum und seinen Wunsch nach Selbstdarstellung besonders mit den neuen Werkzeugen des Web 2.0 befriedigt. Diese Mittel der Beteiligung und damit der Äußerung und Selbstdarstellung werden unter dem Begriff der Social Software zusammengefasst, die als eine „Untermenge“11 des Web 2.0 verstanden werden kann. Christopher Allen, der in diesem Zusammenhang immer wieder genannt wird, schrieb bereits 2004 in seinem Artikel „Tracing the Evolution of Social Software“, dass der Begriff der Social Software erst in den letzten zwei Jahren an Bedeutung gewonnen habe.12 Unter dem Aspekt der Gruppen-Interaktion findet Allen die Ursprün6

Der Begriff wurde von O’Reilly im Rahmen der Planung einer Konferenz im Jahre 2004 vorgeschlagen, die schließlich unter dem Titel Web 2.0 Conference stattfand (vgl. http://www.oreillynet.com/lpt/a/6228 [15.02.2008]).

7

Holz: „Was ist Web 2.0?“.

8

Ebd.

9

Szugat u.a.: Social Software, S. 15.

10 Symposium „Medienamateure. Wie verändern Laien unsere visuelle Kultur?“, Universität Siegen, 5.-7. Juni 2008. 11 Szugat u.a.: Social Software, S. 14. 12 Allen: „Tracing the Evolution of Social Software“.

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ge der Social Software in der Idee des Memex von Vannevar Bush (1940), in ARPA (1960) sowie in den Ausführungen von Douglas C. Engelbart, die er 1962 in dem Aufsatz „Augmenting Human Intellect: A Conceptual Framework“ publizierte. Als den direkten Vorgänger der Sozialen Software identifizierte Allen die Groupware, wie sie von Peter and Trudy Johnson-Lenz 1978 erstmals formuliert wurde.13 Eine scharfe Kategorisierung der aktuellen Social Software-Anwendungen ist heute nur schwer möglich, weil sich diese in ihren Funktionskonzepten oftmals überschneiden und beständig weiterentwickeln. Jan Schmidt unternimmt 2006 eine Unterteilung in die drei Kategorien Informationsmanagement, Identitäts- und Beziehungsmanagement14 und gibt damit Anwendungen eine erste Ordnung, die die (Teil-)Öffentlichkeiten sozialer Netzwerke unterstützen. Das Informationsmanagement umfasst das Finden, Bewerten und Verwalten von Information. Hierunter fallen Gemeinschaftsportale wie YouTube, gemeinschaftliches Indexieren wie Flickr oder del.icio.us sowie Weblogs und Webforen. Eine weitere Säule bietet die kollaborative Inhaltserstellung über Lexika wie Wikis oder News-Portale. Hinzu kommen unterstützende Services und Dienste in Form von Internettelefonie und Instant Messaging wie Skype; Kartenservices wie Google-Maps sowie Blog-Suchmaschinen wie Technorati. Die Selbstdarstellung des Users im weitesten Sinne wird unter dem Begriff des Identitätsmanagements eingeführt, das Beziehungsmanagement umfasst die Möglichkeiten einer Ausbildung von Kontakten, Kontaktpflege sowie das Knüpfen von neuen Kontakten. Beide Kategorien fallen häufig zusammen, da die Selbstdarstellung meist zur Aufnahme von Beziehungen jeglicher Art gedacht ist, sei es in einem privaten Networking wie myspace.com, studentischem Networking (StudiVZ) oder bei geschäftlichen Kontaktaufnahmen (LinkedIn, Xing). Virtuelle Welten wie Second Life nehmen einen weiteren Platz in dieser Kategorie ein. Kurze Zeit nach dem Überschreiten der Schwelle zum 21. Jahrhundert gewinnt das Web 2.0 und mit ihm die Social Software zunehmend an Bedeutung. Plattformen wie myspace.com oder XING.de verzeichnen steigende Mitgliederzahlen, Blogs führen zur Diskussion um den Graswurzeljournalismus, und Plattformen wie YouTube.com oder flickr.com publizieren Unmengen an privatem Material wie dies zuvor kaum denkbar war. Nicht nur spezialisierte Online-Magazine wie heise.de oder telepolis.de bringen Berichte zu und über die Möglichkeiten des Web 2.0, auch auf spiegel-online und in der Print-Ausgabe des Spiegel sind in regelmäßigen Abständen Neuigkeiten zu diesem Thema zu finden, und sogar der Stern veröffentlichte kürzlich eine Untersuchung, in der er

13 Johnson-Lenz/Johnson-Lenz: „About P+T“. 14 Vgl. hierzu ausführlich: Schmidt: „Social Software“.

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die Online-Enzyklopädie Wikipedia dem Brockhaus gegenüberstellte.15 Social Software ist nun keine Open-Source-Spielwiese von Spezialisten mehr, vielmehr stellt sie eine Reihe von Werkzeugen bereit, die im Alltag der aktuellen Öffentlichkeiten zur Anwendung kommen. Die Öffentlichkeiten, die hier Kommunikationsräume etablieren, finden aus den unterschiedlichsten Gründen zusammen. Virtuelle Gemeinschaften16 artikulieren mannigfach Themen, Probleme und Lösungen, „arbeiten“ an Fragen der Identitätsbestimmung17 und bilden öffentliche Ansichten und Meinungen heraus, die ihre Geltung nicht mehr ausschließlich online beanspruchen, sondern sich auch in Öffentlichkeiten außerhalb des Netzes widerspiegeln. Der Begriff der Öffentlichkeit folgt an dieser Stelle der von John Dewey aufgestellten Definition, wonach „Transaktionen“, die andere außer den unmittelbare Betroffenen beeinflussen, Öffentlichkeit herstellen.18 Angesichts der zahlreichen neuen Handlungsmöglichkeiten kommt einer der großen „Gründungsmythen“ des Internets – der Mythos der neuen Einflussmöglichkeiten der virtuellen Gemeinschaften auf die Politik – nicht zur Ruhe. Der Gedanke der „Demokratisierung durch das Internet“ kam bereits mit der Verbreitung des Netzes Mitte der 1990er Jahre auf. Tatsächlich kommen heute empirische Untersuchungen zu dem Schluss, dass die dezidierte politische Mobilisierung des Bürgers nur mäßig erfolgt.19 An dieser Stelle wäre jedoch, über jene Mobilisierung hinaus, nach Handlungsmöglichkeiten des World Wide Web zu fragen, die demokratisch gestaltete Öffentlichkeiten konstituieren. In diesen Öffentlichkeiten, so die Annahme, zeigt sich die Social Software als das dominante Medium und nährt damit die Frage nach dem Leitmedium des 21. Jahrhunderts. Im Rahmen der Ausstellung Making Things Public20 im Jahre 2005 formuliert Bruno Latour den Neologismus Dingpolitik, um die Frage zu stellen, wie eine objektorientierte Demokratie aussehen könnte. Seine Intention ist es, mehr Realismus als bisher in das politische Denken zu bringen.

15 Vgl. Güntheroth/Schönert: „Wikipedia. Wissen für alle“. 16 Vgl. Rheingold: Virtuelle Welten. 17 Vgl. Turkle: Leben im Netz. 18 Dewey (Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, S 27) spricht im Zusammenhang mit der Öffentlichkeit von den Merkmalen eines Staates, dies soll jedoch an dieser Stelle zurückgestellt werden. 19 Vgl. hierzu die sehr gute Zusammenfassung von Seifert: „Neue Demokratie durch das Internet?“. 20 Making Things Public, Ausstellung am ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, 2005.

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Die allgemeine Hypothese ist so einfach, dass sie trivial klingen könnte – doch trivial sein, könnte zu dem gehören, was es heißt in der Politik „Realist“ zu werden. Es könnte sein, dass wir mehr durch unsere Sorgen, die Sachen, um die es uns geht, die Fragen, die uns beschäftigen, verbunden sind, als durch jede andere Reihe von Werten, Meinungen, Einstellungen oder Prinzipien.21 Als Beispiele führt Latour öffentliche Diskussionen an, die direkt mit persönlichen Sorgen verbunden werden, wie den EU-Beitritt der Türkei und das Kopftuch-Tragen, oder die Schließung einer Fabrik, in der die Tochter gearbeitet hat. Damit formuliert er Themen, bei denen Leidenschaften, Empörungen und Meinungen auftauchen, die jenen Realismus hervorrufen. Die Anwendungen der Social Software erwecken den Anschein mit der Hypothese Latours einherzugehen. In Form von Selbstdarstellungen und dem Bekunden der eigenen Befindlichkeit auf YouTube.com oder myspace.com, Tagebucheinträgen, die online einsehbar werden oder auch Einträgen in Online– Enzyklopädien findet die Hinwendung von den matters of fact zu den matters of concern ihre Ausprägung.22 Wie kein anderes Medium ermöglicht die Social Software eine Auseinandersetzung mit Angelegenheiten und damit mit den Dingen, die unsere Gesellschaft heute prägen. Durch die Anwendungen manifestiert sich ein öffentlicher Raum, der all das zum Ausdruck bringt und einsehbar macht, was ihn beschäftigt. Social Software und ihre Konsequenzen scheinen das einzulösen, was sich Latour von einer Dingpolitik erhofft. Wenn nämlich „das Versammeln nicht länger beschränkt bleibt auf richtig sprechende Parlamente, sondern erweitert wird auf die vielen anderen Ansammlungen, die auf der Suche nach einer rechtmäßigen Versammlung sind“, und „wenn die Versammlung unter dem provisorischen und fragilen Phantom Öffentlichkeit erfolgt, das nicht länger das Äquivalent eines Körpers, eines Leviathans oder eines Staates zu sein beansprucht“23, dann wird, so Latour, ein Realismus erreicht. Was 2005 als ein Experiment in Form einer Ausstellung gedacht wird, findet im Internet seine davon unabhängige Anwendung. Mit den erweiterten Handlungsmöglichkeiten der Social Software findet der User Möglichkeiten sich zu zeigen, zu artikulieren, gehört und gesehen zu werden. So bleibt beispielsweise der Vorwurf des Webforums der Grünen Gnome (call-in-tv.de), Quizsender wie 9Live würden Abzock-Methoden anwenden, nicht ungehört, wird diskutiert und führt zur Einleitung von Untersuchungen.24 War anfangs von 21 Latour: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, S. 11. 22 Latour: „From Realpolitik to Dingpolitik“, S. 23. 23 Latour: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, S. 80. 24 Bölsche: „Der Krieg der Zwerge“.

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einer Demokratisierung durch das Internet die Rede, so ist dieser Ansatz noch durchaus aktuell. Allerdings scheint eine Mobilisierung weitaus weniger notwendig als angenommen. Durch die entstehenden Handlungsmöglichkeiten der Social Software bilden sich Öffentlichkeiten, die sich durch eine erweiterte Handlungsfähigkeit Geltung verschaffen und in der Lage sind, ohne einen politischen „Körper“ eine Stimme zu erlangen. Anwendungen der Social Software werden zu einer Handhabe, die, für jeden zugänglich, zu einem Artikulationsmodus wird und dessen Verzicht mit dem Verlust einhergeht, sich in der Gesellschaft geltend zu machen. Der Akt des Sich-Geltend-Machens kristallisiert sich hier zu einer Qualifizierung, die Social Software als ein gegenwärtiges Leitmedium unter den Bedingungen der Demokratie zu kennzeichnen vermag. Die Kategorie „Handlung“ wird zum Ausgangspunkt des Einzelnen, und es gilt nun zu fragen, in welchem theoretischen Rahmen der Gedanke des SichGeltend-Machens zu zeichnen wäre. Zu Beginn wurde bereits die Öffentlichkeit als eine Kommunikationsgemeinschaft von Betroffenen charakterisiert, die gemeinsam versuchen, ihre Betroffenheit zu artikulieren. Damit wurde auf ein Modell zurückgegriffen, welches in dieser Form bereits 1928 von Dewey in The Public and its Problems formuliert worden ist. Deweys Äußerungen zur Öffentlichkeit gründen auf einer Leitvorstellung des Pragmatismus, wonach das einsam zweifelnde Ich eines René Descartes durch die Idee einer kooperativen Bewältigung realer Handlungsprobleme abgelöst wird.25 Der Pragmatismus vertritt eine philosophische Position, die das Denken in einer Kontinuität mit dem alltäglichen Handeln und den Alltagsgewohnheiten situiert. So fordert der Pragmatist, Vorstellungen aller Art im Hinblick auf ihre praktischen Wirkungen zu beurteilen.26 Der Pragmatismus wie auch der Neopragmatismus als philosophische Richtung sind bemüht, weniger eine Suche nach Wahrheit zu betreiben als vielmehr eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten offenzulegen. Phänomene und soziale Praktiken werden in einem Vokabular beschrieben, welches besonders auf Hervorbringung zielt. Praktiken der Social Software, so die formulierte Annahme, spiegeln pragmatische Vorstellungen wieder, wobei hier nicht auf eine Rechtfertigung aller Anwendungen der Software geschlossen werden sollte. Vielmehr wird sichtbar, dass der demokratische Anspruch, der im Pragmatismus sichtbar wird, ebenso in der Praxis der bottom-up-Prozesse der Social Software zum Ausdruck kommt. Der Pragmatismus und insbesondere Richard Rortys Neopragmatismus könnten so möglicherweise zur theoretischen Vorlage für die zukünftige Entwicklung des Users, des Medienamateurs in einer Demokratie bedeuten.

25 Joas: „Die politischen Ideen des amerikanischen Pragmatismus“, S. 613. 26 James: Der Pragmatismus, S. 103.

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Eines der auffälligsten Phänomene im Web 2.0 ist die Unwahrheit, oder etwas situativer formuliert, der Zustand, in dem man auf Inhalte stößt, die nicht mit der eigenen Vorstellung, dem eigenen Wissen übereinstimmen. Ein Hinweis dafür sind zahlreiche in Blogs geführte Diskussionen zu einem konkreten Thema, die unterschiedliche Positionen offenbaren und die Fakten wie Meinungen betreffen. Tatsächlich ist die Aufnahme der im Netz publizierten „alltäglichen“ Wahrheiten nicht unproblematisch, denn entweder wird sie von einigen wenigen Experten dargelegt oder von zu vielen auf einmal formuliert und setzt sich damit entsprechenden Vorwürfen aus. Beide Konzepte existieren nun schon einige Zeit nebeneinander, werden gleichermaßen immer wieder kritisiert und dennoch scheint jede Form eine konstante Anhängerschaft zu haben. Kann es also sein, dass in den Jahren der Social Software andere Aspekte als bisher auf der Suche nach der Wahrheit in den Vordergrund gerückt sind? Die allgemeine Definition, Wahrheit sei die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, und eine Eigenschaft gewisser Vorstellungen, wird der Pragmatist zunächst nicht anfechten. William James wies jedoch darauf hin, dass der Pragmatist sich insbesondere an den Worten Übereinstimmung und Wirklichkeit stören werde. Auf die Frage nach dem Barwert der Wahrheit antwortet er: Wahre Vorstellungen sind solche, die wir uns aneignen, die wir geltend machen können, in Kraft setzen und verifizieren können. […] Das ist der praktische Unterschied, den es für uns ausmacht, ob wir wahre Ideen haben oder nicht.27 Eine Vorstellung wird James zufolge durch Ereignisse wahr gemacht, d.h. ihre Wahrheit ist ein Geschehen, ein Vorgang ihrer Bewahrheitung. James bestimmt die Wahrheit als eine Art des Guten, in seinem Sinne ist all das wahr, was sich aus angebbaren Gründen als gut erweist.28 Diese Bestimmung der Wahrheit als eine Art des Guten ist seit Platon geläufig, dennoch hat James mit seiner Definition der Wahrheit unter Philosophen viel Unmut und zahlreiche Streitigkeiten hervorgerufen.29 Den Ausgangspunkt in der Diskussion um den Wahrheitsbegriff bildet bei James jedoch die Analyse von Vorgängen, bei denen die Handlungen so gesteuert werden können, dass die Menschen durch ihre Handlungen zu sie befriedigenden Angleichungen an die Wirklichkeit gelangen. Hier wird auch deutlich, warum für James die Wahrheit sich in einem Vorgang ma-

27 Ebd., S. 126. 28 Ebd., S. 48. 29 Oehler: „Einleitung“, S. XXVI.

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nifestiert, zu einem Vorkommnis wird und damit keine unbewegliche Eigenschaft darstellt. 30 Das Erbe von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert findet heute in der Online-Enzyklopädie und dem für jedermann offenen, basisdemokratischen Projekt Wikipedia seine Fortsetzung. Obwohl die Zahlen zuletzt rückläufig sind31, schreiben hier immer noch zahlreiche Autoren regelmäßig Beiträge, korrigieren und ergänzen bestehende Artikel und diskutieren, wie sie Ereignisse, wie beispielsweise den Irakkrieg, möglichst objektiv, fehlerfrei und aktuell darstellen und somit einen Anspruch auf Wahrheit erfüllen können. Aus passiven Konsumenten werden aktive Produzenten. Angesichts dieser Veränderungen fragt der Spiegel-Autor Frank Hornig ganz zu Recht: „Wird es die eine Wahrheit da überhaupt noch geben, wo die Meinung von Millionen durch die Breitband-Leitung strömt?“32 Unlängst haben PR-Agenturen, Think Tanks wie auch Politiker Wikipedia für sich entdeckt. Bekannt wurde hier unter anderem die Edit-Schlacht um Friedrich Merz.33 Autoren unterschiedlicher Gesinnung führten Ergänzungen im Profil des Politikers ein und gaben sich so als Anhänger, Kritiker, oder Gegner zu erkennen, die in ihrer Unternehmung einen Imageschaden Merz’ nicht scheuten. Der ehemalige CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer stellte auf Wikipedia seine Zahlungen, die er einst von RWE erhalten hatte, ins rechte Licht. Auf Nachfragen räumte er ein, diese Korrektur vorgenommen zu haben, da „über die Klärung der RWE-Vorgänge längst nicht so breit berichtet wurde, wie über die Vorwürfe, und Wikipedia ohne diese Information unvollständig war.“34 Das Prekäre an dieser Korrektur, wie an zahlreichen weiteren, war, dass sie von Rechnern des Bundestages aus vorgenommen worden war. Meyer, wie viele andere, sah sich im Recht in Wikipedia an Artikeln zur eigenen Person wie auch zu anderen Persönlichkeiten der Öffentlichkeit mitschreiben zu können. Und tatsächlich – warum auch nicht? Ein Medium das für jeden zugänglich ist, eine Volksenzyklopädie, sollte keine Ausnahmen machen. Ob nun die vorangehende Fassung wahr ist oder die von Meyer korrigierte „wahrer“ spielt hierbei keine Rolle. Einträge beinhalten Aspekte, die dem Informationskodex über gehobene Kreise zuwiderlaufen und auf diesem Wege zur Relevanz der Information beitragen.35 Entscheidend ist, dass hier ein Verifikationsprozess eingeleitet wird. Was sich für den Verfas-

30 Ebd., S. 126. 31 Lischka: „Mitmach-Enzyklopädie“. 32 Hornig: „Ein bunter chaotischer Marktplatz“, S. 9. 33 Jellen: „Edit-War um Friedrich Merz“. 34 Zitiert in Herwig: „Hacker im Hohen Haus“, S. 23. 35 Vgl. Jellen: „Edit-War um Friedrich Merz“.

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ser des Artikels als wahr, als übereinstimmend mit der Realität erweist, tut dies für Meyer und andere noch lange nicht oder nicht ausreichend.36 Für James erweist sich bereits um 1900 Wahrheit als ein Sammelbegriff für die vielen einzelnen Wahrheiten, die in einem langen, kritischen Prozess gefunden und mit den alten Wahrheiten assimiliert werden.37 Heute zeigen Diskussionen und Auseinandersetzungen in Blogs und in den unterschiedlichsten Foren, dass durchaus auch in vermeintlich familiären Umgebungen konträre Meinungen, in diesem Sinne auch Wahrheiten, vorherrschen. Im Falle von Wikipedia kann eine Korrektur immer wieder korrigiert werden. Vielfältige Einflüsse bringen uns dazu, bestimmte Positionen zu vertreten und so lange an ihnen festzuhalten, so lange sie sich als „zuverlässige Anhaltspunkte zur Erreichung des Gewünschten erweisen“.38 Richard Rorty bekräftigt hier die Aussage Goodmans, es gebe nicht nur eine einzige Weise des Soseins der Welt und daher auch nicht nur eine einzige Weise, sie richtig darzustellen. Es gibt aber zahlreiche Handlungsweisen […] des Menschen. Deren Verwirklichung ist vom Gewinnen berechtigter Überzeugungen nicht zu trennen, vielmehr ist dieses ein Spezialfall jener.39 Die im Web 2.0 beobachteten Formen des Wissenserwerbs lassen das Phänomen einer spontanen Herausbildung von Strukturen erkennen, die der Social Software eine nicht unwichtige Facette verleihen. Der Ausdruck der kollektiven Intelligenz, oder auch Schwarmintelligenz, ist in diesem Zusammenhang verstärkt in den Vordergrund getreten, weil die Möglichkeiten einer kollektiven Entscheidungsfindung strukturell gewachsen sind. Pierre Lévy definiert bereits 1995 im Rahmen einer Anthropologie für den Cyberspace die kollektive Intelligenz als eine Intelligenz, die sich durch ihre Verteilung, Werterschaffung und die Koordination in Echtzeit auszeichnet. Diese Elemente garantieren die effektive Mobilisierung der Kompetenzen. Dabei hebt er hervor, dass sowohl Grundlage als auch Ziel der kollektiven Intelligenz eine „gegenseitige Anerkennung und Bereicherung und nicht ein Kult um fetischisierte, sich verselbständigende Gemeinschaften“ sei.40 Voraussetzung der kollektiven Intelligenz sind Kommunikationsstrukturen, die es den Mitgliedern ermöglichen, sich in einer ständig verändernden Landschaft von Bedeutungen zu bewegen und zu 36 James: Der Pragmatismus, S. 143. 37 Oehler: „Einleitung“, S. XXIV. 38 Rorty: Hoffnung statt Erkenntnis, S. 24. 39 Ebd. 40 Lévy: Die kollektive Intelligenz, S. 29f.

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interagieren. Als Mittel hierfür können die Anwendungen der Social Software gelten, die eine dynamische Interaktion ermöglichen. Entscheidend wird hier, wie auch Lévy betont, die Anerkennung. Nur durch diese kann es zu einer Motivation kommen, die die Dynamik am Leben erhält. Insbesondere der Neopragmatismus zielt darauf ab, Perspektiven der Handlung zu eröffnen und weniger abschließende Wahrheiten festzulegen. Rorty formuliert hier die Forderung, die Erkenntnis durch Hoffnung zu ersetzen und meint damit nichts anderes als die Preisgabe der kantianischen Vorstellung von Wahrheit: Man sollte sich nicht mehr darum kümmern, ob das, was man glaubt, gut fundiert ist, sondern sich allmählich darum kümmern, ob man genügend Phantasie aufgebracht hat, um sich interessante Alternativen zu den gegenwärtigen Überzeugungen auszudenken.41 Dabei geht das Selbst in seinem Denken von Überzeugungen aus, die ihm zum jeweiligen Zeitpunkt als wahr erscheinen. Es zeigt sich erst im Moment der Handlung an Reibungen und Brüchen, dass diese Überzeugungen möglicherweise weniger selbstverständlich sind. Der Konsens respektive die neue Erkenntnis muss immer wieder korrektiv aus den heterogenen Überzeugungen eines beweglichen Common Sense hergestellt werden.42 Der Common Sense umfasst den Kontext in dem das Selbst situiert ist. Das heißt somit auch, dass sich das handelnde Selbst innerhalb seines je spezifischen Common Sense artikuliert. Die entstehenden Reibungen und Brüche führen dazu, dass das Selbst Zweifeln ausgesetzt wird. Indem das Selbst aber handelt, ist es in der Lage, das Wechselverhältnis von Überzeugungen und Zweifeln aufzulösen. Seine Handlungsfähigkeit wird erst durch seine partikulare Situiertheit im Common Sense möglich.43 Innerhalb der Social Software ist dieses Phänomen in Blogs oder Diskussionen um Wikipedia-Einträge zu beobachten, doch auch die Kritik an Selbstdarstellungen, wie sie in YouTube zu finden sind – hier vor allem das Beispiel lonelygirl15 oder GreenTeaGirlie – zeigen anhand der Auseinandersetzungen die Prozesse der Situierung. Die Handlungsmöglichkeit und -fähigkeit des Einzelnen wird mit den Mitteln der Social Software größer, die Möglichkeiten der Erkenntnis können zunehmen, sie können aber auch genauso gut „scheitern“. In Wikis zeigt sich das Wechselverhältnis von Überzeugung und Zweifel, wenn Einträge korrigiert – in dem genannten Fall tatsächlich richtig gestellt werden – und die Korrektur der Korrektur alles wieder zunichte macht. Einer der Vor41 Rorty: Hoffnung statt Erkenntnis, S. 25. 42 Salaverria: Spielräume des Selbst, S. 13. 43 Ebd., S. 20.

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denker der digitalen Zukunft, Jaron Lanier, selbst „als Eintrag“ von einem solchen Vorfall betroffen, kritisiert die vermeintliche Weisheit der Massen. Seiner Ansicht nach wird es immer populärer zu glauben, das Kollektiv verfüge gar über eine höhere Intelligenz, über eigene Ideen und eine überlegene Meinung: „Mir bereitet die Vision Sorgen, nur das große Ganze, das Kollektiv sei real und wichtig – nicht aber der einzelne Mensch.“ 44 Es wäre schlichtweg falsch zu behaupten, das Web 2.0 berge keine Probleme oder gar Gefahren. Tatsächlich aber ist man mit den Mitteln der Social Software der Idee des interaktiven und produktiven – für alle zugänglichen – Netzwerkes sehr nahe gekommen. Die Plattform myspace.com wies im März 2007 eine Zahl von 87 Millionen aktiven Usern auf. Bereits ein Jahr nach seiner Gründung 2005 spielte das Portal YouTube.com an die 100 Millionen Videos pro Tag aus. Mit 711.314 Artikeln ist die deutschsprachige Wikipedia zurzeit die zweitgrößte Online-Enzyklopädie (nach der englischsprachigen, die über 2 Millionen Artikel enthält); 520.467 registrierte Benutzer sind verzeichnet, wobei 298 die Administratoren-Rechte innehaben. Ende September 2007 verzeichnete die Business-Kontaktplattform XING eine Mitgliederzahl von 4,25 Millionen. Die Tendenz ist überwiegend steigend, nur bei Wikipedia stagnieren die Zahlen zurzeit.45 Dieser Abriss zeigt annähernd, dass es sich beim World Wide Web nicht mehr um eine „schöne Unterhaltung“46 handelt, sondern dass es vielmehr seinen funktionsgebundenen Platz im Alltag der Konsumenten gefunden hat. Es ist offensichtlich, dass die Anwendungen die Fähigkeiten der Handlung erweitern und damit die Möglichkeiten der bisherigen Massenmedien überschreiten. Sie fördern damit Beteiligungen und schaffen Teilöffentlichkeiten, die ganz im Sinne Latours für das Versammeln kein Äquivalent des Körpers mehr benötigen. Die Möglichkeit, sich ohne einen politischen Körper geltend zu machen, bringt jenen Realismus, der der aktuellen Situation adäquat erscheint. Aufgrund der hohen Nutzerzahlen ist es wohl berechtigt, die Social Software als ein dominantes Medium einzustufen. Der Aspekt der Handlung verleitet jedoch dazu, weiter zu gehen und von einem Leitmedium zu sprechen,

44 Jaron Lanier im Interview mit Jörg Blech und Rafaela von Bredow: „Eine grausame Welt“, S. 182. 45 Dowideit: „Myspace.com hängt Yahoo und Google ab“; Diestelberg: „YouTube.com liefert 100 Millionen Videos pro Tag aus“; o.V.: „Statistik – Wikipedia“; o.V.: „XING Corporate Information – Fakten und Zahlen“. 46 Klaus Schrotthofer, zu diesem Zeitpunkt Chefredakteur der Westfälischen Rundschau in Dortmund, bezeichnete mit dieser Formulierung die aktuelle Verwendung des Internets aus seiner Sicht bei der Podiumsdiskussion „Gibt es noch Leitmedien?“ (15.11.2007) im Rahmen der Konferenz, die diesen Bänden zugrunde liegt.

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da sich das alltägliche Handeln in ein Medium überträgt und dort weiterhin aktiven Bestand hat. Es wird nicht mehr ausschließlich passiv konsumiert, sondern das Medium fordert ein Handeln, einen kreativen Eingriff, ein, welches mit der Alltagsgestaltung und -erfahrung unmittelbar verschmilzt. Aspekte wie Wahrheit und Common Sense und in diesem Zusammenhang auch die Tatsache der beständigen Veränderung, die mit der Handlung einhergehen, sind dabei nur drei Blickwinkel von vielen, die die Einsicht gestatten, dass eine Frage – im Sinne des Pragmatismus – mehr als eine Antwort kennt. Diese Einsicht wiederum erlaubt es, sich einem Konzept anzunähern, welches von Rorty formuliert wurde und dessen Realisierung in der Zukunft offen bleibt: Seine Ironikerin ist es, die radikale und unaufhörliche Zweifel an dem abschließenden Vokabular hegt, das sie gerade benutzt. Sie erkennt, dass Argumente in ihrem augenblicklichen Vokabular diese Zweifel weder bestätigen noch ausräumen können. Die Ironikerinnen sind nie ganz in der Lage „sich selbst ernst zu nehmen, weil immer dessen gewahr, dass die Begriffe, in denen sie sich selbst beschreiben, Veränderungen unterliegen.“47 Während der Metaphysiker die Bibliothek nach Disziplinen ordnet, ordnet die Ironikerin hingegen nach Traditionen. Ihr sind, so Rorty, Dichter wichtiger als Philosophen: Wenn sie [die Ironikerin] ihre Suche nach einem abschließenden Vokabular beschreibt, das besser wäre als das, dessen sie sich gerade bedient, so verwendet sie dabei viel eher Metaphern des Machens als des Findens, viel eher Bilder für Abwechselung und Neuheit als für Konvergenz mit dem, was schon da ist. Sie stellt sich abschließende Lösungen als poetische Leistungen vor, nicht als die Früchte fleißiger Untersuchungen im Einklang mit vorher formulierten Kriterien. […] Ihre Methode ist Neubeschreibung statt Inferenz.48 Das Hinterfragen des Vokabulars ist für die Ironikerin die Erschaffung des Selbst, denn ihr fehlt die Hoffnung auf eine ihr überlegene Instanz, die ihr die Zweifel an den abschließenden Vokabularien nehmen könnte.49 In der Betrachtung des Web 2.0 entsteht der Eindruck, dass der heutige User Rortys Ironikerin in Kinderschuhen ist. Der User wächst mit einem Begriff und einer Genese von Wahrheit auf, die noch vor einigen Jahren nicht denkbar waren. Er findet sich in einer Situation wieder, in der sein Zweifel weniger durch eine konkrete Antwort als durch Reflexionen des Phantoms Öf-

47 Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 128. 48 Ebd., S. 133 und S. 135. 49 Ebd., S. 164.

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fentlichkeit gelöst wird. Die Social Software und ihre Konsequenzen zeigen sich als ein Phänomen, das – ganz im Sinne des demokratischen Denkens Latours – mit der kindlichen Ironikerin wachsen könnte.

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Dagmar Venohr

Warum Mode (k)ein modernes Leitmedium ist … Die Mode ist heutzutage die Sache aller geworden, wie es das enorme Anwachsen der spezialiserten Frauenzeitschriften beweist. (Roland Barthes, Das Dandytum und die Mode)

Medien markieren die Nahtstelle, an der Sinn aus nichtsinnhaften Phänomenen entsteht. (Sybille Krämer, Über Medien)

Ist Mode ein Medium, ein ästhetisch-medialer Komplex, ein Phänomen, ein Strukturprinzip, eine Form oder ein Inhalt? Wie bedeutet und konstituiert sich Mode? Welche Rolle spielen hierbei die Medien?

Modemedien Mode ist kein Medium, aber Mode konstituiert sich medial. Medien sind für die Mode konstitutiv. Das Medium Kleidung ist zunächst das augenfälligste Medium der Mode, andere Medien sind jedoch mindestens genauso entscheidend für ihren Konstitutionsprozess. Insbesondere innerhalb der Leitdifferenz zwischen Text und Bild erscheint Mode als modernes Phänomen par excellence. In der Medienkombination von Schrift und Fotografie der Modezeitschrift1 lässt sich exemplarisch herausstellen, wie Mode sich im Wechselspiel zwischen diesen beiden Medien konstituiert. Es ist davon auszugehen, dass Mode als etwas Atmosphärisches2 sowohl rezipiert als auch produziert wird.

1

Eine Modezeitschrift ist eine Zeitschrift, die sich insbesondere der Vermittlung von Modekleidung widmet, d.h. ihre Funktion liegt darin, über die aktuelle Modeproduktion zu informieren. Heute erfüllen vor allem Frauenzeitschriften, Lifestylemagazine und Glossies diese Aufgabe; in allen finden sich sogenannte Modestrecken, d.h. inszenierte Bild-Text-Reportagen über Modekleidung.

2

Das Atmosphärische „soll einen Phänomenbereich bezeichnen, nicht ein Einzelnes Etwas“. (Böhme: Anmutungen, S. 11.) Dieser Bereich wird durch menschliches Agieren, durch ästhetische Arbeit, erzeugt. Das Atmosphärische bezeichnet Phänomene, „die gegenüber Atmosphären deutlicher vom wahrnehmenden Ich unterschieden sind und bereits eine Tendenz zeigen, Dingcharakter anzunehmen“. (Böhme: Aisthetik, S. 59.) Gernot Böhme will die Seinweise eines Dinges nicht mehr anhand von Eigenschaften als Bestimmungen gedacht wissen, sondern begreift das Ontische in den „Weisen, wie es aus sich heraustritt“. (Böhme: Atmo-

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Dieser aisthetische Wahrnehmungsprozess wird als performativer Akt3 aufgefasst, in dessen Verlauf sich Mode konstituiert. Mode ist insofern kein Medium, sondern die medialisierte Vision einer Idee. Am Beispiel des modernen Mediums Modekleidung und ihren Medialisierungen in der Modezeitschrift lässt sich dieser sinnkonstitutive, performative Prozess allerdings so prägnant nachzeichnen, dass es letztendlich offensichtlich doch möglich erscheint, Mode als ein Leitmedium der modernen Alltagskultur zu bezeichnen. Wenn Ulf Poschardt in einem Interview des Magazins Profil von 2001 behauptet, dass es „im Augenblick eine sehr angesagte These [sei], Mode als Leitmedium für alle anderen Formen kulturellen Ausdrucks zu sehen“4, ist das eine Aussage, die auf großen terminologischen Unschärfen beruht. Genauso die Sichtweise Joachim Schirrmachers, der als Kurator einer ModeförderpreisAusstellung im Jahr 2005 deklamiert: Mode ist nicht nur in Mode. Sie hat sich zum Leitmedium der aktuellen Alltagskultur entwickelt und wirkt sich auf Entwurfsstrategien anderer Gestaltungsdisziplinen aus: sei es in der Architektur, im Automobil-, Industrial- oder Grafikdesign und natürlich auch in der Fotografie.5 Oder, wie sich auf der Berufswahl-Infoseite des deutschen Gesamtverbands Textil+Mode nachlesen lässt: Die Mode baute in den vergangenen Jahren ihren Aktionsradius innerhalb der Gegenwartskultur aus und wurde zum Leitmedium. Aus-

sphäre, S. 22.) Diese „Ekstasen“ werden nicht als in sich geschlossene Seinweisen, sondern vielmehr als Wirkungen über ihr materiales Sein hinaus verstanden. (Böhme: Aisthetik, S. 131ff.) Sie öffnen sich so einem Raum, sind in ihrer Relation zum Anderen bedingt und bewirken eine Atmosphäre. Die Präsenz der Dinge, ihre Realität ist, nach Böhme, wesentlich durch ihre Ekstasen als ein Atmosphärisches zu begreifen. 3

Performatives Agieren heißt, „dass das, was ein Akteur hervorbringt, von Betrachtern auf eine Weise rezipiert wird, welche die Symbolizität und Ausdruckseigenschaften dieses Vollzugs gerade überschreitet“. (Krämer: „Was haben ‚Performativität‘ und ‚Medialität‘ miteinander zu tun?“, S. 21.) Die Verlagerung eines sinnkonstituierenden Prozesses weg vom Produzenten hin auf das Wahrnehmen von Medien durch den Rezipienten, ist meines Erachtens eine entscheidende, da ermächtigende Gewichtsverschiebung zugunsten eines anderen Verstehens. Diese Neuakzentuierung des Performativen eröffnet einen Freiraum für Eigensinniges.

4

Ars Electronica Linz: „Ist der TAKEOVER nun Gucci oder Prada?“.

5

„Glanzlichter europäischer Mode in Bremen“.

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schlaggebend dafür ist die verstärkte Allianz von Mode und Medien, Fotografie und Kunst.6 Diese Aussagen beziehen sich beim Reden über Mode irgendwie auf Kleidung, ohne dass deutlich wird, welche Art und Weise der Kleidung gemeint ist. Und sie gebrauchen in diesem Zusammenhang den Begriff ‚Leitmedium‘, ohne dass klar ist, was ein Leitmedium oder – in Bezug auf Mode – gar ein Medium ist. Essenz dieser Aussagen ist lediglich, dass Mode als Leitmedium, Einfluss nimmt auf weite Teile der Kultur. Unklar bleibt jedoch, was Mode ist, wenn sie als ein Leitmedium angesehen wird. Es ist irgendwie von Kleidung die Rede, und immer weist diese auch über sich hinaus. Denn im selben Atemzug wird auch von anderen Medien gesprochen, und es ist nicht ersichtlich, was als die Mode per se bezeichnet wird.

1

Mode, Medien und Moderne

Grundlegend muss deshalb geklärt werden, was Mode ist: eine Form, eine Gestaltungsdisziplin, ein Totalphänomen, ein Bedeutung vermittelndes und konstituierendes Medium, oder vielleicht doch kein Medium? Aus der indirekten Fragestellung des Titels ergeben sich deshalb folgende Lesarten: 1. Warum ist Mode kein modernes Leitmedium?, 2. Warum kann Mode als modernes Leitmedium gesehen werden? und 3. Warum ist Mode ein modernes Leitmedium? In der ersten Lesart bezieht sich demnach das ‚kein‘ auf das ‚Medium‘, denn die diesem Beitrag zugrunde liegende These ist, dass Mode kein Medium, sondern ein spezifisches Strukturphänomen ist. In Anlehnung an die Ausführungen von Irina Rajewsky7 zur Transmedialität8 kann Mode im Sinne eines Transmediums aufgefasst werden. 6

Gesamtverband Textil und Mode: „Textile Your Future“.

7

Vgl. Rajewsky: Intermedialität, S. 13.

8

Fraas und Barczok verstehen unter Transmedialität „die Umsetzung einer bestimmten Ästhetik bzw. eines bestimmten Diskurstyps in unterschiedlichen Medien“, und sie beschreiben diese als ein „medienunspezifisches Wanderphänomen“. (Fraas/Barczok: „Intermedialität – Transmedialität“, S. 5.) Nach Roberto Simanowski meint Transmedialität „den Wechsel von einem Medium in ein anderes als konstituierendes und konditionierendes Ereignis eines hybriden ästhetischen Phänomens“. (Simanowski: „Transmedialität als Kennzeichen moderner Kunst“, S. 3.) Er ordnet das Konzept der Transmedialität der Intermedialität zu und setzt diese dann ähnlich wie Fraas und Barczok erneut als ein Hyperonym, was Rajewsky mit ihrer systematischen Kategorisierung eigentlich ausdifferenzieren und somit vermeiden wollte, um den einzelnen Phänomenen adäquater habhaft werden zu können. (Vgl. Simanowski: Interfictions, S. 18.) Und auch im Vor-

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Da allerdings ‚Mode‘ alltagssprachlich oft im Sinne von ‚Modekleidung‘ verwendet wird, und in diesem Fall Kleidung als Medium9 gesehen werden kann, ist es auch möglich, Mode ‚als Medium‘ oder auch ‚Leitmedium‘ zu bezeichnen. Deshalb muss bei der Erläuterung der zweiten Lesart deutlich werden, was Kleidung allererst zu Modekleidung macht.10 Hier zeigt sich, dass Kleidung immer irgendeiner Medialisierung bedarf, um als Mode erkannt werden zu können. Die Modezeitschrift hat hier eine leitende Funktion11, und in dem konstitutiven Zusammenspiel von Text und Fotografie erscheint Mode atmosphärisch zwischen verbaler und visueller Wahrnehmung. In einem dritten Schritt erweist es sich, abgesehen von der Schwierigkeit, Mode als Medium zu bezeichnen, und unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Medialisierungsformen, jedoch als möglich, einen konkreten Zusam-

wort zu der Aufsatzsammlung Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren von Urs Meyer u.a wird zwar explizit auf die Arbeit von Rajewsky verwiesen, dennoch setzen sich die Herausgeber, u.a. auch Roberto Simanowski, in ihrer Konzeption von Transmedialität vollkommen über ihre Kategorisierung hinweg, wenn sie schreiben: „Transmedialität fokussiert auf die gleichzeitige Anwesenheit der beteiligten Medien und steht somit im Grunde der intermedialen Kopplung nahe. Während dort der Akzent jedoch auf dem Ergebnis als vollzogener Verbindung beider Partner liegt, betont der Begriff der Transmedialität den Transfer. Gegenstand sind die beteiligten Medien im Prozess des Übergangs.“ (Meyer u.a.: Transmedialität, S. 9f.) – Die erneute Homogenisierung der Kategorien von Rajewsky halte ich für nicht sehr gewinnbringend, da dies wieder zu einer Trennunschärferelation in der Intermedialitätsdebatte führt, auch wenn es für ein Einzelprojekt vielleicht zunächst sinnvoll erscheint. Für meine modetheoretischen Arbeiten sehe ich klare Vorteile in der Abgrenzung von Transmedialität und Intermedialität als zwei sich überlagernde Kategorien, wie Rajewsky es vorsieht. Leider wird jedoch die Transmedialität als Sammelbegriff für eine bestimmte Gruppe von Phänomenen mit bestimmten Eigenschaften von ihr nicht weiter in den Blick genommen. Hier kann noch einiges für die Präzisierung und Praktikabilität des Begriffs ‚Transmedialität‘ getan werden, ohne jedoch dem bisher Sortierten seinen Platz und Raum zu nehmen, sondern vielmehr diesen bereits von Rajewsky definierten Ort zu nutzen, um weitere Ordnungsprinzipien zu modifizieren. Trennschärfen und möglicherweise Subkategorien sind für das Konzept der Transmedialität im Sinne Rajewskys weiter zu denken und auszuführen. 9

Vgl. McLuhan: „Kleidung. Unsere erweiterte Haut“.

10 Gertrud Lehnert beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: „Kleider werden zu Mode, indem sie als solche hergestellt, verkauft und inszeniert werden. D.h. es ist auch der Kontext, der darüber entscheidet, ob etwas Mode ist […].“ (Lehnert: „Mode und Moderne“, S. 257.) 11 Eine unterscheidende Erläuterung von ‚leitender Funktion‘ und ‚Leitfunktion‘ von Medien findet sich im folgenden Exkurs.

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menhang zwischen Mode und Moderne12 herauszustellen. Denn Mode erscheint im Rückblick als ein mögliches Paradigma der Moderne, und die Bezeichnung der Mode als ‚modernes Leitmedium‘ erschließt sich aus dieser funktionalen Bezüglichkeit.

Exkurs: Leit- und leitende Funktion Basis der folgenden Überlegungen zur Mode als modernes Leitmedium ist die Differenzierung des Leitmedienbegriffs, um zu einer spezifischeren Praktikabilität seiner Anwendung, hier vor allem innerhalb der Modetheoriebildung, beizutragen. ‚Leiten‘ ist eine Funktion und keine Eigenschaft. Ein Leitmedium hat entsprechend nicht zwingend bestimmte Eigenschaften, sondern übernimmt bestimmte Funktionen. Es handelt sich hierbei entweder um eine ‚leitende Funktion‘ oder um eine ‚Leitfunktion‘. Diese Unterscheidung ergibt sich vor allem aus der Verwendung des Wortes ‚leiten‘, und zwar einerseits im Sinne von ‚führen und lenken‘, d.h. eine Richtung weisend, und andererseits verstanden als ‚anführen und herrschen‘, d.h. an der Spitze stehend. Die ‚leitende Funktion‘ eines Medium liegt demnach in seiner anleitenden Rolle. Ein solches Leitmedium hat die Aufgabe informierend Orientierung zu bieten. Die ‚Leitfunktion‘ eines Mediums hingegen ist die Funktion eines Mediums in Bezug zu anderen Medien die Führungsrolle innezuhaben. Die Frage ‚wer oder was leitet wen oder was?‘ lässt sich dann folgendermaßen beantworten: 1. Ein Medium leitet Rezipienten an: es hat eine leitende Funktion, und 2. ein Medium leitet andere Medien: es führt sie an, hat eine Leitfunktion.

2

Formation, Struktur und Muster der Mode

Die Begriffe ‚Formation‘, ‚Struktur‘ und ‚Muster‘ eignen sich deshalb besonders gut, um das Phänomen Mode zu beschreiben, da ihnen eine spezifische Form der Prozessualität zu Eigen ist, die sie miteinander verbindet. So ist eine Formation die Ausprägung eines spezifisch strukturierten Mediums durch Zusammenstellung anderer Medien. Die Strukturen der am Prozess der Herausbildung beteiligten Medien bilden durch Zusammenfügungen und Übertragungen andere Strukturen und weitere Medien. Hierbei sind ein permanenter Verlust und ein stetiger Überschuss von Wahrnehmbarem zu bemerken, die

12 Vgl. etwa Bertschik: Mode und Moderne; Lehmann: Tigersprung; Schwarz: Das Modische.

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die offenen Ränder des Wahrnehmens bilden.13 In den Mustern, die durch Wiederholung von Formationen und Strukturen geprägt werden, zeigt sich im Laufe der Zeit eine gewisse Regelmäßigkeit, oder besser: Modellhaftigkeit. Es soll nun im Folgenden versucht werden anhand dieser Konzeption, Mode nicht nur als Strukturphänomen zu erkennen, sondern auch ihren Konstitutionsprozess zu beschreiben.

2.1

Formationen der Mode

Ausgehend von der These, dass Mode kein Medium ist, wird durch die Klärung dessen, was als Medium gesehen und als was Mode beschrieben werden kann, aufgezeigt, wie die Formationen der Mode zu verstehen sind. So lässt sich Kleidung, die in Mode ist, als Medium sehen und Mode demnach als Transmedium beschreiben. Allerdings sind hiermit keine Seins- sondern vielmehr Funktionsweisen gemeint, die sich nur im Wahrnehmungsprozess selbst herausbilden und abzeichnen. Formationen lassen sich deshalb nicht festschreiben, sondern es lässt sich lediglich auf solche hinweisen.

2.1.1 Kleidung als Medium Wie bereits angedeutet, ist es meines Erachtens nicht sinnvoll, Mode an sich als Medium zu bezeichnen. Mode per se ist kein Medium. Dennoch wird von Mode oft im Sinne eines Mediums gesprochen, und zwar deshalb, weil der Sprecher sich dann indirekt auf die Kleidung bezieht, die in Mode ist, also auf Modekleidung. Denn Kleidung kann sehr wohl als Medium gebraucht werden. Und sie wird in weiten Teilen aller Gesellschaften als Medium gebraucht. Sie hat dann als Medium die Funktion, übertragend Sinn zu stiften. D.h. durch Übertragung von bestimmten Werten oder Bedeutungen in eine bestimmte Gestaltungsform der Kleidung wird transformativ Sinn konstituiert. Es handelt sich hierbei um einen performativen und aisthetischen Prozess, sowohl auf Produzenten- als auch auf Rezipientenseite. Festzuhalten ist, dass die spezifischen Eigenschaften eines Mediums, seine medialen Eigenschaften, immer an seine räumliche, zeitliche und vor allem materielle Präsenz gebunden sind. Und d.h., ein Medium ist nicht per se, sondern nur durch eine Transformation in ein weiteres Medium darstellbar.14 Soll dem-

13 Vgl. Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 102ff. 14 „Medien gibt es nur im Plural“, so formuliert es Hartmut Winkler, d.h. es gibt kein Medien-Außen, keinen anderen theoretischen Ort, von dem aus sich das Mediale

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nach ein Kleidungsstück als Medium kenntlich gemacht werden, muss es zunächst medialisiert sein. Entsprechend wird Modekleidung erst durch ihre Übertragung in ein weiteres Medium sichtbar.15 Für die Modekleidung heißt das konkret: erst in ihrer Medialisierung durch z.B. die Modezeitschrift wird die Modekleidung als Medium erkennbar, also erst durch eine weitere mediale Bezugnahme wird der Prozess der Bedeutungskonstitution durch Kleidung als Medium aufzeigbar.16 So wird durch die sprachliche Bezugnahme auf ein Kleidungsstück im Kontext der Modezeitschrift – also beispielsweise durch die Benennung dessen, was ‚in‘17 ist – Kleidung als Modekleidung erkennbar. Mode sind: lange Pullover, Leggings, Big Bags, Stiefel im Biker-Look, Natürlichkeit, Ökologie, Fair Trade, Nachhaltigkeit, das Eigene und das Individuelle usw. Es wird deutlich, dass Mode irgendwie mehr ist als nur Modekleidung. Denn die Mode geht weit über das Medium Kleidung hinaus, wenn neben ‚Stiefeln und Hosen‘ auch ‚Nachhaltigkeit‘ oder ‚Individualität‘ Mode sein können.

2.1.2 Mode als Transmedium Es erweist sich deshalb als sinnvoll, Mode als ein übergeordnetes Medium anzusehen, da sie jenseits von räumlichen, zeitlichen und materiellen Eigenschaften von Medien angesiedelt ist und sich durch diese hindurch zeigt. Mode ist demnach ein Transmedium.18 Es handelt sich dabei, so Rajewsky, um „medienunspezifische Phänomene, die in verschiedenen Medien mit den dem jeweilibetrachten ließe, als nur aus sich selbst heraus. Medien sind nur in und durch andere Medien als Medien darstellbar. (Winkler: „Mediendefinition“.) 15 Auch Gertrud Lehnert spricht von der Modekleidung als einem Medium: „Mode ist eines der vielfältigsten, veränderlichsten, ungreifbarsten und doch hartnäckigsten Medien der Bedeutungsgenerierung, Bedeutungszuschreibung, aber auch der Dekonstruktion von Bedeutung.“ (Lehnert: „Mode als Spiel“, S. 216.) 16 Elena Esposito, die Mode als strukturierendes Phänomen der Beobachtung zweiter Ordnung in der modernen Gesellschaft sieht, erläutert die Kurzsichtigkeit, Mode auf Modekleidung eingrenzen zu wollen wie folgt: „Die Aufmerksamkeit gegenüber Kleidung, verstanden als Illusion erster Ordnung, wird der tatsächlichen Komplexität des Phänomens der Mode nicht gerecht.“ (Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden, S. 165.) 17 Vgl. Schnierer: Modewandel und Gesellschaft. 18 Dem entgegen steht die vollkommen verschiedene Verwendung des Begriffs ‚Transmedium‘ bei Mike Sandbothe. Für ihn ist das Internet ein Transmedium, da es die Eigenschaften der meisten anderen Medien in sich bündelt. Es stellt hier nahezu ein Sammelbecken für verschiedenste Strukturen dar. (Vgl Sandbothe: „Digitale Verflechtungen“.)

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gen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können“19. Mode ist also vielmehr ein Phänomen, das sich nicht auf bestimmte Medien reduzieren lässt, sondern sich in diversen Medialisierungen zeigt. Mode ist die Art und Weise, wie etwas, hier: Kleidung, medialisiert wird, d.h. als Medium gebraucht wird. Mode wird somit erst im Prozess der Medialisierung von etwas anderem erfahrbar.20 Sie ist demnach ein performatives und aisthetisches Strukturphänomen, das nur im Prozess seiner Medialisierung erscheint und hier nachvollziehend erfahrbar ist. Dieses Transmedium ‚Mode‘ zeigt sich in spezifischen medialen Formationen, d.h. es bildet sich erst durch eine bestimmte Zusammenstellung von Medialisierungen.

2.1.3 Formation, Kontamination, Kombination Eine Formation ist ein in bestimmter Weise strukturiertes Medium, das andere prozessual überträgt. Sie bildet sich durch die spezifische Zusammenstellung von zu Übertragendem im Prozess der Übertragung. Für das Transmedium Mode bietet die Modezeitschrift eine besondere Formation von verschiedenen Medien und Medialisierungen: Fotografie, Schriftsprache, Typografie, Models, Modekleidung, Modeliteratur usw. Da Mode, verstanden als Transmedium, sämtliche Medien kontaminieren kann, ist Mode immer da, und zwar als ein übergeordnetes Phänomen, auf das immer Bezug genommen werden kann. Kein Medium ist dann unabhängig von der Möglichkeit einer Kontamination21 durch die Mode zu betrachten. Unter Kontamination ist hier die porentiefe Verunreinigung22 eines Mediums 19 Rajewsky: Intermedialität, S. 12f. 20 Nach Esposito „handelt es bei der Mode nicht um ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, weil sie nicht die Funktion hat, die Wahrscheinlichkeit der Annahmebereitschaft von Kommunikation zu erhöhen. […] Dagegen scheint die Mode eher als Vorcodierung oder Metacodierung zu funktionieren […].“ (Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden, S. 171.) Auch sie geht davon aus, dass die Mode als inhaltsleere Form den Zufall strukturieren hilft und „in der Anlage und der Funktionsweise der modernen Semantik vorausgesetzt“ und übergeordnet ist: „Ihre Form funktioniert als Differenz und diese ist es, die beobachtet werden muss.“ (Ebd., S. 165, 171.) 21 Vgl. ‚Systemkontamination‘ bei Rajewsky: Intermedialität, S. 145f. 22 Das Unreine meint im positiven Verständnis und in Anlehnung an den lat. Ursprung des Wortes ‚durch Lust befleckt‘. Die vollkommene Durchdringung ist nicht mehr mitteilbar, sie ist unsagbar, da sie unmittelbar mit dem Medium verbunden ist. Vgl. die ‚Wollust‘ bei Roland Barthes „[…] die Lust ist sagbar, die Wollust nicht. Die Wollust ist un-sagbar, unter-sagt.“ (Barthes: Die Lust am Text, S. 32.)

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durch ein übergeordnetes Strukturphänomen, hier das Transmedium Mode, zu verstehen. Es kommt zu einer Verschmelzung mit der Struktur des jeweiligen Mediums, so dass die Mode per se, nicht losgelöst von ihrer Medialisierung verstanden werden kann. Durch mediale Übertragungen, d.h. im prozessualen Übergang von einem Medium in ein anderes durch Transformation von Strukturen, wird Mode als Transmedium erkennbar. Aufzeigbar ist dieses Geschehen in unübertroffener Weise bei Kleidung, dem Medium, das dem Menschen am nächsten steht. Denn Kleidung ist das am vollkommensten durch Mode kontaminierte Medium. Diese so genannte Verschmelzung23 von Mode und Kleidung, die sich auch im umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes Mode im Sinne von Modekleidung spiegelt, ist so vollkommen, dass Modekleidung gleichsam als Medium per se angesehen wird. Mit anderen Worten: es gibt keine Kleidung, die nicht in Relation zur Transmedium Mode gesehen werden kann. In der Art und Weise, wie Modekleidung in einer Modezeitschrift medialisiert und wie die Zeitschrift selbst durch das Transmedium Mode kontaminiert ist, finden sich zahlreiche Hinweise darauf, wie sich Mode transformativ konstituiert. Hier zeigt sich, wie sich Mode durch mediale Übertragung und durch Medienkombination sinnstiftend bildet. Die Modezeitschrift stellt eine spezifische Formation von Mode dar: den Ikono-Mode-Text. In dieser Formation bildet sich Mode durch die Kombination bildlicher und verbaler Darstellung von Modekleidung heraus.

2.2

Strukturen der Mode

Die These ist, dass dieser Ikono-Mode-Text Mode sowohl potenziert als auch konstituiert. Und zwar macht der Ikonotext der Modezeitschrift das Strukturphänomen Mode sowohl durch seine spezifische Form als auch durch seinen Inhalt, die Modekleidung, erfahrbar und nachvollziehbar. Die Modekleidung, wie sie sich im Ikonotext der Modezeitschrift konstituiert, kann dann als ein Medium mit leitender Funktion bezeichnet werden. Im Folgenden soll nun die Struktur, der Aufbau der medialen Vermittlung von Mode in der Modezeitschrift betrachtet werden, um kenntlich zu machen, wo Mode erscheint und wie sie sich zeigt.

23 Der Prozess der Kontamination der Kleidung mit der Mode findet im und durch das Modesystem statt. (Zum Begriff des ,Modesystems‘ vgl. Kawamura: Fashionology.)

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2.2.1 Der Ikono-Mode-Text Mode erscheint in der Medienkombination der Modezeitschrift als ein Ereignis zwischen Bild und Text. Und zwar ereignet sie sich im wahrnehmenden Vollzug der Verbindung von beidem. Der performative Wahrnehmungsraum, der dies einerseits ermöglicht, und der andererseits erst durch das Erscheinen der Mode entsteht, kann in Hinblick auf die Konzepte von Gernot Böhme als Atmosphäre24 bezeichnet werden. Der konstitutive Wahrnehmungsprozess, der sich als ein Mäandern zwischen Bild und Text beschreiben lässt, soll als ein aisthetisches Rezipieren und gleichsam Produzieren aufgefaßt werden.25 Moderezeption ist dann ein aktives Handeln mit Medien, ein produktives Zurückerobern26 von Sinnhaftem. Das Medium der Mode, das hier eine leitende Funktion übernimmt ist die Modezeitschrift27. Sie bietet den konkreten, materiellen Ort, an dem die so verstandene Mode stattfindet. Die Modezeitschrift stellt hierfür ein spezifisches Format zu Verfügung: die Modestrecke. Eine Modestrecke ist eine so genannte redaktionelle Fotoreportage, erstreckt sich über acht bis zwölf Seiten aus bestmöglichem Papier und besteht aus ganzseitigen und ein oder zwei doppelseitigen Modefotografien. Die Fotografien sind bestimmt durch die Kleidung, das Model, den Raum oder Ort und die Art und Weise der Inszenierung. Eine solche Modestrecke beginnt immer mit einer Überschrift. Es handelt sich fast immer um irgendeine Art Wortspiel, das gleichsam als Eintritt in einen Erzählraum beschrieben werden kann. Der erste Eindruck wird durch einen kurzen Einführungstext verstärkt, der diesen Raum durch weitere imaginative Setzungen füllt und erweitert. Hinzu kommen dann in kleiner Schrift, 24 „Sie sind Räume, insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen, ‚tingiert‘ sind. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raume.“ (Böhme: Atmosphäre, S. 32.) 25 „[…] denn beim Übergang von einer Struktur zur anderen entstehen zwangsläufig zusätzliche Signifikate.“ (Barthes: „Die Fotografie als Botschaft“, S. 22.) 26 ‚Rezipient‘ wird nicht nur als Betrachter, Leser, Adressat oder dergleichen verstanden, sondern ‚recipere‘, zurückgeführt auf das lateinische Verb ‚recipere‘, wird als ein Zurückerbobern begriffen. RezipientInnen sind demnach AkteurInnen, die sich im Wahrnehmungsprozess ihren eigenen aisthetischen Sinn zurückholen. 27 Aufgrund der Schwierigkeiten, einen klar begrenzten Definitionsrahmen für ‚Modezeitschrift‘ festzulegen, beziehe ich mich in meinen Ausführungen explizit und konkret auf die Vogue, da diese weltweit ein prototypisches Modell einer Modezeitschrift darstellt. Die Unterschiede zwischen der deutschen, italienischen und amerikanischen Ausgabe sind zwar gravierend im Einzelnen – es sind eigenständige Zeitschriften mit autonomen Redaktionen –, im Gesamtbild jedoch lässt sich ein allgemeingültiges Format erkennen.

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gewissermaßen als Fußnoten, die Produktionsangaben, d.h. die Namen des Fotografen, der StylistInnen, der Produktionsleitung usw. Jedes zweite Bild, enthält Bildbeschriftungen, die benennen, was dargestellt ist und wie viel es kostet. Die Herstellernamen dürfen nicht nur nicht fehlen, sondern sind fast immer typografisch hervorgehoben, meist durch Fettschreibung. Bei diesen ‚Modetexten‘ handelt es sich immer um ergänzende Zuschreibungen oder redundante Beschreibungen.28 Die gezeigte oder benannte Kleidung wird durch das Zeigen, Benennen und deren Nachvollzug zu Mode. Denn die beteiligten Medien sind keine reinen Vermittlungsmedien29, d.h. sie übertragen nicht nur Modekleidung, sondern sie machen dadurch Mode. Durch die permanenten Übertragungen der Modekleidung in diverse Medien entsteht die Mode immer wieder aufs Neue und immer wieder anders. Das wichtigste Medium für die Mode ist hier die (Mode-)Zeitschrift, denn die hier verortete Modestrecke macht Mode in besonderem Maße zu einem transmedialen Phänomen. Der Prozess dieser Modekonstitution durch Übertragung, von der Produktion einer Strecke, über deren Präsentation in der Zeitschrift bis zur Rezeption, lässt sich als Vorführen, Verkörpern und als ein Zurückholen bezeichnen und soll nun näher beschrieben werden. Die Produktion einer Modestrecke ist, trotz aller Einschränkungen durch Vorgaben der Redaktion, begrenzte finanzielle Mittel etc. ein ausgesprochen kreativer Vorgang. Produzieren als ‚Vorführen‘ zu begreifen, heißt, Ideen in Speichermedien wie Bild und Text auszudehnen, ihnen eine mediale Form zu geben. Es wird durch alle Beteiligten in einem vielfältigen kommunikativen Austausch etwas geschaffen, das in den Speichermedien Bild und Text fixiert scheint. ‚Vorführen‘ lässt sich auch fassen, als ein Hinbringen von Ideen an einen Ort, an dem sie ihre Entfaltungskraft allererst entwickeln und entfalten können. Deshalb lässt sich die Produktion von Mode als ein Vorführen von Ideen in Medien, die dieses Verkörpern, auffassen. Die Präsentation dieser Ideen im Medium Modezeitschrift ist eine gegenwärtige Verkörperung der vorgeführten Ideen von allen am Prozess beteiligten Produzenten, also: Fotografen, Stylisten, Models, Layouter, Redakteurinnen etc. ‚Verkörperung‘ wird, im Sinne von Sybille Krämer, verstanden als eine „kulturstiftende Tätigkeit, die es erlaubt, ‚Übertragung‘ als ‚Konstitution‘ auszuweisen und zu begreifen.“30 Und die Rezeption dieser Tätigkeit ist dann ein aktives, eigenmächtiges Zurückho28 Vgl. Barthes: Die Sprache der Mode, S. 22ff. 29 Bezugnehmend auf die Arbeiten von Sybille Krämer, gilt es festzuhalten dass Medien in jedem Fall sinnkonstitutiv wirken, und dass sich die Frage nach einer ‚bloßen‘ Vermittlung deshalb nicht stellt. (Vgl. Krämer: „Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?“.) 30 Krämer: „Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?“, S. 85.

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len, denn Mode konstituiert sich, wie bereits festgestellt, erst im Prozess ihrer Medialisierung und ihrer Wahrnehmung. Das heißt, dass das Ereignis von Mode in der Modezeitschrift erst im wahrnehmenden (Nach-)Vollzug des Rezipienten stattfindet, und dass dieser Vollzug einer bestimmten sinnlichen Wahrnehmung bedarf, um das Stillgelegte zu aktivieren. An dieser Stelle muss deshalb das potentielle Agens der sinnlichen, der aisthetischen Wahrnehmungsweise betont werden, das eine eigenmächtige Praxis evoziert, nämlich eine ‚Rezeption‘ als einen aktiven Pol des Wahrnehmungsprozesses, gewissermaßen ein ‚Zurückerobern‘ des Sinnhaften. Der Ort, an dem Mode in der Modezeitschrift erscheint, liegt zwischen dem aisthetischen Medium Bild und dem diskursiven Medium Text. 31 Mode ist hier nur in der Bewegung zwischen diesen Erkenntnisweisen, und zwar nur innerhalb der Kombination von fotografischem Zeigen und textlichem Sagen erfahrbar. Mode ist somit immer ein Dazwischen: das Transmedium Mode ist nur durch Medien und ihre intermedialen Formationen erfahrbar.

2.2.2 Intermediale Formation Aber wie zeigt sich dieses, oder besser: wie lässt sich auf eine solche Formation hinweisen? Wie bereits ausgeführt, zeigt sich meines Erachtens die performative Herausbildung der Mode besonders augenfällig in der spezifischen Zusammenstellung von Text und Bild in der Modestrecke. Es handelt sich um eine Kombination, eine Gleichzeitigkeit, einen Clash von Bild und Text. 32 Die Freiheit des vagabundierenden Blicks trifft auf die Fixierung der Wahrneh-

31 Die Unterscheidung von diskursiven und aisthetischen Medien basiert auf dem medienphilosophischen Ansatz von Dieter Mersch. Beide Medienarten sind danach zwar nicht vollkommen voneinander zu lösen, allerdings „fällt ihre Nichtkonvertierbarkeit auf“. (Mersch: „Wort, Zahl, Bild und Ton: Schema und Ereignis“.) Bei den diskursiven Medien (Zahl und Wort) geht es im weitesten Sinne immer um die Konstitution von Bedeutungsstrukturen. Die aisthetischen Medien (Bild und Ton) sind in Ergänzung dazu vielmehr von Seiten einer phänomenologischen Perspektivierung des sinnlich Wahrnehmbaren fassbar. (Vgl. Mersch: „Medialität und Undarstellbarkeit“, S. 84ff.) 32 Im Medienclash, dem Zusammentreffen von Bild und Text, von aisthetischen und diskursiven Medien, steht ein Zeit-, Spiel- und Ereignisraum zur Verfügung, dessen rezeptives Betreten immer auch ein Schaffen, ein Ermöglichen von Freiräumen eröffnet. Bezüglich der vermeintlichen Statik des Bild-Text-Raumes sei darauf hinweisen, dass er über eine spezifisches Prozesshaftigkeit verfügt, die sich erst in ihrer rezeptiven Wahrnehmung immer wieder anders aktualisiert. Erst der rezeptive, d.h. zurückerobernde, aisthetische Umgang mit der spezifisch medialen BildText-Relation im Modemagazin konstituiert die Mode.

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mungsebene durch die Sprache. Die Unsichtbarkeit von Rückseiten, von nicht Darstellbarem stößt auf die Sagbarkeit von Wissenswertem, Undeutliches begegnet klaren Informationen. Und das Sichtbare wird durch Redundanz zum Wesentlichen. Roland Barthes nennt die Kräfte, die hier vermitteln, „elliptische shifters“33, so genannte Verschieber, die zwischen den zwei Mittelpunkten einer elliptischen Wahrnehmungsbewegung den Fokus hin und her treiben, den mäandernden Wahrnehmungsprozess provozieren. Wie läßt sich das bei der Rezeption einer Modestrecke konkret vorstellen? Zunächst zeigt der erste Eindruck eine fotografische Tatsache, das heißt: wer macht was, wo und wie, aber vor allem: was hat diese Person an. Dann sagt der erste Text, die Überschrift, was imaginiert werden soll. Es liegt gewissermaßen ein Bild im Text vor. Der nächste Blick trifft sehr schnell wieder auf die Modefotografie, die nun, geradezu in Abgrenzung zur Assoziation eines gedanklichen Bildes, eine konkrete Vision eines Fotografen geworden ist. Das Bild ist für diesen zweiten Blick schon die Inszenierung einer möglichen Assoziation zum Gesagten. Der zweite Text, das Intro, verknüpft dann bereits konkrete Bildinhalte mit Eigenschaften, hier findet die eigentliche Konnotation statt. Das Bild und alle ihm folgenden, der Strecke zugehörigen Bilder, setzen nun nur noch eine Erzählung fort, die sich auf bildlicher Ebene deswegen so zeigt, weil der bisherige Text eine bestimmte Lesart intendiert hat. Dieses Lesen der Bilder als Erzählmomente wird jedoch durch den dritten Text, die Bildbeschriftung, oder besser: die Bildinschrift, gebrochen. Hier setzt eine kognitive Denotation ein, die das bisher Gesagte und das Gezeigte, explizit als käuflich und als Modekleidung kennzeichnet. Die Mode, die bisher als Ahnung zwischen der aisthetischen und diskursiven Wahrnehmung herumgeisterte, wird mit dem dritten Text im Modesystem verankert.34 Nach diesem, der Fotografie eingeschriebenen Text, ist die Mode nicht mehr in Bewegung, es sei denn, es kommt durch den Kauf der dargestellten Modekleidung zu einer weiteren konkreten Inszenierungsmöglichkeit. Das Bild, die Modefotografie, ist danach nur noch eine beispielhafte Aufführung von Mode, die Anleitung zur Aneignung35, und die Aufforderung zum Kauf.

33 Barthes: Sprache der Mode, S. 17. 34 Barthes grundlegende strukturalistische Analyse der Mode bezieht sich ausschließlich auf diese Art des Modetextes. (Vgl. Barthes: Sprache der Mode.) Er macht keinen Unterschied zwischen Überschrift, Einleitungstext und Bildbeschriftung. Dadurch entgeht ihm die Wahrnehmungsbewegung zwischen Bild und Text, die zuvor einen Raum eröffnet hat. Ihm entgeht der Freiraum einer eigensinnigen Rezeption, die sich der endgültigen Verankerung auch verweigern kann. 35 Es geht hier nicht nur um die finale Aneignung des Kaufens, wie es Barthes vorschwebte, denn bereits das sinnstiftende Rezipieren als ein Zurückerobern der

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Mode hat demnach eine leitende Funktion, die an ihre Medialisierung in Bild und Text gebunden ist. Und deshalb kann Mode in diesem Sinne als Leitmedium36 angesehen werden. Mode strukturiert so in der Modestrecke das Wahrnehmungsgeschehen zwischen Bild- und Textwahrnehmung. Sie bietet gewisserweise eine orientierende Kombinatorik an, die Assoziationsspielräume eröffnet und gleichzeitig ihre Nutzung vorschreibt.37 Mode ist ein Strukturphänomen, und damit bestimmt sie unsere Wahrnehmungsweisen.

2.3

Muster der Mode

Die Antwort auf die Frage, warum Mode ein modernes Leitmedium ist, findet sich vor allem in der strukturellen funktionellen Verwandtschaft von Mode und Moderne, in ihrer besonderen Affinität.38 So weist die moderne Kleidermode paradigmatische Züge der Moderne auf, in ihr zeigt sich beispielhaft das Ausloten des Gegensätzlichen. Überwindung und Rückbesinnung, Erneuerung und Bewahrung, Reflexion und Prognose, Individualität und Sozialität zeigen sich in der modernen Kleidung unmittelbar am menschlichen Körper, als eine seiner ersten Erweiterungen39. Und das, was sich in der Kleidung vollzieht, findet sich in allen anderen kulturellen Erscheinungen wieder, wie z.B. Autos, Möbel, Architektur. Die Modekleidung spiegelt die Moderne wider. Mode ist ein Paradigma der Moderne. Denn das Transmedium Mode bildet Muster, und zwar durch permanente Wiederholung von Strukturphänomenen. Die Mode als Transmedium, als medienunspezifisches Strukturphänomen, ist das Strickmuster der Moderne. So lässt sich die Dynamik der Moderne

Möglichkeit eigensinnig Bedeutungen zu generieren, oder umzudeuten, muss als eine Form der Aneignung begriffen werden. 36 Und zwar haben dann sowohl das Medium ‚Modekleidung‘ als auch das Transmedium ‚Mode‘ diese leitende Funktion inne. 37 ‚Vorschreiben‘ heißt nicht, dass diese Mode immer als eine Art ‚Vorschrift‘ zu lesen ist. Etwas ‚Vorgeschriebenes‘ lässt sich ebenso gut ‚nachschreiben‘, ‚abschreiben‘ oder ‚umschreiben‘, und bei jeder Transkription ändert sich etwas, entsteht etwas anderes. 38 Es ist zu betonen, dass diese eigentümliche Verwandtschaft nicht auf einen etymologischen Zusammenhang zurückgeführt werden muss, um augenscheinlich zu werden. Ein solcher scheint vielmehr anzuzweifeln, betrachtet man die Herleitung des deutschen Begriffs ‚Mode‘ aus dem Französischen; bezeichnenderweise lassen ‚Fashion‘ und ‚Modernity‘ die entsprechende Affinität erkennen. (Vgl. Wilson: „Fashion and Modernity“.) 39 Vgl. McLuhan: „Kleidung“.

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exemplarisch an der Entwicklung der Modekleidung erkennen.40 Diese Muster der Mode sind es, die die Leitfunktion unter anderen Mustern übernehmen.41 Sie lassen sich meist erst im Nachhinein und unter Ausblendung der spezifischen medialen Konstitutionen ihrer Erscheinung erkennen. Deshalb erscheint Modekleidung im Rückblick als ein modernes Leitmedium, obwohl es eigentlich das Transmedium Mode ist, das als strukturbildendes Phänomen, das Muster der Moderne ausprägt.

Und jetzt? Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Mode zwar kein modernes Leitmedium ist, da Mode per se kein Medium, sondern allenfalls als ein Transmedium beschreibbar ist, und dass Mode dennoch als modernes Leitmedium betrachtet werden kann, wenn die leitende Funktion der Medialisierungen des Mediums Modekleidung in Bild und Text im Fokus der Betrachtung steht. Außerdem kann Mode als ein modernes Leitmedium angesehen werden, wenn sie als Muster der Moderne verstanden wird, als eines mit Leitfunktion. Zu betonen bleibt, dass die Mode als Muster der Moderne nur rückblickend erkannt werden kann. Denn erst die „vollendete Mode“42, die „Mode nach der Mode“43, macht diese Tatsache sichtbar: Formationen, Strukturen und Muster der modernen Mode werden erst jetzt deutlich. Dieses Jetzt ist nicht durch eine Überwindung der Moderne gekennzeichnet, sondern vielmehr durch das Sichtbarwerden ihrer Funktionsweisen, durch konkrete Bezugnahmen und Transformationen. Denn jedes Medium trägt den Prozess seiner Medialisierung und somit seiner spezifischen bedeutungskonstituierenden Art und Weise in sich und lässt sich durch eine Übertragung in ein anderes Medium kenntlich machen. Die allgegenwärtige Reflexion der Mittel führt so zu sichtbarer Kontingenz. Mode als Transmedium und Paradigma dieses Prozesses hat am Ende der Moderne quasi alles kontaminiert. Diese Mode ist jetzt kein Leitmedium mehr. Es ist keine große Erzählung der Mode mehr

40 Der Herrenanzug kann hier als illustres Beispiel herangezogen werden. (Vgl. Brändli: „Der herrlich biedere Mann“; Hollander: Sex and Suits.) 41 Auch z.B. die Ökonomie, als Struktur der Wirtschaft, wird von der Mode beherrscht: „Kein Bereich des sozialen Lebens ist gegen die Mode immun, nicht einmal die großen und auf hohem Abstraktionsniveau operierenden Funktionssysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik oder Kunst […].“ (Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden, S. 170.) 42 Vgl. Lipovetsky: L’empire de l’éphémère. 43 Vgl. Vinken: Mode nach der Mode.

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möglich: Überwindungen, Erneuerungen und Avantgarden sind nun kontingent. Mode als ein Transmedium, das nun alles durchdringt, hat keine Leitfunktion mehr: es ist das einzige Transmedium. Diese Mode ist angekommen.44

Literaturverzeichnis Arabatzis, Stavros: Versenkung ins Äußere. Elemente einer Theorie der Mode, Wien 2004. Ars Electronica Linz: „Ist der Takeover nun Gucci oder Prada? Oder etwas Drittes? Mode als kulturelles Leitmedium verbindet viele Attribute des Takeover“, http://www.aec.at/festival2001/update/showtopiclong.asp? ID=93, 17.12.2007. Barthes, Roland: „Die Fotografie als Botschaft“, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M. 1990, S. 11-27. Barthes, Roland: Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M. 1985. Barthes, Roland: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1974. Bertschik, Julia: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschen Literatur, Köln 2005. Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001. Böhme, Gernot: Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern 1998. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995. Brändli, Sabina: „Der herrlich biedere Mann“. Vom Siegeszug des bürgerlichen Herrenanzuges im 19. Jahrhundert, Zürich 1998. Esposito, Elena: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode, Frankfurt a.M. 2004. Fraas, Claudia/Barczok, Achim: „Intermedialität – Transmedialität. Weblogs im öffentlichen Diskurs“, in: Androutsopoulos, Jannis u.a. (Hrsg.): Neuere Entwicklungen in der Internetforschung, Hildesheim u.a. 2006, S. 132-160 (http://www.tu-chemnitz.de/phil/medkom/mk/fraas/weblogs.pdf).

44 Diese Mode ist, so Stavros Arabatzis, eine „Mode, die nun vom ganzen Kollektiv als Modesucht und Modezwang verinnerlicht worden ist, so dass ein bloß äußerlich aufoktroyiertes Modediktat nicht mehr notwendig ist. Ist aber dieser bloß äußerliche Modezwang auch ins Innere des universellen Modekollektivs übergegangen, so hat jene industrielle Macht ihren äußeren Zwangscharakter verloren“. (Arabatzis: Versenkung ins Äußere, S. 14f.)

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Gesamtverband Textil und Mode: „Textile Your Future. Bachelor oder Master of Arts“, http://textile-your-future.de/aufsteiger/bachelor_master_arts. html, 17.12.2007. Hollander, Anne: Sex and Suits, New York 1994. Kawamura, Yuniya: Fashion-ology. An Introduction Into Fashion Studies, Oxford/New York 2005. Krämer, Sybille: „Was haben ‚Performativität‘ und ‚Medialität‘ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ‚Aisthetisierung‘ gründende Konzeption des Performativen. Zur Einleitung in diesen Band“, in: dies. (Hrsg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 13-32. Krämer, Sybille: „Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren“, in: Münker, Stefan u.a. (Hrsg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a.M. 2003, S. 78-90. Lehmann, Ulrich: Tigersprung. Fashion in Modernity, Cambridge/London 2000. Lehnert, Gertrud: „Mode und Moderne“, in: Mentges, Gabriele (Hrsg.): Kulturanthropologie des Textilen, Berlin 2005, S. 251-263. Lehnert, Gertrud: „Mode als Spiel. Zur Performativität von Mode und Geschlecht“, in: Alkemeyer, Thomas u.a. (Hrsg.): Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur, Konstanz 2003, S. 213-226. Lipovetsky, Gilles: L’empire de l’éphémère: La mode et son destin dans les sociétés modernes, Paris 1987. McLuhan, Marshall: „Kleidung. Unsere erweiterte Haut“, in: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden/Basel 1995, S. 186-190. Mersch, Dieter: „Wort, Zahl, Bild und Ton: Schema und Ereignis“, http:// www.momo-berlin.de/Mersch_Schema_Ereignis.html, 28.12.2007. Mersch, Dieter: „Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ‚negative‘ Medientheorie“, in: Krämer, Sybille (Hrsg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 75-95. Meyer, Urs: „Transmedialität (Intermedialität, Paramedialität, Metamedialität, Hypermedialität, Archimedialität): Das Beispiel Werbung“, in: Meyer, Urs u.a. (Hrsg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen 2006, S. 110-130. Meyer, Urs u.a. (Hrsg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen 2006.

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Rajewsky, Irina O.: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne. Von den ‚giovani scrittori‘ der 80er zum ‚pulp‘ der 90er Jahre, Tübingen 2003. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel 2002. Sandbothe, Mike: „Digitale Verflechtungen. Eine medienphilosophische Analyse von Bild, Sprache und Schrift im Internet“, in: Beck, Klaus/Vowe, Gerhard (Hrsg.): Computernetze – ein Medium öffentlicher Kommunikation, Berlin 1997, S. 125-137. Schnierer, Thomas: Modewandel und Gesellschaft. Die Dynamik von ‚in‘ und ‚out‘, Opladen 1995. Schwarz, Udo: Das Modische. Zur Struktur sozialen Wandels der Moderne, Berlin 1982. Simanowski, Roberto: „Transmedialität als Kennzeichen moderner Kunst“, in: Meyer, Urs u.a. (Hrsg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen 2006 (http://www.brown.edu/Research/dichtungdigital/cv/Simanowski-Transmedialitaet.doc). Simanowski, Roberto: Interfictions. Vom Schreiben im Netz, Frankfurt a.M. 2002. Stiftung der deutschen Bekleidungsindustrie: „Glanzlichter europäischer Mode in Bremen“, http://www.stiftung-bekleidungsindustrie.de/link/de/ 16188475, 17.12.2007. Vinken, Barbara: Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1993. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M. 2004. Wilson, Elizabeth: „Fashion and Modernity“, in: Breward, Christopher/Evans, Caroline (Hrsg.): Fashion and Modernity, Oxford/New York 2005, S. 914. Winkler, Hartmut: „Mediendefinition“, in: Medienwissenschaft, Nr. 1, 2004, http://wwwcs.uni-paderborn.de/~winkler//medidef.html, 29.12.2006.

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Autorinnen und Autoren Peter Brandes, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum. Peter Gendolla, Prof. Dr., ist Sprecher des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen, und Leiter des Teilprojekts B6 „Literatur in Netzen/Netzliteratur“. Michael Giesecke, Prof. Dr., ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft mit den Schwerpunkten Kultur- und Medientheorie sowie Mediengeschichte, Universität Erfurt. Peter Haber, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar, Universität Basel. Jan Hodel, lic. phil. I, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Politische Bildung und Geschichtsdidaktik, Institut Forschung und Entwicklung, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Christian Kassung, Prof. Dr., ist Professor für Kulturtechniken und Wissensgeschichte, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin. Stefan Kramer, Prof. Dr., ist Professor für Sinologie, Ostasiatisches Institut, Universität Leipzig. Klaus Kreimeier, Prof. Dr., ist Co-Leiter des Teilprojekts A5 „Industrialisierung der Wahrnehmung“ des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Rainer Leschke, Prof. Dr., ist Leiter des Teilprojekts B9 „Mediennarrationen und Medienspiele“ des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Annemone Ligensa, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt A5 „Industrialisierung der Wahrnehmung“ des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Daniel Müller, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Journalistik, TU Dortmund, für das Teilprojekt A2 „Mediale Integration von ethnischen Minderheiten“ des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen.

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Autorinnen und Autoren

Britta Neitzel, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Mediengeschichte, Universität Siegen. Rolf F. Nohr, Prof. Dr., ist Professor für Medienästhetik und Medienkultur, Institut für Medienforschung (IMF), Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Jens Ruchatz, Dr., ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theater- und Medienwissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Helmut Schanze, Prof. Dr., ist Co-Leiter des Teilprojekts A4 „Mediendynamik“ des SFB/FK615 „Medienumbrüche“, Universität Siegen. Leander Scholz, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM), BauhausUniversität Weimar. Dominika Szope, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Mediengeschichte/Visuelle Kultur, Universität Siegen. Dagmar Venohr, Dr. des., Dipl.-Kulturwissenschaftlerin, ist Lehrbeauftragte am Institut für Künste und Medien, Universität Potsdam. Thomas Weber, PD Dr. habil., ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Abteilung Medienwissenschaft, Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, und Leiter des Avinus Verlags, Berlin. Serjoscha Wiemer, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Strategie Spielen“, Institut für Medienforschung (IMF), Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Andreas Ziemann, Prof. Dr., ist Professor für Mediensoziologie an der Fakultät Medien, Bauhaus-Universität Weimar.

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Medienumbrüche Sigrid Baringhorst, Veronika Kneip, Annegret März, Johanna Niesyto (Hg.) Politik mit dem Einkaufswagen Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft 2007, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-648-9

Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter (Hg.) Äther Ein Medium der Moderne 2008, 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-610-6

Rainer Leschke, Jochen Venus (Hg.) Spielformen im Spielfilm Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne 2007, 422 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-667-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Medienumbrüche Annemone Ligensa, Daniel Müller (Hg.) Rezeption Die andere Seite der Medienumbrüche November 2009, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1026-0

Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hg.) Leitmedien Konzepte – Relevanz – Geschichte, Band 1 November 2009, 352 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1028-4

Nanette Rissler-Pipka, Michael Lommel, Justyna Cempel (Hg.) Der Surrealismus in der Mediengesellschaft – zwischen Kunst und Kommerz November 2009, 278 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1238-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Medienumbrüche Manfred Bogen, Roland Kuck, Jens Schröter (Hg.) Virtuelle Welten als Basistechnologie für Kunst und Kultur? Eine Bestandsaufnahme Februar 2009, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1061-1

Marcus Hahn, Erhard Schüttpelz (Hg.) Trancemedien und Neue Medien um 1900 Ein anderer Blick auf die Moderne Februar 2009, 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1098-7

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Mediengeographie Theorie – Analyse – Diskussion

Ingo Köster, Kai Schubert (Hg.) Medien in Raum und Zeit Maßverhältnisse des Medialen

Februar 2009, 654 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1022-2

Februar 2009, 320 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1033-8

Rainer Geissler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Band 2: Forschungsbefunde

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Volker Roloff (Hg.) Surrealismus und Film Von Fellini bis Lynch

Februar 2009, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1027-7

Rainer Geissler, Horst Pöttker (Hg.) Medien und Integration in Nordamerika Erfahrungen aus den Einwanderungsländern Kanada und USA Februar 2010, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1034-5

2008, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-863-6

Michael Lommel, Volker Roloff (Hg.) Sartre und die Medien 2008, 228 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-816-2

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rissler-Pipka (Hg.) Dalís Medienspiele Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten 2007, 416 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-629-8

K. Ludwig Pfeiffer, Ralf Schnell (Hg.) Schwellen der Medialisierung Medienanthropologische Perspektiven – Deutschland und Japan 2008, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1024-6

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